Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896-1950
 9783110812954, 3110150395, 9783110150391

Table of contents :
Vorwort
I. Frühe populäre Rezeption
I.1 Herausgeber, Übersetzer, Übersetzung
I.2 Vorbereitende Einflüsse außer- und innerhalb Amerikas
I.3 Der populäre Streit um Nietzsche
I.4 Abschließendes
II. Essayistik 1896–1914
II.1 Konservatismus/Sozialdarwinismus
II.2 Radikales Reformdenken
III. Essayistik 1914–1929
III.1 Der Weltkrieg
III.2 “Literary Radicals”
III.3 “New Humanists”
III.4 H.L. Mencken redux
IV. Essayistik 1929–1950
IV.1 Verordnetes Schweigen
IV.2 Der akademische Nietzsche
IV.3 Der zweite Weltkrieg
V. Philosophische Rezeption
V.1 Nietzsche und Amerikas Philosophen der Jahrhundertwende
V.2 Monographien
VI. Literarische Rezeption
VI.1 Roman
VI.2 Drama Eugene O’Neill (1888–1953)
VI.3 Lyrik
Siglen
Literatur
Personenregister
Sachregister

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Hays Alan Steilberg Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon

Band 35

1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950 von

Hays Alan Steilberg

1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der

Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Α der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin

Die Deutsche Bibliothek —

ClP-Einheitsaufnahme

Steilberg, Hays Alan: Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950 / von Hays Alan Steilberg. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 35) ISBN 3-11-015039-5 NE: GT '

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Für Claudia and for my parents

Vorwort 1987 sorgte der Philosoph Allan Bloom für große Aufregung in der akademischen Öffentlichkeit Amerikas, indem er mit seiner Studie The Closing of the American Mind eine kulturkritische Analyse seines Landes und vor allem des dortigen Bildungssystems vorlegte. Seine Anprangerung des moralischen Verfalls und seine Verteidigung traditioneller, gar klassisch zu nennender Werte riefen in den Zeiten der Postmoderae und der sich bereits ankündigenden political correctness erwartbarerweise viele Kritiker auf den Plan, aber das weitaus größere Interesse der Rezensenten und Kommentatoren galt der waghalsigen These Blooms zur Genealogie der neuen amerikanischen Mißverhältnisse. In der Wertekrise der amerikanischen Gesellschaft erkannte Bloom den kulturellen Krankheitsverlauf des Werterelativismus als herrschender Ideologie unter den Intellektuellen des Landes und diesen geistigen Virus selbst wies er als fremdländische Seuche aus, die vor allem nach dem zweiten Weltkrieg durch deutsche Gelehrte ins Land geschleppt worden sei. Diese Hochschullehrer und Schriftsteller hätten sich vornehmlich dem Denken eines deutschen Philosophen verpflichtet, vor dessen „Lehre" Bloom explizit warnen wollte: Friedrich Nietzsche. Werterelativismus war für Bloom ein deutsches und spezifisch ein Nietzschesches Phänomen: My insistence on the Germanness of all this is intended ... to heighten awareness of where we must look if we are to understand what we are saying and thinking. ... For Nietzsche and those influenced by him, values are the products of folk minds and have relevance only to those minds.1

An den Schulen und Universitäten, so Bloom, drohe jungen Amerikanern die Ansteckung mit der gefahrlichen Nietzscheschen Sophisterei, und wenn man diese Verhältnisse nicht bald ändere, könnte Amerika seiner wichtigsten zivilisatorischen Werte verlustig gehen. Nicht wesentlich anders nahm sich das pädagogische caveat Johannes Broenes vom Clark College aus, der ebenfalls die Lehrer und Eltern junger Amerikaner warnte: „Teachers should take a position against Nietzsche considering how sensitive the adolescent is to a philosophy of this type. No boy or girl should be allowed to read Nietzsche." 2 Der vielsagende Unterschied zwischen den sehr ähnlichen Argumenten beider amerikanischer Professoren besteht darin, daß Broene seine Zeilen 1910 schrieb.

1 2

Allan Bloom, The Closing of the American Mind (New York, 1987), S. 141. Johannes Broene, „The Philosophy of Friedrich Nietzsche," American Journal Psychology and Education, IV (March 1910), S. 165.

of

Religion,

VIII

Vorwort

Die Beispiele Blooms und Broenes verdeutlichen, daß die sehr ernstgemeinte Anfeindung bzw. Geringschätzung ebenso wie die feierliche Huldigung der Philosophie Nietzsches - bedenkt man die Allgegenwart seines Namens in der angelsächsischen Philosophie heute - in Amerika äußerst aktuelle Themen geblieben sind, und hundert Jahre nach der Erstübersetzung seiner Werke ins Englische ist es an der Zeit, eine Gesamtbetrachtung der amerikanischen Nietzsche-Rezeption anzustellen. Eine solche Betrachtung ist bis jetzt ein Desiderat der Nietzsche-Forschung geblieben, und diese Lücke zu schließen ist die vorliegende Arbeit bestrebt. Es wird hier also erstmals versucht, eine umfassende Monographie zur amerikanischen Nietzsche-Rezeption vorzulegen, aber auf die verschiedenen Hilfsmittel, die dem Interessenten schon vorher zur Verfügung standen, soll an dieser Stelle kurz hingewiesen werden. Die wichtigsten Bibliographien sind die unveröffentlichte Dissertation Nancy Sniders, An Annotated Bibliography of English Works on Friedrich Nietzsche (Michigan, 1962) einerseits sowie Herbert Reicherts und Karl Schlechtas International Nietzsche Bibliography (Chapel Hill, 1960) andererseits, die in den Nietzsche-Studien fortgesetzt wird. Als Ergänzung zu empfehlen ist die Bibliographie der unveröffentlichten Dissertation Marvin Drimmers, Nietzsche in American Thought, 1895-1925 (Rochester, 1965), die außerdem eine wertvolle Materialquelle zur Erforschung der amerikanischen Nietzsche-Rezeption darstellt. Patrick Bridgewaters Nietzsche in Anglosaxony (Leicester, 1972) zeigt eine deutliche Gewichtung zugunsten der britischen Nietzsche-Rezeption, geht aber auch auf wichtige Namen aus dem amerikanischen Umfeld ein, während David Thatchers Nietzsche in England 1890-1914 (Toronto, 1970) ausschließlich den englischen Bereich behandelt. Auch kleinere Arbeiten sind von Interesse, wie etwa Gertrud von Petzolds „Nietzsche in englisch-amerikanischer Beurteilung bis zum Ausgang des Weltkriegs" (Anglia, 53 [1929], S. 134-218). Eine größere Analyse der amerikanischen Aufnahme der Philosophie Nietzsches hat aber bis jetzt auf sich warten lassen. Da die vorliegende Untersuchung nicht nur einzelne Namen behandeln, sondern vornehmlich Entwicklungslinien der amerikanischen Nietzsche-Rezeption herausarbeiten will, geht sie chronologisch vor, wobei, dem Leser zuliebe, das beträchtliche Konvolut amerikanischer Schriftzeugnisse zu Nietzsche der Ordnung und der Brauchbarkeit halber in vier Bereiche unterteilt wird: populäre, essayistische, philosophische und literarische Rezeption. Den bei weitem größten Bereich stellt die essayistische Rezeption dar, die auch als einzige sich über mehrere Kapitel erstreckt. Das erste Kapitel zur frühen populären Rezeption erfüllt außer der Aufgabe der geschichtlichen Darstellung den zusätzlichen Zweck, die verschiedenen ersten Nietzsche-Bilder aufzuzeigen, die den weiteren Verlauf der amerikanischen Rezeption bestimmten. Das explosionsartig angewachsene Interesse an Nietzsche, das die akademische Diskussion der letzten dreißig Jahre in Amerika prägte (Arthur Dantos Nietzsche as Philosopher etwa erschien 1964), macht es einer einzigen Studie unmöglich,

Vorwort

IX

die Entfaltung der amerikanischen Nietzsche-Rezeption von den Anfängen bis in die Gegenwart zu verfolgen. Deshalb wurden dieser Arbeit zeitliche Grenzen gesetzt: Sie reichen von 1896, dem Jahr der ersten englischen Übersetzungen, bis 1950. Die Wirkung der Philosophie Nietzsches hat zwar den Verlauf unseres Jahrhunderts synchron begleitet, aber das Jahr 1950 wurde nicht nur als historische Halbwertzeit ausgewählt. Zwei Ereignisse machen dieses Jahr zu einem natürlichen Einschnitt in der Geschichte der amerikanischen Nietzsche-Rezeption: das Ende (und die Nachwirkungen) des zweiten Weltkriegs, der die Frage von Nietzsches „Gefahr" für die Zivilisation erneut aufwarf, und das Erscheinen von Walter Kaufmanns Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, 1950), das eine neuartige, weil weitgehend vorurteilsfreie Beurteilung Nietzsches in Amerika ermöglichte.

Inhaltsverzeichnis Vorwort I. Frühe populäre Rezeption 1.1 Herausgeber, Übersetzer, Übersetzung 1.2 Vorbereitende Einflüsse außer- und innerhalb Amerikas 1.3 Der populäre Streit um Nietzsche 1.3.a Der amerikanische Charakter I.3.b Der Übermensch und Amerikas Ideale I.3.c Amerikanische Traditionen 1.3.d Darwinismus und Eugenik I.3.e Die Demokratie 1.3.f Die Sozialethik I.3.g Menschennatur, Naturmensch und Wille zur Macht I.3.h Christentum und Moral Ι.3.Ϊ Anarchismus und Gewaltentfesselung 1.3 .j Deutsches I.3.k Philosoph und Dichter oder Dilletant und Plagiator? 1.3.1 Einheit von Person und Werk I.3.m Die Krankheit 1.4 Abschließendes

VII 1 2 9 16 17 18 19 21 22 24 26 31 38 43 45 48 49 56

II. Essayistik 1896-1914 II. 1 Konservatismus/Sozialdarwinismus II. 1 .a Franklin Henry Giddings (1855-1931) II.2 Radikales Reformdenken II.2.a Sozialismus/William English Walling (1877-1936) II.2.b Anarchismus/Emma Goldman (1869-1940) II.2.C Popularisierung I: James Huneker (1860-1921) II.2.d Popularisierung II: Henry Louis Mencken (1880-1956) .

58 58 63 68 71 80 88 100

III. Essayistik 1914-1929 III. 1 Der Weltkrieg III. 1. a Angriff . . . , 111.1.b Abwehr III. 1 -C Max Eastman (1883-1969) III.2 "Literary Radicals" 111.2.a Randolph Bourne (1886-1918)

116 116 116 126 131 134 136

XII

Inhaltsverzeichnis

III.2.b Van Wyck Brooks (1886-1963) III. 2. c Walter Lippmann (1889-1974) 111.2.d Will Durant (1885-1981) 111.3 "New Humanists" 111.3.a Irving Babbitt (1865-1933) III.3.b Paul Elmer More (1864-1937) 111.4 H.L. Mencken redux IV. Essayistik 1929-1950 IV. 1 Verordnetes Schweigen IV. 1.a Die Apostaten: Max Eastman, Walter Lippmann, Will Durant IV.l.b Letzte Gläubige: Joseph Wood Krutch, Philo Buck . . . IV.2 Der akademische Nietzsche IV.2.a Der historisierte Nietzsche: Eric Bentley, Jacques Barzun IV. 3 Der zweite Weltkrieg IV.3.a Angriff IV.3.b Abwehr

148 155 159 164 164 171 174 188 188 189 195 200 202 213 213 219

V. Philosophische Rezeption V.l Nietzsche und Amerikas Philosophen der Jahrhundertwende . . . V. 1 .a William James (1842-1910) V.l.b Josiah Royce (1855-1916) V. 1 .c George Santayana (1863-1952) V.2 Monographien V.2.a Grace Neal Dolson, "The Philosophy of Friedrich Nietzsche" (1901) V.2.b Paul Elmer More, "Nietzsche" (1912) V.2.c Paul Carus, "Nietzsche and Other Exponents of Individualism" (1914) V.2.d William Mackintire Salter, "Nietzsche the Thinker" (1917) V.2.e George Burman Foster, "Friedrich Nietzsche" (1931) . . . V.2.f Crane Brinton, "Nietzsche" (1941) V.2.g George Allen Morgan, "What Nietzsche Means" (1941) . V.2.h Walter Kaufmann, "Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist" (1950)

225 225 225 234 239 248

VI. Literarische Rezeption VIA Roman VI.l.a Jack London (1876-1916) Vl.l.b Theodore Dreiser (1871-1945)

305 306 306 331

248 251 252 254 260 266 270 281

Inhaltsverzeichnis

VI.2 Drama Eugene O'Neill (1888-1953) VI.3 Lyrik VI.3.a Ezra Pound (1885-1972), T.S. Eliot (1888-1965) VI.3.b John Gould Fletcher (1886-1950), Benjamin De Casseres (1873-1945) VI.3.c Robinson Jeffers (1887-1962) VI.3.d Wallace Stevens (1879-1955)

XIII 347 378 379 381 384 392

Siglen

419

Literatur

420

Personenregister

430

Sachregister

436

I. Frühe populäre Rezeption Die Geschichte der internationalen Nietzsche-Rezeption erzählt nicht nur vom Philosophen Friedrich Nietzsche, sondern auch von einer durch ihn ausgelösten, äußerst polemischen Debatte. Das muß keineswegs verwundern, denn Nietzsche gehört nicht zu den Philosophen, die zur emotionslosen, neutralen Lektüre einladen. Sein eigener philosophischer Standpunkt reizt oft zu fast bedingungsloser Hingabe oder Ablehnung seitens des Lesers. In Amerika wie andernorts entspann sich infolge dieses Entweder-Oder sehr früh ein leidenschaftlicher Konflikt um Nietzsches Denken und Person, bei dem die Befürworter und Gegner des Philosophen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden rhetorischen Mitteln sich heftige Wortschlachten um den Theoretiker des Übermenschen lieferten. Im Falle Amerikas zeigt sich vor allem in der frühen populären und essayistischen Rezeption Nietzsches, daß dieses philosophische Kapitel der Ideengeschichte eines großer Schismata war, denn nicht nur standen sich in diesem Grabenkrieg Nietzsche-Bewunderer und Nietzsche-Hasser gegenüber, sondern selbst die Exponenten waren unter sich gespalten. Solch zugespitzte Polemik erschwerte oft das Verständnis Nietzsches im Kontext seiner amerikanischen Wirkung, und hinzu kam, daß dieser Kampf anfangs sehr häufig kein Ringen um Verständnis der Philosophie Nietzsches darstellte, sondern sich dem Betrachter als ein Streben nach Vernichtung bzw. Apotheose des Philosophen präsentiert. Dabei war dieser Konflikt aber nicht ohne erkennbare ideologische Richtungen: Es waren vor allen Dingen Fragen der Politik und der Moral, welche hier die Frontlinien bestimmten. Während demokratisches und anti-demokratisches (was den neuzeitlichen „Aristokratismus" mit dem Sozialismus in seltsamer Notgemeinschaft verband) Denken sowie ethischer Traditionalismus und Revisionismus hier die bedeutendsten Standorte innerhalb eines zur Genüge bekannten Links-Rechts-Schemas verkörperten, schlugen sich auch die Wortführer des amerikanischen Nietzscheanismus wiederum in konservative (hauptsächlich in Gestalt des Sozialdarwinismus) und radikale (in erster Linie als Sozialismus und Anarchismus) Lager. Bei der Vielschichtigkeit dieses Streits ist es gewiß nicht leicht, die darin enthaltenen Muster und Entwicklungslinien des ideologischen Kampfes zu erkennen, aber genau das soll von der vorliegenden Studie geleistet werden. Eine verknäuelte Geschichte gilt es also zu entwirren, und es wird sich zu diesem Zweck als hilfreich erweisen, immer wieder diese politische und moralische Verwerfung als geistesgeographische Orientierungshilfe heranzuziehen, wenn es um die Lokalisierung dieser Polemiken geht. Dennoch müssen die einzelnen Argumente für und gegen Nietzsche sehr genau, sowohl individuell als auch in

2

Frühe populäre Rezeption

Bezug aufeinander, analysiert werden, wenn am Ende ein differenziertes Bild der amerikanischen Nietzsche-Rezeption bis 1950 hervortreten soll. Dazu ist es nötig, die kontextuellen Einflüsse, sowohl einheimischen als auch fremden Ursprungs, zu sichten, die diesen Streit vorbereiteten und lenkten, und es muß die eigentliche Ausgestaltung der in diesem Konflikt figurierenden politischen und moralischen Argumente erläutert und geschichtlich dargestellt werden. Damit ist allerdings der weite Weg, der noch vor uns liegt, nur angedeutet. Der erste hier zu leistende Schritt führt zur frühen populären Nietzsche-Rezeption in Amerika. Betrachten wir zunächst das Areal, das an der Schwelle dieses Weges liegt: Hier erscheint mit der Übersetzung der Werke Friedrich Nietzsches ins Englische zum ersten Mal die Gestalt, in der dieser Philosoph einer amerikanischen Leserschaft entgegentrat.

1.1 Herausgeber,

Übersetzer, Übersetzung

Nietzsche gelangte auf Umwegen über den Atlantik: Die Geschichte seiner amerikanischen Rezeption nahm ihren Anfang in Großbritannien bei zwei deutschen Ausgewanderten und einem Schotten. Sie begann mit dem Glasgower Privatgelehrten Thomas Common (1850-1919), der sich als Nietzscheaner der ersten Stunde im englischsprachigen Raum schon in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts für das Werk des deutschen Philosophen begeisterte und alsbald anfing, sich mit dem Gedanken einer englischen Übersetzung, zumindest einiger der Werke, zu tragen. 1 Etwa zur gleichen Zeit befleißigte sich der in Schottland lebende deutsche Philologe Alexander Tille (1866-1912), Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der University of Glasgow und Mitglied der Glasgower Goethe Society - wo er und Common sich mit aller Wahrscheinlichkeit kennenlernten - ebenso der Verbreitung und Erläuterung Nietzscheschen Gedankenguts. Es dauerte nicht lange, bis die zwei Enthusiasten den Entschluß zur gemeinsamen Tat faßten. Im Jahre 1895 traten sie mit dem Verlagshaus C.G. Naumann in Verbindung, um die Sicherung der Rechte für eine englische Nietzsche-Ausgabe zu vereinbaren2, die auf der Grundlage der zu dieser Zeit noch in Arbeit befindlichen Großoktavausgabe (Friedrich Nietzsche, Werke, 19 Bände und 1 Register-Band [Leipzig:

1

Die wichtigste Quelle zum Hintergrund der Umstände um die Entstehung der Übersetzung findet sich im zweiten Kapitel von David S. Thatchers Nietzsche in England 1890-1914 (Toronto, 1970), S. 17-52.

2

Friedrich Nietzsche, The Works of Friedrich Nietzsche in Eleven Volumes. Ed. Alexander Tille (London: H. Henry & Co., 1896-1909). Ed. Alexander Tille (London: H. Henry & Co., 18961909). Thus Spake Zarathustra, trans. Alexander Tille (1896); The Case of Wagner, The Twilight of the Idols, Nietzsche contra Wagner, The Anti-Christ, trans. Alexander Tille and Thomas Common (1896); The Dawn of Day, trans. Johanna Volz (1903); Beyond Good and Evil, trans. Helen Zimmern (1907).

Frühe populäre Rezeption

3

Naumann], 1894ff.) basieren sollte. Die Tatsache, daß das editorische Mammutprojekt einer kompletten Übersetzung zu diesem Zeitpunkt, also bereits vor der Fertigstellung einer Gesamtausgabe in der Originalsprache, konzipiert, finanziert und dann schließlich einige Jahre später vollständig realisiert werden konnte, zeugt an sich schon vom regen Interesse an Nietzsches Denken und Person, das sich um die Jahrhundertwende im gesamten europäischen Ausland entfachte. Es ist zweifellos eine unbegründete Legende, daß nur in bestimmten Kulturkreisen außerhalb Deutschlands (wie Dänemark oder Frankreich etwa) die NietzscheInteressenten schnell in Sachen Auslegung und Popularisierung des Nietzscheschen OEuvres aktiv wurden. Daß dieses als philosophische und kulturelle Sendung begriffene Projekt unter die Schirmherrschaft des Herausgebers Tille - mit der Unterstützung Commons kam, gehört zu den Schicksalsentscheidungen der englischen, aber ebenfalls der amerikanischen Nietzsche-Rezeption. Sowohl Common als auch Tille, beide überzeugte Sozialdarwinisten, erblickten in Nietzsche den ersten Denker, der eine völlig konsequente Anwendung logischer Schlußfolgerungen aus Darwins Evolutionstheorie auf die Ethik und die Sozialpolitik begründen wolle. Das bewies für sie Nietzsches eigentliche Größe. Die nachhaltigen Folgen für die Interpretation von Nietzsches Philosophie können kaum als glimpflich bezeichnet werden. Der öffentlichkeitsbewußte Common verkündete in diversen englischen und amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften und Tageszeitungen seine darwinistische Interpretation der neuen philosophischen Sensation aus Deutschland. Für ihn stand fest, daß Nietzsche die physische Tauglichkeit zur neuen Arche allen Philosophierens erklärt: [Nietzsche's) philosophy can ... be best understood from the Darwinian point of view indeed it forms the last and most important chapter of the Darwinian system. The most important distinction among animals is their fitness or unfitness for the conditions of existence, in fact, their superiority or inferiority. It is the same among human beings. 3

In englischen Nietzsche-Kreisen bildeten die Ansichten Commons eine erste Basis der Auslegung und Gewichtung einzelner Konzepte aus dem philosophischen Gesamtkomplex Nietzsches. Weitere Kreise zogen aber die mit Commons Darstellungen in Übereinstimmung stehenden Formulierungen Tilles, der in Artikeln, Büchern (am bekanntesten ist sein Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik [Leipzig: Naumann], 1895) und vor allem in den Vorworten zu einigen der Übersetzungen Nietzschescher Texte seine Einsichten in Nietzsches Denken zum besten gab. So intendierte er die Vorbemerkung zu seiner Bearbeitung des Zarathustra gleichzeitig als darwinistische Anleitung zum NietzscheStudium:

'

Thomas Common, „Human Evolution According to Nietzsche", Natural Science: Review of Scientific Progress, 10 (June 1897), S. 394.

A Monthly

4

Frühe populäre Rezeption It was only after Darwin had in his Origin

of Species

of 1859 placed the whole idea of

evolution on a scientific basis ... that the higher bodily and intellectual development of the human race as the great goal o f humanity [could be celebrated] ... and only after Nietzsche ... had taken up the idea and made it almost the leading motive o f his Zarathustra, did it impress itself upon large circles of the educated youth.

And it is

Nietzsche's undeniable merit to have led this n e w moral ideal to a complete victory. 4

Dieser Auszug aus Tilles Text belegt eine Interpretationsart, die nicht nur die Assoziierung Nietzsches mit dem Sozialdarwinismus vorbereitete, sondern darüber hinaus eine Brücke zur Eugenik schlug (wovon an späterer Stelle noch ausführlicher die Rede sein soll). Es war dieses „great goal" der „bodily and intellectual development" der Menschheit, welches Tille mit dem Begriff „evolutionary idealism" zu fassen versuchte und mit dem er Nietzsches Philosophie in toto zu charakterisieren meinte. Auch glaubte er ganz im Sinne der um die Jahrhundertwende aufgekommenen Zeitgeisterscheinungen von Jugendbewegung und Vitalismus, daß Nietzsche dieses Desideratum vor allem der ihres Kulturerneuerungsauftrages bewußten Jugend zudenkt. Wie zu erwarten, wirkte sich diese Einstellung des Herausgebers maßgeblich auf die Textauswahl aus, welche dem englischkundigen Leser den ersten Zugang zu Nietzsche verschaffen sollte. Tille tat sich bald mit einer kleinen Gruppe von Übersetzern zusammen, mit der er sich gemeinsam an die Arbeit begab. 5 Entscheidend war, daß die ersten redaktionellen Arbeitsgänge dem Spätwerk Nietzsches galten. So erschienen 1896 die als die Nummern 8, 10 und 11 der Gesamtübersetzung vorgesehenen Bände, welche folgende Texte enthielten: Bd. VIII Also sprach Zarathustra, Bd. X Zur Genealogie der Moral, Bd. XI Der Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist. Weitere Bände erschienen bis 1909, aber der Plan einer Gesamtübersetzung konnte unter Tilles Ägide nicht zu Ende geführt werden. Dem Verlag H. Henry & Co. stand das finanzielle Aus ins Haus, und das Projekt schien gescheitert. Rettung kam aber bald. Ein weiterer in England lebender deutscher Lektor, Dr. Oscar Levy (18671946),6 war willens, Privatmittel in die Fortsetzung des Projekts zu investieren, und konnte den Verleger T.N. Foulis von der Idee eines mehr oder weniger

4

5

6

Alexander Tille, „Foreword", Thus Spake Zarathustra. A Book for All and None, trans. Alexander Tille (London: H. Henry and Co. Ltd., 1896), S. xxii-xxiii. Zu dieser Gruppe gehörte u.a. die deutschstämmige Engländerin und Schopenhauer-Übersetzerin Helen Zimmern (vgl. Anmerk. 2 u. 10), die bereits 1884 Nietzsche aufgesucht hatte und von ihm selbst als Übersetzerin der eigenen Werke gewünscht wurde. Nietzsche schreibt z.B. am 9.12.88 an Peter Gast: „Auch für die englische Übersetzung [der Götzen-Dämmerung] habe ich einen Gedanken: Miss Helen Zimmern, die jetzt in Genf, im nächsten Verkehr mit meinen Freundinnen [Emily] Fynn und [Fürstin] Mansouroff lebt. Sie kennt auch Georg Brandes - sie hat Schopenhauem den Engländern entdeckt, warum nicht erst recht dessen A n t i p o d e n ? " Zu weiteren Einzelheiten über Oscar Levy vgl. Albi Rosenthal, „Betrachtungen über eine Nietzsche-Sammlung in England", Nietzsche-Studien, 19 (1990), S. 479-487.

Frühe populäre Rezeption

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nahtlosen Übergangs des Tille-Plans in einen Levy-Plan überzeugen. Levy hing den eugenischen Träumen Tilles von einer rein gewordenen Rasse von Übermenschen nicht nach, hatte aber dafür seine eigenen Vorstellungen von Nietzsches Bedeutung. Er vertrat die typisch hagiographische Lesart vieler Nietzscheaner der Jahrhundertwende und brachte eine Vision der speziellen Sendung Nietzsches mehrmals in seinen Vorworten wiederum zum Ausdruck. Für ihn verkörperte Nietzsche die Ablösung oder gar Erfüllung christlicher Verheißungen von der Erlösung des Menschen, und Levy selbst begriff sich als die Stimme in der Wüste, die vom Propheten des neuen Evangeliums sprach: in him [Nietzsche] the Christian's eternal claim for freedom of conscience, for his own priesthood, for justification by his own faith, is no longer used for purposes of destruction and rebellion, but for those of command and creation ... the exclusive House of Israel is now under the delightful obligation to make its peace with its once lost and now reforming son. 7

Mit salbungsvollem Gestus begrüßte Levy das Kommen Nietzsches und rief seinen Lesern mit den Worten des vom Glück des neuen Bundes überwältigten Vaters aus der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 22-23) zu: „.Bring forth the best robe and put it on him, and put a ring on his hand and shoes on his feet. And bring hither the fatted calf, and kill it and let us eat and be merry!' AMEN." 8 Daß die editorische und interpretative Arbeit Commons, Tilles und Levys auch unmittelbaren Einfluß auf die Anfänge der Nietzsche-Rezeption in Amerika ausübte, hatte zunächst einen einfachen Grund: Das traditionsreiche Verlagshaus Macmillan in New York erhielt gleichzeitig die Rechte für eine Lizenzausgabe der Übersetzung in Nordamerika.® 1896 konnten die oben erwähnten Bände der Tille-Reihe in Macmillans Programm erscheinen. Nach dem Übergang der Herausgebertätigkeit an Levy wurde rasch mit der neuen Herausgeberschaft und dem neuen englischen Verleger T.N. Foulis über eine amerikanische Gesamtausgabe10 verhandelt, die einfach parallel und völlig konform zur Tille-Levy-Aus-

1

* * '"

Oscar Levy, „An Introductory Essay", Index to Nietzsche, compiled by Robert Guppy, Vol. 18 of The Complete Works of Friedrich Nietzsche. Ed. by Dr. Oscar Levy (London: T.N. Foulis, 1913), S. xxvi-xxvii. Ibid., S. xxviii. Friedrich Nietzsche, The Works of Friedrich Nietzsche in Eleven Volumes. Ed. Alexander Tille (New York: Macmillan, 1896-1909). The Complete Works of Friedrich Nietzsche, 18 vols. Ed. Oscar Levy (New York: Macmillan, 1909-11). Vol. 1 The Birth of Tragedy, trans. William Hausman (1909); Vol. 2 Early Greek Philosophy and Other Essays, trans. M.A. Mügge (1911); Vol. 3 On the Future of Our Educational Institutions, Homer and Classical Philosophy, trans. J.M. Kennedy (1909); Vol. 4-5 Thoughts Out of Season, trans. Anthony Ludovici and A. Collins (1909-1911); Vol. 6-7 Human, All-TooHuman, trans. Helen Zimmern and Paul Cohn (1900-1911); Vol. 8 The Case of Wagner, Nietzsche contra Wagner, Selected Aphorisms, trans. Anthony Ludovici, We Philologists, trans. J. Kennedy (1911); Vol. 9 The Dawn of Day, trans. J.M. Kennedy (1911); Vol. 10 The Joyful

6

Frühe populäre Rezeption

gäbe herausgebracht werden sollte. Von größter Bedeutung war offenkundig, daß der Schwerpunkt dieser Editionen ausschließlich auf Nietzsches Spätwerk lag, das ja im Vergleich zu allen anderen Schriften Nietzsches mit einem Höchstmaß an Vorsicht und Vorkenntnis zu genießen ist. Erst 1909 lag eine relativ breite Auswahl früherer Texte vor. In der Zwischenzeit jedoch wurden mit Ausnahme von Morgenröthe und Jenseits von Gut und Böse nur diese ersten drei Bände immer wieder in für damalige Maßstäbe recht hohen Stückzahlen aufgelegt und auf den Markt gebracht, wo sie sich als Verkaufserfolg erwiesen." So sahen sich Leser, die auf die Originale nicht rekurrieren konnten, sofort beim Beginn

Wisdom, trans. Thomas Common (1910); Vol. 11 Thus Spake Zarathustra. trans. Thomas Common (1909); Vol 12 Beyond Good and Evil, trans. Helen Zimmern (1909); Vol. 13 The Genealogy of Morals, trans. H.B. Samuel (1910); Vol. 14-15 The Will to Power, trans. Anthony Ludovici (1909-1910); Vol. 16 The Twilight of the Idols, trans. Anthony Ludovici; Vol. 17 Ecce Homo and Poems, trans. Anthony Ludovici (1911); Index to Nietzsche, compiled by Robert Guppy and trans. Paul Cohn (1913). Genaue Angaben zu den Auflagen der Macmillan-Ausgabe sind vom Public Relations Office des Verlages zu erhalten. Die Auflagenzahlen erscheinen außerdem vorne in jedem jeweiligen Band der Gesamtausgabe. Drimmer (Nietzsche in American Thought, op. cit.) bietet auch eine übersichtliche Auflistung dieser Daten auf Seiten 724-727 seiner Studie. Die einzelen Zahlen ergeben Interessantes. Zum einen geht daraus hervor, daß die Zahl der gedruckten und gekauften Bände doch verhältnismäßig hoch war. Bis die gesamte Ausgabe, die 1911 vollständig war, 1925 abermals komplett neu aufgelegt wurde, hatte Macmillan an die 140000 Bände verkauft. Ein drittes Mal wurde diese Ausgabe 1964 wieder komplett aufgelegt, zu einer Zeit also, als die Kaufmann-Übersetzungen sich auch schon auf dem Markt zu behaupten begonnen hatten. Andere Verlage versorgten die amerikanische Leserschaft mit weiteren Auflagen (vgl. auch Nancy Snider, An Annotated Bibliography of English Works on Friedrich Nietzsche [Diss., Michigan, 1962]. Das Verlagshaus Boni and Liveright, das später in Random House aufging, nahm Titel aus dem Spätwerk in seine beliebte und preiswerte Reihe The Modem Library auf. Selbst das sozialistische Verlagshaus Charles Kerr in Chicago druckte „Arbeiterausgaben" einzelner Texte, die zu besonders günstigen Preisen zu haben waren (z.B. Human, AU-too-Human. A Book for Free Spirits, trans. Alexander Harvey. Library of Science for All Workers. [Chicago: Charles H. Kerr & Co, 1900]; der Preis betrug 50 cents). Der Durchschnittspreis eines Macmillan-Bandes lag um $ 2,50. Das war eine für damalige Verhältnisse nicht gerade geringe Summe, wenn man den zwischen $ 3,50 und $ 4 liegenden Tageslohn eines Arbeiters im frühen 20. Jahrhundert berücksichtigt. Um so beeindruckender ist also deshalb dieser finanzielle Erfolg, der philosophischen Werken nicht allzu oft beschieden ist, auch angesichts des nicht bescheidenen Preises der einzelnen Bände. Aufgrund spärlicher Ausleiheintragungen in englischen Bibliotheken kommt Gertrud von Petzold („Nietzsche in englisch-amerikanischer Beurteilung bis zum Ausgang des Weltkrieges", Anglia, 53 [1929], S. 134-218) zu dem Schluß, Nietzsche sei nur wenig gelesen worden, ohne allerdings bedacht zu haben, wieviele seiner Bücher gekauft wurden. Der andere Befund, den man aus den Auflagen herauslesen kann, betrifft die Gewichtung der individuellen Werke. Während Titel wie Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen oder Menschliches, Allzumenschliches in der ersten Ausgabe eine einmalige Auflage von durchschnittlich 1000 Exemplaren erlebten, erschienen^/«) sprach Zarathustra, Zur Genealogie der Moral oder Jenseits von Gut und Böse mehrmals in 2000er Auflagen. In den Jahren zwischen dem ersten Weltkrieg und der zweiten Gesamtausgabe kletterten diese Werke auf 10000er Auflagen. Es ist also damit eindeutig belegt, daß Nietzsches Spätwerk sein amerikanisches Bild im wesentlichen geprägt hat.

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ihrer Nietzsche-Lektüre mit zentralen und beschwerlichen Themen wie Wille zur Macht, Übermensch, Herren- und Sklavenmoral, Antichristentum u.a. konfrontiert, zumal in der glänzenden, aber oft mit dem Glanz des Pyrotechnischen aufleuchtenden Sprache des späten Nietzsche. Daß viele Leser eine Verständlichmachung dieser brisanten, labyrinthischen und oft schockierenden Gedankenwelt bei selbsternannten Jüngern wie Tille, Common, Levy und manchen anderen suchten, braucht im nachhinein nicht zu überraschen. Die Reaktionen auf die Übersetzungsarbeit an sich,12 welche sich lange auf rein sprachlich bezogene Beanstandungen oder Belobigungen beschränkten, da die editorischen Machenschaften des Nietzsche-Archivs erst viel später bekannt wurden und somit philologische Zweifel noch gar nicht aufkommen konnten, waren anfangs relativ spärlich und allgemein gehalten (wohl zum Teil, weil bei den meisten Rezensenten die nötige Sprachkompetenz fehlte, um die Qualität der Arbeiten einstufen zu können). So fiel das Urteil W. Barrys 1896 durchweg positiv aus, angefangen bei editorischen Maßstäben - „his [Nietzsches] books are sumptuously edited" - bis hin zu der eigentlichen sprachlichen Realisation, die als „his [Tilles] finely-wrought translation" bezeichnet wurde. 13 Bereits ein Jahr später konnte Camillo von Klenze die Lage etwas differenzierter (in seinem Fall vermutlich, wie oben erwähnt, wegen guter, vom Elternhaus vermittelter Kenntnisse der deutschen Sprache) betrachten: Mr. Alexander Tille deserves our gratitude for introducing so important a phenomenon in modern literature to the English-speaking world. His translation of Zarathustra is very satisfactory on the whole. ... Unfortunately, we cannot praise Mr. Common's translation of The Case of Wagner, etc. It is bad throughout, and in parts ignominious. 14

Der wegen dieser scharfen Kritik in seiner Ehre gekränkte Common holte zwar nach dem Angriff zum öffentlichen Gegenschlag aus, is doch reichte der hingeworfene Fehdehandschuh kaum als Anlaß zum publizistischen Duell, da von Klenzens Kritikpunkte allzu stichhaltig und klar waren. Spätere Gutachter fanden immer weniger Gefallen am Ergebnis von Tilles und Levys editorischem Kreuz-

n

13 14 15

Spezifisch zu Übersetzungsfragen vgl. Frank McEachran, „On Translating Nietzsche into English", Nietzsche-Studien, 6 (1977), S. 295-299. W. Barry, „The Ideals of Anarchy", The Living Age, 211 (1896), S. 617, 633. Camillo von Klenze, „A Philosopher Decadent", The Dial (June 16, 1897), S. 359. Thomas Common, „,A Philosopher Decadent' - A Reply", The Dial (July 16, 1897), S. 38. Common konnte hier nur mit einer nicht gerade ehrenhaften Charakterverleumdung entgegnen; v. Klenzens Kritiken waren für ihn Produkte der „imagination of a person in a flurried state of mind". Noch einige Jahre später gab der immer gebeuteitere Common etwas widerwillig zu, daß es Probleme mit den Umständen gegeben habe, unter denen die Gesamtausgabe entstanden sei, daß aber der Hauptgrund für die aus seiner Sicht halbherzige Aufnahme Nietzsches in der englischsprachigen Welt „the character of the Anglo-Saxon peoples" sei, „who are less ripe for the best thought than the French". Thomas Common, „Nietzsche's Works in English", The Nation (March 29, 1906), S. 259.

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zug, bis z.B. schließlich Louise Collier Willcox im Jahre 1911 den Versuch einer Gesamtübersetzung als ganzes für mehr oder weniger gescheitert befand: what g o e s to make the grandeur and beauty of the original is entirely lost in the translation. The Genealogy

of Morals

again is done into an English which it is almost

impossible to understand at all until one turns it back into German. anyone writing English exclaim, „But y o u understand this not"?

W h y should

This is neither

German nor English, but a conglomeration of two languages most distracting to read."

Tatsächlich erwecken, wie Willcox zu Recht monierte, die zahlreichen Fälle von abstrus verstellter Syntax, unerlaubten Wortbildungen nach deutschem Muster oder direkter Übernahme deutscher Redewendungen, die auf Englisch schlichtweg keinen Sinn ergeben, beim kritischen Leser den Eindruck, als hätten die Übersetzer einen bewußten Verfremdungseffekt angestrebt, welcher den Reiz des Fremden und vornehmlich des anscheinend äußerst „Deutschen" in Nietzsches Schriften steigern sollte. Die ungewollt komisch wirkende, auch für den damaligen Geschmack altertümelnde, gar als alttestamentarisch zu beschreibende Sprache, in der nun Thus Spake Zarathustra sich präsentierte z.B., trug nicht wenig dazu bei, daß Nietzsche wiederholt der Vorwurf der Theomanie gemacht wurde. Das biblische Gehabe ist gewiß im deutschen Originaltext des Zarathustra selbst angelegt und gewollt, aber sowohl Tille als auch Levy taten ihr möglichstes, um Nietzsche noch mehr zum neuzeitlichen Messias zu stilisieren. Es stellt sich hier einfach die von alters her bekannte Frage, was denn nun das geringere Übel für einen Autor sei: schlecht oder gar nicht übersetzt zu werden. Man muß auch Tille, Levy & Co. Gerechtigkeit widerfahren lassen und vermerken, daß ihr Bemühen doch redlich war und ihr Verdienst bleibend ist, da sie die angelsächsische Nietzsche-Rezeption überhaupt erst ermöglichten. Übersetzungskritik kann sich außerdem gelegentlich durch Haarspalterei auch lächerlich machen. So wirken heute die damaligen Debatten darüber, ob man den Begriff „Übermensch" als overman oder superman am besten übersetze (superman wurde vielfach aus dem Grund abgelehnt, daß man lateinische und germanische17 Wurzeln nicht miteinander kombinieren dürfe), bisweilen wie eine Farce. Akut wurde die Frage nach der Klugheit des Gebrauchs von superman eigentlich erst nach der Popularisierung der Comicfigur.' 8

"

Louise Collier Willcox, „Nietzsche: A Doctor for Sick Souls", The North American Review, 194 (1911), S. 766. Vgl. z.B. Paul Carus: „We prefer the purely Saxon .overman' to the barbaric combination of .superman' in which Latin and Saxon are mixed against one of the main rules for the construction of words". („Friedrich Nietzsche", The Monist [April 1907], S. 231.) Eric Bently notierte apologetisch 1944, also kurz nach der ersten nationalen Verbreitung der Zeichenfigur Superman in den großen Tageszeitung des Landes: „America has produced a Karl May for adults in the shape of a series of stories told in coloured pictures of the adventures of Superman. ... Featured in seventy-seven daily papers and thirty-six Sunday papers, 'Superman'

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Falsch wäre es auch, Tille, Levy und Common die alleinige Schuld für die Reihe von Mißverständnissen zu geben, die die amerikanische Nietzsche-Rezeption durchzog. Bis der erste übersetzte Nietzsche-Text 1896 überhaupt in den Regalen amerikanischer Buchläden auftauchte, wartete eine schon auf die Lektüre eingestimmte, mit spezifisch geprägten ideologischen Begriffen ausgestattete Leserschaft auf das dargebotene Gedankengut. Es gab nicht nur aufgrund der Immigration, sondern auch wegen der allgemeinen Achtung des Deutschen als Wissenschaftssprache sowie der deutschen Bildung überhaupt Leser in den USA, die sich Nietzsches Werke vor und nach 1896 im Original erschlossen. Bereits 1874 und 1875 erschienen die ersten Rezensionen einzelner Werke.19 Dennoch war es die englische Ausgabe einer deutschsprachigen Studie, welche den Namen Nietzsche und einige daran geknüpfte Ideen rasant in Umlauf brachte, bevor auch nur ein einziges Werk des Philosophen übersetzt worden war.

1.2 Vorbereitende Einflüsse außer- und innerhalb Amerikas Das oben gemeinte Werk war Max Nordaus Entartung, das 1892/93 in Europa den unter Kennern schon geläufigen Termini fin de siecle, Wagnerismus, decadence, Ästhetizismus, Neurasthenie u.a. fast zum Bekanntheitsgrad von Allerweltsbegriffen verhalf. Nordaus Buch bewies nicht gerade herausragende Geistesgröße; man mag durchaus das Urteil Egon Friedells teilen, daß es vor allen Dingen „eine mehrere hundert Seiten lange ununterbrochene Anpöbelung aller führenden modernen Künstler" darstellt.20 Die künstlerische Moderne diente Nordau tatsächlich als Zielscheibe für endlose reaktionäre Invektiven gegen das „kranke" Zeitalter. Viel gelesen und besprochen wurden Nordaus Diffamierungen dieser angeblichen Fälle von Entartung nichtsdestotrotz, und ihr zwielichtiger „Ruhm" wuchs so rapide an, daß nur zwei Jahre nach Erscheinen des Originals eine vollständige englische Übersetzung angefertigt wurde - ein Jahr vor den drei Tille-Bänden also. Auch in Amerika erntete Nordau großes Interesse, Erstaunen, Bewunderung und Ablehnung.21

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has been running to a million and a half copies as a pulp-paper magazine. Yet how can Nietzsche be held responsible for a conception he would have despised, presented through a press he would have despised to a public he would have despised?" (The Cult of the Superman. A study of the ideal of heroism in Carlyle and Nietzsche, with notes on other hero-worshippers of modern times. [New York, 1944]. Zitiert nach der englischen Ausgabe [London, 1947], S. 247.) Anonymus, „Review of .David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller'", Christian Quarterly, 6 (July 1874), S. 427-431. Thomas Sergeant Perry, „Review of ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben'", North American Review, 121 (July 1875), S. 190-193. Egon Friedeil, Kulturgeschichte der Neuzeit (München: Beck, 1989), S. 1415. (Einbändige Neuauflage des dreibändigen Originals von 1927-31.) Vgl. Milton P. Foster, The Reception of Max Nordau 's „Degeneration " in England and America (Diss. Univ. of Michigan, 1954).

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Insbesondere wegen des generellen Ausbleibens des künstlerischen Phänomens der dicadence in der populären nordamerikanischen Literatur sorgte das Werk fiir viel Konfusion. Dieser gesamte Themenkomplex der europäischen Jahrhundertwende ging durch Nordaus Angriff in einer geballten Ladung über die intellektuellen und kulturellen Zentren Amerikas nieder, und entsprechend groß-waren auch die Spuren des Einschlags. Selbst der derzeit führende amerikanische Philosoph William James (1842-1910) sah sich bemüßigt, seine Stellungnahme gegen Nordau in einer Rezension öffentlich zu machen.22 Der Schriftsteller Alfred Hake hielt dringlichere Maßnahmen für nötig, um die Leser über die Falschheit und Gefährlichkeit von Nordaus Ansichten aufzuklären, und schrieb in kurzer Zeit eine über 300 Seiten starke Replik, die als Regeneration 1896 erschien. 23 Degeneration, so Nordaus englischer Titel, galt Hake als hinterhältiger Angriff auf die Demokratie und die geistige Gesundheit der arbeitenden Massen. Damit sei insbesondere das seelische Fundament Amerikas durch solche Pseudowissenschaft gefährdet. Nordaus hanebüchene Diagnose stellte Hake als pervertiertes kulturelles Programm europäischer Provenienz hin. Ferner, in einer ausgedehnten Einleitung zu Butlers Gegendarstellung lobte Nicholas Murray Butler (18621947), Dekan der Philosophischen Fakultät und später Rektor der New Yorker Columbia University,24 das Werk Hakes, dessen Sinn er in der Aufgabe sah, die einfachen Menschen, die „piain people" Amerikas, vor Nordau und den verderblichen Einflüssen Europas im allgemeinen in Schutz zu nehmen, denn: T h e y , and not a group or two of men and w o m e n in each o f the capitals of Europe, are the real index to the degeneracy, or the contrary, of modern life.

If d e m o c r a c y is

to establish itself more widely and more efficiently as a form o f g o v e r n m e n t , it must rest upon the c o m m o n sense of the plain people.

So far f r o m being influenced by the

tendencies that Nordau exploits with so much vigour, it is not impossible that e v e n the names of the representatives of most of those tendencies are u n k o n w n to them. 2 5

Als Gegensatz zu seinem pastoralen Bild der gesunden Landbevölkerung stempelte Butler den „krankhaften" Nordau zum Wanderprediger der dicadence und Entartung ab - wohl aus einem Kalkül der Abschreckung und nicht, weil er Nordaus eigentliches Vorhaben mißverstand. Butler forderte den Leser zur eindeutigen Absage an Nordau auf. In dieser Forderung war aber auch die Notwendigkeit der Zurückweisung Nietzsches enthalten: „To him who, with Nietzsche, is enthusiastic over the ,freely-roving, lusting beast of prey,' we cry: ,Get

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William James, „Review of Max Nordaus .Entartung'", Psychological Review, 2 (March 1895), S. 294. Nicholas Murray Butler, „Introduction" zu: Alfred Hake, Regeneration. A Reply to Max Nordau (New York: Putnam's, 1896). Butler wurde sogar vom (schließlich gescheiterten) Präsidentschaftskandidaten Taft für den Posten des Vizepräsidenten im Wahljahr 1912 ausersehen. Sein öffentliches Ansehen ist also nicht gering einzustufen. Nicholas Murray Butler, Regeneration, op. cit., S. xi-xii.

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you gone from civilization!' ... There is no place among us for the lusting beast of prey." 26 Dieser Kommentar ist für die Rekonstruktion des historischen Hintergrundes unseres Themas besonders wertvoll, weil man davon ausgehen kann, daß Butlers Nietzsche-Kenntnisse sich zu dieser Zeit ausschließlich auf Nordau und aufs Hörensagen stützten. Nordaus vertrauender und unerfahrener Leser erfuhr ausschließlich von Nietzsche dem Geistesgestörten (die irrtümlichen Berichte Hermann Türcks - Friedrich Nietzsche und seine philosophischen Irrwege, Dresden, 1891 - wurden mit abenteuerlicher Verbrämung durch Nordau einer englischsprachigen Leserschaft zum ersten Mal unterbreitet), Nietzsche dem Egomanen, Nietzsche dem Herostraten, Nietzsche dem Vernichter aller Moral und Nietzsche dem Freibeuter, dessen Wahlspruch laute: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt". (JGB 24) Bedenkt man außerdem, daß ein potentieller Nietzsche-Interessent in verschiedenen Zeitungsbeiträgen auf Empfehlungen stoßen konnte wie: „The proper preparation for the reader of Nietzsche is Nordau", 27 dann ahnt man schon die Konsequenzen für die Entwicklung des populären Nietzsche-Bildes. Nordaus sicheres Gespür für Sensationen bescherte ihm auch besonders viele neugierige Leser. Achtet man aber genau auf Nordaus bemerkenden Sprachgebrauch, so sähe man seine Kritik an Nietzsche lieber gegen den Kritiker selbst gerichtet: Wenn man Nietzsches Schriften hinter einander liest, so hat man von der ersten bis zur letzten Seite den Eindruck, einen Tobsüchtigen zu hören, der mit blitzenden Augen, wilden Geberden und schäumendem Munde einen betäubenden Wortschwall hervorsprudelt und zwischendurch bald in ein irres Gelächter, bald unflätige Schimpfreden und Flüche ausstößt, bald in einem schwindelig behenden Tanz herumhüpft, bald mit drohender Miene und geballten Fäusten auf den Besucher oder eingebildete Gegner losfährt. 28

Bei diesem Feldzug gegen Nietzsche fuhr Nordau Geschütze verschiedenen Kalibers auf. Hätte er sich bei der Auswahl der Mittel für diesen Frontalangriff nur auf dubiose Auskünfte über Nietzsches Geisteszustand beschränkt, dann wäre vielleicht selbst der nichtsahnende Laie stutzig geworden, aber Nordau beherrschte alle Künste eines höheren pseudowissenschaftlichen Scharlatans, der sich mit gekonnter Mimik den Anstrich des kritischen Kenners zu geben verstand. Seine Argumente, warum Nietzsche als intellektueller Virus zu bekämpfen sei, waren diverser Art und wurden mit Bedacht auf den zu erwartenden Schockeffekt geschickt eingefädelt. Indem er einige der diffizilsten Thesen des späten Nietzsche drastisch komprimierte - und somit entstellte - und diesen dann, ohne Kenntlichmachung, seine eigene Interpretation beimischte, konnte er wirkungsvolle

26 27 2

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Ibid., S. xii. Anonymus, „A Philosophie Mr. Hyde", The Nation, 62 (June 1896), S. 459. Max Nordau, Entartung (Berlin: Duncker, 1893), S. 304.

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Schreckensbilder einer Nietzscheschen Antiutopie in den grellsten Farben ausmalen. Nietzsches Ideal des „freien Geistes" landete zusammen mit der in den späten 80er Jahren ausgereiften Moralkritik in Nordaus Rührtopf. Am Ende wurde aus Nietzsches philosophisch-historischer Analyse der Genese der Moral ein anarchisches Zerstörungsprogramm, angeführt unter der Regie von asozialen Wilderern und Plünderern: Der geistig freie Mensch [Nietzsches] muß „jenseits von Gut und Böse" stehen; diese Begriffe gibt es für ihn nicht; er prüft seine Triebe und Handlungen auf den Werth, den sie für ihn selbst, nicht auf den, welchen sie für die Anderen, die Herde, haben; er thut, was ihm Lust schafft, auch dann, besonders dann, wenn es Andere quält und schädigt, ja vernichtet. ... Mit dieser neuen Moral wird die Menschheit endlich den Übermenschen hervorbringen können. 2 9

Wer das las, ohne zu wissen, daß dem freien Geist Nietzsches alles andere als die zügellose Entfesselung aller, auch der finstersten menschlichen Triebe eignet, ohne zu ahnen, welchen Stellenwert das Begriffspaar „gut" und „böse" als moralische Konvention und Produkt einer den menschlichen Charakter verunstaltenden Ressentimentmoral im Nietzscheschen System hat, ohne jemals etwas von den zivilisationsfördernden Tugenden des Übermenschen gehört zu haben, war Nordau ausgeliefert. Er konnte nur dann auf ein Werk wie Zur Genealogie der Moral unvoreingenommen reagieren, wenn er Scharfsinn und, um ein Kriterium aus Nietzsches Vokabular zu bemühen, Geschmack mitbrachte. Der um Verständnis bemühte Nietzsche-Leser muß systematisch vorgehen. Eine Art Vorbereitung auf Nietzsche kann ja in der Einordnung seines Denkens in die Geschichte der abendländischen Philosophie bestehen. Die eigentliche Vorbereitung auf Nietzsche bleibt jedoch, und dies wußte am besten er selbst, allein Nietzsche. Aber auch der Philosoph selbst rät zur Vorsicht. Er, der vor allem nicht verkannt werden will, der verlangt: „Verwechselt mich vor Allem nicht!" (EH „Vorwort" 1), legt seinen Lesern die Tugend des vorsichtigen und „langsamen Lesens" seiner Werke (M „Vorrede" 5) ans Herz. Das Studium der Nietzscheschen Philosophie in medias res, auf dem Gipfel seines in fieberhafter Eile fortschreitenden Denkens der späten 80er Jahre zu beginnen, bedeutet, gelinde ausgedrückt, ein sehr riskantes Unterfangen zu betreiben. Ohne die Kontrollmöglichkeit des Vergleichs mit anderen Texten außer Zarathustra und den kürzeren, letzten Abhandlungen - so die Situation 1896-1902 in Amerika - mochte es manchem Leser allzu folgerichtig erschienen, Nordaus Vorwürfe bei Nietzsche selbst, gerade in der Genealogie, bestätigt zu finden. An dieser Ausgrabungsstätte der Moralgeschichte fördert Nietzsche Artefakte der vorzivilisatorischen Kultur zutage, die mit unerhörter Offenheit, bar aller Verschönerung, von den mystischen und moralischen Fundamenten des Abendlandes als von einem historischen Machwerk künden. Das Heiligtum, sobald sein Schleier gelüftet und es

Ibid., S. 3 1 9 f .

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selbst ans Tageslicht gebracht ist, wird notwendig entweiht. Anstatt der Friedlichkeit des primitiven Naturmenschen ist da der blutige Urzustand des „vornehmen" Herrenmenschen zu sehen: „Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen". (GM „,Gut und Böse', ,Gut und Schlecht'" 11) Dort begegnen auch schockierende und entlarvende Neuwertungen tradierter Ideale, wie im Falle der Nietzscheschen Umkehrung des christlichen Verständnisses von Güte: das Urtheil „gut" rührt nicht von Denen aer, welchen „Güte" erwiesen wird. Vielmehr sind es „die Guten" selber g e w e s e n , das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. (GM I 2)

Selbst die menschliche Lust am Leid anderer bleibt hier nicht unerwähnt: „Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler ... Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen". (GM II 7) Was Nietzsche hier hemmungslos und ohne Rücksicht auf die Folgen für sich selbst - dem δαιμόνων seiner „intellektuellen Redlichkeit" folgend also - zu denken wagt, enthält den geistigen Zündstoff, mit dem er sich selbst identifiziert: Dynamit. Die Glutwelle seiner wirkungsgeschichtlichen Detonation förderte auch hitzköpfige Reaktionen. Diese Faktoren gehörten zu den wichtigsten Einflüssen, welche der amerikanischen Nietzsche-Rezeption nicht nur den Weg bereiteten, sondern die Richtung selbigen Weges auch mitbestimmten: Auf der einen Seite war das die Textauswahl der ersten Übersetzungen, auf der anderen die propagandistische Vorarbeit, die von anderen geleistet wurde. Bei der vorliegenden Betrachtung der „Propagandisten" lag bislang die Konzentration, gemäß der Wirkung des Werkes, auf Nordaus Entartung. Nordau beherrschte diesen Einflußbereich aber keineswegs alleine. Es waren auch andere am Werk, und den frühesten amerikanischen Studien zum Thema30 ist zu entnehmen, daß insbesondere drei weitere Titel aus der frühen deutschen Nietzsche-Rezeption eine maßgebliche Rolle in den USA spielten: Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, Raoul Richter, Nietzsche. Sein Leben und Werk-, Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches. Riehl, Richter und die Schwester Nietzsches waren natürlich keine Nietzsche-Gegner; vor allem die Biographie zeichnet sich ohnehin

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Beispielhaft wäre etwa Grace Neal Dolson, The Philosophy of Friedrich Nietzsche (Diss. Cornell University, 1899 - später unter dem gleichen Titel auch in Buchform erschienen: New York, 1901). Zahlreiche Zeitungsbeiträge (vgl. die Artikel von Paul Carus) führen zu den gleichen Befunden hinsichtlich der auf den amerikanischen Kontext einwirkenden Werke der deutschen Nietzsche-Rezeption.

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durch einen absolut panegyrischen Charakter aus, und die zwei Monographien bemühen sich früh um ernsthafte Betrachtungen des Nietzscheschen Denkens, wenngleich mit gelegentlichen Vorbehalten versehen. So bildete die Trias dieser Werke eine sekundärliterarische Grundlage für angehende Nietzscheaner in Amerika. Der Biographie der Schwester kam verständlicherweise besonderes Gewicht zu, galt Elisabeth Förster-Nietzsche lange Zeit doch als letzte Instanz in Fragen des Lebens und der Person ihres Bruders sowie der Verwaltung des Nachlasses und der sonstigen Werke. Der selbststilisierte Nimbus von Autorität, mit dem sie sich zu umgeben versuchte, erreichte jahrelang die erhoffte Wirkung.31 Ihr Das Leben Friedrich Nietzsches lag freilich erst 1915 komplett in englischer Sprache vor, 32 aber die einschlägigsten Episoden aus der Schwester Erinnerung und den tröpfchenweise zitierten Manuskripten wurden häufig in Zeitungsbeiträgenparaphrasiert, und auch der Übersetzung des Zarathustra wurde ein längerer biographischer Beitrag von Elisabeth Förster-Nietzsche vorangestellt." Daß man gewissermaßen repräsentativ Max Nordau auf der einen und Elisabeth Förster-Nietzsche auf der anderen Seite eines rezeptionsgeschichtlichen Tauziehens hatte, brachte besondere Konsequenzen für die amerikanische Aufnahme der Philosophie Nietzsches mit sich. Bereits in den Anfängen der Diskussion polarisierte sich die amerikanische Reaktion in zwei deutlich erkennbare Lager: das der vehementen Nietzsche-Widersacher und das der eifernden Nietzsche-Jünger. Auf jeden Fall wurde Nietzsche rasch zu einer öffentlichen Potenz, über die zu schweigen viele Intellektuelle sich nicht leisten zu können glaubten. Die daraus folgende Verpflichtung, öffentlich Partei entweder für oder gegen Nietzsche zu ergreifen, verdrängte vielerorts die Möglichkeit einer sachlichen Untersuchung philosophischer Inhalte, um für Tendenziöses und Kolportage Platz zu machen. Diese Aussage ist gleichzeitig zumindest teilweise durch den Hinweis zu

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Das Gewicht, das viele amerikanische Nietzscheaner der Autorität der Schwester beimaßen, läßt sich reichlich belegen. Ihr verdanke man, so W. Barry, jegliche Kenntnis des wirklichen Nietzsche, denn es sei „from the minute details given of her family by Madame Förster-Nietzsche, to whom we owe our knowledge." (W. Barry, „The Ideals of Anarchy" Littel's Living Age, 211 [1896], S. 618). James Huneker schrieb voller Enthusiasmus: „Elizabeth FoersterNietzsche is a good-looking.intellectual lady, devoted to thÄ memory of her brother and writing much about him," was freilich nur in Hinsicht auf die schriftstellerische Produktivität der Schwester zutrifft (James Huneker, Steeplejack [New York, 1920], Bd. 2, S. 224f.) Und selbst der Frau Förster-Nietzsche eher skeptisch betrachtende H.L. Mencken notierte: „Nietzsche's sister was the only human being that ever saw him intimately, as a wife might have seen him", und empfahl ihr Buch als „The standard biography of Nietzsche" (H.L. Mencken, The Philosophy of Friedrich Nietzsche [Boston, 1908], S. 294 u. 59).

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Elizabeth Förster-Nietzsche, The Young Nietzsche, trans. P. Cohn (London, 1912), sowie dann: The Life of Nietzsche, vol. 2 The Lonely Nietzsche, trans. P. Cohn (New York, 1915). Elizabeth Förster-Nietzsche, „Introduction by Mrs. Förster-Nietzsche", Thus Spake Zarathustra, trans. Thomas Common (London, 1909).

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relativieren, daß z.B. schon 1899 eine Dissertation über Nietzsche von der Philosophischen Fakultät der renommierten Cornell University angenommen wurde (nämlich die Arbeit von Grace Neal Dolson). Mit dieser Monographie suchte die Verfasserin, genau eine solche sachliche Erörterung zu realisieren. Frau Dolsons Arbeit stünde auch keineswegs als einziger Titel auf einer Liste ernsthafter Untersuchungen aus den Gründeijahren der amerikanischen NietzscheRezeption, und genau diese Entwicklungslinie wird von der vorliegenden Arbeit auch zum Gegenstand gemacht. Das Gros der frühen Wortmeldungen zu Nietzsches Philosophie trug aber nicht die Züge von Objektivität oder gar Wissenschaftlichkeit, sondern zielte auf Denunzierung bzw. zelotischen Lobgesang. Das Forum dieser Art der Auseinandersetzung war das, was man gemeinhin den publizistischen Bereich der öffentlichen Medien nennt: die großen Tageszeitungen der Metropole, aber noch mehr die kleineren intellektuellen Zeitschriften und Fachjournale, welche eine generell interessierte sowie eine spezialisierte, gebildete Leserschaft in den kulturellen Hauptstädten wie New York, Boston und Chicago mit Informationen über die neuesten Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft und Politik versorgte. Es handelte sich u.a. um die für Intellektuelle meinungsbildenden Periodika wie The Nation, The Living Age, The Monist, The North American Review, The Bookman, The Open Court und andere. Damit erwies sich diese Nietzsche-Diskussion durchaus nicht als bloße Randerscheinung des geistigen Diskurses in Amerika um die Jahrhundertwende, sondern als zentraler Gegenstand damaliger intellektueller Debatten. Der Kommentar selbst indes bewegte sich in einem Dreieck, dessen drei Seiten Journalismus, Feuilletonismus und Fachwissen waren. Zum Behufe der Parteinahme bedurfte es auf beiden Seiten schlagkräftiger Argumente, die den Standpunkt pro oder contra Nietzsche überzeugend stützen sollten. Bereits nach der Lektüre nur einiger Beispiele dieser Zeitschriftenartikel fallt die äußerst hohe Wiederholungsfrequenz fast sämtlicher Begründungen und methodischer Vorgehensweisen ins Auge. Dies war ein Schreiben in Tropen, ein Hantieren mit Klischees, die wirkungsbewußt konzipiert und dann an andere Rezensenten weitergereicht wurden. Manche davon waren in der Sache selbst angelegt, entsprangen also einfach den Umständen der Leserschaft um die Jahrhundertwende, die mit einer provozierenden neuen Lektüre konfrontiert wurde. Solche Meinungen waren verständlicherweise nicht nur in der populären amerikanischen Nietzsche-Rezeption anzutreffen. Andere wiedrum gingen auf einen spezifisch amerikanischen Kontext zurück. Viele belegten andererseits einfach die Übernahme, fast das Plagiat schon kursierender Stellungnahmen, die in der deutschen Diskussion - hier vornehmlich Nordau, Förster-Nietzsche usw. - wurzelten. Einige Beispiele und Vergleiche aus den genannten (und anderen) publizistischen Blättern sollen diese Argumente in klar erkennbarer Gestalt hervortreten lassen.

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1.3 Der populäre Streit um Nietzsche Die frühesten Zeugnisse der sich in den Tageszeitungen und Fachzeitschriften vollziehenden amerikanischen Auseinandersetzung mit Nietzsche bezeugten eine überwiegend negative Haltung gegenüber Denken und Person des neuen „Modephilosophen" mit dem befremdlichen deutschen Namen. Die historische Wirkung einer geistigen Strömung läßt sich aber genauso gut an der Zahl ihrer Feinde wie an der ihrer Freunde bemessen, und im Falle Nietzsches beeindruckt es sehr, daß viele Kommentatoren seine Philosophie für eine Bedrohung hielten, welche der Gesellschaft ernsthaften Schaden zufügen könnte. Zahlreiche amerikanische Journalisten und Rezensenten sahen ein so großes potentielles Unheil von Nietzsches Werk ausgehen, daß sie Grund zu haben meinten, ihren Lesern von der Lektüre dieser Bücher dringend abzuraten oder aber diese Leser für den ideologischen Kampf gegen dieselben hinreichend zu rüsten. Anhänger und Verteidiger fühlten sich von früh an durch diese Angriffe auf den Plan gerufen und zogen in eine Papierschlacht, die um die Gunst des Lesers ausgefochten wurde. Oft genug befanden sich die Nietzscheaner in der Defensive und mußten als Apologeten agieren. Aber die Argumente zugunsten Nietzsches ersannen die Verfechter seiner Ideen mit gleicher Geschwindigkeit und ebenbürtigem Einfallsreichtum wie die Aggressoren ihre Beschuldigungen und Jeremiaden. Der aus allen Stimmen der für und wider Nietzsche appellierenden Parteien ertönende Dialog hatte den unverkennbaren Klang von Rede und Gegenrede. Der Vorwurf forderte den Freispruch, das Lobwort die Verleumdung heraus. Innerhalb dieses Modells fand der Großteil (also unter Abzug der literarischen Anverwandlung Nietzscheschen Denkens etwa) der amerikanischen NietzscheRezeption statt, die sich als eine divergente, aber auch disjunktive Dialektik vollzog. These und Antithese strebten auseinander, entwickelten aber keine Selbständigkeit; sie annullierten sich gegenseitig, und so blieb die Bewegung der Diskussion zirkulär, ohne den Fortschritt der emporsteigenden Bewegung. Nur in seltenen Fällen der amerikanischen Nietzsche-Rezeption erreichten These und Antithese eine Art Synthese oder zumindest eine notwendige Verschränkung, indem die im Dualismus festgefahrenen, diametral entgegengesetzten Positionen durch extreme, aber gleichermaßen zutreffende Gegensätze die Totalität von Nietzsches Blick durch die Absteckung von extremen, eigentlich miteinander unvereinbaren Stellungnahmen zumindest andeutend erkennen ließen. Im großen ganzen aber trat hier die Diskussion oft auf der Stelle. Sicherlich glich der Tenor dieses Diskurses dem der deutschen Originalvorlage u.a. deswegen, weil die amerikanischen Wortführer nicht wenige Thesen von diesem Vorbild abschauten. Töricht wäre es aber zu übersehen, daß die Nietzschesche Polemik selbst extreme Reaktionen auszulösen vermag. Vor allem in den Punkten aber, wo sich das geistige Klima Amerikas im frühen 20. Jahrhundert von dem Europas unterschied, offenbarte sich die Eigendynamik der amerikanischen Behandlung der Nietzscheschen Philosophie. Die einzelnen Themen, die

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jeweils im Mittelpunkt der Polemik der frühen publizistischen Rezeption standen, handelten von Nietzsche in seinem Verhältnis zu: 1. dem amerikanischen Charakter; 2. dem Übermenschen und Amerikas Idealen; 3. der amerikanischen Tradition; 4. Darwinismus und Eugenik; 5. Demokratie; 6. Sozialethik; 7. Menschennatur, Naturmensch und Willen zur Macht; 8. Christentum, neuer Religiosität und Moral; 9. Anarchismus und Entfesselung der Gewalt; 10. Deutschland und „deutscher" Philosophie; 11. der Identifikation als Philosoph, Dichter, Dilettant und Plagiator; 12. Person und Produktion; 13. der Geisteskrankheit. Schauen wir uns jetzt die Behandlung dieser Punkte im einzelnen an. 1.3.a Der amerikanische Charakter Das geringste Maß an Subtilität der Argumentationsweise zeigten NietzscheGegner mit der Feststellung, Nietzsches Geist sei dem amerikanischen Charakter grundsätzlich zu wesensfremd, als daß er jemals Einfluß auf die amerikanische Gedankenwelt haben könnte. Schon in den ältesten Beiträgen aus der publizistischen Rezeption tauchte bereits die Behauptung auf, daß Amerika schlechterdings nicht viel von Nietzsche zu erwarten habe. „Altogether it would be surprising", schrieb ein anonymer Kommentator, „if Nietzschian doctrine flourished in American soil. ... the Anglo-Saxon peoples have long learnt to reconcile liberty with order".34 Das sich hier äußernde und solid präsentierende Bewußtsein Amerikas als des kulturellen und ethnischen Nachfolgers der ehemaligen englischen Kolonialmacht (eine Vorstellung, die bis in die 40er Jahre noch üblich war) bezweckte eine Abgrenzung gegenüber dem Wilhelminischen Kaiserreich, das schon jetzt (1896) in Zusammenhang mit Nietzsche gebracht wurde. Amerikas Überlegenheit bestehe diesem Argument zufolge zum großen Teil in der Fähigkeit seiner Gesellschaft, Freiheit und Ordnung miteinander zu versöhnen und somit die Kernfrage der abendländischen Staatsphilosophie ohne Nietzsches Hilfe zu beantworten was, so die implizite Argumentation, seine deutschen Landsleute nicht zustandegebracht hätten. Die Geste, mit der Nietzsche hier abgetan wurde, verrät aber ein leicht angegriffenes Sicherheitsgefühl. Wenn ein anderer Journalist zwölf Jahre später immer noch beschwichtigte: „It is not likely that he will ever be much read in the United States. Nor is there any reason why he should be",35 dann sprach daraus das starke Verlangen, durch die wiederholte Verkündung von Nietzsches Bedeutungslosigkeit den Leser davon auch unbedingt überzeugen zu wollen, denn allein die anwachsende Masse der Nietzsche-Literatur und die immer zunehmenden Auflagen der Übersetzungen machten auch 1908 unübersehbar, daß Nietzsche in Amerika sehr wohl viel gelesen wurde.

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"

Anonymus, „A Philosophie Mr. Hyde", The Nation, 62 (June 1896), S. 460. Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", The Independent, 65 (1908), S. 697.

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Die Antwort der Nietzscheaner auf die Unterstellung, Nietzsche habe für Amerika keine Relevanz, kam häufig in Gestalt der Umkehrung dieser Behauptung in ihr Gegenteil: Ausgerechnet Nietzsche müsse Amerikas neuer geistiger Leitstern werden. Für sie war Nietzsche eine unentrinnbare Größe, der sich kein Kulturkreis verweigern könne - „We certainly cannot evade him" 36 - und deren Bekanntheit und Bedeutsamkeit in allen Teilen der Gesellschaft zutage träten: S t r a y g l e a m s o f N i e t z s c h i a n t h o u g h t h a v e b e e n v i s i t a n t s to this c o u n t r y f o r y e a r s . E v e r y d r a w i n g - r o o m c a n c h a t t e r a b o u t t h e S u p e r m a n , a n d h a s a n i d e a o f w h a t is m e a n t b y the t r a n s v a l u a t i o n o f all m o r a l v a l u e s . 3 7

I.3.b Der Übermensch und Amerikas Ideale Wie das oben angeführte Zitat veranschaulicht, war gerade der Übermensch für viele das fulminante Ideal, auf das sie ihre Hoffnungen auf ein amerikanisches Nietzschetum gründeten. Es wird sich im Laufe dieser Untersuchung stets von neuem zeigen, daß der Übermensch (neben der Umwertung aller Werte und dem Willen zur Macht) die amerikanische Nietzsche-Diskussion in hohem Maße dominierte. Das zeigt sich u.a. darin, daß Zarathustra unzählige Male als wichtigstes Werk Nietzsches, als „the embodiment of Nietzsche's grandest thoughts in their most attractive and characteristic form", 3 8 ausgewiesen wurde. Der Traum von einer neuen Menschheit, der auch die Herzen aller frühen europäischen Nietzsche-Jünger höher schlagen ließ, traf in der neuen Welt geradezu den archimedischen Punkt der amerikanischen Mythologie. Der auf der positivistischen Wissenschaftswelle reitende Optimismus der Jahrhundertwende steigerte die Faszinationskraft des Konzeptes vom Übermenschen nur. Eine fast teleologische Interpretation der Evolutionstheorie machte die Entstehung eines höheren Typus des Menschlichen, wie hier nach Meinung Paul Carus'(1852-1919), zu einer beinah notwendig erscheinenden Zukunftsentwicklung: S i n c e e v o l u t i o n h a s b e e n a c c e p t e d a s a truth, w e m a y f a i r l y t r u s t that w e all, at least all e v o l u t i o n i s t s , b e l i e v e in the o v e r - m a n . of realising a higher mankind.

A l l o u r r e f o r m e r s b e l i e v e in t h e p o s s i b i l i t y

W e A m e r i c a n s e s p e c i a l l y h a v e faith in the

coming

k i n g d o m o f the o v e r - m a n , and o u r e n d e a v o r is c o n c e n t r a t e d in h a s t e n i n g h i s a r r i v a l . 3 9

36

A n o n y m u s , „The Superman", The Living Age, 273 (June 2 9 , 1912), S. 7 8 2 .

37

Ibid., S. 7 8 2 .

3

*

Paul Carus, „Immorality as a Philosophic Principle. A Study of the Philosophy of Friedrich Nietzsche", The Monist,

3

*

9 (July 1899), S. 588.

Ibid., S. 5 8 9 . Der deutschstämmige amerikanische Philosoph Carus, v o n dem im fünften Kapitel noch ausfuhrlicher die Rede sein wird, machte mit dieser Bemerkung eines seiner wenigen Zugeständnisse an Nietzsche. Er ist sonst den Gegnern zuzuordnen. A u c h war er überzeugt, daß der amerikanische Übermensch sich deutlich v o n dem Nietzsches unterscheiden werde (da er die „blonde-Bestie"-Interpretationdes ΝietzscheschenIdeals vertrat), aber daß er den amerikanischen Glauben an eine solche Gestalt wie die des Übermenschen bestätigte, spricht für sich selbst.

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Vorgeprägt wurde das Bild des neuen, höheren und geläuterten Individuums, das auf amerikanischem Boden erwachsen sollte, längst vor der darwinschen Wende. Wie R.W.B. Lewis in seiner bahnbrechenden Studie The American Adam40 beweist, geht der Mythos vom adamitischen Amerikaner auf puritanische Wurzeln zurück. Das für diesen Mythos ideologiebildende Moment war das neue Dogma der Unitarier, welches den Menschen von der Last der Erbsünde befreite. Aus der Tatsache dieser neuen Unschuld bezogen u.a. die Transzendentalisten die Rechtfertigung für den radikalen Bruch mit der europäischen Tradition. Die schon bei Jefferson anzutreffende Ansicht, die Welt gehöre nicht den Toten, ja nicht einmal den jetzt Lebenden, sondern den künftigen Generationen, kehrte bei Emerson und Thoreau in der These wieder, das Leben eines jeden Menschen solle eine ständige Erneuerung sein. I.3.C Amerikanische Traditionen Amerikanische Nietzscheaner ergriffen schnell die Möglichkeit, an diese Tradition der Selbsterneuerung anzuknüpfen. War es nicht das Projekt Henry David Thoreaus, den Menschen zur Natur zurückzuführen, auf daß er sich durch die neu gewonnene Selbstkenntnis des eigenen Naturzustandes erhöhe? So begriffen jedenfalls die Nietzsche-Anhänger sowohl das Ideal des Concorder „Brahmanen" als auch das des Übermenschen Nietzsches. Der den Übermenschenkult vorantreibende Individualismus wurde von manchen amerikanischen Nietzscheanern als Fortsetzung des transzendentalistischen Denkens (meist durch Ralph Waldo Emerson symbolisiert) identifiziert: In the world [of 19th century] letters Ibsen, Emerson and Nietzsche were three o f the most significant, not to say the three most significant, apostles of individualism. ... In the United States all of these influences, the freedom of extreme protestantism in religion, the general doctrines of political and human equality, and the acceptance of the principle of evolution, have been more free than elsewhere to combine in producing an extreme form of individualism. 41

Für einen anderen Rezensenten wies die begriffliche Ähnlichkeit zwischen dem „overman" Nietzsches und Emersons „oversoul" auf eine tiefere Verwandtschaft beider Konzepte hin: Mankind, he [Nietzsche] would say, has one supreme task, - not a moral duty, but a physiological necessity, - to produce the .overman'.

D o e s not Emerson talk of the

,oversoul'? 4 2

4

"

41

42

Vgl. R.W.B. Lewis, The American Adam (Chicago, 1955). Lewis Smith, „Ibsen, Emerson and Nietzsche, the Individualists", The Popular Science 78 (February 1911), S. 147f. W. Barry, „The Ideals of Anarchy", Littel's Living Age, 211 (1896), S. 628.

Monthly,

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Diese versuchte Eingliederung Nietzsches in die Reihen großer nationaler Vorbilder und ideeller Hauptrichtungen der amerikanischen Geistesgeschichte gehörte zu den wichtigsten Methoden der Aneignung, mit denen amerikanische Nietzscheaner immer wieder operierten. Auch die Verbindungslinie zum inoffiziellen, aber bleibenden (und freilich umstrittenen) poeta laureatus der Vereinigten Staaten, Walt Whitman, wurde sehr häufig betont. Als Dichter der Eigenliebe und des „natural man" - der Natur näher, weil allen Konventionen der Gesellschaft femstehend - wurde Whitman zum geistigen Vorboten Nietzsches: T h e y [Nietzsche and Whitman] share the same grandiose e g o i s m , the s a m e courage to „sing m y s e l f . " the same impatience with sick c o n s c i e n c e , repentance and remorse, and finally, the same sense that as the individual acquires independence, freedom, and an e x p a n s i v e outlook he will b e c o m e w h o l e and well. 4 3

Wer die Verwandtschaft Nietzsches und Whitmans so beschrieb, wollte Bewußtsein dafür schaffen, daß ein deutscher Philosoph - entgegen allen Unkenrufen doch wichtig sein könnte im „angelsächsischen" Amerika. Manche Anhänger andererseits waren über das ihrer Meinung nach zu schwache Interesse Amerikas an Nietzsche enttäuscht, wußten aber, aus einer Not eine Tugend zu machen, indem sie diese Nichtbeachtung als Ausdruck der niederen Gesinnung der amerikanischen Leserschaft erklärten. Diese anklagende Entrüstung konnte sich mild und wohlwollend-belehrend ausdrücken: The A m e r i c a n mind d o e s not quite appreciate the significance o f living problems, b e c a u s e life is so much easier with us than in Europe; w e are much more optimistic; for this reason w e have no great dramatic creations, no tragic art and our philosophy is the philosophy of e f f i c i e n c y . ... N i e t z s c h e is, therefore, not taken quite seriously e n o u g h with us, but ... the problems he discussed will sooner or later confront us also. 4 4

Der Ton konnte jedoch auch deutlich gröber ausfallen: It is unnecessary to point out h o w alien is N i e t z s c h e ' s w h o l e attitude o f mind to the A m e r i c a n temper. H e abhorred c o m m e r c i a l i s m , humanitariaism, facile optimism, any form o f casual, e a s y - g o i n g light-heartedness. 4 5

Wie man sieht, hielten Nietzsches Statthalter teilweise sehr gute Karten in der Hand. Man sollte aber nicht meinen, ihre Gegenspieler hätten ihnen in strategischen Fähigkeiten nachgestanden. Hier wurde auch gern auf bereits erprobte Mittel aus dem Repertoire des deutschen Nietzsche-Streits zurückgegriffen. Sollte die Vision des Übermenschen, die in vielerlei Hinsicht dem Geschmack der Zeit

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44

4

'

Louise Collier Willcox, „Nietzsche: A Doctor for Sick Souls", The North American Review, 194 (1911), S. 766. R.C. Schiedt, „Nietzsche and the Great Problems of Modern Thought", The Reformed Church Review, 2 (April 1912), S. 155. Louise Willcox, „Nietzsche: A Doctor for Sick Souls", op. cit., S. 766.

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so sehr entsprach, die eigentliche Trumpfkarte der Gefolgschaft Nietzsches sein, so war es nur vernünftig, wenn die Opposition genau dieselbe Karte gegen ihre Kontrahenten ausspielte. I.3.d Darwinismus und Eugenik Die vor allem seit 1871 anhaltende Beschäftigung mit Darwin, die durch das in diesem Jahr erschienene Descent of Man neu motiviert wurde, gab vielen Zarathustra-Lesem ein Begriffspaar an die Hand, das fast allen zum Interpretationsschlüssel wurde: Mensch und Affe. Da brauchte ein jeder Leser nur in „Zarathustras Vorrede" zu schauen, und schon stieß er auf ein Bild, das die Assoziierung Nietzsches mit dem Darwinismus als zwingend erscheinen ließ: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus [...] Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. (Za „Zarathustras Vorrede" 3)

Äffisches („Was ist der Affe für den Menschen?") traf hier fatalerweise auf Züchtungsgedankliches („schufen Etwas über sich hinaus"). Daß Nietzsche hier ein Spiel mit Darwin treibt, konnte dem ungeschulten Leser, insbesondere wenn ihm dieses Buch als erster Nietzschescher Text in die Hände fiel, nur schwerlich aufgehen. Außerdem waren da noch die sich als Kenner ausgebenden Exegeten, die nichts anderes als einen eugenischen Züchtungsgedanken in dieser Äußerung sehen wollten. Hatte einer dieser „Experten" das Wort, so mochte es heißen wie folgt: Mankind in its present condition seems so unsatisfactory to him [Nietzsche] that he longs for beings as much above man as man is above the ape. This „Beyond-Man" ... is to be bred as horses are, or as Frederick William I of Prussia is said to have planned breeding large soldiers. The whole plan shows the deep influence of Darwinism. 46

Nietzsche versuche - so die Eugeniker-, diese Entwicklung unter bewußter Anwendung wissenschaftlicher Mittel planmäßig voranzutreiben, um eine vor allem physisch vervollkommnete neue Art des Menschen zu verwirklichen. Glaubte man den feindlichen Exegeten, so waren die Chancen auch verschwindend gering, daß ein solches überzüchtetes Unwesen der Menschheit ein Wohlgefallen sein könnte, denn das Überhandnehmen der Konzentration auf die körperliche Perfektionierung steigere lediglich das Gewaltpotential im Menschen - als stehe die verhaltensbestimmende Kraft des animalischen Substrats im direkten Verhältnis zur Entwicklung der Physis:

46

Camillo von Klenze, „A Philosopher Decadent", op. cit., S. 357.

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Frühe populäre Rezeption If Nietzscheanism were right, the over-man of the future who is going to take possession of the earth will not be nobler and better, wiser and juster than the present man, but more gory, more relentless, more brutal. 47

Nicht anders verlief die Diskussion um die künftige Genese des Übermenschen in Deutschland. Selbst Alois Riehl, der Nietzsche in vielen Dingen gewogen war, hielt den Übermenschen für den mißglückten Versuch, die Evolutionstheorie bis zu seinem konsequenten Ende zu denken. Riehl hatte ,,kein[en] Zweifel doch, .Zarathustra' meint unter dem Übermenschen eine neue, aus dem Menschen hervorgehende, aus ihm zu züchtende Art, eine ,stärkere Species'." 48 Eugenische Theorien, die auch fließende Grenzen mit den Grundsätzen des hier später zu erörternden Sozialdarwinismus teilten, waren in Amerika bereits Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Francis Galtons49 Studien fanden schnell Gehör in amerikanischen Kreisen und gewannen allmählich Anhänger in der Wissenschaft und der Politik. Diese Entwicklung brachte 1903 zunächst einen amerikanischen Züchterverband (die American Breeders' Association) hervor, der sich vorläufig bedeckt hielt und angeblich nur der Tierzucht widmete, dennoch nach kurzer Zeit sich zum eigentlich breiteren Interessenfeld seiner Arbeit bekannte. Dieser Verein taufte sich bald in die American Genetic Association um. Die vom Verband 1914 gebildete National Conference on Race Betterment beschäftigte sich hauptsächlich mit Überlegungen zur Verhinderung der Ausbreitung von genetisch vererbbaren Geisteskrankheiten und rief vielerorts moralische Entrüstung hervor. 50 Auf just diese moralischen Vorbehalte gegen die eugenische Forschung zählten Nietzsches amerikanische Gegner. Ein Programm zur Aufzucht von genetisch höher entwickelten Menschen, das sie der Nietzscheschen Philosophie unterstellten, sei unamerikanisch, weil auch unchristlich und, vor allen Dingen, undemokratisch. I.3.e Die Demokratie Einen Denker antidemokratischer Gesinnung zu bezichtigen, konnte im Geburtsland der modernen repräsentativen Demokratie nicht ohne Wirkung bleiben. Die vor allem im Spätwerk Nietzsches zum Tragen kommende Demokratie-Kritik brachte ihn schnell in den Ruch, reaktionäre Hetze zu betreiben. Als Riehl diesen

47

"" 4 ''

50

Paul Carus, „Immorality as a Philosophie Principle", op. cit., S. 611. Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker (Stuttgart, 1897), S. 124. Als Beispiel für die Umsetzung Nietzscheschen Denkens in die wissenschaftliche Tat führte z.B. Edwin Slosson an: „Francis Galton has imspired a group of young scientists to almost religious zeal in the study of eugenics, for the purpose of showing what can be done toward developing a higher type of the human race by the application of the methods of scientific breeding." ("The Philosopher With the Hammer", The Independent, 65 [1908], S. 696.) Die klassische Studie zu diesem Thema ist immer noch die von Richard Hofstadter: Social Darwinism in American Thought (Boston, 1944).

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Aspekt von Nietzsches Gesellschaftskritik hervorhob („Die .demokratische Bewegung' gilt... Nietzsche nicht bloss ,als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen'" 51 ), mußte er nicht fürchten, daß Nietzsche deswegen als „antideutsch" angeprangert werden könnte. Riehl konnte sich und Nietzsche damit vielmehr als Vertreter des nationalen Interesses hinstellen. Eine wesentlich andere Färbung trugen die Darstellungen der amerikanischen Kritiker, für die diese Demokratiekritik nur von Rückständigkeit zeugte: Finding the spirit o f democracy e v e r y w h e r e , e v e n penetrating rigid autocracies, he d e n o u n c e d it as a deception and a hindrance to progress, and proclaimed the right of the superior man to rule and trample under his feet the weak. 5 2

Dies war nicht Nietzsche der Visionär, dessen kritischer Blick die liberale Heuchelei der modernen Gesellschaft durchschaute, sondern Nietzsche der fatale Blinde, der den Gang des Weltgeistes völlig verkannte. Es war auch Nietzsche der Grausame und Machtbesessene, der wie ein moderner Imperator seine Freude an den Martern der Unterdrückten hatte, denn: „For Nietzsche, the type of everything admirable is the Roman Empire. " 53 Das römische Reich diente hier als programmatisches Gegenbild zu Amerika, da jener Staat durch den tyrannischen Willen zur Ausbeutung anderer Völker sich selbst zu Grunde gerichtet habe. Im Jahre 1889 feierte Amerika hingegen das hundertjährige Bestehen seiner Verfassung. Das Bewußtsein für die Beständigkeit der amerikanischen Demokratie ließ sich von Zweifeln an der Wünschbarkeit der liberalen Staatsform nicht anfechten, und der immer wiederkehrende amerikanische Populismus hatte in Gestalt verschiedener Bewegungen, vor allem im Westen des Landes, wieder starken Aufwind bekommen. Vor diesem Hintergrund mußte eine Auffassung der höchsten realisierbaren Staatsform als Aristokratie zugleich absurd und dämonisch erscheinen. Nietzsches Befürworter reagierten im allgemeinen auf zweierlei Art auf diese schwer zu widerlegende Position. Ein Argument, das als Antwort auf etliche Kritikpunkte eingesetzt wurde und heute noch im Gebrauch ist, versuchte, das unzeitgemäße Wagnis von Nietzsches Denken zu verharmlosen, indem es eine Uneigentlichkeit der Ausdrucksweise in Nietzsches Schriften hineinlas. Nietzsche habe sich, so die Logik dieser Interpretationsweise, oft überspitzt und brisant ausgedrückt - entweder aus einem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder aus einer durch Überbelastung verursachten Übererregtheit -, und das richtige Verständnis seiner Ideen bedürfe der Trennung ihres Inhalts vom ungeeigneten Medium des Nietzscheschen Duktus. Wenn Nietzsche also die Demokratie als Verfallsform

51 52 53

Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 104. Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", op. cit., S. 694. George S. Patton, „Beyond Good and Evil", The Princeton Theological Review, 3 (July 1908), S. 416.

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der Gesellschaft verwerfe, dann wolle er damit lediglich seine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Formen der Demokratie und nicht der demokratischen Idee an sich äußern. Auch in diesem Punkt gab es statuarische Präzedenzfalle in der deutschen Nietzsche-Literatur, in der dieses Argument oft so erschien wie bei Riehl: „Man hüte sich ... Nietzsche zu wörtlich zu nehmen". 54 Da wußte also der gut informierte transatlantische Nietzscheaner dem besorgten amerikanischen Publikum zu berichten: „In justice to Nietzsche, however, we must remember that as a radical thinker he sought constantly to emphasize his thoughts by striking presentation" ,55 Einige wenige, aber mutigere Interpreten riskierten andererseits die Flucht nach vorn, indem sie ihre Leser dazu aufforderten, die Legitimität dieser Demokratiekritik anzuerkennen. Die Gefahr des alle kulturelle Variation und Besonderheit nivellierenden Konformismus wurde als schlummernder Krankheitsherd identifiziert, der in der geistigen Blutbahn Amerikas lauere: the w h o l e tendency of our democratic times is to make men like one another, to look upon all men as equal, to keep all on the s a m e level, and s e e to it that no man obtains predominating influence or expresses his genius.

Thus N i e t z s c h e was the arch-enemy

of democratic institutions. 56

Wenn Amerika die Nietzschesche Hiobsbotschaft überhöre, dann drohe die Gesellschaft zu einer „Gesindel-Demokratie" zu entarten, und nur durch Nietzsches „höhere Menschen" könne dieser Verfall aufgehalten werden: „Give us such Supermen, and let them assume their proper sphere as leaders. Such are, indeed, the only hope against rabble-democracy". 57 1.3.f Die Sozialethik Diese offene und gewagte Unterstützung von Nietzsches Skepsis gegenüber demokratischen Ideen und Institutionen knüpfte auch häufig an die um die Jahrhundertwende stark gewachsene Reaktion gegen die sozialpolitischen Unternehmungen der philanthropischen Reformbewegung an. Hier führten erwartungsgemäß auch viele Spuren zur eugenischen Lehre von der Rassenhygiene zurück. Nietzsches Ausführungen zum Siegeszug der Ressentimentmoral der „Vielzuvielen" über die „Herrenmoral" der Gesunden und Lebensfrohen und zu den katastrophalen Auswirkungen dieser Umwertung auf das Bewußtsein des gesamten Abendlandes (es ist abermals die Genealogie, welche als wichtigste Quelle diente) konnten nun, vermöge der Kombination mit pseudodarwinistischen Prinzipien,

M 55

54

"

Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 25. John M. Warbeke, „Friedrich Nietzsche. Antichrist, Superman, and Pragmatist", Theological Review, 2 (July 1909), S. 374. Ibid., S. 370f. Ibid., S. 381.

Harvard

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von der Gesellschaftslehre des Sozialdarwinismus vereinnahmt werden. Ermöglichen, sozialdarwinistischer Kritiker zufolge, philanthropisch motivierte Institutionen das Überleben der sonst „untauglichen" Individuen in der Gesellschaft, so hintertreiben sie damit den Naturprozeß der Selektion (den Nietzsche gutheißen müsse, da er den Menschen zur „Natur" zurückführe), der die gesunde Eliminierung nicht-überlebensfähiger Mitglieder der Gemeinschaft regele. Mit wissenschaftlichen Versatzstücken verbrämte Berichte über das Phänomen der Rassenverschlechterung sollten belegen, in welchem Ausmaß die sich humanitär dünkenden Reformisten das Wohlergehen des Volkes eigentlich gefährdeten. Der statistikbesessene Positivismus belegte die ethnische Degeneration der Nationen mit Beiträgen über sich mehrende Fälle von Geisteskrankheiten und körperlichen Behinderungen sowie von ansteigenden Kriminalitätsraten: neither better government nor a more equitable distribution of wealth, neither education nor moral training, will prevent a race from deterioration if its physical basis is degenerating thru the multiplication o f the unfit. ... W e begin to realize the significance o f that threat w h e n w e read the statistics of the increase of insanity, criminality and physical inferiority.

In Great Britain the ratio of defectives, including deaf,

insane, epileptic, crippled and infirm is reported to have increased from 5 . 4 per 1 , 0 0 0 in 1 8 7 4 to 1 1 . 6 in 1896.

In the past sixty years the number o f insane has increased

fivefold, while the population has doubled. 5 8

Schuld an dieser Entwicklung seien die sich wissenschaftlicher Methoden bedienenden, aber fundamental unrealistisch und antiutilitaristisch denkenden Philanthropen, die über ihrem christlichen Eifer die Torheit ihres Tuns nicht einsähen. Daß das Problem überhaupt erkannt worden sei, habe man nun Nietzsche zu verdanken, denn „Nietzsche ... forced upon the attention of the world what is, after all, the most important of the questions of the future", 59 nämlich: wie man diese Störung des natürlichen gesellschaftlichen Gleichgewichts zu beheben habe. Dieser Versuch, Nietzsches Werk als Handbuch einer neuen Sozialpolitik zu lesen, zwang notwendigerweise zu der Frage nach ethischen Maßstäben in seiner Philosophie. Das „in" ist hier bewußt gewählt, weil die Frage berücksichtigt werden muß, ob Nietzsche denn nur die überlieferte Ethik kritisieren oder auch zusätzlich eine neue dafür einsetzen will. Für die allermeisten Interpreten auf beiden Seiten der Front in der frühen Konfrontation stand fest, daß Nietzsche stets die Einführung eines in den Einzelheiten bereits ausgearbeiteten neuen Wertesystems als Ziel bedenkt. Dies sollte notwendiger Teil der gesamten Umwertung sein: „Nietzsche proposes to do nothing less than to create a new system of morals: there shall be an Umwertung aller Werte".60 Hier hallte der Klang Za-

5

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Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", op. cit., S. 695. Ibid., S. 695. Ernest Antrim and Η. Goebel, „Friedrich Nietzsche's Uebermensch", The Monist, 9 (1898), S. 567.

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rathustrascher Verheißungen in den Überzeugungen dieser selbsternannten Erneuerer der Moral wider. Lange Zeit galt ohnehin die Überzeugung, daß Nietzsche nur als Moralphilosoph zu lesen sei, da „Nietzsche's most important contributions to philosophic thought are ethical in nature". 61 Erkenntnistheoretische und seinsphilosophische Aspekte in Nietzsches Denken wurden im Gegensatz zur Moralkritik nur geringfügig berücksichtigt. Das galt für fast die gesamte amerikanische Nietzsche-Rezeption bis in die 40er Jahre. 1.3.g Menschennatur, Naturmensch und Wille zur Macht Während Nietzsches dienstbare Geister in Amerika zur Laudatio auf die von ihm „propagierten", dem sozialen Notstand angemessenen darwinistischen Maßnahmen anstimmten, machte daraus die Leibgarde der etablierten Moraltradition eine Schimpftirade gegen den Rückfall des Menschen in die Barbarei. Aus Nietzsches Moralkritik lasen nun Traditionalisten die Anpreisung einer gewaltlüsternen Karnivorengesellschaft, auf die nur noch das Diktum zuträfe: homo homini lupus. Die Schreckensbilder, die manche von einer angeblich nietzscheschen Zukunft ausmalten, zeichneten sich teilweise durch barocke Detailliebe aus: If the ethics of Nietzsche were accepted to-day as authoritative, and if people at large acted accordingly ... the selfishness of mankind would manifest itself in all its nude bestiality.

Passions would have full sway; lust, robbery, j e a l o u s y , murder, and

revenge would increase and death in all forms of wild outbursts would reap a richer harvest than he ever did in the days of prehistoric savage life. 6 2

Es ist charakteristisch für solche Entstellungen, daß der Autor (Paul Carus), der durch solche Krisenmeldungen Nietzsche irrtümlicherweise zum Stifter des Gewaltpotentials im Menschen machen wollte, ihm eigentlich nur Recht gab (denn Nietzsche sagt nichts anderes, als daß der Mensch ohne die für ihn so wichtigen Werte von Kultur und Zivilisation eine unbeherrschte Bestie ist) und dadurch auch Nietzsches Ansicht bestätigte, daß der höhere Mensch selbstauferlegter Kontrollen bedarf, um über das gefährliche Chaos seiner Triebe Herr zu werden. Hinter Nietzsches Attacken gegen die okzidentale Ethik steckt einerseits die Überzeugung von der Rangverschiedenheit der Individuen und der Schädlichkeit des Mitleidideals; andererseits erwachsen sie aus dem Wunsch, den Menschen von seinem „schlechten Gewissen", der Doktrin vom angeborenen Zustand der seelischen Verworfenheit, zu befreien. Letzteres hat einen entschieden humanistisch anmutenden Charakter. Das Wort von der Entlastung des geschundenen Bewußtseins von seinem indoktrinierten Schuldgefühl wurde auch deswegen häufig als Parierschlag gegen die Vorwürfe des Barbarismus eingesetzt.

" 6ϊ

Grace Neal Dolson, „The Influence of Schopenhauer Upon Friedrich Nietzsche", The Philosophical Review, 10 (1901), S. 246. Paul Cams, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 613.

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Spätestens seit der von den Transzendentalisten initierten Kritik an der Calvinistischen Lehre von der Erbsünde (eine Kritik, an der der in St. Louis vertretene aber mit Massachusetts eng verbundene Hegelianismus nicht geringen Anteil hatte) war die Funktion der Askese in der Religion auch in Amerika unter Beschuß geraten. Im Lichte dieses reformatorischen Geistes wurde Nietzsche eine weitere Vordenkerrolle bescheinigt, die ihn als eigentlichen Menschenfreund ausweisen sollte. Wurde von vielen zugestanden: „asceticism, especially altruistic asceticism is illogical", so erschien Nietzsches Versuch einer Läuterung des Gewissens von asketischen Martern auch nur logisch. Zwar habe der Philosoph selbst ein sehr bescheidenes und abstinentes Leben geführt, doch „Asceticism, self-abnegation, a colorless neutrality were, in fact, profoundly repugnant to Nietzsche's strong vitality of temperament". 63 Oft fungierte auch Schopenhauers Willensmetaphysik bei vielen Rezipienten als interpretatorische Eselsbrücke im Komplex der Moralkritik Nietzsches. 64 Schopenhauers Wille zum Leben wurde, größtenteils zu Recht, nach tradiertem Muster als Ausgangspunkt für Nietzsches eigenständiges Denken gewertet, denn für den jungen Studenten Nietzsche war es „the gloomy and impressive pessimism of Schopenhauer that appealed to him most strongly." 65 Schopenhauer habe ihn eigentlich überhaupt erst zur Philosophie geführt und der Philologie abspenstig gemacht. Nietzsche, so diese These, erkenne den Primat des Willens 66 und den daraus resultierenden Pessimismus an, also: „he still remains a pessimist, only he constructs for himself a new pessimism which he styles a .Dionysiac' pessimism." 67 Dieser neue Pessimismus stand hier für die Umkehr der Schopenhauerschen Willensverneinung und Heilsversprechung durch das Mitleid in eine Willensbejahung und Ablehnung des Mitleids als eines dem Menschen Unheil bringenden, weil ihn entwürdigenden ethischen Prinzips: „one of the main incentives to Nietzsche's work in ethics seems to have been his opposition to Schopenhauer's view of sympathy. ... In his eyes it was a mark of weakness, a disgrace to both giver and receiver". 68 Eine angeblich Nietzschesche Ethik wäre für diese Interpreten keineswegs die Setzung eines blutrünstigen und zerstörerischen Überlebenskampfes als eines Ausleseprinzips, das sein höchstes und einziges Gut in der physischen Tüchtigkeit hätte, sondern die Umkehrung der Doktrin von der vererbbaren Sündhaftigkeit Adams in die romantisch-verklärte Idylle vom sündlosen Naturmenschen, der erst durch gesellschaftliche Institutionen

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Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", The Bookmann, 8 (1898), S. 29. Dies ist z.B. ein wesentlicher Ansatz zur Gesamtinterpretation in der Dissertation von Grace Neal Dolson. Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 28. In „The Influence of Schopenhauer Upon Friedrich Nietzsche" (The Philosophical Review, 10 [1901], S. 244) vermerkte Dolson: „The notion of the primal nature of the will is the connecting link between Nietzsche and Schopenhauer". Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit.. S. 29. Grace Neal Dolson, „The Influence of Schopenhauer", op. cit., S. 248.

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korrumpiert und pathologisiert werde. So machten manche Nietzsche-Anhänger aus ihrem Patron den Verkünder der meist irrtümlicherweise mit Rousseau in Verbindung gebrachten „Rückkehr zur Natur". 69 Auch in diesem Falle war die Richtung, in die Nietzsches Denken nun gesteuert wurde, schon durch zeitgenössische Tendenzen vorgegeben. Der maßgeblich von Walter Pater propagierte Antiviktorianismus in England70 hatte in Amerika sein Pendant in Form des sogenannten „neuen Heidentums" (new paganism), das seine wichtigsten Impulse wiederum von Whitman empfangen hatte. Von veralteten Moralsystemen und den gesellschaftlich auferlegten und sodann verinnerlichten Selbsthemmungen befreit, sollte der „natürliche" Mensch nicht nur höheres Glück, sondern auch eine Potenzierung der eigenen kreativen Kräfte erfahren. Die Selbstfindung in der Natur, die durch Thoreaus Waiden (1854) zum festen Bestandteil eines amerikanischen Ideals von der unberührten Wildnis als eigentlicher Quelle der Wahrheit wurde, mündete hier in die Auffindung der Natur in sich selbst. Zu dieser Selbsterkenntnis wolle nun Nietzsche den Menschen führen, da sie Teil seines Projekts sei: „to fill the heart of man with finer and nobler ideals than either the Christian church or Christian philosophy have ever dreamt of." 71 Durch die Liberation des animalischen Trieblebens, das als Inbegriff der elementaren Erbschaft des Menschen zu gelten habe (vor allem in Gestalt der libidinösen Impulse), bezwecke Nietzsche die Genesung des Menschen durch eine „re-habilitation of the flesh". 72 Dieser Nietzschesche Naturmensch sollte von allen in der Moral institutionalisierten Vorurteilen frei sein, denn: One must wholly cast aside these dangerous and foolish fictions and must get back o n c e more to a primitive naturalness. ... This is, to be sure, a step backward e v e n according to N i e t z s c h e ' s o w n preliminary theory; but he regards it as quite necessary in order to clear away the w e a k n e s s , the sentimentalism, and the self-pity that have made the modern world decadent and degenerate. 7 3

Eine Anknüpfung an Rousseau - so unpassend sie auch sein mochte - war hier zu erwarten. Auch Riehl konstatierte: „Wie J.J. Rousseau predigt auch Nietzsche die Rückkehr zur Natur." Riehls Nachsatz aber war noch wichtiger als die von ihm hergestellte geistesgeschichtliche Verbindung, da er von Nietzsches Naturrückkehr sagte:

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Von Rousseau selbst übernommen wurde meistens nur die Aufwertung der in Verruf geratenen „amour de soi". Diese diente oft auch dazu, den Stirnerschen Egoismus - der als der Boden identifiziert wurde, auf dem Nietzsches Denken aufgegangen sei - salonfähig zu machen. Camillo von KJenze empfahl „Walter Pater's meditations on .Dionysos, the spiritual form of fire and dew'" als die „speediest" Art der Vorbereitung auf die Nietzsche-Lektüre. („A Philosopher Decadent", op. cit., S. 623.) R.C. Schiedt, „Emst Haeckel and Friedrich Nietzsche", Reformed Church Review, 12 (1908), S. 29. George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 429. Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 30.

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das heisst [eine Rückkehr] zum Instinkt. ... Seine Vorstellung vom Naturzustand ist jener Rousseaus entgegengesetzt. Sie steht im Zeichen der Darwinischen Lehre; richtiger noch: sie entspringt einem Zuge seines Wesens nach dem Starken, Harten, Grausamen - nach allem, was den Willen stählt und waffnet. 74

Es ist kein Wunder, daß diese „Rückkehr zum Instinkt" dem Bild der Nietzsche-Gegner vom Nietzscheschen Naturmenschen sein Gesicht verlieh. Die Rück£e/2r gestaltete sich im antinietzscheschen Lager wie bei der Darstellung der Ethik zu einem Rückfall. Die totale Entfesselung des Selbst und das freie, ungezügelte Ausleben aller Triebe seien die Hauptpunkte von Nietzsches Botschaft an seine „Jünger": he claims the right of the sovereignity of self. ... Nietzsche knows nothing of selfcontrol; he would allow the self blindly to assert itself after the fashion of animal instincts. Nietzsche is the philosopher of instinct. 75

Das Vorurteil, er sei nur der Philosoph des Instinkts, ist Nietzsche nicht losgeworden - heute vielleicht am allerwenigsten.76 Das Streben nach einem Höchstgrad an Souveränität (in Gestalt der seelischen Autarkie) mag der wichtigste Grundzug im Charakter des Übermenschen sein. Aber übersehen oder unterschlagen in der frühen amerikanischen Nietzsche-Rezeption wurde meist, welche Funktion die Triebe in der Realisierung dieser Souveränität haben. Völlig unsichtbar blieb der Nietzsche, der die Sublimierung und Ordnung der Triebe beim höheren Menschen und freien Geist so schätzt, weil der Mensch im Verfallensein an die Triebe ein zwar vernunftbegabtes, aber höriges Tier ist und kein Gebieter über sich selbst wird. Der Affektmensch weiß nichts von der Selbstüberwindung. Nietzsche sagt offen, was dagegen im Leben des höheren Menschen not tut: Seinem Charakter „Stil geben" - eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: - beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es in's Erhabene umgedeutet. (FW 290)

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Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 72. Paul Cams, „Immoraltiy as a Philosophie Principle", op. cit., S. 583f. Es gab auch objektivere Kritiker, die diesen Komplex der Wiederentdeckung der „Instinkte" des Menschen bei Nietzsche ins rechte Licht zu rücken versuchten. William Salter z.B., dem später noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden wird, schrieb in einem Beitrag für The Nation: „Nietzsche admires the strong, power-loving natures who bring their character under a law and give it a style, just as he likes to see external nature subdued, made serviceable, 'stilisirt'; it is the weak who hate the restrictions of a style, who want to be .natural," ,free' u . („Nietzsche's Individualism", The Nation, 94 [April 11, 1912], S. 361.)

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Lange Übung und tägliche Arbeit sind nicht Sache desjenigen, der nur seinen momentanen, primitivsten Impulsen und Eingebungen lebt. Ein Nietzsche der Selbstbefreiung im Sinne des Sich-gehen-Lassens vertraute dem Leser kaum an, „was uns frei steht": Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren. (M 5 6 0 )

Diese Texte waren freilich in den ersten Jahren der Rezeption auf Englisch nicht zugänglich. Aber spätere Generationen wollten sie offenbar auch nicht lesen, vor allen Dingen hinsichtlich der Punkte, welche die Erstellung eines einheitlichen und nutzbaren Nietzsche-Bilds sehr erschwerten. In den Tiefen der Seele erkennt Nietzsche Häßliches und Schreckliches wieder, und es war nicht falsch, den „Grundtext homo natura" (JGB 230) als „animated with a blind instinct for expansion, which he calls desire for power" zu apostrophieren. 77 Folgt man Nietzsches (nach-)metaphysischem Denken, so ist alles Wille zur Macht. Dieser Wille ist die Monade des ontologischen Monismus, der seine Philosophie schließlich ist. Übrig bleibt jedoch die alles entscheidende Frage, was dieser Wille zur Macht denn sei. In der Sprache der Nietzsche-Verleumdung bedeutete will to power nur den tyrannischen Grundinstinkt im Menschen, der nach Nietzsches Programm freien Lauf genießen sollte, und dieser will to power manifestiere sich demnach als der Drang nach Dominanz, Unterdrückung anderer, Zerstörung all dessen, was objektiviert, also außerhalb des Subjekts befindlich sei. In Nietzsches Philosophie, „Power is defined in one way, in physiological terms". 7 8 Gesehen als bloße Verherrlichung des von Schopenhauer geflohenen Willens, verflachte sich der Wille zur Macht zum banalen Bestreben nach äußerer Machtentfaltung und der Ausübung von physischer Gewalt. Dementsprechend ließen sich weitere Ideen aus Nietzsches zentralem Gedankenkomplex auch pervertieren und, vor allem, drastisch simplifizieren. Nietzsches Visionen vornehmer Daseinsweisen schrumpften dann zu Zerrbildern wie folgendem zusammen: his ideal is complete self-affirmation. Its embodiment is the warrior, w h o crushes all opposition by exercise of his o w n strength and power. ... Napoleon was the incarnation o f the noble idea. 7 9

Auch die Gleichsetzung des Übermenschen mit Napoleon bzw. die Heranziehung Napoleons als Nietzsches Muster für den Übermenschen machte überall in der Geschichte der Nietzsche-Rezeption Schule. Gegenstimmen wurden dennoch erhoben, wie die von M . D . P e t r e z . B . , der eine andere Übersetzung des Begriffs

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Grace Neal Dolson, „The Influence of Schopenhauer", op. cit., S. 155. George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 416. Grace Neal Dolson, „The Influence of Schopenhauer", op. cit., S. 249.

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„Wille zur Macht" als „The Will to be Strong" vorschlug und dabei die Rolle der Selbstüberwindung betonen und die des äußeren Machtausdrucks abschwächen wollte.80 Er argumentierte ausdrücklich: „Nietzsche did not mean by strength that which is merely physical"81 und erkannte nur zu deutlich die mißliche Lage der Fehlinterpretationen von Nietzsches Lebensideal: Poor Nietzsche! he went through much self-conquest to be upheld as the teacher of self-indulgence; he did hard things to become the supposed advocate of easy ones.®

Dieser Lagebericht könnte kaum zutreffender sein. Nichtsdestotrotz blieb die Beschwörung des Willens zur Macht als eines nietzscheschen Freibriefs für Tyrannen und Verbrecher jeglicher Couleur ein zuverlässiges Strategem, mit dem Abschreckungstaktiken gegen potentielle Nietzsche-Interessenten untermauert werden konnten. Immer wieder ging der Art der Interpretation die unterschwellige Absicht des Verfassers voraus. I.3.h Christentum und Moral Die Assoziierung von Nietzsches Denken mit bloßer Morallosigkeit und deren sozialen Konsequenzen - zunehmender Gewalt, Sittenverfall, wüster Ausschweifung - traf sicherlich einen sehr empfindlichen Nerv des amerikanischen Sensoriums. Aber diese negative Reaktion auf die Moralkritik kennzeichnete schließlich nicht die Situation in Amerika allein, sondern trat grenzübergreifend überall dort auf, wo Nietzsche öffentliche Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Offensichtlich beruhten die allgemeinen Moralvorstellungen, die von den Sittenwächtern der viktorianischen Ära beschworen wurden, auf der sehr fundamentalen Basis der Kirche. Selbst wenn Nietzsche seinen Feinden den prägnantesten Begriff, mit dem das Wesen seiner Bedrohung für den westlichen Kulturkreis zu umschreiben ist - der Antichrist -, nicht geliefert hätte, so hätte sein offener Feldzug gegen das Paulinische Weltbild allein wahrscheinlich genügt, um ihm den Ruf einzubringen, der inkamierte Widersacher Christi zu sein. Unrecht wäre es, Nietzsches Kritikern eine Verdrehung der Tatsachen zu unterstellen, wenn sie ihn als den großen Kontrahenten des Christentums ausweisen. Dennoch gelang die Diffamierung Nietzsches als des Verleumders Christi nicht ohne eine gewisse bewußte Veruntreuung seines Denkens. Es war aber auch in diesem Zusammenhang ein glückloser Umstand, daß seine letzte Stellungnahme zu Geschichte und Wesen des Christentums, Der Antichrist, vielen Lesern den allerersten Blick in diesen äußerst komplexen Teil seiner Religions-, Kultur- und Philosophiekritik gewährte. Für den Apostaten und Pfarrerssohn ist die noch bestehende moralische und kulturelle Dominanz des in Glaubensangele-

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M . D . Petre, „Studies on Friedrich Nietzsche", The Catholic World, 82 (1905), S. 317. Ibid., S. 614. Ibid., S. 318.

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genheiten eigentlich ausgehöhlten Christentums das tiefste und augenfälligste Problem der Moderne. Schon in Menschliches, Allzumenschliches beben die Schockwellen der Feuerbachschen und Renanschen Versuche nach, das Christentum historizistisch als Menschenwerk zu studieren und zu interpretieren. Nietzsche aber, der nie einen wissenschaftlichen oder philosophischen Einfluß von außen aufnimmt, ohne ihn durch eigene Erkenntnisse zu bereichem und zu transformieren, fügt auch hier schon sein besonderes Gespür für den psychischen Urgrund des Christentums hinzu. Die christliche Askese hatte in der durch vermeintliche Jünger bemühten Apologie Nietzsches die Funktion, den Philosophen selbst als tugendhaften Anachoreten zu schildern. Nietzsche aber entledigt sich dieser moralisch auferzwungenen Selbstlosigkeit und Bedürfnislosigkeit als eines Stücks Widernatur: Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisieren. (MA 137)

Beim „übrigen Theil" denkt Nietzsche beispielsweise an den Geschlechtstrieb, dessen Verteufelung durch die christliche Tradition seinen Zorn nicht nur wegen ihres Widersinns, sondern vielmehr aufgrund ihrer Schädlichkeit erweckt, denn alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die Phantasie [...] die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass er sich möglichst sündhaft fühle. (MA 141)

Dieser Vorbote der späten Streitschrift zeigt aber zugleich auch Nietzsches Schätzung der Religion und ihrer möglichen Heilkraft für den Menschen. Im vieläugigen Blick des Perspektivismus läßt sich das Phänomen Christentum nicht eindeutig festlegen. Diese Totalität des perspektivistischen Gesichtskreises ermöglicht zudem Nietzsches Verachtung des gewöhnlichen Christen (hierin besteht j a d e r Doppelsinn des Titels Antichrist), der deswegen verächtlich ist, weil er nicht konsequent seinem Glauben gemäß lebt. Der Christ des schwachen Willens erscheint Nietzsche als „eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann" (ΜΑ 116), denn wer an christlichen Glaubensartikeln festhält und gleichzeitig unchristlich lebt, setzt bewußt sein ewiges Seelenheil aufs Spiel. Bis zum Ende seines geistigen Weges vertritt Nietzsche die Auffassung, daß es nur einen wahren Christen gab, „und der starb am Kreuz". (AC 39) So ist ihm aber das geschichtlich gewordene und gemachte Christentum und vor allem die kirchliche Perversion der Botschaft Christi auf Paulus zurückzuführen: Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, dass Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammniss zuerkannt ist und dass dieser schöne Weltplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare. [...] Welche grausa-

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me und unersättliche Eitelkeit m u s s in der Seele D e s s e n geflackert haben, der s o etwas sich zuerst oder z u z w e i t ausdachte! - Paulus ist also doch Saulus geblieben, - der Verfolger

Gottes.

(WS 8 5 )

Ohne Berücksichtigung seines Antipaulinismus also ist Nietzsches AntiChristentum kaum angemessen zu verstehen. Dennoch steht einiges davon ja auch in Der Antichrist. Da finden sich beispielsweise der Schuldspruch Paulus' und eine gewisse Würdigung Christi, der nach Meinung Nietzsches eine wenngleich von seinem eigenen Ideal abweichende, so doch zweifellos vornehme Daseinsweise vorlebte. Nietzsche schätzt durchaus die Konsequenz, mit der dieses Leben geführt wurde: Dieser „frohe Botschafter" starb w i e er lebte, w i e er lehrte - nicht um „die M e n s c h e n zu erlösen", sondern um zu z e i g e n , wie man zu leben hat. [ . . . ] Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste v o n ihm abwehrt, mehr noch, er fordert

es heraus

... Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in

denen, die ihm B ö s e s thun ( A C 35).

Auch wer nur die Spätschriften Nietzsches kennt, muß merken, welchen Wert das Leiden (also auch als passio) in Nietzsches Augen hat oder welche Vornehmheit seiner Meinung nach erforderlich ist, um sich der Rechtsprechung durch tiefer stehende Menschen einfach zu verweigern - sich also auch nicht zu verteidigen. Dennoch hörte die Partei der feindlichen Rezeption immer nur die entstellten Töne der Ketzerei aus Nietzsches Worten heraus und machte aus ihm den Leibhaftigen selbst. Ganz aus der Welt zu räumen ist Nietzsches Anteil an dieser Entwicklung indessen nicht. So sehr er das religiöse Bedürfnis verstehen, Christus als Person verehren und Paulus alle Schuld geben mag, so heißt seine Schrift im Untertitel doch Fluch auf das Christenthum, und er beschließt sie mit einem klaren Ausspruch dieses Fluches: „ich heisse es [das Christentum] den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit". (AC 62) Aber nur allzu bereitwillig nahmen Kommentatoren diese und ähnliche Aussagen in ihre Schlagzeilen auf und unterdrückten die den Tatbestand differenzierenden Exzerpte, um den durchschlagenden Effekt ihrer Anklage zu garantieren. Es gehört zu den historischen Gemeinplätzen über Amerikas Entwicklung, daß seine Kultur auf dem Boden des Puritanismus gewachsen ist. Revisionistische Historiker haben das traditionelle Bild des puritanischen Amerika facettenreicher und weniger einheitlich skizziert als es z.B. seinerzeit bei Perry Miller 83 erschien, aber unbestritten bleibt, daß dem Calvinismus eine ungeheuer wichtige Rolle in der Herausbildung des amerikanischen Bewußtseins und Sittenkodexes zukommt. (Die von Kümberger in Der Amerikamüde [1855] geschilderten

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Miller bleibt dennoch eine der besten Autoritäten zu Amerikas puritanischem Erbe; vgl. u.a. The New England Mind: The Seventeenth Century (New York, 1939) und The New England Mind: From Colony to Province (New York, 1953).

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repressiven Sitten im New York des frühen 19. Jahrhunderts entsprangen keineswegs nur der Phantasie des Autors.) Ein weiteres Indiz dieses Einflusses ist, daß alle altehrwürdigen Universitäten des Landes als theologische Seminare gegründet wurden und lange bis ins 19. Jahrhundert hinein auch solche blieben. Auch hat der amerikanische Genius nie aufgehört, immer neue Formen christlicher Religiosität hervorzubringen, wie Harold Bloom in einer jüngeren Studie bildhaft nachzeichnet. 84 Nietzsche als Gegner des Christentums zu porträtieren, hatte in allen westlichen Ländern eine starke Wirkung, aber in Amerika, wo noch 1925 unter reger Beteiligung der Medien und mit großer öffentlicher Anteilnahme der Schauprozeß in Tennessee verfolgt wurde, bei dem entschieden werden sollte, ob die Evolutionstheorie neben dem Kreatianismus im Schulunterricht vertreten werden durfte, 85 mußte diese Verknüpfung zu einem wesentlichen Thema der dortigen Nietzsche-Rezeption werden. 86 Daher war es für die Akzeptanz oder Ablehnung Nietzsches bedeutsam, daß viele amerikanische Rezipienten die Religion an sich als Ziel von Nietzsches philosophischen Angriffen ansahen. In einem verblüffenden Fall verdoppelter Verwechslung nannte ein anonymer Journalist sowohl Nietzsche als auch Nordau „anti-religious, because they have no appreciation of the spiritual side of man". 8 7 Das Spirituelle im Menschen sei bedroht, denn Nietzsches oberstes Ziel, die Reanimalisierung des Menschen, bedürfe nicht nur der Zerstörung der Moral, sondern auch der Auflösung von deren Fundament: dem Glauben. Charles Everett, einstiger Dekan der Theologischen Fakultät der Harvard University und eine der wichtigsten Figuren in der amerikanischen Philosophie vor dem Pragmatismus, hielt es für notwendig, kraft seiner Stellung dem Hinweis auf Nietzsches Atheismus als Hauptcharakteristikum seiner Philosophie besonderen Nachdruck zu verleihen. Er summierte bündig: „He is in the first place a hearty and thorough-going atheist. One of his favorite expressions is ,God is dead'". 8 8 Nietzsches Wort vom Tod Gottes stach als besonderer Referenzpunkt

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Vgl. Harold Bloom, The American Religion: The Emergence of the Post-Christian Nation (New York: Simon and Schuster, 1992). Dayton, Tennessee, der Schauplatz der Kontroverse und des inzwischen berühmten Scopes Trial, gehörte freilich zu den rückständigsten Winkeln der USA, und auch in Amerika nahm man diesen Prozeß als lächerliche Peinlichkeit wahr. Dennoch wurde der Klage gegen den Lehrer Scopes, der Darwin auch im Biologieunterricht behandelt wissen wollte, stattgegeben. Siehe hierzu u.a. Ray Ginger, Six Days or Forever? (New York, 1958). Selbst viele der frühen Sozialisten Amerikas schlugen zunächst einen vorsichtigen Kurs in Sachen Religionskritik ein, wohlwissend, daß ihre Stellungnahme hierzu großen Einfluß auf ihre Reputation haben würde. So legte die Socialist Party of Vermont 1912 in einer Erklärung fest: „When we say that religion is ,a private matter) we do not mean that it has no social significance. Such a contention would be manifestly absurd. Religion is inseparable from conduct, from human relations, and hence it is a social force of the greatest importance." (Zitiert bei William English Walling, The Larger Aspects of Socialism [New York, 1913], S. 391.) Anonymus, „A Philosophic Mr. Hyde", op. cit., S. 459. Charles Everett, „Beyond Good and Evil", The New World, 7 (1898), S. 686.

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hervor, an dem die Nietzsche-Kritik ihre Position immer wieder bestimmte. Hierin beweise sich der mit titanenhafter Hybris geschlagene Nietzsche als falscher Prophet, der an seinen Werken zu erkennen sei. Das tragische Ende Nietzsches in der Umnachtung wurde wiederholt als Nachweis seiner grundsätzlichen geistigen Instabilität vorgeführt, und in manchen Schriften trat das Faktum des Wahnsinns als göttliche Strafe für das auf, was Nietzsche zu denken und zu sagen sich erdreiste. Seine Krankheit entspringe the danger that exists for minds like his in their attempt to scale the h e a v e n s of speculative thought and penetrate the mysteries that none can ever know. 8 9

Dies kennzeichnete genau die Argumentationsweise der unerbittlichsten Gegner aus den Reihen derjenigen, die sich um eine bibelfeste Ablehnung Nietzsches bemühten. Unzählige Male wurde Nietzsche auch der Theomanie bezichtigt. In diesem Zusammenhang stellte man es oft als ironisches Paradox dar, welches die Überlegenheit des Gläubigen letzlich beweise, daß „Nietzsche, the atheist, deemed himself a God incarnate" und dabei sogar „developed all the symptoms of religious fanaticism." 90 Das sollte heißen, dem Bedürfnis nach dem Göttlichen könne auch der größte Intellekt nicht entkommen, und zum Schluß trage die Abhängigkeit des Menschen von Gott (und nicht umgekehrt!) stets den Sieg über den Hochmut davon. Die Veröffentlichung der sogenannten Wahnsinnszettel erbrachte für die meisten christlich motivierten Kritiker den endgültigen Nachweis dieser Theorie. 91 Andere Interpreten wiederum, die es angesichts des sich wandelnden Zeitgeists für weniger wirksam hielten, die Heilige Schrift als Autorität gegen Nietzsche auszuspielen, wiesen auf pragmatische Vorteile hin, die das Christentum gegenüber den neuen Philosophien (z.B. auch dem Pragmatismus) immer noch enthalte. Jesus wurde als der wahre Umwerter aller Werte porträtiert, da er den großen Bruch mit dem alten Gesetz wagte. Kurios und aufschlußreich zugleich wirkt im folgenden Beispiel die Art, wie die Stärken Christi in diesem Bild von Jesu dem Umwerter in Nietzschesche Begriffe gekleidet wurden: W e find thus in the teachings of Christianity a s u m m o n s to a strength [Macht] far greater than the self-assertion which is most characteristic of the teachings of Nietzsche, because it is the assertion of a larger self [Übermensch],

It was Jesus w h o

fulfilled the ideal to which Nietzsche points, for it was he w h o accomplished the greatest transformation of values [Umwertung] that the world has seen. ... T h e world to which Christianity points is the only realm which is above and beyond g o o d and evil

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Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 31. Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", The Monist (April 1907), S. 235f. Aufschlußreich ist ja der letzte Brief an Jacob Burckhardt vom 6.01.1889, in dem Nietzsche schreibt: „Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen."

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Frühe populäre Rezeption [jenseits von gut und böse]. There the moral law has no place, for in love the law is fulfilled. 92

Solche Argumentation mochte größtenteils Sophisterei sein, aber sie bedeutete ein gewisses Zugeständnis an das Interesse an Nietzsche von klerikaler Seite und nahm ihn zugleich als ernsten Gegner wahr. Die mildeste Form der Anklage aber manifestierte sich in der Feststellung, daß Nietzsche auf seine Irrwege gerate, weil er das Christentum einfach mißverstehe: „His mistake was in thinking that Christianity did not already contain most of the truths at which he had arrived". 93 Nietzsches für die breite Öffentlichkeit vielleicht überzeugendstes Argument gegen das Christentum, nämlich das von der Unnatürlichkeit der Askese, wurde entweder als nicht mehr zutreffend abgewiesen - „Through a mistaken identification of the modern Christian spirit with medieval asceticism, he at the same time poses as the open enemy of Christianity" 94 - oder sogar eingeräumt und dann als richtungweisend für eine immanente Erneuerung des Glaubensinhalts proklamiert. Ein dergestalt reformiertes, durch Nietzsches Kritik von aller Askese geläutertes Christentum sollte dann immer noch reizvoller als der trostlose Nietzscheanismus selbst sein: we must admit that if the Christian principle has been misunderstood [by Nietzsche], it has been due in the first instance to the wrong lines taken by much Christian thought. Monasticism is still held by great portions of the Christian Church to be the „Vita religiosa". ... But we must repeat that asceticism is not the heart of the Gospel. 95

Nietzsches Fürsprechern andererseits blieb das Antichristentum ihres Mandanten ein wunder Punkt. Obwohl manche Nietzscheaner die Verurteilung der christlichen Tradition offen nachbeteten, suchte die Mehrzahl einen gemäßigteren Weg, um auf religiöse Akkusationen zu antworten. Die allermeisten flüchteten sich dabei in die Verharmlosung von Nietzsches Philosophie. Am seltsamsten wirken die Beiträge, die Nietzsche als modernen Anachoreten zeichneten, der an der aus der Höhe seiner Gesinnung resultierenden Einsamkeit leide. Seltsam ist das vor allen Dingen deswegen, weil er hiermit, zumindest den äußeren Lebensumständen nach, in die Nähe der christlichen Heiligen gestellt wurde. Im gewissen Sinne war dies die natürliche Konsequenz der von der Schwester betriebenen Apotheose ihres Bruders, in der er allemal als neuzeitlicher Leidensmann erschien. So entgegnete die Schwester auf die gegen ihren Bruder gerichteten Vorwürfe der Antichristlichkeit, er besitze doch vielmehr eine wirkliche Vorliebe für aufrichtige, fromme Christen. Gerade das ... werden ihm alle Die bezeugen, die mit ihm zusammen in Basel gewesen sind.

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Charles Everett, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 702f. M.D. Petre, „Studies on Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 621. Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 29. J. Kenneth Mozley, „Modem Attacks on Christian Ethics", The Living Age (May 1908), S. 354.

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Frömmsten der F r o m m e n , die mit ihrem Christenthum wirklich Ernst machten, in herzlicher Zuneigung gegenüber und sie ihm. 9 6

Aus Elisabeth Förster-Nietzsches Biographie also stammte die von anderen oft anstandslos übernommene Auffassung, daß Nietzsche das wahre Christentum innigst verstehe und daß sein eigenes Leben „in the truest sense of the word ... an ascetical life" gewesen sei.97 Dies sollte heißen, ein derart nach tradiertem einsiedlerischen Vorbild lebender Mensch wie Nietzsche könne unmöglich jeglichen Verständnisses für die Lebensweise frommer Christen entbehren, und nichts anderes besagte auch der Hintersinn der auf solche Implikationen hinauslaufenden rhetorischen Frage, die M.D. Petre sich und seinen Lesern stellte: D o e s he not remind us somewhat of those Christian ascetics w h o were s o absorbed in the conquest o f their o w n passions that they forgot to notice if they had left a f e w hearts strewn o n the triumphal path of their o w n victory? 9 8

Petre wollte dem Leser bedeuten, die vielen „mißverständlichen" Aussagen, die einen grausamen Charakterzug Nietzsches durchschimmern zu lassen scheinen, erklärten sich in Wahrheit aus der Weitabgewandtheit des in die absolute Geistigkeit versunkenen Philosophen. Geschickt drehten auch manche etwas mystischer veranlagte Verehrer den Spieß des Theomanie-Vorwurfs um und deuteten diese Nietzsche unterstellte Einbildung der eigenen Göttlichkeit als Beweis seines Berufenseins zum Religionsstifter bzw. -erneuerer. Wer sich selbst für Gott halte, sei erst recht auf der Suche nach einem höchsten Wesen. Erneut fungierte hier Zarathustra als Quelle - einmal als Lehre der neuen Religion und dann noch als Lebensbericht der Figur Zarathustras selbst, in der Nietzsche seine gleichnishafte Vorstellung vom neuen Heiland zum Ausdruck bringe. Für solche, die weder Jünger Zarathustras noch Nachfolger einer Religion des vitalistischen Animalismus werden wollten, sollte Nietzsche aber auch eine vage, allumfassende Religiosität des bloßen Enthusiasmus ersonnen haben. Damit rette Nietzsche die kräftigende, wahre inspirative Glaubensfähigkeit des Menschen aus dem Dämmerschlummer des träge gewordenen Christentums. Aber auch innerhalb des Christentums sei einiges zu retten, wenn es durch das Denken Nietzsches einfach einer großen Rehabilitation entgegengeführt werde: Nietzsche may justly be regarded as a sort of devil's advocate in the case of Christianity. ... his very hostility serves the stimulating purpose of compelling Christianity to reveal what merits it p o s s e s s e s and to s h o w such virtues as will stand the most searching and merciless criticism. ... [H]e is doing religion the w h o l e s o m e service of shaking it ... out of a slumber that may be as harmful as it is pleasant. 99

* " m

Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches (Leipzig, 1895ff.), Bd. II/2, S. 762. M.D. Petre, „Studies on Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 318. Ibid., S. 325. Edwin Hardin, „Nietzsche's Service to Christianity", The American Journal of Theology, 18 (1914), S. 546f.

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Die Deutung, Nietzsche sei selbst mitten im heftigsten Angriff auf das Christentum trotzdem eigentlich des Christen rechter Freund und Helfer, ist - ob als bewußte Verfälschung oder ahnungslose Verkennung - eine irrige Interpretation. Die Intention einer Versöhung Nietzsches mit der christlichen Welt indes war als Verteidigungstaktik in zahlreichen Schriften vertreten. 1.3.i Anarchismus und Gewaltentfesselung Die Empörung über Nietzsches wortgewaltige Abfertigung christlicher Lebensideale soll aber nicht ohne weiteres als wehrhafter Gestus einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft verbucht werden. Nietzsche mußte zwar ungezählte Male als „Antichrist" der Moderne herhalten, zumal er seinen Lesern mit diesem Begriff wirksam zugearbeitet hatte. Er führte aber genauso häufig den Beinamen „Bilderstürmer" (iconoclast). Vom religiösen Hintergrund zumindest partiell losgelöst, konnte dieser Terminus jedweden Aktivisten des gesellschaftlichen Umbruchs bezeichnen, und sowohl konservative wie auch revolutionäre Kräfte speisten ihr dialektisches Arsenal aus den Assoziationen, die an das ikonoklastische Schreckensgespenst geknüpft waren. Auch eine zu jener Zeit sehr bekannte Zeitschrift für sozialistisch-anarchistische Gesellschaftskritik trug den Titel The Iconoclast. Nietzsche der Umwerter galt allen Parteien als Nietzsche der Umstürzler, der Philosoph mit dem Hammer oder - der Bilderstürmer eben. Die Lautstärke, mit der so viele Stimmen gegen Nietzsches angebliche Umbruchaktionen aufbegehrten, läßt aber die Annahme nicht zu, es habe sich hier nur um eine Reaktion auf Nietzsches Haltung zum Christentum gehandelt. Die Furcht, die viele angesichts der Ausbreitung des Interesses an Nietzsche zum Ausdruck brachten, hinterläßt beim heutigen Betrachter einen stärkeren Eindruck, als sich so erklären ließe. Vielfältig wiederholte Behauptungen der von Nietzsche ausgehenden Gefahr, wie folgende: in the universal and necessary reconsideration o f all our previous habits of belief and standards o f conduct, the imitation o f N i e t z s c h e ' s attitude constitutes a real, though a momentary, danger to s o m e o f us, 1 0 0

geben spürbar das ernstzunehmende Unbehagen mancher Verfasser preis. Bloße Kirchenkritik hatte zu Anfang der Moderne nicht mehr die Wirkkraft, solche Ängste auszulösen. Außerdem gehört der Abbau von kirchlichen Hierarchien und Traditionszwängen essentiell zur Geschichte und Identität amerikanischer Religiosität überhaupt. Nur diese freizügige Kritik und Flexibilität ermöglichen den stetigen Formenwandel, durch den fast jede Generation amerikanischer Christen sich aufs neue entdeckt und umgestaltet. Die Vielfalt an konfessionellen Renega-

"*' Vernon Lee (d.i. Viola Paget), „Nietzsche and the .Will to Power'", The North American 179 (1904), S. 859.

Review,

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ten innerhalb der protestantischen Tradition Amerikas allein sprengt fast den Rahmen theologischer Taxonomie. Auch die kritische Auflösung der christlichen Mystik in eine funktionelle, geschichtlich gewordene Mythologie kann den heftigen Widerstand gegen Nietzsche nicht ganz erklären. Die historische und komparatistische Religionswissenschaft war auch schon an amerikanischen Gelehrten, auch Theologen, keineswegs spurlos vorübergegangen.101 Bereits 1871 konnte James Freeman Clarke seine vergleichende und daher den Gegenstand auch stark relativierende Studie Ten Great Religions veröffentlichen, ohne dafür auf dem Scheiterhaufen der öffentlichen Meinung zu landen, und die weitere Popularisierung solcher die Religion säkularisierender Studien gipfelte 1891 in Washington Gladdens Who Wrote the Bible?m Wenn die Kirche von Intellektuellen nicht mehr hauptsächlich als Stellvertreterin des Reichs Gottes auf Erden in Schutz genommen wurde, dann kann es nur noch eine andere Funktion gewesen sein, welche das Fortbestehen ihrer Autorität als so vorrangig erscheinen ließ: die christliche Kirche als Träger und Vermittler der Moral und daher auch als zweitwichtigste gesellschaftliche Ordnungsinstanz neben dem staatlichen Rechtssystem. Charles Everett erkannte und beschrieb die von Nietzsche ausgelösten Befürchtungen sehr treffend, als er bemerkte: Atheism under one form or another is no new thing. ... But to deny the ideals of morality which have commanded the reverence if not the obedience of men for so many ages is something different. 103

Glaube und Moral sind für die Moderne in der Tat zweierlei. Everett faßte in wenigen Worten zusammen, woher der Wind wehte. Es war kein Zufall, daß Everett auch den Gehorsam - obedience - hier in den Vordergrund rückte. Die Diskussion war also wieder einmal bei Nietzsche dem Moralphilosophen angelangt, dessen Denken einen gewaltigen Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen drohe. Ein interessantes Beispiel für die Immunität, die Nietzsche vielleicht gehabt haben könnte, wenn er die jüdisch-christliche Moral seiner radikalen Kritik nicht unterzogen hätte, bietet der im späten 19. Jahrhundert sehr beliebte, heute so gut wie vergessene amerikanische Aphoristiker Robert Ingersoll (1833-1899). Der abtrünnige Ingersoll, wegen seiner Ablehnung der christlichen Orthodoxie the great agnostic genannt, kam trotz seines Frevels nicht nur ungeschoren davon,

"" Zur Vertiefung dieses Themas vgl. Murray G. Murphey, „On the Scientific Study of Religion in the United States, 1870-1980", Religion & Twentieth Century American Intellecutal Life, ed. Michael J. Lacey (1989; Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1991), S. 136-171. 1112 In Social Darwinism and American Thought (Boston, 1944) ordnet Richard Hofstadter diesen und ähnlichen Werken eine Schlüsselrolle in der Vorbereitung der amerikanischen Rezeption von Darwins Theorien zu. Vgl. insbesondere sein erstes Kapitel. 103 Charles Everett, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 690.

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sondern wurde in literarischen Kreisen als großes Talent gefeiert. In einem prototypischen Aphorismus, betitelt „Origin of Religion", beschreibt Ingersoll nach schon etablierten Modellen die Genese der Religion als die Entstehung eines Natur- und Zauberkultes: M a n , in his ignorance, supposed that all p h e n o m e n a were produced by s o m e intelligent p o w e r s , and with direct reference to him.

T o preserve friendly relations with these

p o w e r s w a s , and still is, the object of all religions. ... Certain persons took it upon t h e m s e l v e s to appease the g o d s , and to instruct the people in their duties to these unseen powers.

This w a s the origin o f the priesthood ... and the priest, taking ad-

vantage o f the a w e inspired by his supposed influence with the g o d s , made o f his f e l l o w - m a n a cringing hypocrite and slave. 1 0 4

Wenn Ingersoll den Priestern zur Last legen durfte, aus dem Menschen einen „kauernden Heuchler und Sklaven" gemacht zu haben, dann mag sich uns zunächst die Frage aufdrängen, warum Nietzsche Entrüstung erntete mit einer Schrift, in der er dem „asketischen Priester" bescheinigt, eine „widrige und düstere Raupenform" (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 10) zu sein, die ihren Machtwillen in der Vergiftung des Gewissens und der Geißelung der menschlichen „Instinkte" erfüllt. Der Unterschied besteht darin, daß Nietzsches Kritik viel weitere Kreise zieht als nur die der Beschäftigung mit der Priesterschaft und deren verborgenen Motiven. Nietzsche fordert die absolute Kritik moralischer Werte und die Erkenntnis des Christentums als eines „Sklavenaufstand[s] in der Moral" (GM „,Gut und Böse', ,Gut und Schlecht'" 7), der das einst aus der Zuversicht und Lebensbejahung vornehmer „Herrschernaturen" lebende abendländische Bewußtsein transformierte und zerrüttete. Ein Ingersoll hingegen blieb immer im Rahmen einer zwar entmystifizierten, aber eindeutig als jüdisch-christlich erkennbaren Moral. Er leistete sich keine Grenzverletzungen des moralischen Empfindens, sondern beschwor vielmehr einfach den christlichen Frieden ohne Christus oder Kirche und schwärmte seinem Leser von einem immer noch als Mitleidsmoral erkennbaren Ideal vor, in dem y o u pity king and c o n v i c t s , and your sympathy g o e s out to all the suffering and insane, the oppresed and e n s l a v e d , and e v e n to the infamous ... y o u enjoy the ineffable perfect days o f p e a c e . ' 0 5

Im Gegensatz zum mildtätigen Seelsorger Ingersoll gab Nietzsche im Urteil der Zeit das Profil eines Weltenzerstörers ab: „the writer running amuck among the ideals of civilization, a veritable Mr. Hyde, ruthlessly trampling under foot the received standards of morality and religion, an iconoclast."m

"" Robert Ingersoll, Prose-Poems and Selections from the Writings and Sayings (New York, 1910), S. 119ff. "" Ibid., S. 383. Interessanterweise beschreibt Ingersoll in dieser Passage die Gefühle, die im Leser bei der Lektüre von Whitmans Leaves of Grass entstehen. Anonymus, „A Philosophie ,Mr. Hyde'", op. cit., S. 459.

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Insbesondere das Potential zur ideologisch motivierten Gewalt, das sich vor allem in Form des sozialistisch-syndikalistischen und anarchistischen Gedankenguts im Land ausgebreitet hatte, bereitete der politischen Führung Amerikas begründete Sorgen. Es waren um diese Zeit die Anarchisten, die von allen radikalen Gruppierungen den schlechtesten Ruf hatten, da zahlreiche Attentate und Bombenanschläge auf das Konto anarchistischer Organisationen gingen, die um die Jahrhundertwende verschiedene amerikanische Hauptstädte erbeben ließen. Als Symbol für all diese Gewalttaten stand der berühmte Chicagoer HaymarketAufstand, bei dem am 4. Mai 1886 sieben Polizisten und mehrere Passanten getötet wurden, als während einer Demonstration eine Bombe explodierte.107 Viele Amerikaner werden nur wenige Jahre später, als die Nietzsche-Kontroverse entbrannte, diese Ereignisse nicht vergessen haben. Hinweise dafür liefern diverse Zeitungsartikel, in denen Nietzsche oder seine „Jünger" von Publizisten in die Nähe des Anarchismus gestellt wurden. In diesen Beiträgen freilich fehlte meist ein klarer Begriff vom Anarchismus. Der Anarchist selbst wurde dort als gefürchtetes, aber verschwommenes Phantom gezeichnet, so daß die politische Dimension seiner Taten aus dem Blick verschwand. Es sollte jedenfalls diese zur Kriminialität anstiftende Aufhebung aller sozialer Schranken - also auch der moralischen - sein, die Nietzsche mit der Anarchie verbinde. Die angeblich von Nietzsche vorgesehene „abolition of the distinction between good and evil"108 reichte als Grund, ihn und andere (einschließlich Whitmans!) als „anarchists, ego-worshippers, rebels to law and order, despising tradition, and intent on realizing ideals which dethrone duty"109 abzustempeln. Im Zuge der Umwertung aller Werte stiegen demzufolge „the thief, the murderer, the embezzler" zu neuen Ehren im Nietzscheschen Weltbild hinauf, weil diese „a fresh valuation upon the various possibilities of life" 110 besäßen, wie Charles Everett ironisch vermerkte. Es bedarf aber einer blühenden Phantasie, um aus Nietzsche einen Anarchisten zu machen, denn seine Aussagen über den Anarchismus weisen eine für ihn außergewöhnliche Einheitlichkeit und Eindeutigkeit auf. Mit unverhohlener Verachtung schreibt er über die „Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen" (JGB 202) und setzt sie, gemessen an der Skala der lebens- und kulturfeindlichen Kräfte, den moralinsauren Christen gleich, denn es sind in seinen Augen beide d e c a d e n t s , b e i d e u n f ä h i g , a n d e r s als a u f l ö s e n d , blutaussagend

zu w i r k e n , b e i d e der Instinkt d e s Todhasses

vergiftend,

verkümmernd,

g e g e n A l l e s , w a s steht, w a s

g r o s s dasteht, w a s D a u e r hat, w a s d e m L e b e n Zukunft verspricht. ( A C 5 8 )

107

Zum Haymarket-Riot im allgemeinen und dem daran beteiligten deutsch-amerikanischen Anarchisten August Spies insbesondere vgl. Heinrich Nuhn, August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika (Kassel, 1992). "'" Charles Everett, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 695. m W. Barry, „The Ideals of Anarchy", Littel's Living Age. 211 (1896), S. 633. "" Charles Everett, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 696.

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Und doch soll Nietzsches „Programm" genau besagte Auflösung und Vergiftung aller Institutionen der Zivilisation, aller die Menschen voneinander trennenden Momente des feinen Rangunterschieds zugunsten eines neuen Primitivismus vorschreiben? Vorschub wurde dieser Auslegung dennoch durch Gerüchte geleistet: „Nietzsche has become ... the object of a cult". 1 " So wie spätere Kritiker eine Argumentation bemühten, die Nietzsche eine Rolle als Vorbereiter des Faschismus zuschrieb, behaupteten manche seiner Feinde am Anfang des Jahrhunderts einen existenten, wenngleich möglicherweise von ihm selbst nicht gewollten Einfluß auf die Anarchisten und Sozialisten. (Tatsächlich gab es einen gewissen solchen Einfluß in Amerika wie in Europa, aber das soll der Gegenstand eines noch zu folgenden Kapitels sein.) Die Logik dieser Taktik beeindruckt. Wer sich nicht überreden lassen wollte, Nietzsche selbst als Gefahr anzusehen, mußte mit aller Wahrscheinlichkeit doch einräumen, daß eine Schar anarchischer Nietzscheaner, die sich Übermenschen dünkten und ihre Identität als auserkorene Herrscher realiter beweisen wollten, indem sie sich über alle geltenden moralischen Regeln hinwegsetzten, eine emst zu nehmende Bedrohung für die innere Sicherheit des Landes sein könnte. Man hatte schon erfahren, wozu die Anarchisten und Nihilisten Rußlands in der Lage waren, und bei diesen könnte Nietzsche auch Pate gestanden haben: „His most ardent followers are among the nihilists of Russia, the socialists and anarchists of all civilized countries". 1 ' 2 Die Vision eines von Nietzsche angefeuerten Proletariats mochte vielen wie ein gesellschaftlicher Alptraum vorkommen: Nietzsche has become a power with the masses [...], a factor in the life and thought of the reading members of the laboring classes. The intellectual horizon of many of these people is determined solely by Nietzsche.

He is their prophet and apostle." 3

Die Darstellung Nietzsches als Spätzeit-Prophet war ein damals bekanntes Bild, aber noch auffälliger für diesen Kontext ist die Bezeichnung „Apostel", die die Sorge über die Folgen des abgedrängten Christentums noch einmal unterstrich. Besonders Paul Carus warnte vor den Auswirkungen, die eintreten könnten, wenn der anarchistische Funke von Nietzsches Philosophie auf einen unter amerikanischen Arbeitern schon verbreiteten ideologischen Zündstoff überspringen sollte: His [Nietzsche's] followers are among the people who believe in hatred and hail him as a prophet o f the great deluge. His greatest admirers are anarchists, sometimes also socialists. ... Nietzsche's thought will prove veritable dynamite if it should happen to reach the masses of mankind, the disinherited, the uneducated, the proletariat, the Catilinary [sic] existences." 4

"'

Ibid., S. 6 8 7 .

112

Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 2 4 5 .

113

George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 403.

114

Paul Carus, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 6 0 5 .

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Dieses Weltuntergangsgehabe war ja meistens nur Geste oder feuilletonistisches Pathos. Aber daß das Verlaghaus Charles Kerr in Chicago billige Nietzsche-Übersetzungen in seine Reihe für Arbeiter aufgenommen hatte," 5 wird Carus und andere doch ein wenig bedenklich gestimmt haben. Die Angst vor von Nietzsche inspirierten Gruppen von Gesetzesbrechern (die sich später im berühmten Leopold-Loeb Mordprozeß scheinbar bestätigen sollte) oder Staatsfeinden war in der Tat groß. Gewiß gab es auch selbst-proklamierte Nietzscheaner, die solche „revolutionären" Attitüden zur Schau stellten. Der junge Autor Arthur Desmond, der das ihn offenbar blond-bestialisch anmutende Pseudonym Ragnar Redbeard annahm, schrieb 1899 einen Nietzscheaner-Traktat namens Might is Right, the Survival of the Fittest (Chicago: Mueller Publishers, 1899), in dem er sich mit nihilistischer Gründlichkeit schlichtweg allen Prinzipien und Verhaltensnormen fundamental widersetzte: This book is a reasoned negation o f the T e n Commandments - T h e G o l d e n Rule - T h e Sermon on the Mount - Republican Principles - Christian Principles - and „Principles" in general." 6

Andere wiederum gründeten Zeitschriften nach dem Vorbild des englischen Nietzsche-Blatts The Eagle and the Serpentw (der Titel bezieht sich ja auf Zarathustras Tiere) oder der Zeitung Ohne Staat in Budapest, die sich entweder ausdrücklich der Verbreitung und sozialen Anwendung von Nietzsches Denken widmeten oder sich Nietzscheschen Idealen verpflichtet fühlten. Darunter waren / , The Free Comrade, The Philistine oder die Detroiter Zeitschrift Der arme Teufel, in der beispielsweise ein Aspirant der Boheme seinen Widerstand gegen die bürgerliche Lebensform mit Nietzschescher Bravour zu erklären suchte: I am against matrimony simply b e c a u s e I am a poet.

Wife, children, family life, -

well, well! they may be good e n o u g h for the man p o s s e s s e d of the herding instinct. But I object to trivialities in my o w n l i f e . " 8

Diese gefürchteten radikalen Gruppen existierten, waren aber, gemessen an dem Aufhebens, das um sie gemacht wurde, von geringer Bedeutung. Die oben genannten Zeitschriften z.B. wurden ausnahmslos nach wenigen Jahren aufgelöst. 1.3 .j Deutsches In nicht wenigen Fällen waren auch deutsche Emigranten, wie ja schon aus dem Titel Der arme Teufel ersichtlich, an diesen Zeitschriften beteiligt, in Ver-

115

Vgl.Anmerk.il. "* Zitiert bei Paul Carus, „Immorality as a Philosophie Principle", op. cit., S. 608. " 7 Zur Geschichte von The Eagle and the Serpent (1898-1903) vgl. David S. Thatcher, Nietzsche England, op. cit., S. 55-63. "" Zitiert bei Paul Carus, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 612.

in

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lagen tätig oder in politischen Gruppen und philosophischen Gesprächsrunden aktiv. Von nicht geringer Bedeutung war auch die Rolle der deutschsprachigen Chicagoer Arbeiter-Zeitung für die Unruhen, die zum Haymarket-Aufstand führten, und unter den acht Anarchisten, die im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag später festgenommen wurden, waren sieben Deutsch-Amerikaner: August Spies, Michael Schwab, Samuel Fielden, Louis Lingg, George Engle, Adolph Fischer und Oscar Neebe. Der bei vielen bereits vorhandene Verdacht, daß das gefährliche und unverständliche Gedankengut, das in Amerika jetzt sein Unwesen trieb, im wesentlichen aus Deutschland importiert worden sein könnte, erhärtete sich angesichts solcher Ereignisse. Dieses allgemeine Gefühl einer Welle von intellektueller und politischer Unterwanderung entzündete sich auch an dem Namen Nietzsche. Manchmal wurden antideutsche Ressentiments angesprochen, um den Leser von Nietzsche abzubringen. Auf das Niveau fremdenfeindlicher Hetze jedoch sank diese Taktik glücklicherweise fast nie herab (dies blieb der Zeit der Weltkriege vorbehalten), denn Deutschland war als Standort der neuesten wissenschaftlichen Fortschritte in Amerikas gelehrten und bildungsbürgerlichen Kreisen überhaupt eine zu starke und geschätzte Präsenz, als daß solcher Boulevardjournalismus wirklichen Einfluß hätte haben können. Für junge Amerikaner aus den höheren sozialen Schichten gehörte zum Studium an den Universitäten Harvard oder Yale unweigerlich ein Jahr an einer deutschen Hochschule, vornehmlich in Berlin oder Göttingen." 9 Die erste amerikanische Universität, die mit einem zur Promotion führenden Aufbaustudium, einer graduate school, konzipiert wurde, war die Johns Hopkins University in Baltimore, die bewußt dem deutschem Vorbild nacheiferte. Die Fachzeitschriften strotzten vor Inseraten und Rezensionen deutscher Bücher in allen Wissenschaftsbereichen. Diese geistige Dominanz war also so augenfällig, daß man in Nietzsches Fall eher versuchte, die angebliche Pedanterie, Abstraktionssucht, Wortklauberei und den Dünkel deutscher Wissenschaftler zu beschwören, um Nietzsche der Lächerlichkeit preiszugeben und ihn so zu entschärfen, anstatt ihn mit groben germanophoben Beschimpfungen zu verleumden. So erschienen Nietzsches philosophische Ambitionen und hoffärtige Selbstzeugnisse als „typisch deutscher" und damit angeblich völlig unangebrachter Hochmut: „That a German professor should aspire to a place in international literature is sufficiently surprising." 120 Der Ruf deutscher Metaphysik im angelsächsischen Raum, eine im Grunde nur in undurchdringliche Begriffe verkleidete, wirre Sophisterei anstatt klares philosophisches Argumentieren zu sein,

"* Kapitel V („Berlin") in Henry Adams The Education of Henry Adams (Boston, 1918) über Adams' Semester in Deutschland bietet einen faszinierenden zeitgenössischen Einblick in das Leben eines amerikanischen Studenten - zumal es sich hier um einen so wichtigen Zeitgenossen und vortrefflichen Erzähler wie Adams handelt - während eines solchen Studienaufenthaltes in Deutschland. '-" Anonymus, „A Philosophie ,Mr. Hyde'", op. cit.. S. 459.

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lag Nietzsches Kritikern bereits zur Hand, da besonders die Hegeische Philosophie diesen Eindruck in Amerika schon gefestigt hatte. So trafen auch Nietzsche die gleichen Klagen, mit denen einst die Hegelianer verhöhnt wurden. Nietzsche wurde zum „German pedant", [who] in his musty den may fashion philosophic formula: forever, dividing and subdividing to his heart's content. He crawls on the earth and never knows the thrill that comes to the imaginative soul. 12 '

Zu diesem Zeitpunkt war aber, wie gesagt, der Spott, der Nietzsche als deutschem Philosophen widerfuhr, größtenteils die harmlose Antwort auf die gefürchtete Gefahr der Überfremdung durch deutsches Kulturgut, das durch den großen Anteil an Einwanderern aus deutschsprachigen Gebieten in Amerika besonders florierte. Ob von erst- oder nur zweitrangiger Qualität, „German philosophies are, like their plays and operas, shipped over to America when the Germans have got tired of them". 122 Der dies schrieb, brachte damit eher ironische Herablassung als wahre Entrüstung zum Ausdruck. Hat man es in diesen Klagen gereizter Wissenschaftler oder Philosophen also mit einer Art philologischen Bubenstreichs zu tun, so vergeht einem das Lachen, wenn sich andererseits zeigt, daß Nietzsche nicht nur persifliert, sondern überdies seine intellektuelle Ernsthaftigkeit bisweilen in Abrede gestellt wurde. I.3.k Philosoph und Dichter oder Dilletant und Plagiator? Es ist ein durchaus modernes Phänomen, daß gegenwärtig in philosophischen Kreisen der Beweis des Systemwillens eines Denkers nicht mehr unabdingbar ist, will der Philosoph als ernsthafter Wissenschaftler gelten. Der Aphoristiker Nietzsche, der alle Extreme der denkbar möglichen geistigen Standpunkte des Philosophen zu durchleben versucht, um das allzumenschliche Zyklopenauge durch den übermenschlichen Blick des Perspektivismus zu korrigieren, mußte beim Lesepublikum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber mit der Form seines Philosophierens auf Befremden stoßen. Wie in Europa saß in Amerika das positivistische und philosophische Systemdenken fest im Sattel („Truth is a systematic representation of reality, a comprehensive description of facts" hieß es bei Paul Carus etwa 123 ). Eine Philosophie ohne System erregte notgedrungen den Verdacht des Dilletantismus. Um diese Gefahr einer positivistisch begründeten Ablehnung seiner Schriften weiß Nietzsche ja. Fast alle Merkmale seiner eigenen späteren Rezeption sagt er voraus. Wie konnte es ihm entgehen, daß den meisten Lesern „die aphoristische Form" seiner Bücher „Schwierigkeit" machen würde?

121

123

Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 31. Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", The Independent, 65 (1908), S. 697. Paul Carus, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 585.

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[S]ie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert", vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. (GM „Vorrede" 8)

Mit seinen „starken Pessimisten" teilt Nietzsche die Vorliebe für alles Harte, also geistig und seelisch Herausfordernde, und so hält er es mit seiner Treue zum Aphorismus. Für ihn steht fest, daß diese philosophische Kleinform unvergleichlich größere Möglichkeiten der Bedeutung und Deutung in sich birgt, als alle „Bildungsphilister" würden jemals begreifen können. Und so kam es, wie er prophezeit: Im Urteil der etablierten Bildungswelt stellte Nietzsche mit seinem Willen zum Antisystem seine Unfähigkeit zur Philosophie unter Beweis. Aufgrund dieser Form geriet sein Denken zum Darstellungsobjekt verschiedenster Unzulänglichkeiten, die seine Bücher für seriöse Leser angeblich unnütz machten. Da war einmal die Unterstellung der Maßlosigkeit und der Effekthascherei: What Nietzsche totally lacks is balance and a sense of completeness. The very form in which he moulds [hier die Übernahme von Nietzsches eigener Metapher] most of his thoughts - namely, the aphorism -is apt to lead to one-sidedness and exaggeration for the sake of effect. 1 2 4

Andere befanden, daß die aphoristische Form die Banalität und Plattheit von Nietzsches Gedanken beweise, denn dieser Stil mache die Lektüre leicht verdaulich und deshalb nur für geistig Unterbemittelte attraktiv: „His ideas, expressed in aphorisms, are easily understood. They are not presented in a logical, orderly way, but sound like reiterated challenges to do battle". 125 Das epochemachende Mißtrauen, das Nietzsche gegenüber dem ontologisch verfälschenden Ordnungszwang der Systematiker äußert und ohne das viele Zweige der modernen Wissenschaftstheorie undenkbar wären, wurde als Vorwand ausgelegt, mit dem er seine eigene, zum Teil physisch begründete Unfähigkeit zum logischen Denken und klaren Schreiben kaschieren wolle: Nietzsche says he „mistrusts all systematizers and avoids them" and that „the will to system is a lack of rectitude". But when we remember that his mental and physical health made prolonged application impossible, that he was obliged to be much in the open air, that it was his habit to jot down thoughts as they occured to him in the course of his daily wanderings ... we have the psychological (and physiological) explanation of his statement that „sedentary application is the very sin against the holy Ghost, only thoughts won by walking are valuable". It would be like Nietzsche thus to make a virtue out of a necessity. 126

Das inzwischen zur Legende gewordene Bild Nietzsches als eines philosophierenden Berg-Peripathetikers wurde zuerst von ihm selbst inszeniert und dann

IJ4

Camillo von Klenze, „A Philosopher Decadent", op. cit., S. 358.

125

Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 2 3 0 .

l:f>

George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 402.

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nachträglich von der Schwester mit allen Farben eines heroisierenden Alpenglühens ausgemalt. Nietzsche wurde zur lebendigen Inkarnation des einsamen Wanderers über dem Nebelmeer Caspar David Friedrichs. Skeptiker erblickten darin aber nur den neurasthenischen, hypersensiblen Nietzsche, der nicht in der Lage war, sich längere Zeit zum Schreiben hinzusetzen und seine Gedanken ausgereift und geschliffen zu formulieren. Sie stellten Nietzsche als Schnellskribenten dar, der seine Rohentwürfe ohne weiteres zum Verleger einschickte: „he apparently considered everything that came into his head as worthy of publication". 127 Diese vorgebliche Überstürztheit seiner Schriften entband von der Pflicht, sich ernsthaft mit Nietzsche zu befassen: N i e t z s c h e must not be taken too seriously. H e was engaged with the deepest problems o f life, and published his sentiments as to their solution before he had actually attempted to investigate them. 128

Nietzsches Denken sei also Sentiment, ein zu Papier gebrachter Gefühlsausbruch. Diese Manier der intellektuellen und theoretischen Überlegenheit, mit der Kritiker Nietzsche als hastigen Pfuscher abtaten, war schon fester Bestandteil des antinietzscheschen Kanons, bevor sie in der amerikanischen Rezeption auftrat. Die Vermittlerrolle in Sachen Taktik übernahm schon wieder Max Nordau, der Nietzsches Schreibform mit Hohn überschüttete: Selten wird ein Gedanke ein wenig entwickelt, selten sind einige Seiten hintereinander durch eine einheitliche Absicht, durch eine folgerichtig gegliederte B e w e i s f ü h r u n g verbunden.

Nietzsche hatte unverkenbar die Gewohnheit, Alles, w a s ihm durch den

K o p f fuhr, mit fiebernder Hast aufs Papier zu werfen, und wenn er einen H a u f e n b e i s a m m e n hatte, schickte er die Schnitzel in die Druckerei und e s gab ein B u c h .

Er

selbst nennt diesen Gedanken-Kehricht stolz „Aphorismen". 1 2 9

Nordau machte aber seinen amerikanischen Epigonen nicht nur vor, wie diese Kritik auf den Aphorismus, sondern auch auf Nietzsches Stil als solchen anzuwenden war, den er „entsetzlich überladen und schwülstig" nannte.130 In diesem Zusammenhang schlug Nietzsches Wagner-Kritik auf ihn selbst zurück. Nicht Wagner, sondern sein untreu gewordener, einstiger Vertrauter habe es nur auf die große Wirkung, auf den Nervenkitzel abgesehen. Sein Stil sei im wesentlichen zugleich sein „philosophicaldefect", da seine Schreibweise „unsuitable for philosophy" sei.131 Riehl urteilte ähnlich über Nietzsches rhetorische Mittel: „Im Drange, sich mitzuteilen und Gleichgesinnte zu werben, strebt er nach augenblicklicher, stürmischer Wirkung; daher der erregte Ton seiner Rede".132

'-7

Charles Everett, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 697. Paul Cams, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 599. IM Max Nordau, Entartung, op. cit., S. 309. I3 " Ibid., S. 379. 131 George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 402. 132 Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 10. IM

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1.3.1 Einheit von Person und Werk Ausgerechnet Nietzsches stilistische Eigenheiten erschienen den ihm wohlwollenden Lesern hingegen als ein besonderer Vorzug seiner Philosophie. Stil wurde zum inhärenten Ausdruck der mit ihm vereinten Persönlichkeit Nietzsches, die so viele Leser in ihren Bannkreis zog. Seine literarische Begabung hebe ihn außerdem über seine Landsmänner in der Philosophie hoch hinaus, und die als Zeichen fehlenden Tiefgangs verspottete „Einfachheit" gestaltete sich in der Umkehrung des negativen Urteils zur Tugend der Verständlichkeit und des esprit. Sein Duktus war für sie „characterized by idiomatic beauty, refined delicacy, epigrammatic sparkle and subtle eloquence; it is the incarnation of his mighty individuality". 133 Diese Zweieinigkeit von Stil und Individualität begründete auch die oft (und heute immer noch) vertretene Auffassung, Nietzsche sei in erster Linie Künstler oder Poet. Diese Künstlerberufung Nietzsches diente auch seinen Kritikern wiederum schon immer als Kernbeweis seiner angeblichen Nichtzugehörigkeit zur Philosophie. Auch hier gibt Nietzsche selbst den Ton an, wenn er über die Geburt der Tragödie befindet, ihr Gelehrtenstil sei dem Wesen ihrer Aussage eigentlich nicht angemessen, denn, wie es da bekanntlich lautet: Sie hätte singen

sollen, diese „neue S e e l e " - und nicht reden!

Wie schade, dass ich,

was ich damals zu sagen hatte, e s nicht als Dichter zu s a g e n wagte:

ich hätte e s

vielleicht gekonnt! (GT „Versuch einer Selbstkritik" 3)

Dieser enthusiastische Genialismus hielt schnell Einzug in die Nietzsche-Literatur, auch die amerikanische, die vielfach diesen Personenkult mit Ekstase verkündete, wie hier bei R.C. Schiedt: The style is the man and N i e t z s c h e ' s w h o l e self is e x p r e s s e d in his style. [ . . . ] Nietzs c h e ' s prose itself is poetry, every syllable an e c h o f r o m the inmost human heart, joyful and sorrowful, like love itself, containing in e v e r y word and sentence a flood o f sensations, w h i c h n o w waft about us like hot g l o w i n g lava and now make our blood run cold with the c o l d n e s s of mockery and abject contempt, in one word, Nietzsche is Germany's most brilliant stylist. 1 3 4

Andere Enthusiasten allerdings verinnerlichten die Kritik ihrer Kontrahenten und gestanden ihnen teilweise die „Peinlichkeit" von Nietzsches unphilosophischer Sprachakrobatik zu. Die Behauptung von der Uneigentlichkeit Nietzschescher Sprache war daher eine häufige Antwort auf diese stilistisch motivierte Kritik. John Warbeke z.B. bat um eine Distanzierung gegenüber Nietzsches Sprache, die eine gerechtere Interpretation ermöglichen sollte, als eine wörtliche Auslegung das

Ernst Antrim und George Goebel, „Friedrich Nietzsche's Uebermensch", op. cit., S. 565. R.C. Schiedt, „Nietzsche and the Great Problems of Modern Thought", The Reformed Church Review, 2 (April 1912), S. 153.

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könnte: „Injustice to Nietzsche ... we must remember that as a radical thinker he sought constantly to emphasize his thoughts by striking presentation".135 Somit versuchte ja der Interpret, sich selbst einen Freibrief auszustellen, kraft dessen er die unbequemen, einem einheitlichen Bild nicht füglichen Äußerungen Nietzsches aus dem Weg räumen und für nicht beachtenswert erklären konnte. Der in offiziellen philosophischen Kreisen nicht gesellschaftsfähige Nietzsche verschwand hinter dem gequälten und gekränkten Nietzsche, der zuletzt selbst nicht mehr recht wisse, was er zu Papier bringe: H o w often the utterances, h o w e v e r eloquent, o f the man-hater, the woman-hater, the world-hater, the creed-hater, the society-hater, are, in reality, not w o r d s and opinions at all, but merely articulated groans, the e x p r e s s i o n o f personal pain, anger, disappointment, sickness, not of any objecive conviction whatsoever. 1 3 4

I.3.m Die Krankheit Der Verfasser der oben beschworenen Bilder des Schmerzes, der Enttäuschung und Krankheit rief absichtlich die letzten Jahre von Nietzsches geistigem Leben in Erinnerung. Diese bildeten die Phase des vorschreitenden gesundheitlichen Verfalls und der fieberhaften Produktion der Spätwerke - derjenigen Werke also, welche die amerikanische Rezeption von vornherein beherrschten. Waren denjenigen, die den Weg einer versuchten Entschärfung des amerikanischen NietzscheBildes gingen, vor allem diese Bücher ein ewiger Dorn im Auge, so wollten sie doch den Splitter aus den Augen anderer Leser entfernen, indem sie von diesen Titeln ablenkten und die Konzentration stattdessen auf frühere Werke richteten. Der ganze, Nietzsches Denken segmentierende Streit um Früh- oder Spätwerk als den wahren Ausdruck seiner Philosophie beruhte auf der Vorgeschichte einer zur Charakterisierung der Nietzscheschen Werke eingeführten Einteilung in drei Schaffensphasen. Das wahrscheinlich gut gemeinte Anliegen, in Nietzsches Philosophie wenigstens eine systematische Entwicklung, wenn nicht ein System, zu lokalisieren - „in this dialectic process of his own personality there is an inner unity, a hidden fundamental force at work"137 -, führte zur Aufstellung von drei inhaltlich und stilistisch unterschiedlichen Schaffensphasen138 (auch hier leistete Elisabeth Förster-Nietzsche einflußreiche Vorarbeit), von der die mittlere, die Werke von Menschliches, Allzumenschliches bis hin zu Die fröhliche Wissenschaft umfassend (obwohl sich die Grenzen hier gelegentlich je nach Interpret verschie-

135

John Warbeke, „Friedrich Nietzsche, Antichrist, Superman and Pragmatist", op. cit., S. 374. M.D. Petre, „Studies on Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 327. 137 R.C. Schiedt, „Nietzsche and the Great Problems of Modern Thought", op. cit., S. 154. I3 " Hier empfahl z.B. Grace Neal Dolson: „His writings lend themselves most readily to a triple division, the three periods of which may be called from their different standpoints the aesthetic, the intellectual, and the ethical". („The Influence of Schopenhauer", op. cit., S. 242.) 136

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ben), aus dem positivistischen Impuls Nietzsches hervorgegangen sein sollte. 139 Dieser Nietzsche entsprach viel eher dem Wissenschaftsverständnis der Jahrhundertwende. Fast routinemäßig pochten Nietzsches Kritiker jedoch darauf, daß der späte Nietzsche der eigentliche sei, der endlich sein wahres Gesicht zeige, nachdem er alle Schranken und Inhibitionen der Vernunft habe fallen lassen: „his third period [is the one] in which he wrote those works that are peculiarly characteristic of his own philosophy". 1 4 0 Ebenso beharrlich kam die Replik zurück, die letzte Phase trage den Makel der zerrütteten physischen und geistigen Gesundheit Nietzsches the latest works are so marked by e x c e s s and exaggeration. ... But w e must always remember that these were his last works, and that the shadow w a s already overhanging the mind it was eventually to darken 141 -

und könne keineswegs als Gipfel von Nietzsches reifem Denken gesetzt werden. Wer Nietzsche wirklich verstehen wolle, müsse die mittlere Periode kennen (meist wurde von der Geburt der Tragödie als aufbrausendem Jugendwerk ebenso abgeraten wie vom Spätwerk). Leider sei die Auseinandersetzung mit Nietzsche zu seinem Schaden in die umgekehrte Richtung verlaufen: It is a sad and strange fact that it is not always the most profound and original of the works of the three periods which have got into general translation and circulation. we except Zarathustra,

If

which is certainly one of the most brilliant, it is rather the

inferior and less original ones which have b e c o m e more generally k n o w n , at least in

English.

The Considerations Out of Due Time (Unzeitgemässe Betrachtungen), for

instance, are less known than the Anti-Christ.

Gay Knowledge,

really beautiful work of the middle period, and Human, in comparison with Beyond

Good and Evil,

with all its defects a

too Human,

are but little read

a more sceptical and less original produc-

tion.' 4 2

Waghalsigere, die unbedingt die Durchsetzung der „ U m w e r t u n g " als revolutionärer, moralischer und sozialpolitischer Handlung realisiert sehen wollten, bekannten sich zum Spätwerk, 1 4 3 aber es war nicht die Mehrheit, die ihren Propheten

Diese Meinung vertrat auch Riehl: „Von den drei Perioden ... ist die mittlere ... in manchem Betrachte die erfreulichste. Es ist die Zeit seiner Genesung - der Genesung seines Geistes von dem doppelten Gift der philosophischen und der musikalischen Romantik". (Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 58.) ""' Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 232. "" M.D. Petre. „Studies on Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 319. 142 Ibid., S. 328f. 141 Selbst George Patton, der sonst sehr kritisch zu Nietzsche stand, schrieb seltsamerweise: „I think the public is guided by a true instinct in attaching the most importance to his later writings, not only because this is the .ethical' period, and Nietzsche is predominantly a moralist (or immoralist), but also because it is in the writings of this third period that we find both his most iconoclastic utterances and the more positive [!] or reconstructive aspect of his thinking". ("Beyond Good and Evil", op. cit., S. 408.) Pattons Arbeit ist also auch ein Paradebeispiel für die Ambivalenz, die in manchen Beiträgen hervortritt.

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öffentlich auf den Schild des Bilderstürmers zu heben bereit war, da die Brisanz dieser Position ihre Akzeptanz zugleich erheblich verringerte. Das Zugeständnis einer Auswirkung von Nietzsches krankem Zustand auf seine Philosophie öffenete aber das Tor für die pauschale Ablehnung derselben als Produkt eines abnormalen Hirns oder wenigstens eines nur dilletantischen Kopfes. Nietzsche wurde als unwissenschaftlich bezeichnet, weil er sich einerseits angeblich kein strenges Wissenssystem aneigne - „So far as we can see, Nietzsche never became acquainted with any one of the exact sciences" 144 - und andererseits sich selbst den theoretischen Boden unter den Füßen wegziehe, indem er die Standards des objektiven Wissens leugne: „he denies the possibility of any objective standard of knowledge whatsoever". 145 Die philologische Beschäftigung mit Nietzsche hat in den letzten Jahren das Bild seiner angeblichen wissenschaftlichen Ahnungslosigkeit korrigiert, aber das philosophische Problem des Perspektivismus und Relativismus und wie sich Vertreter dieser Positionen Urteile über das Sein und sich selbst erlauben können, bleibt eine immense Hürde im Verständnis von Nietzsches erkenntnistheoretischem Standpunkt. Weniger schwierig zu widerlegen jedoch sind die von manchen Rezipienten vorgebrachten Vorwürfe des konzeptuellen Plagiats bei Nietzsche. Wiederholt meinten findige Kritiker, den schlagenden Beweis von Nietzsches Unoriginalität zu finden, indem sie die ewige Wiederkehr als Abklatsch des Pythagoreischen Zeitrades identifizierten oder auch andere Ideen Nietzsches in den Anfängen der abendländischen Philosophie ansiedelten: the supreme expression of Nietzsche's philosophic creed is nothing but an e c h o o f the Greeks. ... his ethical teaching is only that of Callicles as set forth by Plato in the Gorgias,

and ... his whole theory of knowledge is almost verbally identified with the

notions o f Protagoras as combatted in the

Theaetetus.l46

Die Rückführung von Nietzsches Kritik der Ethik auf die in den Sokratischen Dialogen vertretenen Positionen Kallikles' (und Thrasymachos') begegnete - wie soviel anderes auch - später wieder. Diese Verknüpfung setzte immerhin wenigstens minimale Kenntnisse der philosophischen Tradition voraus. Wer aber die Mühen des Nachschlagens und Stellenvergleiches nicht auf sich nehmen wollte, konnte nach Nordauscher Art Nietzsches Erkenntnisse pauschal als Gemeinplätze verwerfen: „Originality, with Nietzsche, almost always begins with the morbid perversion of commonplace ideas". 147 Die Aussage mochte wohl inhaltlich

145

146 u7

Paul Carus, „Immorality as a Philosophic Principle", op. cit., S. 594. Harry Thurston Peck, „A Mad Philosopher", op. cit., S. 30. Auch Riehl trag seinen Teil zu dieser Auffassung bei: „er [Nietzsche] verneint den Wert der Logik, den Wert der Wahrheit... Denken bedeutet also für ihn so viel als ein ungenaues Wahrnehmen." (Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 116.) Harry Thurston Peck. „A Mad Philosopher", op. cit., S. 31. Alfred Fouillee, „Nietzsche and Darwinism", The International Monthly, III (Jan.-June 1901). S. 146.

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denen Nordaus gleichen, aber offensichtlich war es nicht so leicht, an die überbordende Sprachgewalt Nordaus heranzukommen: [man merkt] daß Nietzsches Behauptungen entweder gleich Kaziken mit Federkrone, Nasenring und Tätowierung herausgeputzte Gemeinplätze so niederträchtiger Art sind ... oder brüllender Wahnsinn.' 4 8

Noch kräftiger demonstriert aber wurde die oft unverfroren tendenziöse Richtung mancher Rezipienten durch die Fälle, in denen nur noch ad hominem gegen Nietzsche polemisiert wurde. Auch in diesem Punkt beruhte manches auf Nietzsches Selbstzeugnissen. Offen gibt er zu verstehen, daß für ihn philosophisches Denken und Subjekt (sofern es für Nietzsche ein Subjekt im herkömmlichen Sinne noch gibt) unentwirrbar miteinander verflochten sind, daß die eigene Philosophie einer essentiellen Gemeinschaft mit dem Subjekt entspringt. Schon bei dem Entschluß, Die Geburt der Tragödie nicht nach den üblichen philologischen Maßstäben, sondern der eigenen inneren Stimme gemäß (auch wenn nach Nietzsches Meinung nicht in der eigenen Stimme) zu schreiben, kündigt sich Nietzsches Überzeugung an, daß sein Denken nicht nur von seiner Person abhängt, sondern ganz und gar Ausdruck derselben ist und sein soll. Der Rückschluß aber, Nietzsches Philosophie lasse sich gänzlich biographisch begründen, ist eine bedenkliche Prämisse und ein Mißbrauch von Nietzsches Freizügigkeit mit Auskünften über sich selbst.149 Dennoch wurde diese Darstellung des Denkens Nietzsches als bloßer Spiegelung der eigenen Lebensumstände sowohl zu seinem Schaden wie auch zu seinen Gunsten betrieben. Was in den Augen der Nietzsche-Bewunderer als glorreicher Geistesblitz des verherrlichten neuen Prometheus aufleuchtete, The modern Prometheus hurls his lightning towards heaven, he bases his life upon himself [...] In this individualism we have the whole program of Friedrich Nietzsche [...] more than a mere name, he is a system of thought, a „Weltanschauung", an intellectual power, with whom every one must reckon who lives and labors with the age, 1 5 0

sahen Nietzsche-Überdrüssige als den Widerschein des geistigen Flammentodes, in dem der Nietzsche-Mythos sich selbst endlich aufzehren würde. Das am häufigsten bemühte Motiv der ad hominem-Apelle gegen Nietzsche kam sicherlich in der Behauptung zum Ausdruck, der 1888 ausgebrochene Wahnsinn sei latent schon seit Nietzsches Jugend vorhanden gewesen und habe sich im Laufe der Jahre in zunehmendem Umfang in seiner philosophischen Produktion

149

1511

Max Nordau, Entartung, op. cit., S. 306. Mit welchen Fährnissen gerade solche psychobiographischen Deutungen verbunden sind, analysiert Eckhard Heftrich in „Die Grenzender psychologischen Nietzsche-Erklärung", Revue internationale de phiiosopie, 67 (1964), S. 74-90; sowie: Nietzsche, hrsg. von Jörg Salaquarda (Darmstadt, 1980), S. 169-184. R. C. Schiedt, „Nietzsche and the Great Problems of Modem Thought", op. cit., S. 147f.

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niedergeschlagen.151 Nordau behauptete naßforsch, Nietzsche habe seine Werke zwischen Sanatoriumsaufenthalten geschrieben. Hiermit allein wäre aber eine Auswahl der Verleumdungen von Nietzsches Person mitnichten erschöpft. Wille zur Macht, Übermensch und blonde Bestie wurden alle einer psychoanalytischen Denunziations-Logik unterworfen, welche diese Ideen samt und sonders aus Nietzsches angeblichen Lustphantasien abstoßender Grausamkeit ableitete und die persönliche Identifikation Nietzsches mit dem Übermenschen als der über Leichen gehenden Bestie herstellte: „He is supremely happy when he can rise on the dead and wounded bodies of the weak; this strengthens his feeling of cruelty".152 Die berühmte, von Nietzsches Schwester wiedergegebene Episode, in der Nietzsche die Idee des Willens zur Macht beim Anblick eines Trupps der preußischen Kavallerie wie eine Eingebung gekommen sei, wirkte dieser Verknüpfung nicht gerade entgegen und wurde häufig in der Literatur zitiert,153 aber der unverblümteste aller gegnerischen Interpreten war und blieb Max Nordau: Die Verirrung ... in welcher der Kranke bei Handlungen oder Vorstellungen grausamer Art wollüstige Erregung empfindet, ist dem Irrenarzt wohlbekannt. Sie hat in der Wissenschaft einen Namen. Sie heißt Sadismus. ... Nietzsche leidet in stärkstem Maße an Sadismus, nur ist dieser bei ihm auf die geistige Sphäre allein beschränkt und befriedigt sich in Gedanken-Schwelgerei. 154

Im Umfeld der amerikanischen Nietzsche-Rezeption fiel der Begriff Sadismus nicht, mag es aus Schamgefühl oder sogar pietätvoller Zurückhaltung gewesen sein. Auf eine subtilere, eher zwischen den Zeilen lesbare, aber genauso wirksame Art und Weise wurde Nietzsches „Normalität" dennoch angezweifelt:

151

152 153

154

Auch die Geisteskrankheit konnten Nietzsches Anhänger trotzdem zum Talisman seiner Auserkorenheit umstilisieren, indem sie das Hamlet-Bild des „noble mind o'erthrown" auf ihn übertrugen. Vgl. z.B. W. Barry, „The Ideals of Anarchy", op. cit., S. 629. Emest Antrim und H. Goebel, „Friedrich Nietzsche's Uebermensch", op. cit., S. 570. Diese Episode schilderte Elisabeth Förster-Nietzsche mit großer, wenngleich gänzlich ihrer Phantasie entsprungener Eindrücklichkeit: „Und als dieser ganze Zug [der berittenen Soldateska] an ihm vorüberstürmte, der Schlacht, vielleicht dem Tode entgegen, so wundervoll in seiner Lebenskraft, in seinem Kampfesmuth, so vollständig der Ausdruck einer Rasse, die siegen, herrschen oder untergehen will - ,da fühlte ich wohl, meine Schwester', fugte mein Bruder hinzu, ,daß der stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem elenden Ringen um's Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht!' 'Aber', fuhr er nach einer Weile fort, während er in den glühenden Abendhimmel hinausschaute, 'ich fühlte auch, wie gut es ist, daß Wotan den Feldherren ein hartes Herz in den Busen legt, wie könnten sie sonst die ungeheure Verantwortung tragen, Tausende in den Tod zu schicken, um ihr Volk und damit sich selbst zu Herrschaft zu bringen'. ... Hier sah er einen Zustand, bei welchem der Mensch seine stärksten Triebe, sein gutes Gewissen und seine Ideale als identisch fühlt, und er sah diesen Zustand nicht bloß in den Ausführenden jenes Machtwillens, sondern vor Allem auch in dem Zustande des Feldherrn selbst." (Das Leben Friedrich Nietzsches, Bd. II/2, op. cit., S. 682f.) Max Nordau, Entartung, op. cit., S. 361.

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Frühe populäre Rezeption N i e t z s c h e h i m s e l f had the least possible connection with active life. H e w a s unmarried, had n o children, nor any interests beyond his ambition, and having served as professor o f the classical languages for s o m e time at the small university of Basel, he w a s for the greater part o f his life without a calling, without duties, without aims ... and remained in isolation to the very end o f his life. 155

Welche Schlüsse der Leser aus diesen Auskünften über Nietzsches Junggesellendasein zu ziehen hatte, muß für uns der Vermutung anheimgegeben bleiben; sie ließen jedenfalls nicht grade auf Normalität schließen. Eindeutiger zu entziffern sind die Hinweise „without calling", „without duties", „without aims", „in isolation". Nietzsches Lebenswandel wurde hier als Weigerung dargestellt, an der Gesellschaft und der vita activa teilzunehmen. Das tatkräftige Eingebundensein in die Gemeinschaft und die Erfüllung sinnvoller Pflichten, welche auch dem Gemeinwohl nutzen, waren nur konsequente Ideale einer stark protestantisch gefärbten, in einem großen Land angesiedelten Kultur, welches nur unter der Voraussetzung gemeinschaftlicher Zusammenarbeit zivilisiert und bevölkert werden konnte. Der eigenbrötlerische Einzelgänger Nietzsche rief im Kontext dieser Ideale einerseits Bewunderung und andererseits Argwohn hervor. Richard Hofstadter vertritt die These, der Intellektuelle in Amerika werde wegen seiner durch die vita contemplativa notwendig gemachten Isolierung und wegen des Fehlens eines als Resultat seiner Arbeit geltenden greifbaren und ökonomisch verwertbaren Produkts in eine zweifelhafte Randexistenz abgedrängt. Etwas überzeichnet beschreibt Hofstadter als Gegenbild zum Intellektuellendasein das aktive Leben, so wie es der amerikanischen Weltanschauung vorkomme: T h e important thing for the individual is to get away from self-analysis and do work which will g i v e him p o w e r over things. highten s e l f - c o n f i d e n c e .

This, in turn, will lead to power, which will

For all these purposes, the critical mind is a liability. 156

Die zum Nietzsche-Mythos gehörende kontemplative Abgeschiedenheit seines Lebens (die angesichts des zeitweise relativ großen Freundeskreises oder der weitverzweigten Korrespondenz Nietzsches nicht absolut zu werten ist) wies für manche nicht nur auf misanthropische Tendenzen in Nietzsches Charakter hin, sondern führte auch immer wieder zu der Feststellung, daß eine größtmögliche Diskrepanz zwischen Nietzsches Person und seiner Philosophie bestehe. Dieser Selbstwiderspruch implizierte auf der einen Seite eine Labilität seiner Persönlichkeit, welche mit der vielbeschworenen Inkonsequenz seines Denkens zusammenfalle. Auf der anderen Seite versinnbildlichte dieses Auseinanderklaffen von Leben und Werk die innere Zerrissenheit und das Ungenügen an der eigenen Existenz, welche Nietzsche charakterisieren sollten, denn sein philosophisches Werk galt vielen, wie beispielsweise Edwin Slosson, als unbewußter Kompensationsversuch, da es „the autobiography, not of his actual, but of his dream life"

155 156

Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 236. Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life (New York, 1962), S. 270.

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darstelle.157 Von zentraler Bedeutung für diese psychobiographische Interpretation wurde auch Nietzsches Kindheit - kaum ein Verfasser, der sich entgehen ließ, die Geschichten vom „kleinen Pastor" nachzuerzählen. Die für unnatürlich erklärte Selbstdisziplin des jungen Nietzsche sei das Symptom eines gestörten Verhältnisses zu seinem sozialen Umfeld, und sein Verhalten gegenüber Lehrern, der Mutter und anderen Autoritätsfiguren könne nicht anders denn als Ausdruck krankhafter Hörigkeit beschrieben werden. Aus dem Musterknaben mußte also geradezu der heimliche Traum-Anarchist werden, der von einem Leben ohne jegliche Pflicht und Einschränkung seiner Person phantasierte. Der im Hause fehlende Vater, der gestorben war, bevor er auf den Sohn erzieherisch wirken konnte - „before he could influence the early years of his son through wholesome discipline" -, habe den Jungen den verweiblichenden Einflüssen eines Frauenhaushaltes ausgeliefert. So sei der junge Nietzsche verhätschelt und verdorben worden: „spoiled from childhood on by an unfaltering admiration on the part of both his mother and sister".158 Der Weichling sei dazu prädestiniert gewesen, der große Narr der Macht, der Grausamkeit und der männlichen Kraftmeierei zu werden. Diese Psychopathologie wollte verborgene, krankhafte Wünsche in Nietzsches Persönlichkeit identifizieren, die er auszuleben trachte, indem er seine Leser zu infamen Verbrechen anzustiften versuche: H i m s e l f a m o d e l of virtue, he made h i m s e l f the a d v o c a t e o f v i c e , and g l o r i e d in it.

He

e n c o u r a g e d the robber to rob, but h e h i m s e l f w a s h o n e s t y incarnate; he incited the p e o p l e to rebel against authority of all kinds, but he h i m s e l f w a s a „ m o d e l child". 1 5 9

Nietzsches Verächtlichkeit sei also eine doppelte: Er wollte die Zerstörung der Zivilisation durch Aufforderung zu kriminellen Handlungen erreichen, war aber selbst zu mutlos und schwach, als daß er seine alptraumhaften Visionen eigenhändig in die Tat umzusetzen vermocht hätte. Dies sollte alles nur durch Stellvertreter geschehen. Mittels der psychoanalytischen Entlarvung von Nietzsches Hochschätzung alles Gesunden (beispielsweise in der Überwindung der decadence) als dem Ergebnis seiner Selbstverachtung angesichts der eigenen körperlichen Gebrechen gelang es einigen Kritikern, den Übermenschen wieder einmal auf ein rein physisches Ideal brachialer Kraft zu reduzieren, denn „these very shortcomings of his own bodily strength - his own decadence - prompted in him a yearning for bodily health, for an unbounded exercise of energy".160 Der titanenhafte Nietzsche hoch droben

157

Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", op. cit., S. 693. " Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 232f. Auch Riehls Beitrag zu diesem Thema sollte nicht unerwähnt bleiben. Er schrieb: „Nietzsche war von Hause aus eine weiche Natur [...] Ihm fehlte, wie er dies selbst beklagt hat, die strenge und überlegene Leitung eines männlichen Intellekts. Von Frauen behütet und zuerst ausschließlich von Frauen erzogen wuchs er a u f . (Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 89.) 15 '' Paul Carus, „Immorality as a Philosophie Principle", op. cit., S. 596. Paul Carus, „Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 233. I5

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auf den Bergen des Engadin, der neue Prometheus manch eines Begeisterten, erschien in gegnerischen Darstellungen als das genaue, abstoßende Gegenbild einer „blonden Bestie": His ideal w a s the great blond beast, ruthless, self-asserting, lustful, healthy, independent and dominant.

He himself was frail, near-sighted, dyspeptic,

neurasthenic,

enslaved to drugs, celibate, timorous and retiring. 161

Die Absicht eines solchen überflüssigen Vergleichs liegt auf der Hand: Einer Heroisierung Nietzsches sollte möglichst vorgebeugt werden. Mochten seine Anwälte noch so sehr sein sanftmütiges Naturell und seine Höflichkeit oder seine Standhaftigkeit in körperlichen und seelischen Leiden als persönliches Zeugnis der Größe seiner Philosophie bemühen W e shall s e e Nietzsche ... dignfied, self-controlled, triumphant, in sickness and mental depression, and then our whole sympathy can g o out to the stricken man, w h o m a k e s such a noble fight with adverse circumstances 1 6 2 -,

so stießen alle Parteien mit der Konzentration auf die Person Nietzsches als Schlüssel zur Größe oder Ungeheuerlichkeit seiner Philosophie immer wieder auf eine Feststellung: „never was there a greater contrast between the life and creed of any man". 163 1.4 Abschließendes Dieser vom ausweglosen Widerspruch zerrissene Nietzsche paßt immerhin zum methodischen Schema seiner publizistischen Aufnahme. Am Ende dieser vergleichenden Betrachtung von Thesen, Argumenten, Verzerrungen und Zurechtrückungen aus der Image-Fabrik der frühen populären Auseinandersetzung um Nietzsche und seine Philosophie steht kein festes Nietzsche-Bild. Das Resümee dieses stetigen Schlagabtausches von Rede und Gegenrede scheint das Protokoll eines babylonischen Sprachgewirrs zu sein. Nicht die Suche nach dem, was Nietzsche meint, steuerte diesen frühen Dialog, sondern die Besorgnis um das, was Nietzsche für Amerika bedeuten könnte. Rezipienten auf beiden Seiten der Auseindersetzung antworteten weniger auf Fragen zu Nietzsche als auf die Behauptungen der gegnerischen Partei und schufen damit eine Rezeption, die nicht von der Stelle kam. Wenn diese Art interpretatorischer Aneignung, die Nietzsche den Propheten bzw. den Bilderstürmer einem fremden Zweck dienlich machte (oder Nietzsche einfach vergöttert oder verteufelt wissen wollte), der Komplexität seiner Gedankenwelt nicht gerecht zu werden strebte, so bewies sie dennoch, daß Nietzsches

161 162

Edwin Slosson, „The PhilosopherWith the Hammer", op. cit., S. 693. M.D. Petre, „Studies on Friedrich Nietzsche", op. cit., S. 325. Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", op. cit., S. 693.

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Bedeutung für die philosophische Welt sowie die westliche Kultur im allgemeinen von beiden Streitparteien anerkannt und außergewöhnlich hoch eingeschätzt wurde. Selbst die Beteuerungen seiner Bedeutungslosigkeit für die moderne Philosophie oder die amerikanische Gesellschaft demonstrierten die Überzeugung des jeweiligen Verfassers, daß ein beachtlicher Teil der lesenden Öffentlichkeit Nietzsches grundsätzliche Bedeutung bereits voraussetzte. Solche Warnungen belegten stets das Wittern einer präsenten und potenten Gefahr. Diese oft nur formel-, ja floskelhafte Behandlung Nietzsches in der amerikanischen Presse der Jahrhundertwende belegte in erster Linie die Wahrnehmung Nietzsches als philosophischer Potenz. Die spezifischen Inhalte traten hinter dem bloßen Faktum der Kenntnisnahme zurück. Und doch zeigten diese Inhalte eine diskursive Struktur auf: Kaum ein Nietzsche-Rezipient fand sich nicht im Widerspruch zu einem anderen Interpreten. Die Rezeption trug sich immer im polarisierten Kraftfeld des interpretatorischen Streits zu. Viele dieser Argumente und Klischees kehrten in der essayistischen Rezeption wieder, aber es war vor allem dieses Strukturprinzip, das sich wie der Ariadnefaden durch das Labyrinth der Jahre wand. Die folgenden drei Kapitel behandeln Aufnahme und Auswertung des Nietzscheschen Denkens bei amerikanischen Essayisten, wobei dieser Begriff absichtlich weit gefaßt wird, um Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler einschließen zu können. Alle verband einerseits, daß ihre Arbeit nicht ausschließlich Nietzsche galt - dazu müssen im fünften Kapitel die Verfasser der amerikanischen Monographien zu Nietzsche zu Wort kommen -, sondern Nietzsche inkorporierte; andererseits aber, daß sie einen Versuch leisteten, Denkanstöße aus Nietzsches Werk für ihre eigne Arbeit zu gewinnen. Das bedeutet, daß in diesem Bereich die oberflächliche Polemik der frühen publizistischen Rezeption seriöseren Deutungsbemühungen wich. Hier werden auch einzelne Rezipienten und nicht generelle Tendenzen die Diskussion in der vorliegenden Betrachtung beherrschen. Das Strukturprinzip der Polarität wird man aber auch hier sehen, und diese etablierten Tropen werden ebenfalls an vielen Stellen nochmals fröhliche Urständ feiern. Sicherlich blieb die amerikanische Suche nach einem Begriff der Nietzscheschen Philosophie nicht stehen. Dieser Begriff wurde teilweise detaillierter, differenzierter, gerechter und philosophisch tiefer - vor allem in den Schriften mancher Einzelgänger wie Henry Louis Menckens. Aber dieses anfanglich und schnell entstandene Kompendium der möglichen Antworten auf die Frage nach Nietzsches Bedeutung verfestigte sich zu einem ideengeschichtlichen Hintergrund, vor dem nachfolgende Interpreten agieren und zu dem sie Stellung beziehen mußten. Ohne einen Paul Carus gäbe es in gewissem Sinne keinen Walter Kaufmann. Diese weiteren und viel facettenreicheren Epochen der amerikanischen Nietzsche-Rezeption im Lichte der Erfahrungen der ersten Stunde zu schildern, wird ein Teil der Aufgabe der folgenden Kapitel sein.

II. Essayistik 1896-1914

II. 1 Konservatismus/Sozialdarwinismus Das erste Kapitel zeigte, daß die frühe publizistische Nietzsche-Rezeption in Amerika von politischen und moralischen Motiven der Rezipienten mitbestimmt wurde. Jetzt gilt es zu fragen, ob diese hintergründige Steuerung auch die Interessen namhafter amerikanischer Essayisten dirigierte, die Denkanstöße für ihr eigenes Werk bei Nietzsche suchten. Zunächst sollen streng politische und dann populäre Denker im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Generell läßt sich feststellen, daß in den allermeisten Fällen der soziopolitischen Aufnahme seiner Philosophie Nietzsche einem ideologischen Verstümmelungs- und, vor allem, Instrumentalisierungsprozeß unterworfen wurde. Die freizügige Manipulation von Nietzscheschen Schlagworten und von Nietzsches Namen, die politisch motivierte Essayisten sehr oft demonstrierten, macht deutlich, daß Vertreter der rechten und der linken Schattierung des staatstheoretischen Spektrums sich gewissermaßen an einem Wettkampf beteiligten. Der Ausgang dieses politischen Turniers sollte bestimmen, wer das Recht beanspruchen durfte, sich auf Nietzsche als philosophischen Gewährsmann der eigenen Partei zu berufen. Am äußersten rechten Ende dieser Skala standen nationalistische Theoretiker. Die spätere faschistoide Exploitation des von Elisabeth Förster-Nietzsche, Julius Langbehn, Ernst Bertram, Alfred Baeumler, Richard Oehler und anderen im großen Stil inszenierten Nietzsche-Mythos war zweifelsohne der infamste, aber mitnichten der einzige Fall politischer Nutzbarmachung in der Geschichte der Nietzsche-Rezeption. Eine faschistische Nietzsche-Rezeption hat es nun in Amerika nie gegeben. Dennoch gehörten in diesen Kontext auch extreme Richtungen, von denen eine, die schon erwähnt wurde, durch eine etwas problematischere Fraktion aus dem ideologischen Umfeld Amerikas um die Jahrhundertwende vertreten wurde: den Sozialdarwinismus. Um die Jahrhundertwende scheint besonders in Amerika das Interesse am Darwinismus sehr rege gewesen zu sein, vor allem seit Erscheinen des Descent of Man (1871). Richard Hofstadter weist darauf hin, daß, während Darwin in England bis 1879 darauf warten mußte, bis er sich mit der Ehrendokterwürde seiner eigenen Universität (Cambridge) schmücken konnte, er bereits zehn Jahre zuvor zum Ehrenmitglied der American Philosophical Society ernannt

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worden war. 1 Seine Aufnahme in Amerikas vornehmste philosophische Gesellschaft verdeutlicht außerdem, daß die darwinistische Wende in Amerika sich nicht nur auf die Naturwissenschaften beschränkte. Nach Meinung des damaligen Harvarder Philosophen und Historikers John Fiske z.B. bedeutete Darwin das größte philosophische Ereignis des Jahrhunderts. Der Sozialdarwinismus als soziologische und philosophische Weiterführung der Evolutionslehre übertrug bekanntlich das gesetzmäßige Prinzip der natürlichen Auslese auf die Gesellschaft. Der Naturzustand des Menschen, ob als Individuum oder in der Gruppe gesehen, unterscheidet sich demnach akzidentell (durch historisch gewordene Zivilisationsprozesse bedingt), aber keineswegs essentiell von dem des Tieres. Die doktrinärsten Vertreter des Sozialdarwinismus hielten daher soziale Institutionen und Reformmaßnahmen, welche als eine Hilfeleistung gegenüber den „schwachen" Mitgliederader Gesellschaft fungierten, für eine widernatürliche Entfremdung der Gesellschaft von diesem ersten Prinzip. Werde also der Naturprozeß der Auslese durch die Sozialpolitik künstlich gehemmt, so müsse dies zwangsläufig auf Kosten der ganzen Gemeinschaft, vor allem ihrer tauglichsten und tüchtigsten Mitgleider, geschehen, deren von Natur gegebene Überlegenheit auf diese Weise negiert werde. Die rein egoistische und auf Konkurrenz bedachte Natur müßte demnach die Regeln für das Handeln des Menschen vorgeben. Die Gründe für das besondere Florieren sozialdarwinistischen Denkens in Amerika waren vielfältig. Der die amerikanische Gesellschaft revolutionierende wissenschaftliche Professionalismus (als Auswuchs des Positivismus und des Utilitarismus) gab zunächst einmal den Ansporn, alle Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und der staatlichen Verwaltung unter die wissenschaftliche Lupe zu nehmen.2 Das große Losungswort von der „Rationalisierung" machte die Runde, denn unter der Voraussetzung ausreichender Kenntnis und rationaler Methode konnte nun, so der neue Optimismus, jeder Gesellschafts- oder Arbeitsprozeß ökonomisch optimiert werden. Die Effizienz wurde zum wichtigsten Kriterium des Erfolgs. Der Sozialdarwinismus nun konnte sich, zugute halten, eine positivistische Basis zu haben, die genau eine solche auf Effizienz ausgerichtete Behandlung sozialer Fragen ermöglichte. Gesellschaftliche Probleme, die einer solchen Abhilfe zu bedürfen schienen, gab es zur Genüge. Nicht wenige Politiker dieser Zeit betonten die Bedrohung

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Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought, op. cit., S. 5. Ein eklatantes Beispiel dieser Tendenz findet man in den Lehren des Amerikaners Frederick Winslow Taylor, der bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die Theorie des „Scientific Management" begründete - also der wissenschaftlich gesteuerten Optimierung von Arbeits- und Verwaltungsprozessen. Taylor lieferte damit die theoretische Grundlage schlechthin für den industriellen und staatlichen Fortschritt im Sinne von „streamlining". Ohne Taylor hätte der Begriff der Produktivität seine heutige Bedeutung nie erhalten. Der Ökonom Peter F. Drucker bietet einen Überblick über diese Entwicklung in „The Rise of the Knowledge Society", The Wilson Quarterly (Spring 1993), S. 52-71.

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durch die Wellen von teilweise gewalttätigen populistischen Bewegungen z.B., welche den Westen der Vereinigten Staaten überrollten. 3 Die Forderungen der Populisten im Westen nach direkter Demokratie und die der Sozialisten und Anarchisten in den Großstädten des Ostens nach Umverteilung bzw. Abschaffung des Eigentums überzeugten viele Politiker und Politologen von der Notwendigkeit einer Einschränkung der die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen berücksichtigenden Reformpolitik. Vor allem aber auch den Großindustriellen Amerikas, die ihre wirtschaftlichen Pfründen durch die neue antimonopolistische Reformpolitik der Regierung gefährdet sahen, beherzigten die sozialdarwinistische Lehre als wissenschaftlich erwiesene Rechtfertigung ihres eigenen priviligierten Status, der im Lichte dieser neuen Theorie nur das natürliche, ja sogar prädestinierte Resultat des gesellschaftlichen Überlebenskampfes darstellte. So ließ sich Ende des Jahrhunderts beispielsweise der Stahlmagnat Andrew Carnegie öffentlich zu der Feststellung hinreißen, daß die Verkörperung des Daseinskampfes im Laissezfaire-Gesetz des uneingeschränkten Wettbewerbs unverzichtbar für die Erhaltung der „Rassenhygiene" sei.4 Selbst Präsident Theodore Roosevelt, der die Maßnahmen zum Aufbrechen just jener Monopole der Großindustriellen einleitete, äußerte sich in seiner stark sozialdarwinistisch gefärbten Rede The Strenuous Life sehr lobend über die vorbildhafte Tätigkeit der „Kapitäne" der amerikanischen Industrie: All honor must be paid to the architects of our material prosperity, to the great captains of industry who have built our factories and our railroads, to the strong men who toil for wealth with brain or head; for great is the debt of the nation to these and their kind. 5

Schließlich wurde sozialdarwinistisches Denken weiterhin wissenschaftlich durch die Verbreitung eugenischer Studien über die Gesellschaftsentwicklung als Rassengeschichte bestätigt. Für Amerikas wenige, aber wortgewaltige Eugeniker gipfelte der Daseinskampf in der Hervorbringung einer durch Auslese überlegen gearteten Rasse, welche offenbar im „nordischen" oder angelsächsischen Typus verkörpert sei - dies bezeugten ja, so das gängige Argument, objektiv der immer höhere Entwicklung anstrebende Zivilisationsprozeß der nordeuropäischen Länder sowie deren globale Machtentfaltung als Kolonialherrscher. Amerikas bekanntester Rassentheoretiker, Madison Grant, faßte seine Ansichten in dem berühmtberüchtigten Band The Passing of the Great Race (1916) zusammen, in dem er u.a. vor den sozialen Folgen warnte, welche eine künstliche Begünstigung „niederer Rassen" unter den vielen neuen Einwanderergruppen notwendig zeitigen müßte:

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Unter den zahlreichen Gruppen der sog. populistischen Revolte der Jahrhundertwende wären zu nennen: die Granger Movement, die Farmers' Alliances oder die Free Silver Movement. Vgl. Andrew Carnegie, „Wealth", The North American Review, 148 (1889), S. 655-657. Theodore Roosevelt, „The Strenuous Life", The Strenuous Life. (New York, 1902), S. 8.

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We Americans must realize that the altruistic ideals which have controlled our social development during the past century and the maudlin sentimentalism that has made America „an asylum for the oppressed," are sweeping the nation toward a racial abyss. If the Melting Pot is allowed to boil without control and we continue to follow our national motto and deliberately blind ourselves to all „distinctions of race, creed or color," the type of native American of Colonial descent will become as extinct as the Athenian of the age of Pericles and the Viking of the days of Rollo. 6

Nietzsche kam nun als wieder einmal mißverstandener Moralphilosoph dazu, im Sozialdarwinismus eine Rolle zu spielen. Trotz seiner mehrfach schriftlich festgehaltenen Entrüstung über „gelehrtes Hornvieh", das ihn „des Darwinismus verdächtigt" habe (EH „Warum ich so gute Bücher schreibe" 1), galt die Überzeugung, Nietzsche sei der philosophische Nachlaßverwalter Darwins als allgemein erwiesen. 7 Schon Common und Tille bereiteten dieser Entwicklung den Boden. Aber Nietzsches sozialdarwinistische Interpreten konnten auch schließlich auf den „Züchtungsgedanken" in seinen Schriften verweisen, in dem die Verheißung einer durch Auslese erzeugten Gruppe von „Herrenmenschen" und einer kommenden Eliteherrschaft derselben angeblich zusammenmünden sollten. Bei Nietzsche selbst sind freilich verfängliche Prophezeiungen zu finden, die eine solche Assozierung als nicht völlig abwegig erscheinen lassen. Im Nachlaß schreibt er: es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzten, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen „Herren der Erde"; - eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: - eine höhere Art Menschen, welche sich. Dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienten als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs. (KSA ΧΠ 2[57])

Besonderen Gefallen fanden viele Sozialdarwinisten und Antipopulisten an der Vorstellung einer sich der demokratischen Staatsform bedienenden Leistungsaristokratie der amerikanischen (und angelsächsischen) aristoi. Dieser Gedanke wurde zum wichtigen Aspekt der amerikanischen Demokratiekritik der 20er

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Madison Grant, The Passing of the Great Race (New York, 1916), S. 263. Hier nach der vierten Auflage (1924) zitiert. Grant hatte auch durchaus andere amerikanische Kollegen, die genau diese rabiate Variante national-rassistischen Denkens vertraten. Dazu zählte z.B. Lothrop Stoddard, der in seinem Revolt Against Civilization (New York, 1922) argumentierte, die Idee von der Gleichheit der Menschen und der Nationen sei eine von „undermen" ausgedachte Lüge. (S. 30f.) Wenn Nietzsches Beteuerungen, kein Darwinist zu sein, zur Kenntnis genommen wurden, dann wurden sie auch oft als Ausweichmanöver gedeutet, hinter dem Nietzsche seine Schuldigkeit gegenüber Darwin habe verstecken wollen. So schrieb z.B. der franz. Philosoph Alfred Fouill6e: „Nietzsche ... always took care to represent his doctrines as absolutely new, without predecessors or .teachers,' [and so] ranked himself as an anti-Darwinist". („Nietzsche and Darwinism", op. cit., S. 135.)

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Jahre, für die Nietzsches Denken richtungweisend war. Was Nietzsche allerdings mit „Herrenmenschen" außer napoleonischen Tyrannen gemeint haben könnte, was diese „Vornehmen" mit der Einsicht in die nihilistische Transzendenzlosigkeit zu tun hätten und warum diese neuen Herren ihren Lebenssinn „in der Rangdistanz - nicht in irgend welchen Wirkungen" (KSA XIII 16[39]) haben - danach wurde in der Regel nicht gefragt. Unter der Voraussetzung eines darwinistischen Verständnisses vom Verlauf der Menschheitsgeschichte folgerten Viele, Nietzsche habe die durch Selektion gesteigerte physische Überlebenstüchtigkeit zum höchsten Gut erhoben. Damit wurden Nietzsche Kategorien einer philosophischen Tradition aufgezwungen, mit der er ausdrücklich bricht. Und vor allem wurde da eine immer noch im Grunde teleologische Geschichtsauffassung impliziert, die Nietzsche ausdrücklich verwirft. Aus seiner Analyse der Moralgeschichte, in der Nietzsche die Verdrängung der von Schuldvorstellungen freien Ethik der antiken Kulturen durch die das schlechte Gewissen überall einimpfende Ressentimentmoral schildert, konstruierte man eine flache Gleichsetzung: Die mit allen üblichen Konnotationen besetzte Vorstellung des unbezwingbaren „Barbaren" wurde als mit Nietzsches höchstem Typus des Menschlichen identisch ausgewiesen. „Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff .Barbar' auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind" (GM „,Gut und Böse', ,Gut und Schlecht'" 11), schreibt Nietzsche, eo ipso müsse der physisch gestählte Kraftmensch Nietzsches darwinistisches Ideal sein. Nietzsches Verurteilung des Mitleids leistete auch ohnedies den Gegnern der verschiedenen philanthropischen Bewegungen in ihrer Absicht Vorschub, ihre Argumente gegen eine institutionalisierte Sozialpolitik mit Nietzsches Denken philosophisch zu legitimieren. Eine nicht einmal sehr raffinierte Zusammenstellung der richtigen, aus dem Zusammenhang gelösten Zitate reichte meist, um Nietzsche als gesellschaftskritischen Nachdenker Darwins zu etikettieren. Wie nah Nietzsche dieser Ideologie wirklich stehen mag, ist keineswegs einfach zu klären. Manchmal scheint bei ihm die Rede von Züchtung tatsächlich an sozialdarwinistische Ausleseprinzipien anzuknüpfen. Angesichts mancher Aussagen mutet den Interpreten das entschiedene Abstreiten dieser Verbindung als dubios an. Die Struktur der Gesellschaft hat z.B. für Nietzsche einen definitiven Hauptgesichtspunkt·,

daß man nicht die Aufgabe der höheren species in der Leitung

niederen sieht (wie es z.B. Comte macht) sondern die niedere als Basis, höhere species ihrer eigenen Aufgabe lebt, - auf der sie erst stehn

der

auf der eine

kann.

die Bedingungen, unter denen die starke und vornehme species sich erhält (in Hinsicht auf die geistige Zucht), sind umgekehrt als die unter denen die „industriellen Massen" der Krämer ä la Spencer stehn. (KSA XII 9[34])

Und doch ist es die geistige Zucht, um die es Nietzsche letztlich zu tun ist, und die Attribute, welche dieser überlegenen Spezies hier zukommen, gehören außerdem unter Kategorien, die sich in Nietzsches Sprachgebrauch der festen, festlegenden Definition stets entziehen: das Höhere, das Starke, das Vornehme.

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Nietzsche bleibt also proteisch bis zuletzt. Im Kontext der Rezeption ist aber mit Sicherheit festzustellen, daß Nietzsches diffizile Nähe zum sozialdarwinistischen Denken auf eine unzulässige und unredliche Art verengt und eingeebnet wurde, bis Nietzsche und ein pseudointellektueller Rassist wie Madison Grant praktisch Schulter an Schulter standen. Ein konkretes Beispiel kann veranschaulichen, wie diese Einengung oft bewerkstelligt wurde.

II. 1 .a Franklin Henry Giddings (1855-1931) Die Geschichte des Sozialdarwinismus in Amerika begann mit dem Denker, den Nietzsche am Ende des oben zitierten Fragments anspricht: Herbert Spencer (1820-1903). Mit Spencer nahm die Soziologie als eine an Universitäten betriebene und theoretisch begründete Wissenschaft in Amerika ihren Anfang, und so überrascht es nicht, daß dort seine Study of Sociology (1873) eine noch größere Wirkung hatte als sein mehrbändiges Lebenswerk: die Synthetic Philosophy (18621892).8 Festzuhalten ist, daß Spencers Version einer sozialdarwinistischen Betrachtung der Gesellschaft und einer daraus resultierenden Revolution in der Ethik sich in der frühen amerikanischen Soziologie kräftig niederschlug. Von Spencers zwei wichtigsten amerikanischen Schülern genießt heute nur noch William Graham Sumner eine gewisse allgemeine Bekanntheit.9 Der zweite große Name in Spencers amerikanischer Gefolgschaft aus der Frühphase der amerikanischen Soziologie, Franklin Henry Giddings, ist heute im großen und ganzen vergessen. Giddings' Stellung war aber nicht unbedeutend: Er hatte eine Professur für Politikwissenschaft an der Columbia University inne und verfaßte eines der frühen Standardwerke zur Einführung in die Sozialwissenschaft: Principles of Sociology (1896). Zudem war Giddings Sozialdarwinist und Nietzsche-Leser. Um ihn in dieser letztgenannten Eigenschaft besser einordnen zu können, wenden wir uns dem 1900 erschienenen Democracy and Empire zu. Die zentrale soziale Frage dieser Zeit, die nicht nur Giddings großes Kopfzerbrechen bereitete, war die nach der Integration der verschiedenen Einwanderergruppen, die sich um die Jahrhundertwende vor allem in den Fabriken und Mietshäusern der Großstädte Amerikas drängten. Viele Politologen und Soziolo-

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Die allgemeine Wirkung Spencers ist aber nicht zu unterschätzen. Die Verkaufszahlen für seine ausschließlich soziologischen und philosophischen Werke in Amerika zwischen 1860 und 1900 waren außergewöhnlich hoch. Hofstadter gibt die Gesamtzahl von 368755 verkauften Bänden an, eine für damalige Verhältnisse beträchtliche Menge. (Social Darwinism in America, op. cit., S. 34.) So erschien z.B. 1992 ein neuer Sammelband mit einigen von Sumners bedeutendsten Essays: On Liberty, Society and Politics. The Essential Essays of William Graham Sumner (Indianapolis, 1992). Zu hoffen wäre, daß ein neues historisches Bewußtsein unter jungen Historikern Sumner vielleicht aus der ideologischen Verbannung zurückholt, in die er von der links-gerichteten Soziologie und Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte geschickt wurde.

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gen trugen Sorge, ob diese unbeherrschbare Mischung der verschiedensten kulturellen und „genetischen" Komponenten nicht zu einer Schwächung der „einheimischen" Basis der amerikanischen Bevölkerung (also aller Bürger nordeuropäischer Abstammung, insbesondere derjenigen, deren Familien seit der Kolonialzeit in Amerika etabliert waren) durch „Rassenmischung" und Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichtes führen könnte. Giddings beschrieb die Gefahren, welche durch unkontrollierte Einwanderung und reformistische Sozialpolitik entstehen könnten, mit dem Begriff der panmixia·. eines Entartungs- und Verwilderungsphänomens, welches das „product of sympathy, philanthrophy, and moral restraints in general" sei und sich durch „nervous exhaustion, hysteria, and increasing insanity ... unhealthy emotionalism ... neurotic and erotic degeneration" kennzeichne - kurzum: „what, in the slang of the day, we call decadence".10 Die von Nietzsche entlehnten Begriffe scheinen hell auf: sympathy, moral restraint, decadence (der zuletzt genannte Terminus wurde bedeutsamerweise vorwegnehmend als Losung des Alltagsidioms bezeichnet!). Da Giddings, seiner eigenen wissenschaftlichen Neigung nach, Nietzsche durch eine darwinistische Brille las, hielt er die von Nietzsche unter dem Begriff der dicadence behandelten Verfallserscheinungen für Auswüchse eines rein physiologischen Niedergangsprozesses, der zudem von Nietzsche nur verurteilt, also nicht auch noch gewürdigt werde. So berichtete er seinem Leser über den deutschen Philosophen: In the writings of Friedrich Nietzsche we have the attempt to reduce all this to a philosophical theory, and to present its logical implications. Nietzsche assumes that Darwinism, in its most radical form of Weismannism", is the only true account of man's place in nature, the only true presentation of man's own nature and possible destiny.' 2

Wegen seiner streng darwinistischen Weltsicht entging Giddings, daß die decadence bei Nietzsche außer der physiologischen Wurzel der zahlreichen Erscheinungsformen des europäischen Nihilismus auch noch, und eigentlich viel wesentlicher, eine Moral- und Willensdisharmonie darstellt. Hinzu kommt für Nietzsche die Funktion der dicadence und der Krankheit als Weg zur höheren Erkenntnis und zum gesteigerten Leben, denn „Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muss man gesund genug für dies Stimulans sein!" (WA 5) Giddings dagegen interessierte nur die eine Seite der dicadence als eines organischen Ausscheidungsmechanismus, der auch in der Gesellschaft für die Sortierung und Sondierung des Krankhaften zugunsten des Gesunden sorge.

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Franklin Henry Giddings, Democracy and Empire (New York. 1900), S. 356. Weissmann, August (1834-1914). Weissmann, Professor an der Universität Freiburg, war Inhaber des ersten Lehrstuhls für Zoologie in Deutschland. Von ihm stammte die Keimplasmatheorie. Er lehnte den Lamarckismus ab und erbrachte den Nachweis dafür, daß erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden. Er galt aber auch als rigoroser Sozialdarwinist. Franklin Henry Giddings, Democracy and Empire, op. cit., S. 346.

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Zugegeben: Aus diesem Blickwinkel betrachtet Nietzsche auch gelegentlich die dicadence: Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige Consequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der decadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand sie abzuschaffen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird. (KSA ΧΠΙ 14[75])

Aber die Sozialdarwinisten wollten über alles andere, daß diesem Prozeß in der Gesellschaft sein Recht werde, und fürchteten über alles die Aktivitäten anderer, die unter dem Begriff der Zivilisierung die Veränderung „natürlicher" Zustände im Dienste „wohltätiger" Zwecke verstanden. Giddings bewunderte den iconoclast in Nietzsche, der sich ihm aber als Umwerter darstellte, der die moralischen Vorurteile gegen die ungleiche Verteilung der Güter sowie der politischen wie ökonomischen Macht abzuschaffen sich anheischig macht. Nietzsches Namen als philosophischen Säbel in der Hand rasselnd, wollte er aller philanthropischen Gesinnung mit einem wissenschaftlich fundierten Sozialfatalismus zu Leibe rücken: You may attempt, if you like, to make men „good" in that sense which includes compassion and disinterestedness; but all you will get for your pains is a race of dyspeptics, anaemics, and neurotics. ... Therefore, according to Nietzsche's philosophy, men of sense should set their faces sternly against everything that smacks of softness, of forgiveness, and conventional morality. Above all, they should condemn and combat traditional Christianity and all romantic ideals of equality.13

Nicht also den sozial Schwachen durch staatliche oder private Maßnahmen einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen, sollte das Ziel der Politik sein. Vielmehr sollte die staatlich dirigierte, sachgemäße Einsetzung und Nutzung der zur Selbstbestimmung Unmündigen den neuen Weg in der Politik weisen. Die von Natur gegebene Überlegenheit mancher Gruppen müsse und könne jetzt frei und offen eingestanden werden. Für Nietzsche kann freilich „Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, die Wissenschaft, ein großer Theil der Kunst" nur „auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund consolidirten Mittelmäßigkeit" (KSA XIII 14[182]14) stehen. Daraus schloß dann Giddings: The key to the solution of the social problem will be found in a frank acceptance of the fact that some men in every community are inherently progressive, resourceful, creative, capable of self-mastery and self-direction, while other men, capable of none

13 14

Ibid., S. 346. Der Leser der Kompilation Der Wille zur Macht fand dieses Fragment in der leicht gefälschten und somit zugespitzten Form vor: „Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit." (Hervorhebung durch den Verfasser.) Diese Version übernimmt auch Schlechta im guten Glauben.

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Essayistik 1896-1914 of these things, can be made useful, comfortable, and essentially free, only by being brought under bondage to society and kept under mastership and discipline. 1 5

Nietzsches bekannte Metapher der kulturellen Pyramide kam Giddings also vortrefflich zupaß. Außerdem bestand für ihn „no doubt, that indiscriminate benevolence may increase panmixia, as it certainly does when paupers and criminals are permitted to breed like rabbits." 16 Charakteristisch für die konservative politische Interpretation der Nietzscheschen Philosophie in Amerika war der Glaube an eine natürliche Aristokratie, deren für die Gesellschaft lebensnotwendige Arbeit im Finanzwesen und in der Staatsverwaltung durch überwucherndes Gleichheitsdenken verhindert werde. Nach streng sozialdarwinistischen Gesichtspunkten beurteilt, erschien es als durchaus logisch, die sogenannten captains of industry mehrmalig als die Verkörperung dieser Elite auszuwiesen, denn nach dem gröbsten Kriterium des Daseinskampfs - dem materiellen Lebensstandard - beurteilt, galten sie als eindeutige „Sieger". Auch Giddings zog ehrerbietig den Hut vor diesen Großunternehmern und proklamierte das soziale Heil durch „a state which, in a general way, is controlled by industrial democracy" (Hervorhebung d.d.Vf.). 17 Dennoch schlug sein Herz recht eigentlich für eine amerikanische Mischung aus europäischer Vornehmheit und autochthonem amerikanischen Abenteurergeist: It was no mere whim or caprice that the aristocracy of Boston a generation ago consisted chiefly of families that had made their fortunes in the East India Trade.

This

was the business that called for daring and range of thought, as did the military expeditions which created the earlier aristocracies of Europe. 1 8

Durch die mit der Besiedlung der neuen Welt verbundenen Herausforderungen, wollte Giddings sagen, sei die bereits abenteuerlustige genetische Creme de la creme Europas gestählt und ertüchtigt worden. Diese als erfolgreich bewiesene historische Basis solle nun wieder als Gesellschaftsideal dienen. Ein Plädoyer für eine neue Symbiose von Demokratie und Leistungsaristokratie in Amerika zu halten, war der eigentliche Sinn von Giddings' Democracy and Empire sowie eines Großteils des sozialdarwinistischen Denkens in Amerika überhaupt. Giddings war überzeugt, daß Nietzsche, indem er eine Lanze für die „besten" und „höchsten" Menschen bricht, das Zeichen einer neuen Ordnung der Weltherrschaft gebe, welche die westlichen Demokratien als umgewandelte aristokratische Republiken instituieren würde - daher auch Giddings' begeisterte Unterstützung des spanisch-amerikanischen Krieges und seine Befürwortung der Einbehaltung der Philippinen als Protektorat (diese Begeisterung teilte er übrigens mit Charles

15 16 17

Franklin Ibid., S. Ibid., S. Ibid., S.

Henry Giddings, Democracy 353. 124. 276.

and Empire, op. cit., S. 94.

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Everett19). Die amerikanische Aristokratie brauche nicht nur Lebensraum, sondern auch neue Möglichkeiten, ihren Abenteuergeist wieder zu reaktivieren. Die einzige Kritik, die Giddings an Nietzsche zu üben hatte, bestand in der Aburteilung von dessen vermeintlich übertrieben darwinistischer Auffassung der aristoi. In seinen Visionen von siegreichen blonden Bestien verschreibe sich Nietzsche dem primitiven Kraftmenschen als Idealtypus und übersehe darüber die höheren Formen der Kraftentfaltung, die sich z.B. im modernen amerikanischen Unternehmer realisieren: shall w e find that a strong, healthy savage, capable of slaying any f o e w h o might be pitted against him in a brutal duel, is necessarily a man o f greater physiological p o w e r than an intelligent business or professional man in a civilized community? ... Nietzsche leaves his readers in no doubt whatever that he uncritically assumes the savage to be physiologically the stronger man. 2 0

Dennoch räumte Giddings gegenüber Nietzsche ein, daß der letzte Maßstab in der Feststellung der Rangordnung unter den Menschen der Wille zur Macht sei - nur, daß er diesen Willen ebenfalls als bloßen physischen Trieb zur äußeren Machtentfaltung verstand. Der Wille möge sich in der Geschäfts- und Wissenschaftswelt auf die höchst entwickelte Art und Weise ausdrücken, aber der Impuls bleibe seinem Wesen nach gleich, und auf das Wesen dieses im Grunde primitiven Willens müsse sich alle Ethik neu einrichten: as N i e t z s c h e says, the will to live, the will to b e powerful, is the radical form of all right feeling and right thinking; w e are bound by every consideration o f scientific accuracy to apply this test [of conduct] only after making sure that w e have taken stock o f all the possible modes of power. 2 '

Bemerkbar machte sich in Giddings Sozialtheorie also der Einfluß nicht nur Spencers, sondern eines aus Spencer, Darwin und Nietzsche bestehenden Triumvirats. Dabei ist die Wirkung Nietzsches vielleicht sogar höher als die Darwins und Spencers einzuschätzen. Giddings schien z.B. zu glauben, die natürlichen aristoi müßten geradezu in Schutz genommen werden, weil sie sonst von der Masse verdrängt würden. Aus der ganzen Warnung Giddings' vor den Folgen

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211 21

Während Giddings die territoriale Ausbreitung der USA als eine Naturnotwendigkeit betrachtete „There are not lacking reasons for thinking that the war with Spain was as inevitable as any event of nature, and that, at this particular stage in the development of the United States, territorial expansion is as certain as the advent of spring after winter" (Democracy and Empire, op. cit., S. 270) -, sah Everett darin einen Beweis der Tatkraft der christlichen Moral entgegen allen Anfeindungen Nietzsches - „This feeling [of solidarity with the Cubans] was altruistic. It showed the influence of Christianity. So far as this altruistic feeling was the ruling motive, the war was one of the noblest ever fought. If ever there was a Christian war ... this was a Christian war more really Christian than the Crusades." (Charles Everett, "Beyond Good and Evil", op. cit., S. 698.) Franklin Henry Giddings, Democracy and Empire, op. cit., S. 348f. Ibid., S. 350.

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eines ungesteuerten Rassenwildwuchses in Amerika, der sich bereits in den unterschiedlichen Geburtsraten der Klassen zeigte Is it not the choicest country stock that tends to become sterile, or to consume itself in towns, and does not the hopelessly inefficient portion of the wage class exhibit the greatest lack of procreative prudence? 22 -,

sprach mit entstellter Stimme die Ansicht Nietzsches über die wesensmäßige „Verschwendung" in der Natur, welche die seltensten, höchsten Formen nie begünstige, sondern oft gefährde: der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung [...] Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf [ums Dasein] - und in der That, er kommt vor -, so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin's wünscht [...] nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der Glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr [...] (GD „Streifzüge eines Unzeitgemässen" 14).

Das soll nicht heißen, Giddings sei der adäquate Interpret, um Nietzsches Bedeutung für die Sozialtheorie zu bestimmen. Typisch waren seine Ansichten aber doch für die frühe Wirkung, die Nietzsche unter manchen amerikanischen Konservativen, an erster Stelle den Sozialdarwinisten, hatte, und die sich in anderen Formen weiterentwickelte.

II.2 Radikales Reformdenken Die relative Leichtigkeit, mit der Franklin Henry Giddings und andere Konservative sehr früh Nietzsches geistige Aristokratie zum Indiz von dessen Ablehnung sozialpolitischer Intervention und seiner Befürwortung extremer Laisser/aire-Prinzipien in der Wirtschaft und der Staatsführung machten, legt die Vermutung nahe, die politische Linke Amerikas dagegen könnte Nietzsche abhold gewesen sein oder zumindest sich ihm gegenüber doch etwas spröde verhalten haben. Man weiß zudem, daß in der frühen Nietzsche-Rezeption sozialistischer Prägung in Deutschland das Verhältnis zu Nietzsche keineswegs von einhelliger Begeisterung gekennzeichnet war. Der sozialistische Schriftsteller Franz Mehring (1846-1919) erklärte Nietzsche schließlich zum Sozialphilosophen des Kapitalismus,23 und als solcher erschien er auch in den Interpretationen der sozialdarwinistischen Richtung.

" 23

Ibid., S. 172. In seinem Beitrag „Zur frühen sozialistischen Rezeption Nietzsches in Deutschland" (NietzscheStudien 13[1984], S. 503-520) bietet Emst Behler einen Abriß von Mehrings Nietzsche-Bild.

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In der Tat ist mit Sympathie für die philosophischen Prämissen und die praktischen Ziele des Sozialismus bei Nietzsche kaum zu rechnen. Radikale Kritik an jeglichem Wertsystem, welches das höchste Gut aus der Seinsweise der Masse zu abstrahieren versucht, durchzieht Nietzsches ganzes CEuvre, weil sein Interesse stets nur den seltensten Individuen, also der denkbar erlesensten Elite, gilt. Unverhohlene Absagen an den Sozialismus begegnen in allen drei „Schaffensphasen", um den Gipfel ihrer Intensität im Spätwerk zu erreichen: Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Socialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefiihl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben, - die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren ... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf „gleiche" Rechte. (AC 57)

Das Naturrecht hat in Nietzsches Augen nichts mit Natur, sondern mit der List einer trügerischen Metaphysik der „Schlechtweggekommenen" zu tun, und es kann darum keinen Zweifel daran geben, daß für ihn jedwede Diktatur des Proletariats zu den verhängnisvollsten Niedergangserscheinungen der Kultur gezählt werden müßte. Wenn der Niedergang notwendig ist, dann nur als Korrelat des darauf folgenden Aufstiegs. Und doch konnten wir im ersten Kapitel beobachten, daß Nietzsche von konservativer Seite auch als Volksverhetzer und Demagoge der Sozialisten verleumdet und auch grundsätzlich als Spielball aller Parteien behandelt wurde. So ist es ein zu duldender Widerspruch, daß Nietzsche auch für die Proklamationen amerikanischer Sozialisten einstehen mußte. Die Wurzeln des radikal-reformatorischen Geistes in Amerika gehen mindestens soweit zurück wie die des Konservatismus, aus dem der Sozialdarwinismus entstand.24 Obwohl in vielem weltfern, hat die reformistische Tradition in Amerika schon immer utopische Züge getragen, die zu zahlreichen Versuchen führten, ideale Gesellschaftsmodelle zu realisieren. Die starke chiliastische Strömung amerikanischer Religiosität treibt immer wieder endzeitliche Heilserwartungen an die Oberfläche. Schon die ersten großen Figuren in Amerikas Religionsgeschichte wie etwa Cotton Mather (1663-1728) siedelten vermöge einer eigenen Offenbarungslogik die Entstehung des neuen Paradieses in der neuen Welt an. Ob als Shaker, Mormonen oder Zeugen Jehovas, die Praktizierenden verschiedener Extremformen amerikanischer Frömmigkeit harrten oft in der selbsterschaffenen Utopie aus, um die nach dem Zeitenende verheißene ewige Glückseligkeit abzuwarten. Es ist kein Wunder, daß auch der säkulare Reformgeist sich mit starker Begeisterung anschickte, sich in utopischen Kolonien niederzulassen. Diese nahmen sowohl philosophische - wie im Falle des Brook-Farm-Projekts (18411847) der Transzendentalisten sowie anderer „Phalangen" nach dem Vorbild

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Politisch gewann diese Auseinandersetzung ihr erstes Symbol in der Opposition zwischen dem Jeffersonianismus und dem Hamiltonianismus bei der Konstituierung der Republik.

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Charles Fouriers (1772-1837) - als auch wirtschaftliche Form an - beispielsweise in Gestalt der Single Tax Community, die sich auf die ökonomischen Theorien des libertär-präsozialistisch denkenden Henry George (1839-1897) gründete. Der Austritt aus der Klause, um das reformatorische Glück dem ganzen Land zu bringen, kündigte sich schon im frühen 19. Jahrhundert an, um sich dann in die verschiedensten Richtungen zu zerstreuen. So disparat das die Prohibition fordernde Temperance Movement und der westliche Populismus auf den ersten Blick erscheinen mögen, waren sie doch eines gemeinsamen utopistischen Ursprungs. Die Wende zum sozialistischen Denken führten eindeutig eben diese populistische Tendenz im Westen und die keimenden Arbeiterbewegungen der Großstädte herbei. Sicherlich waren die Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter in Amerika der geeignete Nährboden für den sprießenden Sozialismus, aber neuere Studien, welche die Rolle europäischer Denker und Agitatoren in dieser Entwicklung abzustreiten versuchen, werden den damaligen Verhältnissen nicht ganz gerecht. 25 Manche der 1848 nach Amerika geflohenen deutschen Revolutionäre brachten Hegel und Marx gewissermaßen mit im Gepäck. Jedenfalls waren schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die ersten sozialistischen Gruppierungen und die großen Gewerkschaften wie die International Workers of the World (kurz IWW oder „Wobblies" genannt) mit Protesten, Streiks und Zeitungen aktiv. Im Jahre 1901 wurde die 10000 Mitglieder zählende American Socialist Party offiziell gegründet - diese Zahl sollte bis 1912 auf 150000 klettern. Über die Zahl der Parteimitglieder hinaus konnten die Sozialisten zu dieser Zeit auch ungefähr sechs Prozent der gesamten Wählerschaft des Landes für sich gewinnen. 26 Es muß aber hier noch erörtert werden, wie die amerikanische Linke - sofern sie Nietzsche für ihr eigenes Programm auswertete - sich über die Hürde der Unvereinbarkeit von sozialistischer Ideologie und Nietzschescher Philosophie hinwegsetzen konnte und warum sie an einer solchen Auswertung interessiert war. Zum ersten Punkt kann man festhalten, daß der Sozialismus in der Zeit vor der Oktoberrevolution - und dies trifft nicht nur für Amerika zu - von politisch eklektischer und philosophisch offener Gestalt war. Besonders in Amerika aber waren die ideologischen Grenzen der Partei oder Bewegung sehr porös. Die Partei mußte solche Offenheit am Anfang auch wahren, um möglichst viele Interessenten für ihre Sache zu mobilisieren, und machte so aus der Not eine Tugend (die leider allzu bald in Vergessenheit geraten sollte). Die Sozialistische Partei Amerikas rühmte sich einer bunten Mitgliedschaft und vermochte einige Jahre lang, Sozialdemokraten, Marxisten, Syndikalisten, Anarchisten und manch andere Gruppe auf sich zu vereinigen. So konstatiert der Historiker Irving Howe:

Das versucht z.B. Heinrich Nuhn in seiner bereits erwähnten Studie über den Anarchisten August Spies (August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika). Vgl. Irving Howe und Lewis Coser, The American Communist Party. A Critical History 19191957(Boston, 1957), S. 2.

Essayistik 1896-1914 Whatever else formula for a certainly was Socialist Party

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it might do, the Socialist Party could never have satisfied Lenin's revolutionary Party. It was neither compact nor centralized, and it not politically homogeneous. ... In its looseness and ranginess, the could gather to itself almost every kind of rebel and reformer. 27

Das erklärt zum Teil das wie, aber noch nicht das warum der Frage. Wie Daniel Aaron vermerkt, hat intellektuelle Radikalität in Amerika, da sie sich immer als Gegenbewegung zur eigenen Gesellschaft und Kultur verstanden habe, stets die Tendenz gehabt, ihre philosophische Existenzberechtigung und die Thesen ihrer Manifeste außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu suchen.28 Im Falle Nietzsches konnte es sich die Linke allein wegen der Bekanntheit und Bedeutsamkeit seines Namens kaum leisten, diesen potentiellen „Radikalen" sangund klanglos den Kräften des konservativen Flügels zu überlassen. Um die genaueren Inhalte dieser beiden generellen Antworten auf die doppelte Frage nach Nietzsche und dem linken Radikalismus in Amerika zu erhellen, soll einer der wichtigsten Ideologen und Intellektuellen der frühen sozialistischen Bewegung in Amerika als Zeuge herangezogen werden: William English Walling.

II.2.a Sozialismus/William English Walling (1877-1936) William English Walling gehörte zu den produktivsten und intelligentesten politischen Schriftführern des amerikanischen Sozialismus, aber liest man heute seine Werke wie Socialism As It Is, The Larger Aspects of Socialism oder Progressivism And After, so mag man sich fragen, wieviel Wallings politische Darstellung der Dinge tatsächlich mit dem Marxismus zu tun hatte. Nicht allein, daß Walling den Sozialismus zu einer Form des Pragmatismus („I believe pragmatism is Socialism"29) erklärte, er schwor auch allem Staatssozialismus als konträr zu den Zielen des Klassenkampfes ab: It is evident that collectivism, government ownership of monopolies, the appropriation of the land rent by the state, and the placing of labor on the level of maximum efficiency, are not Socialism. „State Socialism" seeks merely to rearrange institutions, Socialism seeks to bring new social forces into a position of power. 3 0

Wallings eigene ideologische Affinität zum Syndiko-Anarchismus ermöglichte es ihm, den Sozialismus sogar mit einem extremen Individualismus zu kombinieren, was zum Teil wie ein ideologischer Spagat anmutet: From the Socialist standpoint there is no reason why any true individualist should not develop, without losing any of his individualism, into an equally thorough-going

27 21 2

'

3,1

Ibid., S. 4. Daniel Aaron, Writers on the Left (New York, 1974), S. 3. William English Walling, The Larger Aspects of Socialism (New York, 1913), S. iiif. Ibid., S. xix.

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Essayistik 1896-1914 Socialist, and indeed the tendency for individualists to b e c o m e socialists as well has existed from the very beginnings o f modern individualism. 3 1

Diese Eliminierang aller Skrupel, die ein Sozialist gegenüber dem Individualismus und Egoismus vielleicht hegen könnte, machte es obendrein für Walling möglich, Max Stirner32 in die Reihe seiner philosophischen Ahnen mit aufzunehmen, der ja in Amerika vor allem erst durch die Nietzsche-Diskussion bekannt wurde. Wallings sehr lockerer Pluralismus dürfte aber seinen Genossen nicht als Abweichung von der Parteilinie vorgekommen sein, da es diese Linie als solche noch nicht gab. Der zusammen mit Walling für die bedeutendste sozialistische Zeitschrift Amerikas, The Masses (1918 in The Liberator und 1926 in The New Masses aufgegangen), arbeitende Schriftsteller Floyd Dell gab offen zu, mit dem Studium des historischen Materialismus nicht sehr weit gekommen zu sein, weil sein Verstand dem zu „algebraischen" System nicht gewachsen gewesen sei.33 Ein sehr großer Teil der sozialistischen Avantgarde bestand aus jungen Anhängern der Boheme-Szene um New Yorks Greenwich Village, denen die Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie weitaus unattraktiver erschien als das Pflegen eines rebellischen Lebensgefühls, das antirationalistich, elitär und in manchen Punkten fast ästhetizistisch war. Ein Auszug aus einem Inserat für das kleine sozialistische Magazin The Little Review gibt den buntscheckigen Habitus dieser Insider-Gesellschaft wieder: [The Little

Review]

believes in Life for L i f e ' s sake, in the individual rather than an

Incomplete people, in an A g e of Imagination rather than an a g e of reasonableness; a magazine ... written for intelligent P e o p l e w h o can Feel; w h o s e Philosophy is applied Anarchism, w h o s e policy is a Will to Splendor o f L i f e , and w h o s e function is to express. 3 4

Eine deutlich erkennbare theoretische Armut spricht aus dieser Neigung, die Grundsätze der „Revolution" einem amorphen Lebensgefühl unterzuordnen, das sich in der Hauptsache als Protest gegen die Vernunft versteht. Andere Aktivisten wie Walling oder der später als Trotzkist von der Kommunistischen Partei Amerikas angefeindete Max Eastman wiederum (der übrigens der Herausgeber von The Masses, The Liberator und The New Masses war), denen der Sozialismus mehr als bloßes Selbsterlebnis bedeutete, lasen Marx als einen Denker der sozialistischen Bewegung, dem man sich keineswegs auf Gedeih und Verderb intellektuell zu unterwerfen habe. Vor 1917 (eigentlich sogar bis 1919, dem Gründungsjahr der Kommunistischen Partei Amerikas) konnten Walling und andere also einen unorthodoxen

31 32

33 34

Ibid., S. 115. D.i. Johann Caspar Schmidt (1806-1856), dessen anarchistisches Credo Der Einzige und sein Eigentum (1845) zu einem Haupttext revolutionärer Denker der Jahrhundertwende wurde. Floyd Dell, Homecoming (New York, 1933), S. 197. Anonymus, Inserat, The New Review, IV (January 15, 1916), S. 47.

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Sozialismus praktizieren, ohne mit innerparteilichen Repressalien rechnen zu müssen. Trotz dieser Offenheit war es dennoch ein ziemliches Kunststück, Nietzsche in die Nähe des Sozialismus zu rücken. Das größte Hindernis für ein solches Unterfangen stellte zweifellos der Übermensch als Fanal des aristokratischen und antiegalitären Prinzips bei Nietzsche dar. Bedingungslos setzt Nietzsche den höchsten oder den über allem bisherigen Menschlichen stehenden Menschen als Maßstab aller Werte. Die Massen, die der Sozialismus zu organisieren sucht, interessieren ihn nur „in dreierlei Hinsicht": einmal als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und die Statistik! (HL 9)

Zum Umbiegen von Nietzsches Faszination mit der Elite in die Sorge um das Wohl der Menschheit als ganzer bediente sich Walling einer Taktik, die unter linken Nietzsche-Interpreten weit verbreitet war. Man schlug eine Brücke zwischen Nietzsche und der arbeitenden Klasse, indem man beispielsweise erklärte, der Übermensch sei „simply a symbol of humanity raised to its highest power", 35 das nicht ausschließlich einer kleinen Gruppe, sondern der ganzen Menschheit als Ideal dienen soll. Nietzsches letztendliches Ziel realisiere sich in der Heranbildung einer ganzen Rasse von Übermenschen, die keine Klassengrenzen mehr kenne. Die fatale Kasuistik dieser Ansicht äußerte sich weniger in der Distanzierung des Übermenschen von einer bestimmten Klasse, sondern in der Auflösung von Nietzsches Überzeugung, daß es einen inhärenten Wesensunterschied zwischen den Wenigen, Seltenen und den Vielzuvielen gibt. Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Interpreten räumte Walling ein, man könne doch leicht den Eindruck bekommen, Nietzsche habe den herrschsüchtigen Tyrannen (in Gestalt von Napoleon oder Cesare Borgia) bewundert, der ohne Skrupel die Menschen als bloßes Mittel zu seinen eigennützigen Zwecken betrachte, sie gewissermaßen wie „Schafe zum Scheren" führe. Wallings Originalität zeigte sich aber darin, die Möglichkeit dieser Interpretation nicht schlichtweg zu leugnen, sondern sie vielmehr als eine sozialistische Aufforderung an die Massen auszulegen, sich selbst zu erheben, damit sie nie wieder als Herde von Nutztieren oder Kanonenfutter mißbraucht werden könnten: the backward condition of society in the past furnished these evil spirits with sheep, the shearing of which was a relatively easy and brutal process such as evidences no very high qualities. Nietzsche wants such servile masses to serve their masters, and even a Socialist, when reading of such a mob proletariat as that of the ancient city of Rome, can share his feelings. But the strong man of the future must develop entirely different and greater qualities, if there are no such sheep to shear - as the Socialists hope - and nothing that Nietzsche has said suggests that he thinks that humanity should

Anonymus, „The Education of the Superman", Current Literature (January 1908), S. 73f.

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be provided forever with servile natures. ... Nietzsche condemns as strongly as anyone the tendency to tyrannize.36

Betrachte man das bewußtlose Proletariat der Vergangenheit, so Walling, dann müsse man Nietzsche doch darin recht geben, daß diese Menschen ihre Freiheit nicht verdienten! Den gordischen Knoten der philosophischen Verstrickungen von Übermensch und breiter Masse der Mittelmäßigkeit, auf der Nietzsche zufolge die hohen Kulturen immer ruhen, durchhieb Walling mit einem Schlag. Der Übermensch sei demnach nichts mehr als eine überzeichnete Metapher (also wieder ein Beispiel von Nietzsches „uneigentlicher" Sprache): „an effort to portray by hyperbole the characteristics of an ascending individual and an ascending race." 37 Aber wo Nietzsche die Merkmale des aufsteigenden Lebens überhaupt bei einem ganzen Volk und nicht nur bei seltenen Invididuen sucht, bezieht er sich fast immer nur auf die Griechen, die ja in seinem Werk oft eine rein symbolische Funktion haben. Die Prophetie von der Überrasse machte Nietzsche für manchen Rezipienten vielleicht verdaulicher, setzte aber Desiderata voraus, die Nietzsche selbst nicht anerkennt. Ein weiterer Teil dieser Strategie bestand im Auslöschen der Assozierung Nietzsches mit seinen konservativen Wortführern. Walling mußte Nietzsche aus den Klauen der Gegner des Sozialismus retten und gleichzeitig auch seine Leser davon überzeugen, daß eine solche „Bereinigung" von Nietzsches Ruf aus redlichen Motiven geschehe. So kam es bei ihm z.B. auch zu direkten Leugnungen von übertrieben formulierten, aber eindeutig als sozialdarwinistisch erkennbaren Lesarten der Philosophie Nietzsches: Unfortunately, Nietzsche still appears to the greater part of the English-speaking world ... chiefly as the defender of war and slavery, the opponent of woman's advance, and the eulogist of Napoleon and Cesare Borgia. It is needless to say that no Socialists can share such views. But we need not consider them as being fundamental in Nietzsche's outlook on life. Nor are his most abstract doctrines, such as that of „the superman", „the will to power", or „the perpetual return", by any means the most important part of his message. 38

Das abschließende Abstreiten der Bedeutung genannter „abstrakter Doktrinen" in Nietzsches Philosophie ist fatal. Wenn Nietzsche denn überhaupt eine „Botschaft" haben sollte, dann wäre sie, entgegen allen Beteuerungen Wallings, ohne den Übermenschen, den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr nicht wiederzuerkennen. Dieser Schachzug begründete aber in erster Linie die Rechtfertigung der sozialistischen Lesart von Nietzsches Philosophie und öffnete insofern die Vorhalle zur eigentlichen links-gerichteten Rezeption oder Aneignung

K

"

William English Walling, The Larger Aspects of Socialism, Ibid., S. 223. Ibid., S. 193.

op. cit., S. 219.

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Nietzsches. Dort in den Innenräumen des theoretischen Überbaus der sozialistischen Zielsetzung spielte Nietzsche eine dreifache Rolle als Auflöser: einmal des traditionellen Geschichtsbewußtseins, dann des Staates und zuletzt der jüdischchristlichen Moral. Seine Behandlung des vom Sozialismus geforderten Wandels in der Geschichtsschreibung betitelte Walling „The Abuse of History" und knüpfte damit automatisch an die gängige englische Übersetzung der Überschrift „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie" an. In verklausulierten Umschreibungen griff Walling die Geschichtswissenschaft an, weil diese sich verselbständigt und aus dem Dienst am „Leben" herausgelöst habe. Das Vokabular seines Angriffs entstammte der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, in der Nietzsche die detailverliebte Informationsüberflutung in den Geschichtswissenschaften anprangert, weil die Produkte moderner Historiker überhaupt gar keine Geschichte mehr seien, sondern um ihrer selbst willen betriebene hypertrophische Wissenschaft, in der der Mensch sich nicht mehr wiedererkenne. Die Menschen brauchen, schreibt Nietzsche, zwar eine „Kenntnis der Vergangenheit", aber nicht w i e eine Schaar v o n reinen, dem Leben nur z u s e h e n d e n D e n k e r n , nicht wie eine wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende E i n z e l n e , denen Vermehrung der Erkenntnis das Ziel selbst ist, sondern immer nur z u m Z w e c k d e s L e b e n s und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Z w e c k e s . ( H L 4 )

Nietzsche stellt sich gegen eine blutleere Geschichtswissenschaft, die das historische Bewußtsein zum verstaubten Zettelkasten degradiert. Stark pauschalisierend kommentierte Walling diese Ansicht so: „Nietzsche has no words strong enough with which to denounce the conception of history as a mere science".39 Nietzsche, so Walling, biete aber auch das Vorbild, an dem sich der sozialistische Geschichtsschreiber zu schulen habe: The Socialist (and pragmatic) view is nearer to N i e t z s c h e ' s

anti-historical

standpoint.

... The v i e w s of a creative philosopher and master-mind like N i e t z s c h e , though less accurate and systematic, are far broader and more suggestive [than those o f traditional historians].

For the philosopher of history, like the historian, must have the creative

p o w e r , as Nietzsche has pointed out with his usual brilliancy. 4 0

1st Nietzsche aber, wie hier behauptet wird, antihistorisch? Zunächst ist nicht einmal ganz klar, was Walling damit zum Ausdruck bringen wollte. Die Definition des Antihistorischen bei Walling kristallisiert sich aber bei näherer Betrachtung vor dem Hintergrund seiner politischen Verpflichtungen doch heraus. Der „kreative" Historiker erkenne, daß die Geschichte keinen festen Standpunkt besitze noch brauche, daß sich das Geschichtsbild stets wandeln müsse: „ [history] must necessarily evolve ... adapted by the historian to the uses of the

" 4,1

Ibid., S. 104. Ibid., S. 103.

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time in which he writes". 41 Das heißt, die Geschichtsschreibung stand bei Walling doch nicht im Dienst des Lebens, sondern der Ideologie. Das Kreative an dieser neuen Art von Historie entpuppt sich als Manipulation, welche dem Diktat einer bestimmten Weltauslegung Rechnung tragen sollte. Die Erlösung der Geschichte wollte Walling mit einer Geschichtsklitterung bewirken. Mit Nietzsche suchte er, eine Begründung der absoluten interpretatorischen Verßgbarkeit der Geschichte zu präsentieren, welche die methodische Voraussetzung für die historische Sehweise des Marxismus bildete. Das angeblich von Nietzsche demonstrierte und verfochtene Antihistorische bedeutete hier, daß die Geschichtsschreibung einfach vom Primat der Faktizität entbunden werde. Walling kritisierte zusätzlich an der traditionellen Historie, daß sie sich mit Daten und gesellschaftlichen Zuständen beschäftige, welche „utterly dissimilar to those of the present" seien und daher „no bearing whatever on present conditions" hätten. Im selben Absatz ergänzte er dann diese Aussage mit der Feststellung: „We can leam something of the general nature of men [from traditional history], but very little of the nature of the problems of men to-day". 42 Das Allgemeine und Allgemeingültige oder Zeitlose betrifft aber per definitionem die heutigen sowie die künftigen Zustände des Menschen und charakterisiert das, was Nietzsche als das Wesen des Überhistorischen vorstellt. Der überhistorische Blick richtet sich auf das ewig Gleichbleibende oder Wiederkehrende in allen geschichtlichen Momenten und wird nur von den geistig Höchststehenden geübt: Sollte Einer im Stande sein, diese unhistorische Atmosphäre, in der jedes grosse geschichtliche Ereignis entstanden ist, in zahlreichen Fällen auszuwittern und nachzuathmen, so vermöchte ein Solcher vielleicht, als erkennendes Wesen, sich auf einen überhistorischen [.·.]

Standpunkt zu erheben [...] (HL 1).

überhistorisch nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbleibenden giebt, zu Kunst und Religion.

(HL 10)

Die Auferstehung des klassischen, also zugleich tragischen und epischen Bewußtseins, das sich in Kunst und Mythos manifestiert, hängt mit dem Erklimmen des überhistorischen Standpunkts durch das große Individuum (das bei Nietzsche die Geschichte erlöst) wesentlich zusammen und bedeutet nicht die Unterwerfung der Geschichte unter politische Tendenzen. Hinzukommt, daß Nietzsche sich die Vorstellung eines „Weltprozesses" in der Geschichte, der ein unverzichtbares Element des historischen Materialismus bildet, eindeutig verbittet. Die ideologische Instrumentalisierung, die Walling in Nietzsches Schriften theoretisch verankern wollte, findet dort keinen Halt. Der weltanschauliche Ausbruch aus allen Zwängen der wissenschaftlichen Historie repräsentierte aber nur einen

41

Ibid., S. 9 5 .

42

Ibid., S. 87.

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Aspekt der theoretischen Methodik des frühen amerikanischen Sozialismus. Dieser Aspekt ging jedoch insofern eine Einheit mit den anderen Gesichtspunkten des sozialistischen Projektes ein, als alle zusammen ein gesamtheitliches Liberationsprogramm ergaben. Dauernd stößt man daher auf viele Grenzüberschreitungen zwischen Marxismus und Anarchismus in sozialistischen Schriften. Wallings nur als Beispiel für viele andere Mitdenker dienende Gesellschaftsanalyse zielte letzten Endes auf die Entfesselung des neuen Individuums. Der Geschichtsballast gehörte dabei hauptsächlich zu den Fesseln der intellektuellen Kader, die den handgreiflichen Generalstreik der Gewerkschaftler theoretisch zu untermauern hatten. Wallings Stellungnahme zum Staatswesen demonstrierte ihren anarchistischen Charakter bereits in der Distanzierung vom Staatssozialismus. Diese Ablehnung des institutionell oktroyierten Zwangsegalitarismus in der Gesellschaft folgte aus Wallings Abneigung gegen jede Stasatsform, die das Individuum in die Gewalt eines Apparates stellt, denn: „It undertakes to make him adjustable to any society, so that he may still be more serviceable to the ruling classes." 43 Diese Anfeindung des Staatssozialismus mochte auch auf Nietzschescher Kritik fußen, aber Walling schwieg sich über eine solche Entlehnung aus - vermutlich, weil Nietzsche zwischen verschiedenen Formen des Sozialismus nicht unterscheidet, da seine Untersuchungen den hinter dem Sozialismus stehenden moralischen Impuls freilegen sollen, anstatt am äußeren politischen Phänomen hängenzubleiben. Nietzsche geht, wie im Falle der Behandlung der decadence, nicht auf die Anführung von Symptomen, sondern auf die Ätiologie. Dennoch gibt es bei Nietzsche deutliche Kritik am sozialistischen Staatsapparat, die alle Äußerungen Wallings vorwegnimmt: Der Socialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstände reactionär. Denn er begehrt die Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt. (MA 473)

Nietzsche spricht aber, wie gesagt, vom Sozialismus ohne Präfix. Um ihn in seine Staatskritik einzubinden, mußte sich Walling auf Nietzsches antinationalistische und antimilitaristische Äußerungen konzentrieren, denn er war sich bewußt, daß Nietzsches Verhältnis zum Staat äußerst diffizil ist. Walling (im absoluten Gegensatz zu Giddings!) störte sich z.B. an Nietzsches pyramidaler Gesellschaftsvorstellung und zeigte sich besonders von der sich manchmal darin ausdrückenden Anerkennung der Nützlichkeit eines Kastensystems irritiert: Because he [Nietzsche] came finally to admire certain caste systems ... it is sometimes supposed that he stood definitely for that sum of all reaction, caste. On the contrary,

"

Ibid., S. 308.

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his whole philosophy was directed against caste, that is, until the very last of his writings. 44

Sicherlich hätte Walling Menschliches, Allzumenschliches nicht zum Spätwerk gerechnet, aber bereits dort ist der angeblich späte, nach Walling zu urteilen vielleicht schon von der Krankheit gezeichnete Gedanke an die Vorteile des Kastensystems unverkennbar präfiguriert: Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, w o es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Müsse Befähigten; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. (MA 439)

Trotzdem wies Walling Nietzsche als entschiedenen Gegner der Staatsherrschaft aus. Das war ihm aber nur möglich, indem sich Walling auf den Staat allein bei Nietzsche beschränkte und die Herrschaft der Besten als Hauptmotiv ignorierte. Für die Zitatauswahl zum Prinzip der Staatsfeindschaft diente Walling daher öfter Max Stirner, den er als Schöpfer einer neuen Gesellschaftsordnung vorstellte. Gemein haben Stimer und Nietzsche den individualistischen Grundzug, aber mit dem sehr gewichtigen Unterschied, daß Nietzsches Individualismus nicht auf eine ganze Gemeinschaft ausgedehnt werden kann, ja den Gedanken an Gemeinschaft fast ausschließt. Manchmal zweifelt er sogar an der Existenz der kleinen Schar von „freien Geistern", in die er sonst so viele Hoffnungen zu setzen scheint (MA „Vorrede" 2). Genau eine solche aristokratische Individualisierung des gesamten Proletariats war aber, wie sich gezeigt hat, ein integraler Bestandteil der sozialistischen Nietzsche-Rezeption. Der Aufruf zur schrankenlosen Emanzipation des Einzelnen von Staat, Klasse und falschem Bewußtsein sollte aus Nietzsches Visionen einer sozialistischen Zukunft zu hören sein: It is indeed a reversal of the older standards that is demanded; instead of individuals that conform to a rule, individuals w h o vary most widely; instead of individuals who fit easily into social grooves, individuals w h o require and compel the largest and most rapid development of society; instead of individuals w h o repress themselves, individuals who assert themselves, though of course in the largest and deepest sense. 4 5

Diese „reversal of the older standards", also die Umwertung, wurde zur großen Losung der radikalen Linken, denn sämtliche überlieferte Herrschaftsstrukturen mußten der neuen, freien Gesellschaft weichen, wenn alle Individuen die Möglichkeit der vollen Selbstentfaltung erhalten sollten. Wie wenig diese Zukunftsvision von Nietzsches Denken mitgetragen wird, dem die Selbstentfaltung im Sinne absoluter Zwanglosigkeit nichts gilt gegenüber der strengen Selbsterschaffung und -gestaltung, kam in der sozialistischen Nietzsche-Rezeption kaum

44 45

Ibid., S. 195. Ibid., S. 193.

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zu Wort, denn hier war vorranig, daß dem Nietzscheschen Vokabular ein Schlagwort mehr abgerungen wurde, das propogandistischen Ertrag einbrachte. Die Umwertung der Werte erfreute sich eines hohen Stellenwertes im sozialistisch-anarchistischen Diskurs, weil sie nicht nur als antibürgerliche Revolutionsparole gelesen werden konnte, sondern im eigentlichen Sinne Nietzsches die kritische Entlarvung der christlichen Moral bewirken sollte. Die Kirche sahen die meisten amerikanischen Sozialisten und Anarchisten als Herrschaftsinstanz an, die mit dem repressiven Staat kollaboriere und die Massen durch die Lehre eines falschen Quietismusideals in Schach halte. Aber nicht nur die Institution der Kirche, sondern die Moral selbst sollte im Zuge der Gesellschaftsreform überwunden werden, denn, sozialistischer Argumentation zufolge, das Gebot der Widerstandsunterlassung sowie die Verheißung von Glück und Gerechtigkeit im Jenseits verhinderten die Entwicklung innerer Bereitschaft zum Klassenkampf. Vor allem die Erlösung vom Vorbild der Mildtätigkeit beeindruckte z.B. Max Eastman am Antichrist·. It is a great book, a book that stands up and will be visible across the centuries. And if I were presiding over a course of study in Communism, I would begin by asking every member of my class to read it. For until we have got purged of the contagion of this holy feeling that the world can be saved by softness, we are not even ready to begin the search for a true theory of progress. 46

Walling wiederum nahm härtere Worte gegen die christliche Moral in den Mund, die er als Instrument der herrschenden Klassen bezeichnete. Auch übernahm er in seiner kritischen Historie der Moral die von Nietzsche angetretene Schuldzuweisung für die Schöpfung und Verbreitung dieser Ethik: Der Apostel Paulus, Nietzsches Feind des aufsteigenden Lebens, stand bei Walling wegen Verpflichtung des Christen zum Altruismus auf der Anklagebank: Altruism translated into the political sphere and taught to the masses becomes the doctrine of submission, obedience, and servility to others. This doctrine was among the teachings of Paul; ... it was strengthened rather than weakened by Luther and Calvin during the Reformation; it was held to by the great philosopher of the French Revolution. 47

Diesen Stammbaum des altruistischen Gedankens im Christentum hat Nietzsche rekonstruiert. Auch den abschließenden Seitenhieb gegen Rousseau konnte Walling bei Nietzsche finden. Der Unterschied in der jeweiligen Beschuldigung Paulus' bestand darin, daß dieser sich nach Nietzsches Meinung am großen Individuum schadloshalte, während Walling Paulus als Klassenfeind denunzierte. Aber die Erkenntnis des historischen Charakters aller Moral würdigte Walling grundsätzlich als Nietzsches Verdienst. Er bemühte sich dennoch trotz dieser

" 47

Max Eastman, „Nietzsche, Plato and Bertrand Russell", The Liberator, III (Sept. 1920), S. 5f. William English Walling, The Larger Aspects of Socialism, op. cit., S. 183.

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Relativierung der Moral, nicht in den Strudel des Moralrelativismus zu geraten. Ein ethisches System „may itself be judged as morally superior or inferior ... we may judge the moral value of a code of morals by its evil effects on societies and invividuals", 48 konstatierte Walling und ging damit an der nietzscheschen Einsicht vorbei, daß eine Moral auf apriorischem Boden gründen muß, denn an welchem Standard sind diese „schädlichen Wirkungen" zu messen? Auffallend ist eben, daß er gerade an dieser Stelle Nietzsche nicht zur Bekräftigung seines Standpunkts jenseits des Relativismus heranzog. Das durfte er auch wohl kaum, denn Nietzsche entgeht dem Sturz in die relativistische Aussagelosigkeit nur, indem er ein letztes Prinzip setzt: den Willen zur Macht. Er wertet eine Moral nach ihrem Nutzen oder Schaden für das Leben der die höchsten Ausdrucksformen des Willens zur Macht verkörpernden Individuen, um sie dann unter die Rubrik der Herren- oder Sklavenmoral einzuordnen. Gerade diese von Sozialdarwinisten verflachte, aber lautstark mitgetragene Begriffskonstellation hätte Wallings Position wegen der Assozierung dieser Termini mit dem Ultrakonservatismus nur schaden können. Aus diesem Grunde blieb er dem Leser auch eine Erklärung schuldig, wie der Begriff des Schädlichen, an dem die „evil effects" einer jeweiligen Moral gemessen werden könnten, philosophisch zu begründen wäre. Walling versuchte, alle Metaphysik hinter sich zu lassen, verfing sich aber im Netz des Naturrechts, an dem alle Argumente zur Rechtfertigung des Klassenkampfs hingen. Im Endeffekt war selbst ein solidarisch entstellter Nietzsche doch ein sehr schlechter Sozialist.

II.2.b Anarchismus/Emma Goldman (1869-1940) Das Ideal der Freiheit des Indviduums, die in einer künftigen, höheren Potenz realisiert und zugleich aus einer idealisierten Vergangenheit aus der Zeit vor der Industrialisierung und Entstehung der Massengesellschaft zurückgewonnen werden sollte, schloß Sozialisten und Anarchisten zusammen. Den entfesselten und zum Selbstbewußtsein erweckten Einzelmenschen suchten auch Amerikas anarchistische Ideologen in Nietzsche wiederzufinden. Das philosophische Fundament, auf dem diese ihr Haus erbauten, bestand größtenteils aus den Hauptwerken spezifisch anarchistischen Denkens, und Nietzsches Rolle in der Geschichte dieser Bewegung kann man kaum mit der Kropotkins oder Bakunins vergleichen. Wieder einmal muß eingesehen werden, daß eine sich als die gesellschaftlich progressivste Denkrichtung begreifende Organisation zu Nietzsche fand, weil sie keineswegs die Chance verpassen wollte, einen wichtigen Redner für ihre Sache zu gewinnen. So geschah es nicht selten, daß Kommentare über Nietzsche oder kurze Auszüge aus seinen Werken in den kleinen anarchistischen Zeitschriften wie

4

"

Ibid., S. 163f.

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Alarm, Liberty oder Der arme Teufel abgedruckt wurden. Es ist auch nicht gerade erstaunlich, daß das Nietzsche-Bild der Anarchisten große Ähnlichkeit mit dem der Sozialisten besaß. Aber anarchistische Nietzscheaner hatten immerhin doch einen für die politische Aneignung dieses Philosophen nicht unbedeutenden Vorteil gegenüber marxistischen Sozialisten: Sie mußten seine Distanzierung gegenüber der Menge nicht verheimlichen, um Nietzsche heranziehen und noch gleichzeitig innerhalb der philosophischen Grenzen ihres eigenen politischen Programms bleiben zu können. Für die meisten Intellektuellen der anarchistischen Bewegung setzte die Übernahme der Verantwortung für das eigene Schicksal bei jedem Einzelnen den Willen zum Bruch mit der Lebensart des Massenmenschen voraus. Den anarchistischen Aufruf zur Selbsterhebung richteten die Publizisten und Redner freidenkerischer Kreise meist als Appell an das Individuum allein und nur selten an eine Gruppe oder Klasse. Der Begriff „Herdenmensch", den Sozialisten meist scheuten, fand daher häufiger eine Funktion in anarchistischen Manifesten. Die aus dem Kurland stammende Publizistin und Aktivistin Emma Goldman war sicherlich der bekannteste und aktivste Anarchistin Amerikas. Im Jahre 1892 wurde sie im ganzen Land bekannt, weil sie zusammen mit dem Aktivisten Alexander Berkman (beide gehörten zum sogenannten Autonomie-Kieis um den Anarchisten Joseph Peukert) ein Attentat auf den Großindustriellen Henry Clay Frick geplant hatte. 49 Nach diesem Vorfall und der dadurch ausgelösten antianarchistischen Kampagne der Presse distanzierte sich Goldman zwar rasch von der Gewaltanwendung als politischem Mittel (während Berkman eine lange Haftstrafe verbüßte), blieb aber als politische Wanderrednerin sehr rege. Den Nimbus des bewaffneten Staatsfeindes indes konnte sie nach dieser Episode nicht so schnell abstreifen. Es sollte auch keineswegs das letzte Mal in ihrem Leben sein, daß sie mit der Justiz in Konflikt geriet. Im Jahre 1906 gründete Goldman ihre eigene Zeitung, das anarchistische Organ Mother Earth, und in vielen ihrer zahlreichen eigenen Beiträge ist der Name Nietzsches zu lesen oder Nietzschescher Einfluß zu spüren. Nur soll daran erinnert werden, daß auch Figuren wie Whitman oder Emerson eine ähnliche Rolle bei Goldmann spielten. Im Vorwort ihrer Essay-Sammlung, das zum Teil aus einer älteren Rede namens „The State and its Powerful Opponents: Friedrich Nietzsche, Max Stirner, Emerson, Thoreau and Others" zusammengesetzt wurde, findet sich eine etwas verschlagene Verteidigung Nietzsches - verschlagen, weil Goldman eigentlich meinte, ihn nicht verteidigen zu müssen, und dies auch durchschimmern ließ:

4

*

Näheres zu diesem Ereignis und zum Leben Emma Goldmans im allgemeinen findet man bei Richard Drinnon, Rebel in Paradise. A Biography of Emma Goldman (Chicago, 1961). Vgl. besonders Kapitel 5.

82

Essayistik 1896-1914 Friedrich Nietzsche ... is decried as a hater o f the weak because he believed in the Uebermensch.

It does not occur to the shallow interpreters of that giant mind that this

vision of the Uebermensch also called for a state of society which will not g i v e birth to a race of weaklings and slaves. 5 0

Nietzsche war ihr kein skrupelloser, grausamer Tyrann, aber auch kein Freund der kleinen Leute - das war Goldman indessen auch nicht, erkannte sie doch in den Massen eher „Schwächlinge und Sklaven" als Helden der Arbeit. Auch Goldman schrieb dauernd von der Umwertung, die Nietzsche vorbereitet habe und die nun von der jungen Generation Amerikas durchzuführen sei. Im Gegensatz zu den meisten Sozialisten aber nahm sie keinen Anstoß an der durch die Umwertung geforderten Ablehnung der Mitleidsmoral. Der Aufstieg zum höheren Sein des freien Geistes könne nach Goldman nur Sache des jeweils Einzelnen sein, der die Intelligenz, den Mut und den Willen besitze, sich von der „Herde" zu trennen und der zu werden, der man sei, indem man das „gefährliche Leben" suche. Die „Herde" wiederum traf Goldmans mehr oder weniger offene Verachtung: If I were to give a summary of the tendency o f our times, I would say, Quantity.

The

multitude, the mass spirit, dominates e v e r y w h e r e , destroying quality. ... [t]he majority cannot reason; it has no judgment. Lacking utterly in originality and moral courage, the majority has always placed its destiny in the hands o f others. 51

In dieser harten Abrechnung mit der Unmündigkeit des gewöhnlichen Volks erreichte Goldman die Intensität von Nietzsches aristokratischer Gesellschaftskritik und trug derselben auch viel besser Rechnung als beispielsweise Walling. Auch der bei manchen Sozialisten und Undefinierten „Radikalen" auftretende Antirationalismus haftete Goldmans Schriften nicht an. Wenn Nietzsche die Masse verspottet, dann weil sie seiner Meinung nach entweder keine Vernunft besitzt oder von der ihr gegebenen Vernunft keinen Gebrauch macht, sondern sich stattdessen in ihrem Handeln dem Affekt (z.B. dem Ressentiment) und der Faulheit überläßt. Auch Emma Goldman setzte kein Vertrauen in eine Massenbewegung, die das Proletariat über Nacht in eine Übermenschenrasse transformieren zu können vorgab. Jedes Individuum muß Goldman zufolge alleine zur Unabhängigkeit kommen; der Anarchismus könne dabei jedoch die Stimme sein, die den vor sich hin dämmernden Einzelnen wachrufe: Break your mental fetters says A n a r c h i s m to man, for not until y o u think and judge for yourself will y o u get rid of the d o m i n i o n o f darkness, the greatest obstacle to all progress. 5 2

50

" 52

Emma Goldman, „Preface", Anarchism and Other Essays (New York, 1910), S. 44. Hier wird nach dem Nachdruck von 1969 zitiert. Die Aufsätze dieser Sammlung erschienen alle ursprünglich in Mother Earth. Emma Goldman, „Minorities versus Majorities", Anarchism, op. cit., S. 69f. Emma Goldman, „Anarchism", Anarchism, op. cit., S. 53.

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So kam es auch, daß Goldman gelegentlich die Sozialisten ins Visier ihrer Kritik nahm, die ja sonst als die Verbündeten der Anarchisten im Klassenkampf galten. Der Streit entzündete sich für Goldman wieder an der Konzentration der Sozialisten auf die Massen: Their [the socialists'] success ... is due not to individualism, but to the inertia, the cravenness, the utter submission of the mass. The latter wants to be dominated, to be led, to be coerced. 53

Zu Emma Goldmans Idealbild des geläuterten Individuums gehörte auch die Auslöschung des „schlechten Gewissens" und der puritanischen Askese, die sie konsequent auf die christliche Moral zurückführte. Aber nicht nur die innerliche Strafe des Gewissens, sondern auch die durch den Staat vollzogene (die sie selbst am eigenen Leibe erfuhr, von Freiheitsentzug bis hin zu ihrer schließlichen Ausbürgerung) lehnte sie ab. Auch hier befleißigte sie sich einer Nietzscheschen Begründung ihrer Position. Die Strafe untersucht Nietzsche im Kontext seiner Überlegungen zur Einheit und Freiheit des Willens. Da er beide für sprachliche Konventionen, Irrlichter der „Grammatik", hält, ergibt sich für ihn daraus (im klaren Gegensatz zu Schopenhauer, dem der „intelligible Charakter" als Quelle aller Freiheit, Verantwortung und Schuld des Menschen gilt) die ontologische Ungerechtigkeit aller Strafe, denn Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet.

(MA 39) Von Nietzsches Denken und vom Standpunkt der Milieu-Theorie aus argumentierend, befand auch Goldman die Strafe für unbegründbar: „What is the real basis of punishment, however? The notion of a free will, the idea that man is at all times a free agent for good or evil". 54 Mit Nietzsche verneinte sie diese Freiheit kategorisch. Dieses Nachdenken über Schuld und Sühne begegnete aber auch in Goldmans Behandlung der christlichen Askese, da auch sie eine Rehabilitation der Körperlichkeit und der Sexualität für ein anarchistisches Anliegen erachtete. Für lebensphilosophische Bewegungen der Zeit gehörte eine solche Neubewertung des Geschlechtlichen zu den meistgeforderten Punkten der gesellschaftlichen Erneuerung. Bei Goldman ist diese Tendenz aber besonders erwähnenswert, weil sie nicht nur Vertreterin des Anarchismus, sondern auch der Frauenemanzipation in Amerika war. Zu ihrem Bild der neuen Frau gehörte die freie Verfügung über die eigene Sexualität sowie das ungehemmte Erleben der eigenen Körperlichkeit. Sich zu Nietzsche bekennende Frauenrechtler mögen auf den ersten Blick noch mehr überraschen als alle anderen Konstellationen, die bis jetzt als Teil der

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Emma Goldman, „Minorities versus Majorities", op. cit., S. 71. Emma Goldman, „Prisons", Anarchism, op. cit., S. 118.

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amerikanischen Nietzsche-Rezeption hier zu Protokoll genommen worden sind. Nietzsches misogyne Entgleisungen zählen zu den wenigen Zitaten aus seinen Werken, die auch im Volksmund Gebrauch fanden. Diese sind also hinlänglich bekannt und bedürfen keiner Auflistung. Es soll aber doch darauf hingewiesen werden, daß Nietzsches Bedenken gegenüber der „modernen" Frau oder Frauen insgesamt nicht nur Ausdruck privater Querelen oder Verschrobenheiten sind. Argwöhnisch kommentiert er die neuzeitliche Erscheinung der Frauenbewegung als dicadence-Phänomen, welches das weibliche Geschlecht entarten lasse und letzten Endes um einen Großteil seines eigenen Einflusses in der Männerwelt bringe. Dieser Einfluß ist nach Nietzsche freilich meist amouröser Natur oder bedient sich verschiedener Formen der Hinterlist, denn daß die Frau dem Mann im Normalfall intellektuell unterlegen sei, steht für ihn außer Zweifel. Das heißt für Nietzsche aber, daß die Frau eine eigene, weibliche Vernunft besitze, die sich von der des Mannes essentiell unterscheide. Aber selbst wenn man die Frau zum männlichen Intellekt erzöge, dann wäre dieser ein Stück Widernatur in ihr, das ihre Weiblichkeit korrumpierte. Die Emanzipation bewirke eine atavistische Rückbildung der Frauennatur: die „Emancipation des Weibes", insofern sie von den Frauen selbst (und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von der zunehmenden Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten Instinkte. (JGB 2 3 9 )

Nur kraft einer bodenlosen Sophisterei, möchte man vielleicht einwenden, könne eine Verbindung zwischen den Belangen der Frauenbewegung und dem Nietzscheanismus hergestellt werden. Man bedenke aber, daß es zum Verständnis von William English Wallings sozialistischem Nietzschetum notwendig war, den amerikanischen Sozialismus in seiner Frühform von dem zu unterscheiden, was er später geworden ist: eine doktrinäre, von Moskau fremdbestimmte und stalinistisch-gleichgeschaltete Kommunistische Partei. Analog hierzu müssen auch die Interessen der frühen amerikanischen und europäischen Frauenrechtler als nicht ausschließlich politisch erkannt werden. Vor allem die innere Erneuerung und Befreiung der Frau galt vielen als das oberste Gebot ihres emanzipatorischen Bemühens, und Emma Goldman warnte ihre Leserinnen sogar vor der Chimäre einer sozialen Gleichstellung mittels des Wahlrechts, da dieses nur ein palliatives Mittel sei, mit dem der Staat die Selbsterhebung des Individuums unterdrücke: In her blind devotion woman does not see what people of intellect perceived fifty years ago:

that suffrage is an evil, that it has only helped to enslave people, that it has but

closed their eyes that they may not see how craftily they were made to submit. 5 5

Ob Ellen Key in Schweden, Helene Stöcker in Deutschland, Olive Schreiner in Südafrika oder Emma Goldman in Amerika, alle teilten sie die Sorge um die

Emma Goldman, „Woman Suffrage", Anarchism,

op. cit., S. 197.

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innere Freiheit der Frau, nach deren Erlangung erst auf die äußere Freiheit gehofft werden konnte. Es war wieder Nietzsche der Individualist, Freigeist und Umwerter, der ihnen in diesem Kampf beistehen sollte. Maßgeblich für die feministische Auseinandersetzung mit Nietzsche war der Bezug zur Sexualpolitik. Im praktischen Bereich bemühten sich die Feministen um Mutterschutzmaßnahmen und Aufklärung über Verhütungsmethoden. Das Ergebnis der Verhinderung ungewollter Schwangerschaften sollte aber nicht nur die ökonomische Entlastung der Frau bewirken, sondern auch den Weg zur Entdeckung der eigenen Sexualität als Genuß und Teil der vitalistischen Selbstverwirklichung öffnen. Das natürliche Verhältnis beider Geschlechter zur Sexualität sei erst durch das Christentum zu etwas Verpöntem gemacht worden - auch eine Erkenntnis, die Nietzsche mitteilt: Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens.(GD „Was ich den Alten verdanke" 4)

Schon um die Jahrhundertwende übernahm die Sexualität in gebildeten und antibürgerlichen Kreisen die Rolle eines persönlichen und gesellschaftlichen Allheilmittels. In Europa wirkte der Freudianismus in diese Richtung, während in Amerika an erster Stelle der Psychologe Prof. G. Stanley Hall (1844-1924), Rektor der Clark University, die neuen Sexualtheorien vertrat (und unter anderem auch die Einladung Freuds nach Amerika 1908 erwirkte56). Für Emma Goldman war die männliche Doppelmoral, mittels derer weibliche Sexualität unterdrückt werde, nicht nur eine große Ungerechtigkeit, sondern auch Ursache eines weiteren gesellschaftlichen Übels: der Prostitution. Society considers the sex experiences of a man as an attribute of his general development, while similar experiences in the life of a woman are looked upon as a terrible calamity, a loss of honor and of all that is good and noble in a human being. This double standard of morality has played no little part in the creation and perpetuation of prostitution. 57

56

51

Hall meinte z.B., daß Sexualkunde sogar integraler Bestandteil der Schuldbildung sein sollte: „If sex is fundamental and all-conditioning for human well-being, as nearly all eminent experts now claim, it follows that it must be made correspondingly central in education in a way to unite its chief topics into an organic whole that fits the successive stages of human development so as to utilize the intense and unique interest that now goes to waste". (G. Stanley Hall, Educational Problems, S. 479. [Zitiert bei Walling, The Larger Aspects of Socialism, op. cit., S. 293.]) Zum Amerikabesuch Freuds vgl. Howard L. Kaye, „Why Freud Hated America", The Wilson Quarterly (Spring 1993), S. 118-125. Kaye zeichnet nicht nur die Verbindungen zwischen Freud und amerikanischen Psychologen sehr genau nach, sondern vertritt außerdem die provokative und überzeugend belegte These, daß Freuds Abscheu gegenüber der amerikanischen Kultur auf der Freizügigkeit in eroticis beruht habe, mit der seine amerikanischen Gesprächspartner ihm in Diskussionen entgegentraten. Es sei diese Tendenz zum einen oder anderen Extrem in Moralfragen, die Freud befremdete. Emma Goldman, „The Traffic in Women", Anarchism, op. cit., S. 186.

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Die Beseitigung der Prostitution kann nach Goldman nur durch „a complete transvaluation of all accepted values - especially the moral ones"58 erreicht werden (Hervorhebung vom Vf.). Es galt zwar die Umwertung aller Werte als Mittel zur Erlangung der freien Gesellschaft, aber auch in diesem Punkt kehrte Goldman zunächst den Blick nach innen, anstatt sofort zu politischem Engagement zu drängen. Ihren anarchistischen Primat der Selbsthilfe, der ihrer Kritik der Massen zugrundelag, gab sie auch in Fragen der Frauenemanzipation nicht auf. Der „zurückgebliebene" Stand des weiblichen Geschlechtes sei wenigstens z.T. selbst verschuldet: Woman, even more than man, is a fetich worshipper, and though her idols may change, she is ever on her knees, ever holding up her hands, ever blind to the fact that her god has feet of clay. ... Nietzsche's memorable maxim „When you go to woman, take the whip along," is considered very brutal, yet Nietzsche expressed in one sentence the attitude of woman towards her gods. 59

Erst wenn jede einzelne Frau nach Nietzsches Vorbild den Götzendienst an der überlieferten Moral quittiere, könne sie die Freiheit entdecken, die aus diesem ersten großen Gestus des Sklavenaufstandes fließe. Das soll nicht den Eindruck verfestigen, Goldmans emanzipatorisches Wirken ziele ausschließlich auf die innerliche Erneuerung der Frau. Sie forderte auch beispielsweise verbesserte Ausbildungschancen für Frauen und junge Mädchen, damit sie eigenen Berufen nachgehen konnten. Dies tat aber auch ein Konservativer wie Giddings - mit der Begründung, berufstätige Frauen brächten weniger Kinder zur Welt und senkten damit die Geburtsrate der arbeitenden Klasse (denn nur Frauen aus Arbeiterfamilien würden arbeiten, selbstverständlich aus finanzieller Not), was dem nationalen Gengut förderlich wäre. 60 Der Kern der antibürgerlichen Linken in der Frauenbewegung setzte aber an die erste Stelle meist die Stärkung der Selbstachtung der Frau, die als Teil des Gesamtprozesses der Umwertung begriffen wurde. Diese Zielsetzung teilte Emma Goldman z.B. mit der deutschen Frauenrechtlerin und Nietzsche-Verehrerin Helene Stöcker, die nicht die Vermännlichung der Frau, vor der Nietzsche ja warnt, empfahl, sondern die weibliche Selbstwerdung panegyrisch feierte: Nein, nein, nicht Mann sein wollen, oder wie ein Mann sein wollen, oder mit ihm verwechselt werden: was sollte uns das helfen! Unser Gewissen spricht jetzt, „Werde, die du bist."... [L]ernen, uns selber Gesetze zu geben, die Rangordnung der Werte durch uns, für uns zu bestimmen, das ist die Befreiung vom Banne der asketischen Moral vergangener oder vergehender Kulturen und Traditionen. 61

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M 60

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Ibid., S. 194. Emma Goldman, „Woman Suffrage", Anarchism, op. cit., S. 195f. Franklin Henry Giddings, Democracy and Empire, op. cit. Vgl. das Kapitel „Some Results of the Freedom of Women", passim. Helene Stöcker, Die Liebe und die Frauen (Minden in Westfalen, 1906), S. 14.

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Goldman, Stöcker und andere betonten also den besonderen Vorteil der Weiblichkeit gegenüber dem männlichen Wesen, forderten aber keine sektiererische Gesellschaftsordnung als Schlüssel zur Emanzipation. Die Zweisamkeit höherer Art zwischen Mann und Frau - das hieß für sie das geistige und sexuelle Zusammenleben, in dem Aufgabenteilung aber auch Gleichberechtigung garantiert würden - sollte die traditionelle Ehe ersetzen, die meist nur eine wirtschaftliche Institution sei, in der die Frau lediglich als Arbeiter und Konkubine fungiere („Marriage and love have nothing in common", schrieb Goldman62). Die neue, selbstbewußte Frau könne auch dem Mann die Wünschbarkeit dieser Lebensform beibringen, die Goldman als utopische Zukunftsvision inszenierte: Some day, some day men and women will rise, they will reach the mountain peak, the will meet big and strong and free, ready to receive, to partake and to bask in the golden rays of love. 63

Auch bei dieser Revolutionierung der Ehe konnte sich Goldman auf Nietzsche berufen, der in Menschliches, Allzumenschliches Hoffnungsvolles „aus der Zukunft der Ehe" berichtet: Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechts sich zur Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen: die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts. (MA 424)

Diese „Seelenfreundschaft" schwebte Goldman und anderen als bessere, aufgeklärte Zukunft vor, in der Gleichberechtigung ohne Gleichmeicherei die Regel wäre. Ein weiterer Zweck der Ehe aber, den Nietzsche im selben Aphorismus nennt, lockte manche Nietzsche-Freundin in den Dunstkreis des Übermenschenkultes, in dem die neue Frau die Rolle der Gebärerin erhielt. Die neue Ehe, schreibt Nietzsche, werde „zum Zweck der Erzeugung [...] einer neuen Generation geschlossen". Daraufhin erblickten auch seltsame Kopfgeburten das Licht der Welt im Kreißsaal des übermenschlichen Philosophierens. Solche Vermutungen motivierten eine anonyme Feministin z.B. zur Frage: „Did Nietzsche Predict the Superwoman as Well as the Superman?" Ihre Antwort fiel affirmativ aus, da nur die „Überfrau" zur Hervorbringung des Übermenschen geeignet sei: The union of man and woman to ennoble themselves and to create something than themselves - this is the ideal of marriage which Nietzsche holds before woman is as necessary to the consummation of this perfect marriage as man, woman, the indispensable mate, the mother of the transfigured man of the Nietzsche undoubtedly foresaw and welcomed the Superwoman. 64

62 63 M

greater us. ... and in future,

Emma Goldman, „Marriage and Love", Anarchism, op. cit., S. 227. Ibid., S. 239. Anonymus, „Did Nietzsche Predict the Superwoman as Well as the Superman?", Current Literature, 43 (1907), S. 643f.

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Dies war kein Einzelfall, und auch Helene Stöcker zeigte sich für solche eugenisch anmutenden Visionen zugänglich.65 Emma Goldman schien immerhin gegen jede Art von Übermenschenmystik gefeit zu sein; dazu war sie doch zu sehr praktische Revolutionärin. Vor genau diesem revolutionären Anliegen Goldmanns rückte jedoch ihr Nietzsche-Bild oft in den Hintergrund. Ihre anarchistische Konzentration auf die Entwicklung des geistig befreiten und mündig gewordenen Individuums ließ sich mit dem aristokratischen und individualistischen Schwerpunkt in Nietzsches Denken zwar besser vereinbaren als die sozialistische „Höherzüchtung" der Menschheit zu einer ί/fonnenschheit, aber im Zentrum ihrer Arbeit stand das politische Programm zur Errichtung einer Gesellschaft ohne Staat. Nietzsche war ihr einer von verschiedenen Ziehvätern, deren Namen auch besonders plakatives Potential besaßen. Goldmans Einfluß auf die sonstige Nietzsche-Rezeption hielt sich u.a. auch deshalb in Grenzen - sie wollte nicht das Bewußtsein für Nietzsche erwecken, sondern er sollte ihr bei der Erschaffung eines Bewußtseins für die Vorteile der anarchistischen Gesellschaft behilflich sein. Nicht nur hatte sie also in erster Linie anderes im Sinn als die Schulung der Nation in Zarathustrascher Weisheit, ihr hätten auch die Mittel zu dieser Schulung gefehlt, wenn sie sich dies zum Ziel gesteckt hätte. Mother Earth erreichte eine zu kleine Leserschaft, als daß mit dieser Zeitschrift eine solche breite Wirkung hätte erzielt werden können. Die wirkliche frühe Popularisierung Nietzsches ging auf das Konto zweier Journalisten, deren Wirken eine Tradition der Nietzsche-Aufnahme einleitete, welche maßgeblich die Diskussion im ersten Drittel des Jahrhunderts bestimmen sollte. Von diesen zwei Männern war der jüngere, H.L. Mencken, zweifellos der weitaus wichtigere und eigentlich der, dem auch interpretatorischer Einfluß zugeschrieben werden kann. Aber auch Menckens älterer Kollege und zeitweise Mentor, James Gibbons Huneker, ein Pionier der amerikanischen NietzscheRezeption, muß in einer Geschichte derselben unbedingt zu Wort kommen.

II.2.C Popularisierung I: James Huneker (1860-1921) Als im Jahre 1896 der Nestor europäischer Nietzsche-Kreise, der Däne Georg Brandes (1842-1927), Amerika besuchte, wollte insbesondere ein amerikanischer Kunstkritiker, Feuilletonist und Essayist auf keinen Fall versäumen, den großen Mann kennenzulernen. Bekanntschaft mit den damaligen Prominenten der Kunstwelt zu schließen, war fast James Gibbons Hunekers eigentlicher Beruf, und außerdem gefiel sich Huneker sehr gut in der Rolle eines amerikanischen Bran-

65

Stöcker schrieb in Die Liebe und die Frauen: „Wie sollten wir je zu dem .Übermenschen' gelangen, wenn die Frauen, deren Sehnsucht sein soll, den Übermenschen zu gebären, alle inferiore Geschöpfe wären, die aus Selbsterhaltungstrieb zur .Sklavenmoral' greifen müßten?" (op. cit., S. 15.)

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des. Der Vergleich wäre zudem nicht ganz verfehlt. 66 Huneker war ein wahres Produkt des amerikanischen Pendants zum europäischen fin de siecle, des Gilded Age, und zugleich eine der Figuren, welche dem Wesen dieser Epoche ihren eigenen Charakter aufprägten. In ihrem Streben, aus der verstaubten Langeweile isolationistischer Provinzialität auszubrechen, suchten Amerikas Intellektuelle, Kunstliebhaber und Bohemiens um die Jahrhundertwende nach frischen kulturellen und geistigen Impulsen für ein neues Zeitalter. Diese Impulse hofften viele aus Europa zu empfangen. 67 Die die amerikanische Kunstwelt revolutionierende, legendäre New Yorker armory show von 1913, auf der die tatsächlich wichtigsten Werke der europäischen Impressionisten, Expressionisten und Kubisten ausgestellt wurden, war nur das eklatanteste Beispiel der Berührung mit der europäischen Moderne, von der sich eine neue Generation amerikanischer Maler und Schriftsteller eine ästhetisch exaltierte Weltsicht sowie die neue, aufregende Lebensform einer keimenden Avantgarde erhoffte. Abertausende reisten nach Europa, um ihrem Appetit auf die neue Kunst und die alte Kultur zu frönen, aber wer sich am Tourismusbetrieb der belle epoche beteiligen konnte, gehörte meist zur gediegenen Oberschicht der Gesellschaft. Der hungerleidende Ästhet, der die finanziellen Vorteile der späteren sogenannten lost generation der 20er Jahre nicht genoß, mußte mit New York, Boston oder San Francisco vorliebnehmen und sich mit Nachrichten aus Übersee begnügen. Vermittler wurden also gebraucht, und genau als ein solches Medium zwischen den zwei Welten fungierte James Huneker. Huneker sah es als seine Aufgabe an, seinen Landsleuten die decadence und den Schock des Neuen beizubringen - und das ohne Schonung. Diese Aufgabe erfüllte er auch erfolgreich. Es gab andere Mittelsmänner der Kultur wie Percival Pollard oder Edgar Saltus, aber Huneker nahm einen besonderen Platz unter ihnen allen ein. Um mit Alfred Kazin zu sprechen: Huneker was different. ... He had more energy, knew gossip, wrote more books ... and disseminated more personality than almost any other journalist of his time. brought the new currents in European art and thought fashionable. 68

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more people, retailed more information on the artistic ... almost single-handed he to America and made them

H.L. Mencken sprach eindeutig von Huneker als dem Brandes Amerikas: „He did for this Westem world what Georg Brandes was doing for Continental Europe - sorting out the new comers with sharp eyes, and giving mighty lifts to those who deserved it." (H.L. Mencken, Prejudices. Thrid Series [New York, 1922], S. 75.) Wie sich der Literat und Literaturhistoriker Van Wyck Brooks erinnerte: „It was understood in the world I knew that a voyage to Europe was the panacea for every known illness and discontent." (Van Wyck Brooks, Scenes and Portraits. Memories of Childhood and Youth [New York, 1954], S. 81.) Alfred Kazin, On Native Grounds, op. cit., S. 63f.

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Für Huneker war Nietzsche ein Neuerer, ein Mensch, der in sich selbst den Bruch mit allen veralteten Traditionen verkörperte. Huneker liebte mehr als alles andere die Innovation. Nicht selten demonstrierte er die Tendenz, alles Tradierte grundsätzlich zugunsten des Neuen einfach auf die Müllhalde der Geschichte zu verweisen. Der Hastigkeit, dem schieren aufregenden Tempo seiner Schriften entsprach seine Faszination von der Geschwindigkeit des neuen Zeitalters und des Wechsels der Moden. In fast atemloser Hätz raste er durch die jüngsten Namen und Stilrichtungen der Epoche in dem Versuch, dem kulturellen Geschmack Amerikas entgegenzukommen. Damit stellte er recht eigentlich seinen eigenen unersättlichen Appetit unter Beweis, den er in der Kultur seines Landes nur widergespiegelt sah: There is little leisure to cultivate the minor g r a c e s [in A m e r i c a ] . at our theatres and pictures as w e fly after a tip o n the stocks.

W e fly at our music, W e bolt new ideas and

invent new religions every season to match the g o w n s and hats o f our w i v e s . swallow Beethoven and cry What next?

We

Wagner is speedily e n g u l f e d and w e cry for

Richard Strauss. After he has g o n e w e try French and Italian s w e e t m e a t s . Ibsen is an old story, Maeterlinck a mere fable.

D e b u s s y b e g i n s to tire.

What next? 6 9

Huneker hatte keine Muße für die Entwicklung und Pflege eines sehr differenzierenden Geschmacks. Er mußte alles kosten, sobald es auf den Tisch kam, und versuchte wahrhaftig, in kulturellen Dingen auf einmal „das Meer auszutrinken". Wie die obige Passage andeutet, war sein eigentliches Betätigungsfeld die Musik. Seine journalistische Karriere begann er als Musikkritiker bei diversen Zeitungen, zuerst in seiner Heimatstadt Philadelphia und dann in seiner Wahlheimat New York. Von 1891 bis 1895 arbeitete er auch als Dramakritiker beim New Yorker Recorder und übernahm 1902 das Ressort für Drama, bildende Kunst, Musik und Literatur der legendären New Yorker Sun. Obwohl er hier also praktisch den gesamten kulturellen Bereich des ^«-Feuilletons zu betreuen hatte, war Hunekers formale Bildung dennoch musikalisch. Als Ergänzung zu seinen Studien in Philadelphia kam er als junger Mann nach Paris, um Klavierund Kompositionsunterricht bei George Mathias, einem Chopin-Schüler, und Theodore Ritter, einem Liszt-Adlatus, zu nehmen. In dieser Zeit lernte Huneker fleißig das Handwerk des Musikers, übte sich aber vielleicht noch gewissenhafter in der Kunst des Lebens der Boheme. In den Pariser Cafes suchte er die europäische Avantgarde auf und entwickelte eine lebenslänglich anhaltende Leidenschaft für die künstlerische Persönlichkeit. Vielsagend sind die Kapitelüberschriften seiner Memoiren, die sich wie ein Who 's Who führender Maler, Musiker und Schriftsteller der Jahrhundertwende lesen: Paderewski, Hammerstein, Dvorak, Conrad, Ibsen, Shaw und noch ungezählte andere sind da als biographische Wegmarken vertreten. Alle zogen sie Huneker

M

James Huneker, The Pathos of Distance. A Book of A Thousand and One Moments (New York, 1913), S. 198.

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in ihren Bannkreis, und immer wieder suchte er die Identifikation mit diesen von ihm verehrten Genies. Diese verehrende Identifikation betraf auch Nietzsche. Auf der Titelseite dieser Steeplejack genannten Memoiren prangt das persönliche Motto Hunekers, in dem er sich als Zarathustraschen Türmer (engl. „Steeplejack") porträtierte, der nach dem auf dem Horizont heraufziehenden neuen Zeitalter Ausschau hielt: And now when the Great N o o n had c o m e Steeplejack touched the tip of the spire where instead of a cross he found a vane which swung as the wind listeth. Thereat he marvelled and rejoiced. „Behold!" he cried, „thou glowing symbol of the N e w Man. A weathercock and a mighty twirling. This then shall be the sign set in the sky for Immoralists: A cool brain and a wicked heart. Nothing is true. All is permitted, for all is necessary." Thus Spake Steeplejack. 7 0

Huneker beweist hiermit sein manieristisches Talent, denn es ist alles darin enthalten, was sofort sinnbildhaft den Mythos Nietzsches anspricht: der große Mittag, der neue Mensch, das Antichristentum, der Standpunkt jenseits von gut und böse. Und dennoch ist ein solcher Passus, wie vieles andere aus seinen Schriften, nicht mehr als vollkommener Manierismus, weil Huneker immer in erster Linie auf den künstlerischen Gestus bedacht war. Mehr denn als Kunstkritiker ist er als KünstlerkiitiktT zu verstehen, denn der großen Persönlichkeit, für die ihm Nietzsche ein wichtiges Beispiel war, und dem antibürgerlichen Außenseiter galt seine wirkliche Leidenschaft. Schon die Titel seiner Bücher, die zum Teil jeweils neue, teilweise bereits veröffentlichte Essays zufammenfassen, beweisen es : Egotists. A Book of Supermen; Visionaries; Iconoclasts; The Pathos of Distance; Overtones. A Book of Temperaments. Eine klare Einschätzung von Hunekers Platz in der amerikanischen Nietzsche-Rezeption hängt im wesentlichen von der Erkenntnis ab, daß sich Hunekers kritisches Interesse mehr am Schöpfer als an der Schöpfung selbst orientierte. Er verschrieb sich ganz dem Diktum: every important piece of literature, as every important work of plastic art, is the expression o f a personality, and it is not the material of it, but the mind behind it that invites critical interpretation. 71

Interpretation und Verbreitung oder Popularisierung eines Denkers müssen nicht unbedingt zweierlei sein, sind es aber gewöhnlich doch. Diesen Künstlerkult Hunekers zu erkennen, ist deshalb so wichtig, weil man nicht darauf verfallen soll, Hunekers Rolle als die eines Interpreten zu stark zu betonen.72 Wo Huneker sich anheischig machte, Nietzsches Denken auszulegen, offenbarten sich häufig die Mängel seines Verständnisses desselben. Huneker hob Nietzsche

™ James Huneker, Steeplejack, Bd. 1 (New York, 1920), Titelseite. 71 James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 142. 72 Sowohl Marvin Drimmer (Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 123-139) als auch Leroy Kaufmann (The Influence of Nietzsche, op. cit., S. 82-121) erliegen der Versuchung, Hunekers angebliche Identität als Nietzscheaner und Interpreten Nietzsches zu stark zu gewichten.

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auf den Sockel des genialen Kunstpropheten und Individualisten und tat sein möglichstes, dieses Bild auch zu etablieren. Aber seine philosophische Begriffsstutzigkeit versperrte ihm weitgehend den Zugang zu Nietzsches Philosophie. Das Bild Hunekers als eines frühen Nietzsche-Exegeten muß jedenfalls revidiert werden. Und selbst Hunekers „Nietzscheanismus" war, wie sich zeigen wird, nicht ganz eindeutig. Huneker gebührte jedoch die große Ehre, soviel steht fest, als erster populärer Essayist in Amerika Nietzsche zum Gegenstand seines Werkes zu nehmen. Längst vor den Anarchisten entdeckte der Ästhetizist Huneker in Nietzsche den Anführer eines neuen Egoismus. Er bescheinigte Nietzsche zwar nicht die Urheberschaft der Moral der Selbstliebe, denn diese hielt er vielmehr für die Grundlage aller höheren Zivilisation.73 Nietzsche übernahm in seiner Darstellung aber doch die Rolle des Wiederentdeckers dieser unter den Jahrhunderten christlicher Herrschaft im Okzident verschütteten Wertsetzung und gewann bei Huneker auch die heroischen Züge des prometheischen Freigeistes, der sich im Alleingang von der altruistischen Moral befreit: we must perforce admire the bravery of this giant scholar who burned his books behind him, thus believing to „free" himself. He was a neo-pagan who defiantly cried: I have conquered, Galilean! ... Philosophic Egoism is at least free from the depressing sentimentality of „going to the people". Brotherhood of Man! Brotherhood of drudge and hypocrisy! N o one sincerely believes in it; it's a catch-word for gulls and politicians. 74

Zwar wurde der Egoismus hier für die einzig wahrhaftige (weil in der Menschennatur angelegte) ethische Haltung ausgegeben, aber die Analyse der philosophischen Hintergründe und Implikationen einer die Interessen der jeweiligen Einzelperson zum Maßstab allen Handelns nehmenden Ethik vertiefte Huneker an keiner Stelle. Er driftete einem unbestimmten culte de moi nach und erging sich, wie oben angedeutet, in undurchdachten Pauschalverurteilungen der Massen. Im Widerspruch dazu konnte er aber auch gleichzeitig New York als von Kraft und Optimismus wimmelnden Bienenstock des zukunftsträchtigen Massenmenschen verherrlichen. Demnach sind alle sozialistischen Träume von der Erhebung der arbeitenden Klassen in New York schon längst Wirklichkeit geworden: It is natural that the present stupendous New York offends visiting Rip Van Winkles, but the Socialist prophets, why has it failed to please them? What more perfect phalanstery for your latter-day Fourierites than those big buildings housing thousands and tens of thousands! Why doesn't H.G. Wells see that here his dreamer's dreams are come true?75

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Vgl. James Huneker, Egoists. A Book of Supermen (New York, 1909), S. 21 If. James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 390f. Ibid., S. 188.

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Es mag vielleicht auf der einen Seite unzulässig erscheinen, Huneker genau den Vorwurf des Selbstwiderspruchs zu machen, von dem wir Nietzsche freisprechen, aber andererseits war Huneker kein Nietzsche, und diese Tendenz zur Inkonsequenz verdeutlicht das theoretische Prinzip, das hinter Hunekers Streifzügen durch die Welt der Künste und aller gelehrten Dinge stand: Er praktizierte lediglich einen voraussetzungslosen Eklektizismus. Huneker ging unbekümmert, weil ohne Vorwissen, an jeden Gegenstand heran, und man muß das Geständnis durchaus ernst nehmen, das er über sich selbst ablegte - nämlich, ein „Hansdampf der artes Septem librerales" zu sein: „I have written of many things from architecture to zoology, without grasping their inner substance. I am Jack of the Seven Arts, master of none." 76 Huneker war ein Flaneur der Kunstwelt, und für seine ästhetizistische, voraussetzungslose Schaulust, welche sich selten auf Tiefgang richtete, dafür aber sich an einer bunten und breiten Oberfläche weidete, suchte Huneker in Nietzsche eine philosophische Begründung. Nietzsches Kritik an der Einengung der philosophischen Erkenntnis, die aus dem das Sein verfälschenden Willen zum System resultiert, deutete Huneker als die theoretische Institutionalisierung des empfindungsbetonten, antirationalen „Denkens". Im Lichte dieser angeblichen Dehierarchisierung des Denkens konnte selbst ein Dilettant wie Huneker sich als Philosoph fühlen. Deshalb erfreute er sich an der Vorstellung, daß Nietzsche die philosophische Fachterminologie gänzlich über den Haufen werfe, weil ihm (Huneker) diese Aufräumaktion einen Freibrief zum Philosophieren bedeutete, der ohne jedwede vorige Qualifikation zu erlangen wäre: A magnificent dialectician, Nietzsche threw overboard all metaphysical baggage. He despised the jargon of Schoolmen and modern philosophers. ... He erected no system, no vast, polyphonic edifice with winding staircase and darkened chambers. Nietzsche made no philosophical formula; rather, his formula is an image, the image of a lithe dancer. 77

Typisch für Hunekers Art, Nietzsches philosophischen Ansatz zu beschreiben, ist hier die Kompensierung der ihm nicht zur Verfügung stehenden Begriffe durch Bilder: Die Systemkritik wird zum image, zur Metapher des leichtfüßigen, seiner Kunstfertigkeit unbewußten Tänzers im Gegensatz etwa zur am logos schwer tragenden Transzendentalphilosophie, die hier einem Verlies des Geistes, mit dunklen Hirnkammern und dialektischer Weideltreppe ausgestattet, entsprungen zu sein scheint. Nietzsches „Credo" in allen Dingen, einschließlich der Philosophie, faßte Huneker wortwörtlich als „Freiheit über alles" zusammen. 78

H 77 7K

James Huneker, Steeplejack, Bd. 1, op. cit., S. 5. James Huneker, Overtones. A Book of Temperaments (New York, 1904), S. 114f. Brief an Charles H. Ditson vom 16. Nov. 1914. Letters of James Huneker, ed. by Josephine Huneker (New York, 1922). Der Ausdruck steht bei Huneker in Deutsch.

94

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Huneker entdeckte seiner Leserschaft also nicht Nietzsche den Metaphysiker des Machtwillens und der Nihilismus-Überwindung - von Übermensch und ewiger Wiederkehr schrieb er: „we believe these poetic and metaphysical conceptions to be of less value than his ideas on social subjects" 79 -, sondern Nietzsche den Hohenpriester des entfesselten Ich. Die Beharrlichkeit dieses Bildes in mancher Entwicklungslinie der Rezeption, wie sie sich bereits gezeigt hat, ist sicherlich zum Teil Hunekers Einfluß zuzuschreiben. Er war nicht der einzige, aber doch der erste, der von Nietzsche als einem „Apostel des Ich" sprach: What does Nietzsche preach? ... Simply, a doctrine as old as the first invertebrate organism which floated in torried seas beneath a blazing m o o n : ism, personal freedom, self-hood.

He is the apostle of the

E g o i s m , individual-

ego.m

Es kann aber kaum oft genug wiederhholt werden, daß Hunekers Auffassung von Inhalt und Hintergrund dieses Egoismus sich stets in vage Umschreibungen hüllte. Nicht von ungefähr betitelte Huneker seinen ersten Nietzsche-Aufsatz aus dem Jahr 1896 Nietzsche the Rhapsodist, wobei er unter dem Begriff des Rhapsoden einen Wortmagier verstand, der das Dasein in einen schönen Schein tauche und die Sinne der Zuhörer mit einem Kunstrausch betört. War er von Nietzsche dem Metaphysiker nicht sonderlich begeistert, so ließ sich Huneker von Nietzsche dem Rhapsoden nur zu gern hinreißen, vor allem, wenn die Worte „aus dem Satz sprangen" und „das Ganze kein Ganzes mehr war": H e [Nietzsche] is the perfect type of the old Greek rhapsodist, the impassioned rhetor, w h o with sonorous, beautiful phrases charmed and soothed his listeners as h e pursued his peripatetic way.

Sometimes the sound of what he s a y s remains long after the

memory of its sense has vanished."

Daß Huneker zum Schluß am Klang anstatt am Sinn der Worte hängenblieb, läßt tief blicken. Es war sein ästhetisierter Eindruck von Nietzsche, den Huneker dem Leser mitzuteilen suchte. Im Ohr hatte er stets einen Satz aus der Schrift, die ihm vermutlich am stärksten imponierte, der Geburt der Tragödie, wo es heißt: „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" . (GT 5) Es spielte für Huneker keine Rolle, daß Nietzsche sich vielmehr auf die Suche nach einem Dasein begibt, das keiner Rechtfertigung bedarf. Er sah nur schöne Bilder einer durch die Kunst und vor allem durch die Künstler verklärten Welt. Dieser Begriff der ästhetizistischen Herrlichkeit, dessen sich Huneker wohl bei der Lektüre von der Geburt der Tragödie bewußt wurde, verfestigte sich so sehr in seinem Nietzsche-Verständnis, daß er diesen sogar auf andere Ideen Nietzsches ausdehnte. So wurde bei Huneker das den „vornehmen" Menschen von den „ Vielzuvielen" trennende Empfinden des „Pathos der Distanz"

79

""

James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 320f. James Huneker, Overtones, op. cit., S. 132. Ibid., S. 140.

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zum Kunstpathos, von dem das Dasein in der Tragödie überflutet und verzaubert werde. In der Kunst mische sich das Pathos der Distanz mit der Verführung zum Leben: The pathos of distance! It is a memorial phrase. Friedrich Nietzsche is its creator, Nietzsche w h o wrote of the drama and its origins in a work that has b e c o m e a classic. Distance lends pathos, bathes in rosy enchantments the simplest events o f a mean past, is the painter, in a word, w h o with skillful, consoling touches disguises all that was sordid in our youth, all that o n c e mortified or disgusted, and bridges the inequality of man and man. 8 2

Diese zuletzt genannte Überbrückung der Ungleichheit zwischen den Menschen, die in der Geburt der Tragödie als die Aufhebung des principium individuationis begegnet, ist das genaue Gegenteil zum Prinzip der höchsten Individuation, das Nietzsche mit Pathos der Distanz kennzeichnet. Aber Huneker operierte mit der Freiheit des voraussetzungslosen Genies, das sich um Präzision grundsätzlich nicht zu scheren brauchte. Verbarg sich vielleicht irgendwo hinter dieser exegetischen Willkür und den gelegentlichen Fehldeutungen dennoch ein tieferes Verständnis von Nietzsches Denken, das Huneker der Öffentlichkeit nicht preiszugeben wagte, weil diese nach seinem Ermessen nicht dafür reif gewesen wäre? Die Frage ist tatsächlich (z.B. von James Cadello) gestellt worden. Sie stützt sich u.a. auf Aussagen Hunekers wie die aus einem Brief an den Schriftstellerkollegen Benjamin De Casseres, in dem Huneker selbst die angebliche Hintergründigkeit seines Nietzsche-Bildes andeutete. Seinen ersten Nietzsche-Aufsatz, den bereits zitierten Nietzsche the Rhapsodist, quittierte er gegenüber De Casseres mit der Bemerkung: the „Nietzsche" will disappoint you.

It was written in 1896 or 1897.

It is popular.

Y o u don't s u p p o s e that I w o u l d be allowed to print the truth about Nietzsche!!! I think I can attract more readers for him by stating in pleasing, superficial terms to the general reader (dear old G . R . ! ) what Nietzsche stood for; in a word play the role of populizer. 8 3

Der konziliante, ja apologetische Ton verrät aber schon den eigentlichen Sinn der Epistel. Der Essayist und Lyriker De Casseres interessierte sich auch für Nietzsche, und diesem schon fachkundigen Interessenten gegenüber mochte der Korrespondent Huneker nicht als philosophischer Botokude, sondern als Autorität auftreten. Huneker nahm vorweg, daß De Casseres den Essay unbefriedigend finden würde, um sich aufgrund dieses souveränen Urteils über die Mangelhaftigkeit der eigenen Leistung in den Kreis der Eingeweihten einzuschmuggeln. Der wahrhaftige Nietzsche-Kenner, implizierte Huneker, pflege ahnungsvolles Schwei-

1,2

"

James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 332. James Huneker an Benjamin De Casseres. Intimate Letters of James Huneker. Collected and edited by Josephine Huneker (New York, 1936), S. 36.

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gen auf dem Jahrmarkt der jouralistischen Eitelkeiten zu demonstrieren. Nirgends aber finden sich bei Huneker streng vertrauliche Hinweise auf eine von ihm angeblich aus Vorsichtsgründen sekretierte „Wahrheit" über Nietzsche - also muß man sich bei der Entscheidung dieser Frage auf seine sonstigen Äußerungen über „the real Nietzsche" verlassen, die aber nicht gerade von hermetischer Weisheit künden, sondern oft aus eben jenen De Casseres gegenüber genannten „superficial terms" bestehen. Zwei Beispiele: The real Nietzsche [is] ... simply a brilliant and suggestive thinker w h o , because of the nature of his genius, could never have erected an elaborate philosophic system, and a writer not quite as dangerous to established religion and morals as s o m e critics w o u l d have us believe. 8 4 [...] Friedrich was more poet than original thinker.

Merely to say N a y ! to all existing

institutions is not to give birth to a mighty idea, though the gesture is brave.

He

substituted for Schopenhauer's „will to L i v e " ... the „Will to Power"; which phrase is mere verbal juggling. 8 5

Es scheint, als wollte der Hansdampf der freien Künste auch in manchen Momenten, zumindest in dem oben angeführten Brief, seine wahre Identität als Dilettant verbergen. Huneker-Freunde mögen sich vielleicht auf die Position von James Cadello zurückziehen, der die methodische Unzulänglichkeit von Hunekers interpretatorischem Verfahren zum Nachweis einer hermeneutischen Verwandtschaft zwischen Nietzsche und seinem selbsternannten Öffentlichkeitsbeauftragten machen will: commentators w h o have insisted o n judging Huneker's d e g r e e o f understanding and artistic evaluation according to so-called proper methods o f rigorous and careful research, accepted interpretative formulas, or in terms o f logical consistency, have failed to grasp significant aspects of both his temperament and his hermeneutic. ... Huneker refused to restrict his richly e n d o w e d and o v e r f l o w i n g spirit in accordance with the demands of rational c o h e r e n c e and logical consistency ... similar elements have already been noted in N i e t z s c h e ' s ideas regarding interpretation. 8 6

Daß Huneker sich nicht verpflichtet fühlte, seine Arbeiten nach einer rational gegliederten Ordnung aufzubauen, liegt auf der Hand. Dem Prinzip des Selbstwiderspruches sprach er sogar ein großes Lob aus. Aber der sehr zeitgemäße, postmoderne Spott, mit dem Cadello rigorose Recherchen und logische Verständlichkeit übergießt, macht Hunekers manchmal chaotischen Duktus noch längst nicht zu einer dekonstruktivistischen, gar Nietzscheschen Hermeneutik. Huneker litt einfach keine dialektischen Ketten an seinem Ich und wollte die Freiheit haben, auch dem Verstand trotzen zu dürfen. Das begründete gewiß

"" "5

James Huneker. Egoists, op. cit., S. 258. Ibid., S. 238. James Cadello, Nietzsche in America, (Diss. Purdue Univ., 1990), S. 120.

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einen Teil seines Engagements für Nietzsches „Egoismus". War aber Hunekers Bindung an Nietzsches Philosophie überhaupt so stark, wie Cadello und andere nahelegen? An etlichen Stellen übte Huneker starke Kritik an Nietzsche, was eine absolute Anhängerschaft seinerseits sehr fragwürdig erscheinen läßt. Die Idee „Nietzsche" als Person und Mythos fesselte Hunekers Phantasie, daran kann kein Zweifel sein. Er bewunderte und bedauerte Nietzsche an mehreren Stellen als Hamlet der Moderne oder Hamlet-Seele87 - ein Beiname, den Nietzsche in der Geschichte seiner Rezeption immer wieder führte. Mit der Hamlet-Identifikation verwandelte sich das Bild des seelisch gemarterten Nietzsche von einer Umschreibung des aus dem geistigen Gleichgewicht gekommenen und daher nicht ernst zu nehmenden Philosophen in eine säkulare Ikone, die den heroischen Leidensmann der Erkenntnis darstellte (Erinnerungen an das Nietzsche-Bild der Schwester kommen unweigerlich auf)· Hunekers Geniekultus nahm aber in Nietzsches Fall schnell überhand, und die Person des Philosophen als mythisierte Figur marginalisierte die Bedeutung des Werkes. Diese Verdrängung ging in Hunekers Urteil so weit, daß er Nietzsches Psychogramm zum Faszinosum, seine Philosophie dagegen zur „Nebensächlichkeit" erklärte: „The Nietzscheian philosophy may be negligible, but the psycholgical aspects of this singularly versatile, fascinating, and contradictory nature are not". 88 Anderweitig nannte er Ecce Homo ein „disappointment", verzeichnete bei Nietzsche die eindeutigen Symptome der Theomanie und ordnete ihn zuletzt der Romantik des aussterbenden 19. Jahrhunderts zu: „He sums up an epoch. He is the expiring voice of the old nineteenth-century romanticism in philosophy." 89 Der heute als zukunftweisend für fast die ganze abendländische Philosophie geltende Nietzsche erschien bei Huneker als Artefakt einer bereits dahingeschiedenen jüngsten Vergangenheit. Noch bemerkenswerter hinsichtlich der Frage nach Hunekers Nietzscheanismus als diese beiläufigen Kritteleien ist aber Hunekers Proklamation, er sehe sich selbst in erster Linie als Stirnianer. Nicht nur warf Huneker Nietzsche und Stirner zusammen in einen ideengeschichtlichen Topf, nämlich den des Individualismus oder Egoismus, er bezeichnete Nietzsche sogar als bloßen „Propheten" des Phänomens, während Stirner dessen eigentlicher „Philosoph" sein sollte.90 Nietzsche erhielt Stirner gegenüber die Rolle des Epigonen, dem es aufgrund glücklicher geschichtlicher Zufälle beschieden sei, bekannt zu werden, während

1,7

«" "9

Vgl. James Huneker, Egoists, op. cit., S. 241 u. 255. Ibid., S. 239f. Ibid., S. 262, 264 u. 268. „Nietzsche is the poet of the doctrine, Stimer its prophet, or, if you will, its philosopher. ... I could not see then [im Jahr 1896, als er begeisterter Nietzscheaner gewesen sei] what I saw a decade later - that Nietzsche had used Stirner as a springboard, as a point of departure ... But Stirner displayed the courage of an explorer in search of the north pole of the Ego." (James Huneker, Egoists, op. cit., S. 352.)

98

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der originelle Vordenker Stirner wegen einer unglücklichen Fügung des Schicksals mißachtet werde: The aristocratic individualism of Nietzsche came at a happy moment. ... The small voice of Max Stirner ... was swallowed up in the universal gabble of sentimental humanitarianism preached from pulpits and barricades. Nietzsche's appearance marked one of those precise psychological moments when the rehabilitation of an old idea in a new garment of glittering rhetoric would resemble a new dispensation. 91

Stimers Stimme wurde aber offenbar nicht ganz übertönt, bedenkt man, daß sie sehr häufig von Amerikas Sozialisten und Anarchisten vernommen und rezitiert wurde. Walling und andere beriefen sich gern auf Stirners Programm der antibourgeoisen Gesellschaft und des freien, auf sich selbst bedachten Individuums. Auch dem kompromißlosen Bürgerfeind Huneker gefiel besonders Stirners Bildersturm gegen Staat und Moral. Er hielt diesen sogar bei Stirner für viel gelungener durchgeführt als bei Nietzsche. Ausgerechnet der vollendete Wortprotz Huneker machte Nietzsche den Vorwurf, bloße rhetorische Scheingefechte gegen die Institutionen der Kirche, des Staates und der Moral geführt zu haben. Donner und Blitz der kriegerischen Dialektik Nietzsches lösten sich also bei näherem Hinhören und -sehen in Schall und Rauch auf: He [Nietzsche] used a battering ram of rare dialectic skill, and crash go the religious, social, and artistic fabrics reared ages since! But when the brilliant smoke of his style clears away, we still see standing the same venerable institutions. This tornadic philosopher does damage only to the outlying structures. 92

Stirner dagegen bewies für Huneker den wahren Kriegsgeist des iconoclast, der nicht großtuerisch der Tradition den Kampf ansagt, um dann höchstens ein paar Kirchenfenster einzuschlagen, sondern selbst schwerkalibrige Waffen in die Hand nimmt.93 Nicht nur wegen der Schlagkraft seiner Worte aber fühlte sich Huneker zu Stirner hingezogen. Er fand Stirner auch zugänglicher als den erbarmungslosen Nietzsche, der die allerhöchste Disziplin und Gesinnung von seinen freien Geistern fordert. Bei Stirner sei jeder willkommen, versprach Huneker, der den Mut zur Rebellion besitze: „Nietzsche lives in an ivory tower and is an aristocrat. Into Stirner's land all are welcome. That is, if men have the will to rebel." 94 Man sieht sich also sofort mit beachtlichen Schwierigkeiten konfrontiert, will man Huneker zu den überzeugtesten Nietzscheanern zählen. Es bleibt aber andererseits unbestritten, daß sich Huneker mit Nietzsche angelegentlich auseinandersetzte, und so kann man auch an verschiedenen Bei-

91

Ibid., S. 2 5 7 .

92

James Huneker, Overtones,

93

„Such an iconoclast [as Stimer] has never before put pen to paper. ... N i e t z s c h e ' s flashing

op. cit., S. 133.

epigrammatic blade often snaps after it is fleshed; the grim, cruel Stirner, after he makes a j a b at his opponent, twists the steel in the w o u n d . " (James Huneker, Egoists, 94

Ibid., S. 356.

op. cit., S. 3 5 8 f . )

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spielen auch den Einfluß Nietzsches auf Hunekers eigenes Schaffen sehr gut nachzeichnen. So zeigte er z.B. mehrmals Interesse an der Idee von der Krankheit als Weg zur höheren Erkenntnis. Nietzsche will ja die decadence überwinden, setzt aber als Bedingung dieser Überwindung der dicadence die intime Kenntnis derselben voraus, die nur durch das Erleiden dieser Krankheit an eigenem Leib und eigener Seele gewonnen werden kann. Ähnlich befand Huneker: „Very often sick souls discover robust truths. Healthy-minded men are seldom path-finders of the spirit". 95 Huneker betrachtete sich selbst als dekadenten Wagnerianer und rief dem Wagner-Kritiker Nordau trotzig entgegen: „Let Nordau call us degenerates und our geniuses mattoids, we can endure it. We are the slaves or our age, and we adore Wagner because he moves us, thrills and thralls us". 96 Dieser Sklave des Nervenkitzels fand die Beschreibung seiner Krankheit höchstwahrscheinlich bei dem größten philosophischen Nervenarzt der Epoche vor: bei Nietzsche. Und trotz seines etwas mißfalligen Urteils über Nietzsches Wagner-Schriften wirkt Hunekers eigene Kritik von Tristan und Isolde, als wäre sie direkt aus Der Fall Wagner abgeschrieben: It requires strong nerves to sit out Tristan und Isolde with unflagging interest; not because it bores, but because it literally drains you of your physical and psychical powers. The world seems drab after this huge draught that Wagner proffers us in an exquisitely carved and chased chalice, but one far too large for average human capaci-

ty·97 Man meint fast, im Hintergrund Nietzsche nach „frischer Luft" rufen zu hören. Auch soll über dieser kritischen Betrachtung von Hunekers Rolle als Interpret und von seinem „Nietzscheanismus" nicht aus den Augen verloren werden, welche Verdienste er sich um Nietzsche in Amerika erwarb. Mehrfach verurteilte er beispielsweise den Mißbrauch Nietzsches durch vorgebliche Anhänger: the very culture-philistines he so heartily despised when alive are going about with tags and aphorisms caked in their daily conversation. They utterly mistake his liberty for license, not realising the narrow and tortuous paths he has prepared for his true disciples. 9 8

Auch leistete er viel Aufklärungsarbeit über die vor allem durch Nordaus Entartung weit verbreitete irrtümliche Ansicht, Nietzsche habe zeitlebens an seiner Geisteskrankheit gelitten, und betonte ausdrücklich, daß Nietzsches geistiger Zusammenbruch keinen Schatten auf das Werk des Philosophen werfe. Im allgemeinen verstand es Huneker als Teil seiner Mission, den gängigen Vorurteilen über Nietzsche (soweit er nicht selbst an sie glaubte), die sich auch schon

1)5

"

James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 390. James Huneker, Mezzotints in Modern Music (New York, 1899), S. 297. Ibid., S. 296. James Huneker, The Pathos of Distance, op. cit., S. 321.

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so früh festsetzten, tatkräftig entgegenzuwirken. Die Direktheit seiner Verteidigung gegen die Verleumdung Nietzsches zeugte von nüchterner Klarsicht: [A] tactless rating of Friedrich N i e t z s c h e has prevailed in the general critical and popular imagination.

N i e t z s c h e has b e c o m e the b u g a b o o o f timid folk.

H e has been

denounced as the Antichrist. ... Thanks to the conception o f s o m e writers N i e t z s c h e and the Nietzscheians are gigantic brutes, a combination o f Genghis Khan and Bismarck. ... N e e d w e protest that this is N i e t z s c h e misread, N i e t z s c h e butchered to make a stupid novellist's holiday? 9 9

Aber ganz zu Recht sprach Huneker von sich als bloßem Popularisator Nietzsches. Die Funktion des Popularisators ist aber auch für die Verbreitung eines Namens und die Erweckung von Neugier, die im günstigsten Fall auch zu einer ernsthaften Auseinandersetzung führen kann, unentbehrlich. Daß Nietzsche in die Hände eines so einflußreichen und produktiven Popularisators wie James Hunekers fiel, war für die amerikanische Nietzsche-Rezeption sicherlich ein Glücksfall. Viel mehr als ein geistiger Werbefachmann war Huneker nicht, aber er brauchte auch nicht mehr zu sein. Allein, daß Hunekers Verehrer wiederholt den Namen Nietzsches zu lesen bekamen, zeitigte Wirkung. Mit anderen Worten: Seiner Pionierarbeit kommt, so oberflächlich sie gelegentlich war, doch große Bedeutung zu. Wie H.L. Mencken über seinen Freund Huneker schrieb: N o other critic o f his generation had a tenth o f his influence. A l m o s t single-handed he overthrew the ^esthetic theory that had flourished in the United States since the death of Poe. ... Huneker certainly deserves all the credit for the c h a n g e . What he brought back from Paris was precisely the thing that w a s most suspected in the A m e r i c a o f those days:

the capacity for gusto. 1 0 0

II.2.d Popularisierung II: Henry Louis Mencken (1880-1956) Der da die überschäumende, robuste Lebendigkeit von James Hunekers essayistischem Wirken pries, hätte diese Sätze genauso gut auf sich selbst münzen können. Hunkers Stimme gehörte sicherlich zu den einflußreichsten des Gilded Age, aber H.L. Mencken war das Jazz Age Amerikas. Wie kaum ein anderer formte er den Geist einer ganzen Dekade der populären amerikanischen Kulturgeschichte. Nur leicht hyperbolisch beschrieb ein Zeitzeuge die 20er Jahre als die „Mencken period."'01 Vermutet man dennoch Parteilichkeit bei diesem Mencken-Freund, dann soll an seiner Statt noch ein Experte, diesmal wieder Alfred Kazin, über Menckens Bedeutung für den amerikanischen Journalismus im allgemeinen und die amerikanische Gesellschaftskritik insbesondere sprechen:

sw

""

James Huneker, Egoists, op. cit., S. 256. H.L. Mencken, Prejudices. Thrid Series, op. cit., S. 71. Philip Wagner, H.L. Mencken (Minneapolis, 1966), S. 18.

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(T|f Mencken had never lived, it would have taken a whole army of assorted philosophers, monologists, editors, and patrons of the new writing to make up for him. As it was, he not only rallied all the young writers together and imposed his skepticism upon the new generation, but also brought a new and uproarious gift for high comedy into a literature that had never been too quick to laugh. He was just the oracle the new literature had prepared for itself. 102

Kazins dreifacher Gebrauch des Attributs „neu" trifft auch dreimal genau den Kern von Menckens kritischem Ansatz, denn Mencken wollte die Kultur seines Landes ganz aus den Angeln heben. Von Huneker erbte er die Überzeugung, Amerika liege noch in den kulturellen Mottenkugeln des letzten Jahrhunderts und habe den Anbruch der Moderae verschlafen. Mit unüberhörbarer Stentorstimme wollte nun Mencken seine Landsleute aus dem Schlummer ihrer antiquierten Beschaulichkeit erwecken. Seine Wirkung auf eine sich just definierende Generation von Essayisten und Romanciers war enorm. Der Ruhm dieses furchtlosen Übervaters der Selbstanalyse der amerikanischen Psyche hatte bis zum Erscheinen seiner Tagebücher im Jahre 1990 den Zahn der Zeit mehr oder weniger unbeschadet überstanden, und auch die neuerdings erhobene Kritik, die ihn als Rassisten und Antisemiten zu entlarven sucht, ist mehr Ausdruck eines dogmatischen Moralismus, dem jegliche geschichtliche Perspektive abgeht, als eine angemessene Reaktion auf Menckens gelegentlich rücksichtslose Polemik. Dieser knappe Hinweis auf Menckens historische Bedeutung soll aber nur den Einfluß verdeutlichen, den er als Mitbestimmer der öffentlichen Meinungsbildung ausübte. Noch wichtiger zu klären ist, daß Mencken im Unterschied zu Huneker ein überzeugter Nietzscheaner war, der Nietzsche für Amerika und Amerika für Nietzsche zu gewinnen beabsichtigte. Huneker besprach Nietzsche; Mencken predigte ihn. Menckens Stern ging, wie erwähnt, eigentlich erst in den 20er Jahren auf. Der Beginn seiner Nietzsche-Beschäftigung lag dieser Sternstunde aber schon um einige Jahre voraus - und verhalf Mencken gleichzeitig zum späteren Ruhm. Als er die erste populäre amerikanische Monographie über Nietzsche schrieb,103 war Mencken ein 28-jähriger Regionaljournalist, der für die wichtigste Zeitung seiner Heimatstadt arbeitete: die Baltimore Sun. Die von ihm zelebrierten „halkyonischen Tage" als Herausgeber der berühmten Politik-, Kultur- und Satirezeitschriften Smart Set und American Mercury104 standen ihm noch bevor. Im Jahre 1905 hatte er eine für den Bostoner Luce-Verlag rentable Studie über die Stücke George Bernard Shaws geschrieben. Die Vorarbeit zu diesem Werk,

1(0 Alfred Kazin, On Native Grounds, op. cit., S. 198f. "'3 Grace Neal Dolsons Dissertation erschien zwar 1901 bei Macmillan als Buch, kann aber ihrer Art und Wirkung nach keinem Vergleich mit Menckens Studie standhalten. "M Die Smart Set leitete Mencken zusammen mit George Jean Nathan von 1914 bis 1923. The American Mercury gründeten er und Nathan dann 1924; Mencken zog sich aber von der Arbeit an der Mercury 1933 zurück.

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zusammen mit seiner Huneker-Lektüre, brachte ihn erstmals zu Nietzsche, und auf diese Begegnung hin faßte der junge Reporter bald die Idee, im Anschluß an das erste Buch eine Arbeit über Nietzsches Wirkung auf das Theater zu schreiben. Sein Verleger indes sah eine vielversprechendere Möglichkeit in einer Nietzsche-Monographie, die sich die schon bestehende Nietzsche-Neugier zunutze machen sollte. Mencken scheute zunächst vor dem Projekt zurück, weil er erstens als Autor bislang über die Stadtgrenzen von Baltimore noch nicht sehr bekannt war und zweitens wußte, daß für eine solche Arbeit die intensive Lektüre der deutschen Gesamtausgabe unabdingbar sein würde. Sein Zögern währte aber nicht lange. Mencken entschied sich, das Risiko einzugehen, denn schließlich erkannte er darin eine große Chance. Er willigte in das Geschäft ein und begab sich zunächst an die Arbeit, den ganzen Nietzsche im Original zu lesen - eine schon sehr gute Voraussetzung für das Gelingen des Werkes.105 The Philosophy of Friedrich Nietzsche brachte der Verleger Luce 1908 heraus. Von vielen Nietzsche-Enthusiasten der intellektuellen Presse wurde Menckens 300 Seiten starke Untersuchung wegen ihres differenzierten Urteils wärmstens empfohlen: The most c o m p l e t e exposition of the N i e t z s c h e a n philosophy is that by Henry L. Mencken.

H e writes in a lively and unconventional style, and d o e s as m u c h as any

man can toward reducing the incoherent fragments to a consistent system. T h e author is an enthusiastic admirer. ... But he is not a blind eulogist.

H e criticises what he

regards as the weak points without m e r c y . 1 0 6

Auch die Feuilletons der Tageszeitungen wußten schnell viel Lobenswertes über das Werk zu berichten: Mr. M e n c k e n enables us to see N i e t z s c h e as w e have never s e e n him before and to realize that he is by no means the obscure and incoherent destroyer of things established that the conventional would hold him to be. 1 0 7

Mencken erntete nicht nur Lob („The latest contribution to Nietzsche-literäture in book form, The Philosophy of Friedrich Nietzsche, by Henry L. Mencken, 1908, is altogether worthless", schrieb George Patton108), aber ignoriert wurde seine Leistung von niemandem, der sich mit Nietzsche beschäftigte. Bis 1913 erlebte das Buch bereits drei amerikanische Auflagen und eine englische Sonderausgabe. Der Nietzsche von Menckens Studie war, wie kaum anders zu erwarten bei einem so eigensinnigen und selbstbewußten Interpreten, weitgehend Menckens

"" Wer diese Geschichte in allen Details nachlesen möchte, findet sie bildhaft geschildert bei Isaac Goldberg, The Man Mencken (New York, 1925), S. 375f. Edwin Slosson, „The Philosopher With the Hammer", op. cit., S. 697. 1117 Boston Transcript (March 4, 1908). (Zitiert bei Drimmer, Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 159.) George S. Patton, „Beyond Good and Evil", op. cit., S. 395.

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eigener Nietzsche. Das weckt heute vielleicht z.T. berechtigten Argwohn in Hinsicht auf die Objektivität der Interpretation; dennoch: Für das Verständnis der weiteren Entwicklung der amerikanischen Nietzsche-Rezeption ist ein näherer Blick auf sein Nietzsche-Bild unentbehrlich. Zunächst einmal fällt dieser Blick auf die angekündigte Intention des Werkes. Mencken hatte ein didaktisches Anliegen, das auf die Verbreitung von Nietzsches Denken in der amerikanischen Öffenlichkeit zielte. „The aim of this book", notierte er im Vorwort, „is to translate Nietzsche into terms familiar to everyone - to show the exact bearing of his philosophy upon matters which every man must consider every day". 109 Mencken machte also keinen Hehl aus seiner geplanten Umsetzung von Nietzsches Philosophie in eine möglichst verständliche Sprache, denn er wollte ausdrücklich die Anwendung Nietzsches auf die Probleme Amerikas erreichen. Seine aus diesem Programm herrührende Tendenz zur äußerst buchstabengetreuen Lesart von Nietzsches Werk bildete zugleich eine Stärke und eine Schwäche seiner Interpretation. „Despite the notion of those who know him but by name or ill-fame, there is nothing cryptic or mysterious about Nietzsche", konstatierte Mencken. Er war überzeugt, daß Nietzsche eine eindeutige, verständliche Aussage mitzuteilen hat, und um diese möglichst klar und unvermittelt verstehen zu können, blieb er immer nah am Text. Er wollte es auf jeden Fall vermeiden, in halb ausgekochte Spekulationen und antirationalen Mystizismus zu verfallen. Gleichzeitig sah sich der Praktikant dieser Methode der buchstäblichen Auslegung oft gezwungen, zu seicht zu lesen, Nietzsche also zu verflachen. „His ideas are very clear", meinte Mencken, denn Nietzsche war ihm ein Denker, „who thinks his thoughts accurately and puts them into the vulgar tongue" (PhN viii). Nietzsche spricht weder überall kristallklar, noch in der lingua vulgata, aber Mencken, als ausgesprochener Aufklärer, bevorzugte eben diesen aufklärerischen Nietzsche gegenüber dem hermetischen. Dieser Nietzsche ließ sich auch am besten für Menckens eigene Zwecke einspannen. Die Hauptberufung dieses Journalisten war die gnadenlose Zivilisationskritik, und der Hauptgegenstand seiner um jeden Preis wahrheitssuchenden Inquisition war Amerika mitsamt seiner, im Urteil Menckens, hinterwäldlerischen Mentalität. Wohin Mencken in seinem Land auch schaute, erspähte er allenthalben die Dominanz der Denkweise des „Packs": When the American ist most dashingly assertive it is a sure sign that he feels the pack behind him ... because it makes him a part of something larger and safer than he is himself. ... The whole thinking of the country thus runs down the channel of mob emotion; there is no actual conflict of ideas, but only a succession of crazes." 0

"" H.L. Mencken, The Philosophy

of Friedrich Nietzsche (Boston, 1908), S. χ (hiernach im Text als

PhN, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert). "" H.L. Mencken and George Jean Nathan, The American Credo. A Contribution pretation of the National Mind (New York, 1920), S. 41f.

Toward the Inter-

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Mencken lehnte die Gesinnung der Masse mit Entschiedenheit ab und ähnelte Huneker doch sehr in seinem absoluten Individualismus. Im Gegensatz zu seinem journalistischen Mentor aber war Mencken ein abgöttischer Verehrer des scharfen und emotionslosen Intellekts, zudem ein strenger Materialist. Sein Nietzsche mußte ein individualistischer, aber auch ein kritischer, positivistischer Nietzsche sein. Wenn Mencken an Nietzsche dachte, so hatte er dementsprechend vorwiegend zwei Werke im Sinn: die Unzeitgemäßen Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches. Hinzu kamen Die Geburt der Tragödie, Zur Genealogie der Moral und Der Antichrist (den letztgenannten Text übersetzte er sogar" 1 ), aber sein Interesse an diesen drei Werken entsprang seiner Faszination für die zwei ersten. Vielsagend ist insbesondere ein Satz, in dem Mencken eine alternative Übersetzung für den Titel des an erster Stelle genannten Werkes vorschlug: „Unzeitgemäße Betrachtungen'... may be translated as .Inopportune Speculations', or more clearly, .Essays in Sham-Smashing'." (PhN 29) „Sham-smashing" ist ein charakteristisches Beispiel für Menckens eigenwillige, wortbildungsfreudige Sprache, die meist in einem stilistischen Minenfeld tappst, das irgendwo in der Grauzone zwischen Bildungs-Beredsamkeit und Stammtisch-Bombast liegt." 2 Der Begriff sham-smashing (sinngemäß: Götzenzerschlagung) verdient unsere besondere Aufmerksamkeit, weil dieser Begriff von Mencken benutzt wurde, um sein eigenes Programm zu kennzeichnen. Der einzige Ausweg aus der Herdenmentalität lag für Mencken im Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, in der Befreiung von Unvernunft, Aberglauben, dem Schibboleth nationalistischer Rhetorik und allen veralteten Institutionen. Dazu gehörten seiner Meinung nach wesentlich Christentum und populistische Demokratie, aber davon später noch mehr. Wichtig ist zunächst, daß Mencken sich selbst (wie Nietzsche) nicht anders denn als unzeitgemäß verstand. Verachtete er doch die Menge, so setzte Mencken dagegen das Ideal des Nonkonformisten. Mencken war ein großer Bewunderer unabhängiger Geister, Menschen, die mit dem blinden Gehorsam gegen Konventionen brechen. Zu solchen Einzelgängern zählte er vor allem sich selbst. Sein Begriff des höheren Menschen oder freien Geistes Nietzsches und der daraus resultierenden Nichtachtung der Massen beruhte auf der in „Schopenhauer als Erzieher" angedeuteten Figur eines freien Menschen, der sich durch das Vertrauen auf das eigene Gewissen (das einem Selbstschöpfungsakt gleichkomme) von der weidenden Herde abhebt. „The whole of his [Nietzsches] preaching", erläuterte Mencken, „was

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Friedrich Nietzsche, The Antichrist, trans, and with an introduction by H.L. Mencken (New York, 1920). Mencken gab auch ein Nietzsche-Brevier heraus, das von ihm ausgewählte und übersetzte Fragmente und Passagen enthielt: The Gist of Nietzsche (Boston, 1910). Die berühmteste Vokabel Menckenscher Prägung ist „Booboisie", die den idomatischen Begriff boob („Idiot") mit „bourgeoisie" vereint und in Menckens Schriften für das amerikanische Volk als ganzes steht.

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addressed, not to men in the mass, but to the small minority of exceptional men" (PhN 287f.)· Und Nietzsches Meinung über den Menschen der Masse? The fact that the great majority of human beings are utterly incapable of original thought, and so must, perforce, borrow their ideas or submit tamely to some authority, explains Nietzsche's most violent loathing and contempt for the masses. (PhN 159f.)

Genau diese Forderung nach „original thought" ist der Schlüssel 2x1 Menckens Vision des höheren Menschen Nietzsches. Diesen Schlüssel konnte er gleich am Anfang der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung finden. Dort schildert Nietzsche die Faulheit und Furchtsamkeit der Masse, die die Selbstaktualisierung der „Herdenmenschen" immer wieder verhindern: sie sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen. [...] weshalb? Aus Furcht vor dem Nachbar, welcher die Convention fordert und sich selbst mit ihr verhüllt. [...] Wenn der grosse Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare. (SE 1)

Was ist also zu tun? Nietzsche antwortet im selben Text: Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: „sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst". (SE 1)

Dieser Bruch mit der Bequemlichkeit gegen sich selbst tritt in Nietzsches späterem Denken als das Motiv der Selbstüberwindung auf, das Merkmal des höheren und Übermenschen. Bezog Mencken aus dieser Quelle sein Ideal des zu fördernden Freidenkers, so fand er in Menschliches, Allzumenschliches die gesellschaftskritische Methode, die er später zu seiner eigenen machte. Es war in erster Linie die christliche Moral, die Mencken für das große Übel hielt, welches die amerikanische „Herdenmentalität", das konformistische Ideal des respektablen Durchschnittsmenschen, propagiere und stütze. Die Moral stand nach Menckens Meinung jeder fortschrittlichen Neuerung Amerikas im Wege. An Menschliches, Allzumenschliches schätzte er: „[that there] Nietzsche challenged the whole of current morality. He applied the acid of critical analysis to a hundred and one specific ideas". (PhN 38) Mencken faßte das kritische Verfahren eben als Ätzungsprozeß auf, bei dem alte Konventionen durch den beizenden Intellekt des Freidenkers zersetzt werden, so daß die unter dem Firnis der Zeit verborgene Lüge einer Wertsetzung des niedergehenden Lebens freigelegt und erkannt werde. Doch unterzog er nicht nur die Moral, sondern alle tradierten Ideale einer kritischen Analyse; sein Ziel und seine Methode bestanden in „submitting every idea to a searching, pitiless, unending examination". (PhN 154) Das Konzept des Werte- und Moralrelativismus entdeckte Mencken bei der Auseinandersetzung mit Shaw, um es dann im Verlauf seiner Nietzsche-Lektüre zu präzisieren. Nietzsches Moralkritik des Spätwerks ist in Menschliches, Allzumenschliches vorweggenommen. „Die Rangordnung der Güter", heißt es dort, „ist [...] keine

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zu allen Zeiten feste und gleiche [...]. Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt". (MA 42) Daß die bestehende Rangordnung der Güter im Prozeß der kritischen Umwertung zugrundegehe, erschien Mencken als Vorausetzung zur Wegbereitung neuer, progressiver Kultureinflüsse, deren eine jegliche noch lebenswillige Kultur bedürfe. In Nietzsches Werk sah er sein eigenes Fortschrittsideal einer neuen, aus der Asche der Wertekritik aufsteigenden amerikanischen Kultur widergespiegelt. Auch Nietzsche spricht im ersten Werk der sogenannten „2. Schaffensphase", Menschliches, Allzumenschliches, von einer „Möglichkeit des Fortschritts": die M e n s c h e n können mit Bewusstsein

b e s c h l i e s s e n , sich zu einer neuen Cultur fort-

zuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten [ . . . ] .

Diese

neue bewusste Cultur tödtet die alte, w e l c h e , als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat. ( M A 2 4 )

Erst das unabhängige Denken aller zur bewußten Kultur findenden großen Individuen könne nach Mencken zur Schaffung einer neuen, höheren amerikanischen Kultur führen. Er erklärte sich zum Todfeind der Unbewußtheit der Herde, die sich aus Furcht an der Konvention festklammere. Alle Fäden dieser Vernetzung verschiedenster Aspekte von Menckens Gesellschaftskritik mit Nietzsches Philosophie liefen im aristokratischen Prinzip zusammen, das den Knotenpunkt von Menckens Demokratiekritik und Verherrlichung des großen Einzelnen bildete. Das Unbehagen an der Demokratie, das später unzertrennlich mit Menckens Namen verbunden sein sollte, gewann in dieser frühen Nietzsche-Studie seine charakteristische Sprache. In Mencken schienen aber fast alle sich aus dem Nietzscheschen Vorbild speisenden antidemokratischen Argumente in verwandelter Gestalt wiederzukehren. Er kombinierte Giddings' den Massenmenschen mißachtenden Pessimismus und Elitarismus mit der libertären Radikalität der Sozialisten und Anarchisten wie Walling und Goldman. Gleichzeitig war Menckens Interpretation aber auch im Vergleich zu der anderer radikaler Nietzscheaner, gleichviel ob linker oder rechter Provenienz, eher depolitisiert: Er begriff, daß Nietzsche in erster Linie nicht auf das Problem der Regierungsform, sondern auf das der in der Gemeinschaft herrschenden Wertesetzung aufmerksam machen will. Ob absichtlich oder zufällig, Mencken folgte dem Wink Georg Brandes', der den Begriff des „aristokratischen Radicalismus" für Nietzsches Philosophie in Umlauf brachte. 113 Menckens Nietzschescher Aristokratismus war mitnichten bar aller politischer Thematik, aber er bedeutete für ihn zuerst das Ergebnis der tiefer liegenden Erkenntnis über Wert des Daseins und Zweck der Kultur. Dieser Zweck erscheint von Anfang an in Nietzsches Denken als „die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des

Μϊ

Georg Brandes, „Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche", Deutsche Rundschau, LXIII (1890), S. 67-81; auszugsweise abgedruckt in: 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, hrsg. von Alfredo Guzzoni (Frankfurt a.Μ., 1991), S. 1-15.

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Heiligen". (SE 5) So ist der höchste Mensch, dem, allen demokratischen Gleichheitsformeln entgegen, Mencken Anerkennung zu verschaffen suchte, die höchste sinngebende Instanz der Kultur: He [Nietzsche] believed that there was need in the world for a class freed from the handicap of law and morality, a class acutely adaptable and immoral; a class bent on achieving, not the equality of all men, but the production, at the top, of the superman. (PhN 73)

Mencken ließ niemals außer acht, daß das formidabelste Hindernis, welches das große Individuum in der Gemeinschaft zu überwinden hat, die christliche Moral ist, die Mencken ungeniert als „Sklavenmoral" aburteilte." 4 „Nietzsche came to the conclusion", meinte Mencken, „that this universal tendency to submit to moral codes ... was a curse to the human race" (PhN 77), weil besagte Tendenz die Entwicklung der vornehmen Ideale der geistigen Unabhängigkeit und deren Einsetzung als oberstes sittliches Ideal verhindere. Das Unheil bestehe in der Hegemonie der Mitleidsmoral, welche den Machtwillen des höheren Menschen unterdrücke. Die bloße Zahlenüberlegenheit der schwächeren „Vielzuvielen" erzwinge in einer christlichen, zumal demokratischen Kultur die Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten des höheren Machtwillens in der Gesellschaft: such things as mercy and charity seemed pernicious and immoral [to Nietzsche], because they meant a transfer of power from strong men, whose proper business it was to grow stronger, to weak men, whose proper business it was to serve the strong. (PhN 85)

Nach Nietzsche könne nur eine Aristokratie die vornehmeren Werte vermitteln, die einer durch Mitleidsmoral geschwächten Kultur zu neuem Glanz zu verhelfen vermöchte. Mencken interpretierte Nietzsches Aristokratie freilich als „Aristokratie der Effizienz" und meinte damit eine natürliche Aristokratie des Erfolgsmenschen, wie auch Giddings dies vor ihm tat. „Nietzsche was an ardent believer in aristocracy", stellte er fest, und dennoch: „it is also obvious that he was not a believer in the thing which passes for aristocracy in the world today". (PhN 164f.) Nietzsche, das wußte Mencken, denkt an einen Adel, der nichts mit dem „Wörtchen ,νοη' und dem Gothaschen Kalender" zu tun hat (KSA XI 41 [3]). Diese Aristokratie der Effizienz definierte sich für Mencken nach den Kritierien der Intelligenz und des Innovationsgeistes des Menschen. Sofern er dieses Gebilde realpolitisch durchdachte, versah er es mit der Vorstellung einer pluralistischen Beweglichkeit unter den Klassen. Die Aristokratie dürfe sich nicht verfestigen, sondern müsse durchlässig bleiben und den ständigen fluxus von

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„Nietzsche found that all existing moral ideas might be divided into two broad classes, corresponding to the two broad varieties of human beings - the masters and the slaves." (H.L. Mencken, The Philosophy of Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 82.)

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Zugehörigen wechselnder Herkunft ertragen, wenn sie tatsächlich immer nur die „Besten" an die Spitze der Gesellschaft bringen solle: It must be r e m e m b e r e d , in considering all o f N i e t z s c h e ' s writings, that w h e n he spoke of a human being, he meant a being o f the higher sort - i.e. one capable o f clear reasoning. H e regarded the drudge class, which is obviously unable to think for itself, as unworthy of consideration. Its highest mission, he believed, w a s to serve and o b e y the master class.

But he held that there should be no artificial barriers to the rise of

an individual born to the drudge class w h o s h o w e d an accidental capacity for independent reasoning. Such an individual, he b e l i e v e d , should be admitted, ipso facto, master class.

to the

Naturally enough, he held to the c o n v e r s e too. (PhN 3 9 )

Wie man sieht, hatte Mencken hier eine sich durch ständigen Wechsel erneuernde gesellschaftliche Pyramide, die auch in den Theorien der Sozialdarwinisten vorherrschte, vor Augen. Die unterentwickelten Massen seien da, um das Leben der höheren Menschen als Sinnstifter der Kultur zu ermöglichen. Der „niedere" Mensch erfülle seine Funktion als Mittel zum Zweck, Werkzeug des Machtmenschen des Geistes. Es ist auch nicht zu leugnen, daß Mencken sozialdarwinistische Gedanken hegte;" 5 er zählte überhaupt zu den allerdoktrinärsten Darwinisten. Der wesentliche Unterschied zwischen seinem Nietzsche-Bild und dem der Sozialdarwinisten zeigte sich aber in Menckens Definition der höchsten Exemplare unter den Menschen. Entschieden bestritt er, daß bloße äußere Macht als Anzeichen der Zugehörigkeit zur wahren Aristokratie gedeutet werden könne." 6 Macht in ihrer potenziertesten Form apostrophierte Mencken als Geistesmacht und Mut zum Ausbruch aus der Konvention: the men w h o g o most violently counter to the view o f the herd, and w h o battle most strenuously to prevail against it - our true criminals and transvaluers and breakers o f the law - are not such m e n as R o c k e f e l l e r , but men such as Pasteur; not such m e n as M o r g a n and H o o l e y , but sham-smashers and truth-tellers and mob-fighters after the type o f H u x l e y , Lincoln, Bismarck, D a r w i n , V i r c h o w , H a e c k e l , H o b b e s , M a c c h i a v e l li, H a r v e y and Jenner, the father o f vaccination. (PhN 198)

Die einzelne Auswahl der Ehrenmitglieder in Menckens Heldenakademie mag man in dem einen oder anderen Fall fragwürdig finden, aber es besteht kein Zweifel, daß er im Gegensatz zu Giddings etwa die Großindustriellen nicht für

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„Philanthropy, considered largely, is inevitably a failure. Now and then we may transform an individual pauper or drunkard into a useful, producing citizen, but this happens very seldom. Nothing is more patent, indeed, than the fact that charity merely converts the unfit - who, in the course of nature, would soon die out and so cease to encumber the earth - into parasites - who live on indefinitely, a nuisance and a burden to their betters." (H.L. Mencken, The Philosophy of Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 108.) Mencken wird aber gerade in diesem Punkt immer noch oft mißverstanden. So liest Theodore Schatzki Menckens Übermenschendefinition als prototypisches Beispiel einer groben sozialdarwinistischen Deutung. (Vgl. „Ancient and Naturalistic Themes in Nietzsche's Ethics", NietzscheStudien, 23 [1994], S. 156.)

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Umwerter hielt. Erst der intellektuelle „sham-smasher", gewissermaßen also auch der Menckenianer, beweise wahren Adel des Geistes. Mencken versuchte hiermit bewußt, Nietzsche vom Stigma der blonden Bestie" 7 und des Gewaltherrschers zu befreien. Weil der geistige Aristokrat in Menckens Augen die Durchführung der Umwertung leiten müsse, setzte ihn Mencken auch mit dem Immoralisten gleich. Da der Immoralismus in der Version von Nietzsches bürgerlichen Gegnern als Weltanschauung des neuen, brandschatzenden Kraftbarbaren aufflackerte, bemühte sich Mencken auch hier um eine neue Definition. Der Immoralist zeichne sich hauptsächlich durch eine der Wahrhaftigkeit verpflichtete Lebensweise aus, die frei von aller Heuchelei und intellektueller Untertänigkeit sei: Such a man, were he set down in the world today, would bear an outward resemblance, perhaps, to the most pious and virtuous of his fellow-citizens, but it is apparent that his life would have more of truth in it and less of hypocrisy and cant and pretense than theirs. ... He would have no need of a god to teach him the difference between right and wrong and no need of priests to remind him of this god's teachings. He would look upon the woes and ills of life as inevitable and necessary results of life's conflict, and he would make no effort to read into them the wrath of a peevish and irrational deity at his own or his ancestors' sins. (PhN 97)

Die Lust eines solchen fatalistischen Freigeistes würde sich nicht in der Terrorisierung der ihm Untergebenen oder im ungehemmten Auskosten eines perversen Drangs nach Grausamkeit erfüllen, sondern „the overthrow of superstition and unreasoning faith" (PhN 98) anstreben. Inwiefern Mencken hiermit Verharmlosung betrieb, ist schwer zu bestimmen. Die Dringlichkeit einer Entlastung Nietzsches von diesem Bild des tobsüchtigen Kraftmeiers mag schon einen Einfluß auf Menckens Darstellung des Immoralisten gehabt haben, aber die Funktion dieses aufklärerischen Bildes war bei ihm weitaus mehr als nur tendenziöse Schönrederei. Der Immoralist war für Mencken eben kulturkritischer Aufklärer. In der unerschrockenen Illusionslosigkeit des Immoralisten sah Mencken eine grundsätzlich auflösende, aber dadurch auch läuternde Kraft, die dieser Interpret zum Wesenszug des Dionysischen erklärte. Den apollinisch-dionysischen Dualismus der Geburt der Tragödie erkannte Mencken als Prinzip, mit dem Nietzsche nicht allein die Dynamik der griechischen Kunst zu erklären versuche, sondern vermöge dessen er einen fundamentalen Konflikt im Leben der Kultur und des einzelnen Menschen bildhaft demonstrieren wolle. „When Nietzsche had worked out this theory of Greek tragedy", hieß es, „he set out ... to apply it to modern

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„On one occasion Nietzsche penned a passage which seemed to compare the superman to ,the great blond beasts' which ranged Europe in the days of the mammoth, and from this fact many commentators have drawn the conclusion that he had in mind a mere two-legged brute, with none of the higher traits that we now speak of as distinctly human. But, as a matter of fact, he harbored no such idea." (H.L. Mencken, The Philosophy of Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 112.)

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civilization". (PhN 72) Die bacchantische Gottheit, welche das Phänomen der Persönlichkeitsentgrenzung verkörpert, symbolisierte für Mencken auch den Wagemut des Immoralisten, welcher der erhaltenden apollinischen Kraft traditioneller Bräuche und Institutionen die Waage hält. Nietzsches Apollon erschien in der Menckenschen Darstellung als bildender Gott, der sich im starren Medium des Steins niederschlage. Dionysos dagegen repräsentiere die Schockwelle des Unhistorischen und Entpersönlichten, welche alle steinernen Fundamente zerbreche, um Raum für die Erbauung neuer Werke und Kulturgüter zu schaffen. Der Drang nach Permanenz sei apollinisch (später entdeckte Mencken diesen Impuls in Amerika in Gestalt des Puritanismus), der nach Wandel dionysisch. Alle Menschen könne man demnach hauptsächlich in Anbeter Apollons oder Dionysos' einteilen: He [Nietzsche] found that all mankind might be divided into two classes: the apollinians who stood for permanence and the dionysians who stood for change. It was the aim of the former to live in strict obedience to certain invariable rules, which found expression as religion, law and morality. It was the aim of the latter to live under the most favorable conditions possible; to adapt themselves to changing circumstances, and to avoid the snares of artificial, permanent rules. Nietzsche believes that an ideal human society would be one in which these two classes of men were evenly balanced in which a vast, inert, religious, moral slave class stood beneath a small, alert, iconoclastic, immoral, progressive master class. (PhN 72f.)

Dies bedeutet, daß Mencken Nietzsche als Verkünder des agonalen Prinzips las. Damit eine Kultur die Aufgabe der stetigen Höherentwicklung erfülle - also der gesteigerten Hervorbringung höherer Menschen -, müsse sie sich zur Arena gestalten, in der ein fortwährender kultureller Wettstreit ausgetragen werde. Dieser Konflikt strebe nicht auf eine apokalyptische Auslöschung aller traditioneller Kultur zu, denn diese müsse als Ort des Wertekampfs weiterbestehen, um der Hervorbringung des Neuen einen Rahmen zu geben. Nietzsche wolle, sagte Mencken, den fortwährenden, sich selbst immer neu gebärenden Kampf von konservierenden und auflösenden Mächten als Instrument zur Produktion einer höheren Kultur und eines höheren Menschen erhalten. „They [the Greeks] found", lautete sein Schluß, „that true civilization meant a constant conflict between the two". (PhN 70) Nietzsche scheint in der Tat an eine solche Konstellation zu denken, wobei aber nicht eindeutig zu klären ist, ob die Menschen der Auflösung denn auch Herrscher über die Gemeinschaft sein sollten. Jedenfalls steht fest: ,,[Z]um Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse" muß zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; sodannndie Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. (MA 2 2 4 )

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Die instabilen, weil nicht durch Konvention gebundenen Naturen standen im Zentrum von Menckens Überlegungen - die für Nietzsche ebenfalls doch sehr wichtigen stabilen Naturen fielen aus seinem Blickfeld heraus. Vor allem dieser von Mencken betonte Aspekt des den Fortschritt erhaltenden agons in der Kultur dominierte später das Denken eines noch zu behandelnden amerikanischen Nietzscheaners, Randolph Bourne, fast völlig. Menckens Auffassung vom höheren Menschen Nietzsches war eine analytische Leistung, die sich auf jeden Fall auch heute noch sehen läßt. Mit seiner Einsicht, daß der Wille zur Macht noch immer größere Machtquanta anstrebt, die sich auf der höchsten Ebene als (geistige oder seelische) Unabhängigkeit des Individuums manifestieren, ragte Mencken über die meisten frühen Nietzscheaner hinaus. Der höhere Mensch müsse frei sein, und das Reich absoluter Freiheit liege in absoluter geistiger Unabhängigkeit - das begriff vor ihm kaum jemand. Mencken hatte allerdings fast kein Gespür für die nihilistische Erfahrung, die den Austritt aus allen apriorischen Systemen - ob als Moral oder Wahrheitstheorie - begleitet. Die seelischen Fährnisse des Atheismus und des Perspektivismus drohen Nietzsche zufolge den Freigeist zu vernichten, wenn er der Aufgabe der Nihilismusüberwindung, dem Primat des amor fati, nicht gewachsen sein sollte. Aber die Erkenntnis, daß Wahrheit bei Nietzsche zum fundamentalen Problem wird, überstieg Menckens hermeneutische Fähigkeiten. Sein im Grunde unreflektierter Positivismus ließ ihn an einem Wahrheitsbegriff festhalten, an dem die kopemikanische Wende Kants spurlos vorübergegangen ist. Wissenschaftliche Wahrheit erneuere und ändere sich stets, räumte er immerhin ein (darin äußerte sich auch der Einfluß des Pragmatismus, der zu dieser Zeit allenthalben im Gespräch war). Die empirisch induzierte Wahrheit erreicht aber nach Meinung Menckens letztendlich einen Gewißheitsgrad, der von aller Philosophie unübertroffen sei. Wie Huneker hatte Mencken eine Abneigung gegen den strengen, steinigen Königsweg der Philosophie, der über die Metaphysik führt. Nietzsches Tiraden gegen die Universitätsphilosophen nahm Mencken allzu wörtlich (hier wieder seine Achillesferse) als Absage an alle spekulative Philosophie, also z.B. an alle Erkenntnistheorie: N i e t z s c h e believed that introspection and self-analysis, as they w e r e ordinarily manifested, were signs o f disease, and that the higher man and superman w o u l d waste little time upon them. (PhN 2 2 9 )

Immer wenn sich Mencken vor Gedanken Nietzsches gestellt sah, die ein gewisses Maß an philosophischer Vorkenntnis forderten, begann er, die Sätze Wort für Wort umzustoßen, um schließlich nur das stehenzulassen, was mit naturwissenschaftlichen Modellen zu fundieren war. Bei der Erörterung der Idee des Perspektivismus brach Mencken jäh ab mit der Begründung: N i e t z s c h e ' s discussion o f these problems is so abstruse and s o m u c h complicated by c h a n g e s in v i e w that it would be impossible to make an understandable s u m m a r y of it in the space available here. (PhN 155)

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Mencken versagte sich sonst nie die Behandlung eines Themas aus Platzgründen. Er verstand einfach nicht, daß Nietzsche in diesem Punkt auf genau solche „changes in view" hinaus will. So war es ihm auch nicht vergönnt, die ewige Wiederkehr anders denn als Abwandlung des Pythagoreischen Zeitrads zu sehen. Diese Idee tat er als einzigen Fall von „mysticism" in Nietzsches Philosophie und somit als die Komponente ab, die Nietzsche besser aus seinen Schriften einfach gestrichen hätte. Die ewige Wiederkehr galt Mencken als Zyklus von Erklimmung eines kulturellen Zeniths und darauf folgendem Absturz in den diesem entgegengestellten Abgrund. Dieses zyklische Modell solle evolutionäre Grenzen um den Prozeß der kulturellen Entwicklung ziehen und das Rätsel lösen, ob der unbegrenzte Verlauf der Evolution ein Wesen hervorbrächte, das noch über dem Übermenschen stünde, aber wiederum letzlich von einem weiteren Überübermenschen abgelöst würde usw. ad infinitum: Will there be another super-superman to follow and a super-super-superman after that? ... Nietzsche answered these questions by offering the theory that the universe m o v e s in regular cycles and that all which is now happening on earth, and in all the stars, to the uttermost, will be repeated, again and again, throughout eternity. In other words, he dreamed of a cosmic year. ... Man, who has sprung from the elements, will rise into superman, and perhaps infinitely beyond, and then, in the end, by catastrophe or slow decline, he will be resolved into the primary elements again, and the whole process will begin anew. (PhN 117)

Mencken ging jegliches Verständnis für das antiteleologische Evolutionsmodell oder den durch den Widerkunftsgedanken ausgedrückten moralischen Imperativ ab, welcher besagt: Nur wer den Gedanken der Wiederkehr aushält, ist zum höheren Menschsein befähigt. Mit seinem Urteil über das Konzept der ewigen Wiederkehr offenbarte Mencken seine eigenen philosophischen Grenzen, an denen er kläglich scheiterte: This notion, it must be admitted, was not original with Nietzsche and it would have been better for his philosophy and for his repute as an intelligent thinker had he never sought to elucidate it. (PhN 118)

Alles Metaphysische war für Mencken ein bloßes Hirngespinst, „cob-web spinning". (PhN 151) Diese Verständnisprobleme reichten aber auch in das Zentrum von Menckens Nietzsche-Bild hinein, wo der Mensch des großen Intellektes stand. Die Wurzel seiner Schwierigkeiten mit dieser Idee war der Werterelativismus. Mencken sah sofort, daß die Kultur die Orientierung verliert, wenn alle Fundamente der kulturellen Tradition im Prozeß der Umwertung erschüttert werden, weil der Wertsetzung dann ein nicht hinterfragbares Kriterium fehlt: „How is man to define and determine his own welfare and that of the race after him?" (PhN 102) Auch wußte Mencken, daß ein Rückzug auf die Intellektualität keinen Ausweg aus diesem Dilemma ermöglicht, und wich deshalb auf das noch nebulösere Konzept des Instinkts als letzten Wertkriteriums aus:

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The answer, of course, lies in the obvious fact that, in every healthy man, instinct supplies a very reliable guide, and that when instinct fails or is uncertain experiment must solve the problem. (PhN 103)

Damit geriet er aber unter theoretischen Zugzwang. Die vorhin gepriesene Eigenschaft der höchsten Geistigkeit mußte nun einem Vitalismus Platz machen, der den angeborenen Überlebenswillen zum einzigen Wertemaßstab erhob: the superman will have the same guides that we have, viz.: his instincts and sense. But in him they will be more accurate and more acute than in us. ... The ideal superman then is merely a man in whom instinct works without interference - a man who feels that it is right to live and that the only knowledge worth while is that which makes life longer and more bearable. (PhN 122f.)

Die Hingabe an Affekt und Trieb sowie die Aufstellung eines eudämonistischen Ideals sind aber für Nietzsche Grundzüge des „Herdenmenschen", der keine Strenge gegen sich selbst aufzubringen vermag. Mencken definierte Nietzsche treffend als kritischen Denker, aber die philosophischen Konsequenzen dieser Kritik konnte er nicht mehr ganz erfassen. Andere Beispiele von Menckens Unzulänglichkeiten ließen sich ohne weiteres aufzählen. Menckens eigene leicht antisemitische Neigungen färbten unglücklicherweise auf die Erörterung der Moralgeschichte ab, so daß Nietzsche in Menckens trübes Fahrwasser gezogen wurde: For the Jewish slave-morality which prevails in the western world today, under the label of Christianity, Nietzsche had, as we know, the most violent aversion and contempt. ... Their [the Jews'] manners, it may be admitted, teach us that they have never been inspired by chivalrous, noble feelings, nor their bodies girt with beautiful arms: a certain vulgarity always alternates with their submissiveness. (PhN 237f.)

Es wäre nicht korrekt, Mencken einen wirklichen Antisemiten zu nennen, aber er erlaubte sich manch gefestigtes Vorurteil und setzte Nietzsche damit einem Verdacht aus, mit dem dieser schon immer zu kämpfen hatte. Andere Mißverständnisse wiederum wurden von Mencken aufgeklärt. Verschwunden aus Menckens Nietzsche-Bild war z.B. der Nimbus des tyrannos philosophikos. Die Figur der „blonden Bestie" wurde zwar nicht geklärt, aber doch vom Ideal des höheren Menschen säuberlich getrennt. Mencken identifizierte auch als vielleicht erster populärer Kritiker den Sinn des aphoristischen Stils als programmatisch bei Nietzsche und führte ihn auf den Einfluß der französischen Moralisten und nicht nur auf Nietzsches schwache Konstitution zurück. Auch von der falschen Assoziierung Nietzsches mit den Romantikern rückte Mencken ab, um die viel wichtigere Vorbildfunktion Goethes an deren Stelle zu setzen.118

"" „What Nietzsche undoubtedly got from the romantics was a feeling of ease in the German language, a disregard for the artificial bonds of the schools, a sense of hospitality to the gipsy phrase. In brief, they taught him how to write. But they certainly did not teach him what to write. [...]

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Mencken arbeitete auch mit durchdachtem Kalkül an der Beseitigung desinformierter Voreingenommenheit gegen Nietzsche, aber dieser Teil seines Projekts war einem anderen Ziel untergeordnet: Er wollte seinen Nietzsche an den Mann bringen. Menckens Nietzsche war zwar eigentlich wie jeder andere bisherige der amerikanischen Rezeption nur ein Ausschnitt aus dem größeren Ganzen von Person und Werk des Philosophen, aber nichtsdestotrotz im Gegensatz zu vielen anderen dargebotenen Teilprofilen Nietzsches ein mit beachtlicher Akkuratesse herausgeschnittenes Segment. Ihren Mängeln zum Trotz lieferte diese Monographie von 1908 ein relativ neues und letztlich ziemlich gelungenes Nietzsche-Bild: Nicht Nietzsche, der Visionär, der Seher oder der Erzieher der Rasse, sondern Nietzsche, der kritische, emsthafte Denker dominierte bei Mencken. Die fast obligatorischen Mutmaßungen über soziale Zukunftsvisionen und die Methoden zu ihrer Durchsetzung waren vorhanden, standen aber weitgehend im Hintergrund. Obwohl philosophisch ungeschult, hatte Mencken offenbar ein erstaunliches Gespür für die Aufgabe kritischer Analyse in der Philosophie, und zu einer Zeit, als Universitätsphilosophen in Amerika noch längst nicht daran dachten, Nietzsche als ernsthaften Philosophen zu betrachten (wenn sie ihn überhaupt betrachteten), machte Mencken ihnen vor, wie das ging. Wo Mencken Nietzsche nicht mehr folgen konnte, blieb er stehen, versuchte aber nicht wie manch anderer Interpret, das von ihm nicht betretene Terrain trotzdem philosophisch zu kartographieren. Wichtig war ihm bei der Betrachtung dieser Nietzscheschen Landschaft die Freilegung der Prämissen herrschender Wertsysteme: Eine spätere Beschreibung des eigenen gesellschafts- und kulturkritischen Programms gibt auch über Menckens Nietzsche-Verständnis Auskunft, bei dem es ihm nicht um Reformmaßnahmen, sondern um Problemklärung zu tun war: „My business is not prognosis, but diagnosis. I am not engaged in therapeutics, but in pathology".119 Der Philosoph als Pathologe: ein nicht unwürdiges Epitheton auch für Nietzsche. Dieser kritische Analytiker war der Nietzsche, den Mencken an andere weitergab. Nicht wenige werden dieses Bild von ihm erhalten haben, denkt man allein an Menckens Auflagen. Es war vor allem eine junge Generation, die jetzt in Sachen Nietzsche unweigerlich auch Mencken vor Augen hatte. Sie konnte der Entscheidung nicht entgehen, ihm entweder Respekt zu bezeugen oder zu kontern. Selbst wenn diese jungen Kritiker Menckens Einzelthesen nicht verwendeten, ihren eigenen kulturkritischen Nietzsche konnten sie erst dank seines NietzschePorträts entdecken. Mencken war es auch, der von der Zukunft einer „small, alert, iconoclastic, immoral, progressive master class" (PhN 72f.) schwärmte. Und dieses ganze Register so verwegen erscheinender Eigenschaften zog die

On the artistic ... side, Nietzsche's most influential teacher, perhaps, was Goethe, the noblest intellectual figure of modem Germany, the common Stammvater of all the warring schools of today." (H.L. Mencken, The Philosophy of Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 266 u. 264.) H.L. Mencken, Notes on Democracy (New York, 1926), S. 195.

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jungen Intellektuellen Amerikas wie ein Zauber an, dessen Wirkungen Richard Hofstadter so beschreibt: The horizon of intellect grew wider, it was free and exhuberant, and it seemed now to have been put in touch with the higher reaches of power, as well as with the national mood. ... In this age of the „Little Renaissance" the keynote for arts and letters was liberation; for scholarship it was the enlarged possibilities for influence. Everywhere there was the intoxicant of new interests and new freedom. 120

Das Neue, die Möglichkeiten des Neuen und die abgelebte Rolle des Alten und Tradierten sollten noch mehr denn je zuvor das Bewußtsein der Jugend beherrschen. „The old order", schrieb Mencken rückblickend, „now had fewer to defend it than in days gone by. The feeling that it must yield to something better ... that any change was better than no change at all - this feeling was abroad in the world". 121 Im Rausche dieses Gefühls - und bei Nietzsche-Kontrahenten andererseits im Widerstand dagegen - nahmen sich neue Entdecker der Nietzsche-Diskussion an. Der Widerstreit der Parteien blieb, und Nietzsche war auf verschiedenen Fronten, im Dienste verschiedener Herren zu sehen. Auch Mencken wird noch einmal - nicht nur hinter den Kulissen - einen zweiten Auftritt erleben. Zuerst geht es aber um einen anderen Krieg und um die Frage, ob Nietzsche ihn überstand, oder ob sein Name in die Liste der Verschollen eingetragen werden muß.

,2

° Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in Ameican Life, op. cit., S. 204f. H.L. Mencken, „Preface to the Third Edition", The Philosophy of Friedrich Nietzsche (Boston, 1913), S. ix.

121

III. Essayistik 1914-1929

III. 1 Der Weltkrieg III. 1.a Angriff Das Jahr 1914 markiert weltweit einen Einschnitt in der historischen Genese des Nietzsche-Bildes, denn der erste Weltkrieg leitete fraglos das bedeutendste politische Interludium in der Geschichte der Nietzsche-Rezeption ein. Unverzüglich nach den ersten Kriegstagen wurde in England und Amerika der Verdacht geäußert, Nietzsche habe eine Rolle in der politischen Entwicklung gespielt, die zum Ausbruch des Krieges führte. Die Frage nach einer partiellen Selbstverschuldung Nietzsches an der Identifikation seiner Philosophie mit dem Imperialismus des Wilhelminischen Reiches und dem daraus hervorgehenden Weltkrieg ist immer noch offen. Zu Nietzsches Entlastung kann man gewiß sagen, von der Tragweite gerade dieses Ereignisses mußte er ja auch erfaßt werden, denn im Verlauf der intellektuellen Mobilmachung fand eine Neubewertung zahlloser Figuren der europäischen, zumal der deutschen Ideengeschichte statt. Es ist nur allzu verständlich, daß auch Nietzsche in den Sog des die alte Weltkultur verschlingenden Mahlstroms geriet. Nietzsches Part war hier aber größer als der eines zufallig in den Konflikt verwickelten Zaungastes. Es wäre sonst nicht erklärbar, daß schon in den ersten Kriegstagen vom „euro-Nietzschean war" gesprochen werden konnte, oder daß Behauptungen aufgestellt wurden wie: „In a very real sense it is the philosophy of Nietzsche that we are fighting". 1 Auf beiden Seiten des Atlantiks traf Nietzsche der Vorwurf der ideologischen Kriegsschuld, denn er sollte die deutschen Machthaber inspiriert haben, einen Feldzug gegen die Zivilisation anzutreten. Zwei Fragen zu dieser Anklage sind an erster Stelle zu betrachten: Wie kam es zu diesem Vorwurf, und welcher Schaden entstand für die Reputation von Nietzsches philosophischer Integrität in Amerika aufgrund desselben? Ein wesentlicher Grund für die Identifizierung von Nietzsches Denken mit den Eroberungsgelüsten des Wilhelminischen Imperiums ist bei den Aggressoren selbst zu suchen. Von allen Fragen nach einer tatsächlichen ideologischen Mitschuld Nietzsches am Krieg abgesehen, ist die Inszenierung eines NietzscheMythos zur Erbauung deutscher Leser in dieser Zeit nicht wegzuleugnen. Nie-

William Archer, „Fighting a Philosophy", The North American Review, 201 (Jan. 1915), S. 44.

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mandem in England, Frankreich und Amerika entging, daß neben der Bibel und Faust Nietzsches Also sprach Zarathustra zum festen Bestand der Feldbibliothek des deutschen Infanteristen gehörte. An zahllosen Stellen standen in englischen und amerikanischen Beiträgen zum Zusammenhang zwischen dem Kreig und Nietzsche empörte Vermerke, wie folgender, die diesen „Kulturbarbarismus" herausstrichen: „Zarathustra is one of the classics which the cultured German soldier carries in his knapsack - the others being Homer, Faust and the Bible" . 2 Deutsche Soldaten erhielten auch tatsächlich eine Feldausgabe des Zarathustra „für den Rucksack", die etwa 150000-fach verteilt wurde. 3 Es ist kein Zufall, daß dieses Werk dem Mißbrauch durch den militärischen Propagandaapparat anheimfiel, denn in Zarathustra ist Nietzsches sonst formidable Nationalismus- und Deutschlandkritik zumindest nicht in direkter Form anzutreffen (obwohl ja dort vom Staat als dem „neuen Götzen" gesprochen wird), und, was noch wichtiger ist, die Kriegs- und Überwindungsformeln Zarathustras sind unübersehbar vom hohen Pathos des heroischen Kampfes getragen. Sinnvollerweise stammten die für die Anti-Nietzsche-Kampagne der Alliierten vielleicht nutzbarsten Zeilen Nietzsches ebenfalls aus Zarathustra. Die dort unterbreitete Umkehrung der traditionellen Rechtfertigung des Kriegs vermöge der Vorschiebung höherer, hehrer Ziele - „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch, der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt" (Za „Vom Krieg und Kriegsvolke") - figurierte fürderhin im angelsächsischen Raum als bündigste Zusammenfassung der neuen deutschen Imperialmoral des „might makes right". Die Geschichte der Militarisierung Nietzsches im Wilhelminischen Deutschland ist aber viel weiter verzweigt, als die hier erwähnte politische Instrumentalisierung von Also sprach Zarathustra allein klar macht. Nicht zu unterschätzen sind auch beispielsweise die Aktivitäten Elisabeth Förster-Nietzsches, die sich als erstaunlich umtriebig in ihren Versuchen erwies, ihrem Bruder den Ruf des philosophischen Begründers des kommenden deutschen Weltreichs zu sichern. Diese Billigung und Unterstützung der Nutzbarmachung Nietzsches für die deutsche Sache seitens der Familie wurde von anglo-amerikanischer Seite auch keineswegs übersehen. Herbert Leslie Stewart von der Dalhousie University etwa teilte seinen Lesern eifrig die neuesten Informationen über die schriftstellerischen Unternehmungen der Hausherrin des Nietzsche-Archivs mit: It is worth noticing that two or three months ago the Berliner Tageblatt reported a discussion in which Frau Förster-Nietzsche took part, and in which she rejoiced that the war had given to her brother his rightful place among his countrymen.4

2 3 4

William Archer, „Fighting a Philosophy", op. cit., S. 34. Vgl. Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 7590-/990(Berkeley , 1992), S. 135. Herbert Leslie Stewart, Nietzsche and the Ideals of Modern Germany (New York, 1915), S. 188. Stewart meinte hiermit den Beitrag „Nietzsche und Deutschland", Berliner Tageblatt, 44 (5. Sept. 1915). Weitere Titel der Schwester aus der Kriegszeit sind u.a.: „Nietzsche und der Krieg", Tag, 212 (10. Sept. 1914); „Nietzsche im Kriege 1 8 7 0 D e r neue Merkur, 1 (1914); „Nietzsche,

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Essayistik 1914-1929

Die Schwester handelte hierin aber nicht allein. Hermann Itschners Anthologie Nietzsche-Worte: Weggenossen in grosser Zeit (Leipzig, 1915) sorgte für die Verbreitung von zerstückelten Nietzsche-Zitaten zur Inspiration aller philosophisch durstenden Volksgenossen, und Zeitschriften wie Der Panther: deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum stellten auch das Bild von Nietzsche als deutschem Volkspropheten zur Schau. In gefährlicher Nähe zu dieser Entwicklung standen sogar Namen wie Ernst Bertram und Thomas Mann. Weitaus schädlicher für Nietzsche wirkte sich aber die militaristische Hetzschrift Deutschland und der nächste Krieg (1912) des preußischen Generals und Erzimperialisten Friedrich von Bernhardi aus, der sich nicht nur auf Nietzsche berief, sondern zu allem Überfluß die Titelseite seines Werkes mit Zarathustraschem Motto versah. Bernhardis flachsinniger Neonietzscheanismus lieferte anglo-amerikanischen Kritikern den Beweis dafür, daß Preußens politische und militärische Strategen bei der Herausbildung und Rechtfertigung ihrer Kriegsziele und -methoden aus Nietzsches Philosophie geschöpft hatten. „The deep-rooted Nietzscheism of this flamboyant militarist [Bernhardi] will be clear enough from a few sentences taken at random out of the pages of .Germany and the Next War'" meinte Paul Elmer More schon 1914.5 Über Bernhardi führte nur ein kurzer Weg zum deutschnationalistischen Musterdenker Heinrich von Treitschke - demselben Treitschke, den Nietzsche als Beispiel der „preussischen Dummheit" aufs bitterste schmäht: kleine Anfälle v o n Verdummung: z u m Beispiel bei den Deutschen bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlichromantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke [sie] und ihre dick verbundenen K ö p f e an -), und wie sie Alle noch heissen m ö g e n , diese kleinen B e n e b e lungen des deutschen Geistes und G e w i s s e n s . (JGB 2 5 1 )

Nietzsches Selbstdistanzierung von solchen Figuren wurde aber in dieser Zeit allerhöchster nationaler Not geflissentlich übergangen. William Archer (18561924), der zeitweise in den USA lebende englische Literaturkritiker und Weltenbummler, publizierte zur Kriegszeit sehr häufig in der amerikanischen Presse. Große Mühe und rhetorische Überzeugungskraft wandte er auf, um Englands wichtigsten (zu dieser Zeit nur potentiellen) Verbündeten von der Notwendigkeit eines antinietzscheschen Kampfs zu überzeugen. Er prägte in seinen Kriegsbeiträgen den Begriff von Nietzsche, Treitschke und Bernhardi als „germanischer Trinität": S o m e readers may be disposed to regret that the great Germanic trinity, NietzscheTreitschke-Bernhardi, contribute s o largely to my anthology. ... [T]hey are like a three-headed Charles I - or a triplicate Geibel. it been by any means possible.

5

I would gladly have omitted them had

But one might as well compile an Old Testament

Frankreich und Deutschland", Neue freie Presse (11. Juni 1916). Paul Elmer More, „The Lust of Empire", The Nation (Oct. 22, 1914), S. 494.

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anthology and omit Isaiah, Jeremiah and Ezekiel. For, whatever the Germans may say, they are the major prophets of the new-German spirit. 6

Bei der hier genannten Anthologie handelte es sich um Archers Brevier 501 Gems of German Thought (New York, 1916), in dem Auszüge aus deutschen Kriegsschriften und deutscher Literatur die Ruchlosigkeit und die „tribal arrogance, unrestrained and unashamed" des sich darin äußernden Geistes bezeugen sollten. 7 An fast jeder Stelle, an der ein Nietzsche-Zitat sich befindet, folgt unmittelbar oder kurz darauf eine plakative Passage von entweder Bernhardi oder Treitschke (obwohl Archer sonst über hundert Autoren heranzieht). Archer ging es hauptsächlich um Belege deutscher „Arroganz", d.h. des deutschen Irrglaubens, zum Bestimmer globaler Politik und Realisator einer globalen Vision berufen zu sein. Ihm galten Nietzsche, Bernhardi und Treitschke als Beispiele einer grundsätzlichen deutschen Perfidität, deren Existenz er glaubhaft machen wollte, um die Bereitschaft Amerikas zum Eintritt in den Krieg zu fördern. Britische Propagandisten waren natürlich sehr daran interessiert, Amerikas pazifistische und isolationistische Stimmung umzulenken, und dieses englische Engagement beeinflußte - wie hier in Archers Fall - auch die antinietzschesche Propaganda in Amerika. Waren diese beiden letztgenannten Kriegstreiber erst einmal als politische Strohmännner eines tieferen philosophischen Programms demaskiert worden, dann mußte nur noch auf Einzelheiten der deutschen Kriegsführung hingewiesen werden, um Nietzsches Überführung als deutscher Volkshetzer zu erreichen. Für manchen Journalisten bedeutete Berichterstattung über den Krieg, wie ein Kritiker meinte, nichts weniger als „Nietzsche in Action" zu zeigen. 8 Der deutsche Einmarsch in Belgien kaptivierte die Vorstellungskraft der Nietzsche-Gegner als realer Auftritt der von Nietzsche nur bildhaft beschriebenen Horden blonder Bestien, die in vorsintflutlicher Zeit ganz Europa terrorisiert haben sollten. Mit bissiger Medisance übernahm Archer die deutsche Perspektive, betrachtete dann den Belgien-Feldzug und fand vor allem Nietzschesche Begriffe für die Beschreibung dessen, was er aus den Augen des Feindes sah: Belgium ought to have felt honored by the opporunity of effacing herself at the command of the „noble" German egoism; but, alas! her pitiful „slave morality" prompted her to die rather than renounce her rights and obligations at the nod of the „blond beast, lustfully roving in search of booty and victory". 9

6

7

8 9

William Archer, 501 Gems of German Thought (New York, 1916), S. xxiv. Auch Treitschke selbst wurde im Zuge der Kriegspropaganda schnell ins Englische übersetzt: Vgl. Heinrich von Treitschke, Politics (New York, 1916). William Archer, 501 Gems of German Thought, op. cit., S. xvi. Diese Publikationsform der Zitatsammlung war eine beliebte Propagandamethode, die auch von den Behörden eingesetzt wurde. F. Mather, „Nietzsche in Action", The Unpopular Review, 3 (1915), S. 32. William Archer, „Fighting a Philosophy", op. cit., S. 37.

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Nietzsches Immoralismus, sein Standpunkt jenseits von gut und böse, sollte Deutschlands Soldaten von der politischen Führung als moralischen Freibrief präsentiert worden sein - „If one did not know that this [Jenseits von Gut und Böse] was written more than a quarter of a century ago, might we not suppose it a fresh-coined paradox designed to justify retrospectively the Prussian policy of 1914?"'° Der teutonische Wille zur Macht, dem Nietzsche zügellose Freiheit gepredigt haben sollte, verwandele deutsche Truppen in blutberauschte Berserker und Amokläufer: The most concrete example of the will to power ... is the Malay exalted by narcotics, running amuck through his village, rejoicing in the slice of the kriss through muscle and bone, and exulting in the terror of the neighborhood."

Preußen als ganzes gestaltete sich unter dem Blick der Propagandisten zum Staat der sich Übermenschen dünkenden Popanze der deutschen Militärelite: Prussianized Germany personifies the Empire as a manner of Supermen. ... Moreover the official conception o f the Empire corresponded closely with the idea o f the Superman. 12

Vor allem der preußische Übermensch, dessen kaltes Herz nur im Gewaltakt oder bei der Zarathustra-Leklüre warm werde, wurde zum blutüberlaufenen Tableau der alliierten Propaganda. Mehrfach porträtierten Plakate der englischen und amerikanischen Propagandaministerien den deutschen Soldaten als pickelhäubigen „Hunnen", der schmachtend und bluttriefend über wehrlose belgische Frauen herfiel, deren Ehre nur durch tapfere alliierte Krieger gerettet werden konnte. Die Abgrenzung des ehrenhaften englischen oder amerikanischen Soldaten gegen den barbarischen Hunnen zu merken ist wichtig, weil daran die Unterscheidung zwischen aufrichtiger Moral und Zarathustrascher Scheinmoral der Machtlust dargetan werden sollte. Die anglo-amerikanische Weigerung, sich von der christlichen Moral zu trennen und auf den neuen deutschen Immoralismus Nietzsches einzulassen, mache einen solchen Barbarismus in Amerika oder England schier unmöglich. Und umgekehrt: Wer Nietzsche konsequent ablehne, schütze die Standfestigkeit und moralische Unbescholtenheit Amerikas: General Bernhardt honestly entertains the entirely Nietzschean alternative for Germany, World rule or downfall - Weltmacht oder Niedergang. The fact that America, England, France or Russia would not admit this alternative, but would perceive between world rule and downfall many desirable middle stages of existence, is highly

Ibid., S. 3 6 . "

F. Mather, „Nietzsche in Action", op. cit., S. 35.

12

Ibid., S. 37. Mather argumentierte sogar, daß der preußische Nationalismus, als er sich in einer Phase lähmender Schwäche befunden, durch Nietzsches Denken erst neue Lebenskraft b e k o m m e n habe:

„At the moment when ... the sense of divine warrant, so deeply in the hearts of the first

Kaiser and Bismarck, was fading Friedrich Nietzsche provided a new theoretic and philosophical sanction for German nationalism".

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significant, and each is natural to the modern conception of the state [in which] ... the appeal is not to individual, national, or racial instinct, but to reason and average utility. 13

Was hier nur implizit zwischen den Zeilen lauerte - die moralische Überlegenheit der Alliierten gegenüber den Deutschen - wurde andernorts explizit ausgesprochen. Wenn die gegen Nietzsche gerichtete Kriegsliteratur ihm nicht die volle Schuld an der deutschen Machtgier gab, dann stellte sie ihn - gewissermaßen als begrenzte Entlastung - in eine geschichtliche Reihe von Namen, die die historisch belegbare moralische Verderbtheit und angeborene Grausamkeit der Deutschen beweisen sollte. Damit wurde Nietzsche zum Symptom anstatt zum Erreger. Der preußische Militarismus sowie der Nietzschesche Immoralismus verkörperten demnach nur äußerlich die innerliche Herzens(miß-)bildung des deutschen Volkes: the so-called spirit of militarism has not been confined to a clique of Prussian officers, but has sunk deep into the hearts of the German people. ... [Something more is at work here than the machinations of a group of self-seeking soldiers and armamentmakers. ... [T]his marvellous unanimity is something different from the patriotism that is solidifying other countries. 14

Man beachte, daß alliierter Patriotismus hier als ehrenhaft, sein deutsches Pendant aber als schändlich apostrophiert wurde. Selbst der Patron Freuds in Amerika, der Psychologe G. Stanley Hall, der auch in Deutschland studiert und dort die wichtigsten Impulse für seine eigene Arbeit empfangen hatte (vor allem von Wundt), konnte sich angesichts des schwelenden Konflikts der alles andere als professionellen Feststellung nicht enthalten: „there is something fundamentally wrong with the Teutonic soul". 15 Auf einmal glaubte Hall nicht nur wieder an die Seele, sondern auch noch an die Seele der „Rasse" obendrein. Deutsch-Amerikaner hatten auch nicht selten unter Repressalien zu leiden16 wegen der Ressentiments gegen Deutschland und die Deutschen, die vor allem durch das sogenannte Creel Committee geschürt wurden. Das Creel Comittee (genannt nach dem Propagandisten und Journalisten George Creel [1876-1953], der 1917 von Präsident Wilson zum Vorsitzenden des „Committee on Public Information" ernannt wurde) funktionierte als Schreibwerkstatt der Regierung und produzierte im offiziellen Auftrag über 75 Millionen Kriegspamphlete, in denen die Inhumanität des deutschen Volkes und ihres „Staatsphilosophen" Nietzsche

13 14

" "

Ibid., S. 40. Paul Elmer More, „The Lust of Empire", op. cit., S. 493. Zitiert bei: Richard Current et.a!., American History. Vol. II (New York, 1959), S. 60. Vgl. La Vern J. Rippley, „Ameliorated Americanization: The Effect of World War I on GermanAmericans in the 1920s", America and the Germans. An Assessment of a Three-Hundred-Year History, vol. II, ed. Frank Trommler and Joseph McVeigh (Philadelphia, 1985), S. 217-231.

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unter Beweis gestellt werden sollten.17 Die patriotisch gesinnte National Security League wollte sogar die Zensur bzw. das Druckverbot der gesamten deutschsprachigen Presse - die damals noch von beträchtlicher Größe war - in Amerika erwirken, 18 und auch der Deutschunterricht an Schulen und Universitäten wurde nicht mehr besonders wohlwollend gelitten.19 Die Sorge um die Loyalität der „hyphenated Americans" - also „Bindestrichbürger", die sich als Deutsch-Amerikaner, Italo-Amerikaner usw. empfanden - hatte schon seit eh und je zu politischen Debatten geführt (an denen auch Präsident Theodore Roosevelt maßgeblich beteiligt war), aber deutsche Einwanderer und alles Deutschtum befanden sich während des Krieges in einer besonders prekären Lage in Amerika sowie in England. In Großbritannien wurde Oscar Levy, Herausgeber der Gesamtübersetzung von Nietzsches Werken, sogar des Landes verwiesen. Insofern wurde Nietzsche deswegen verschmäht, nicht nur weil er dazu beitragen haben sollte, die Deutschen zu verrohen, sondern weil er als Deutscher auch zu diesen angeblichen „Ungeheuern" gehörte. Summa summarum: Den größten Anlaß zu den erneuten Invektiven gegen Nietzsche um 1914 gab also die deutsche Inanspruchnahme seines Namens und Werks als eines Signums der deutschen Berufenheit zur Weltmacht aufgrund angeblicher kultureller und völkischer Überlegenheit. Die Folie des Krieges nutzten viele aber auch als Vorwand für die Begleichung noch ausstehender Rechnungen mit dem deutschen Philosophen des Immoralismus und Egoismus. Hatte Mencken eine zeitweilige und partielle Normalisierung des amerikanischen Verhältnisses zu Nietzsche erstrebt, so tauchten jetzt plötzlich alte Injurien unter dem Deckmantel patriotischer Gesinnung wieder auf. Der Rufmord an Nietzsches Person z.B. erlebte wieder Hochkonjunktur, da die supponierte Perversität Nietzsches sich auf die deutschen „Übermenschen" extrapolieren ließ. So begegnete abermals Nietzsche als spintisierender Schwächling, der seinen Kraftphantasien aus Kompensationsbedürfnis nachhing: The supersensitive, quivering little invalid, w h o could never even find a w o m a n willing to marry him, constructed for himself an ideal entity, physically his opposite, spiritually his counterpart - the great „blond beast", the human bird o f prey, the conqueror, the destroyer, the slave-driver, the despiser of „herd-morality". 2 0

Das Übermenschentum Preußens wurde durch diese „Enttarnung" also als genau so chimärisch und lächerlich hingestellt wie das seines mutmaßlichen

17

18

"

2

"

Vgl. z.B. Wallace Notestein u. Elmer Stoll, Conquest and Kultur (Washington, 1917). Eine weitere Quelle zur allgemeinen Lage der Deutsch-Amerikaner im ersten Weltkrieg bietet auch Frederick Luebke, Bonds of Loyalty (New York, 1974). Vgl. Marvin Drimmer, Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 551f. Vgl. Henry J. Schmidt, „The Rhetoric of Survival: The Germanist in America from 1900 to 1925", America and the Germans. An Assessment of a Three-Hundred-Year History, vol. II, op. cit., S. 204-216. William Archer, „Fighting a Philosophy", op. cit., S. 41.

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Urhebers Nietzsche. Auch andere längst abgegriffene Fälschungen kamen aufs neue als bare Münze in Umlauf. Es kursierten wieder die Rückdatierungen von Nietzsches Wahnsinnsausbruch bis in die 70er Jahre zurück, so daß fast das gesamte Werk wieder im Schatten der geistigen Abnormalität stand. „His writings are the veritable ravings of a madman", hieß es nochmals, „He gives us supposed truths based on his own abnormal experiences". 21 Auffällig ist in diesem Zusammenhang mit dem Krieg auch das wieder einmal angewachsene Interesse des Klerus an Nietzsche. Nichts bestätigte besser als der deutsche Waffengang die Warnungen vieler Geistlicher vor den gesellschaftlichen Auswirkungen einer Abkehr von der christlichen Moral auf eine zivilisierte Nation, und fast stärker als zuvor wurde die Pathographie der Nietzscheschen Philosophie sowie die Gefahren derselben für die moderne Gesellschaft nun in den Vordergrund gestellt. Fast als hätten sich seine Kritiker Nietzsches eigene dicadence-Theorie zu eigen gemacht, betrachteten sie den Krieg als Symptom des tieferen, wirklichen Übels - des von Nietzsche und anderen in Gang gesetzten Sittenverfalls: His ideals are the ideals of the jungle. His morality is beast morality. ... Not only does it destroy morality; it destroys society. ... He dehumanizes men and asserts that the nearer we approximate the tiger the nearer we will come to the end for which we were made. ... The cult of Nietzsche is one of the many forms of modern revolt. Everything traditional and established is the object of condemnation and attack for a large number of radical thinkers. 22

Mencken hatte recht, als er erkannte, daß die Nietzsche-Debatte sich um die Frage nach kulturellem und gesellschaftlichem Wandel polarisieren und in die Parteien der Traditionalisten und der Revisionisten spalten würde. Mit inquisitorisch anmutendem Eifer verdammten manche Geistliche die moderne Tendenz zur uneingeschränkten Freigeisterei, die in Nietzsche ihren lautstärksten Exponenten habe. Finster schilderte ein Theologe die neue Weltlichkeit und deren bedrohliche Apostel, die sich an Nietzsches Rockschöße gehängt hätten: Many scattered forces - men of the world, men of letters, artists, plunderers, Hberated Jews, epicures and high-livers, materialists scientific and xsthetic, captains industrial and military ... may be said in Nietzsche at last to have found a head. 23

Besonders peinlich berührt hier die Warnung eines christlichen Kirchenfunktionärs vor der Bedrohung u.a. durch reformierte Juden, aber es war letzten Endes die Säkularisierung der Kultur als Gesamtphänomen, die hier an den Pranger gestellt

21

22

13

Joseph Jacobi, „The Nietzschean Idea and the Christian Ideal - Superman and Saint", The American Catholic Quarterly Review, 41 (July 1916), S. 465. E.Y. Mullins, „Nietzsche and His Doctrine", The Review and Expositor: A Baptist Theological Quarterly, 12 (1915), S. 26f. W.C.A. Wallar, „A Preacher's Interest in Nietzsche", The American Journal of Theology, 19 (1915), S. 74.

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wurde. Nietzsche der Seelenfänger und Antichrist sollte überzeugend als ernsthafte Bedrohung für das Seelenheil und die Sicherheit der Gesellschaft entlarvt werden, und dieser Bedrohung müsse die Kirche entschlossen entgegentreten: Nietzsche is already poisoning thousands of souls w h o m the church of God should be ambitious to save to better ends.

H e can and will do incalculable damage to the

spiritual promise o f humanity. 2 4

Der ultramontane Joseph Jacobi griff dieses Thema der Freigeisterei auf und wies sie als intellektuelle Hybris aus. Die Gefahr bestand für Jacobi darin, daß die mit Nietzsches „intellektuellem Stolz" (also der Todsünde der superbia) infizierten Menschen eine Immunschwäche gegen geistige Irrlehren entwickelten: „men, grown intellectually proud, are prone to welcome any new herald of revolt against the tried and true in the realm of thought and conduct". 25 Die Schilderung eines zu hoch geflogenen, nun im Luziferischen Himmelssturz fallenden Geistes fügte sich auch wiederum zum Motiv der in der soldatischen Feldlektüre widergespiegelten deutschen Geisteslage, da hier die heidnischen (und stolzen) Figuren Zarathustra und Faust gegen die Bibel konkurrierten. Auch Nietzsches „greatest sin was his intellectual pride", 26 und so gewann er genauso faustische Züge wie Goethes „urdeutsche" Figur. Jacobi waren dagegen geistig schlichte, aber gläubige Menschen, die sich an die Gebote Gottes hielten, viel lieber als asoziale Intellektuelle, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft zerstörten.27 So wandte sich eine antiintellektuelle Welle nun auch gegen Nietzsche als falschen Propheten des neuzeitlichen Bildungsideals. Die Idee der Unbotmäßigkeit des menschlichen Intellektes gegen Gott als Verdammnis der Seele fesselte Jacobi so sehr, daß er Nietzsche als Produkt der Reformation, ausgerechnet als Nachfahr Luthers sah: The tragedy of thought for which the so-called Reformation is directly responsible culminated at the close of the past centry in the anti-Christian doctrines o f Friedrich Wilhelm Nietzsche. ... It was the Reformation that started men on the road o f free thinking. 2 8

Um so erstaunlicher wirkt das, wenn man bedenkt, daß für Nietzsche Luther den Untergang der für die Erneuerung der abendländischen Kultur und die Wiedereinführung des Wrfw-Ideals so verheißungsvollen Renaissance symbolisiert.

24 25 26 27

Μ

Ibid., S. 89f. Joseph Jacobi, „The Nietzschean Idea and the Christian Ideal", op. cit., S. 464. Ibid., S. 469. „It does not require the highest form of education or intellectual attainment to understand and keep the ten commandments. On the other hand, intellectual snobbery retards community growth, and an intellectual aristocracy would prove as intolerable, for instance, as an aristocracy based upon mere wealth." (Joseph Jacobi, „The Nietzschean Idea and the Christian Ideal", op. cit., S. 482.) Ibid., S. 463 u. 488.

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Beendet wurde Nietzsche zufolge dieser sich anbahnende und heilbringende Wandel in der Moral „Dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man die Reformation nennt". (GM „,Gut und Böse'; ,Gut und Schlecht'" 16) Da ist der Widerspruch in Jacobis Argument offensichtlich, aber in diesem Kampf gegen Nietzsche war schon oft jedes Mittel recht und die Folgerichtigkeit der Kritik nicht immer notwendig. Es handelte sich hier um keine neue Taktik, wenn Nietzsche einfach diffamiert wurde. Der Versuch, die Gründe der Entstehung eines bestimmten NietzscheBildes in der Rezeption zu erkennen, verpflichtet aber auch immer dazu, mögliche Ursachen der Entstehung dieses Bildes bei Nietzsche selbst zu suchen. Nietzsche kümmert sich nie darum, dem Leser den Umgang mit seinem Denken leichtzumachen, und die Rolle des Kriegsgedankens in seiner Philosophie ist ein weiteres Paradebeispiel für die Unbequemlichkeit derselben. Es steht gar nicht zur Debatte, daß Nietzsche „Krieg" gutheißt, denn als Teil des Seins muß auch der Krieg bejaht werden können. Der ja-sagende Fatalismus des übermenschlichen amorfati fordert von Nietzsche, daß er dem ganzen Kosmos, diesem „Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende [...] diese[r] meine[r] dionysische[n] Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens" (KSA XI 38[12]), immer und überall „Gerechtigkeit" widerfahren lasse. Sein Fatalismus ist holistisch. Die Frage muß sich vielmehr danach richten, was denn „Krieg" bei Nietzsche eigentlich bedeutet. Bei den meisten Nietzsche-Experten lautet die Antwort, Krieg bedeute bei Nietzsche Krieg der Ideen im Prozeß der Umwertung und Krieg des Individuums gegen sich selbst im Prozeß der Selbstüberwindung. 29 Da ist z.B. die Rede von der „Kriegsschule der Seele" (KSA XIII 18[1]). Krieg beglücke den höheren Menschen, denn Krieg „erzieht zur Freiheit". Und Freiheit? Sie bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks". (GD „Streifzüge eines Unzeitgemässen" 38)

Der Kampf ist ein innerer, bei dem manche Instinkte, zwecks Erlangung höherer Autarkie, anderen wiederum subsumiert werden; bei dem höher strebende Menschen keine weltliche Macht suchen, denn: „Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt" (GD „Was den Deutschen abgeht" 1), sondern die geistige Autonomie anstreben. Besonders dem Menschen des Auflösungszeitalters, der chaotischen und von disparaten Impulsen zerrissenen Natur, ist dieser Seelenkrieg ein heilendes Tonikum, denn wirkt der Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr -, und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und

Das ist die Ansicht, um nur zwei Beispiele zu nennen, sowohl Jaspers' (Nietzsche [1935; Berlin, 1981], S. 385-390) als auch Kaufmanns (Nietzsche, op. cit., S. 386-390).

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Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, j e n e z u m Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen. (JGB

200)

Kann das aber alles sein, was den ganzen Gesichtskreis ausfällt, den Nietzsches polyperspektivischer Blick auf den Begriff Krieg erfaßt? Es gibt mehr: Zu den Seelenkriegen gesellt sich auch „äußerlich" ein „Zeitalter ungeheurer Kriege, Umstürze, Explosionen" (KSA X 24[25]), das noch kommen werde. Der wirklich mit Waffen geführte Krieg ist Nietzsche auch ein Grundelement des Seins. Existenz ist ohne Krieg nicht denkbar - „Das Leben ist eine Folge des Krieges, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg" (KSA XIII 14[40]>. Der Krieg wirke zerstörerisch, aber auch lebenserhaltend als ein hygienisches Regulierungs- und Stärkungsmittel gegen die Schwächung des Menschen und der Kultur. Nietzsches „doppelte Optik" erlaubt ihm, gleichzeitig offen zugunsten und zuungunsten des Krieges zu sprechen: Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den B e s i e g ten boshaft.

Zu Gunsten des Krieges:

er barbarisiert in beiden eben genannten

Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der M e n s c h kommt kräftiger zum Guten und B ö s e n aus ihm heraus. ( M A 4 4 4 )

Den deutsch-französischen Krieg, und vor allem dessen Ausgang und Auswirkungen, verurteilt Nietzsche fürwahr, aber nichtsdestotrotz stellt er daüber hinaus noch fest: Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzurathen sein: falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen:

denn e s giebt für die Völker-

Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Cur. (WS 187)

Bei dieser Aussage handelt es sich auch nicht um „Fragwürdiges" aus dem Spätwerk - hier spricht der „junge" Nietzsche, dessen späteres Denken zumindest als Keim schon in den frühen Schriftzeugnissen überall enthalten ist. Man mag darüber streiten, ob der amorfati Nietzsches den Krieg herbeisehne oder nicht, aber feststeht, daß er den Krieg als Notwendigkeit im Ganzen des Seins akzeptieren muß. III. 1 .b Abwehr Auch nicht zufällig also kamen Nietzsches Kritiker darauf, ihn als Kriegsphilosophen zu sehen, und gerade dieser den Krieg würdigende Fatalismus Nietzsches legte seinen Verteidigern zur Zeit des Weltkrieges die gefährlichsten Fallstricke. Gewöhnlich nahmen sie einen angesichts der Umstände billigen Ausweg, indem sie den Gedanken an den realen Krieg in Nietzsches Philosophie eskamotierten. Dieser Vorgriff lenkt aber zunächst von einer wichtigen Tatsache ab: Nietzsche hatte immerhin viele Advokaten, welche den gegen ihn gerichteten Vorwurf der Kriegshetze nicht hinnehmen wollten. Dies festzuhalten ist äußerst dringlich, weil

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man sonst leicht den Eindruck bekommt, als hätte der Ausbruch des Weltkriegs Nietzsches Schicksal im anglo-amerikanischen Raum besiegelt. Drimmer z.B. vermerkt apodiktisch: „The First World War ended whatever chance there might have been for Nietzsche to achieve general American acceptance". 30 Aber das Faktum der bis in die 20er Jahre hineinreichenden, sehr konzentrierten Beschäftigung mit Nietzsche allein müßte genügen, um eine solche voreilig ausgestellte Sterbeurkunde eines allenfalls nur Scheintoten zu entkräften. Wen dies dennoch nicht zufriedenstellt, der sei auf die zahlreichen Repliken auf die Anti-Nietzsche-Welle der Kriegszeit hingewiesen. Sicherlich mag wohl die große Masse der amerikanischen Zeitungsleser durch die Kriegspropaganda von Nietzsche abgeschreckt worden sein, aber Philosophie, und vor allem Nietzsches Philosophie, ist stets eine Sache verhältnismäßig weniger Interessenten gewesen. Vom „Nietzsche-Kultus" zu sprechen, ist zum Teil irreführend, zumindest in Hinsicht auf Zahlen. Auch das Ausmaß der produzierten Nietzsche-Literatur schrumpfte eindeutig in den späteren 20er Jahren zusammen, aber der Krieg allein vermag diese Entwicklung nicht zu erklären. Zuerst sollen die unmittelbaren Reaktionen auf die Anklage gegen Nietzsche für sich selbst sprechen. Die gängigsten Argumente, die zur Nietzsches Entlastung angeführt wurden, lassen sich in drei Punkte gliedern. Erstens wurde, wie bereits erwähnt, der Kriegsgedanke in Nietzsches Werk einer einseitig humanistischen Deutung unterzogen, so daß er nur noch als psychomachia erschien: This is the stern message that Nietzsche addressed to the soul of man. ... And if it led him, as he says, „occassionally to chant a paean of war", we may be sure it is not the kind of war, blind and fatal and undeliberate, which is now being waged by the nationalities of Europe. The war he chanted was a war in the interest of truth and ideas. 31

In diesem Zusammenhang wurde auch die Funktion der Macht, die Nietzsche dem Sein zugrundelegt, fast ausschließlich in die Sphäre des Intellekts verwiesen. Nietzsches Macht sei zwar „power", aber power, however, not being taken after the common fashion as antithetical to intellect, virtue and spiritual things in general, but as underlying them and giving them their basic, meaning and validity. 32

Zweitens beharrten die meisten Sympathisanten Nietzsches auf einer Distanzierung seines Denkens von Preußen und dessen politischen Zielen. Diese Taktik erwies sich als eine besonders dankbare und effektive Art der ideologischen Abwehr, da tatsächlich kein Zweifel daran bestehen konnte, daß Nietzsche dem Nationalismus im allgemeinen und der Deutschtümelei im besonderen nie nahege-

30 31 32

Melvin Drimmer, Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 535. Max Eastman, „What Nietzsche Really Taught", Everybody's Magazine (Nov. 1914), S. 704. William Salter, „Nietzsche's Superman", The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods (August 5, 1915), S. 423.

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standen hat. Nicht nur seine bitterböse „Definition des Germanen" als „Gehorsam und lange Beine" (WA 11) beweist seine alles andere als nordisch-völkische Gesinnung. Er und seine freien Geister, bekennt er offen, seien lange nicht „deutsch" genug, wie heute das Wort „deutsch" gang und g ä b e ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, u m an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk g e g e n Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. (FW 3 7 7 )

Auch die Sicherung des Friedens durch die selbstgewählte Wehrlosigkeit findet bei Nietzsche Erwägung als Möglichkeit und Ausdruck einer vornehmen Stärke (WS 284). Nietzsches antinationalistische und antideutsche Äußerungen begründeten wiederholte Mahnungen seiner Befürworter, Nietzsche sei kein kaisertreuer Militarist gewesen, sondern: a counselor warning the German nation after her s u c c e s s in the Franco-Prussian War not to mistake her triumph at arms for a triumph of their culture.

It w a s then, he

declared, that they had greatest need to guard against the pitfall o f the conqueror, and that „a great victory is a great danger". 3 3

Diese Art von Verteidungsmanöver wirft den weiter zu erörtenden dritten Punkt auf: die Frage des Einflusses Nietzsches auf Deutschland zur Zeit des Krieges. Nietzsches Opponenten versuchten ehedem häufig, seine eigentliche Wirkung in Deutschland herunterzuspielen, um seine philosophische Bedeutung, um ihm den Ruhm des neuen Propheten zu nehmen. Nun sahen für die antinietzscheschen Strategen die Dinge anders aus. Wollte man Leser von der ernsthaften Gefährlichkeit Nietzsches überzeugen, mußte man jetzt befinden: „His agruments [have begun] presently, as we now know, to win adherents not by thousands merely, but by hundreds of thousands and millions".34 Nietzsche-Freunde, die gewohnt waren, voller Stolz auf Nietzsches „Unentrinnbarkeit" und immer wachsende Gefolgschaft hinzuweisen, wechselten nun auch den Kurs und sprachen vom eher „relatively unknown German thinker" Nietzsche.35 Diejenigen, die Nietzsche für völlig schuldlos hielten, sahen sich jetzt dagegen zum Geständnis seiner eigentlichen Einflußlosigkeit gezwungen, denn wäre dieser große Einfluß faktisch vorhanden gewesen, dann hätten die antinationalistischen Parolen Nietzsches den Krieg vielleicht zu verhindern geholfen. Das gälte aber nur, wenn, wie gesagt, Nietzsche die Rolle einer solchen dominanten Geistesgröße in Deutschland gespielt hätte. Andere, denen es bei dieser totalen ideologischen Entlastung und Entschärfung Nietzsches nicht ganz wohl war, mußten umso mehr den ihm unterstellten Einfluß auf die kriegstreibenden Parteien als unwahrscheinlich präsentieren. Sollte Nietzsche doch relativ gefährliche Gedanken

33 34 35

Anonymus, „Blaming Nietzsche For it All", The Literary Digest (Oct. 17, 1914), S. 743. Anonymus, „What Might Makes Right?", The Independent, 80 (Oct. 19, 1914), S. 80. Max Eastman, „What Nietzsche Really Taught", op. cit., S. 703.

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schriftlich durchzuspielen gewagt haben, dann durften diese nicht als Inspiration der deutschen Kriegsbegeisterung gesehen werden. Nietzsche sei, meinte ein Kommentator, doch kein Unschuldslamm gewesen, aber dennoch: suppose that Nietzsche had exercised great influence upon Treitschke and Bernhardt, his influence upon the German people would still be unsubstantiated, for Treitschke und Bernhardt really represent only a minority of the Germans - the military party. In fact, Bernhardt bemoans the peaceableness of the Germans. 36

Und wenn Bernhardt und Treitschke Nietzsche trotzdem für ihre perfiden Projekte bemühten, dann sei das ganz und gar Mißbrauch von Nietzsches Philosophie. Auch manche gegnerischen Kritiker erkannten die Stichhaltigkeit dieses Einwands an. Damit war für sie Nietzsches Unschuld jedoch noch längst nicht erwiesen. Die alten Schwierigkeiten um Nietzsches Sprachgebrauch z.B. - ob er denn wörtlich oder metaphorisch zu nehmen sei, und was man mit den vielen darin enthaltenen „Widersprüchen" machen solle - eigneten ja Nietzsches Denken, so William Archer, gerade zu solcher Zweckentfremdung. Nietzsche trage zumindest dafür die Schuld, sich durch die eigene sprachliche und konzeptuelle Zweideutigkeit für preußische Bösewichter nutzbar gemacht zu haben: It may be argued that the Germans who enlist Nietzsche on the side of Prussian Imperialism flagrantly misread him. That is possible; but the trouble is that no human being can say how he is to be read aright. To exact a coherent system from his contradictions is impossible. 37

Archer legte es sogar den Nietzscheanera auf beiden Seiten des Atlantiks zur Last, diese Doppeldeutigkeit der Nietzscheschen Philosophie ausgenutzt und ihre eigenen ideologischen Fähnchen nach dem Winde gedreht zu haben, je nachdem ob eine bestimmte Auslegung der Förderung von Nietzsches Reputation oder den Zielen der Interpreten diene.38 Mutigere Nietzsche-Anhänger stellten sogar die allgemein als unbezweifelbar geltende Kriegsschuld Deutschlands in Frage. Nach Ansicht William Salters seien alle in den Konflikt verwickelten Länder einfach vom Ungeist des Nationalismus mitgerissen worden, dessen dezidierter Feind ja gerade Nietzsche sei: „the war is at bottom a gigantic struggle of national interests. ... The war proves that national sentiment is now the strongest sentiment in the world". 39

M 37 38

M

Philip Fogel, „Nietzsche and the Present War". The Sewanee Review, 23 (1915), S. 455. William Archer, „Fighting a Philosophy", op. cit., S. 32. „It is true that Nietzsche mixes up the literal and the figurative m the most reckless way ... this is precisely what renders his .aphorisms' so dangerous. Literally interpreted, they would lead straight back to chaos; even his most ardent disciples must, at many points, read him in a figurative sense; but they are perfectly free to take his words literally whenever it suits them - as Germany is doing at the present moment". (William Archer, "Fighting a Philosophy", op. cit., S. 39.) William Salter, „Nietzsche and the War", International Journal of Ethics, 27 (Oct. 1916 - July 1917), S. 359.

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Der verwegenste aller Kämpfer für Nietzsches Ehre war aber der unverfrorene Henry L. Mencken, der sich herausnahm, im Krieg mehr oder weniger offen prodeutsch zu sein. Damit ließ Mencken gewiß seinen antienglischen Ressentiments freien Lauf. Auch genoß er zunehmend die Position des trotzigen Außenseiters als Protest gegen den von ihm so verachteten amerikanischen Konformismus. Seine pro-deutschen Äußerungen waren gewagt, aber Mencken witterte bereits zu dieser Zeit, daß er auf dem besten Wege war, als kritische Instanz der Nation unantastbar zu werden. Er mußte zwar die Angriffe mancher patriotischer Journalisten über sich ergehen lassen (vor allem von Stuart Sherman, dem Mencken dies trotz Shermans späterer Gesuche um Vergebung nie verzieh) und sich einem polizeilichen Verhör über seine Beziehungen zum deutschen Philosophen „Nietzky" unterziehen, durfte aber im großen ganzen seinen antizyklischen Standpunkt relativ unbehelligt vertreten. Die Vorstellung eines deutschen Sieges in Europa fand Mencken - nach außen hin zumindest - ganz und gar nicht abstoßend, denn ausgerechnet im Wilhelminischen Kaiserreich glaubte er die neue demokratische Aristokratie der Effizienz realisiert zu sehen. Er hielt das Reich also noch für demokratisch und begrüßte diesen Tatbestand. Ihm war aber gleichzeitig wichtig, daß this n e w democracy that thus arose in Germany [nach A u f l ö s u n g d e s Junkertums] was not, o f course, a democracy in the American sense, or anything colorably resembling it.

It w a s founded upon no romantic theory that all men were natural equals. ... On

the contrary, it was a delimited, aristocratic democracy in the Athenian sense - a democracy of intelligence, of strength, of superior fitness - a d e m o c r a c y at the top. 4 0

Die angebliche Entstehung einer solchen athenischen Republik der aristoi auf deutschem Boden führte Mencken auf Nietzsches Einfluß zurück, da dieser Philosoph dem deutschen Volk und vor allem dessen führenden Politikern dieses Ideal geschenkt habe. In einem haarsträubenden Vergleich, der gleichermaßen Staunen und Gelächter hervorrufen muß, setzte Mencken Also sprach Zarathustra der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der englischen Magna Charta gleich. Dieses Buch, meinte Mencken: „was the thing the Germans had been looking for ... the Magna Charta of their new intellectual freedom, the gospel of their new creed, of progress". 41 Im festen - oder zumindest überzeugend gespielten - Glauben an die Überlegenheit der deutschen Gesellschaftsordnung mitsamt Dreiklassenwahlrecht konnte Mencken den Sieg des „Teutonen" als rieale und nicht gerade unglimpfliche Möglichkeit durchdenken: Let us not assume his [the Teuton's] downfall too lightly: it will take staggering b l o w s to break him.

And let us not be alarmed by his possible triumph.

What did R o m e

ever produce to match the Fifth Symphony? 4 2

4,1 41 42

H.L. Mencken, „The Mailed Fist and its Prophet", The Atlantic Monthly, Ibid., S. 604. Ibid., S. 607.

114 (1914), S. 602f.

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Interessant ist immerhin, daß Mencken keine Ähnlichkeiten zwischen dem römischen und dem deutschen Reich sah, sondern letzteres als Gegenteil des ersteren hinstellte. III. 1 .c Max Eastman (1883-1969) Es war aber nicht nur der eher konservative (sofern man ihn überhaupt mit traditonellen politischen Grenzbegriffen attributieren kann) Mencken, der für Deutschland sowie Nietzsche eintrat. Die wichtigste sozialistische Zeitschrift Amerikas zu dieser Zeit, The Masses, bot Pazifisten und eher deutschfreundlich Denkenden so etwas wie ein offenes, befriedetes Forum inmitten der stürmischen Kriegswirren. Die Herausgeber, allesamt zeitweise Nietzscheaner, hatten es nicht ganz so leicht wie Mencken: Zweimal mußten sie wegen Verbreitung staatsfeindlichen Materials vor Gericht, wurden aber schließlich freigesprochen. Zu ihnen zählten der Romancier Floyd Dell (1887-1969), dessen autobiographischer Roman Moon-Calf (1920) auch von seiner frühen Begegnung mit Nietzsches Philosophie als persönlicher Erleuchtuung und intellektuellem Ausweg aus der Provinzialität seiner ländlichen Heimatstadt erzählt, und John Reed (1887-1920) der in linken Kreisen sagenumwobene Autor von Ten Days That Shook The World (1919). Dieses aus Reeds eigenen Erlebnissen zusammengesetzte Resümee der Oktoberrevolution wurde den arbeitenden Massen von Lenin höchstpersönlich wärmstens empfohlen und trug dem Verfasser solchen Ruhm ein, daß nach seinem frühen Tod seine Asche in der Kremlmauer beigesetzt wurde. Der dritte im Bunde hier war Max Eastman, der, wie Daniel Aaron sagt, bis Ende des Krieges „ thirty-four years old and probably the best-known literary radical in the United States" geworden war.43 Im Jahre 1916 brachte Eastman eine einflußreiche Essaysammlung heraus, Understanding Germany, in der er Nietzsche als Beispiel für die heroische Freigeistigkeit vorführte, die das wirkliche Wesen Deutschlands ausmache. Eastman war nie ein linientreues Mitglied der Sozialistischen Partei. Das zeigt sich philosophisch an seinem für Sozialisten äußerst pessimistischen Begriff der Menschennatur, die für ihn keineswegs nur das Ergebnis anerzogenen Klassenbewußtseins war, sondern das gemeinsame Fundament allen menschlichen Lebens. Den eher blutrünstigen Urzustand des Menschen schlechthin nahm Eastman als eigentliche Ursache des Krieges an: „Our instinctive pugnacity is so strong ... we were foredoomed to hate. For it is the fashion of our nature."44 Eastman teilte Nietzsches Vision vom „schrecklichen Grundtext homo natura" sowie die Nietzschesche Auffassung, daß diese Natur durch einen höheren Machtwillen zu korrigieren und infolgedessen nutzbar zu machen sei:

43 44

Daniel Aaron, Writers on the Left, op. cit., S. 30. Max Eastman, Understanding Germany. The Only Way to End War and Other Essays (New York, 1916), S. 1.

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M e n are incurably

rivalrous and pugancious, but this rivalry and pugnacity would find

vent in other forms of conflict and display, if the occasions

of international warfare

were removed. 4 5

Gerade die Deutschen, argumentierte Eastman, hätten die freiheitlich denkende Richtung begründet, die den Weg aus diesen den Krieg begünstigenden Umständen und Mechanismen weise. Vor allem Kant, Goethe und Nietzsche dienten ihm als Vorbilder einer nach höherer geistiger Freiheit strebenden Denkweise, in der sich ein universelles, friedensstiftendes Heil berge. Es ging Eastman um die Loslösung vom kriegerischen „herd-instinct", 46 der durch das Christentum in der westlichen Kultur verankert sei: Goethe's Faust is the classic o f the mind's liberation from dogmatic scholarship. Kant's philosophy is a monumental apparatus for establishing „God, f r e e d o m and immortality" in the face of mathematical law. ... And Nietzsche thought o f more. cast loose from the bond o f Christian ethics.

He

There is no fuller record o f the ideal

love o f liberty than is furnished by these heroes of Germany's culture. 4 7

Eastman begegnete dem Vorwurf der ausschließlichen Kriegsschuld Deutschlands, indem er die Aggressorrolle des deutschen Reichs kontextuell relativierte. Kriegsgreuel, meinte er, gebe es gewißlich auf beiden, nicht nur auf deutscher Seite, und angesichts der geschichtlich bestimmten politischen Situation, in der sich Deutschland bis vor Kriegsausbruch befunden habe, ergebe sich die Verallgemeinerbarkeit der Handlungen des Reiches: „History will be aware that under the same circumstances England or America would have done the same thing". 48 Interessanterweise brachte Eastman auch eine gewisse Sympathie für das Kriegsphänomen an sich auf. Er begann eine Betrachtung der Vorteile des Kriegs mit der Feststellung, der kämpferische Charakter der Nietzscheschen Philosophie eigne diese zum Tonikum für verlebte Kulturen, welche nach einem Zeitalter verordneter Philanthropie vielleicht einer Revitalisierung oder Rebarbarisierung bedürften. Ähnlich begeistert wie die vielen europäischen Intellektuellen, die das Nahen eines neuen Krieges als große Reinigung für die dekadente, nicht mehr lebenstüchtige westliche Kultur herbeiwünschten, urteilte Eastman über die Vorzüge einer „fighting"-Philosophie: N i e t z s c h e ' s ideal of the fighting superman is especially useful to the „spiritual" people of our time, because they have been a little overfed with its opposite, the ideal of humility and submission and long-suffering love. 4 9

45

" 47 48 4

>

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S. S.

91. 84. 46. 21. 62.

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Selbst der sonst nur in den literarischen Kreisen der europäischen, aber nicht der amerikanischen Avantgarde bekannten Ästhetisierung des Kriegs gab sich Eastman hin: War is beautiful. It is most beautiful to the savage who is naked of moral or intellectual trammels, and to whom the organic shock of bloodshed is not sickening. But even to the refined, and especially to the godly, war has a mighty attraction. ... To acknowledge that war is beautiful, and especially beautiful to those who merely imagine it, is preliminary to a true estimation of its worth. 50

Eine solche Einschätzung der elektrisierenden, Stärke spendenden Kraft des Krieges, auch wenn es sich um einen nur imaginären Kampf handelte, hätte Eastman aber auch von Menckens Nietzsche-Interpretation abschauen können. Das Interesse an der demokratischen - bei Eastman freilich „sozialistischen" Aristokratie findet sich auch in seinen Essays. Auch der bei Mencken auftauchende Hinweis darauf, daß eine moderne Aristokratie mit der gegenwärtigen Finanzelite und dem Geblütsadel nicht verwechselt werden dürfe, kehrte bei Eastman wieder. Er monierte, die bereits existierende „amerikanische Aristokratie" sei: not an aristocracy of strength or merit, physical or intellectual, but an aristocracy of wealth. You could match Nietzsche's own description of supermen more nearly in the ranks of the United Mine Workers of America than in the Union League Club. ... the contest must be made equal and „free for all", if those truly „fittest" are to survive. In short ... the ideal of a Super-Society, in which all men are free, and those born with heroic and great gifts or characters must inevitably rise to eminence, through their sheer value to mankind."

Auch dies befindet sich in völliger Übereinstimmung mit Menckens Interpretation, einschließlich der Forderung nach unlimitierter sozialer Mobilität des natürlich begabten Leistungsadels unter den gesellschaftlichen Rängen. Zuletzt gibt es noch einen Punkt der Übereinstimmung zwischen Eastman und Mencken, der bei dem Nietzscheaner Randolph Bourne eine große Rolle spielen sollte. Mencken interessierte sich für Nietzsches Konzeption eines die Vitalität einer Kultur regulierenden Ausgleichssystems, bei dem stabilisierende und erneuernde oder auflösende Elemente sich die Waage halten, um der Kultur einen dauernden Selbstrejuvinierungsprozeß durch das Zusammenspiel von Beständigkeit und Flexibilität zu ermöglichen. Mencken teilte die Kultur in apollinische (konservierende) und dionysische (auflösende) Gruppen ein, um die zwei Gewichte im kulturellen Balanceakt zu kennzeichnen. Eastman sprach nun von den „hyphenated Americans" (für Mencken eine dionysische Erscheinung) als neuer kultureller Komponente, die dem Nationalismus entgegenwirken und das „einheimische" Fundament revitalisieren könnte:

50 51

Ibid., S. 140. Ibid., S. 65f.

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It might be hoped that in America, where so many old-world nationalisms h a v e b e e n imported, and observed to evaporate into the nothing that they are. w e should h a v e arrived at a more cultivated knowledge of ourselves.

And if there is, indeed, any

special praise due to America among the nations, it will lie in that.

Her hyphenated

citizens are the best thing she has; for they have been given a celebrated opportunity to b e c o m e men instead of Americans, intelligent instead o f patriotic. 5 2

Dieser Gedanke war bei Eastman noch nicht ausformuliert, war nur Keim - aber bei Bourne, wie man gleich sehen wird, ging der Samen zu voller Blüte auf. Man muß also bei näherer Betrachtung der geschichtlichen Lage feststellen, daß der erste Weltkrieg keineswegs das absolute Aus für die amerikanische Nietzsche-Rezeption bedeutete. Er mag womöglich ganz im Gegenteil bei den jungen amerikanischen Intellektuellen dieser Zeit, die größtenteils den Eintritt Amerikas in den Krieg verhindern wollten, eine noch tiefere Auseinandersetzung mit Nietzsche begünstigt haben - als Trotzreaktion. Und dennoch: Dies war immerhin die letzte Generation amerikanischer Intellektueller vor den 60er Jahren, die im Zuge ihrer essayistischen Tätigkeit Antworten auf spezifisch amerikanische Fragen in Nietzsches Denken suchte. Mit der zunehmenden Radikalisierung der intellektuellen Linken der späten 20er Jahre verlor Nietzsche an ideologischer Salonfähigkeit, während die Rechte sich immer dringlicher auf die verheerenden wirtschaftlichen Probleme des Landes konzentrierte. Damit wurde Nietzsche später aber auch gleichzeitig immer mehr zum Gegenstand wissenschaftlicher oder zumindest streng akademischer Untersuchungen. Während der Kriegsjahre selbst und unmittelbar danach gab es jedenfalls genug Widerstand gegen die Gleichsetzung von Nietzsches Philosophie mit kriegstreibender Propaganda und realer Machtpolitik, um davon zu überzeugen, daß diese abnehmende essayistische Auseinandersetzung auf anderen Ursachen als nur dem Krieg beruhte. Welche Gestalt diese weitere Beschäftigung mit Nietzsche annahm, gilt es jetzt zu klären.

III.2 „Literary Radicals" Die Jahre während und unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg bildeten eine Blütezeit in der Geschichte der essayistischen Nietzsche-Rezeption in Amerika. Erst nach der „Neuentdeckung" Nietzsches in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts prüften Gesellschaftskritiker wieder ernsthaft die Anwendbarkeit der Nietzscheschen Philosophie auf Fragen des nationalen Interesses. Auch in dieser größten essayistischen Phase der Rezeption bis 1950 blieb die bis jetzt alles beherrschende Polarität erhalten. Zwei Gruppen dominierten die Diskussion: die alle Tradition in Frage stellenden, aber neue nationale Führungsideale suchenden „literary

52

Ibid., S. 34.

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radicals" auf der einen Seite, und die alle überlieferten Normen wahrenden, aber pessimistisch denkenden „new humanists" auf der anderen. Und wie zuvor im Falle der Sozialisten und Sozialdarwinisten etwa stritten beide Parteien gegeneinander mit Nietzsche als Waffe fest im Griff. Zunächst einmal zu den jungen Umwertern: Der Begriff literary radical kommt einer akkuraten Beschreibung des programmatischen Anliegens dieser Generation junger, um die Jahrhundertwende geborener Intellektueller nur ungenügend nah. Sie spotten einer genaueren Zuordnung mit den handelsüblichen politischen Emblemen. Die grundsätzliche Haltung der Radikalität war in der Tat das allen gemeinsame Prinzip. Gibt man die Suche nach politischen Prädikaten, die diese kleine und lose gebundene „Schule" bezeichnen könnten, trotzdem nicht auf, so wird evident, daß sie in vielen Punkten Liberalisten waren: Sie faßten das Leitideal der möglichst großen Freiheit des Individuums als Loslösung von überkommenen Dogmen und Institutionen auf, forderten den freien Wettbewerb und den ihn bedingenden Minimalismus in der Regulierung der Gesellschaft durch den Staat. Sie waren eher dezentralistisch gesinnt und gaben dem Individualismus den Vorrang gegenüber dem Kollektivismus. Den Sozialismus und Anarchismus lehnten sie größtenteils (aber nicht ohne jegliche Sympathie) ab, aber sie erkannten beide dennoch als wahrscheinlich notwendige Übergangsreaktionen auf die rigide und einengende Struktur der im 19. Jahrhundert verfestigten amerikanischen Gesellschaft. Den Kampf gegen den Tradtionalismus sahen sie als wichtigsten Schritt ihrer politischen Ziehväter an, behaupteten aber gleichzeitig, daß die neugewonnene individualistische Freiheit noch kein brauchbares Surrogat für das im Zuge der kulturkritischen Revolution verlorengegangene Führungsprinzip hervorgebracht habe. Es ging ihnen allen um die Überführung der neuen, uneingeschränkten geistigen Libertät in eine flexible neue Strukturalität. Nietzsche zogen sie bei der Kritik der Tradition sowie der neuen Freiheit heran; und in seinem Denken suchten sie zudem Hinweise auf mögliche Konstitutionsmomente einer neuen Ordnung. Gewiß überschätzten sie die Wichtigkeit ihrer Sorgen um das- nationale Wohl, denn die von ihnen als unentbehrlich aber gefährlich betrachtete Freiheit beschrieb eine ideelle Komplikation, welche erst in der Muße der Reflexion eines Berufsdenkers Konturen und Inhalt gewann. Das von ihnen identifizierte Problem fiel der Mehrheit im Lande bestimmt noch nicht einmal als theoretische Irritation auf. Auch maßen sie die amerikanische Situation fast immer an einem idealisierten Europa-Bild, das sie als Vorbild einer (dort auch nicht existenten) Einheit von Theorie und Praxis im Leben hochhielten. Ihre eigenen Überlegungen zur Abhilfe der amerikanischen Misere des Auseinanderklaffens von Gedanke und Handlung nahmen sie dafür umso ernster. Die vorliegende Diskussion der literary radicals hebt mit der faszinierendsten aller der hier zu behandelnden vier Figuren an: Randolph Silliman Bourne. Bournes Denken soll dann, sobald es skizziert worden ist, dem Leser die Koordinaten aufzeigen, welche die geistige Lokalisierung der anderen drei - Van Wyck

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Brooks, Walter Lippman, Will Durant - ermöglichen. Dabei ist nie aus den Augen zu verlieren, daß ein stummer Partner, gewissermaßen als Drahtzieher, diese national-diagnostische Applikation der Nietzscheschen Philosophie durch die jungen Radikalen im Hintergrund mitsteuerte: H.L. Mencken. III.2.a Randolph Bourne (1886-1918) Der später als Literaturhistoriker bekannt gewordene Van Wyck Brooks beschrieb einst seinen Freund Randolph Bourne als „a philosopher of the gaya scienza, his hammer poised over the rock of American philistinism". Bournes Projekt, meinte Brooks, gelte der Genese einer „super-culture, that might perhaps, by some happy chance, determine the future of civilization itself". 53 Schon an Brooks' Einschätzung sieht man, daß Bournes Denken ganz im Zeichen Nietzsches stand, und daß dem jungen Bourne eine Karriere voller großer Pläne bevorstand. Diesen großen Plänen zum Trotz wurde Bournes Karriere tragischerweise jäh und unzeitig abgebrochen: Er starb 1918 an einer Lungenentzündung, im Alter von 32 Jahren. Bourne machte aber erstaunlich viel aus der Zeit, die ihm beschieden war. Er betrat seinen Weg sogar etwas später als viele andere, da erst ein ihm einige Jahre nach dem Schulabgang verliehenes Stipendium ein Studium an der Columbia University (damals ein Hort des „new thought" under der Ägis John Deweys u.a.) erschwinglich machte. Den Spätstart machte Bourne durch einen erstaunlichen Produktionseifer wett: Bis zu seinem frühen Tod schrieb er, neben seinen vielen Essays, Bücher über Themen von pädagogischer Theorie bis hin zur zeitgenössischen französischen Dichtung. Bournes Hauptbeschäftigung war als Journalist führender Zeitschriften junger amerikanischer Essayisten der Zeit: The Dial, The Seven Arts, The Atlantic Monthly und The New Republic. In den ca. 200 Essays, die Bourne für diese Zeitschriften schrieb, rang er immer von neuem mit dem Dilemma der Orientierungslosigkeit, die seiner Meinung nach aus der Moderne erwachsen sei. Wie Brooks schon andeutete, bemühte sich Bourne um die Rekonstruktion des Führungs- oder Ordnungsprinzips durch eine Neubestimmung der Idee der nationalen Kultur. Die überragende Einheit der nationalen Identität sollte aus dem durch die neue Immigrationswelle und den Verlust der alten Werte auseinandergebrochenen sozialen und kulturellen Gefüge eine neue Gemeinschaft bilden. Bourne gehörte aber zu keiner Zeit in irgendein nationalistisches Lager. Wiederholt stellte er sich gegen den nationalen Chauvinismus und Militarismus: „We begin to suspect that military service, flag-reverence, patriotic swagger", mahnte er, „are too much the weary and deep-dug channels into which national

Van Wyck Brooks, „Introduction", The History of a Literary Radical & Other Papers by Randolph Bourne (New York, 1956), S. 4f.

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feeling always runs and is lost". 54 Er veraeinte das nationale Gefühl nicht, kritisierte aber dessen Mißbrauch als Instrument einer expansiven Nationalmanie. Auch blieb Bourne zeitlebens Pazifist. Die bewaffnete Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geißelte er schon in den ersten Kriegstagen 1914 mit zelotischer Energie, und die Kriegslust der Nationen tat er in einer nietzscheschen An- und Abwandlung als Ausdruck des „herd-instinct ... something incredibly mean and plebeian" ab.55 Es ist auch kein Zufall, daß Boume die alliierte Beschuldigung von Nietzsches Denken scharf verurteilte,56 denn gerade das Kriegsjahr 1914 brachte Bournes Nietzsche-Beschäftigung zum ersten Höhepunkt ihrer Intensität. In seiner Korrespondenz finden sich die Hinweise darauf: Er schrieb, der Winter 1914/15 habe ihn zu „much reading of Nietzsche with a high ferver and sense of illumination" motiviert, bei der es ihm auch um „an interesting combat of Nietzsche and Christ and Americanism" gegangen sei.57 Bei diesen Scharmützeln zwischen Nietzsche, Christus und dem Amerikanismus preschte Bourne Stück für Stück zu seinem neuen nationalen Ideal vor. Um aber seine nietzschesche Vision nationaler Identität, die sich vor allem in den Kriegsjahren in Bournes Denken herauskristallisierte, in ihrer endgültigen Gestalt verstehen zu können, muß man weiter zurückschauen. Bournes erste Berührung mit Nietzsches Denken ist wahrscheinlich in der Studienzeit um 1910/11 anzusiedeln. Es war damals der Wille zur Macht, der ihn zunächst an Nietzsches Philosophie interessierte - nicht aber als Primat der äußeren Machtentfaltung. Bourne erkannte als einer der ersten nicht streng philosophischen Interpreten Nietzsches in Amerika, daß der Wille zur Macht ein deskriptives und kein präskriptives Konzept ist. Wille zur Macht sei in Nietzsches Gedankenwelt „only a realistic diagnosis of life". 58 Bourne warf beispielsweise einem anderen Interpreten vor, dieser habe mit seiner Nietzsche-Auslegung einen fatalen Fehler begangen: „confusing a diagnosis with an ethics. Nietzsche sees that the raw material of life is will-to-power. This is the beginning of his

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Randolph Bourne, „A Moral Equivalent for Universal Military Service", The History of a Literary Radical, ed. Van Wyck Brooks (New York, 1956), S. 189. Randolph Bourne, „A War Diary", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 236. „Nietzsche's thought needs interpreters to rescue it from the ignominy which has come upon it because of the war", schrieb Bourne, der sich zu diesen dringend „gebrauchten" Interpreten selbst zählte. („Denatured Nietzsche", The Dial. 63 [June 28-Dec. 20, 1917], S. 389.) Auch gegen die ausschließliche Beschuldigung Deutschlands opponierte Boume, für den allein der Krieg an sich der ewige Feind war: „The American intellectuals ... seem to have forgotten that the real enemy is war rather than imperial Germany". („The War and The Intellectuals", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 221.) Briefe vom 25. Juni 1915 an Elizabeth Sergeant sowie vom 16. März 1915 an Alyse Gregory. (Randolph Boume Papers. Zitiert bei Marvin Drimmer, Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 479.) Randolph Boume, „A Modem Mind", The Dial, 62 (March 8, 1917), S. 239.

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diagnosis of society, morality, culture". 59 Die auffällige Häufung des Begriffs Diagnose verrät wieder Bournes interpretatorischen Ansatz, der als ein im wesentlichen von H.L. Mencken ausgehender Impuls identifiziert wurde. Wille zur Macht, erkannte Bourne, ist bei Nietzsche konstitutiv für die Wirklichkeit in all ihren Erscheinungsformen. Den Willen zur Macht als metaphysischen Weltbegriff zu sehen, lernte Bourne allerdings nie, denn von Anfang an kreisten seine eigenen philosophischen Entwürfe um die Auslotung der Psyche, die im Dienst des Willens zur Macht stehe. Bourne gehörte also zu den ersten Entdeckern des Psychologen Nietzsche. Diese Philosophie nahm er als psychoanalytische Fibel zur Hand, mit der alles Handeln als Ausdruck des Machtstrebens demaskiert werden konnte. Menschliches Agieren müsse man immer als Mummenschanz des Machtwillens erkennen, denn: „the business of understanding life is very largely a matter of sensing the manifold ways in which people get their desire for power satisfied". 60 Die Theorien Freuds kannte Bourne zu dieser Zeit wahrscheinlich noch nicht aus erster Hand - Freud war damals außerdem weitgehend noch nicht übersetzt -, und so erkor er (vermutlich auch hier dem Menckenschen Vorbild folgend) Nietzsche zu seinem psychonanalytischen Lehrer. Das neuerworbene entlarvungspsychologische Instrumentarium wandte Bourne auf jeden Fall nach Menckenscher Manier bei der Untersuchung des puritanischen Erbes Amerikas an. Bourne kritisierte Mencken zwar, nannte seinen Stil übertrieben und seine editorischen Angriffe überzeichnet, aber jeder talentierte und ehrgeizige Lehrling sieht sich manchmal gezwungen, sich vom Meister durch Kritik zu lösen. Schließlich konnte auch Bourne nicht umhin zu vermerken, Mencken sei ein Kritiker, der sich rühmen könne, sich „from the clutches of his puritan enemies" befreit zu haben. Mencken, gestand Bourne, has all the raw materials of the good critic - moral freedom, a passion for ideas and for literary beauty, vigor and pungency of phrase, considerable reference and knowledge. 61 ·

Das Lob war gedämpft, aber respektvoll. Und es war fraglos Menckens Nietzschescher Antipuritanismus, an den Bourne mit seinem antipuritanischen Nietzscheanismus anknüpfte. Der Philosoph George Santayana hatte zwar der Diskussion einen wichtigen Begriff beigesteuert - die „genteel tradition"62 -, aber der Rädelsführer der Bewegung war und blieb H.L. Mencken. Bournes Projekt zeigt sich uns damit, wie das vieler anderer amerikanischer Nietzscheaner, ganz allgemein als eins der Befreiung. Sollte die amerikanische

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Randolph Bourne, „Denatured Nietzsche", op. cit., S. 390. Randolph Bourne, „A Modern Mind", op. cit., S. 239. Randolph Bourne, „H.L. Mencken", The Radical Will. Selected Writings 1911-1918, ed. Olaf Hansen (1977; Berkeley, 1992), S. 472. Vgl. vor allem die Schriften The Winds of Doctrine und The Genteel Tradition, in der Santayana den Widerstand der Amerikaner gegen eine naturalistische Ethik für das post-christliche Zeitalter kritisiert.

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Identität als Einheit wiederhergestellt werden, so müßte erst die Blockade des überlieferten puritanischen Widerstands gegen allen Wandel in Kultur und Moral gesprengt werden. Auf der Suche nach Repräsentanten dieses Widerstandes richtete Bourne seinen Blick hierbei z.B. auf den Typus des Priesters - nicht als Vertreter einer bestimmten kirchlichen Orthodoxie, sondern als Archetyp. Seine Kritik galt dem Typus des Priesters, „whose .will to power'" mit „Nietzschean fidelity" analysiert werden sollte. 63 Bourne identifizierte das puritanische Bewußtsein mit der lebensfeindlichen Moral des „asketischen Priesters" aus Jenseits von Gut und Böse und der Genealogie der Moral. Die lebensverneinende, selbstgeißelnde Ethik, die Boume und andere sich als die Grundhaltung der Puritaner vorstellten, gab ihnen das Rätsel eines sich scheinbar selbst vernichtenden Willens zur Macht auf. Dieses Rätsel formulierte Bourne in einem den vielsagenden Titel „The Puritan's Will to Power" tragenden Essay, worin es heißt: In the puritan, of course, we have the paradox of how he can get satisfaction from ruggedly and sternly rejecting himself and renouncing the world, the flesh and the devil.64 Die Lösung des Enigmas begegnet in Nietzsches Psychogramm des asketischen Priesters, in dem der existentielle Widerspruch dieser Lebensform als konsequentes Ergebnis der Seele'nlage des Ressentimentmenschen dargestellt wird: Es muss eine Necessität ersten Rangs sein, welche diese lebensfeindliche Species immer wieder wachsen und gedeihen macht, - es muss wohl ein Interesse des Lebens selbst sein, dass ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht austirbt. Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst. [...] wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden geniesst und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt. (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 11) Der asketische Priester personifiziert Nietzsche zufolge nicht die Überwindung des Willens zur Macht, sondern umgekehrt dessen furchtbarsten Ausdruck habgierig und rachsüchtig auf alles aufstrebende Leben. Genau diese Erkenntnis übernahm Bourne für seine Analyse, denn aus dem Nietzscheschen Blickwinkel betrachtet, entschleierte sich ihm das puritanische Phänomen als etwas nicht Hochmoralisches, sondern Herrschaftslüsternes, was infolgedessen die Funktion eines sittlichen Ideals nicht mehr beanspruchen durfte. Bourne erläuterte: There is a popular superstition that the puritan has an extra endowment of moral force. ... In the light of the will-to-power dogma, however, this superstition fades. The

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Randolph Boume, „Fergus", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 58. Randolph Bourne, „The Puritan's Will to Power", The Radical Will, op. cit., S. 302.

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puritan b e c o m e s just as much of a naturalistic p h e n o m e n o n as the most carnal sinner. Instincts and impulses, in the puritan, are not miraculously cancelled, but h a v e their full play.

The primitive currents of life are not blocked and burned back o n their

sources, but turned into powerful and usually devastating channels. 6 5

Zur weiteren Bedeutung dieses vitalistischen Fundamentes der „primitive currents" des Lebens für den Gesamtkomplex von Bournes Kritik, muß gleich noch Ausführlicheres gesagt werden. Zunächst einmal ist aber an Bournes Methode als der einer analytischen Umwertung festzuhalten. Die moderne abendländische Kultur, zumal die amerikanische, stand nach Bournes Ansicht am Scheideweg. Alle Normen wankten, mußten aber auch gründlich untersucht werden, bevor sie der Beibehaltung würdig oder unwürdig befunden werden konnten. Diese Vorarbeit sollte es aber dann dem Kritiker als praktizierendem Umwerter erlauben, ein geräumtes kulturelles Umfeld für die neu zu errichtende Ordnung abzustecken. Bourne gedachte nicht, diese Arbeit alleine anzugehen. Seine ganze Generation, der allein er das Potential für eine solche monolithische Neuwertung der Moral attestierte, rief er dazu auf, den Standpunkt des „Unzufriedenen", des „malcontent" einzunehmen. Dieser Begriff des malcontent verdient Erwähnung, weil Bourne die Haltung der malcontentedness als „the intellectual ,war and laughter' that we find Nietzsche calling us to" definierte und sich davon versprach, daß „a more sceptical, malicious, desperate, ironical mood may actually be the sign of more vivid and more stirring life fermenting in America to-day". 66 Der malcontent ist im wesentlichen ein Nietzschescher Skeptiker und vielleicht auch ein „freier Geist", denn er zeichnet sich durch „a taste for spiritual adventure, and for sinister imaginative excursions", durch die Vorliebe für das „gefährliche Leben" also, aus.67 Die freigeistige Aufgabe solcher Individuen bestehe darin, „to get rid of old mystical notions that clog our thinking" ,68 Zu den mystischen Schlacken, welche die Denkkanäle des nationalen Geistes „verstopften", gehörte wesentlich für Bourne das Christentum, das bei ihm immer wieder in der charakteristisch amerikanischen Gestalt des Puritanismus aufschien. Das Verfahren der Nietzscheschen Historisierung und Relativierung - und gleichsam auch Diskreditierung - der bisherigen moralischen Werte praktizierte Bourne ungezählte Male, um die verkrusteten Strukturen der amerikanischen Kultur freizulegen und als das zu benennen, was sie seiner Meinung nach waren: bloße Artefakte, die nur aus Aberglauben und Unkenntnis noch in Ehren gehalten wurden. Seine Analyse der christlichen Wertedominanz offenbart sich - obwohl Nietzsche oft nicht genannt wird - an verschiedenen Stellen als de facto Plagiat

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Ibid., S. 302. Randolph Bourne, „Twilight of Idols", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 259. Ibid., S. 257. Randolph Bourne, „The War and the Intellectuals", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 208.

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der in der Genealogie der Moral entfalteten Entblößung der christlichen Umkehrung der Werte zugunsten einer Moral der „Schlechtweggekommenen": The entire Christian scheme is a clever but unsuccessful attempt to cure the evils of inequality by transposing the values. The slave serves gladly instead of servilely. That is, he turns his master into a slave.

Die „Klugheit" dieser christlichen Moral, das angebliche „Übel der Ungleichheit", die „Umwertung" („transposing" lehnt an die sonst übliche Übersetzung „transvalue" an) der Werte - alles das stammt hier aus dem begrifflichen Quell des Nietzscheschen Vokabulars. Das bereits vorhandene Modell versah Bourne aber mit einem neuen Schnörkel, indem er die christliche Gleichmacherei als Antipoden des wahren demokratischen Ideals auslegte: To pull down the mighty from their seats and exalt them of low degree is the highest pitch to which Christian ethics ever attained. The failure of the older generation to recognize a higher ethic, the ethic of democracy, is the cause of all the trouble. 69

Das scheint schizophren: Bourne glaubte überzeugt an die Demokratie, eine an sich inklusive Gesellschaftsform, während er eine exklusive Haltung, die des Aristokraten, offen an den Tag legte. Die beiden Standpunkte vereinte er miteinander im extremen Liberalismus, den er von Mencken übernahm. An der Inklusivität lag ihm, weil er stets an die Immigranten aus fremden Kulturkreisen dachte, die in die neue amerikanische Identität inkorporiert werden mußten. Um diese eingliedern zu können, müßte das Schlangennest des puritanischen Widerstandes, den Boume abermals wie Mencken mit Amerikas angelsächischer Tradition gleichsetzte, mittels der malcontenten Kritik ein für allemal ausgehoben werden. Bourne bezog seine intimen Kenntnisse dieser anglo-amerikanischen genteel tradition aus der eigenen Biographie: Er selbst entstammte einer solchen vornehmen alten Famile der landbesitzenden Klassen von Neuengland, wenngleich sein Familienzweig nicht mehr besonders große finanzielle Früchte trug. Bournes Absage an diese Tradition hatte allerdings auch tiefe theoretische Wurzeln und ist nicht als bloße Aufsässigkeit gegen das eigene Elternhaus einzustufen, obschon dies gewiß ein relativ wichtiger Faktor seiner Rebellion war. Der amerikanische Puritanismus bedeutete für ihn ein klar umrissenes soziales Problem. Sprach Bourne von einer Verschlackung des amerikanischen Geistes, so war er bereits bei der Feststellung der Diagnose von der Ursache der Krankheit überzeugt. Die schlechten Lebensgewohnheiten der puritanischen Askese hätten zugleich zu einer Gefäßverkalkung der Seele Amerikas geführt, zur Versteinerung seines Geistes, dem es nach Meinung Bournes an einer gesunden Physis gebrach. Bei der Obduktion des Puritaners fand Bourne schwarzgalligen Schlick anstelle roten Blutes in dessen Adern vor - die „primitive currents", die Lebensquellen der

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Randolph Bourne, „This Older Generation", The History of a Literary Radical, op. cit., S. 302f.

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Affekte, seien versiegt. Das Triebleben hielt er dementsprechend für lebensnotwendig und protestierte gerade deswegen gegen die Unterdrückung der Triebe durch das angelsächsisch-puritanische Bewußtsein. „Anglo-saxon civilization seems", urteilte er, to have been slowly starved to some of the emotional values which Europe has conserved, to both its w o e and glory. ... W e are spiritually a n s m i c , but it is not b e c a u s e w e are y o u n g , but because w e have cut ourselves off from certain nourishments w h i c h , primitive though the materials may be, the finer souls of Europe have k n o w n h o w to refine and enjoy. 7 0

Es galt Bourne, das primitive Material der Gefühlswerte als Quelle der Vitalität zu rehabilitieren (dies eine Anknüpfung an die sozialistisch-anarchistische Auslegung Nietzsches). Von Nietzsche bekam er den Hinweis auf die Rolle des Puritanismus in dieser neuen Aufwertung der Affekte, denn: „The pagan, liberating, audacious message of Nietzsche touches the old puritan ideals at the quick" .7I Bourne dachte dabei aber nicht an die zügellose Lossagung von allen rationalen Kontrollinstanzen. Vor dem ungesteuerten Ausleben der Primärimpulse warnte er eindringlich: „impulses, which are yours just because you are an animal, soon become your masters, and further tie your hands in your response to the bewildering world into which you have come". 72 Genau diese Knechtschaft der Affekte lehnte Bourne zusammen mit Nietzsche als vollends unpassende Lebensweise für höhere Menschen entschieden ab. Dieser Punkt seiner Nietzsche-Interpretation wäre auch kaum der Rede wert, wenn er wie die Sensualisten und „neuen Heiden" lediglich die irrationalistische Hingabe an alle Gelüste propagiert hätte. Besondere Aufmerksamkeit muß hier vor allem der Vokabel „refine" in der längeren oben zitierten Passage geschenkt werden. Mit refine meinte Boume das von Nietzsche beschriebene Phänomen der Sublimierung, das er unter den ersten amerikanischen Interpreten als ein Schlüsselkonzept in Nietzsches Denken erkannte. Für Nietzsche ist es die Sublimierung der Triebe, welche in „schlechtweggekommenen" Naturen den Machtwillen in den Lebenshaß des asketischen Priesters umbiegt und den „aufsteigenden", lebensbejahenden Naturen es andererseits ermöglicht, das Chaos der eigenen inneren Kräfte zu organisieren und zu gebrauchen, ohne von ihnen vernichtet zu werden. Ein höherer Mensch wolle den Leib mit seinen animalischen Energien nicht kasteien, um ihn beherrschen zu können, sondern ihn zu höheren Zwecken veredeln. Deswegen ist für Nietzsche diese Prozedur eine grosse und seltene Kunst! Sie übt der, welcher alles übersieht, was seine Natur an Kräften und S c h w ä c h e n bietet, und e s dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis

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Randolph Boume, „Theodore Dreiser", The Radical Will, op. cit., S. 458f. Randolph Boume, „Denatured Nietzsche", op. cit., S. 390. Randolph Boume, „Old Tyrannies", The Radical Will, op. cit., S. 171.

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ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: - beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen Hess, versteckt, dort ist es in's Erhabene umgedeutet. (FW 290)

Diese zweite Natur sei eine immanente „Vernunft" des Leibes, eine höhere, weil unabhängiger machende (sie befreie z.B. von dieser drohenden Knechtschaft der Affekte) Willenspunktation des für alles Sein konstitutiven Willens zur Macht, welche die niederen Emanationen des Willens überwinde. Der eine Wille kann nur dann den einen Willen überwinden, wenn es Abstufungen dieses Willens gibt. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß Bourne die Komplexität der Bedeutung dieses Begriffs erfaßte. Er beschrieb das Leben und die Höherentwicklung des Lebens innerhalb eines unverkennbar Nietzscheschen Paradigmas: We see life ... as an incalculable and importune stream of desire, which rises in the adult to a will-to-power. The problem of the soul becomes the direction of this desire and energy into creative channels, not its supression or even control by that reason which is so often a mere disguise of another and more acceptable desire. 73

Auch die Vernunft stellte sich Bourne als die von der Moral auferlegte Maske einer weiteren Erscheinungsform des Willens dar. Er folgte damit Nietzsches Rückführung allen Seins auf den Urgrund des Willens zur Macht, der nur scheinbar in verschiedener Gestalt auftritt. Noch wichtiger war dann der Sprung, den Bourne tat, indem er das Modell des Willenshaushaltes der zwei Naturen im Individuum auf die Gemeinschaft ausdehnte. Wir kommen hiermit Bournes nationaler Idee noch entschieden näher. Bourne verglich schließlich die gesamte Kultur mit diesem selbstregulierenden, sich durch die Sublimierung erhöhenden geistigen Metabolismus des Einzelnen, um seine psychologischen Einsichten für die Aufgabe der nationalen seelischen Erneuerung verwerten zu können. So kam es, daß er begann, vom „nationalen Geist" als einer stets neu zu stabilisierenden Harmonie kultureller Kräfte zu sprechen. Diese diversen Kräfte manifestierten sich in der durch die Sittlichkeit gesicherten Beständigkeit der Tradition einerseits und in dem diesen Bestand immer aufbrechenden Erneuerungswillen andererseits. Dem amerikanischen Bewußtsein, meinte er, gebreche es an just dieser Kenntnis von der Existenz des nationalen Geistes. „Most American comment", schrieb er, „suggests a complete ignorance of the fact that there is a German mind, and a French mind and an English mind, each a whole bundle of attitudes and interpretations that harmonize and support each other". 74 Man merkt, daß Bourne häufig auf europäische Beispiele als positiven Kontrast zum amerikanischen Zustand des sich selbst entfremdeten nationalen Bewußtseins verwies. Die Wichtigkeit dieser europäi-

73 74

Randolph Bourne, „Paul Elmer More", The Radical Will, op. cit., S. 470. Randolph Boume, „Emerald Lake", The Radical Will, op. cit., S. 272.

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sehen Gegenbilder hing auch wesentlich mit Bournes Nietzsche-Verständnis zusammen, da er zur Formulierung seines Desiderats aus Nietzsches Vision europäischer Vergangenheit und Zukunft schöpfte. Anfang und Höhepunkt der europäischen Geschichte fließen für Nietzsche in der Kultur des hellenistischen Griechenland zusammen, das seine Größe nicht als „reingehaltene" Rasse erlangt, sondern seine Kraft aus dem ständigen Zustrom fremder, gar barbarischer Elemente gewonnen hat, welche die Errichtung einer Hochkultur auf dem vorhandenen griechischen Fundament erst denkbar machten. Der Genius der Griechen besteht für Nietzsche in ihrer Offenheit gegenüber dem Wandel und der Zufuhr des Neuen. Das Griechentum figuriert in seiner Kulturkritik als Symbol der Möglichkeit einer kulturellen Sublimierung par excellence. Nur die ständige Aufnahme und Einverleibung fremder Einflüsse im Prozeß der immer neu zu bestimmenden Balance von erhaltenden und auflösenden Kräften setze jene beherrschte Energie frei, welche im Gemeinwesen das aufsteigende Leben und die vornehme Moral als die maßgebenden Werte instituiere. Nietzsches Griechentum ist unter diesem Punkt allein nicht zu erfassen, aber die griechische Kultur ist ihm unter anderem die Allegorie einer verfeinerten und zugleich auch lebenstüchtigen Kultur per se. Das gefahrvolle, aber profunde Wagnis der Griechen, einer solchen in der Schwebe hängenden Kultur zu leben, beschreibt er in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, wo der Vergleich zwischen der Drohung der historischen Bildung für die deutsche Kultur und dem „gefahrlichen Leben" der Hellenen gezogen wird: Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangene, an der „Historie" zu Grunde zu gehen. Niemals haben sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre „Bildung" war vielmehr lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen aegyptischen Formen und Begriffen und ihre Religion ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients: ähnlich etwa wie jetzt die „deutsche Bildung" und Religion ein in sich kämpfendes Chaos des gesammten Auslandes, der gesammten Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die· hellenische Cultur kein Aggregat, Dank jenem apollinischen Spruche [des „Erkenne dich selbst!"]. Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben liessen. [...] [S]ie wurden selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker. Dies ist ein Gleichniss für jeden Einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisiren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt. (HL 10)

Ein höherer Mensch oder ein Volk höherer Menschen müsse der immanenten, lebenserhaltenden Weisheit teilhaftig werden, die eine stringente Auswahl aus dem Chaos der inneren Triebe und Ideen leite. Aber erst der Reichtum der zur Wahl vorhandenen Seinsmöglichkeiten ermögliche eine Zusammenstellung „ächter Bedürfnisse", welche ein Leben über dem Durchschnitt ausmache. Wer vor dem

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aussortierenden Prozeß der Sublimierung an Perspektiven arm ist, wird auch danach in der neuen Schlichtheit arm sein. Schon Mencken beschrieb mit seiner Auslegung des apollinisch-dionysischen Dualismus die Selbsterhaltungsmechanik der Kultur bei Nietzsche. Das Fundament der Kultur, welches die bloße Dauer der Existenz - die selbstverständliche Voraussetzung der Höherentwicklung - gewährleiste, ruhe auf den Schultern „gleichartige[r], charaktervolle^] Individuen", die die Tradition und Sittlichkeit der Kultur wahren. Haben diese Stützen der Gesellschaft aber die Allmacht über die Verfügung der Werte inne, dann drohe der kulturellen Genese eine tödliche Erstarrung in Form der „allmählich durch Vererbung gesteigerte[n] Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt". Um nicht nur leben, sondern auch gedeihen zu können, müsse die Kultur das fragile Gleichgewicht zwischen geistiger Inertie und deren Antipoden halten, der sich meist in neuen, fremden Einflüssen manifestiere, welche von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde beibringen]. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inoculirt\ seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. [...] Ein Volk, das irgenwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. (MA 224)

Dieses Nietzschesche Modell griechischer Inkorporation und Verwertung von fremden Auflösungskräften kehrte bei Boume als eine dem amerikanischen Kontext angepaßte Analogie wieder. Das „stabile Element", das sei die genteel tradition des puritanischen Erbes. Die „Infection des Neuen", das seien die Millionen europäischer Einwanderer, die seit Mitte des 19. Jahuhunderts das Gesicht Amerikas zusehend transformierten. Die Immigranten sah Bourne als neues, kräftigeres und farbenfroheres Material an, welches in das nationale Gewebe aufgenommen werden sollte, um den grauen Stoff der genteel traditon mit bunteren Tönen aufzufrischen. Bourne war von der elementaren Kraft dieser für ihn sehr unpuritanischen Völker, die er persönlich nur aus der Ferne kannte, fasziniert und ließ sich hinreißen von der schaurigen Vorstellung ihrer wilden Leidenschaften, von den „anger or lasciviousness or murder which life elementally seemed to demand of them". 75 Mit dem Gestus einer vielleicht nur aus rhetorischem Kalkül vorgespiegelten Naivität idealisierte Bourne diese ost-, west- und südeuropäischen Völker als edele Wilde. Die Trennung von Geist und Tat sei bei ihnen noch nicht eingetreten. „Such people", meinte er z.B. in Hinsicht auf italienische Einwanderer, „do not fool and fritter away their passions, but get them somehow conserved for life.

Randolph Boume, „Emerald Lake", op. cit., S. 272.

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[They] ... represent the injection of sudden vitality into our puritan town". 76 Nietzsches „inoculiren" wurde in Bournes Sprache zur „injection", zur Aufbauspritze für die nationale Gesundheit. Er fürchtete lediglich, daß sich die körpereigene Abwehrkraft der puritanischen Natur als resistent gegen das transplantierte Herz der neuen Bevölkerungsgruppen erweisen könnte. Es dürfe nicht hingenommen werden, daß diese noch unschuldigen Neuankömmlinge vom puritanischen Gewissen unterjocht würden: It is just this English-American conservatism that has been our chief obstacle to social advance. We have needed the new peoples - the order of the German and Scandinavian, the turbulence of the Slav and the Hun - to save us from our own stagnation. [The immigrant] ... is raw material to be educated, not into a N e w Englander, but into a socialized American. 7 7

Boume legte Wert darauf, daß die kulturellen Hintergründe der neuen Amerikaner sich in der Hitze des Schmelztiegels nicht verflüchtigen durften. Das Ziel der Integration neuer Völker könne seiner Meinung nach nicht darin bestehen, daß „these distinctive qualities [of immigrant cultures] should be washed out into a tasteless, colorless fluid of uniformity". 78 Eine solche Ausbleichung fremder Bräuche und Sitten würde das Projekt der durch Sublimierung erneuerten nationalen Idee vielmehr hintertreiben. Gleichzeitig hielt er aber durchaus an dieser Idee einer in ihrer Vielfalt dennoch einheitlichen, inklusiven nationalen Identität fest, und riet emphatisch von der Zulassung einer bloßen „federation of cultures" in Amerika ab, da diese die Bildung einer „distinctively American culture" 79 vereiteln könnte, wenn die Integration nicht als bewußtes Ideal angestrebt werde. Der durch die gemeinsame Identität gestiftete Zusammenhalt der Gemeinschaft ist die rettende Stärke und Gesundheit des „irgendwo angebröckelt[en]" Volks, welche die „Infection des Neuen [...] zum Vortheil" der Kultur machen kann. Bournes ideale Nation war eine zusammengeschlossene Gemeinschaft „representing the Cooperation and similar feeling of men on all sorts of planes and in all sorts of human interests and enterprises". 80 Als Kritik an der möglichen Unterminierung der nationalen Idee ermahnte er die neuen „ethnic groups", ihr zweites Leben in der neuen Welt nicht einfach als Fortsetzung ihres alten Daseins zu betrachten, „almost as cultural colonies in the New World, clinging tenaciously to language and historical tradition." 81 Er hoffte, daß aufgrund der geglückten Eingliederung in eine sich verwandelnde amerikanische Nation die europäischen Völker ihre alten nationalistischen Tendenzen ablegen könnten, um dem einvernehmlichen Zusammenleben in Amerika nicht zu schaden.

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Ibid., S. 272. Randolph Bourne, „Transnational America", The Radical Will, op. cit., S. 250. Ibid., S. 253f. Ibid., S. 256. Randolph Bourne, „The State", The Radical Will, op. cit.. S. 366. Ibid., S. 366.

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Diese große Idee der neuen Identität nannte Bourne nun „transnational America" , was soviel heißt wie eben eine moderne, pluralistische Gesellschaftsform, die stetig evolviert und zum Behufe dieses Prozesses des sich konstant fortsetzenden Wandels immer neue Elemente in sich aufnimmt, um daraus etwas Eigenes und Einheimisches zu gestalten. Die Frage nach nationaler Identität in einem pluralistichen Einwanderungsland ist vielleicht die amerikanische Frage schlechthin, aber Bourne leistete einen wichtigen neuen Beitrag zu dieser Diskussion, indem er die Zufuhr fremden Kulturguts als Chance nationaler Bereicherung hinstellte und nicht als Hindernis. Gleichzeitig war er sich der Pflicht der neuen Bürger, sich einem gewissen nationalen Interesse zu beugen, immer bewußt. Daß Nietzsches Griechentum für die Konzeption dieser Idee einen wichtigen Wesenszug lieferte, wurde schon erwähnt, aber jetzt muß auch evident gemacht werden, daß auch Nietzsches europäische Zukunfts\ision - das „gute Europäertum" - dem Ideal Bournes den letzten Schliff gab. Eine kulturelle Einheit ohne nationale Ressentiments malt sich Nietzsche im Bild des kommenden Europäertums, einer neuen kulturellen Legierung der modernen Industriegesellschaften aus: Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss [...] hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten. (MA 475)

Bourne griff Nietzsches kulturelles Desiderat auf, um sie alsdann zu expandieren, so daß es bei ihm als kosmopolitisches Ideal einer Gemeinschaft von Weltbürgern erschien. Das kosmopolitische als Gegensatz zum europäischen Element betonte er bewußt, denn bis zur letzendlichen Klärung der eigenen Gedanken über die neue Form der Nation in seinen letzten Essays hatte er seinen für diese Generation typischen Eurozentrismus aufgegeben. Den europäischen Nationalismus hielt er vor dem Hintergrund des Weltkrieges für zu eingefleischt, als daß dieser Chauvinismus einer neuen Verbrüderung der Nationen weichen würde. Nur auf neutralem, also amerikanischem Boden sah er eine solche Transnationalität nun entstehen: In an Austria-Hungary or a Prussia the stronger ... cultures would be moving almost instinctively to subjugate the weaker. But in America those wills-to-power are turned in a different direction into learning how to live together. ... Only America ... can lead in this cosmopolitan enterprise. Only the American ... has the chance to become that citizen of the world.

America is coming to be, not a nationality, but a trans-

nationality. 82

*2

Randolph Bourne, „Transnational America", op. cit., S. 2 6 1 .

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Inwiefern den Orientierungsproblemen der Moderne in Amerika durch die neue Transnationalität abgeholfen werden sollte, bleibt zuletzt noch dunkel. Bournes Arbeit ist ein Rumpf, ein unvollendetes Werk, das durch den Tod des Autors vorzeitig beendet wurde. Die durch die Überwindung der puritanischen Lebensverneinung ermöglichte Transnationalität sollte erst der Nährboden sein, der die neuen amerikanischen Werte hervorbringen würde. Vielleicht wäre Boume aber auch mit seiner Suche bei Nietzsche nicht weitergekommen, denn die Verkündung bestimmter, ausdrücklicher neuer Werte ist nicht Sache des Nietzscheschen Denkens. Das Ja-Sagen ist die die Umwertung bedingende Haltung, aber kein mit spezifizifierten Inhalten gefüllter Verhaltenskodex. Was aus den guten Europäern werden sollte, kann Nietzsche auch nicht sagen, denn der Urgrund, der Wille zur Macht, und nicht irgendein Ideal, bestimmt für ihn den Lauf der Geschichte. Aber Bournes Interpretation weist ohnehin manchmal Einseitigkeit auf. Mit den weiteren durch seine Lesart der Philosophie Nietzsches aufgeworfenen Problemen - z.B. Rangordnung der Individuen und Antidemokratismus gegenüber der egalitären Inklusivität der transnationalen Demokratie, um nur eins davon zu nennen - setzte er sich gar nicht auseinander. Man muß aber gelten lassen, daß es Bourne, wie fast allen anderen, die hier zur Sprache gekommen sind, nicht um wissenschaftliche Interpretation zu tun war. Er las Nietzsche, um das aus seinem Werk herauszuholen, was für ihn brauchbar war. Wie Mencken nutzte er Nietzsche als kritische Meßlatte, die bei der Bestandsaufnahme der nationalen Lage angelegt werden sollte. Aber seine Gedanken über den Willen zur Macht und das Prinzip der Sublimierung weisen Bourne schon als scharfsinnigen Nietzsche-Leser aus, denn vielen anderen war er mit seinen Einsichten in diese Themen weit voraus. Wo standen im Vergleich zu Bourne die anderen literary radicals aber? III.2.b Van Wyck Brooks (1886-1963) Die kulturphilosophischen Entwürfe Randolph Bournes kannte der junge Literaturkritiker Van Wyck Brooks 83 nur zu gut, da die beiden eine besonders enge persönliche und professionelle Freundschaft verband. Bourne verkehrte zwar nicht in Brooks' Harvarder Kreisen, aber den traditionsreichen Familienstammbaum sowie die Begeisterung für die Suche nach dem wahrhaft eigentümlichen Wesen der amerikanischen Kultur hatten sie gemein. Besonders der Krieg erfüllte sie zudem mit einem gemeinsamen Sendungsbewußtsein und dem Gefühl eines dringenden Bedürfnisses nach einer neuen amerikanischen Identität. Während der Kriegsjahre, erinnerte sich Brooks,

"

Brooks ist heutzutage hauptsächlich w e g e n seiner fünfbändigen amerikanischen Literaturgeschichte Makers bekannt.

and Finders:

A History

of the Writer

in America,

1800-1915

( N e w Y o r k . 1950-1955)

D i e Studie gilt als Brooks' Versuch, die literarische Tradition Amerikas für die junge

Generation wieder zu aktualisieren.

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we talked and corresponded on the questions of bringing writers together, all the more vital in the engulfing blackness of the war. Randolph was obsessed with a sense that we were all „aliens". ... Bourne himself was the perfect type of the „clerc" of Julien Benda, the dedicated „enlightened man", the true-blue intellectual. 84

Sehr wahrscheinlich ist, daß es auch Bourne war, der Brooks an Nietzsche heranführte. Feststeht, daß Brooks von seinem Freund die Anregung zur ersten Freud-Lektüre bekam, was unter anderem deswegen interessant ist, weil Freud eine nicht so wesentliche Rolle im Denken Bournes spielte, dafür aber eine umso größere im Weltbild Brooks'.85 Beide publizierten auch in denselben Zeitschriften, vor allem The Seven Arts und The New Republic, und entwickelten ihre individuellen Ideen oft im Miteinander des Gesprächs weiter. Brooks vertrat z.B. fast noch überzeugter als Bourne die These, daß die puritanische Hinterlassenschaft seines Landes in Moral und Philosophie die beständige, alles bestimmende Unterströmung im amerikanischen Geist sei. Den Puritanismus verabsolutierte Brooks geradezu, so daß sein Antipuritanismus in der Feststellung gipfelte: „the Puritan Theocracy is the all-influential fact in the history of the American mind" ,86 Auch Bournes Sorge um die Konfusion der Werte unter jungen Amerikanern fand eine Entsprechung in Brooks Beschwerden über die „innere Anarchie" seiner Generation. „We of the younger generation", klagte er, are all but incapable of coordinating ourselves in a free world ... acutely conscious of their spiritual unemployment and impoverishment in will and impulse, the more sensitive minds of the younger generation drift almost inevitably into a state of internal anarchism. 87

Nietzsches Wirken im Denken Brooks' nachzuzeichnen, ist allerdings diffiziler und spekulativer als im Falle Bournes, denn Brooks tendierte dazu, die auf ihn Eindruck machenden Einflüsse meist ungenannt zu lassen. Man ist also auf das Vergleichsverfahren angewiesen. Die dabei sichtbar werdenden Parallelen zwingen aber zu der Annahme, daß Brooks bei der Formulierung seiner Thesen über Krankheit und Heilung der amerikanischen Seele sehr oft Nietzschesche Gedanken im Hinterkopf hatte. Wie Bourne kam Brooks schon als junger Mensch zu dem Schluß, daß das geistige Derangement Amerikas eine Entwirrung nur in einer neuen nationalen Identität finden könnte. Im Gegensatz zum offenbar eher analytischen Bourne jedoch erfaßte Brooks die Welt in ästhetischen Begriffen - ein Literat stand hier einem Philosophen gegenüber. Nationalität definierte Brooks z.B. nicht staats-

M

85 86

Van Wyck Brooks, Days of the Phoenix. The Nineteen-Twenties I Remember (New York, 1957), S. 30f. Vgl. James R. Vitelli, Van Wyck Brooks (New York, 1969), S. 37ff. Van Wyck Brooks, „America's Coming of Age" (1915), Three Essays on America (New York, 1934), S. 18. Van Wyck Brooks, „Letters and Leadership" (1918), Three Essays on America, op. cit., S. 148f.

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oder kulturphilosophisch, sondern mythisch. .„National culture'", bedeutete ihm „everything admirably characteristic of a people ... which creates everywhere a kind of spiritual team-work, which radiates outward and articulates the entire living fabric of a race". 88 Brooks demonstrierte oft einen etwas irrationalistischen Zug in seiner Geisteshaltung: Die Nation „spricht" sich hier in den „Strahlungen" des „lebendigen Gewebes" ihrer „rassischen" Identität aus. Der Zweck sei nun, die Förderung dieser nationalen Eigenheit nach Kräften voranzutreiben, „to quicken and exhilarate the life of one's own people", wie übrigens seiner Meinung nach Heine und Nietzsche dies für Deutschland getan hätten: „as Heine and Nietzsche did in Germany." 89 Brooks sah Nietzsche in einer beispielhaften Rolle als autochthone nationale, wenngleich nicht nationalistische, Kraft der deutschen Kultur. Während Bourne manchmal fast handbuchreife, logisch präzise Bestimmungen des Nationalen festzulegen suchte, verstand Brooks darunter einen schillernden Genius: a special genius ... a special gift to contribute to the general stock o f civilization in a living, h o m o g e n e o u s entity, with its o w n faith and c o n s c i o u s n e s s of self - could any idea more perfectly than this express the dream, the necessity of Y o u n g America? 9 0

Merklich wich Brooks auch in einem weiteren Punkt von Bournes Position ab: Hier stand die Homogenität im Zentrum der nationalen Idee, während das Betätigungsfeld Bournes die Pluralität war. Noch wichtiger als dies alles ist aber Brooks' Replik auf das Problem der nationalen Orientierungslosigkeit und, wie zunächst zu zeigen ist, seine Art, das Problem überhaupt erst zu definieren. Das Unheil des puritanischen Dogmas, mit dem die amerikanische Kultur geschlagen sei, diagnostizierte Brooks weniger als die lebensfeindliche Selbstkasteiung der asketischen Ressentimentmoral denn als lebensferne Abgehobenheit der im puritanischen Dasein sich verselbständigenden vita contemplativa. Die amerikanische Intelligenz habe sich von Anbeginn der reinen Wesensschau als vollendeter Lebensform verschrieben und sich aus der Verantwortung zur Teilnahme am öffentlichen Leben gestohlen. Somit sei das geistige Potential des in Amerika notwendigerweise der vita activa lebenden Menschen ohne die intellektuelle Anregung der gebildeten Stände völlig verkümmert, während Lehrstand und Klerus zunehmend der Willensschwäche und Weltferne anheimfielen. Brooks beschrieb diesen gesellschaftlichen Notstand der „zwei Welten" als kulturellen Riß, der das amerikanische Leben durchziehe, und auf dessen einer Seite die „highbrows", also die hermetisch abgeschiedenen Intellektuellen, auf der anderen

" "

Van Wyck Brooks, „America's Coming of Age", op. cit., S. 84. Ibid., S. 105. Van Wyck Brooks, „Letters and Leadership", op. cit., S. 152f.

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die stumpfsinnigen Händler und Arbeiter, die „lowbrows" also, standen.91 „What side of American life", fragte Brooks, is not touched by this antithesis? ... o n the o n e hand, a quite u n c l o u d e d , quite u n h y p o critical a s s u m p t i o n o f transcendent theory („high ideals"), o n the other a simultaneous acceptance o f c a t c h p e n n y realities. ... b e t w e e n a c a d e m i c pedantry and p a v e m e n t s l a n g , there is n o c o m m u n i t y , no genial middle ground. 9 2

In der amerikanischen Universität sah Brooks diese „transzendente" Tradition institutionalisiert, was für ihn hieß, daß Amerikas Jugend durch die trockene Vergeistigung der puritanischen Nachfolgerschaft verdorben werde. Schließlich liege es, seiner Meinung nach, an den Intellektuellen, den gemeinsamen „Mittelgrund" mit dem aktiven Leben zu schaffen. Amerikas Potential werde also zur fortgesetzten Willenslähmung verurteilt durch „the Amerian university itself - a place [...] where ideals are cherished precisely because they are ineffectual, because they are ineptly and mournfully beautiful, because they make men cynical." Diese im Grunde nutzlose Bildung habe nun zur Folge, daß „our typical university man" zum einseitigen theoretischen Menschen erzogen werde, da „the theoretical atmosphere in which he has lived bears no relation to society." 93 Die Nähe zu Nietzsches Diskussion des „theoretischen Menschen" in der Geburt der Tragödie (GT 15) oder zur Frage, warum die „Jünglinge" an deutschen Universitäten die für ihre jugendliche Kraft so gefährlichen Gelehrten immer noch zum Ideal nehmen und „keineswegs vor solchen Knochenmenschen zurückschrecken" (SE 6), ist kaum verkennbar. Amerikas Problem, befand Brooks, sei das von den alten Puritanern und den als „Transzendentalisten" vermummten neuzeitlichen Puritanern verschuldete disjunktive Verhältnis von innen und außen, von Geist und Tat, von Theorie und Praxis: „It is plain enough that the Transcendentalists had no sense of the relationship that exists between theory and practise, between the abstract and the concrete". 94 In diesem Zusammenhang äußerte Brooks zwar nichts Ausdrückliches über einen bestimmten Nietzsche-Text, aber Nietzsche selbst, zusammen mit.den auch ihre jeweiligen Kulturen repräsentierenden Schriftstellern Renan und Ruskin, führte er als Kritiker der merkantilen Massenkultur Amerikas ins Feld, die durch den Rückzug der geistig Tätigen aus dem öffentlichen, aktiven Leben zur seelischen Zwei-Klassen-Gesellschaft geworden sei. Nietzsches Kulturkritik las er als univoke Verurteilung des modernen Amerikanismus:

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n 93 m

Diese Disparität porträtierte Brooks sinnbildhaft in der Gegenüberstellung des berühmten amerikanischen Theologen Jonathan Edwards mit dem zu den Griindungsvätem der Nation gehörenden Benjamin Franklin. In einer erstaunlichen, fast haargenauen Vorwegnahme der klassischen These Max Webers zeigte Brooks am Beispiel Franklins, wie konsequenterweise Puritanismus und Merkantilismus sich die Hand geben. Van Wyck Brooks, „America's Coming of Age", op. cit., S. 17f. Ibid., S. 28f. Ibid., S. 56.

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„Americanism" - „the worship of size, mass, quantity and numbers". ... For three generations the most sensitive minds of Europe - Renan, Ruskin, Nietzsche ... have summed up this mistrust of the future in that one word; and it is because, altogether externalized ourselves, we have typified the universally externalizing influences of modern industrialism. 95

Nietzsche wäre damit zumindest als kritische Autorität in Brooks' Bildungshintergrund etabliert. Darüber hinaus kann man aber die Feststellung eines solchen kulturellen Risses an der Stelle, wo Geist und Tat sich im Idealfall treffen sollten, auch bei Nietzsche lokalisieren. Seine Streitschrift gegen die akademisierten Geschichtswissenschaften, die zweite Unzeitgemäße Betrachtung, eröffnet Nietzsche mit der Feststellung, daß die Historie nicht „Belehrung ohne Belebung" sein dürfe, und daß es nur insofern zu rechtfertigen sei, dieser Wisssenschaft zu dienen, als „die Historie dem Leben dient", weil die Historie „zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat" benötigt werde. (HL „Vorwort") Es war im wesentlichen Nietzsches ganzheitlicher Lebensbegriff, den Brooks zu seinem eigenen machte oder zumindest dem eigenen einverleibte (und vielleicht auch bei Mencken vorfand). Nietzsche demonstriert diesen kulturellen Riß am Beispiel der deutschen Kultur des späten 19. Jahrhunderts, um dann aus der Erörterung des Problems die folgende Forderung abzuleiten: hier muss geholfen werden, jene höhere Einheit in der Natur und Seele eines Volkes muss sich wieder herstellen, jener Riss zwischen dem Innen und dem Aussen muss unter den Hammerschlägen der Noth wieder verschwinden [...] so soll hier ausdrücklich mein Zeugnis stehen, dass es die deutsche Einheit in jenem höchsten Sinne ist, die wir erstreben und heisser erstreben als die politische Wiedervereinigung, die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention. (HL 4)

Folgert Nietzsche, daß die Historie zwecks dieser geistigen Wiedervereinigung es „ertragen" muß, „zum Kunstwerk umgebildet" zu werden (HL 7), dann heißt es analog bei Brooks, daß Amerika sich der Aufgabe annehmen müsse, eine „usable past" zu erfinden. Damit meinte Brooks, daß jedes Volk ein dienstbares, also zur geistig inspirierten und erhobenen Tat anspornendes Bild der eigenen Vergangenheit nötig habe, das weniger mit akribischer Faktizität als mit seelischer Stärkung und Nährung der nationalen Tradition zu tun haben sollte. (Diese Einstellung zu Nietzsches Geschichtskritik ging, unter der Voraussetzung eines anderen Zwecks, Hand in Hand mit der Auslegung eines William English Wallings etwa. Vgl. Kap. II.2.a.) Er betrachtete das überlieferte Bild der amerikanischen Vergangenheit und befand: „the past that survives ... is ... without living value". Das historische Bewußtsein könne man nur dann wieder beleben und ins richtige Lot brin-

"

Van W y c k Brooks, „Letters and Leadership", op. cit., S. 127f.

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gen, wenn man anfange, der Geschichte selektiv das zu entnehmen, „what is important for us". 96 Die mehr als frappierende Ähnlichkeit zwischen Brooks projizierter Rettung der Kultur durch die Lösung des historischen Dilemmas und Nietzsches geistiger Wiedervereinigung vermöge der Inanspruchnahme der Geschichte für das Leben läßt sich nicht übersehen. Den Antagonismus zwischen „high brow"- und „low brow"-Kultur solle die usable past beilegen, indem ein gemeinsamer Nationalmythos geschaffen werde, an dem alle Amerikaner teilhätten. Brooks nannte dieses mythische Fundament das „focal centre" eines Volkes: „A focal centre that is the first requisite of a great people. And by this I do not mean the sense of national or imperial destiny which has consolidated the great temporal powers of history".*7 Das focal centre ist, wenn man so will, Nietzsches bereits bei Bourne genannte kulturelle Ökonomie der Griechen, ihre Reduktion der vielen eigenen Möglichkeiten auf die wenigsten „ächten Befürfnisse", an denen alle anderen Fähigkeiten und alles Wissen des geistig reichen, gesunden und vornehmen Volkes orientiert werden. Auch Brooks erkannte im focal centre oder point of view, wie er es auch bezeichnete, den archimedischen Punkt einer Kultur, um den alles andere sich dreht! Er ermunterte seine Leser: „once you have a point of view all history will back you up". 98 Das focal centre verkläre und typisiere alle historischen Ereignisse und Personen, so daß sie sich einem „kunstvollen Plan einfügen" und damit eine Einheit bilden - darin bestehe die mythische Kraft dieses Standpunktes: Er gebe der Geschichte ihr telos zurück, auch wenn dieses nicht objektiv existiere. Für Brooks wie für Nietzsche war der Mythos der eigentliche Kitt einer jeden Kultur, ohne den keine Gemeinschaft von Dauer und Größe zu machen sei: „Ohne Mythus [...] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig". (GT 23) Die Erschaffung dieses neuen amerikanischen Mythos machte Brooks zur Aufgabe der Kunst und, interessanterweise, der Philosophie: Α national faith ... a national dream, the dream of the „great American experiment". ... T o discover that faith, to formulate that n e w technique, to build up, as I have said, that programme for the conservation of our spiritual resources, is the task of criticism and philosophy. 9 9

Das bestimmte ,Jocal centre" der deutschen Kultur identifizierte Brooks nun als Nietzsches Übermensch, da in seinem Ermessen: „Nietzsche's Superman is a projection of what the typical modern German long struggled to be."100 Brooks maß diesem festen mythischen Horizont des nationalen Charakters soviel

%

" "" ** ""

Van Wyck Brooks, „On Creating a Usable Past", The Dial, 64 (April 11, 1918), S. 340f. Van Wyck Brooks, „America's Coming of Age", op. cit., S. 83. Ibid., S. 36. Van Wyck Brooks, „Letters and Leadership", op. cit., S. 153. Ibid., S. 90.

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Bedeutung bei, weil er einerseits den Künstler als den Beauftragten dieses völkischen Mythosprojekts verstand. Brooks pflegte auch einen Heroenkultus um den großen Künstler als den zu allen Zeiten souverän über dem Durchschnitt stehenden, selbständigen Einzelnen (auch diese Huldigung des Heroen ein inzwischen als typisch erkennbarer Zug der amerikanischen Nietzsche-Rezeption). Andererseits ging er aber vom Wunsch nach seelischer Heilung des gesamten Volkes aus und hielt den Mythos für die einzige zu dieser Kur brauchbare Arznei, weil der Mythos das Bewußtsein eines jeden Individuums berühre. Diese Überzeugung von der Notwendigkeit der inneren Erneuerung des Einzelmenschen war Ausdruck des die gesamte Nietzsche-Rezeption durchziehenden Individualismus, der an beiden Enden der politischen Bandbreite immer wieder reüssierte. Brooks bestritt z.B. die Wirksamkeit sozialer Reformmaßnahmen, weil diese „nur" die äußeren Lebensumstände verbesserten, ohne der Seele des Menschen den viel wichtigeren Halt zu bieten, der in der sicheren Aufhebung des Einzelnen in der großen nationalen Identität erreichbar sei. Seine Ablehnung sozialistischer sowie links-liberaler Reformprojekte, die das individuelle Subjekt nicht zum Selbstbewußtsein führen, begründete er mit Bezug auf Nietzsche: of moderns, Nietzsche alone confines progress to the change that takes place in man himself. That is, he makes it a psychological matter rather than a process depending on alterations in environment. ... Nietzsche reflects a more ancient view, and one decidedly Greek. This Greek outlook is characteristic of all his work. 10 '

Nietzsches Griechentum begegnete also auch bei Brooks, nicht nur bei Bourne, als inspirativer Präzedenzfall einer großen Weltanschauung. Aber die Gemeinsamkeiten im Nietzscheanismus beider Essayisten werden auch durch wichtige Unterschiede relativiert. Zeigte sich Bourne als theoretisch politisierender Denker, dessen Überlegungen in der Hauptsache eine Philosophie der nationalen Identität betrafen, war Brooks dagegen ein regelrecht unpolitischer Denker, der im Mythos den Schlüssel zur Überwindung des Zwiespaltes im nationalen Bewußtsein suchte. Beide erkannten mit Nietzsches Hilfe die Existenz des seelischen Mißstandes Amerikas, fanden aber durch Nietzsche zu verschiedenen Antworten darauf. In der Bestimmung des Übels waren sie sich also weitgehend einig, hielt Brooks wie Bourne die amerikanische Kultur für „a prodigious welter of uncouscious life", in dem „All manner of things are drifting ... everywhere an unchecked, uncharted, unorganized vitality like that of the first chaos".102 Das Chaos der Identität war für beide ein Driften, ein Sich-Zerstreuen nationaler Kräfte. Das von Brooks hier in den Mund genommene Stichwort des „Driftens" als Beschreibung des nationalen Chaos, verband ihn aber nicht allein mit Bourne, sondern leitet hier auch den Übergang zum nächsten Fall des nietzscheschen „literary radicalism" ein: Walter Lippmann.

101 1112

Van Wyck Brooks, Days of the Phoenix, op. cit., S. 241. Van Wyck Brooks, „America's Coming of Age", op. cit., S. 100.

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III.2.C Walter Lippmann (1889-1974) Mit dem Titel seines zweiten Buches Drift and Mastery (1914) wollte der junge Journalist und Politologe Walter Lippmann (wie Van Wyck Brooks ebenfalls in Harvard geschult und mit The New Republic affiliiert) die neue Generation der amerikanischen Intelligenz vor eine zwingende Herausforderung stellen: Die jetzt heranwachsenden Führungskandidaten der Nation müßten nach Lippmann eine Entscheidung treffen zwischen willenloser Hingabe an das moralische Chaos des Landes einerseits und tatkräftigem Willen zur bewußten Kursbestimmung der Kultur andererseits. Lippmann entwickelte seine „Radikalität" wie so viele andere Intellektuelle seiner Generation zunächst im sozialistischen Lager. Im Jahre 1912 gab er seinen Posten bei Everybody's Magazine (der von Lincoln Steffens, dem ersten und besten unter Amerikas Entlarvungsjournalisten, den sogenannten Muckrakers, herausgegebenen Zeitschrift) auf, um Privatsekretär von George R. Lunn, dem ersten sozialistischen Bürgermeister des Landes in Schenectady, New York, zu werden. Lippmanns Sozialismus war aber eher konturenlos und unvertieft, eine kurze Phase des politischen Mitläufertums bei seinen links-orientierten Studienfreunden. Bei Lunn hielt er es jedenfalls kein ganzes Jahr aus, bis er nach Maine aufbrach, um sich anstatt der sozialistischen Stadtverwaltung der Mitarbeit an einer Freud-Übersetzung zu widmen. In dieser Zeit nahm er auch seine eigentliche essayistische Tätigkeit auf. Die ersten längeren Werke aus seiner Feder, A Preface to Politics (1913) und das oben genannte Drift and Mastery, entstanden in dieser Zeit und bewiesen, daß der sich äußerlich immer noch einen Sozialisten nennende Lippmann innerhalb kürzester Zeit eine Wende vollzogen hatte und innerlich schon in eine ganz andere Richtung schritt. Den Staatssozialismus wies Lippmann nun als ein mit der Menschennatur unvereinbares und daher unrealisierbares politisches Modell zurück. Genau wie sein Kollege Max Eastman fand er: „the most theoretical objection to socialism [is] the famous ,human nature' argument. Far from being a trivial question, as socialist debaters like to pretend, it is the hardest nut they have to crack".103 Lippmann glaubte viel zu sehr an den voluntativen, irrationalen Ursprung der Vernunft, als daß er doktrinärer Sozialist jemals hätte werden können. Die animalischen Triebe und Gelüste, „the impulses, cravings and wants of men", erkannte er als zerstörerische Potenzen an, die aber in konstruktive Kanäle umgeleitet werden könnten und müßten: „[they] must be employed".104 Auf der invididuellen Ebene stelle sich nun das bereits erwähnte Phänomen des drifts als Unfähigkeit dar, diese Impulse konstruktiv zu leiten und auszubeuten. Auf der gemeinschaftlichen Ebene drücke sich drift als richtungsloser

lra

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Walter Lippmann, Drift and Mastery. An Attempt to Diagnose the Current Unrest (New York, 1914), S. 37. Walter Lippmann, A Preface to Politics (New York, 1913), S. 46.

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Linksliberalismus aus: „there is a great gap between the overthrow of authority and the creation of a substitute. That gap is called liberalism: a period of drift and doubt". 105 Die Lösung, welche diesem herrenlosen Treiben auf den Gewässern der Unvernunft ein Ende bereiten sollte, war wieder einmal wie bei Boume und Brooks die Sublimierung. Laut Nietzsche, schrieb Lippmann, müsse das Individuum lernen, seine Begierden nicht zu perhorreszieren, sondern zu erkennen und zu beherrschen: the desires ... are the energies of the soul, neither good or bad in t h e m s e l v e s .

Like

Dynamite, they are capable of all sorts of uses, and it is the business o f civilization ... to transmute these energies into fine values. Behind evil there is p o w e r , and it is folly ... to ignore this power. ... [H]e w h o has the courage o f existence will put it triumphantly, crying „yea" as Nietzsche did, and recognizing that all the passions o f man are the motive p o w e r s of a fine life. 1 0 6

Diese souveräne Verfügung über wilde Energien faßte Lippmann unter dem Begriff der mastery, der Herrschaft also, zusammen. „This is what mastery means", erläuterte er, „the substitution of conscious intention for unconscious striving", ισ? und der in seiner stetigen Bewegung zum Bewußtsein gelangende Geist hatte seinen Sitz für Lippmann nicht nur im Einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft, wo staatliche Verwaltung und gemeinschaftliche Identität sowie gemeinsames Verantwortungsbewußtsein die Steuerung nationaler Energien proben. Daß diese Symbiose der politischen und gesellschaftlichen Zielsetzung nicht zustandekomme, liegt nach Lippmann an der schon von Bourne und Brooks beschworenen moralischen Orientierungslosigkeit, die sich als Begleiterscheinung der neu gewonnenen ethischen Freiheiten ausgebreitet hatte. Der kulturelle Bildersturm der Jahrhundertwende habe den für Führungskrisen ohnehin anfälligen Demokratien eine Freiheit geschenkt, mit der sie nichts anzufangen wüßten. Die iconoclasts hätten die Menschen des modernen Zeitalters nicht nur befreit, sondern auch vor neue Prüfungen gestellt: „they threw us into the water, and now we have to swim". 108 Grundsätzlich begrüßte Lippmann die Überwindung verkrusteter Dogmen, aber nicht ohne die Notwendigkeit eines neuen Führungsund Autoritätsprinzips, welches das Ausufern der Freiheit in Chaos verhindern sollte, mehrmals in den Vordergrund zu stellen. Dieses Autoritätsbedürfhis unterscheidet Lippmann deutlich von Bourne und Brooks. Alle drei beschrieben die Erneuerungsmechanismen, mit denen die Kultur vor dem Verfall der Werte gerettet werden sollte, als Analogie zur psychischen Sublimierung, aber Lippmann hatte einen stärkeren Hang als Bourne und

1115 106 107 108

Walter Lippmann, Drift and Mastery, op. cit., S. 126. Walter Lippmann, A Preface to Politics, op. cit., S. 50f. Walter Lippmann, Drift and Mastery, op. cit., S. 148. Ibid., S. 112.

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Brooks zum Heroenkultus, der sich in seiner Überzeugung niederschlug, daß es geborene Führer und geborene Untertanen unter den Menschen gebe: Some people are predominantly eager and willful. The world does not huddle and bend them to a task. They are not, as we say, creatures of environment, but creators of it. Of other people's environment they become the most active part - the part which sets the fashion. What they initiate, others imitate. Theirs is a kind of intrinsic prestige. These are the natural leaders of men, whether it be as head of the gang or as founder of a religion. 109

Die jungen Intellektuellen müßten sich von ihrem links-liberalen Vorurteil gegen die Autorität losmachen, denn der neue Kulturkampf werde jetzt nicht mehr um den Sturz der puritanischen Moral (auch in diesem Punkt distanzierte sich Lippmann von den Theorien der anderen literary radicals), sondern um die Eindämmung des aus dem neuen Immoralismus stammenden Chaos der Werte geführt: The battle for us, in short, does not lie against crusted prejudice, but against the chaos of a new freedom. This is our real problem. So if the younger critics are to meet the issues of their generation they must give their attention, not so much to the evils of authority, as to the weaknesses of democracy. 110

Mit der Demokratiekritik als natürlicher Konsequenz der Verschiebung der Werte müsse sich die neue Generation befassen. Von Nietzsche, der ja sonst als Anführer des modernen Bildersturms gegen alte Autoritätsstrukturen identifizert wurde, empfing Lippmann nicht nur die Kernargumente der Demokratiekritik, sondern auch das Ideal einer neuen, obwohl fast völlig Undefinierten Autorität. Soweit man diesen Autoritätsbegriff bei Lippmann herausarbeiten kann, trägt er auch jene etwas mythischen Züge, die das Denken Brooks' charakterisierten.111 Im Mittelpunkt stand bei Lippmann die Funktion des Glaubens - Glaube des Bürgers an die Autorität als Prinzip, sowie Glaube des Autoritätsträgers an die Bedeutung seiner Mission." 2 Dieser zweifache Glaube solle das vereinigende Moment des nationalen Bewußtseins bilden:

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* Walter Lippmann, A Preface to Politics, op. cit., S. 12. "" Walter Lippmann, Drifl and Mastery, op. cit., S. 7. "' Auch Lippmann erschien diese Idee des nationalen Mythos als wirksamer Faktor im psychischen Zusammenhalt der Kultur: „The myth is not one of the outgrown crudities of our pagan ancestors. We, in the midst of our science and our rationalism, are still making myths, and their force is felt in the actual affairs of life. They convey an impulse, not a program, nor a plan of reconstruction. Their practical value cannot be ignored, for they embody the motor currents in social life". [A Preface to Politics, op. cit., S. 230.) 112 So interpretierte Lippmann Nietzsches Infragestellung des Wertes der Wahrheit als Feststellung der Notwendigkeit des Scheins und der unreflektierten Überzeugung des Staatsführers zur Durchsetzung einer effektiven Politik: „The statesman must be more than the leader of a party. ... Only the delusion that his truth is the whole truth, his party the human race, and his program a panacea, will produce that [necessary] singleness of vision". (A Preface to Politics, op. cit., S. 96.)

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It w a s this that Nietzsche had in mind w h e n he said that „belief is a l w a y s most desired, most pressingly needed where there is a lack of w i l l . . . " Yet a stern c o m m a n d e r is just what this age lacks. Liberalism suffuses our lives and the outstanding fact is the decay of authority ... W e are freer than w e are strong." 3

Lippmanns eher banale Sehnsucht nach einer großen politischen Persönlichkeit, einem „strengen Befehlshaber", hat nicht die Gefährlichkeit des später aufkommenden Führerkultes im Faschismus, zeugt aber von einer politischen Naivität, welche den Gang der Geschichte ausschließlich an einzelne Staatsführer bindet und die Vorteile der republikanischen Staatsform - welche „große Individuen" in der Politik nicht hervorzubringen pflegt, dafür aber innere Sicherheit, Freiheit und Stabilität gewährleistet - ganz einfach verkennt. Den etwas wirklichkeitsfernen Hang zur Abstraktion und Übertreibung nicht konkret vorhandener nationaler „Probleme" sowie die äußerst schwammige politische Selbstdefinition teilte Lippmann mit Bourne und Brooks. Mit diesem Verlangen nach verklärten, herausragenden Staatsoberhäuptern stand er aber auch nicht allein. Sicherlich gingen auch Menckens Neigungen z.B. in eine ähnliche Richtung. Die einzelnen Punkte von Lippmanns Auseinandersetzung mit der Demokratie enthalten nichts Neues und gehen größtenteils mit den bereits bei Mencken und anderen angetroffenen Thesen konform. Der Demokratie warf Lippmann vor, das Individuum zugunsten der Masse zu unterdrücken („Jealous of all individuals, democracies have turned to machines. They have tried to blot out human prestige, to minimalize the infuence of personality"114). Das liberale Triumvirat von libertä, egaliti und fraternite entlarvte er als chimärisch-romantische Legende („Liberty, equality, fraternity - what a grotesque career those words have had"115), und der populistischen Vorstellung der demokratischen Gesellschaftsform als Modus direkter Mitbestimmung aller mündiger Bürger stellte er die der aristokratischen Klassendemokratie als Gegengewicht entgegen: E v e r y w h e r e y o u hear it: that the people have been „deprived" of ancient rights, and legislature is framed on the notion that w e can recover the alleged d e m o c r a c y of early America. ... W e find it very difficult to remember that there w e r e sharp class divisions in the young Republic, that suffrage was severely restricted, that the Fathers were a very c o n s c i o u s upper class determined to maintain their priviliges." 6

Mit dieser Lamentation über den Verlust einer nur sehr unscharf explizierten Autorität verdeutlichte Lippmann abermals die besondere Schwäche der literary radicals: Sie versteckten sich allzu häufig hinter Abstraktionen. Die Mittel, die sie gegen den in der Schwebe befangenen Zustand der moralischen Tranzendenzlosigkeit einsetzen wollten, wurden nie klar umrissen. Das Problem, vor dem sie

113 114 115 116

Walter Lippmann, Drift and Mastery, op. cit., S. 116. Walter Lippmann, A Preface to Politics, op. cit., S. 17 Ibid., S. 163. Walter Lippmann, Drift and Mastery, op. cit., S. 101.

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standen, war das Fehlen letzter, nicht hinterfragbarer Prinzipien, aus denen neue Handlungsmaximen abgeleitet werden sollten, um die christlich-bürgerliche Moral zu ersetzen, und dies ist das Kernproblem im Kampf gegen den Nihilismus. Aber Boume konnte die neue multinationale Identität nicht definieren, sondern sie nur als theoretische Möglichkeit postulieren; Brooks vermochte den neuen nationalen Mythos nicht mit Inhalten zu füllen; Lippmann unternahm weder eine Beschreibung der benötigten neuen Autorität noch des Verfahrens, wie diese bestimmt werden sollte. Indem sie in einer rein kritischen Haltung (wie Mencken) ausharrten - Lippmanns Titel Drift and Mastery trägt die Ergänzung An Attempt to Diagnose the Current Unrest (Hervorhebung d. d. Vf.) -, machten sie sich gegen mögliche Gegenkritik gefeit: Gegen ein klares, Punkt für Punkt erläutertes politisches Programm ließe sich viel leichter Einspruch erheben. Es wird aber deswegen nahezu unmöglich, in ihren äußerst verschwommenen Begriffen irgendein realpolitisches Vorhaben zu erkennen, obwohl meist der Eindruck erweckt wird, als ob ein solches darin enthalten sein müßte. Insofern als sie sich auf Nietzsche verließen aber, konnten sie immerhin ein solches Programm auch nicht aufstellen, da Nietzsche sich als Philosoph nie der Reformpolitik verschreibt, sich sogar als den letzten unpolitischen Menschen apostrophiert. Einige.wenige Versuche einer solchen realpolitischen Anwendung von Nietzsches Philosophie gab es unter den jungen Radikalen dennoch, und das Beispiel des Philsophiegeschichtlers und Schriftstellers Will Durant soll einen solchen Fall illustrieren sowie geichzeitig die Diskussion der literary radicals abschließen. III.2.d Will Durant (1885-1981) Bekannt ist Will Durant heute noch als bedeutender Kulturhistoriker. Seine populäre Philosophiegeschichte The Story of Philosophy (1926) und das in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ariel verfaßte, mehrbändige Mammutprojekt The Story of Civilization (1935-1967; dt. Kulturgeschichte der Menschheit), sicherten ihm einen festen Platz auf den Leselisten der Schulen und Universitäten in den USA. Zwischen dem Abbruch des Theologiestudiums 1911 und der Aufnahme an der philosophischen Fakultät der Columbia University (die alma mater Randolph Bournes und anderer Figuren am Rande des literary radicalism) im Jahre 1915 durchlebte Durant allerdings Jahre des Rebellentums, in denen er u.a. als Lehrer an der von Anarchisten gegründeten und geführten Ferrer School in New York arbeitete. Sein politisches Engagement ging mit der Auffassung der Philosophie als Instrument zur Untersuchung und Lösung sozialer Nöte einher. Das schriftstellerische Produkt dieser Jahre, seine 1917 erschienene Studie Philosophy and the Social Problem (die aus seiner Dissertation hervorging), setzt sich aus Streifzügen durch die Philosophiegeschichte zusammen, bei denen Durant mit eklektischer Freizügigkeit alles „Brauchbare", d.h. sozial Übertragbare, aus den Werken der großen Philosophen des Abendlandes auflas und dann hypo-

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thetisch applizierte. Den Ausgangspunkt des gesamten Unterfangens, die Absicht zur Linderung des „socialproblem'1 im allgemeinen, bestimmte Durant als „reducing human misery by modifying social institutions",1'7 wobei er allerdings nicht einfach an den Ausbau des Wohlfahrtsstaates dachte. Eines der längsten Kapitel des Buches ist Nietzsche gewidmet, und der Einfluß gerade dieses Philosophen auf Durants Einstellung zur Beseitigung des social problem macht sich hier bemerkbar. Ähnlich wie Brooks wies Durant der sozial engagierten Philosophie die aufklärerische Aufgabe der Erziehung des Individuums zur Mündigkeit zu. Nicht die staatliche Verbürgung eines „komfortablen" Lebensstandards sollte das Ziel sein, denn: „to say that the social problem consists in a general raising of the average standard of comfort and ability amounts to abandoning the problem." 118 Durant strebte die Verbreitung übermenschlicher Werte an, welche für ihn u.a. Lebensbejahung, Bevorzugung der Selbsterhöhung gegen den gemeinen Genuß, Ausnutzung und gleichzeitige Kontrolle der Instinkte und intellektuelle Redlichkeit waren." 9 Diese traditionell humanistisch anmutenden Werte ergaben sich für Durant aber eher sekundär und zwangsläufig aus dem viel grundlegenderen Wesensmerkmal des Übermenschlichen, nämlich dem Grad oder der Qualität des Willens zur Macht im Individuum. Dieser „Grad" bemesse sich nach der von Nietzsche als „Pessimismus der Stärke" (GT „Versuch einer Selbstkritik") bezeichneten Unerschrockenheit, mit welcher der höhere Mensch der Einsicht in die Transzendenzlosigkeit des Seins begegne. Dem Grad des Willens zur Macht entsprach für Durant die Fähigkeit eines Menschen, das Leben ohne „metaphysischen Trost" auszuhalten, ja zu begrüßen: The degree of a man's will-power may be measured by the extent to which he can dispense with the meaning in things, by the extent to which he is able to endure a world without meaning. 1 2 0

Anstatt wie Bourne, Brooks und Lippmann die Einführung eines neuen Sinnkriteriums als soziale Notwendigkeit zu setzen, dachte Durant an eine Erziehung zur Transzendenzlosigkeit, zur Bedürfnislosigkeit gegenüber letzten Prinzipien: Die Menschen sollten lernen, das diesseitige Leben als einzige Sinnebene zu akzeptieren und ihr Bedürfnis nach dem gewohnten Rekurs auf letzte metaphysische Instanzen aufzugeben. Verhindert werde diese Erziehung zur illusionslosen Mündigkeit durch ein beharrliches Überbleibsel der mythischen Vorzeit - das Christentum - und dessen sittliche und politische Erscheinungsformen: All these things, d e m o c r a c y , feminism, socialism, anarchism ... are heads of the Christian hydra, each a sore in the total disease. Given such illness, affecting all parts

117

"" 120

Will Durant, Philosophy and the Social Problem (New York, 1917), S. 1. Ibid., S. 151. Ibid., S. 151 ff. Ibid., S. 140.

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of the social body, and what result shall we expect and find? Pessimism, despair, nihilism, - that is, disbelief in all values of life, confidence in life is gone; life itself has become a problem. 121

Damit adressierte Durant das von Nietzsche beschriebene Phänomen der dicadence, die „Disgregation des Willens" (WA 7), welche der Werteverlust bei schwachen Naturen nach sich ziehe. Der einzige Ausweg aus der Sinnkrise führe über die Entdeckung der diesseitigen Werte des allein im Willen zur Macht begründeten Lebens. Deshalb genüge es nach Durant nicht, dem christlichen Glauben den Dienst aufzukündigen; man müsse auch die versteckten, aber noch in uns weiterlebenden christlichen Werte aufspüren und ausbrennen. „The man who frees himself from the theology of the Church but adheres to Christian ethics" sei nach Durant genauso pessimismusgefährdet wie ein moralinsaurer Puritaner, denn auch er „necessarily falls into pessimism".122 Auch die Demokratie mit ihrer metaphysischen „Lüge"123 von der Gleichheit der Menschen gehöre in die Reihe der noch fortwirkenden Mechanismen des Christentums. Mitleidsmoral und Bequemlichkeit durchschnittlicher Geister blockieren die Lehre einer neuen tragischen Weltanschauung, die die Preisgabe tradierter, im Grunde nur palliativer Glaubensartikel fordere. Gegen den Kleinmut des Massenmenschen betonte Durant die Vorzüge einer intellektuellen Aristokratie, deren Angehörige als erste in der Lage wären, ohne die alten Werte und Vorurteile des christlichen Weltbildes auszukommen und die eine Vorbildfunktion für die noch zögerlichen Massen übernehmen könnten. Die Grundidee der demokratischen Staatsform war Durant aber nicht bereit aufzugeben. Die Republik hielt er für durchaus verbesserungsfahig, vor allem wenn die Kombination von aristokratischer (im Sinne eines Geistesadels) Führung mit republikanischer Staatsform gelinge. Es zeigt sich, daß Durant über den politischen Tragelaph einer demokratischen Oligarchie reflektierte, denn er berief sich auf das Ideal einer durch Zustimmung der Regierten sanktionierten Aristokratie: an aristocracy sanctioned by democracy, a social order standing on the broad base of free citizenship and wide cooperation ... intelligence will organize intelligence so that superior worth may have superior influence and yet work with and through the will of all. 124

Aus Nietzsches Denken schöpfte Durant nicht die Notwendigkeit der Abschaffung der Demokratie, sondern die informierte Kritik an derselben, welche als Leitfaden einer Reform dienen sollte. „Just in this lies the value of Nietzsche", konstatierte er, „he lets us in behind the scenes. ... We know better now the men

121 122 123 124

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S.

141. 142. 129. 270.

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with whom democracy must deal".125 Wisse man also um die Schwächen der Demokratie - z.B. die Tendenz des Massenmenschen, sein Wertsystem und seinen Geschmack den ihm essentiell überlegenen, aber zahlenmäßig unterlegenen Individualisten zu oktroyieren -, dann könne man die Krankheit heilen, ohne dabei den Gesamtorganismus in Lebensgefahr zu bringen. Die Voraussetzung zu dieser Umschichtung der Demokratie blieb nach wie vor ein erzieherisches Projekt. Wie Durant die Aufklärungsarbeit bei Regierenden und Regierten zu bewerkstelligen gedachte, erläuterte er auch relativ ausführlich. Diese Aufgabe sollte eine Gelehrtenakademie übernehmen, die „inextricably mixed up with the vast problem of educational method and aim" sein würde: „here more than anywhere one hears the call for enlightenment and sees the need for clarification". 126 Später ginge diese Aufklärungsorganisation zusätzlich in eine Beratungsinstanz über, welche die Politik des Landes mitbestimmen würde. Wenn die Intelligenz der Nation, der sonst viel zu wenig Beachtung geschenkt werde, endlich den ihr gebührenden Stellenwert erhielte, dann ließen sich beinahe alle sozialen Schwierigkeiten durch qualifizierte, zielbewußte Arbeit lösen. Lippmanns Idee der mastery geisterte hier natürlich durch den Hintergrund von Durants Programm. „Organisation's the thing", meinte er: T o organize intelligence; this is surely one method of approach to the social problem; and what if, indeed, it be the very heart and substance o f the social problem? 1 2 7

Die „organisierte Intelligenz" sollte also eine „Society for Social Research" gründen und sich einen reichen Mäzen aussuchen, der u.a. die Veröffentlichung und landesweite Verbreitung (auch durch Rundfunk) monatlicher Berichte zur Lage der Nation sowie den Lebensunterhalt der Gesellschaftsmitglieder finanzieren sollte: So arises a body of say 5 0 0 0 men, divided into local groups but working in unison so far as geographical separateness will permit; and to them now c o m e s , impressed with • their earnestness, a wealthy man, who agrees to finance the society. 1 2 8

Einigt man sich auf die prinzipielle Wünschbarkeit einer solchen durch die intellektuellen aristoi beherrschten Republik, dann stellt sich sofort die entscheidende Frage nach dem Auswahl verfahren zur Ernennung der Regierenden. Auch diese Frage streifte Durant: „how to know who are intelligent".129 Durants Antwort fiel genau so enttäuschend und flach wie bündig aus: „Let us take the physicians and professors; here is a nucleus of recognized intelligence".130 Ganz abgesehen von unvermeidlichen Fragen wie: was denn das Kritierium einer

125

Ibid., Ibid., 127 Ibid., 128 Ibid., I2 " Ibid., 130 Ibid., 126

S. S. S. S. S. S.

176. 246. 228. 230. 228. 229.

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solchen Intelligenz sei, oder: warum sie sich besonders zur Staatskunst eigene und von wem sie ihre Legitimation erhalte - also von wem sie „anerkannt" werde, wie Durant es formulierte wäre eine solche Lehrstuhlrepublik mit Nietzsches Denken völlig inkompatibel. Mit erstaunlicher Naivität übersah Durant alle Fallstricke dieses Programms. Als weitere Begründung seines Auswahlkriteriums bescheinigte er den Professoren eine aus der Berührung mit der wissenschaftlichen Methode stammende überlegene Objektivität gegenüber allen anderen Menschen: Perhaps the most useful thing in the world for our purpose is this terribly dispassionate, coldly scrutinizing professor ... he sees his field more clearly and impartially than any other group of men whatever.131

Wo Lippmann mit seiner Vorstellung von Autorität ärgerlicherweise vage blieb, offenbarte sich Durant mit peinlicher Klarheit. Die Impraktikabilität dieses Projekts leuchtete wohl schließlich ein paar Jahre später auch dessen Urheber ein, denn Durant griff das Thema nie wieder auf. Das Grundkonzept von Philosophy and the Social Problem führt allerdings ein letztes Mal vor Augen, was die literary radicals mit ihrem Nietzscheanismus beabsichtigten. In Anlehnung an Durants Titel sollte man vielleicht von Nietzsche and the American Problem sprechen. All diese eigentlich recht zahmen jungen Radikalen glaubten, Amerika befinde sich in einer geistigen und moralischen Krise, aus der mit Hilfe einer Nietzscheschen Analyse jedoch vielleicht zu entkommen wäre. Einer objektiven, desinteressierten philosophischen Interpretation von Nietzsches Denken unterzog sich keiner von ihnen, aber um die rücksichtslose Aneignung Nietzsches für bereits bestehende kritische Haltungen ging es ihnen auch nicht. Nietzsche sollte ihren Plänen nicht willfahren, sondern zusammen mit Nietzsche versuchten sie, den Plan einer wünsch- und machbaren Kulturreform überhaupt erst zu erkennen. Damit übertrafen sie immerhin die Masse der sonstigen essayistischen und journalistischen Nietzsche-Rezeption in Amerika. Ihren Ansatz verdankten sie z.T. der Vorarbeit H.L. Menckens, aber auch der eigenen Offenheit gegenüber dem „new thought" in all seinen Formen. Daß die während des Krieges in Gang gesetzte Propagandamaschinerie gegen Nietzsche ihrem Interesse und ihrer Schreibwut keinen Abbruch tat, gereicht den jungen Radikalen auch zum ehrenwerten Nachweis ihrer „intellektuellen Redlichkeit", um mit Nietzsche zu reden. Einige von ihnen wurden durch das Studium unter progressiven Lehrern in den Tugenden geistiger Offenheit und Unvoreingenommenheit unterwiesen. Ausgerechnet von einigen dieser Lehrer aber, vor allem von einem Professor, zu dessen Füßen Van Wyck Brooks, T.S. Eliot und viele andere an der Harvard University saßen, kam die stärkste und qualifizierteste

111

Ibid., S. 230.

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Kritik an den ehemaligen Schülern, die jetzt als radicals für Furore sorgten. Die sich „new humanists" nennenden und gegen den jugendlichen Radikalismus mit Nietzsche opponierenden Gelehrten Irving Babbitt und Paul Elmer More geben nun das Satyrspiel zum Drama um Nietzsche und das amerikanische Problem.

III.3 „New Humanists" III.3.a Irving Babbitt (1865-1933) Die jungen literary radicals benutzten Nietzsches Philosophie als kulturelles Lösungsmittel, mit dem sie die Schichten jahrhundertealter moralischer Vorurteile vom Geist des modernen Amerikas abtragen wollten. Ihre ehemaligen intellektuellen Ziehväter, die new humanists - oder zumindest einer von ihnen, Irving Babbitt, der die Bewegung eigentlich fast allein verkörperte - hingegen, vermuteten in Nietzsches Denken ein Konservierungsmittel, mit dem die alte aristokratische Kultur gegen die stürmische Witterung einer sittenlosen Zeit zu schützen wäre. Babbitts pädagogische Arbeit stellt vielleicht eins der letzten großen Bollwerke traditioneller Bildung, eruditer Literaturkritik und konservativer Kulturphilosophie in der amerikanischen Geistesgeschichte dar. Er konnte in seinen Meinungen manchmal fast reaktionär wirken, aber als ein großer Konservativer alten Stils, ein Konservator mit Leib und Seele, und als Pfleger einer großen gelehrten Tradition beeindruckt er heute immer noch. Seinerzeit war Babbitt eine Cambridger (Mass.) Institution an und für sich, und aus seiner Werkstatt gingen die gepflegten amerikanischen Literaten der 20er und 30er Jahre, allen voran Thomas Sterns Eliot, hervor. An der aufsässigen schreibenden Jugend Amerikas, die oft ebenfalls die hehre Atmosphäre neuenglischer Bildung genossen hatte, wußte Babbitt so manches zu bemängeln, vor allem an denen, die bei ihm durch die Schule gegangen waren und es eigentlich hätten besser wissen müssen. Daß Amerika an einer Konfusion der Werte litt, schärfte auch er seinen Zöglingen ein, und seine Klage nahm sich nicht sonderlich anders als die der jungen Generation aus: If quantitatively the American achievement is impressive, qualitatively it is somewhat less satisfying. ... What one must evidently think of such a country ... is that it lacks standards.

Furthermore, America suffers not only from a lack o f standards, but also

not infrequently from a confusion or an inversion of standards. 132

Auch er ein bekümmerter Kulturkritiker also: Die Sorge um Standards dominierte Babbitts persönliche und professionelle Philosophie. Die Konsequenzen, die er aus dem Verfall und der Verwirrung der Werte in der amerikanischen

132

Irving Babbitt, Democracy and Leadership Auflage (1952) zitiert, S. 240.

(Boston and New York, 1924).

Hier nach der 7.

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Gesellschaft zog, konnten aber kaum mehr von denen eines Van Wyck Brooks oder Walter Lippmann divergieren. Warum sollte man verzweifelt Ausschau nach neuen Prinzipien halten, fragte Babbitt, wenn es die ewig gültigen, obgleich anscheinend vergessenen, bereits gebe? Vor allem der Gedanke an die verschüttete Tugend des Dekorums, des Formbewußtseins als Gegensatz zu allem bequemen Sichgehenlassen, stand im Zentrum seines Denkens. Daß Babbit zur Selbstcharakterisierung sich einen „neuen Humanisten" taufte, könnte den Leser zunächst einmal in die Irre führen, denn mit dem üblichen Begriff des historischen Humanismus hatte Babbitts Lebensphilosophie nur sekundäre Eigenschaften gemein. Babbitt wählte den Terminus als Grenzbegriff zum Phänomen des humanitarianism, der Philanthropie- und Sozialreformbesessenheit der Ära. Er wollte mit seinem Gegenbegriff eine Geisteshaltung beschreiben, welche die griechischen Ideale des Maßhaltens, der stoischen Selbstbeherrschung und der aristokratischen Vornehmheit und Distanziertheit mit der amerikanischen Tradition des Puritanismus und des Aristokratismus der frühen Republik vereinte. Die Begründung dieser Vorstellung brachte Babbitt oft genug in intellektuelle Schwulitäten, aber er machte unbeirrt und immer weiter Ernst mit dieser schwierigen Legierung hehrer Ideale. Babbitt machte überhaupt mit allem Ernst, denn der geschulte Philosoph, Altphilologe und Romanist (er selbst auch ein Harvard man) verbrachte sein privates wie schriftstellerisches und pädagogisches Leben in sturer, aber vehementer Frontstellung zu aller Art von Frivolität, Unbeherrschtheit und Unordnung, von der er jede Menge an der amerikanischen Jugend beobachtete. Zuweilen fiel seine Kritik nicht so direkt aus. Babbitt mochte z.B. auf der einen Ebene die „unzulängliche Modernität" der jungen Generation tadeln: The ineffable smartness of our young radicals is due to the conviction that, whatever else they may be, they are the very pink of modernity ... the true difficulty with the young radicals is not that they are too modern but that they are not modern enough. 133

Aber bedenkt man, daß Babbitt in einer viel tiefer liegenden Region seiner Seele die Puritaner für zeitgemäß erachtete,134 dann gewinnt dieser Vorwurf neue Dimensionen, und man darf sicher sein, daß er den literary radicals ihre Beteiligung am Kreuzzug gegen den Puritanismus in Amerika übel nahm:

Irving Babbitt, Rousseau and Romanticism (Boston and New York, 1919), S. xi. '' Diesen Standpunkt vertrat ein weiterer new humanist (der aber später Renegat wurde), Stuart Sherman (H.L. Menckens einstiger Erzfeind) besonders energisch. Sherman trat für die Auffassung ein, daß nicht Nietzsche etwa, sondern der Puritaner der eigentliche Bilderstürmer sei, den die Moderne mehr denn je brauche: „Puritanism is not a fixed form of life; it is a formative spirit. And so the shape of the Puritan cannot be cast in bronze for all time. He is an iconoclast, an image-breaker; and when he is convicted of self-idolatry, he is the first, beautiful and strong in wrath, to raise the hammer and shatter his own image". (The Genius of America. Studies in Behalf of the Younger Generation [New York, 1923], S. 35.)

13

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T h e persons w h o have been carrying on of late a campaign against the Puritans like to look on themselves as „intellectuals".

But if the primary function o f the intellect is to

make accurate distinctions, it is plain that they do not deserve the title. 135

Das sind starke Worte - vor allem die Bezweifelung des Intellektes betreffend aus der Feder des doch sehr distinguierten Babbitt. Es war nach Meinung Babbitts der gemeine Voluntarismus und Irrationalismus des „pöbelhaft" gesinnten Volkes, der, als Doktrin des Egalitarismus verkleidet, das aristokratische oder traditionswahrende Prinzip der höheren Kultur in Amerika gestürzt habe. Die noch verbliebenen aristokratisch Gesinnten, donnerte Babbitt, dürften keinen Schritt mehr vor dieser Tendenz zurückweichen, weil es sonst bald kein Zurück mehr geben würde: „If the aristocratic principle continues to give way to the egalitarian denial of the need of leadership, parliamentary government may ultimately become impossible".136 Diese Entwicklung untergrabe die Grundpfeiler der Republik, und in diesem Sinne sei die „application of the epithet decadent to the type of imperialism that has been promoted by the glorification of instinct"137 angebracht. Gerade seine Gegnerschaft zur Gefühlsentgrenzung dieses „Imperiums des glorifizierten Instinktes" rühmte Babbitt an dem angeblichen Hausphilosophen der jungen Radikalen, Nietzsche: „Nietzsche can ... speak very shrewdly about the evils that have resulted from temperamentalism - especially from the passion for untrammeled self-expression".138 Das Signal an die junge Generation leuchtet klar auf: Nietzsche solle das genaue Gegenteil von dem sein, was diese jungen Literaten in ihm sahen. Genauso wie sie aber machte sich Babbitt mit seinem Nietzsche-Bild einer gewissen Perspektivenverengung schuldig. Nietzsche ist ein Kritiker des unbeherrschten Gefühls - die hemmungslose Verfallenheit an die Instinkte stellt für ihn eine niedere, weil gebundenere, abhängigere From des Willens zur Macht dar. Aber Nietzsche ist kein Feind der Impulse, während Babbitt aller Unvernunft mit einem restlosen ecrasez l'infame begegnete. Und nimmt Nietzsche denn tatsächlich die Tradition in Schutz? Das ist wieder ein doppelbödiger Fall des Ja und Nein. Seinem Perspektivismus getreu erkennt Nietzsche die destruktiven Folgen eines dahin siechenden Willens zur Tradition, welcher ein Auflösungsmoment jeder Kultur zeitige. All das gehört zu seiner „Kritrik der Modernität": Unsre Institutionen taugen nichts mehr:

darüber ist man einmüthig.

Aber das liegt

nicht an ihnen, sondern an uns. [ . . . ] Damit e s Institutionen giebt, m u s s e s eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität

135

Irving Babbitt, Democracy and Leadership, op. cit., S. 254. Ibid., S. 62. 137 Ibid., S. 18. 13 " Irving Babbitt, Rousseau and Romanticism, op. cit., S. 198. 136

von

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Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das imperium Romanum [...] Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem „modernen Geiste" geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. [...] So weit geht die decadence im Werthe-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehen instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt. (GD „Streifzüge eines Unzeitgemässen" 39)

Das war Wasser auf die Mühlen eines Traditionalisten vom Format Irving Babbitts. Aber im Gegensatz zu Babbitt weiß Nietzsche auch um die Notwendigkeit von Auflösungserscheinungen, oder zumindest um ihre Unausweichlichkeit. Zur Schaffung von Institutionen braucht es den Willen zur Tradition, aber es braucht nicht immer Institutionen zum Werden und Wandel der Kulturen. Kulturen werden Nietzsche zufolge krank, büßen ihren Willen unwiderbringlich ein und sind dann im natürlichen „Lebensprozeß" dem Niedergang geweiht. Aufsteigende Kulturen benötigen gesunde Institutionen, so wie sie den Platz brauchen, der durch den Niedergang anderer Kulturen freigemacht wird. Eine Institution ist aber auch gleichzeitig ein Denkmal, das eine Kultur einem erstarrten Vorurteil setzt. Ohne den stetigen Ausgleich der Erstarrung durch die Auflösung, meint Nietzsche - wie Mencken und Bourne sahen -, versande die Kultur im rein Formellen. Die Komplexität dieses Dualismus nimmt kein Ende. Wo Nietzsche ein Ganzes sehen und verstehen will, wollte Babbitt jedoch nur von seinem einseitigen Standpunkt überzeugen. Noch mehr als die Frage nach Art und Funktion von Tradition und Innovation aber faszinierte eine von Nietzsches Feindschaften den neuen Humanisten. Den modernen Niedergang der Werte verstand Babbitt als Folge der fortschreitenden kulturellen Brandschatzung der aristokratischen Tradition durch den Geist der Romantik. Mit wahrer, fast biblischer Inbrunst verschrie Babbitt alles „Romantische", in dem er nichts als eben jene dummdreiste, plebejische Entfesselung der Instinkte erblickte, und er beschuldigte hauptsächlich einen Menschen, der Instigator dieses Aufstandes viehischer „Herdenmentalität" gewesen' zu sein: Nietzsches „Moral-Tarantel" (M „Vorrede" 3) Jean-Jacques Rousseau. Rousseau verkörperte für Babbitt Romantik schlechthin. „To attack Rousseau or to defend him", schickte Babbitt seiner als philosophische tour de force konzipierten Streitschrift Rousseau and Romanticism (1919) voraus, „is most often only a way of attacking or defending this movement". 139 Alle Bösen, angefangen bei den Populisten über die Progressivisten und Radikalen bis hin zu den Anarchisten, waren für Babbitt nur die ungezogenen Kinder Rousseaus. Apuleiische Vorbilder im Hinterkopf, schärfte Babbitt den jungen literarischen Aufwieglern zur Belehrung ein, daß „ihr" Nietzsche die großmütigen, demokratischen

"

Ibid., S. ix.

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Rousseauisten und Romantiker als Eselsanbeter (er denkt vornehmlich an „Das Eselsfest" in Zarathusträ) porträtiere: Nietzsche has depicted the leaders of the nineteenth century as engaged in a veritable onolatry or ass-worship. The opposition between neo-classicist and Rousseauist is indeed symbolized by their respective attitudes toward the ass. ... The first concern of the decorous person was to avoid lowness and the ass he looked on as hopelessly low ... the rehabilitation of the ass by the Rousseauist is at once a protest against ... decorum, and a way of proclaiming the new principle of unbounded expansive sympathy.1"0

Es war zunächst einmal „expansive sympathydas entgrenzte und zum obersten Wert erhobene Mitleid als Gegenideal zum grenzziehenden Prinzip des vornehmen Dekorums, das nach Babbitt auf Rousseaus Konto gehe. Das Mitleid, meinte Babbitt in Übereinstimmung mit Nietzsche, verunreinige die Integrität des Individuums und degradiere alles Höhere in einer Kultur: „The subordination of all other values of life to sympathy is achieved only at the expense of the great humanistic virtue - decorum or a sense of proportion".141 Die romantisch-rousseauistische Umwertung antiker Werte deutete Babbitt als Umkehrung der Werte - die Welt wurde in Babbitts literarisch geschulten Augen zur verkehrten Welt. Er verglich den überemotionalen, morosen Rousseauisten mit einem Menschen, der unnatürliche Neigungen hegt, der z.B. die arme Kreatur so bemitleidet, daß er die Tiere mehr als seine eigenen Familienmitglieder zu lieben beginnt.142 Als einen unter dieser modernen Verderbtheit besonders leidenden, weil seine eigene Mitschuld an der Schaffung der mißbrauchten modernen Freiheit ahnenden Prometheus sah er Nietzsche, dessen Verzweiflung Babbitt gut nachvollziehen zu können schien: Nietzsche's attitude is that of a Prometheus whose sympathy for mankind has changed to disgust on seeing the use that they are actually making of their emancipation. Humanitarian sympathy seemed to him to be tending not merely to a subversion, but to an inversion of vaules, to a positive preference for the trivial and the ignoble. 143

Ibid., S. 145. "" Ibid., S. 142. 142 Ibid., S. 143. Babbitt sprach in diesem Fall von der Heimsuchung der zoöphilpsychosis, um die Jahrhundertwende auch unter der Bezeichnung zoophile Psychose bekannt. Der Vorwurf der pathologischen Liebe zum Tier kursierte u.a. in den Schriften von Psychiatern und Neurologen, welche die ersten Tierschützer zu diskreditieren versuchten, da diese bereits Anfang des Jahrhunderts gegen den Gebrauch von Tieren für wissenschaftliche Experimente laut protestierten (vgl. Craig Buettinger, „Antivivisection and the Charge of Zoophil-Psychosis in the Early Twentieth Century", The Historian, 55/2 [1993]). Babbitts Vorwurf richtete sich freilich gegen Philanthropen im allgemeinen und nicht gegen Tierschützer, aber auch seine Absicht zielte darauf, den Gegner in Mißkredit zu bringen. 145 Ibid., S. 197.

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Das Geschenk der geistigen Freiheit an den Menschen sei also Nietzsches Sünde gewesen, die er immerhin soweit bereut habe, daß er schließlich Ekel vor den Menschen empfunden habe - vielleicht klang Nietzsches spätes Geständnis in Babbitts Ohr: „Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr." (EH „Warum ich ein Schicksal bin" 6) Jedenfalls fühlte er sich mit Nietzsche verbündet im Kampf gegen das Niederträchtige und das Triviale, was ihm genauso wie das Frivole verhaßt war. Den Gipfel moderner Trivialität sah er wie Nietzsche im modernen, vor allem im amerikanischen Zeitungsleser verkörpert,144 denn der Zeitungsleser suche bewußt die Zerstreuung in der professionell inszenierten Trivialität der Massenmedien. Im Gegensatz zu Nietzsche aber schmeckte Babbitt, dem wahren Puritaner, nicht nur die amerikanische Zeitungskultur verdächtig. Den Rousseau-Haß z.B. trieb er so weit, daß er fast alles Französische als zuckersüße, faule Trivialität ausspie. Seinen Lehrstuhl für Romanistik betrachtete er zeitlebens als eine Notlösung, da ihm keine Professur für Altphilologe oder Philosophie freigestellt wurde, und er nutzte seine Position als pädagogischen Hochsitz, von dem aus er Jagd auf die französische Geisteswelt, aber insbesondere und immer wieder auf Rousseau machte. Rousseau grollte er sowohl wegen dessen, was er war, als auch wegen dessen, was er in Bewegung setzte, weil jede Generation dieser Verderbnis von neuem ausgesetzt sei, denn jede neue Generation „may learn from Rousseau the art of sinking into the region of instinct that is below the rational level instead of struggling forward to the region of insight that is above it" ,145 Kein nüchterner, objektiver und geschmackssicherer Beobachter, meinte Babbitt, „can fail to be struck by its [Rousseauism's] pursuit of delirium, vertigo and intoxication for their own sake". 146 Seine Griechen hingegen lebten nur nach dem Gesetze des meden agan, des Maßhaltens. Sie wüßten wohl allzu genau „that alongside the Apollonian element ... is the orgiastic or Dyonisiac element", glaubten aber nie an die einseitige Hingabe an die eine oder andere Urkraft (obwohl „gute" Griechen eher Nachfolger Apollons zu sein tendierten), verließen sich nicht auf „intoxication, but on the law of measure and sobriety"147 im Leben. Rousseaus Geist sei es auch gewesen, der die Massen zur Umwertung der vornehmen Werte angestachelt habe, indem er sie mit falschem Stolz und Ressentiment gefüllt habe: „the inevitable effect of the Rousseauistic evangel is to make the poor man proud, and at the same time to make him feel that he is the victim

144

143 146 147

„The American reading his Sunday paper in a state of lazy collapse is perhaps the most perfect symbol of the triumph of quantity over quality that the world has yet seen". (Irving Babbitt, Democracy and Leadership, op. cit., S. 243.) Irving Babbitt, Rousseau and Romanticism, op, cit., S. 154. Ibid., S. 180. Ibid., S. 180ff.

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of a conspiracy".148 Diese Liebe zu allem Niederen und die alles Niedere in sich selbst verliebt machende Lüge von Gleichheit hätten die westliche Kultur an den Wendepunkt der Moralgeschichte geführt - die französische Revolution. Rousseau und die Revolution - das seien ein und dasselbe: If we wish to see the psychology of Rousseau writ large w e should turn to the French Revolution ... when the madness o f Rousseau became an e p i d e m i c . ... Robespierre ... was probably a more thoroughgoing Rousseauist than any other of the Revolutionary leaders. 1 4 9

Damit paßte sich Babbitt ein letztes Mal im präzisen Gleichschritt dem Gedankengang Nietzsches an, der mehr als 30 Jahre zuvor genau denselben Geist die Bastille stürmen sah: Rousseau, dieser erste moderne M e n s c h , Idealist und canaille in einer Person; der die moralische „Würde" nöthig hatte, um seinen eignen A s p e k t auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung [ . . . ] Ich h a s s e R o u s s e a u noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für d i e s e Doppelheit v o n Idealist und canaille. D i e blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre „Immoralität", geht mich wenig an:

was ich hasse, ist ihre R o u s s e a u ' s c h e Moralität

- die

sogenannten „Wahrheiten" der Revolution, mit denen sie i m m e r noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet.

D i e Lehre v o n der Gleichheit!

(GD

„Streifzüge eines U n z e i t g e m ä s s e n " 4 8 )

Alles Mittelmäßige (was für Babbitt immer die Massen bedeutete) habe Rousseau zum Aufstand angefeuert. Und in der alles Höhere niederstechenden Blutigkeit der Revolution habe der rousseausche Mensch selbst bewiesen, wie illusionär die Rede von der grundsätzlich guten Natur des Menschen sei. Was das überhaupt sei, diese an sich gute und unverdorbene Natur, „wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück?", formuliert es Nietzsche. Babbitt gab Nietzsches Antwort mit Eigenprägung wieder: The nature to which he [Rousseau] invites us to return is only a conceit.

This conceit

encourages one to substitute for the vital control, w h i c h is the true v o i c e of man's higher self, expansive emotion. 1 5 0

Damit sind allerdings die Grenzen von Babbitts Nietzsche-Verständnis bereits gezogen: Nietzsche der Stoiker, Nietzsche der Traditionalist, Nietzsche der Klassizist, Nietzsche der Antirousseauist. In vielem tat Babbitt es den von ihm gerügten jungen Radikalen gleich; wo er in Nietzsches Werk hinein blickte, da schaute einfach er selbst oft genug wieder heraus.

148 149 150

Irving Babbitt, Democracy and Leadership, Irving Babbitt, Rousseau and Romanticism, Irving Babbitt, Democracy and Leadership,

op. cit., S. 77. op. cit., S. 135. op. cit., S. 17.

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III.3.b Paul Elmer More (1864-1937) Der den Kronprinzen zu Babbitts Königsrolle im Reich der Neuhumanisten spielte, Paul Elmer More, unterhielt weniger freundschaftliche Beziehungen zu Nietzsche, obwohl Mores Kulturanalyse fast völlige Konformität mit dem Programm Babbitts aufwies. Sein biographischer Hintergrund glich dem Babbitts fast haargenau. Beide wuchsen in dem ihnen als kulturelle Wüste erscheinenden mittleren Westen auf und pilgerten als junge Männer nach Harvard, um sich an der Quelle der amerikanischen Tradition und des amerikanischen Puritanismus zu nähren. Dort lernten sie sich im Studium kennen, wo die beiden Klassizisten als einzige Studenten ein Seminar in Sanskrit bestritten. More sollte Sanskrit sogar selbst einige Jahre in Harvard als Assistent unterrichten. Aber nach den kurzen Lehraufträgen in Cambride, Mass. und am Bryn Mawr College in Pennsylvania zog sich More aus dem Universitätsbetrieb zurück, um in New Jersey in selbstgewählte lebenslängliche Klausur zu gehen. More fristete seinen Lebensunterhalt mit Arbeit bei verschiedenen Zeitungen, zuletzt als Herausgeber der Nation. Seine eigentliche Leidenschaft galt jedoch seinen literarischen und kulturkritischen Aufsätzen. Zwischen 1904 und 1937 geschrieben und 14 Bände umfassend, sind die Shelburne Essays (genannt nach dem Ortsnamen seiner Einsiedelei) Mores Lebenswerk. Die anachoretische Natur von Mores Leben und Beruf hob ihn deutlich vom Freund und Mitstreiter Babbitt ab. Babbitt suchte eifrig und kampffreudig den Kontakt mit Studenten, Fachwelt und publizistischer Öffentlichkeit, um seinem Anliegen Gehör zu verschaffen, während More stets den Eindruck erweckte, der Welt außerhalb seiner Hausbibliothek eher nicht gewachsen zu sein. Noch entscheidender für den Kontrast zwischen Babbitt und More war aber die tiefe innerliche Religiosität Mores, welche im Laufe der Jahre verschiedene Formen annahm und ihn von der nüchternen Sachlichkeit und Weltlichkeit Babbitts immer distanzierte. 151 Mores neuhumanistisches Dossier deckte sich in den Hauptpunkten mit den Argumenten Babbitts. Die Verachtung Rousseaus und der Romantik, der Glaube an die natürliche Aristokratie und die Forderung nach Beherrschung der Gefühle füllen alle große Teile der Shelburne Essays aus. Die gesellschaftlich institutionalisierte Gerechtigkeit könne nach Meinung beider auf keinen Fall bedeuten, daß alle Menschen völlig gleichgestellt werden sollten, noch daß ihnen diese theoretische Gerechtigkeit eingeredet werden dürfte. Die Rangordnung als Prinzip der Gerechtigkeit sah Babbitt aber im Gegensatz zu More als historisch evident an: Wo Egalitarismus und Mitleid zum herrschenden Prinzip aufzusteigen gedroht hätten, da hätten Dekadenz und Niedergang der Kultur nicht lange auf sich warten lassen. More hingegen wollte eine philosophische Begründung dieses Prinzips, die er schließlich nur in der geistigen Teilhabe des Menschen am Absoluten fand.

151

Vgl. Alfred Kazin, On Native Grounds, op. cit., S. 291-311.

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Die Gerechtigkeit der natürlichen Rangordnung lebe als metaphysischer Imperativ in jedermanns Brust: The fact is: the very idea of justice or injustice has no real application to Nature. ... our sense of justice ... springs from something within our breasts that is not subject to her sway, - from a law, that is, that transcends the material law of evolution, being, if we use words strictly, not natural at all, but supernatural. 152

Diese Opposition von dem die Materie transzendierenden göttlichen Geist im Menschen und der organischen Evolution in der Natur drückte die Grundhaltung Mores aus. Dabei wurde ihm die Evolution zur sekundären Kraft, weil dem Geist des Menschen unterlegen. Diese Grundhaltung führte dazu, daß More als new humanist oft Nietzschesche Thesen vertrat, ohne sie als solche anzusehen, und auch ohne von seiner stringenten Ablehnung Nietzsches abzurücken. Nietzsche, schrieb More, „derives his principle avowedly from the apparent procedure of evolution. He approves of that procedure without reservation". 153 Damit war für More das vernichtendste aller Urteile über Nietzsche gesprochen, denn der moralische Evolutionist war in seinen Augen menschenverachtend. Nietzsche deutete er also als antichristlichen Materialisten und Darwinisten. Und dennoch warnte More eindringlich vor den Gefahren des Mitleids, das im neuhumanistischen System als Auflösungsprinzip galt: Sympathy, spoken with the word „social" prefixed, as it commonly is on the platforms of the day, begins to take on dangerous connotations. And „social sympathy" errected into a theory which leaves out of account the responsibility of the individual and seeks to throw the blame of evil on the laws and on society ... is bound to leave the individual weakened. 1 5 4

Mores Haß auf Nietzsche zwang ihn zu manchem Widerspruch. Einerseits zeigte er Bereitschaft, das christliche Gebot des Mitleids als Gefahrenpotential für das Individuum und die Gemeinschaft auszuweisen, während er Nietzsche andererseits Mitschuld am Krieg bescheinigte, weil er die Deutschen vom Unwert des Mitleids überzeugt haben solle: Nietzsche ... has travestied Darwinism into a philosophy of the Will to Power, and has taught thousands of Germans that active sympathy for the weak is more dangerous to the human race than any crime. 155

Es wäre jetzt müßig, das Programm des new humanism abermals am Beispiel Paul Elmer Mores aufzurollen und als Widerspruch zu seinem Antinietzscheanismus darzustellen. Es ist nur sinnvoll darauf hinzuweisen, daß die oft ans Irratio-

152

153 154 155

Paul Elmer More, Aristocracy and Justice. Shelbume Essays. Ninth Series (New York, 1915), S. 108f. Ibid., S. 118. Ibid., S. 211. Ibid., S. 227.

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nale grenzende Zurückweisung Nietzsches bei manchen Rezipienten zu einer solchen verblendeten Prinzipienreiterei und einem solchen theoretischen Zugzwang werden konnte, daß diese ihre philosophische Nähe zu Nietzsche nicht merkten oder vollends verdrängten. More wird ohnehin ein zweites Mal zu Wort kommen, wenn die philosophischen Nietzsche-Monogrophien durchleuchtet werden. Blickt man an dieser Stelle kurz auf Babbitts Frontstellung zu den literary radicals zurück, dann wird andererseits nochmals klar, daß wieder einmal verfeindete Parteien sich Nietzsche zunutze zu machen suchten, obwohl beide Gruppen Nietzschesche Ideale zu vertreten behaupteten. Das scheint letztlich nicht nur an den tendenziösen Motiven der Interpreten, sondern zum Teil auch an den inneren „Widersprüchen" in Nietzsches Denken gelegen zu haben. Es beweist aber auch nochmals die Universalität von Nietzsches Gesichtskreis, denn diese sich wechselseitig widersprechenden Interpretationen sind oft auch richtig, nur einseitig, weil bar des Nietzscheschen Perspektivismus. Babbitt sah sehr klar die Rousseau-Kritik Nietzsches, aber den Willen zur Macht etwa verstand er nie anders denn als eine libido dominandi, die ihm genauso großen Schrecken einflößte wie die unterschiedslose Menschenliebe der Rousseauisten.156 Eines läßt sich anhand der Gesellschaftstheorien sowohl der literary radicals als auch der new humanists feststellen: In der zweiten und dritten Dekade des Jahrhunderts war die Demokratiekritik in Amerika hoffähig geworden, egal ob man eine Reform im Sinne einer Erweiterung oder einer Einschränkung der Mitbestimmungsrechte des Volkes vorantreiben wollte. Man kann überdies sagen, daß diese Kritiker in puncto Demokratiekritik sich einer Meinungsfreiheit erfreuten, die erst mit Hilfe H.L. Menckens gewonnen worden war. Menckens Nietzsche-Deutung gab, wie sich schon beobachten ließ, mal mehr, mal weniger den Ton vieler dieser Essayisten mit an. Hinter den Kulissen war der Menckensche Nietzsche fast immer als Regisseur tätig. Bei Menckens eigener Inszenierung der Philosophie Nietzsches war der Vorhang jedoch keineswegs nach dem ersten Akt 1908 gefallen. Sein nachfolgender Aufstieg zum Imperator der amerikanischen Gesellschafts- und Kunstkritik war zu einem nicht geringen Maße durch die Fortsetzung seiner Nietzsche-Interpretation in Form der Anwendung von dessen kritischen Prinzipien bedingt. Das heißt, Menckens Kulturkampf mit der Nation hätte ohne das frühe und prägende Erlebnis der Nietzscheschen Philosophie nicht die Konturen herausgebildet, die Mencken auch heute noch lesenswert machen. Diese Konturen sollen nun ein letztes Mal abgepaust werden.

154

Irving Babbitt, Democracy and Leadership, op. cit., S. 259.

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III.4 H.L. Mencken redux Von 1908 bis 1924 redigierte H.L. Mencken zusammen mit George Jean Nathan die satirische Zeitschrift The Smart Set, aus der vor allem die Jugend der 20er Jahre einen wesentlichen Teil ihres Welt- und Amerikabildes bezog. 1924 gründeten Mencken und Nathan das viel aufwendiger gestaltete Blatt The American Mercury (Mencken befand, seiner Stellung gebühre nun ein etwas nobleres Äußeres, von der Papierqualität bis hin zum Druckbild), das gänzlich als Sprachrohr der zwei Herausgeber diente und den typisch Menckenschen Spott in ganz ansehnlichen Auflagen über das ganze Land ausgoß. Menckens Einfluß und Bedeutung in der journalistischen Welt dieser Zeit sind kaum zu überschätzen. Auch Klaus und Erika Mann kamen auf einer ihrer Amerikareisen in den 20er Jahren der für Prominente auf Kultururlaub selbstverständlichen Pflicht nach, beim „mächtigen Kritiker H.L. Mencken" um eine Audienz zu ersuchen. Das war der Mencken, „der um diese Zeit [1927] als Redakteur des .American Mercury', mit aggressivem Witz und unbestrittener Autorität, sein Zepter schwang". Nicht nur Menckens Berühmtheit, auch seine Kultiviertheit („Er setzte uns einen sehr guten Burgunder vor") und luxurierende Kenntnis beredter Bücher entzückten die gewiß nur beste und unterhaltsamste Gesellschaft gewohnten Geschwister Mann: „Wir fanden ihn überraschend sattelfest in den deutschen Klassikern und lebhaft interessiert an allen neuen Versprechen oder Leistungen unserer Literatur". 157 Sicherlich stärkte diese Berühmtheit Menckens Einfluß auch als NietzscheAutorität auf viele der schreibenden Zunft, wie sich bei den literary radicals zeigte. Es soll aber klargemacht werden, daß sich Menckens Wirken auf die amerikanische Nietzsche-Rezeption nicht nur indirekt in die Schriften anderer Essayisten als hintergründiges Vor- oder Gegenbild einschlich. Beeinflußt hat er ferner Autoren, die sich bewußt als Schüler oder Nachfolger Menckens empfanden. So etwa der Kunstkritiker, Romancier und Bonvivant Willard Huntington Wright, der vor dem Zutritt Menckens auch Mitherausgeber der Smart Set gewesen war, aber zu Geld und Ruhm erst unter dem Pseudonym S.S. Van Dine als Autor der etwas anspruchsvolleren Kriminalromane um die Figur des Philo Vance gelangte. Sein What Nietzsche Taught (1915) verfaßte Wright als Aneinanderreihung von Einzelstudien zu individuellen Werken Nietzsches, jeweils mit einer nachfolgenden Exzerptesammlung versehen, welche den Leser auf den Geschmack an den vollständigen Originaltexten bringen sollte. Wrights Schuldigkeit gegenüber Mencken bedarf kaum der Klärung durch Aufzeigen der vielen Entlehnungen aus Menckens Buch, denn schon die auf der Titelseite prangende Widmung - „To

157

Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (München, 1949 [von Klaus Mann ins Deutsche übersetzte und stark überarbeitete Version des englischsprachigen Originals The Turning Point von 1942]; hier nach der Taschenbuchausgabe [Hamburg, 1984] zitiert), S. 185f.

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H.L. Mencken, the critic who has given the greatest impetus to the study of Nietzsche in America" 1S8 - verrät, wessen Geistes die Untersuchung ist. Hier seien nur einige der von Wright ausgeliehenen Thesen Menckens erwähnt. Da war zum einen die aristokratische Grundhaltung von Nietzsches Denken, das sich nur an die höchsten Individuen richte: The whole of his preaching was addressed, not to men in the mass, but to the small minority of exceptional men. ... Nietzsche dreamed no dream of all mankind converted into a race of supermen: the only vision he saw was one of supermen at the top. To make an end, his philosophy was wholly aristocratic.159

Zum anderen stellte Wright die Kritik der Werte bei Nietzsche „the idol-smasher" in den Vordergrund: „One by one the doctrines and tenets, strengthened by the accumulative acceptance of centuries, go down before his bludgeon", 160 und den höheren Menschen Nietzsches interpretierte er als „the thinking man, the intellectual aristocrat" 161 (vgl. Mencken: S. 92, 154, 166). Es waren aber bedauerlicherweise in erster Linie die gelegentlichen Peinlichkeiten Menckens, welche Wright im stärksten Ausmaße übernahm. Menckens Tendenz, Nietzsche ausschließlich als Positivisten und Gegner allen spekulativen Denkens zu sehen, tauchte an verschiedenen Stellen bei Wright auf: He [Nietzsche] adheres to demonstrable formulas, and reasons along lines of strictest reality. The practical man he holds in high esteem, and constantly praises the advance of science. He devotes pages to the blowing to pieces of metaphysical air-castles.162 (vgl. Mencken: S. 150)

Die aus dieser positivistischen, materialistischen Lesart sowie der mangelnden philosophischen Schulung resultierende Unfähigkeit Menckens, eine Interpretation der ewigen Wiederkehr zustandezubringen, sowie die anschließende pauschale Ablehnung des Konzepts als eines für Nietzsches Denken belanglosen Hirngespinstes begegnet fast wörtlich in Wrights Text: despite the fact that in his autobiography [EH] Nietzsche calls this speculative philosophic doctrine [of eternal return] „the highest of all possible formulas of a Yea-saying philosophy", too much importance must not be attached to it in its relation to his writings ... it had little influence on his main doctrine of the superman.163 (vgl. Mencken: S. 118)

Gerade das für Nietzsche Undenkbare, die Vorstellung eines Übermenschen, der keine Kenntnis der ewigen Wiederkehr hätte, behauptete Wright in aller

ISil 159 IS)

"3

Willard Huntington Wright, What Nietzsche Ibid., S. 287ff. Ibid., S. 51. Ibid., S. 178. Ibid., S. 94. Ibid., S. 140.

Taught (New York, 1915), Titelseite.

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apodiktischen Unschuld. Die Wagner-Schriften tat er nach Menckens Beispiel als nur für Musikfreunde von Interesse ab164 (vgl. Mencken: S. 293), und selbst Menckens orthographische Fehler (z.B. „sklavmoral", vgl. Mencken: S. 85) arbeitete Wright bedenkenlos in seinen Text ein. Die Liste könnte - muß aber keineswegs - mühelos fortgeführt werden. Ein weiterer Fall aus der Menckenschen Schule fand sich in James Nelson Wood, einem zum Amateurphilosophen gewordenen Ingenieur, dessen philosophische Bildung anscheinend zur Gänze aus der Lektüre von Nietzsche und Mencken bestand, und den Mencken in seinem Vorwort zu Woods Democracy and the Will to Power (1921) als einen unbequemen Wahrheitssucher zelebrierte, der sicherlich auf ehrenwerten Argwohn bei den dem philosophischen Denken abgeneigten Massen stoßen werde: The plain people distrust and dislike truth-tellers, for the truth is something harsh, and they prefer ease.

It is the most comforting soothsayer w h o is always on top, o n c e the

clash of tin swords is over. 1 6 5

Nietzsches Philosophie nannte Wood mit kennerischem Gestus „the first step forward since Plato's time", 166 weil Nietzsche die von Natur gegebene Ungleichheit der Menschen offen proklamiere. Wood ging es um Menckens Demokratiekritik, zu der die Argumentation Nietzsches einen jeden denkenden Menschen zwinge. Auch Wood behauptete die logische Notwendigkeit einer natürlichen Aristokratie, tröstete sich aber (im Gegensatz zu Mencken) mit der Gewißheit, daß der Wille zur Macht des höheren Menschen diesen letzten Endes auch zur Verfügung über die Staatsgewalt bringe und dadurch selbst hinter der Fassade der demokratischen Staatsform eine eigentliche Effizienzaristokratie errichte. „All systems [of government]", erläuterte Wood zuversichtlich, „aim to prevent the rise of the exceptional man but none succeed, except in part. He will, inevitably, force his way". 167 Obwohl er schließlich eine wesentlich optimistischere Meinung als Mencken vertrat, können auch bei Wood die Spuren des Baltimorer Weisen kaum verkannt werden. Menckens großes Thema war zweifellos das Mißtrauen gegenüber den Auswirkungen der Demokratie auf Amerika. Die bedeutendsten theoretischen Momente dieses staatsphilosophischen Argwohns entsprangen einer Quelle: der Philosophie Nietzsches. Bereits in The Philosophy of Friedrich Nietzsche hatte Mencken das egalitäre Prinzip als eine mit der natürlichen Verschiedenheit der Menschen (vornehmlich die Intelligenz betreffend) unvereinbare Idealvorstellung identifiziert.

164

„The Wagner documents, though interesting, have little to do with Nietzschean doctrines." (Willard Huntington Wright, What Nietzsche Taught, op. cit., S. 18.) James Nelson Wood, Democracy and the Will to Power (New York, 1921), S. 14. 166 Ibid., S. 32. "" Ibid., S. 155.

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In der berühmten Prejudices168 betitelten Essayserie (6 Bd., 1919-1927) und anderen Büchern wie The American Credo (1920) oder Notes on Democracy (1926) ergänzte Mencken nun seine Analyse des Nutzens und Nachteils der Demokratie um weitere von Nietzsche entfaltete Aspekte. Der „naive" demokratische Glaube, diese „Sentimentalität" der Amerikaner sei nach Mencken zu einem Gruppenzwang ausgeartet, der jede Kritik an der demokratischen Gesellschaftsordnung verhindere. „The pressure of environment", konstatierte er, of mass ideas, of the socialized intelligence, improperly so called, is too enormous to be withstood. No American, no matter how sharp his critical sense, can even get away from the notion that democracy is, in some subtle and mysterious way, more conducive to human progress and more pleasing to a just God than any of the systems of government which stand opposed to it.169

Aber nicht nur äußere Umstände oder „Herdenmentalität" vereiteln diese Bewußtseinserhellung in Sachen Demokratie. Auch das Volk selbst, schloß Mencken, drücke sich aus Furchtsamkeit - eine Erinnerung an Schopenhauer als Erzieher vor der Aufgabe der kritischen Reflexion über die Demokratie, denn: „the earliest and most profound of human emotions is fear".170 Der Urspung des demokratischen Gedankens interessierte Mencken nicht weniger als die Bloßstellung des unmündigen Volkes. Den new humanists gab er recht in ihrer Einschätzung Rousseaus,171 aber vielmehr im Gesamtphänomen des Ressentiments erblickte er die Quelle der demokratischen Idee. Das Ressentiment sprach er schlicht als „Neid" (envy) an, den er als erstes Aufflackern der revolutionären Glut im Auge des haßerfüllten „Schlechtweggekommenen" sah, der hämisch nach dem üppigen Leben der Begnadeten und Starken hinschiele: The essential thing about democracy, as every one must know, is that it is a device for strengthening and heartening the have-nots in their eternal war upon the haves. That war, as every one knows again, has its psychological springs in envy pure and simple envy of the more fortunate man's greater wealth, the superior pulchritude of his wife or wives, his larger mobility and freedom, his more protean capacity for and command of happiness - in brief, his better chance to lead a bearable life in this worst of possible worlds. It follows that under democracy, which gives a false power and importance to the have-nots by counting every one of them as the legal equal of George Washington or Beethoven, the process of government consists largely, and sometimes exclusively, of efforts to spoil that advantage artificially.172

168

Der Titel drückte einerseits Menckens Vorhaben, die tradierten Vorurteile der Kultur zu zerstören, sowie die Selbstherrlichkeit aus, mit der Mencken seinen jeweiligen Standpunkt immer bezog - er gönnte sich also mit Bewußtheit den von Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fir das Leben beschriebenen „festen Horizont" naiver, gesunder Völker und Individuen. IM H.L. Mencken, Prejudices. First Series (New York. 1919), S. 158. "" H.L. Mencken, Notes on Democracy (New York, 1926), S. 19. ,7 ' Ibid., S. 3. 172 H.L. Mencken, Prejudices. Third Series (New York, 1922), S. 106.

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Daß der „have-not" durch Erlangung des gleichen materiellen Lebensstandards des „have" sich auf ein gleiches kulturelles und menschliches Niveau wie dieser heben zu können meine, zeigte für Mencken den fundamentalen Denkfehler auf, der diesem Wunsch nach „sozialem Ausgleich" zugrundeliege. Ein in der Gesellschaft führendes, „großes" Individuum zu sein, bedeutete für Mencken nicht einfach den zufälligen Besitz der äußeren Macht oder der Gunst des materiellen Komforts. Der führende Mensch habe Verantwortung zu übernehmen und als Leitbild zu dienen, da seine Werte die der Gemeinschaft bestimmen sollten. Das große Individuum lebe, meinte Mencken, den höchsten Begriffen von Freiheit und Ehre gemäß. Diese Begriffe verstehe aber nur der höhere Mensch, nicht der „Pöbel", denn „liberty is unfathomable to him [the mob man]. He can no more comprehend it than he can comprehend honour". 173 Der Durchschnittsmensch, sei er doch im Grunde, wie Nietzsche meint, canaille, könne unmöglich einen wirklichen Ehrbegriff kennen. Das möchte man Mencken als richtige Interpretation Nietzsches zugestehen. Aber Freiheit, könnte man vielleicht einwenden, müßte das Allerselbstverständlichste der Demokratie überhaupt sein, und vor allem der ehemalige Untertan müßte am besten wissen, was frei zu sein heiße. Aber Mencken legte den Begriff der Freiheit offenbar anders aus, als die Allgemeinheit tut. Die Masse verstehe unter der für sie ohnehin verschwommenen Vorstellung der Freiheit lediglich den platten Eudämonismus des körperlichen Wohlergehens: W h e n the city m o b fights it is not for liberty, but for ham and cabbage. W h e n it wins, its first act is to destroy every form o f freedom that is not directed wholly to that end.' 7 4

Wahre Freiheit dagegen bestehe nur in der freiwillig aufgenommenen, ja schwer erkämpften Bürde individueller Autarkie - „Liberty means self-reliance, it means resolution, it means enterprise, it means the capacity for doing without". 175 Diese Bürde zu tragen, seien nur die von Natur und Bildung aus vornehm, willensstark und charakterfest gearteten Wenigen kräftig genug. Einen möglichen Nährboden eines solchen Individualismus erblickte MenCken in den alten Patrizierfamilien Amerikas: T h e heritage of freedom belongs to a small minority o f men, descended ... from the old lords of the soil or from the patricians of the free towns.

It is my contention that

such a heritage is necessary in order that the concept o f liberty, with all its disturbing and unnatural implications, may be s o much as grasped - that such ideas cannot b e implanted in the mind o f man at will, but must be bred in as all other basic ideas are bred in. 176

113 174 175 176

H.L. Mencken, Notes on Democracy, Ibid., S. 44. Ibid., S. 45. Ibid., S. 43.

op. cit., S. 46.

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Die Demokratie, sollte sie wirklich als bejahenswertes Ideal realisiert werden, brauche Menschen, die zur wahren „Freiheit" fähig wären. Aber die Masse strebe nicht nach Freiheit, sondern nach „Glück", nach der sorg- und mühelosen Befriedigung aller animalischen Grundbedürfnisse, kurz: nach Erlösimg von allem Schmerz und aller Unlust. Die Freiheit hingegen fordere einen hohen Tribut und sei nur unter Schmerzen zu erreichen. Wesentlich für Nietzsches Willensmetaphysik ist die Überzeugung, daß der Mensch oder der Wille im Menschen nicht nach „Glück" strebe. Das hält er in ironischer Brechung fest, wenn er schreibt: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das". (GD „Sprüche und Pfeile" 12) „Der Engländer" - das heißt hier einfach Merkantilismus und Utilitarismus, Ideale des niederen Menschen. Der niedere Mensch meine, daß er nach dem Glück trachte dem Begriff, den er mit Schmerzlosigkeit zu verbinden gelernt habe. Aber der alles durchwaltende Wille zur Macht suche durch alle Menschen eben Macht. Diese allgemein „Glück" genannte Abwesenheit von Schmerz und Unlust stelle eine der Natur des Wünschenden entsprechend niedere Form der Macht dar. „Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust", heißt es im Nachlaß: Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung, - was der Mensch will, was jeder kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. (KSA ΧΠΙ 14[174])

Nietzsche zieht einen unmißverständlichen Vergleich: „,Der Glückliche': Heerdenideal". (KSA XIII 11 [76]) Erst im höheren Menschen manifestiere sich der Drang nach Mehrung der Macht als Streben nach Autarkie. Von den freien oder „freizügigen" Geistern, zu denen Nietzsche sich selbst zählt, heißt es, sie seien freizügig zu nennen, „weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen [...] im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellect s " . (VM 211) Schließlich darf nur „dem veredelten Menschen" die „Freiheit des Geistes gegeben werden". (WS 350) Wenn aber der Machtwille sich im höheren Menschen zum Freiheitskampf aufschwingt, welche Form hat denn dieser Machtgrad, den die Freiheit begleitet? Sie ist keine leicht erreichbare Sache, wie Nietzsche unter „Mein Begriff von Freiheit" erläutert. „Der Werth einer Sache", steht da, „liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, - was sie uns kostet". Freiheit erlangt man also mit Blut, Schweiß und Tränen, durch Freiheitsfazwy?/des Willens. So kommt Nietzsche zu der Feststellung: der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass mann gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. [...] Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks". (GD „Streifzüge eines Unzeitgemässen" 38)

180

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"Freiheit" ist nicht nur nicht „Glück", sie steht auch viel höher als jeder Gegenstand des Eudämonismus und bleibt den allerhöchsten Exemplaren der Menschheit vorbehalten. Mencken wurde also wieder eine elementare Einsicht zuteil, als er seinen Freiheitsbegriff auf den Nietzsches zurückführte: „Nietzsche, with his usual clarity of vision, saw the point clearly. Liberty, he used to say, was something that, to the general, was too cold to be borne". 177 Nur der Hyperboreer hält diese Kälte aus. Menschen dieser Gesinnung und dieses Formats habe es zwar auch in Amerika gegeben, wie z.B. Emerson, aber dessen Stimme sei im eigenen Land auf taube Ohren gestoßen. Da sah sich Mencken wieder einmal auf Nietzsche zurückgeworfen, der im Gegensatz zu den meisten Amerikanern die Größe Emersons erkenne: „When one casts about for salient men whom he [Emerson] moved profoundly, men who got light from his torch, one thinks first and last, not of Americans, but of such men as Nietzsche."178 Jetzt wußte Mencken, daß den Mitgliedern einer möglichen, natürlichen amerikanischen Aristokratie nicht nur eine besondere intellektuelle Befähigung eignen müßte; ihnen müßte auch der Sinn nach den harten Entbehrungen der Freiheit stehen. Das war der große interpretatorische Schritt nach vorn, den Mencken in der Zeit nach Erscheinen seines Nietzsche-Buches machte. In allen Ansätzen zu einer herrschenden und werteschaffenden Kaste in Amerika vermißte Mencken just diese wahrhaft freiheitliche Gesinnung. Die seiner Meinung nach tatsächlich herrschende Klasse der Finanzmacht führe dagegen zu einer stumpfsinnigen Plutokratie, welche aufgrund ihrer geistigen und seelischen Dürftigkeit nie einen würdigen Begriff von Freiheit entwickeln könne: the intellectual deficiencies o f the plutocracy - its utter failure to s h o w anything e v e n remotely resembling the makings of an aristocracy [are obvious]. It is badly educated, it is stupid, it is full of low-caste superstitions and indignations, it is without decent traditions of informing vision; above all, it is extraordinarily lacking in the most elemental independence and courage. 1 7 9

Aus Menschen ohne Mut und Bewußtsein für Unabhängigkeit können also auch Reichtum und politische Macht keine freien Geister machen - diese Faktoren eigentlich am allerwenigsten. Aber auch die bislang machtlos gebliebene Intelligenz hielt Mencken für unfähig, eine Führungsrolle in der Gesellschaft zu bekleiden. Will Durants unreflektiertes Vertrauen zu den Professoren lag Mencken fern. Er teilte vielmehr Nietzsches oft spöttische Skepsis gegenüber den Gelehrten als „alten Jungfern" des Wissens (JGB 206), gegenüber dem Professor als ,,de[m] kleine[n] anmaassliche[n] Zwerg und Pöbelmann, de[m] fleissig-flinke[n] Kopf- und Hand-

171

Ibid., S. 148. H.L. Mencken, Prejudices. "* H.L. Mencken, Prejudices. 178

First Series, op. cit., S. 194. Second Series (New York, 1920), S. 72f.

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arbeiter der .Ideen'". (JGB 58) Richtete Mencken sein Augenmerk auf die Universitäten, so sah er nur „an indistict herd of intellectual eunuchs".180 Sie mögen wohl „a great book-knowledge, a laudable diligence, a certain fine reserve and sniffishness", also „gelehrte" Tugenden, aufweisen, aber under the surface one quickly discovers that the whole thing is little more than playacting, and not always very skillful. Learning is there, but not curiosity. A heavy dignity is there, but not much genuine self-respect. Pretentiousness is there, but not a trace of courage. 181

Da entblößt sich alles aristokratisch Anmutende wieder einmal als nur fadenscheiniges Gehabe. Dieses anscheinend unstillbare Ungenügen an der Demokratie und der amerikanischen Gesellschaft führt ins Herz einer der wichtigsten Fragen zum Einfluß Nietzsches auf H.L. Mencken. Diese lautet: Wurde Mencken, zum Teil wegen seiner Nietzsche-Anhängerschaft, im Laufe der Jahre schließlich monarchisch, antiamerikanisch und deutsch-nationalistisch? Die Thematik ist durchaus aktuell, wird doch auch heute von „Mencken's profound distrust in American democracy, and what is more, the idea of modern democracy itself" gesprochen. Bei solchen Betrachtungen tritt in Mencken der antiamerikanische Deutschfreund hervor, in dessen Schriften man nur zu deutlich sehe, daß the German word „Kultur"... is, of course, highly charged with everything for which Mencken had a deep seated respect. ... the English word „American" ... stood for almost everything he thought despicable.' 82

Man darf aber über Mencken nicht voreilig urteilen, denn letzten Endes hatte er keine Skrupel, Leser vor den Kopf zu stoßen oder zu verwirren, und Widersprüche sind in seinen Werken alles andere als ungewöhnlich. Den Mutwillen zum Paradox hatte er schon als junger Journalist bei Huneker kennengelernt. Mencken selbst sendete freilich die Signale, die überall als Zeichen seines preußischen Chauvinismus gedeutet wurden. Angefangen hat das alles, als Mencken mit seinem „skandalösen" Beitrag „The Mailed Fist and its Prophet" im Jahre 1914 öffentlich für Nietzsche und gleichzeitig für die deutschen Interessen im Krieg eintrat. Nach außen hin kultivierte Mencken ein sehr affektiertes Deutschtum - so als lebe er eigentlich in der Diaspora mit vielen anderen noch heimatverbundenen Deutsch-Amerikanern. Die Familie Mencken war aber schon seit drei Generationen in Amerika. Mencken hatte beispielsweise keine ihm bekannte Verwandtschaft in Deutschland mehr und kam über seine passiven Kenntnisse der deutschen Sprache nie hinaus.

1,2

H.L. Mencken, Prejudices. First Series, op. cit., S. 82. H.L. Mencken, Prejudices. Second Series, op. cit., S. 78. Carin Freywald, „H.L. Mencken: How German Was He?", Germany and German Thought in American Literature and Cultural Criticism, hrsg. von Peter Freese (Essen, 1990), S. 175.

182

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Sein posiertes Liebäugeln mit dem Wilhelminischen Reich entstammte kaum einer tief empfundenen, autochthonen Verwurzelung in der weltweiten Volksgemeinschaft ausgewanderter Deutscher, sondern diente einer bewußten Provokation. Die Mimik eines echten Deutschtümlers ist überall in Menckens Arbeiten geschickt und wirkungsbedacht eingefädelt. Bismarck, schrieb er einmal, schneide im Vergleich mit den verlogenen, engstirnigen amerikanischen Politikern sehr gut ab, denn er lege weit- und staatsmännische Offenheit an den Tag, die er auch damit beweise, daß er sachlich und ruhig die Vor- und Nachteile der Demokratie erörtern könne: One is not surprised to hear o f B i s m a r c k , a thorough royalist, d i s c u s s i n g d e m o c r a c y with c a l m and fairness, but it w o u l d b e u n i m a g i n a b l e for the A m e r i c a n p e o p l e , or for any other democratic p e o p l e , to d i s c u s s r o y a l i s m in the s a m e manner. 1 8 3

Die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, meinte er an anderer Stelle, habe nicht zum Abbau der Korruption und der Junker-Seilschaften (die Mencken damit offenbar immerhin für abschaffenswert hielt) in der deutschen Politik beigetragen, sondern die Probleme noch verschlimmert: S i n c e the abolition o f the three-class s y s t e m in Prussia there h a s b e e n absolutely n o i m p r o v e m e n t in the g o v e r n m e n t o f that country; o n the contrary, there has b e e n a v a s t falling o f its honesty and e f f i c i e n c y . 1 8 4

Der von Mencken idealisierte Präsident Theodore Roosevelt (im Gegensatz zum späteren Präsidenten Franklin Roosevelt, den Mencken fanatisch verabscheute) habe sich politisch, glaubt man Mencken, offensichtlich von Nietzsche und dem deutschen Kaiser inspirieren lassen,185 und der wahre Geist moderner Wissenschaft sei erst mit der Gründung der Johns Hopkins Universität in Amerika eingekehrt, die ja „a bald imitation of the German universities" sei, „long held suspect by native opinion". 186 All das scheint eindeutig von Menckens einseitiger Bewunderung Deutschlands zu "zeugen. Aber Mencken konnte durchaus differenzierter sein, wenn es ihm darauf ankam. Dieser selbststilisierte Anglophobe befand ganz entgegen seinen als antienglisch geltenden Gepflogenheiten, daß Amerika die wichtigsten Impulse seines eigenen geistigen Lebens der „steady importation in bulk of ideas from

183 1.4 1.5

186

H.L. Mencken, Prejudices. First Series, op. cit., S. 168. H.L. Mencken, Notes on Democracy, op. cit., S. 83. „1 daresay, he [Roosevelt] owed a lot to Nietzsche. He was always reading German books, and among them, no doubt, were ,AIso sprach Zarathustra' and Jenseits von Gut und Böse.' In fact, the echoes were constantly sounding in his own harangues. ... In his palmy days it was often impossible to distinguish his polito-theological bulls from those of Wilhelm. ... Wilhelm was his model in Weltpolitik, and in sociology, exegetics, administration, law, sport and connubial polity no less. ... If, in fact, there was any difference between them, it was all in favor of Wilhelm." (H.L. Mencken, Prejudices. Second Series, op. cit., S. l l l f . ) Ibid., S. 48.

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183

abroad" verdanke, „and particularly, in late years, from England". 187 Mencken gab sich außerdem keinen rassistischen, chauvinistischen Illusionen über eine angebliche geistige Überlegenheit oder superiore Bildung des deutschen Volkes hin: The Germans, taking one with another, are on the cultural level of green-grocers. ... In the whole lot I can think of but a score or two who could name offhand the principal works of Thomas Mann, Otto Julius Bierbaum, Ludwig Thoma or Hugo von Hofmanns thai. 188

Wenn er nun doch in der Lage war, die Dinge auch von anderer Seite zu sehen, warum führte Mencken manchmal dieses deutschnationale Brustklopfen vor? Schließlich zählte er zu den ersten, die Nietzsches vernichtende antideutsche Kritik herausstrichen. Das geschah aber immerhin in seinem ersten Buch von 1908. 1914 begriff Mencken, daß unter dem Vorwand einer pro-deutschen Haltung sich ganz andere Profilierungsmöglichkeiten auftaten, als wenn er mit den vielen über das deutsche Kriegstreiben indignierten Journalisten Schritt hielte. Mencken war schlicht und einfach das, was man im englischen einen publicity hound nennt. Wie auch immer, er wollte auf jeden Fall in die Schlagzeilen kommen, und sein doch sehr treffsicheres Gespür sagte ihm, daß er dies am besten als Außenseiter erreichen könnte. Die kalkulierte Inschutznahme der Deutschen im ersten Weltkrieg verschaffte ihm mehr öffentliches Aufsehen, als er sich hätte träumen lassen. Sie brachte ihm nicht nur die offene Fehde mit Namen wie Paul Elmer More und Stuart Sherman ein (die 1914 noch bekannter und respektierter waren als er), sondern als Krönung auch die in allen Zeitungen mit begleitenden Großaufnahmen berichtete Inhaftierung mitsamt Verhör durch die Polizei zur „Nietzsche-Frage". Sehr rasch kam Mencken zu Bewußtsein, daß ihm dies alles nicht nur nicht schadete, sondern ihn zum nationalen Gesprächsstoff machte. Als professioneller Quertreiber verdiente Mencken nun mal sein Brot. Der angebliche Deutschnationalismus war im wesentlichen Spiel und bewußter Schein. Jahrelang ging das Spiel gut, wurde ihm dann aber schließlich doch zum Verhängnis, denn er erkannte nicht, daß alle zeitweilig populären Posen über kurz oder lang ihren Reiz beim Publikum verlieren. Mencken spielte aber konsequent den Part weiter, selbst als der Automatismus dieser Rolle in den frühen 30er Jahren ihn soweit an die Peripherie der Wirklichkeit führte, daß er freundliche Worte über Hitler fallen ließ. Mencken wurde zur Marionette seiner eigens geschriebenen Rolle, oder wie Van Wyck Brooks sagte: „the dupe of his own stage-personality as Hitlerite or Hun". Brooks und andere sahen nur zu klar, daß Mencken,

1,7

H.L. Mencken, Prejudices. Third Series, op. cit., S. 32. "" Ibid., S. 35.

184

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having assumed a persona or mask that was at variance with his real self ... felt he had to be consistent with it, and he became a Hitlerite out of Bravado. 189

Viele andere, die Mencken nicht so gut kannten, durchschauten die Schminke und Verkleidung aber nicht und zahlten ihm seine Entgleisungen mit Ächtung heim. Die 30er Jahre verzeichneten den daraufhin folgenden rapiden Abstieg, von dem sich Mencken nicht mehr erholte. Die Verwirrtheit des Demokratieverständnisses Menckens ist genauso diffizil aufzudröseln. Seine Unzufriedenheit mit der amerikanischen Demokratie spricht für sich. Die wichtigere Komponente in dieser Frage betrifft die Ungewißheit, ob Mencken die Demokratie auch konsequent politisch verwarf und die Einsetzung einer Monarchie irgendeiner Art begrüßt hätte. Mancher Kritiker kommt ohne viel Federlesens zu dem Schluß, daß Mencken die Thronerhebung eines amerikanischen Kaisers nur zu gern gesehen hätte, zumal man ihn aufgrund seines Kokettierens mit Nietzsche und dem deutschen Reich in die Tradition des deutschen Antidemokratismus einordnen kann. Diese Tradition hörte natürlich nicht mit Nietzsche auf, sondern erstreckte sich von Lagarde über Langbehn bis hin zu Moeller van den Bruck. Selbst illustre Persönlichkeiten reihten sich hier ein. Thomas Mann - zugleich der größte Nietzscheaner der deutschen Literatur - gehörte ebenfalls in diesen Zusammenhang, bekannte er doch in den Betrachtungen eines Unpolitischen, er müsse die Demokratie als höchst „widerdeutsch" 190 ablehnen - in der Zeit vor seiner ihn selbst so „wunderlich" anwandelnden Pilgerschaft als „demokratische^] Wanderredner" .191 In seiner etwas entstellten Applikation der Nietzscheschen Philosophie auf deutsche Politik krümmte Mann das Bild des damaligen Deutschland, bis es wie im Zerrspiegel als „ganz eigentlich das Land des großen Mannes" erschien.192 Da die Demokratie nach Nietzsche vor allen Dingen die Entstehung und das politische sowie kulturelle Wirken des großen Mannes bedroht, zog Mann die einzige für ihn annehmbare Konsequenz: Ich will die Monarchie. ... Ich will sie, weil es die Losgelöstheit der monarchischen Staatsregierung von den Geldinteressen war, die den Deutschen die Führung in den Sozialpolitik erwirkte. Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt. ... Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Philister sein. Wenn es deutsch ist, so will ich denn in Gottes Namen ein Deutscher heißen. 1 9 3

Soll Mencken genau die gleichen Konsequenzen aus seiner Nietzsche-Lektüre gezogen haben? Allem ersten Anschein zum Trotz, verhielt es sich doch nicht so.

'" 1,1 192 193

Van Wyck Brooks, Days of the Phoenix, op. cit., S. 108. Thomas Mann, Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 12 (Frankfurt a.M., 1960), S. 32. Thomas Mann, Briefe 1948-1955, hrsg. von Erika Mann (Frankfurt a.M., 1965), S. 248. Thomas Mann, Gesammelte Werke, op. cit., S. 365. Ibid., S. 261.

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Man erinnere sich noch einmal des Ausgangspunkts der Menckenschen Kritik: Die Diagnose gehe vor, während die Therapie eine offene Frage bleiben müsse: As I say. my present mandate does not oblige me to conjure up a system that will surpass and shame democracy. ... Such a system, for all I know, may lie outside the farthest soarings of the human mind. ... I am not even undertaking to prove here that democracy is too full of evils to be futher borne. On the contrary, I am c o n v i c e d that it has s o m e valuable merits. ... All I argue is that its manifest defects, if they are ever to be got rid of at all, must be got rid of by examining them realistically. 1 9 4

Dieser Mandat verpflichtete Mencken also nur zur freien, ungebundenen Kritik, die, wenn sie überhaupt einem bestimmten Zweck unterstand, zu dem Ende praktiziert wurde, die Demokratie zu verbessern, sie erträglicher und damit auch vertretbarer, überlebensfähiger zu machen. Die amerikanische Demokratie, gestand Mencken nun letztlich, funktioniere doch, und er rang sich zu dem Bekenntnis durch, daß der amerikanische Widerstand gegen Wandel, gegen das experimentelle Herumtüfteln an der Staatsordnung auch berechtigt sei, denn gerade diese fast religöse Treue gegenüber Verfassung und Kongreß verhindere die großen politischen Krisen, von denen die europäischen Staaten immer noch geplagt seien: For all these reasons I esteem it a vanity to discuss the question whether the democracy o n tap in the United States is really ideal.

Ideal or not, it works, and the people

are actually sovereign. ... T h e fact, no doubt, largely explains the hostility ... to the thing called direct action. ... H e [the A m e r i c a n ] is against it, not merely because he is a c o w a r d and distrusts liberty, but also, and m a y b e mainly, because he believes that revolution, in the United States, is unnecessary - that any reform advocated by a respectable majority, or e v e n by a determined minority, may be achieved peacefully and by constitutional means. In this belief he is right. T h e American people, keeping strictly within the Constitution, could do anything that the most soaring fancy s u g g e sted." 5

Und Menckens angeblich eingefleischter Antiamerikanismus? Zugegebenermaßen erhielt keine Gruppe soviele und so schmerzliche Nackenschläge von Mencken wie seine eigenen Landsleute. Sieht man allerdings näher hin, dann geht einem auf, wie oft Menckens galliges Verhöhnen der Amerikaner an Selbstpersiflage grenzte. Die wahrhaft maßlosen Überspitzungen, in denen die Amerikaner beispielsweise als „the most timorous, sniveling, poltroonish, ignominious mob of serfs and goose-steppers"196 erschienen, nahmen diesem vermeintlichen Abscheu doch alle Ernsthaftigkeit.

1.4

H.L. Mencken, Notes on Democracy, op. cit., S. 201. Ibid., S. 94. "* H.L. Mencken, Prejudices. Third Series, op. cit., S. 9. Die Einsetzung des preußischen Stechschritts - „goose-step" - als negatives Merkmal unterstreicht noch einmal Menckens eigentlich kritische Distanz zu Preußen. 1.5

186

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Menckens Komik war selten so einfach, wie seine Leser sie verstanden und noch verstehen. Sein endloses Nörgeln an seinen Landsleuten beruhte letztendlich auf dem Entschluß, es sich unter ihnen nach Möglichkeit irgendwie heimisch zu machen und dabei den edlen Wilden des angelsächsischen Amerika vielleicht etwas beizubringen. Die jungen Intellektuellen, die aus Frust und Enttäuschung nach Europa aufbrachen, um einige Jahre, oder solange das Geld reichte, Jost generation" zu spielen, verstand Mencken zwar, aber er selbst beabsichtigte auf gar keinen Fall, „fahnenflüchtig" zu werden: „I remain on the dock, wrapped in the flag, when the Young Intellectuals set sail".1*7 Meint man es gut mit Mencken, dann möchte man die Möglichkeit nicht ausschließen, daß er selbst etwas Perspektivismus als Prinzip der „intellektuellen Redlichkeit" von Nietzsche lernte. Vielleicht waren die Widersprüche Menckens auch Versuche, allen Seiten, allen Vor- und Nachteilen einer Sache Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mencken sinnierte nur selten über den theoretischen Ansatz seines Denkens - er ließ selten genug durchschimmern, ob er einen bewußten Ansatz hatte. Aber das Fortschreiten der kritischen Vernunft beschrieb er gelegentlich, wie hier, als einen Zersetzungsprozeß, der, wenn er einmal das Reich der „ewigen Wahrheiten" angreife, nur noch eine Spur der Verwüstung hinterlasse: One d o e s not b e c o m e surer as one advances in k n o w l e d g e , but less sure.

N o article

of faith is proof against the disintegrating effects of increasing information; o n e might almost describe the acquirement of k n o w l e d g e as a process of disillusion. 1 9 8

Möglich also, daß der feste Horizont seiner prejudices auch der vorgespiegelte Schein des Menckenschen Habitus war, daß er selbst an diesen festen Standpunkt im Auge des Sturms nicht mehr glaubte. Der Wahrheit ins Auge schauen, bedeutete für Mencken, den durch die unzähligen Facetten eines Edelsteins gebrochenen Lichtstrahl eines wandernden Sterns zu erblicken: „Truth shifts and changes like a cataract of diamonds; its aspect is never precisely the same at two succesive instants".199 Leider schaffte es Mencken jedenfalls nicht, seine Leser davon zu·überzeugen, daß er einen derartigen Perspektivismus mit seinen Schriften vertreten wollte. Der 1929 am sogenannten black friday hereinbrechende Börsenkrach stimmte die ganze Nation über Nacht entsprechend schwarz, und angesichts des Ernstes der Lage hatte plötzlich niemand mehr Freude an der sehr unangebracht erscheinenden jokularen Süffisanz eines H.L. Mencken. Der aber schon so lange im journalistischen Alleingang herrschende Mencken hatte keine Lust, wegen „irgendeiner" nationalen Depression in seinen Meinungen einzulenken, gute Miene

m

"" ,w

Ibid., S . l l . H.L. Mencken and George Jean Nathan, The American Credo. A Contribution Toward the Interpretation of the National Mind (New York, 1920), S. 9. Ibid., S . l l .

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zum bösen Spiel zu machen. Er blieb beharrlich schnoddrig-überlegen und entfremdete zusehends immer mehr seine ehemaligen Leser. Der Hitler-Skandal der frühen 30er Jahre setzte allem die Krone auf, und so manövrierte sich Mencken selbst Schritt für Schritt in die letzte Position des vollkommenen Außensei tertums: die der persona non grata. Neun Jahre nach ihrem ersten Besuch bei Mencken sahen sich Klaus und Erika Mann gut beraten, einen zweiten zu unterlassen: H.L. Mencken gehört zu denen, die man jetzt lieber meidet. Anno 27 war er reizend zu uns. ... Der schrullige alte Mencken bleibt sogar dem Dritten Reich gewogen, während er für [Franklin] Roosevelt nur Gift und Galle über hat. Soviel Originalität grenzt ans Alberne. Wahrscheinlich wäre er kein bißchen reizend mehr, wenn wir uns nun als Emigranten bei ihm meldeten, was wir denn auch lieber bleiben lassen. 2 0 0

Menckens wandernder, nun sinkender Stern am Himmel der journalistischen Welt war gleichzeitig ein schlechtes Omen für die nächsten Jahre der NietzscheRezeption in Amerika. Das nun alle anderen Probleme überschattende Thema der Wirtschaftskrise stellte den amerikanischen Schriftsteller nach 1929 vor die Alternative, Einkehr zu halten und sich auf die Bedürfnisse der neuen Situation zu konzentrieren, oder sich der nun offen stalinistisch gebenden Linken zuzugesellen, die sich durch das untragbar gewordene Schicksal der vielen unbeschäftigten und verzweifelten Arbeiter in der Behauptung bestätigt fühlte, nur der Kommunismus sowjetischer Machart könne Amerika vor weiterem Verderben bewahren. Bis zur Bekanntwerdung des Hitler-Stalin-Paktes im Jahre 1939 blieb die Lage auch mehr oder weniger fest im Griff der streng totalitär gesinnten Linken. Wer das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, wendete sich meist einfach anderen Dingen als der Politik zu. Das bedeutet aber nicht, wie manchmal angenommen wird, daß die amerikanische Nietzsche-Rezeption damit zu Ende gegangen wäre. Sie ging vielmehr in eine neue Phase über und wechselte das Forum. Selbst ein weiterer Weltkrieg vermochte nicht, amerikanische Nietzsche-Interessenten zum Verstummen zu bringen. In den 30er und 40er Jahren begannen sich immer mehr Berufsakademiker für Nietzsche zu interessieren, und die wissenschaftliche Rezeption fing nun den intellektuellen Ballast auf, der von vielen Essayisten über Bord geworfen wurde und im Bereich der öffentlichen Medien ein relativ großes Vakuum hinterließ. Die populäre Rezeption wich langsam der akademischen. Diese wissenschaftliche Aufnahme barg auch manche Überraschung in sich, die zu erklären die Aufgabe des nächsten Kapitels ist.

200

Klaus Mann, Der Wendepunkt, op. cit., S. 353.

IV. Essayistik 1929-1950

IV. 1 Verordnetes Schweigen An der abrupten Gabelung der Zeitgeistströmung vom Jazz Age der 20er zur Red Decade der 30er Jahre versiegte die Sturmflut des populären Interesses an Nietzsche und seiner Philosophie zu einem kaum beachtlichen Rinnsal. Zeitgeschichtliches waltete über dieser Wendung: Im Jahre 1929 wurde das amerikanische Selbstbewußtsein durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch dramatisch gespalten. Vergleichbar den verheerenden Rezessionen der Weimarer Republik, brachte die sogenannte „Depression" der amerikanischen Wirtschaft lang anhaltende Inflation und unerhörte Arbeitslosenzahlen mit sich: In manchen industriellen Großstädten herrschte zeitweilig eine Arbeitslosigkeit von bis zu 60 Prozent. Kein Bereich der Gesellschaft blieb von den Auswirkungen dieser Krise unberührt. Durch diese Erschütterung geschockt, blickten viele Amerikaner das erste Mal ernsthaft zum Marxismus und zur Sowjetunion als Gegenmodell zur amerikanischen Gesellschaftsstruktur. Stalins amerikanische Anhänger priesen die wirtschaftlichen und sozialen „Errungenschaften" der UdSSR mit wirkungsvoller Propaganda in Amerika an. Nicht nur, wie zu erwarten, die großen Gewerkschaften, sondern auch sehr viele Intellektuelle und Künstler, die meistens nur die sowjetische Propaganda an Stelle der alltäglichen russischen Wirklichkeit kannten, nahmen diese behauptete Entwicklung als eindeutiges Zeichen der endgültig bewiesenen Überlegenheit der kommunistischen Planwirtschaft gegenüber dem freien Markt. Wie Daniel Aaron schreibt: Confronted with what appeared to be a social and e c o n o m i c breakdown in their o w n country, a g o o d many Americans were powerfully affected by the well-publicized achievements of the U . S . S . R .

... T h e y contrasted the unemployment, the social

disorders, the widespread despair in the United States with the energy and hopefulness o f the Soviets. 1

Die Kommunisten Amerikas erreichten nie einen auch annäherend gleichwertigen politischen Rang wie der der zwei etablierten Parteien der USA, übten aber einen spürbaren Einfluß auf die großen Arbeiterverbände, die Medien und selbst die Roosevelt-Administration aus, unter deren Obhut „liberal economic and social

Daniel Aaron, Writers on the Left, op. cit., S. 152f.

Essayistik 1929-1950

189

legislation [became] not merely undangerous; it became highly respectable".2 Im Vergleich hierzu jedoch war die Unterstützung des Marxismus und Stalinismus unter Amerikas Denkern und Dichtern recht stark repräsentiert. Kommunistische Zeitschriften wie die Daily Worker oder The New Masses erlebten in dieser Zeit ihre Höchstauflagen. 1935 wurden in New York marxistische Schriftsteller nach proletarischer Manier offiziell auf dem First Writers Congress zusammengeschlossen, der zur Gründung der vom Politbüro gesteuerten League of American Writers führte. Nun war es mit der ehedem toleranten Haltung gegenüber liberalen Auslegungen der Ziele der „Revolution" ein für allemal vorbei. Ein Schriftsteller wie Floyd Dell, der öffentlich von der jetzt geschlossenen Parteilinie abrückte, mußte mit harten Rückschlägen von Seiten seiner Kollegen rechnen. Schon seit der Gründung der Kommunistischen Partei in Amerika und dem mehr oder weniger zeitgleichen Niedergang der Sozialistischen Partei sagte sich der ideologische Flügel der Linken von Nietzsche los. Natürlich war nicht nur Nietzsche allein von diesen Säuberungsmaßnahmen im linken Lager betroffen. Vor allem mächtige Richtungsweiser unter den Schriftstellern wie Mike Gold (d.i. Irving Granich, 1894-1967), der bei The New Masses mitwirkte und die schriftstellerische Produktion der Linken als Gesinnungsprüfer überwachte, rechneten nahezu alle Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, sofern sie sich in das Geschichtsbild des historischen Materialismus nicht einfügen ließen, zum bürgerlichen Nihilismus, dessen „reaktionäre" Tendenzen den angeblich natürlichen Werdegang der geschichtlichen Dialektik aufzuhalten drohten. Die jungen literary radicals, welche dieser Zensur vielleicht hätten entgegenwirken können, waren nun in den 30er Jahren entweder aus der öffentlichen Diskussion ausgeschieden Randolph Bourne beispielsweise durch seinen frühen Tod, Van Wyck Brooks durch einen Nervenzusammenbruch, der ihn jahrelang in tiefe Depressionen und literarische Untätigkeit stürzte - oder damit beschäftigt, die philosophische Orientierung ihrer Jugend neu zu durchdenken und einer strengen Kritik zu unterziehen. Als Ergebnis dieses Versuches einer Selbstkritik drehten Max Eastman, Walter Lippmann und Will Durant Nietzsche den Rücken zu. IV.l.a Die Apostaten: Max Eastman, Walter Lippmann, Will Durant Max Eastman, Nietzsches prominentester linker Advokat zur Zeit des ersten Weltkrieges, kehrte von einer Rußlandreise in den späten 20er Jahren zutiefst enttäuscht und desillusioniert über die tyrannische Oppression seitens der sowjetischen Nomenklatura nach Amerika zurück. Nachdem er die von ihm erlebte sowjetische Wirklichkeit publik machte und sein Ungenügen am Marxismus offen ausdrückte, wurde Eastman von Gold und sogar Stalin höchstpersönlich für vogelfrei erklärt. Kurz darauf erfolgte massive Kritik der linken Presse an

2

Ibid., S. 270.

190

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Eastman, der sich plötzlich in den Schlagzeilen linker Blätter nicht nur als Lügner, sondern auch als Komplize der trotzkistischen Verschwörung gebrandmarkt wiederfand. Eastman hatte innerlich den Bruch mit dem Kommunismus schon vollzogen, aber die auf Befehl erzeugte Vehemenz, mit der er von seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen denunziert wurde, muß die Zweifel an der eigenen politischen Überzeugung, die ihn ehemals tatkräftig für den Sozialismus eintreten ließ, spürbar verschärft haben. Ideologisch driftete Eastman eine Zeit lang hin und her und verschrieb sich unter anderem der Idee einer wissenschaftlich gesteuerten Rehabilitierung des Menschen und der Gesellschaft. Er wandte sich mit der Zerstörungswut eines aller seiner höchsten Ideale Beraubten gegen den „literarischen Geist", dessen Sache er ehedem verteidigt hatte, und fragte, ob dieser denn überhaupt noch einen Platz in der modernen Gesellschaft habe: „science alone can adjudicate the ... conflict and decide what functions remain for the literary mind". 3 Die Philosophie sei durch die Perfektionierung einer „exakten Wissenschaft" wie der Psychologie völlig überflüssig geworden, und nur noch Soziologen und Ökonomen könnten an einer Lösung moderner Gesellschaftskonflikte sinnvoll mitwirken: Nobody would consult a literary critic if a member of his family went crazy - not even a N e w Humanist. He would consult an expert in ... psychology. And nobody is going to consult humane letters about the mortal problems of our industrial civilization; he is going to consult sociology and economics. The defenders of humane letters have no choice therefore but to draw away from these problems of the „inner life". 4

Das Innenleben des Individuums schien Eastman angesichts der ökonomischen Miasma des Landes bedeutungslos geworden zu sein, und die Psychologie interessierte ihn nur insofern, als sie vermochte, die beschädigte Maschine Mensch wieder flottzumachen. Das wiederum hat eine scheinbare Ähnlichkeit mit marxistischem Dogma, aber Eastman traff explikative Vorkehrungen, um dieser Verwechselung vorzubeugen. Er sei kein Marxist mehr, versicherte er, sondern ein pragmatischer, „wissenschaftlicher Ingenieur" nach dem Geschmack des scientific management: By borrowing this word „dialectic" from an idealistic philosophy and applying it to a material world, the Marxians have managed to read their revolutionary purpose, and their plan for achieving it by organizing the class struggle, into the evolution o f the objective facts. ... The attitude of a scientific engineer is almost the direct opposite of this. His endeavor is, by investigating and defining the relevant facts with complete objectivity [!], to find out how to put through a scheme. 5

Nietzsche fand in solchen Überlegungen keinen Platz. Das kann natürlich an der Thematik selbst gelegen haben, denn Gesellschaftsreform ist Nietzsches Sache

3 4 5

Max Eastman, The Literary Mind. Its Place in an Age of Science (New York, 1931), S. viii. Ibid., S. 41. Max Eastman, Art and the Life of Action (New York, 1934), S. 69.

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nicht - höchstens Kulturreform. Aber auch in der autobiographischen Studie Heroes I Have Know (1942), in der Eastman die Haupteinflüsse in seiner intellektuellen Entwicklung darstellte, ließ er über Nietzsche kein einziges Wort fallen. Walter Lippmann schwieg sich ähnlich aus. Sein eigener politischer Wandel nahm einen noch extremeren Weg als der Eastmans. Bis 1936 schwor er nicht nur der alten linken Ideologie vollends ab, sondern gliederte sich sogar in die Reihen traditioneller Konservativer aus der republikanischen Partei ein. Seine Analyse der nationalen Krise in den 30em führte ihn zwar auf seine alte Diagnose einer inneren Erkrankung der nationalen Seele zurück - „there is a deep disorder in our society which comes not from the machinations of our enemies [sprich: die Kommunisten und Faschisten] and from the adversities of the human condition but from within ourselves" 6 aber nun schlug er eine Rückkehr zu altbewährten Mitteln aus der geschichtlichen und moralischen Hausapotheke Amerikas als Therapie vor. In seinen in den späten 30er Jahren entstandenen und erst 1955 veröffentlichen Essays in the Public Philosophy plädierte Lippmann leidenschaftlich für die Aufrechterhaltung traditioneller Werte als Bollwerk gegen den Zerfall der zivilisierten Gesellschaft in Amerika. „When the continuity of the traditions of civility is ruptured", konstatierte er, the community is threatened: unless the rupture is repaired, the community will break down into factional, class, racial and regional wars. For when the continuity is interrupted, the cultural heritage is not being transmitted. 7

In Hinsicht auf die Vereinigten Staaten hat Lippmann mit dieser Prophezeihung recht behalten. Die Genauigkeit seiner Vorhersage, vor allem in Hinsicht auf jüngste Entwicklungen, besitzt nostradamussche Unheimlichkeit. Dennoch klingt sie überraschend aus dem Munde eines vormals von der totalen „Umwertung aller Werte" Begeisterten. Wenn Lippmann aber die Übel aufzählt, die aus der Massendemokratie und der Emanzipation von der Idee der Autorität erwachsen, wirkt vor allem Nietzsches Fehlen rätselhaft. In Lippmanns nun offener Kritik des Kommunismus blieb die Nietzschesche Kritik des Ressentiment unerwähnt, aber dennoch erkennbar: It is a ready philosophy for men who, previously excluded from the ruling class, and recently enfranchised, have no part in the business of governing the state. ... The formula is the strategy of rebellion of those who are unable to obtain the redress of grievances. The rulers are to be attacked. ... They bear the total guilt of all the sufferings and grievances of man. 8

Der Kommunist gilt hier als der „schwache" Mensch, der wegen seiner niedrigen Stellung unter der Herrschaft der alten „Herrenmoral" einst keine Möglichkeit

6 7 8

Walter Lippmann, Essays in the Public Philosophy (Boston, 1955), S. 5. Ibid., S. 136. Ibid., S. 68ff.

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hatte, Rechte für sich einzufordern, und sich den daraus resultierenden Rachgelüsten nun hingeben wolle. Die Schuld an seinem eigenen Unglück gebe er dem Glücklichen, der dem „natürlichen Rang" nach über ihm stehe. Lippmann offenbarte damit eindeutig, daß er den Marxismus für das Produkt einer „Sklavenmoral" erachtete, aber weder dieser Begriff noch der Name seines Urhebers fanden hier Erwähnung. Daß Lippmann diese Unterlassung vielleicht als opportun erschienen sein mag, kann nur vermutet werden, aber eine solche Mutmaßung ist nicht haltlos. Weder die Apostasie Lippmanns noch Eastmans aber läßt sich mit der Will Durants vergleichen, der sich schon in den späteren 20er Jahren sogar offen gegen Nietzsche wandte. Wie jene zwei anderen abgedankten Radikalen fühlte sich auch Durant nunmehr vom Anarchismus und Marxismus abgestoßen. Nicht nur das sowjetische Regime ließ ihn am historischen Materialismus zweifeln, auch das Menschenbild des Marxismus konnte er nicht länger mit seinem eigenen Hang zum Individualismus zwangsversöhnen. So bekannte er 1931, er hasse the conception of history as an impersonal f l o w of figures and „facts", in w h i c h genius played s o inessential a role that histories prided themselves upon ignoring them.

It

w a s to Marx above all that this theory o f history was due ... a v i e w o f life that distrusted the exceptional man, envied superior talent, and exalted the humble as the inheritors of the earth.'

Im Marxismus erkannte er also den Versuch eines antielitären Vernichtungswillens, das große Individuum für alle Zeiten und überall auszulöschen. Auch dieser Einwand kann sich seines klaren Nietzscheschen Signums nicht entledigen. Befremdend also, daß Durant in derselben Schrift Nietzsche mit Houston Stewart Chamberlain verglich und als einen „theoretischen Imperialisten" bezeichnete. 10 Durants neue Einschätzung Nietzsches ging aber über das Maß des bloß Befremdlichen hinaus, denn mit seiner populären Philosophiegeschichte The Story of Philosophy (1926) dürfte er auch konkreten Schaden für die amerikanische Nietzsche-Rezeption angerichtet haben. Diese Sammlung oberflächlicher, aber sehr handlicher Streifzüge durch die Werke der großen Philosophen des Abendlandes genoß lange Zeit den Status einer Standardeinführung in die Philosophie und hielt für Jahre Einzug in die Leselisten amerikanischer Schulen und Universitäten. Die Studie war in den letzten 60 Jahren zu keiner Zeit nicht zugänglich, denn von 1926 bis 1961 erlebte The Story of Philosophy sechs Auflagen. Diese Breitenwirkung ist allerdings für unseren Gegenstand bedauerlich, denn in dem Nietzsche gewidmeten Kapitel griff Durant auf die ältesten Vorurteile gegen Nietzsche zurück, die unter Kennern schon längst als völlig untragbar galten. Trotz Nietzsches eigener Proteste gegen sowohl Darwin als auch Bis-

* 1,1

Will Durant, Adventures in Genius (New York, 1931), S. xvi. Ibid., S. 120.

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marck wurde er von Durant auf die tendenziöseste Weise als der geistige Wahlverwandte beider enttarnt: N i e t z s c h e w a s the child of Darwin and the brother o f Bismarck.

It d o e s not matter

that he ridiculed the English evolutionists and the German nationalists:

he w a s ac-

customed to d e n o u n c e those who had most influenced him: it w a s his unconscious way o f covering up his debts."

Durant porträtierte Nietzsche als teutonischen Berserker, 12 der sich über die Zunahme von Gewalt und Grausamkeit in der Welt freue und eine rein biologische, dieser Gewaltentfesselung angemessene Ethik einführen möchte: N i e t z s c h e is c o n s o l e d to find so much evil and cruelty in the world; he takes a sadistic pleasure in reflecting on the extent to which, he thinks, „cruelty constituted the greatest j o y and delight of ancient man". ... The ultimate ethic is biological. ... The real test of a man, or a group, or a species, is energy, capacity, power. 1 3

Als wollte er über seine eigene Vergangenheit als Gelegenheits-Nietzscheaner Rechenschaft ablegen, räumte Durant ein, es gebe bisweilen „a time when we tire of sentimentality and delusion ... and then Nietzsche comes to us as a tonic", aber aus heutiger Sicht erkenne er den wahren Sachverhalt: „on rereading him we perceive ... at last neurotic egotism". 14 Zuletzt war es Durant nicht einmal zu perfid, Nietzsche des gemeinen Rassismus zu bezichtigen. Den Bruch mit Wagner entblödete er sich, als notwendiges Resultat von Nietzsches vermeintlichem Antisemitismus zu erklären: „Nietzsche already knew that Wagner was half Semitic [but in Bayreuth in 1876] it dawned upon Nietzsche how much of Geyer there was in Wagner". 15 Sehr wahrscheinlich ist, daß Eastman, Lippmann und Durant als Mitglieder der nun klein gewordenen Gruppe bekannter populärer Vertreter der nicht-kommunistischen Intelligenz Amerikas, die außerdem alle von ihrer Schriftstellerkunst leben mußten, es im Sinne der gegenwärtigen sprachlichen und ideologischen linken Zensur einfach als, in heutigen Begriffen gesprochen, politically incorrect oder als einen Verstoß gegen das ideologische Dekorum empfunden haben könnten, sich fortan mit Nietzsche zu identifizieren. Der Verdacht erhärtet sich, wenn man berücksichtigt, daß alle drei in dieser Zeit sich nebenbei zur Anhängerschaft der hero worship bekannten, welche eine typische konservative Reaktion der Zeit auf den Linksliberalismus war und bei diesen drei politisch etwas Desorientierten unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Nietzscheschen Individualismus aufwies.

11

12 13 14 15

Will Durant, The Story of Philosophy (New York, 1926), S. 401 (hier nach der Taschenbuchausgabe von 1961 zitiert). Ibid., S. 439. Ibid., S. 423. Ibid., S. 438. Ibid., S. 411.

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Lippmann argumentierte für die Einsetzung von geradezu prädestinierten Volksvertretern und Staatsmännern, die sich durch hohe Gesinnung, natürliche Zugehörigkeit zum gehobenen „Rang" und die Beherrschung niederer Instinkte durch die „zweite Natur" (ein Begriff Nietzsches wurde wieder einmal ohne Ernennung seines Namens verwendet) der zivilisierenden Vernunft auszeichnen: This is the image of a man who has become fit to rule. He is ruled within by his second and civilized nature. His true self exercises the power of life and death over his natural self. ... This is the inwardness of the ruling man - whatever his titles and his rank - that for the sake of his realm, of his order, of his regiment, of his ship, of his cause, he is the noble master of his own weaker and meaner passions."

Durant schrieb seine eigene geistige Entwicklung der frühen Inspiration durch seine jugendliche Heldenverehrung zu: Of the many ideals which in youth gave life a meaning and radiance ... one at least has remained with me as bright and satisfying as ever before - the shameless worship of heroes. 17

Auch Eastman bekannte sich unverhohlen zum großen Individuum: I have been by impulse a hero-worshipper. Carlyle's Bible of this religion, Heroes and Hero-Worship, was the first classic I ever read without compulsion. ... I became an adept of that faith."

Dieses von allen dreien geteilte Bekenntnis zur Heldenverehrung war ihnen gewiß zum Teil das geeignete Vehikel eines weiteren Bekenntnisses gegen den Kommunismus, aber die Wurzeln dieser Gesinnung dürften auch tiefer gereicht haben, als purer ideologischer Opportunismus allein ahnen läßt. Zuletzt, wenn Carlyle, von dem übrigens auch Durant schrieb: „I take my stand with Victorian Carlyle", 19 immer noch eine solche Faszination auf diese Denker ausübte, warum verschwand dagegen Nietzsche sang- und klanglos aus ihrem Vokabular? Eine Antwort liegt höchst wahrscheinlich darin, daß Carlyle nicht zum offiziellen Philosophen der Nationalsozialisten erkoren wurde. Gegen den Kommunismus stellte sich zwar die überwältigende Mehrheit der Amerikaner, aber kaum jemand in den USA betrachtete den Faschismus als akzeptables Gegenmittel zum Bolschewismus. Schon in den frühen 30ern war die keimende antifaschistische Stimmung im Lande zu spüren.20 Ob dies die ehemaligen Radikalen zu ihrem Schweigen bzw. Widerrufen bewogen haben könnte, ist nicht zweifelsfrei festzustellen, aber im

" 17 18

" 2U

Walter Lippmann, Essays in the Public Philosophy, op. cit., S. 139f. Will Durant, Adventures in Genius, op. cit., S. xv. Max Eastman, Heroes / Have Known (New York, 1942), S. ix. Will Durant, Adventures in Genius, op. cit., S. xv. Vgl. z.B. die Vortragssammlung der Non-Sectarian Anti-Nazi League, Nazis Against the World (New York, 1934).

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Lichte des Bekenntnisses zur Heldenverehrung nimmt sich die offizielle Abkehr von Nietzsche nur noch dubioser aus. IV.l.b Letzte Gläubige: Joseph Wood Krutch, Philo Buck Dem einen oder anderen konservativen Essayisten bot Nietzsche allerdings immer noch gelegentlich Anlaß zum öffentlichen Mitdenken in dieser Zeit. Der Literatur- und Gesellschaftskritiker Joseph Wood Krutch (der u.a. an der New School for Social Research in den Tagen vor der linken Vereinnahmung las) nahm Nietzsche bei seinen eigenen pessimistischen Kulturanalysen zur Hand. Krutch verfaßte 1932 eine wichtige Verteidigung des freien Intellektes gegen die revolutionäre Inanspruchnahme des Geistes für den Klassenkampf, Was Europe a Success?, aber er verstand sich in erster Linie weder als Aktivisten noch als politischen Theoretiker. Sein Interesse galt der Befindlichkeit der modernen Kultur in Amerika. Seine Zweifel an der Gesundheit derselben brachte er in dem 1929 entstandenen The Modern Temper zum Ausdruck. Der Edelnihilist Krutch teilte die allgemeine Überzeugung vieler Intellektueller, daß seine Zeit ein Niedergangsmoment der amerikanischen Gesellschaft und der abendländischen Kultur generell herbeigeführt habe, suchte aber Ursache und Abhilfe des ökonomischen und seelischen Siechtums der Moderne ganz und gar nicht in den Nachteilen der wirtschaftlichen Strukturen der Nationen. Gemäß seiner geisteswissenschaftlichen Bildung in Literatur und Philosophie (der Anglist Krutch promovierte 1923 an der Columbia University) erklärte sich Krutch die Moderne als Spätzeit einer verlebten Kultur und zugleich als Ausdruck einer grundlegenden existentiellen Not des modernen Menschen. Aufgrund dieser kulturpessimistischen Pose wirkt Krutch oft wie ein mit permanent schlechter Laune geschlagener new humanist. Die Quellen seines Denkens lagen aber im Gegensatz zu Babbitt, More und Stewart Sherman viel stärker in der deutschen Geistesgeschichte als im Puritanismus oder in der Antike. Das Konzept eines organischen Lebenszyklus der Kultur z.B. entlehnte er von Nietzsche, aber außer Nietzsches Werk absorbierte Krutch auch Gedanken Vaihingers und Spenglers die wiederum auch eindeutig auf sein Nietzsche-Verständnis abfärbten. Krutch kombinierte den althergebrachten Antirationalismus und Irrationalismus der Moderne - „many who are militantly rationalistic will be disgusted by my failure to share their optimism concerning the future of a rationalistic humanity" 21 - mit dem Kulturpessimismus Spenglers, wobei Krutchs Kulturbegriff auch „rassisch" gefaßt war: „races as well as individuals have their infancy, their adolescence and their maturity". 22 Nach der Reife der Rasse und der Kultur folgt nach Krutch notwendigerweise der Zerfall, der sich zuerst in der Zersetzung

21 22

Joseph Wood Krntch, The Modern Temper. Ibid., S. 6.

Α Study and a Confession (New York, 1929), S. xv.

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der als allgemeingültig und verbindlich akzeptierten Werte der Gemeinschaft ankündigt. Diese Werte sind zwar nach Krutchs Auffassung nur das kanonisierte Ergebnis eines beliebig gesetzten Konsens und nicht metaphysisch fundiert oder apriorisch ableitbar, dennoch: „without them society lapses into anarchy and the individual becomes aware of an intolerable disharmony between himself and the universe" .23 Diese pragmatistische Diagnose deckt sich auch im wesentlichen mit der Walter Lippmanns und anderer. Die Überschneidung besteht in der Auffassung, daß ohne die festen Referenzpunkte der zur Teilhabe an einer Kultur notwendigen Normen die Gesellschaft als zivilisierte Gemeinschaft nicht überleben könne. Krutch unterschied sich von anderen konservativen amerikanischen Kulturkritikern jedoch darin, daß er von der Unmöglichkeit der Wiederbelebung alter bzw. der Schöpfung neuer Werte überzeugt war. Diese Überzeugung fußte auf seinem Glauben an die Unaufhaltbarkeit der Zerstörungsdynamik der kritischen Vernunft: Sobald die Vernunft im Laufe des kulturellen Reifeprozesses beginne, die mythisch beschriebene Welt „junger" Völker zu entzaubern, sei es nicht mehr möglich, zum kindlichen Zauberalter der Menschheit zurückzukehren, aus dem alle Werte schließlich stammten. Die Verfeinerung der Vernunft, die Krutch verurteilte, gehe immer mit einer krankhaften Überfeinerung der Kultur und der Gesellschaft einher: A too sophisticated society ... which, like ours, has outgrown not merely the simple optimism of the child but also that vigorous, one might almost say adolescent, faith in the nobility of man which marks a Sophocles or a Shakespeare, has neither fairy tales to assure it that all is right in the end nor tragedies to make it b e l i e v e that it rises superior in soul to the outward calamities which befall it.

Distrusting its thought,

despising its passions, realizing its impotent unimportance in the universe, it can tell itself no stories except those which make it still more acutely aware of its trivial miseries. 2 4

Dieses aus geistiger Antriebsschwäche resultierende Ausharren des modernen Menschen im Zustand des unablässigen Selbstzweifels und -ekels interpretierte Krutch als Folge der zersetzenden Vernunft und deren ultimativer Erscheinungsform: der empiristischen Wissenschaft. Wollte Eastman eine Panazee der Wissenschaft gegen das moderne Übel predigen, so fühlte sich der Gelehrte Krutch durch die Verwissenschaftlichung des modernen Lebens entfremdet. Krutch könnte als klassisches Beispiel der zunehmenden Trennung von Geistesund Naturwissenschaft (vor allem des Mißtrauens der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften) dienen, die C.P. Snow als die Verselbständigung der „zwei Kulturen" charakterisierte, denn man bekommt bei der Lektüre seiner Schriften wiederholt den Eindruck, daß er dem wissenschaftlichen Fortschritt Argwohn

23 24

Ibid., s . 13. Ibid., 128.

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entgegenbrachte, weil er - wie viele andere seiner Generation - der stets anwachsenden Komplexität wissenschaftlicher Theorien nicht mehr folgen konnte.25 Das Labor wurde ihm zur höchsten Metapher eines antihumanen Zeitalters: First man's body and then his soul were dragged into the laboratory to be measured, tested, and made the subject of experiment. ... Though the „I" in each one of us is the thing of whose reality we seem to have the directest possible evidence, yet in the laboratory it dissolves into an unstable agglomeration of sensations and impulses which we cannot recognize as ourselves. 26

Nietzsches Wort vom „gefährlichen Leben" nahm Krutch als Beschreibung dieses Verlustes des Subjektes durch die kritische Analyse des Geistes. Das gefährliche Leben sei in der Moderne eine Unausweichlichkeit geworden, denn: whatever we may think of the recurrent „live dangerously" of Nietzsche's various testaments, the injunction is one which in certain spiritual senses we cannot choose but obey, for ... to live humanly is, in that sense, to live dangerously. 27

Gewiß schreibt Nietzsche wiederholt von der Auflösung des Ich in der Wissenschaft und katalogisiert genau die Folgen derselben für das Selbstverständnis des Individuums und der Kultur. Aber welchen Sinn hätte es für Nietzsche, das Fortschreiten dieser Erkenntnis der „Lüge" vom Subjekt zu beklagen oder zu verurteilen? Er erachtet es als eine der „Gewissensfragen des Intellekts", sich selbst über die angenommene Einheit des Ich zur Rede zu stellen: „,Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?'" (JGB „Von den Vorurteilen der Philosophen" 16) Antiwissenschaftlichkeit in Nietzsches Werken aufspüren zu wollen, gehört auch zu den tradierten Fehlinterpretationen seines Denkens. Er fragt, zugegeben, „was soll überhaupt die Wissenschaft, wenn sie nicht zur Kultur führen soll?" (DS 8) und untergräbt stetig das blinde Vertrauen in die Wissenschaft, ging aber auch selbst immer wieder (natur-)wissenschaftlichen Studien nach, zumal bei der Formulierung des so „metaphysischen" Gedankens an die ewige Wiederkehr. Die wissenschaftliche Haltung ist ihm ein Korrektiv gegen die Kräfte, die zur Dekadenz und zum Nihilismus hinableiten können: Man hat dem Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfiille tief erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir

25

16

"

So beklagte sich Philo Buck z.B. über die zum Verständnis der Relativitätstheorie erforderlichen Gedankenspriinge: „Professor Einstein has confused all but hard-boiled professionals with the jumble of space and time, until the conviction seems growing that man in searching for realities comes only upon the evidence of his own limitations; that all experience is somehow subjective". (Philo Buck, The World's Great Age. The Story of a Century's Search for a Philosophy of Life [New York, 1936], S. 367.) Joseph Wood Krutch, The Modern Temper, op. cit., S. 64f. Ibid., S. 45f.

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den Geist der Wissenschaft b e s c h w ö r e n , welcher im Ganzen etwas kälter und skeptischer Macht. ( M A 2 4 4 )

Selbst kein Nietzschescher Perspektivist, hielt Krutch an seinem einseitigen Glauben an das Unheil der Wissenschaft fest. Der moderne Vernunftmensch, an Selbstzweifel und Willensschwäche unheilbar erkrankt, habe keine Hoffnung auf die Wiederentstehung einer gesunden Kultur unter der Führung ebensolcher Vernunftmenschen. Eine Rehabilitierung der Kultur könne nur durch „the influx of simpler peoples", 28 die Zuwanderung dezisionistischer „Instinktmenschen" also, bewerkstelligt werden: either individuals or societies w h o s e life is imbued with a cheerful certitude, w h o s e aims are clear, and w h o s e sense o f the essential Tightness of life is strong, live and struggle with an energy unknown to the skeptical and the pessimistic. ... T h e y found empires and conquer wildernesses, and they pour the e x c e s s of their energy into w o r k s of art which the intelligence o f more sophisticated p e o p l e s continues to admire e v e n though it has lost the faith in life which is requisite for the building of a Chartres or the carving of a Venus de M i l o . 2 9

Die Zukunft gehöre demnach immer dem primitiven Menschen des festen geistigen Horizontes. Krutch war sich aber auch bewußt, daß seine Leser zu eben jenen hoffnungslos überkultivierten Ungläubigen zählten, denen die Vitalität des naiven Lebens abhanden gekommen war. Er entsandte sie daher auch nicht ohne Rat in die Trostlosigkeit ihrer anämischen verwissenschaftlichten Zukunft. Interessanterweise empfahl er ihnen die von ihm „tragisch" genannte Weltanschauung der Nietzscheschen Philosophie als standfeste Lebenshaltung in rauhen Zeiten, womit der lebensbejahende Pessimismus des amorfati gemeint war. Das Wesen der Tragödie, welches eine ganze Haltung zum Sein verkörpere, sei in Wahrheit: „essentially an expression, not of despair, but of the triumph over despair and of confidence in the value of human life". 30 Das ist, in nuce, die Grundthese von Nietzsches Analyse der Funktion der Tragödie bei den Griechen und die Voraussetzung für Nietzsches Pessimismus der Stärke. Der starke Pessimist ist, bei voller Erkenntnis der unwiderlegbaren absoluten Transzendenzlosigkeit des Daseins, das Leben als einziges Faktum und damit einziges Wertkriterium der Existenz anzunehmen bereit. Krutch empfahl diese Haltung als individualistische Lebensethik, oder als, wenn das Oxymoron erlaubt sei, stärkendes Quietiv: „[Nietzsche's] central and famous dogma [is] ,Life is good because it is painful'". 31 Indem er mit dieser Auslegung Nietzsche letztendlich auf die Funktion des Moralphilosophen reduzierte, blieb Krutch innerhalb eines tradierten Deutungspa-

2

"

M 30 31

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S.

234. 18. 123. 137.

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radigmas, transzendierte dasselbe aber auch zugleich, da er Nietzsches ethische Philosophie nicht als Programm eines politischen oder kulturellen Umsturzes interpretierte, sondern sich auf die ethischen Bedürfnisse des modernen Menschen als Individuum konzentrierte. Krutch gebrauchte Nietzsches Denken nicht als Anleitung zur „Umwertung" der allgemein verbindlichen Sitte, sondern, mit Jaspers gesprochen, zur Seinserhellung des Einzelnen. Im Bewußtwerden mit Nietzsche über den eigenen Standpunkt im Dasein, über das eigene individuelle Wesen, rüste sich das Individuum für die seelischen Anforderungen einer vom Glauben nicht mehr gestützten Existenz. Die gleiche Auffassung eines neuen ethischen Vitalismus der tragischen Lebenshaltung vertrat der Philosoph Philo Buck in den 30er Jahren, der in Nietzsches Philosophie den Versuch erkannte, die Freiheit des Menschen inmitten der wissenschaftlich determinierten Säkularisierung der Existenz zu wahren. „How then shall man discover freedom, a joy of living in a world of bitter conflict and tragic suffering?" fragte Buck.32 Auch für ihn konnte die Antwort nicht in der bloß quantitativen Wissenschaft liegen: „science cannot with its clocks and dexterous fingers give anything more than its own measurements and formulas, while life, the vital thing, goes on above them". 33 Die Antwort könne aber doch in der lebensbejahenden Tragik Nietzsches gefunden werden: The answer will require a new definition of tragedy - the tragedy of the individual in a world of tragic individuals; and the joy of living distilled from the tears of grief, the joy of living that can show the countenance of laughter. The answer is Nietzsche. 3 4

Es lohnt sich, diese kleine Wende, die sich im Nietzsche-Bild Krutchs und Bucks beobachten läßt, festzuhalten, weil sie die existenzphilosophische Lesart von Nietzsches Philosophie, welche in den Interpretationen der 40er und 50er Jahre in Erscheinung trat, präfiguriert. Nietzsches Frage nach der Möglichkeit eines Pessimismus, der sich durch Stärke anstatt Resignation im Zeitalter der Transzendenz- und Gottlosigkeit auszeichnet, stieg in dieser Zeit zum Hauptaspekt auf, unter dem sein Denken gesehen wurde. Die Camussche Sisyphos-Metapher wurde zum Sinnbild des Existentialismus in Amerika und Nietzsches Philosophie der Existenz nach dem Tod Gottes zum Appell an die Freiheit des Individuums, sich trotz der Ausweglosigkeit seines Daseins auf Erden lebensbejahende Werte zu setzen. Damit soll nicht der Eindruck entstehen, als hätte James Wood Krutch oder irgendein anderer eine neue Epoche populärer Auseinandersetzungen mit Nietzsche in Amerika eingeleitet. Seine Stimme war eine von nur sehr wenigen, die viel eher gewisse interpretatorische Bewegungen aus einer anderen Sparte des schriftstellerischen Bereichs reflektierten. Seit Ende der 20er Jahre erschienen

32 33 34

Philo Buck, The World's Great Age, op. cit., S. 223. Ibid., S. 227. Ibid., S. 223.

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immer mehr Beiträge zu Nietzsche in den literarischen und philosophischen Fachzeitschriften amerikanischer Universitäten - oder die wenigen Beiträge in populären Zeitungen stammten von Verfassern, die auffällig bekannte Orte als Angabe ihres beruflichen Wirkens hinter ihren Namen anführten: Yale University, Harvard University, Wellesley College, Columbia University usw. Amerikanische Professoren begannen in dieser Zeit, Nietzsche als Philosophen wahrzunehmen. Das Volumen ihrer Produktion war zunächst nicht übermäßig - sie nähme sich heute, verglichen mit der Allgegenwart von Nietzsches Namen in geisteswissenschaftlichen Schriften amerikanischer Fachjournale, eher kläglich aus, aber dieses nun entfachte Interesse beweist erstens, daß die amerikanische Nietzsche-Rezeption in den 30er und 40er Jahren keineswegs im Winterschlaf lag, sondern eine Metamorphose durchlief, und zweitens, daß die seriöse akademische. Beschäftigung mit Nietzsche in Amerika nicht erst mit Walter Kaufmann einsetzte.

IV.2 Der akademische Nietzsche Schon 1926 argumentierte Charles Bakewell von der Yale University für eine differenzierte Nietzsche-Retrospektive, zu deren Voraussetzungen die Erkenntnis gehören müßte, daß viel zu oft in der Vergangenheit die Interessen von Nietzsches „Freunden" und „Feinden" an Stelle von Nietzsche selbst im Mittelpunkt der Diskussion gestanden hatten, daß der Philosoph schließlich „universally misunderstood by both friend and by foe" worden sei.35 Den Nietzscheanern vergangener Jahrzehnte sprach er nun das Recht ab, sich überhaupt solche zu nennen, und skizzierte selbst eine Definition des „wahren" Nietzsche-Anhängers, in der auch die Grundzüge des existenzphilosophisch motivierten Nietzsche-Bildes hervortraten: If you think you are a Nietzschean, here are some of the tests that you must meet and vanquish with approval. Have you abjured luxury, comfort, ease; do you live austerely ... can you find cheerfulness in the face of life's tragedies even when you are yourself the victim of fate; are you, moreover, a creator of values? 36

Bakewells Begriff des Nietzscheschen Tragikers ist freilich nicht vertieft und enthält einen offensichtlich erbaulichen Unterton, der, verglichen mit dem Tenor von Nietzsches affirmativem Nihilismus, blechern klingt. Es scheint fast, als habe Bakewell an einen unverbesserlichen Optimisten gedacht, als er den idealen Nietzscheaner zu charakterisieren suchte, und einfältiger Optimismus ist sicherlich eine Haltung, die man einnehmen kann, ohne sich mit Nietzsche beschäftigt zu

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Charles Bakewell, „The Tragic Philosopher", The Saturday Review of Literature, 39 (April 24, 1926), S. 1. Ibid., S. 3.

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haben. Aber, daß Bakewell dabei an ein werteschaffendes Individuum dachte, zeigt, daß er auch etwas mehr als nur blinden Optimismus im Sinn hatte. Auch die Ablehnung des Bildes vom Nietzsche-Nachfolger als einem völlig unbeherrschten Affektmenschen hatte in der Hervorbringung eines neuen NietzscheVerständnisses eine wesentliche Funktion. Im Zeichen der „tragischen Philosophie" des allein auf sich selbst gestellten Einzelnen wuchs auch das Interesse an Themen aus Nietzsches Werk, die in der Diskussion bislang unterrepräsentiert geblieben waren. Vor allem das Rätsel der ewigen Wiederkehr wurde von den meisten Interpreten - Mencken u.a. - einfach übergangen. Die Funktion des Prinzips der ewigen Wiederkehr als eines moralischen Imperativs des starken Pessimisten, des Lebensbejahers, erkannte beispielsweise R. Hester, der postulierte, der freie Geist oder Übermensch müsse zuerst den Gedanken an das Dasein als ein „prison of infinity"37 konfrontieren, ehe er zum amor fati fähig werde. Daß der ewigen Wiederkehr so wenig Beachtung geschenkt worden sei, liege vermutete Hester - daran, daß sie immer wieder nur als gescheitertes naturwissenschaftliches Modell oder abstruse metaphysische Spekulation gelesen worden sei, ohne Rücksicht auf ihren ethischen Inhalt: It is strange that this doctrine has rarely been treated with that depth and sympathy to which it is undoubtedly entitled. ... [T]he negligence is ... partly attributable to an apparently general subordination of the idea, as nothing more than a mere metaphysical hypothesis forever unverifiable upon either empiric or scientific grounds. 38

Auch George de Huszar von der University of Chicago betrachtete Nietzsche als den ersten Philosophen der abendländischen Tradition, der die existentielle Not des modernen Menschen erkennt. Er griff eine tradierte Metapher der amerikanischen Nietzsche-Rezeption auf, indem er dessen Denken als „Tonikum" für das posttheistische Zeitalter beschrieb. An der neuen Wendung, die de Huszar diesem Bild gab, verdeutlicht sich aber gleichzeitig der Wandel in der Gewichtung von Nietzsches Bedeutung für die Philosophie. Ehemals wurde Nietzsche als Stärkung oder Tonikum für eine Zeit gekennzeichnet, die durch übertriebene philanthropische Gesinnung und Mitleidsmanie geschwächt worden sei. Nietzsche sollte die Menschen daran erinnern, daß der objektive Erfolg großer Individuen auf der Werteskala höher einzustufen sei als die Verpflichtung zur Besorgnis um die weniger bemittelten Mitglieder der Gesellschaft. Nun forderte de Huszar in den 40er Jahren, daß Nietzsche als Antidot gegen die „Unsicherheit des modernen Menschen" im Zeitalter der Technik, des Materialismus und der spirituellen Leere gesehen werde:

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R. Frederick Hester, „Eternal Recurrence", The Open Court, 46 (April, 1932), S. 274. Ibid., S. 271.

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In an a g e of materialism and neurosis, N i e t z s c h e , a warrior against emptiness and timidity, is an excellent tonic. H e d o e s not offer solace, but fortifies against despair and exalts to mountain heights. By affirming the utmost f r e e d o m o f the individual he is also a tonic against the insecurity of modern man. 3 9

Nicht nur Nietzsches Bedeutung für das „bedrohte" Individuum der Moderne aber wurde in diesen frühen Jahren der akademischen Rezeption erörtert. Ganz andere Themen fanden jetzt Eingang in die wissenschaftliche Betrachtung des Nietzscheschen Denkens. Roger Hazelton wies schon 1943 auf Nietzsches propädeutischen Beitrag zu neueren Sprachtheorien hin. Nietzsches Zweifel an der „Grammatik" als einem nur sekundären Produkt des vom irrationalen Willen hervorgebrachten Intellekts, das im Grunde unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit fälsche, veranlaßte Hazelton dazu, ihn als einen der Gründungsväter der modernen Psycholinguistik und Sprachphilosophie zu untersuchen: he [Nietzsche] developed with s o m e care the idea that c o n s c i o u s n e s s , far from being purely individual, is actually „only a connecting network between man and man" which g r o w s up „under the pressure of the necessity for communication". ... Briefly put, the two noteworthy features of this view are the rendering o f c o n s c i o u s n e s s in social terms, which antedates the work of M e a d and others, and the important idea that communication by verbal e x c h a n g e of signs precedes and e v e n conditions the growth of c o n s c i o u s n e s s in the individual. 4 0

Zu Recht erkannte Hazelton in Nietzsches Ansätzen zu einer modernen Sprachtheorie den Grundgedanken des Pragmatismus wieder, daß Sprache immer handlungs- und zielgerichtet sei und somit nur einen beliebig gesetzten, zeichenhaften Bezug zur Welt habe. An seiner Aussage, für Nietzsche hätten Sprache und Bewußtsein ihren Ursprung in der Gemeinschaft und der Notwendigkeit der Kommunikation (eine Ansicht, die man eher mit Wittgenstein verbindet), könnte man aber monieren, daß dies nicht berücksichtigt, wie sehr für Nietzsche Bewußtsein - sofern man Nietzsche zufolge überhaupt von Bewußtsein als Einheit sprechet kann - und damit auch Sprache in der Beschaffenheit der Physis wurzeln. Wichtig ist jedoch in erster Linie, daß Hazelton überhaupt auf Nietzsches Pionierrolle in der Sprachphilosophie (und der Semiotik) aufmerksam machte und ihn als einen tatsächlichen Vorgänger von Mead, Wittgenstein und anderen identifizierte. IV.2.a Der historisierte Nietzsche: Eric Bentley, Jacques Barzun Die wissenschaftliche Erkundung der für die meisten Professoren bis dahin philosophischen terra incognita Nietzsches förderte allerdings nicht nur die

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4

"

Geogre de Huszar, „The Essence of Nietzsche", The South Atlantic Quarterly, 43 (October, 1944), S. 374. Roger Hazelton, „Nietzsche's Contribution to the Theory of Language", The Philosophical Review, 52 (January, 1943), S. 50.

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Aktualisierung seiner Gedankenwelt für die letzten Dekaden des Milleniums. Wissenschaft hat in Sachen Entdeckung immer die zweifache Aufgabe der Hervorhebung eines besonderen neuen Standortes einerseits und der Lokalisierung dieses Ortes in Relation zu der ihn bereits umgebenden geistigen Geographie andererseits. Von seinen akademischen Lesern wurde Nietzsche also sowohl attraktiviert als auch historisiert. Die geschichtliche Einordnung Nietzsches sollte zunächst einem klareren Verständnis seiner Philosophie als Produkt eines ideenhistorischen Kontextes dienen, sodann aber auch zunehmend als relativierende Entlastung Nietzsches angesichts wieder einmal vorgebrachter Anklagen der ideologischen Wegbereitung eines verbrecherischen Regimes fungieren. Ein Wissenschaftler faßte diese neue Betrachtungsweise Nietzscheschen Denkens in dem konzisen Satz zusammen: „There is more to be learnt by regarding ... Nietzsche as symptom than as cause". 41 Darin sind beide Aspekte dieses neuen InterpretationsVerfahrens enthalten. Nietzsche gewinnt Immunität, da er kein Verursacher mehr der Übel der Moderne sei, und einen Kontext, in dem er angesiedelt werden kann - verliert aber gleichzeitig sein Gewicht als eins der größten Ereignisse in der Philosophie der frühen Moderne. Der diesen bündigen Satz schrieb, war der Historiker Eric Bentley, der 1944 sein 1940 fertiggestelltes The Cult of the Superman vorlegte. Bentleys Studie ist eine im Grunde wohlwollende Betrachtung von Nietzsches Philosophie als Ausdruck des historischen Phänomens der bei Eastman, Lippmann und Durant bereits erwähnten hero-worship. An der neuen interpretatorischen Betonung, die nun auf Nietzsches Rolle als existenzphilosophischem Denker lag, kam Bentley nicht vorbei; er nannte Nietzsche und seine Nachfolger „.existential' thinkers" 42 und konstatierte, daß „the dignity of which man had been deprived by eighteenth-century science and Darwinism alike is restored to him by Nietzsche" ,43 Dieser Gesichtspunkt war aber von sekundärer Bedeutung für Bentleys wichtigste Argumente. Er interessierte sich primär für eine historische Erklärung Nietzsches und eine geschichtliche Betrachtung seiner philosophischen Infragestellung der Demokratie. Um zunächst einmal den zweitens genannten Punkt zu streifen, mag es doch verwundern, daß Nietzsche hier wieder in seiner Funktion als Kritiker des Egalitarismus auftrat, wurde doch gerade darauf hingewiesen, daß nun andere Themen die Nietzsche-Diskussion der 30er und 40er Jahre dominierten. Gerade diese Zeit brachte aber eine Renaissance der Demokratieliteratur in Amerika hervor. Das hatte zwei Gründe, die beide die Gefährdung der Demokratie betrafen: Konservative Intellektuelle dieser Epoche sahen die Demokratie gleichermaßen vom

4! 45

Eric Bentley, The Cult of the Superman. A study of the ideal of heroism in Carlyle and Nietzsche, with notes on other hero-worshippers of modern times (New York, 1944), S. 247 (hier nach der englischen Ausgabe [London] von 1947 zitiert). Ibid., S. xiv. Ibid., S. 134.

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Faschismus auf der einen und Marxismus auf der anderen Seite bedroht. Die Lüftung des Geheimnisses des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 verstärkte bei ihnen die Überzeugung von der gleichrangigen Perfidie des auf dem Vormarsch befindlichen internationalen Kommunismus im Vergleich zum Faschismus - auch wenn die Alliierten die Sowjetunion in den späteren Kriegsjahren zum Verbündeten hatten. Der technokratische Liberalismus der Roosevelt-Administration gab manchen auch Anlaß zu der Vermutung, die Vereinigten Staaten seien auf dem besten Wege zur Sozialdemokratie. Diese politische Druckwelle erzeugte eine zweite Flut von Studien, Anthologien und Manifesten zum Thema freier Demokratie, die den Markt mit Titeln stürmte wie: The New Democracy and the New Despotism (1939) von Charles Merriam, Democracy is Different - Democracy Over Agaisnt Communism, Fascism, and Nazism (1941) von Carl Frederick Wittke et.al., Democracy as a Way of Life (1943) von Boyd Bode, Patterns of Anti-Democratic Thought (1949) von David Spitz usw. Bentley bezog klare Stellung gegen den Faschismus, verbat sich aber die Vermengung von Heldenverehrung mit demselben - „hero-worship should not lightly be dismissed as Hitlerism" 44 - und ließ gleichzeitig keinen Zweifel an seiner Distanz zu ultralinken Positionen. Er entzog sich der Verpflichtung, linke Rhetorik mittragen zu müssen, um sich als „wahren" Antifaschisten auszuweisen: „it is possible to oppose Hitler without subscribing to the beliefs of the old liberal intelligentsia" .45 Gegen jeden Zwangsegalitarismus, der mit einem extrem linken Demokratieverständnis verbunden sein möge, behauptete Bentley: „there are superior people"" 6 , woraus sich für ihn ergab, daß die demokratische Gesellschaftsordnung als ein Forum freier Konkurrenz gestaltet sein müsse, damit die „Besten" in dieser Gesellschaft die ihnen gebührenden Funktionen erhalten: Democracy does; or more precisely, democracy can ... help the best men, the aristoi, to the front; and when it has done so it will have produced the first real aristocracy in history. ... Aristocracy is one of the goals of democracy.47 Wie H . L . Mencken und andere vor ihm besann sich Bentley auf Mittel und Wege, eine solche Aristokratie philosophisch zu fundieren, und nahm dabei Nietzsche als Quelle. Es ging ihm um die Suche nach „demokratischen Führungskräften" : Where, then, are we to look for serious ideas about democratic leadership? ... My belief is that at this point we might do worse than to learn from such men as Carlyle and Nietzsche.48

44 45 4Λ 47 4

»

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S. S.

vii. 252. xiv. 264. viii.

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205

Auch Max Eastman und Will Durant führten Carlyles On Heroes, HeroWorship and the Heroic in History (1841) als erstes Zeugnis der geistigen Tendenz an, die in The Cult of the Superman den Begriff des heroic vitalism erhielt. Carlyles Funktion in Bentleys Buch erschöpft sich (neben der Rolle als Beispiel eines ideengeschichtlichen „Kontextes") in der Eigenschaft einer vorbereitenden Einführung in Nietzsches Denken. Der weitaus größere Teil von Bentleys Schrift ist Nietzsche gewidmet, und Bentley erklärte ausdrücklich, daß Nietzsches Denken „more brilliantly critical than Carlyle's" 49 sei, und daß Nietzsche zweifellos „stands head and shoulders above Carlyle". 50 Die Absicht, den Leser anhand des einfacheren Werkes Carlyles auf die unermeßlich schwierigere Philosopie Nietzsches vorbereiten zu wollen, schuf Vorund Nachteile für Bentleys Projekt. Es wäre eine völlige Mißrepräsentation, Nietzsche mit dem restlosen, hingebungsvollen Glauben an historische Persönlichkeiten, dem Carlyle erlag, zu identifizieren. Weder Nietzsches Streben nach geistiger Autarkie noch seiner absoluten Skepsis gegenüber jeglicher unkritischen Haltung würde damit Rechnung getragen werden. Wiederholt hat man eingewendet, Nietzsches Bild von Napoleon grenze an abgöttische Verehrung, sei also gemeiner Napoleonismus, aber „große" Persönlichkeiten wie Napoleon oder selbst Goethe können ihm höchstens Inspiration, viel öfter nur Metapher sein für das, was den Übermenschen, den „Sinn der Erde" auszeichnen soll. Es gibt für Nietzsche keine geschichtlichen Präzedenzfälle des Übermenschlichen, und er muß sich noch dem Zweifel aussetzen, ob es denn auch je den Übermenschen geben könnte. Die Unbedingtheit der Heldenverehrung, deren völliger Mangel an skeptischer Selbstprüfung, begründet Nietzsches Refutation des „Carlylismus": das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehen will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der „Gläubige" jeder Art ist nothwendig ein abhängiger Mensch (AC 54),

und an der Abhängigkeit eines Menschen merke man am sichersten, daß er notwendig kein „freier", kein großer Geist sei. In anderen Punkten jedoch erweist sich Carlyle tatsächlich als Vorbote Nietzsches. An seinem Denken sieht man vereinfachte, prototypische Beispiele von: Nietzsches Forderung einer neuen Geschichtswissenschaft, die den Standpunkt des Überhistorischen einnehmen soll; der Umwertung, welche das Ideal des Heiligen durch das des Aristokraten ersetzen will; dem organischen Prozeß der Kultur; der Faszination für das Dionysische; der Idealisierung der Renaissance und der Ablehnung der Suche nach einem Absoluten. Überraschend ist, daß Bentley diese ideellen Charakteristika als demokratisches Gegengewicht zu den Prämissen des linken Liberalismus aufstellte:

4

"

50

Ibid., S. 127. Ibid., S. 136.

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The heroic vitalist has much to say against modern society and the inevitable immaturity of liberal thought; for the liberal experiment - the great experiment o f our e p o c h , man's greatest fight for mastery through practical reason - is barely t w o hundred years old. ... W e should be thankful to the heroic vitalists for stressing the difficulties in rearing the child. 5 '

Das Tonikum des heroischen Vitalismus sollte dem wahren, einen minimalistischen Staat lehrenden Liberalismus den Rücken stärken gegen die monströse Staatsmechanik des Linksliberalismus. Dieser politische Gesichtspunkt - wahrlich nichts Neues in der amerikanischen Nietzsche-Rezeption - soll aber nicht das Hauptanliegen der Studie verschleiern: Bentley wollte Nietzsche historisch sehen und darstellen. Dazu zog er reichhaltige Quellen heran (vor allem auch die einschlägige deutschsprachige Literatur), die sein Werk zum Füllhorn für die damalige englischsprachige Leserschaft machten. Neben einem informierten und recht objektiven Lebensabriß bot Bentley Auskünfte über den Einfluß der Dichtung Hölderlins sowie der Bekanntschaft und des Werks Burckhardts auf Nietzsche. Auch Nietzsches naturwissenschaftliche Lektüre wurde peripher aufgearbeitet (Zöllner wird z.B. kurz besprochen), und die Geschichte der Rezeption - einschließlich der Querellen zwischen der Basier und der Weimarer Tradition - fand auch Erwähnung. In diesem Zusammenhang traten auch die Machenschaften Elisabeth Förster-Nietzsches langsam ans Tageslicht: Elisabeth started publishing biographical matter in 1900, Bernoulli in 1904, and as late as 1931 the controversy was still in progress between Basel und Weimar. ... Frau Foerster set the stamp of hagiography upon the life of Nietzsche. Nietzsches

Zusammenbruch

(1930),

E.F.

which was favourable to Basel, was

answered by Weimar in Paul Cohn's Um Nietzsches

Untergang.

Podach's angrily

Podach brought

forward medical documents which hinted that Nietzsche w a s syphilitic.

Cohn fretted

and fumed. 5 2

Noch brisanter als all dies war aber Bentleys Ansiedlung des „wahren", „demaskierten" Ausdrucks der Nietzscheschen Philosophie im Nachlaß mitsamt der Einsicht, daß der Inhalt dieser Notizbücher die bisher angenommene chronologische Entwicklung von Nietzsches Denken (die „Dreiperiodeneinteilung") widerlegt: It is possible to s e e Nietzsche without his mask only in the various collections o f posthumously published notes which comprise V o l u m e s IX to X V I of the collected German edition and of which The Will to Power

is the only w e l l - k n o w n extract. T h e s e

notes not only provide more direct statements o f N i e t z s c h e ' s philosophy: they enable us to discredit the division of N i e t z s c h e ' s career into three philosophies (involving t w o volte-faces)

51 52

Ibid., S. 255. Ibid., S. 65.

and to establish not merely continuity but consistency throughout Nietz-

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sehe's literary life ... the main principles of the power philosophy were in his mind from 1870 onwards. 53

Leider stand Bentleys Verständnis der „power philosophy" Nietzsches nicht auf der gleichen Höhe wie seine Kenntnisse der neuesten Ergebnisse der philologischen Nietzsche-Forschung seinerzeit. Es gibt aber auch andere Probleme, die den sonstigen Rang von Bentleys Untersuchung schmälern. Zum einen verstrickte er sich in philosophische Schwierigkeiten, die aus dem theoretischen Zugzwang seines Carlyle-NietzscheParadigmas resultierten. Da dieser Vergleich an manchen Stellen sehr gut funktionierte, wollte Bentley ihn als interpretatorischen Schlüssel auch dort gebrauchen, wo er in Nietzsches Philosophie schlicht nicht mehr hineinpaßte. Das führte wiederum zu einem manchmal fehlerhaften Nietzsche-Verständnis von seiten Bentleys. Da z.B. Carlyles Geschichtsbild, in dem der großen Persönlichkeit die Rolle der geschichtlichen Triebfeder zugewiesen wird, eine gewisse progressive Dialektik aufweist, nahm Bentley an, daß dies auch für Nietzsche gelte. „Nietzsche's belief in the superman" argumentierte er, „is extreme optimism". 54 Bentley sah im Übermenschen die prädestinierte Krönung der menschlichen und natürlichen Evolutionsgeschichte, was ihn dazu verleitete, Nietzsches Denken mit einer falschen Teleologie zu unterlegen. Bentley behauptete, daß the assumption that the doctrine of progress, which he claims to despise, is really true on an infinitely bigger scale than the previous apostles of progress even dreamed, since man is to progress to superman.55

Für Nietzsche aber ist das Sein alles andere als zielgerichtet. Was auch immer der Übermensch ist, die Menschheit evolviert nicht zwangsläufig in seine Richtung hin. Der Kosmos befinde sich, so Nietzsche, zwar im stetigen Wandel, berge in sich aber kein Ziel, verschütte seine Energie in maßlose Verschwendung und begünstige das Mittelmaß, während das Seltene, Höchste immer vom Aussterben bedroht sei. Noch problematischer aus heutiger Sicht ist Bentleys Einarbeitung freudscher Analytik in seine Interpretation. In den 40er Jahren wurden die Geisteswissenschaften in Amerika durch ein Freudfieber erfaßt. Freud, der Amerika mit unbelehrbarer Besessenheit verachtete, wurde in dieser Zeit zum Hausheiligen nicht nur der Psychologen, sondern auch der Philosophen, Literaturwissenschaftler und Historiker. Die Verbindung zu Nietzsche wurde nicht übersehen. In seinem Freudianism and the Literary Mind (1945) zählte Frederick J. Hoffmann Nietzsche zu den wichtigsten Vorgängern Freuds (auch eine Historisierung Nietzsches), und betonte, daß

" 54 55

Ibid., S. 115. Ibid., S. 98. Ibid., S. 99.

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Schopenhauer, Nietzsche and Freud all recognized the importance of the sex instinct. ... Nietzsche regarded it as an important expression of the will to power, which the creative artist will possess in abundance in the same measure as he possesses other instinctual strengths. 56

Im Eifer seiner Entdeckung schickte sich aber Bentley an, eine Psychobiographie des Nietzscheschen Denkens anzufertigen. Er beschreib Carlyle und Nietzsche als „sexual failures" 51 , die ihr Versagen in eroticis durch ihre schriftstellerische Arbeit zu kompensieren suchten. Die ewige Wiederkehr stelle Nietzsches Versuche dar, die männlichen und weiblichen Komponenten seiner Psyche miteinander zu versöhnen, und Zarathustras Höhle entblöße sich als Gebärmutter, in der sich Interessantes ereigne: The cave is a common symbol of the creative womb of the mother. Nietzsche's use of the symbol is significant. ... The cave of Zarathustra is primarily the creative mind of Nietzsche. ... The fact that Zarathustra is left alone at the close symbolizes the failure of Nietzsche to join in fruitful union sperm and ovary. 58

Abgesehen von der biologischen Skurrilität dieser Passage - schließlich werden Sperma und Ovarium nicht miteinander vereinigt -, ist sie doch eine drastische und absurde Reduktion von Nietzsches Denken auf Belanglosigkeiten. Man möchte Nietzsche doch zutrauen, etwas mehr als eine verschleierte Gametenphilosophie mit seinem Lebenswerk im Sinn gehabt zu haben. Das allzu peinliche Bathos der psychoanalytischen Nietzsche-Deutung beschränkte sich aber mitnichten auf Bentleys Werk, stand aber in seinem Fall immerhin im deutlichen Kontrast zur sonstigen Qualität der Schrift. Bentleys Studie enthielt durchaus wertvolle neue Einsichten. Er half z.B., die vage Antiwissenschaftlichkeit der existentialistisch ausgerichteten Interpreten mit seinem historischen Blickwinkel zu präzisieren und zu straffen, indem er die Wissenschaftskritik der heroischen Vitalisten als eine Auseinandersetzung mit „mechanistic science"59 identifizierte. Nietzsches Antimechanismus ist nun ein Thema, über das sich tatsächlich reden läßt, was Jacques Barzun in seinem Darwin, Marx, Wagner. Critique of a Heritage (1941) auch viel ausführlicher als Bentley tat. Barzun, Historiker an der Columbia University, teilte durchaus die Ansicht, daß der Marxismus abzulehnen sei. In seiner Kritik der marxistischen Theorie im Vergleich zur dezentralistischen amerikanischen Demokratie erklärte er die politischen Vorhersagen Marxens60 sämtlich für fehlgeschlagen:

w 57

" 59 60

Frederick J. Hoffmann, Freudianism and the Literary Mind (Baton Rouge, 1945), S. 324. Eric Bentley, The Cult of the Superman, op. cit., S. 138. Ibid., S. 108. Ibid., S. 52. Die Versuche amerikanischer Staatstheoretiker, den Klassenkampf zu lösen, lobte Barzun als praktisch orientiertes Gegenbeispiel zur Konfliktbeschwöning der Marxisten: „the fact that the [American] Utopians generally favored harmony does not mean that they overlooked the .class struggle'. They knew it existed and, in fact, were exercising their brains to get rid of it. ... [T]he

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Marx had without a doubt crushed Utopian socialism, he had poured scorn on the principle of co-operation to the right of him and on the anarchical ideal to the left; he ultimately had his name, his catchwords, his picture, and his books widely circulated. ... But neither the lightening of class bonds nor the concentration of capital in a few hands, nor international unions across frontiers, nor the „next step" in historical evolution, came as he predicted. 6 '

Der Motor seiner Studie war aber nicht sein Antikommunismus. Schon das Dreigestirn des Titels läßt ahnen, daß es sich hier um ein übergeordnetes Motiv handelte. Das verbindende Moment zwischen Darwin, Marx und Wagner bestand für Barzun im Glauben aller dreier Denker an den mechanistischen Materalismus, wobei der etwas aus der Reihe tanzende Wagner eigentlich als Deutschnationalist und Protofaschist in den Reigen aufgenommen wurde. Barzuns Einengung des Ziels seiner Polemik auf den Mechanismus hob ihn gleichzeitig über die Mode undifferenzierter Antiwissenschaftlichkeit hinaus. Er protestierte vielmehr gegen die Aufstellung absoluter Prinzipien in der Wissenschaft, die seiner Meinung nach den path of inquiry, um mit Charles Sanders Peirce und William James zu reden, blockieren, was einem elementaren Grundsatz experimenteller Wissenschaft zuwiderläuft. Er bemängelte, daß „what we admire in science is not so much its adequacy ... but its apparent fixity: ,Now we know'" ,62 Gegenüber der Überantwortung des eigenen Rechtes auf begründete Zweifel und stetige Hinterfragung an den mechanistischen Anspruch auf Letztgültigkeit lobte Barzun die kritische Stellung des Perspektivismus, den er in der modernen Naturwissenschaft durch die Relativitätstheorie vertreten sah: In physics, the quantum theory of Max Planck and the Relativity theory of Einstein were having a decisive effect on scientific mechanism. ... Absolutes were going down one by one before statements of relations. The observer as a mind, a fact, a reality, was re-entering the universe from which he had excluded himself lest the cosmos appear anthropomorphic: knowledge, too, was relative. 63

Das Heisenbergsche Prinzip der Unbestimmtheitsrelation (und damit der durch den Beobachter) in der Quantenmechanik gebe, Barzun zufolge, dem Menschen einen Teil seiner Würde und Freiheit zurück. Nietzsche wiederum figurierte hier als Kritiker des Mechanismus und als einer der Vordenker der Relativität. Er sei aber lediglich einer unter vielen und gehöre nach Barzun in die historische Reihe einer „leisen Revolution" in der Wissenschaftstheorie: „Bergson ... Le Dantec, Samuel Butler, and Nietzsche were thinking on

Beeinflussung

61 a ö

Fathers of the American Constitution referred to it, and even interpreted political divisions by its means (see the Federalist Papers)·, but none of these thought of such struggles as a principle of progress". (Jacques Barzun, Darwin, Marx, Wagner. Critique of a Heritage [ Boston, 1941], S. 159.) Ibid., S. 215. Ibid., S. 367. Ibid., S. 384.

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converging lines about mind, truth, science, and reality: a quiet revolution was taking place". 64 In diesem Sinne schlüpfte Nietzsche bei Barzun in die Rolle einer Kassandra der Moderne, die vorzeitig die Gefahren nicht nur des Mechanismus, sondern auch des Nationalismus erkenne. Das machte Nietzsche für Barzun in historischer Hinsicht interessant, wie er schrieb: This is what makes Nietzsche of perennial interest to the historian of ideas and of immediate importance to the present. the thoughts

For Nietzsche was among the first to s e e that

of his epoch were heading men towards catastrophe.

Unlike other

prophets of decadence, he saw that it was not this or that group which was the obstacle to peace and self-culture, but the corrupted minds of men in all groups. 6 5

Der mit prophetischer Sicht begabte Nietzsche blieb für Barzun jedoch nur einer „among the first" dieser Revolutionären. Die nachgelassene Betonung der Sonderrolle Nietzsches äußert sich klar in solchen Formulierungen. Man muß Barzun aber auch anrechnen, daß er Nietzsche im objektiven Licht zu sehen versuchte, und dabei auch manch altes Mißverständnis beseitigte. Den Bruch mit Wagner z.B. erklärte er als ausschließlich ideologisch (also weder psychologisch noch antisemitisch) motiviert N o greater mistake can be made than to consider N i e t z s c h e ' s break with W a g n e r as a personal quarrel. ... It is the first critical repudiation o f the second half of the nineteenth century by a herald of the twentieth 66 -

und führte diese Meinungsverschiedenheit der zwei großen Geister auf Nietzsches Widerwillen gegen Wagners Antisemitismus und Deutschnationalismus zurück: Nietzsche scorns the most the two things Wagner stands for most - Germanism and anti-Semitism.

T o be a good European, an anti-German, a lover of „Mediterranean"

music, an anti-pessimist, and a witness o f the rebirth after d e c a d e n c e , o n e must be first an anti-Wagnerian, a wholehearted detester of the „Music Without A n y Future". 6 7

Vor allem Barzuns Identifikation von Nietzsche als einem Antimechanisten zeichnet seine Nietzsche-Interpretation aus, weil diese damit auch das ontologische Denken Nietzsches würdigt. Für Nietzsche ist die mechanistische Welterklärung völlig indiskutabel, „eine Plumpheit und Naivetät [...] eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen". (FW 373) Der geläufige Einwand gegen den Mechanismus, dieser führe zu gefahrlichen Implikationen für die Willensfreiheit, erschüttert den Schopenhauer-Schüler Nietzsche nicht. An der Abschaffung der „Fiktion" von Einheit und Freiheit des „Willens" kann ihm nur gelegen sein. Das illustriert er im Aphorismus „Am Wasserfall" aus Menschliches, Allzumenschliches, in dem es heißt:

M

" 66 67

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S.

383. 331. 325. 330f.

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Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen [...] Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkür [...] Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus. (MA 106)

Die intellektuelle Redlichkeit des Nietzscheschen Perspektivismus hätte ohnehin von ihm gefordert, auch die Vorzüge des Mechanismus sehen zu versuchen. Aber in dieser Betrachtung befindet sich Nietzsche nur vorübergehend auf der Metaebene des Intellektes, auf der mathematische Berechnung ihr Recht besitzt. Aus demselben Grund, warum er das Konzept des freien, einheitlichen Willens ablehnt, muß er auch das des Mechanismus letztendlich verwerfen. Gewiß gibt es vielerlei Einwände gegen den Mechanismus: Da ist beispielsweise die sich aus der Annahme absoluter Gesetzmäßgkeit und Kausalität ergebende, unlösbare Frage nach der prima causa. Aber vielmehr, wenn in Nietzsches Weltbild der Kosmos Wille zur Macht ist und nichts außerdem, also reine dynamis, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinausstrebend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste (KSA XI 38[12]),

wie kann man da von starrer Mechanik sprechen? Die Natur ist verschwenderisch, sie kann nicht haushalten, sondern schüttet sich aus - nicht Mechanik, sondern Dynamik. Aber zuletzt besteht der gewichtigste Einwand Nietzsches gegen den Mechanismus darin, daß die Idee des Naturgesetzes wie die des Willens eine Vereinfachung und Verkürzung ist, produziert vom menschlichen Erkennungsapparat, der - vom Willen zur Macht getrieben - diese Vereinfachungen und fingierten Einheiten benutzt, um sich der Umwelt zu bemächtigen. Das Naturgesetz wohnt für Nietzsche nicht der Natur, sondern der epiphänomenalen Vorstellungskraft des Menschen inne: Man soll nicht „Ursache" und „Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie „wirkt"; man soll sich der „Ursache", der „Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung [...] Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nach-einander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben. (JGB „Von der Vorurtheilen der Philosophen" 21)

Das heißt für Nietzsche keineswegs, daß die Naturgesetze zumindest unserer Beobachtung nach nicht funktionieren oder keine Vorhersagen über künftige Ereignisse erlauben. Aber aus der Befangenheit des Beobachters, aus der die

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Erfahrung mitbestimmenden Beschaffenheit des menschlichen Sensoriums und der „Vernunft", kann sich der Mensch nicht lösen. Der Mensch kann im ontologischen Sinne höchstens von erfahrener Welt, nicht von „Welt" sprechen. Selbst seine Sprache, die seine Vernunft strukturiert, ist eine „List" der Vernunft und des Willens. Die mit diesen antimechanistischen Einsichten verbundene Bereinigung des Nietzsche-Bildes von den zuerst um die Jahrhundertwende durch konservative Denker aufgetragenen Retouchierstrichen des Darwinismus, den Barzun auch als Form des Mechanismus erkannte, machte es Barzun auch möglich, den Willen zur Macht in den höchsten Menschen, in Nietzsches freien Geistern, als Autonomie- oder Freiheitsstreben anstatt als Herrschaftsgier zu sehen: The Will to Power has nothing to do with the Darwinian instinct of self-preservation; it is the need of self-knowledge and self-assertion without which nothing great can be done. Only in fine natures does it bear fruit. The common yearning for overlordship, for satisfying the e g o anyhow, is a sign o f weakness that spells slavery either way. The Nietzschean ideal is simply the quenchless desire of man to be conscious, cultured, and free. 6 8

Barzuns Kenntnisnahme der antimechanistischen Strömung in Nietzsches Denken gab ihm und seinem Leser weiteres Kundschafterwerkzeug an die Hand, mit dem neues Territorium in Nietzsches Philosophie entdeckt werden konnte. Barzun stieß allerdings nicht weit in diese Gebiete vor und erkannte nur etwas grob die Grenzlinien zwischen ihnen und den Standpunkten Langes, Bergsons, Poincares oder James'. Die durch die Historisierung Nietzsches bewirkte Relativierung seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung ermöglichte aber auch, wie bereits erwähnt, eine partielle Freisprechung seiner Philosophie vom Vorwurf des Protofaschismus. Für Barzun stand fest, daß Wagner und nicht Nietzsche am Aufkommen der „contempt for science preached by Hitler, the release of idealistic feelings ... and the racial mysticism which flavors the whole"69 beteiligt gewesen sei. Nietzsche hingegen „combatted everything that Wagner stood for". 70 Auch Bentley meinte, die Konzentration auf Nietzsches ideengeschichtlichen „Kontext" müsse zeigen, daß all diejenigen, welche Nietzsches Denken mit dumpfen nazistischen Parolen verglichen, sich einer Verdrehung der Tatsachen schuldig machten: So great is the temptation to use Nietzsche as the cue for one's favourite lecture on Nazis and proto-Nazis that it will be a salutary exercise to recall, quite simply, what Nietzsche said ... it is not the force of Nietzsche's remarks that has been misunderstood but their context and association. 71

M M 7,1

"

Ibid., S. 334. Ibid., S. 8. Ibid., S. 360. Eric Bentely, The Cult of the Superman, op. cit., S. 91.

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Wie kaum anders zu erwarten, eingedenk des bisherigen Verlaufs der amerikanischen Nietzsche-Rezeption, gab es aber auch Wissenschaftler, die genau diese Methode der historischen Betrachtung einsetzten, um Nietzsches Mitschuld an der Entstehung des Faschismus zu beweisen.

IV.3 Der zweite Weltkrieg IV.3.a Angriff Der nationalsozialistische Mißbrauch Nietzsches reaktivierte zwangsläufig die im ersten Weltkrieg gegen ihn arbeitende Propagandamechanik, welche eine plausible Mitschuld des Philosophen an der Kriegslust deutscher Staatsmänner nachzuweisen versuchte. Die Berufung des Propagandaministeriums des Dritten Reiches auf (einen freilich völlig entstellten) Nietzsche als Vordenker der deutschen Herrscherrolle in der Weltgeschichte sowie der Rassenideologie der NSDAP lastet immer noch auf Nietzsches Ruf und bestimmt bis heute die Fragestellung der Nietzsche-Literatur mit. Die faschistische Nietzsche-Literatur der 30er und 40er Jahre entging nicht der Aufmerksamkeit anglo-amerikanischer Kommentatoren und wurde häufig zum Diskussionsthema gemacht, obwohl das Ausmaß der in dieser Zeit gegen Nietzsche gerichteten Schriften das des ersten Weltkrieges nicht erreichte. Die Fälle des üblichen sensationellen Grobianismus in der Behandlung von Nietzsches „Rolle" im Faschismus sind leicht abzuweisen. Bedenkt man, daß die Tageszeitung Boston Evening Transcript auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 24. April 1940 die Schlagzeile fährte: „Hitler War Urge Blamed on Insane Philosopher; Nietzsche Nazi C h i e f s Favourite Author", dann springt dem heutigen Leser vor allem die Peinlichkeit und Ignoranz dieser Assoziation ins Auge. Man merkt außerdem, daß die Inhalte solcher Vorwürfe sich von denen aus der Zeit von 1914-1918 nicht wesentlich unterscheiden. Nietzsches Krankheit etwa diente immer noch als ausreichender Grund zur Identifikation seines Werks und seiner Person mit einem kriegslüsternen Herrscher - hier mit dem doch ersichtlich kranken Adolf Hitler. Daß der vermeintliche Zusammenhang zwischen Nietzsche und Hitler für würdig befunden wurde, der Blickfang auf der Titelseite einer großen Zeitung zu sein, verleiht dieser Problematik aber immerhin ein gewisses Gewicht. Zumindest als Möglichkeit, wenn nicht als erwiesene Tatsache, wurde ein Einfluß Nietzsches auf Hitler oder andere Nazi-Ideologen von vielen ernstgenommen. Durch die alles überschattende Vorrangstellung der Person Hitlers in der Wendung Deutschlands zur Despotie und der Auslösung des deutschen Eroberungskrieges von 1939-1945 verlagerte sich in einem Punkt die Fragestellung der Nietzsche-Literatur dieser Zeit anders als bei der Diskussion im ersten Weltkrieg. War Nietzsche 30 Jahre zuvor des Nationalismus und der Kriegstreiberei bezieh-

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tigt worden, so warf man ihm im zweiten Weltrieg vor, ein Inspirator des sogenannten „Führerprinzips" gewesen zu sein. Das Aufgehen des Individuums im Volke und vor allem im vom Schicksal auserkorenen Führer verglich man mit der Vision Nietzsches von Übermensch und Herrenmoral. Dieses „leadership principle", stellte ein Akkusator fest, bears traces ... of the supreme importance of the Great M a n , of the H e r o , in history, [and] in this the National Socialists have f o l l o w e d a well-trodden path. ... N i e t z s c h e ' s theory of the superman merely continues this tradition, it is the individual, the genius, w h o is the creator, and that he may be lifted up, the masses may be levelled down. 7 2

Eric Bentleys Bemühen, sein Thema der hero-worship von allen Assoziationen mit dem Faschismus zu befreien, wirkt vor dem Hintergrund dieser Nietzsche-Kritik sogar noch verständlicher als zuvor. Alte eugenische Vorstellungen von der wahren Identität des Übermenschen verleiteten Kritiker wieder dazu, Nietzsches Denken hinter der Rassenpolitik der Nationalsozialisten zu vermuten, aber überraschenderweise standen vorwiegend das Ideal der völkischen Zugehörigkeit (obwohl bei Nietzsche ja höchstens geistige Zugehörigkeit von Bedeutung sein kann) und das heroische Individuum im Kreuzfeuer der Nietzsche-Polemik. Für einen Rezipienten waren die Charakteristika, welche die Nazis ihrem Führer zuschrieben, den Idealvorstellungen des „dionysischen" Philosophen Nietzsche entnommen: The qualities which it is taken for granted w e will admire in a Nazi leader are those which Nietzsche g a v e to his Supermen - loyalty to those to w h o m one is bound by ties of race, native habitation, and shared desires for overlordship, and a passion to live dangerously and heroically rather than safely and pleasantly.

That w e have here a

Dionysian ideal is evident. 7 3

Daß die hier angesprochenen Gesichtspunkte eher ästhetischer Natur waren, hing sicherlich damit zusammen, daß die Greueltaten der Konzentrationslager erst nach Ende des Krieges allgemein bekannt wurden. Wäre dies schon früher thematisiert worden, hätte es zweifellos auch für die Diskussion um Nietzsche Folgen gehabt. Auch die Nietzsche schon von Anfang an begegnende christliche Opposition nahm diese neue politische Gelegenheit wahr, um wieder auf die Gefahren hinzuweisen, die Nietzsche darstellte. Die Argumentationsweise theologischer Opponenten demonstrierte aber keine wesentlichen Änderungen im Vergleich zur Zeit des ersten Weltkriegs, mit der einen Ausnahme, daß der Nationalsozialismus als weiteres Indiz für das verderbliche Potential der allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft gedeutet wurde. So argumentierte ein Theologe: „the present Germans were overtaken by the same spirit in their nation whose mouthpiece Nietz-

Margaret Ball, „The Leadership Principle in National Socialism", Journal of the History of Ideas, 3 (1942), S. 76f. Mary Coolidge, „Ethics - Apollonian and Dionysian", The Journal of Philosophy, 38 (1941), S. 462.

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sehe was - the spirit of revolt against revealed Christian truth". 74 Immerhin wurde Nietzsche hier, wie Bentley es formulierte, als Symptom und nicht als Krankheitsherd gesehen. Im zweiten Weltkrieg kam es dazu, daß einige Hochschullehrer - eine Gruppe, aus der sonst eher Nietzsches Verteidiger stammten - die Beschuldigungen unterschrieben. In den 40er Jahren konnte man beispielsweise die Weigerung Charles Morrris' (Professor an der University of Chicago) nachlesen, Nietzsche gegen Vorwürfe ideologischer Mitschuld am Nationalsozialismus zu verteidigen: The connection of Nietzsche and the Nazis is too complex for resolution here, but certainly more than one Nazis has claimed Nietzsche on the grounds of the will to power, the necessity of an order of rank, the principle of the leader, the opposition to Christianity, the condemnation of democracy, the right of the „stronger" person to use „weaker" persons as means. And Nietzsche can hardly be defended against such utilization. 75

Nicht nur beging Morris den logischen Fehler eines Schuldspruchs durch Assoziation, sondern er billigte die nationalsozialistische Lesart Nietzsches als eine größtenteils zutreffende, wenn auch moralisch verabscheuungswürdige. Der arrivierteste Akademiker, der sich an den antifaschistischen Angriffen gegen Nietzsche beteiligte, war der Harvarder Historiker Crane Brinton. 1923 hatte der junge Stipendiat des Rhodes Scholarship in Oxford promoviert und war bereits 1935 in Harvard zum Ordinarius ernannt worden. Brinton schrieb häufig für die Saturday Review of Literatur, gab die American Oxonian heraus und bekleidete das Amt eines Mitherausgebers bei sowohl der American Scholar als auch der Journal of the History of Ideas. Solches Ansehen hat die Tendenz, eine gewisse Glaubwürdigkeit zu erzeugen, die man Brintons Ansichten über Nietzsche keineswegs wünschen kann. In Nietzsches Schriften fand Brinton nicht nur die Spuren des Antisemitismus,76 sondern auch eine klare Vorwegnahme des faschistischen Konzeptes der Rassenhygiene. 77 Brinton beschwor zudem alte und neue Namen, zu denen er Nietzsche als einen der führenden Gründungsideologendes Nationalsozialismos zählte: The works of Nietzsche are one of the principal divisions of the National Socialists' holy writings. ... Nietzsche, along with Gobineau, H.S. Chamberlain, Treitschke, Rosenberg, and other preachers of the creed of race and power, will provide essential parts of the finished doctrine. 78

74 75

" 77

7H

M. Whitcomb Hess, .The Nazi Cult of Nietzsche", Catholic World, 156 (Jan. 1943), S. 434. Charles Morris, „Nietzsche - an Evaluation", Journal of the History of Ideas, 6 (June, 1945), S. 292. „[M]ost of the stock professional anti-Semitism is represented in Nietzsche". (Crane Brinton, „The National Socialists' Use of Nietzsche", Journal of the History of Ideas, 1 [1940], S. 137.) „Nietzsche affords passages [close] to what the Germans today mean by Rassenhygiene". (Crane Brinton, „The National Socialists' Use of Nietzsche", op. cit., S. 136.) Ibid., S. 132.

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Mit blamablen Denunzierungen Nietzsches allein gab sich Brinton jedoch nicht zufrieden, sondern wies zusätzlich auf die Schuld vieler Kollegen hin, die von Nietzsches Rolle im Faschismus mit „Finten" abzulenken versucht hätten - z . B . , indem sie darüber spekulierten, ob der Nationalsozialismus bei Nietzsche auf Verständnis gestoßen wäre. Für Brinton war die Frage nach Nietzsches eigenen Absichten gegenstandslos, da allein die Bezugnahme der Nazis auf Nietzsche die Verwandtschaft seines Denkens mit ihren Zwecken vollends bewies: It is at any rate clearly a red-herring to bring up the problem as to whether, were he alive today, Nietzsche would accept Nazi rule as the embodiment of his ideas ... the historian must recognize that, point for point, Nietzsche preached (along with other things) most of the articles of the Nazi faith. ... [B]oth the Nazi idea of the master race and the Führerprinzip are among the most obvious and most congruous derivatives of that concept. 79

Auch für Brinton wurzelte das Führerprinzip im Bild des Nietzscheschen Übermenschen, und obwohl er zugab, daß Hitler nirgends ausdrücklich seine eigene Nietzsche-Lektüre erwähnt, tat das seiner Überzeugung keinen Abbruch, daß es diesen direkten Einfluß gegeben haben muß: Hitler does not specifically mention Nietzsche among the authors he read in his idle Vienna days, but it seems likely that many of Nietzsche's notions filtered down to him. ... Since the revolution of 1933, Hitler had made several public visits to the Nietzsche-Archiv in Weimar and has had himself photographed there. 80

Mit dieser Pseudologik machte Brinton seiner Zunft sicherlich keine Ehre, aber es gab auch andere Historiker, die ernsthaft die vexierende Frage zu beantworten versuchten, wie es zur Hitlerdiktatur und zum damit verbundenen Mißbrauch Nietzsches kommen konnte. Dabei meinten einige, auf eine historische Entwicklung gestoßen zu sein, welche die schließliche Heraufkunft der Tyrannei programmiert habe und in die Nietzsche - auch als Teil der weiteren Historisierung seines Denkens - einzubinden sei. Diese These der langsam fortschreitenden Genese eines protofaschistischen Grundtemperaments in Deutschland wurde in mehreren Studien der 40er Jahre abgehandelt. Die Argumente, welche diese These stützen sollten, waren meist nicht soziologisch begründet, sondern verfolgten die stetige Entwicklung des f ü r die jeweiligen Autoren als präfaschistisch erkennbaren Gedankenguts in der Religions- und Philosophiegeschichte Deutschlands. Sie setzten also voraus, daß z.B. nicht wirtschaftliche Faktoren, sondern bestimmte „philosophies and practices ... led to the Second World War". 8 1 Gesetzt den Fall, man könnte diese Tendenz bei deutschen Philosophen und Theologen glaubhaft nachzeichnen, so

79 w 81

Ibid., S. 149. Ibid., S. 133. Kurt London, Backgrounds of Conflict. Ideas and Forms in World Politics (New York, 1945), S. vii.

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stünde immer noch die Behauptung einer direkten Wirkung abstrakten Denkens auf die Politik oder gar das Volksempfinden eines Kulturkreises auf wackeligen Beinen. Gleichzeitig läßt sich weder leugnen, daß deutsche und anglo-amerikanische Philosophie der Neuzeit sehr verschiedene Wege gegangen sind, noch, daß dies ebenfalls für die politische Entwicklung der jeweiligen Kulturen gilt. Darin eine monokausal erklärbare und im jeweiligen „Volkscharakter" wurzelnde Entwicklung erkennen zu wollen, muß sich aber als unhaltbare Volksmystik erweisen. Von der Existenz eben dieses Kausalzusammenhangs war der Politikwissenschaftler William McGovem von der Northwestern University dennoch überzeugt. Gleich zu Beginn seines Werkes From Luther to Hitler. The History of FascistNazi Political Philosophy (1941) bemängelte er die Herleitung des Faschismus aus den widrigen wirtschaftlichen Verhältnissen der 20er und 30er Jahre zugunsten eines geschichtlichen Panoramablicks, in dem eine ganze Tradition ersichtlich werden sollte, aus der die moderne Despotie hervorgewachsen sei: Many persons have been foolish enough to imagine that Fascism and National Socialism are the accidental products of temporary economic upsets ... [but] the Fascist and Nazi regimes ... can be traced back to a political tradition and to a political philosophy which had been slowly emerging and crystallizing throughout the nineteenth century and during the early years of the twentieth century.82

Diese Konzentration auf eine bestimmte „politische Philosophie" als Ursache des Totalitarismus in Deutschland zeichnet sich immerhin durch weniger Plumpheit aus als die im ersten Weltkrieg von G. Stanley Hall vorgebrachte Meinung, daß die „teutonische Seele" fundamental krankhaft sei, aber McGoverns Belege für diese These lassen trotzdem an wissenschaftlicher Genauigkeit zu wünschen übrig. Im Eifer seines historischen Vollständigkeitstriebes aber verfolgte McGovern diese Entwicklung, wie aus dem Titel ersichtlich wird, bis hin zu ihren vermeintlichen Wurzeln in der lutherischen Reformation zurück. Das rebellische Projekt Luthers büßte damit seine Identität als kirchliches Erneuerungsstreben ein und verwandelte sich in eine späte Erscheinungsform der germanischen Auflehnung gegen die moralischen Grundsätze des romanischen Christentums. Diese Ansicht war natürlich keineswegs neu. Sie läßt sich sogar auf die Reformationszeit selbst zurückdatieren. Spezifisch gegen Nietzsche wurde sie im ersten Weltkrieg von katholischen Gegnern wie Joseph Jacobi eingesetzt. Daß die Reformation noch extremere Formen des (antiweltlichen) Protestes in England und den amerikanischen Kolonien annahm, wurde dabei nicht erwähnt. Den Stammbaum dieser ideologischen Abkunft skizzierte Kurt London in seinem Backgrounds of Conflict (1945) noch detaillierter. Auch für ihn stand unverrückbar fest, die Wurzeln des Nationalsozialismus „lay in the history,

William Montgomery McGovem, From Luther to Hitler. Philosophy (New York, 1941), S. 6f.

The History of Fascist-Nazi

Political

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traditions, and experience of the German people". 83 Ansätze der Hitler-Tyrannei in Luther entstehen:

Auch er sah die ersten

Luther was no liberal nor an advocate of toleration. H e denounced radical sects like the Anabaptists, and he had no sympathy at all for the peasants who rebelled against feudal restraints in 1525. He urged the princely governments who had sheltered him to stamp out ruthlessly these sources of social disturbance. 84

Nietzsche glaubhaft in eine Reihe mit dem ihm verhaßten „rachsüchtigen Mönch" Luther zu stellen, verlangte aber eine dialektische Kunst, der London jedenfalls nicht gewachsen war. Bei Nietzsche und Luther (wie im übrigen auch bei Kant, Fichte und Hegel) wollte London einen ihnen beiden gemeinsamen Willen erkannt haben, die feudale Herrschaft als Ideal hochzuhalten. Das deutsche Volk solle im Laufe der Jahrhunderte von seinen größten Denkern immer die moralische Botschaft erhalten haben, daß es sich in erster Linie dem Herrscher unterordnen müsse. Damit wäre man also wieder beim „Führerprinzip" als Komponente der Nietzscheschen Philosophie. So sei es aber auch Nietzsches „contempt for the masses, and for Christianity and democracy", welche „helped to pave the way toward totalitarian mentality".85 Was London hier die totalitäre Mentalität nannte, umschrieb McGovern mit dem Begriff des Etatismus. Es war damit das gleiche Phänomen gemeint und auch Nietzsches Beitrag dazu wurde konstatiert - mit dem Zusatz aber, daß McGovern Nietzsche auf herkömmliche Weise als Philosophen des Krieges las: many features of his political philosophy were extremely popular with the etatists and were taken over and incorporated in the etatist creed. One of the features which proved very acceptable to the etatist was Nietzsche's reverence for struggle, for conflict, for war. 8 6

Ebenfalls nach Meinung W.T. Stace' von der Princeton University war es vorwiegend Nietzsches Aufstand gegen das Christentum, der dem Totalitarismus den Weg zu bahnen geholfen habe. Die Zukunft der Zivilisation sah er von der Entscheidung abhängen, ob sie sich der christlichen Moral des Westens oder der Nietzscheschen Morallosigkeit Deutschlands zuwende: „The choice which lies before us is between the moral teachings of Christ and those of Nietzsche. Our civilization embodies the former. Totalitarianism, at least in its German form, tends more and more to the latter".87 Wenn Stace, London und McGovern jedoch eine Mitschuld Nietzsches an der Entstehung des Nationalsozialismus für möglich oder sogar wahrscheinlich hielten, so ist es wichtig zu bedenken, daß hier die Rede von Mi/schuld war. In ihren Analysen des Faschismus kam Nietz-

" 84

" 86

"7

Kurt London, Backgrounds of Conflict, op. cit., S. 35. Ibid., S. 37. Ibid., S. 63. William McGovern, From Luther to Hitler, op. cit., S. 412. W.T. Stace, The Destiny of Western Man (New York, 1942), S. 286.

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sehe als wichtige Figur vor, die aber nicht als Einzeltäter herausragte. Auch hier beugte die historische Relativierung Nietzsches der völligen Dämonisierung seines Denkens vor. Wie im ersten Weltkrieg aber übersahen (oder unterschlugen) seine Opponenten die viel wesentlichere Frage, ob die Inhalte der Nietzscheschen Philosophie tatsächlich irgendwelche Ähnlichkeit mit den Prinzipien nazistischer Ideologie aufweisen. Es wurde lediglich von der angeblichen Wirkung dieser Philosophie ausgegangen, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit eines sträflichen Mißbrauchs derselben durch NS-Ideologen zu nehmen. IV.3.b Abwehr Obschon Nietzsche in den 40er Jahren wieder einmal aufgrund eines von einem verbrecherischen Staat angeführten bewaffneten Konfliktes im Rampenlicht der Deutschland-Kritik stand, so darf auch erneut darauf hingewiesen werden, daß diese Kritik keineswegs eine restlose Tabuisierung seines Denkens zeitigte. Und wie auch im ersten Weltkrieg hatte Nietzsche in den 40er Jahren amerikanische Verteidiger, die seine Unschuld zu beteuern nicht müde wurden. Mit Repliken in Zeitungen und Zeitschriften belebten neue Nietzsche-Advokaten traditionelle Argumente, um der Verwechslung des Denkens Nietzsches mit der Ausbeutung desselben durch die Nationalsozialisten zu begegnen. Roger Hazelton etwa warnte davor, Nietzsches Kritik an der christlichen Moral und am Paulinismus als einfache Morallosigkeit abzutun. Wieder einmal gab man zu Nietzsches Entlastung zu bedenken, daß er die reine Geistigkeit des Lebens Jesu auch als vornehme Lebensweise gelten lasse: Nietzsche was charmed by the artlessness, the transparent inwardness of Jesus' teaching, the purity of life he bequeathed to mankind, the affirmation of the „innermost things" of life, the „essential symbolism," free from world-denial and dialectical argumentation, the utter lack of resentment toward his enemies and murderers. 88

Paul Gutmann mobilisierte erneut das Ideal des guten Europäers, um alle Vermutungen über einen Hang zum Nationalismus bei Nietzsche zu entkräften. Dank neuerer Erkenntnisse konnte er auch die Schwester Nietzsches als den eigentlichen und einzigen Nazi-Sympathisanten des Geschwisterpaares herausstellen, die außerdem durch ihre Machenschaften mit den Nationalsozialisten das Andenken ihres Bruders veruntreue: A false picture of Nietzsche is systematically being produced with the help of his recently deceased sister. The herald of „the higher man" of the „roaming blond beast", this aberration from the main line of his productivity, is played up against the „the good European", which he remained his whole life long, from the professor of Greek in Basle to the enthusiast for Latin culture before his breakdown in Turin. He,

8

"

Roger Hazelton, „Was Nietzsche an Anti-Christian?", The Journal of Religion, 22 (Jan. 1942), S. 66.

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who appreciated the chivalrous greatness of the English spirit just as he did the deep leaning to psychology of the Russians, he the enthusiastic worshipper of Stendhal, the admirer of Sterne, Heine, Voltaire, is above every suspicion of having glorified Power in the sense of nationalistic racial arrogance. 89

Hieran war nichts wesentlich Neues, aber das Argument war nichtsdestotrotz zutreffend. Und wenn, wie bereits erwähnt, eine große Bostoner Tageszeitung Nietzsche zum verrückten Inspirator Adolf Hitlers erklärte, so beging dagegen die New York Times den 100. Geburtstag des Philosophen mit einem ganzseitigen Expose (zusammen mit einer großen Abbildung der Klinger-Büste), in dem der Nietzsche der Nazis als entstellte Farce zurückgewiesen wurde: „the Nazis have used and misused sentences and phrases of Nietzsche's as they have used and misused anything they could lay their hands on of European thought and culture". 90 Nietzsches Konzept der Macht, das allzu leicht mit den globalen Machtansprüchen der Faschisten in Verbindung gebracht werden konnte, wußte der Verfasser des Beitrages, Irwin Edman, vielmehr als das Ideal der „inneren Vollkommenheit" auszuweisen, die mit gewalttätiger Machtentfaltung nichts zu schaffen habe: By „power" Nietzsche meant a man's own inner being, excellence, virtue, as one might speak of the virtue of an herb or the quality of a gem. By „will to power" he meant will to excellence, not (or not alone) to mastery over other men. 91

Das Thema Nietzsche blieb aber nun nicht mehr der exklusive Stoff der (intellektuellen) Zeitungen, sondern wurde auch von anderen Medien entdeckt. In den späten 30er und 40er Jahren leitete der Dichter, Kritiker und Herausgeber des Feuilletons der Nation, Mark Van Dören, eine Serie von Bildungsbeiträgen des Radiosenders CBS namens The Invitation to Learning. Die Sendungen waren als Gesprächsrunden konzipiert, in denen Klassiker der Weltliteratur, der Philosophie und der Wissenschaft von Fachleuten vorgestellt und besprochen wurden. Zu den in diesem Rahmen behandelten „great books", die der Moderator Van Dören als „permanently discussible ... never ceas[ing] somehow to be present in men's thoughts"92 apostrophierte, gehörte Jenseits von Gut und Böse - und dies wohlgemerkt im Jahre 1942. Zu den Gesprächspartnern zählte der schon einmal zu Wort gekommene Jacques Barzun, der von Van Dören gefragt wurde: More and more one hears in discussions of the philosopher Nietzsche that he was a source of Fascism or Nazism. The same sort of thing is known to have been said

" 90

" 92

Paul Gutmann, „Nietzsche, the .Good European'", Queen's Quarterly, 45 (Feb. 1938), S. 21. Irwin Edman, „The Nietzsche the Nazis Don't Know", The New York Times Magazine (Oct. 15, 1944), S. 14. Ibid., S. 14. Mark Van Dören (ed.), The New Invitation to Learning (New York, 1942), S. xi ( = Transkripte der Radiosendungen The Invitation to Learning, die im Programm des Senders CBS veranstaltet wurden).

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about Goethe. Mr. Barzun, don't you agree in respect to Goethe, as well as to Nietzsche, that we are justified in concluding that he is no such source? Barzuns Antwort war knapp, aber unmißverständlich: „I have no doubt in my mind about that". 9 3 Selbst die Journalistin Dorothy Thompson, die geneigt war, Nietzsche selbst etwas Schuld für seinen Mißbrauch durch die Nazis zu geben, räumte ein, daß Nietzsche das Dritte Reich keineswegs befürwortet - „he would have detested it" - noch Hitler als großes Individuum angesehen hätte: „He wouldn't have recognized M r . Hitler, then, as one of his noble men?" (Van Dören) „ N o " (Thompson). 9 4 Schließlich bekannte Thompson, daß Nietzsche in Wirklichkeit Antinationalist und Philosemit sei, und daß sie selbst mit seiner Kritik an der „Demokratie der Mittelmäßigkeit" sympathisiere: „By the way, Miss Thompson, do you share with him [Nietzsche] any of his contempt for ... the democracy of mediocrity?" (Van Dören) „Don't we all share to an extent a contempt for the emphasis on mediocrity?" (Thompson). 9 5 Nicht nur die New York Times observierte außerdem den Geburtstag Nietzsches im Jahre 1944. A m 3. Dezember 1944 veranstaltete die „Conference on Methods in Philosophy and the Sciences" ein „Centenary Symposium" in New York, das sich ganz dem Leben und Werk Nietzsches widmete. Unter anderem waren Walter Eckstein, Karl Löwith und Paul Tillich an den Vorträgen und Diskussionen beteiligt. Die Interpretationen aller drei wiesen die existenzphilosophische Haltung auf, von der bereits gesprochen wurde, ließen es aber nicht dabei bewenden. Löwith brachte erwartunsgemäß das Thema der ewigen Wiederkehr zur Sprache 96 und versuchte die Zweideutigkeit des Konzepts als eines moralischen Imperativs und ontologischen Modells zu verdeutlichen: the idea is introduced ... not as a metaphysical doctrine but as an ethical imperative: to live as if „the eternal hourglass of existence" will ever be turned again, in order to impress on each of our actions the weight of an inexcapable responsibility. In Zarathustra, where eternal recurrence is the basic inspiration of the whole work, it is not presented as an hypothesis but as a metaphysical truth.97 Letzten Endes entschied er sich für die ethische ewigen Wiederkehr, da das Konzept der Ewigkeit, or self-affirmation of being which repeats itself throughout the leitmotiv of Nietzsche's intellectual

Variante des Gedankens der eternity, „as the eternal Yea in periodic cycles, remains passion" ,98 Tillich hingegen

Ibid., s . 61. Ibid., S. 122. Ibid., S. 127f. Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen (Berlin, 1935). Karl Löwith, „Nietzsche's Doctrine of Eternal Recurrence". Journal of the History of Ideas, 6 (June, 1945), S. 276f. Ibid., S. 281.

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deutete Nietzsches Denken hauptsächlich als die Suche nach einem Surrogat für den verlorengegangenen Gott, das der Philosoph im „Leben" und in der Kreativität des Individuums wiederzufinden glaube. Dieses Bedürfnis nach einer neuen Gottheit führe nach Tille zu einer unausweichlichen Konfrontation mit der Bourgeoisie bei Nietzsche: since the greatest obstacle to „life" is the „objectivating" nature of bourgeois thinking and acting, he wages war against bourgeois society in the name of his ultimate principle, creative life. 99

Eckstein zerbrach das Fundament aller Einwände gegen Nietzsches Ideal des großen Individuums oder freien Geistes, die dieses Bild als eine Grundlage des Führerprinzips hinstellten, indem er Nietzsches Heroismus als ein intellektuelles Heldentum interpretierte: whenever he speaks of heroism, isn't he thinking in the first place of intellectual heroism? - The heroism of the thinker who is willing to give up his most beloved illusions and who, like the knight in Duerer's picture, rides between death and devil? It is true that more than one Nazi has claimed Nietzsche for his own, on the ground of his will to power, his plea for a new order of rank, his condemnation of democracy. But have they been justified in doing so?100

Es dürfte jetzt nicht nur klar geworden sein, daß Nietzsches Sache in der amerikanischen Rezeption der 40er Jahre keine verlorene war, sondern auch, daß deutsche Emigranten einen wichtigen Beitrag zu seiner Verteidigung in dieser Zeit leisteten. Auch Adorno und Horkheimer, die den Kontakt mit ihrem Gastland geflissentlich mieden und eher in Emigrantenkreisen verkehrten oder sich hinter den Mauern der New School verschanzten, machten Nietzsche zum Thema der Diskussionen an eben jenem Institut. 101 Den Beitrag deutscher Emigranten zur amerikanischen Nietzsche-Rezeption detailliert zu durchleuchten würde aber nicht nur den räumlichen, sondern auch den temporalen Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es muß an dieser Stelle genügen zu sagen, daß ihre Rolle in der Entwicklung des Nietzsche-Bildes vor allem an amerikanischen Universitäten in den 50er und 60er Jahren von großer Bedeutung war. 102 Nichts anderes als das war es, was Allan Bloom so erschütterte. Und dennoch: Daß Nietzsches Schriften in den Kriegsjahren nicht auf den „Index" -

w

Paul Tillich, „Nietzsche and the Bourgeois Spirit", Journal of the History of Ideas, op. cit., S. 308. 100 Walter Eckstein, „Discussion", Journal of the History of Ideas, op. cit., S. 305. "" Vgl. „Zu einem Referat Ludwig Marcuses über das Verhältnis von Bedürfnis und Kultur bei Nietzsche (14. Juli 1942)" in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften. Band 12. Nachgelassene Schriften, 1931-1949, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt a.M., 1969). 1112 Eine ausgezeichnete Quelle zu diesem Hintergrund bietet: Anthony Heilbut, Exiled in Paradise. German Refugee Artists and Intellectuals in America, from the 1930s to the Present (New York, 1983).

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weder akademischer noch sonstiger Art - kam, ist fundamental ein amerikanisches Verdienst. Das Interesse war unter Hochschuldozenten und anderen Lesern stark genug gewachsen, daß ein solches Symposium vonnöten zu sein schien, um den weiteren akademischen Austausch über einen wichtigen Philosophen zu ermöglichen. In heutiger Zeit sind Nietzsche-Konferenzen an der Tagesordnung, aber 1944 war das keineswegs so, und daß dieses Symposium in Amerika stattfand, ist nicht ohne Bedeutung. Man möchte sich vorstellen, es sei vielleicht ein weiterer deutscher Emigrant bei dieser New Yorker Tagung zugegen gewesen, der dort auch Ansporn für ein wichtiges Werk empfangen haben könnte, das die amerikanische NietzscheRezeption ab 1950 überragend bestimmen sollte. Die Rede ist vom Princetoner Philosophen Walter Kaufmann. Kaufmanns Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist ist zweifellos immer noch der wichtigste amerikanische Beitrag zur internationalen Nietzsche-Rezeption und bildet auch den zeitlichen Schlußstrich dieser Arbeit. Kaufmanns Monographie krönte die ersten 50 Jahre der amerikanischen Nietzsche-Rezeption und bahnte den Weg für eine völlig neue Aufnahme Nietzsches in den folgenden 50 Jahren, die hier nicht berücksichtigt werden kann. In Hinsicht auf die Popularsierung Nietzsches haben in erster Linie Kaufmanns neue Übersetzungen der 60er Jahre sicherlich mehr Wirkung als seine Monographie gehabt. Diese sind immer noch die Standardgrundlage für die englischsprachige Nietzsche-Forschung (obwohl zur Zeit der Niederschrift dieser Arbeit eine Gruppe an der Stanford University sich der Aufgabe einer völlig neuen Gesamtübersetzung annimmt, welcher die Kritische Gesamtausgabe Montinaris als Textvorlage dienen wird) und genießen den unermeßlichen Vorteil gegenüber der Levy-Ausgabe, als Taschenbücher vorzuliegen. Kaufmanns Nietzsche-Brevier, The Portable Nietzsche Reader, ist bis dato das meistverkaufte Buch aus der portable-Reihe des Viking Verlages.103 Aber seine wissenschaftliche Untersuchung bleibt Kaufmanns große Leistung. Sofort nach ihrer Erscheinung erkannte die Fachwelt, daß hiermit das bedeutendste englischsprachige Werk über Nietzsche vorgelegt wurde. So schrieb ein Rezensent schon im Erscheinungsjahr: Having listened to Mr. Kaufmann's brilliant report on what he found to be the true nature of his beloved ... I am now convinced ... that the Nietzsche whom Mr. Kaufmann discovered comes closer to the true Nietzsche than the various images and idols which, accepted by layman and professional alike, have blocked a fuller comprehension of Nietzsche's thought. ... [0]ne might be inclined to propose this book as a test case: if the Germans receive it well, then there is hope that the dreadful romanticism into which existentialism has degenerated will soon recede; then there is hope that instead of the vague Nothings and ambiguous Absolutes that now fill, or rather empty,

"'3 Anonymus, „Viking Portable: Still Carried Away After 50 Years", Publishers Weekly (May 31, 1993), S. 19.

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a c a d e m i c heads and chairs in G e r m a n y , the dionysian enlightenment that N i e t z s c h e w i s h e d for will prevail. 1 0 4

Sehr früh schon wurde da Großes von einem Buch erwartet, das im Rückblick auch Großes geleistet hat. Somit ist Walter Kaufmanns Nietzsche-Studie auch ein würdiger Übergang zum nächsten Gegenstand dieser Arbeit - zu den philosophischen Monographien der amerikanischen Nietzsche-Rezeption.

104

Walter Cerf, „Review of .Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist' by Walter Kaufmann", Philosophy and Phenomenological Research, 12 (September 1951 - June 1952), S. 287.

V. Philosophische Rezeption Die streng philosophische Beschäftigung mit Nietzsche im Amerika der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war in zumindest einer wichtigen Hinsicht das Negativbild der essayistischen Rezeption: Dieser angesichts der Fülle der populären Diskussion nicht gerade voluminöse Bereich schrumpft also im größeren Kontext der Gesamtrezeption sogar zu einem kleinen Teilaspekt derselben zusammen. Dies überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, welch integrale Stellung Nietzsche in der gegenwärtigen anglo-amerikanischen Philosophie innehat. In thematischer Hinsicht ist aber zu beobachten, daß auch in der philosophischen Rezeption die Schwerpunkte Moralkritik und Wille zur Macht die Diskussion beherrschten. Vor allem die Suche nach der Identität des Übermenschen zieht sich wie der rote Faden durch die fünf Dekaden, in denen die amerikanischen Monographien zu Nietzsche entstanden. Die zentrale Frage hier lautete: Welche in Verbindung mit dem Ideal des Übermenschen stehenden Werte werden das durch die Umwertung verursachte moralische Vakuum der Moderne ausfüllen? Schon in den frühsten Zeugnissen der amerikanischen Nietzsche-Rezeption wurde diese Frage gestellt. Erst die 40er Jahre zeitigten aber den Beginn der ausschließlich philosophischen - im Gegensatz etwa zur soziopolitischen oder ästhetischen - Betrachtung des Nietzscheschen Werkes in Amerika. Für die Zeit davor galt im Ganzen: Nietzsche war kein Philosoph der Philosophen. Dies zeigt sich bereits, wenn man die Werke der wichtigsten amerikanischen Philosophen der Jahrhundertwende nach Spuren Nietzsches oder nach Stellungnahmen zu seinem Denken absucht.

V.l Nietzsche und Amerikas Philosophen der Jahrhundertwende V.l.a William James (1842-1910) Der erste wirklich eigenständige Beitrag amerikanischer Denker zur westlichen Philosophie wurde mit dem Pragmatismus geleistet, der im Werk Charles Sanders Peirce' erst entstand und von Amerikas wahrscheinlich größtem Philosophen, William James, zu einer vollständigen Theorie ausgebaut wurde. Eine Verbindungslinie zwischen dem Pragmatismus und Nietzsches Philosophie zu vermuten, mag zunächst gar nicht so abwegig erscheinen. Schon früh nutzten Kritiker auf beiden Seiten des Atlantiks den schnell allgemein bekannt gewordenen Begriff „Pragmatismus" als Notbehelf, um die erkenntnistheoretischen Neuheiten in Nietzsches Denken zu kennzeichnen.

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In Amerika war dieser Vergleich weitaus häufiger im Gebrauch als in Europa, da das „neue Denken" aus Cambridge (Massachusetts) und Chicago die intellektuelle Atmosphäre der Nation stark durchsetzte. Vor allem James hat dem Pragmatismus in kurzer Zeit nicht nur ein System, sondern zudem große Popularität verschafft. Da also ein so griffiger Terminus bereits in der Luft lag, als die Nietzsche-Diskussion in Amerika erst aufkam, wurde jene Bezeichnung auch nicht selten als Schulzuweisung für Nietzsches Denken aus den geistigen Äthern der Zeit gegriffen. Schon 1909 klärte John Warbeke die Pragmatisten Amerikas und Englands darüber auf, daß ihre „neuen" philosophischen Entdeckungen durch Nietzsche vorweggenommen worden seien: Doubtless it will be an interesting surprise to many American and English pragmatists to learn that Nietzsche has anticipated all their principal doctrines. H e agrues: ... Why choose „truth" rather than „falsehood," and why not rather the latter than the former? ... For the criterion o f value requires us to measure judgments from the standpoint of the furtherance and maintenance of life, biologically speaking; and, psychologically, that which produces satisfaction is „true."'

Die frühe Applikation dieser Einordnung, die auch hier von Warbeke (wie von vielen anderen) falsch verwendet wurde, hielt sich auch hartnäckig. Noch 1942 befand z.B. W.T. Stace: The very name instrumentalism [die D e w e y s e h e Version des Pragmatismus] ... means that reason or intellect is reduced by this philosophy to the status of a mere instrument of something else - whether it be will, desire, appetite, action, or what not. ... Lastly, one has only to look in the writings of Nietzsche to find a theory of knowledge which is practically indistinguishable from pragmatism. 2

Solcherart „pragmatistische" Lesarten von Nietzsches Philosophie sind auch heute keineswegs aus der Forschung verschwunden. Bevor man aber der Überlegung nachgeht, ob tatsächliche philosophische Korrespondenzen zwischen Nietzsche und dem Pragmatismus eine solche Deutung auch nahelegen, muß man im Sinne des rezeptionshistorischen Interesses prüfen, ob Warbeke überhaupt zu seiner Vermutung berechtigt gewesen sein könnte. Man muß fragen, ob Nietzsche in der Philosophie William James' in irgendeiner Weise figurierte, ja, ob Nietzsche von James auch überhaupt wahrgenommen wurde. Neuere deutsche Philosophie und vor allem Psychologie las William James mit großem Interesse. Er studierte selbst 1867-68 in Deutschland und die Werke Wundts sowie Helmholtzens kannte er ausführlich. Die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit Nietzsche wäre also von James' Bildungshintergrund her gegeben. Dennoch muß die Antwort auf diese Hypothese, daß Nietzsche James irgendwie beeinflußt haben könnte, negativ ausfallen. In seinen gesamten Schrif-

1

2

John M. Warbeke, „Friedrich Nietzsche, Antichrist, Superman, and Pragmatist", Theological Review, 2 (July 1909), S. 378. W.T. Stace, The Destiny of Western Man (New York, 1942), S. 196.

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ten erwähnte James Nietzsche nur ein Mal und dies im Kontext von Nietzsches Behandlung des „asketischen Priesters": „The most inimical critic of the saintly impulses whom I know", notierte er, „is Nietzsche". 3 Das verkörpert im wesentlichen das Verhältnis des amerikanischen zum deutschen Philosophen, das man aber mangels ausreichender Belege nur aus einem Vergleich von James' Denken mit dem Nietzsches rekonstruieren kann. Es ist für das Verständnis von James' mutmaßlicher Haltung zu Nietzsche notwendig festzustellen, daß James' Bemerkungen in dieser Sache eine ambivalente Sprache sprechen. Er wußte eindeutig einiges an Nietzsches Einsichten in das schwierige Verhältnis von Moral und den Prinzipien der vitalen Lebenserhaltung zu schätzen, mußte Nietzsche insgesamt aber zugunsten seines eigenen weltanschaulichen Standpunktes ablehnen. Was aber bedeutet hier schätzen? James sprach vom biologically useful instinct of welcoming leadership, and glorifying the chief of the tribe. The chief is the potential, if not the actual tyrant, the masterful, overpowering man of prey. ... Such instinctive and submissive hero-worship must have been indispensable in primeval tribal life. ... Compared with these beaked and taloned graspers of the world, saints are herbivorous animals, tame and harmless barnyard poultry. 4

Daß Nietzsche den Heiligen als Statthalter einer herabgesetzten Lebenskraft deutet, leuchtete James also weitgehend ein. Schließlich befand er aber, daß in einer modernen Zivilisation eine solche „Dislike of the Saintly nature" ein „negative result" dieses Instinktes zur Anerkennung höherer Individuen sei. Die latente Unentschiedenheit von James' Einstellung ist damit aber noch nicht komplett beschrieben. In einem Atemzug bezeichnete er Nietzsches Antipathie gegenüber dem Typus des Heiigen als krankhaft (sickly), während er sich aber auch ausbedang, diese Abneigung nachvollziehbar finden zu dürfen: Poor Nietzsche's antipathy is itself sickly enough, but we all know what he means, and he expresses well the clash between the two ideals. The carnivorous-minded „strong man," the adult male and cannibal, can see nothing but mouldiness and morbidness in the saint's gentleness and self-severity, and regards him with pure loathing. 5

Der Grand für diese Ambivalenz wird schwerlich in den epistemologischen (oder wie James selbst gesagt hätte: psychologischen) Prämissen von James' Denken gelegen haben - gesetzt den Fall, James las Nietzsche überhaupt in diesem Lichte. Man muß sich der Tatsache erinnern, daß 1902, als die obigen Zeilen entstanden, Nietzsche fast ausschließlich als Sozial- und Moralphilosoph betrachtet wurde. Es dauerte auch lange, bis sich daran etwas ändern sollte.

3

4 5

William James, „The Varieties of Religious Experience", Writings, 1902-1910, ed. Bruce Kuklick (New York, 1987), S. 336. Ibid., S. 336. Ibid., S. 337f.

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Die epistemologischen Standpunkte James' und Nietzsches liegen jedenfalls in der Tat nicht allzuweit auseinander. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist der amerikanische Pragmatismus vor allem eine Wahrheits- und Wahrnehmungstheorie. James wollte, wie sein Freund Peirce vor ihm, den althergebrachten (Universalien-)Streit der Fakultäten zwischen den zahlreichen Auswüchsen des Realismus und des Nominalismus schlichten, indem er den diesen Standpunkten zugrundeliegenden Dualismus durch das Postulat der Einheit von Bewußtsein und Welt aufhob. Für James war außerdem alles Wissen handlungsbegründet und -bezogen. Nur indem der Mensch in der Welt agiere und sich zu ihr verhalte, entwickele er Wissen, und dieses Wissen wiederum sei stets auf das Agieren in der empirischen Welt gerichtet. Der Geist galt James nicht mehr als Substanz oder Entität, die den Menschen essentiell vom Tier unterscheide, sondern lediglich als Denkfunktion (obwohl er ja gleichzeitig die mögliche, aber nicht nachweisbare Existenz einer Seele nicht ausschloß). Der Begriff „Bewußtsein" beschreibe nur den Inhalt und die Aktivität des Denkens: die Fähigkeit des Menschen, Stimuli seiner Umwelt in Handlungsentscheidungen umzusetzen. So schrieb James im berühmten Aufsatz „Does .Consciousness' Exist?" (1904): I mean only to deny that the word [consciousness] stands for an entity, but to insist most emphatically that it d o e s stand for a function.

There is, I mean, no aboriginal

stuff or quality of being, constrasted with that of which material objects are m a d e , out o f which our thoughts o f them are made; but there is a function in experience w h i c h thoughts perform, and for the performance of which this quality of being is invoked. That function is

knowing,6

Die eine Seite dieser Auflösung der Entität des Bewußtseins war der Biologismus. Der Geist des Menschen erwies sich damit als ein evolutionär Gewordenes, das vom physischen Selbsterhaltungstrieb des Menschen, oder anders gesagt, dem Willen, herausgebildet wurde. Daran ließ James früh (1881) keinen Zweifel: T h e willing department o f our nature, in short, dominates both the c o n c e i v i n g department and the feeling department; or in plainer English perception and thinking are only there for behavior's sake. 7

Die andere Komponente seiner Hypothese bestand aber in der für James aus dem Biologismus resultierenden Kommunität von Geist und Welt. Für James korrespondierten die vom menschlichen Wahrnehmungsapparat aufgenommenen Stimuli wahrheitsgemäß der Wirklichkeit der Umwelt. Diese objektive Wirklichkeit kennzeichne den Bereich der reality. Fehlurteile beruhen, dem Pragmatismus zufolge, auf der Möglichkeit, daß das Bewußtsein des Men-

" 7

William James, „Does Consciousness Exist?", Writings, 1902-1910, op. cit., S. 1142. William James, „Reflex Action and Theism", Writings, 1878-1899, ed. Gerald Myers (New York, 1992), S. 542.

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sehen die Stimuli falsch interpretiere: Wenn der Stab im Wasser geknickt erscheine, sei das vom Auge perzipierte Bild objektiv genau, denn die Lichtstrahlen zeigen einen geknickten Stab. Der Mensch müsse aber lernen, dieses in praktischer Hinsicht „falsche" Bild „richtig" zu interpretieren. Solche Interpretationen fallen in den Bereich der truth. Diese Unterscheidung ist von äußerster Wichtigkeit, weil die Wahrheitstheorie des Pragmatismus oft - wie z.B. von Warbeke - als die Behauptung ausgelegt wurde, jede Vorstellung, die „funktioniere" (womit Kritiker meist „dem Subjekt gefällig" meinten), sei damit „wirklich". Diese These verband man wiederum irrtümlicherweise mit Nietzsche. Für James aber war jede funktionierende Vorstellung höchstens wahr. Funktionierend hieß für ihn allerdings von der empirischen Erfahrung bis jetzt nicht widersprochen. Natürlich wußte James, daß Ideen, die historisch für wahr gehalten worden sind, durch neue Erkenntnisse stets überholt werden. Man müsse dann gestehen, daß die bislang als richtig angenommene Vorstellung zu keiner Zeit wirklich gewesen sei. Dennoch sei sie eine Zeit lang wahr gewesen, weil ihr die empirische Erfahrung noch nicht widersprochen habe: Vorläufig „funktionierte" diese Vorstellung. In diesem Sinne ist der Pragmatismus eine wahrhaft experimentelle Philosophie. Der Mensch muß also stets mittels neuen Wissens von neuem prüfen, ob seine bisherigen Vorstellungen von der Wirklichkeit tatsächlich mit dieser zusammenfallen. Peirce und James postulierten aus methodischen Gründen einen hypothetischen Endzustand empirischer Wissenschaft, in dem alles Wissen des Menschen, aus jahrelanger Erfahrung gesammelt, den Gesamtbereich der erfahrbaren Wirklichkeit korrekt und vollständig wiedergäbe. Im Falle der Erlangung dieses absoluten Wissensgrades, fiele der Unterschied zwischen den Bereichen des Wahren und des Wirklichen weg. Da das tatsächliche Zustandekommen dieses Ideals auszuschließen sei, müsse man den jetzigen Stand des empirischen Wissens für wahr gelten lassen, solange dieses Wissen durch neue Erfahrungen nicht widerlegt werde. Bedeutend ist diese Unterscheidung, weil sie die Argumentation, welche das Etikett „Pragmatismus" für Nietzsches erkenntnistheoretisches Denken kategorisch ablehnt, ihrer Eindeutigkeit beraubt. Nietzsche gebraucht freilich öfters zwei Wahrheitsbegriffe - als gebe es Wahrheit und „Wahrheit" -, von denen der eine manchmal als „objektiv" gesetzt zu sein scheint. Wenn er spezifische Standpunkte als „illusorisch" bezeichnet, dann muß er offensichtlich im Hintergrund mit einem anderen Wahrheitsmaßstab operieren, der ihm diese Differenzierung ermöglicht. Versteht man die Wahrheitstheorie des Pragmatismus als bloße Opportunitätslehre, dann hebt sich Nietzsche von dieser Philosophie ab. „Niemand", schreibt er, wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht, oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten [...] Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre, ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, -so dass sich die

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Stärke e i n e s Geistes darnach b e m ä s s e , wie viel er v o n der „Wahrheit" gerade noch aushielte, deutlicher, bis zu w e l c h e m Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht

nöthig hätte.

(JGB 39)

Dennoch stellt er derselben Schrift, der dieses Zitat entstammt, die Frage voran: „Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?" (JGB 1) Es ist dies die berühmte Wertfrage. Der Weg durchs Labyrinth der Wahrheit wird bei Nietzsche noch verschlungener, wenn er die wahrnehmende Fähigkeit der Vernunft als eines bloß epiphänomenalen Produktes des Willens oder der Triebe verwirft, weil es unsere Erfahrung „zurechtmacht", damit aber keine Wirklichkeit erreicht. Ist dies aber der Fall, dann kann Nietzsche, der mit dieser Argumentationsweise sich der Vernunft bedient, sich nach normalen logischen Prinzipien kein Urteil über die Vernunft und die Wahrheit erlauben. Er selbst moniert an Kants dialektischem Verfahren, daß dabei die „trügerische" Vernunft über sich selbst zu Gericht sitze. Ein „Werkzeug", argumentiert Nietzsche, könne seine eigene Tüchtigkeit selbst am allerwenigsten einschätzen. Dies alles beruht aber wiederum auf der Annahme, daß Nietzsche die Unwahrheit solcher Positionen wie der Kants an bestimmten „wahren" Referenzpunkten erkennt, deren Identität er seinem Leser nicht preisgibt. Hantiert Nietzsche mit zwei Wahrheitsbegriffen, so kann der einseitige Pragmatismus als Bezeichnung für sein Denken verworfen werden, denn: N i e t z s c h e s B e g r i f f der Wahrheit und der Rationalität ist ... k e i n e s w e g s einfach pragmatisch, die Wirklichkeit und die Wahrheit werden nicht auf L e b e n s z u s a m m e n h ä n g e unseres H a n d e l n s reduziert. 8

Für James war zumindest die Wirklichkeit jedoch ebenfalls nicht auf Lebenszusammenhänge des Menschen reduziert. Handeln und Leben rahmen das Betätigungsfeld des Wahren ein, dessen Umrisse in glücklichen Fällen mit denen der Wirklichkeit überlappen. Das bedeutet, daß in James' System der zweite Maßstab auch existent ist, aber nur erst prozessual durch Verfeinerung des Wissens evident wird. Damit ist Nietzsche nicht eindeutig als Pragmatist ausgewiesen. Er ist vielmehr als Perspektivist zu verstehen. Es wird hiermit aber doch klar, daß James auf jeden Fall keinen Grund gehabt hätte, Nietzsches Vernunftkritik pauschal abzulehnen. Die Ursache seiner Nichtbeschäftigung mit Nietzsche ist mit aller Wahrscheinlichkeit im Moralischen zu suchen. Aber selbst hier zeigte James' Haltung eine bestimmte Nähe zu der Nietzsches, da sich im Ethischen Berührungspunkte zwischen den beiden offenbaren. So umweht James' Werk der verfeinerte Duft des Aristokratismus, wo die Autorität moralischen und sozialen Denkens über seine Philosophie herrscht. James war überzeugter Demokrat, meinte dennoch, daß die bessere Demokratie stets auf der

Pavel Kouba, „Die Vorurteile der Philosophen: Reflexionen zu Nietzsches Vemunftkritik" Nietzsche-Studien, 23 (1994), S. 169.

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Hut sein müsse vor inhärenten „preferences ... for the inferior".9 Als Professor an der traditionsreichsten, führenden Eliteuniversität des Landes, als größter Denker der berühmtesten philosophischen Fakultät in der Bildungsgeschichte Amerikas, vertrat James erwartbarerweise die Auffassung, die soziale Funktion höherer Bildung, sofern es diese soziale Funktion gebe, bestehe gerade nicht in der Entwicklung eines Bewußtseins unter den Studenten für ihre philanthropische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. James sah es als Aufgabe der Universitäten an, eine wachsame Intelligenz heranzubilden, welche im Laufe ihrer Studien letzlich den Geschmack (ein höchst Nietzschesches Kriterium) entwickeln sollte, der zur Unterscheidung von höherer und niederer Gesinnung befähige. So ausgerüstet, sollte diese „college-bred" Elite die Politik des Landes genau beobachten und die Demokratie vor der Verrohung bewahren: The sense for human superiority ought, then, to be considered our line. ... Our colleges ought to have lit up in us a lasting relish for the better kind of man, a loss of appetite for mediocrities, and a disgust for cheapjacks. We ought to smell, as it were, the difference of quality in men and their proposals when we enter the world of affairs about us. ... The best claim we can make for the higher education, the best single phrase in which we can tell what it ought to do for us, is, then, exactly what I said: it should enable us to know a good man when we see him.10

Es muß aber daran erinnert werden, daß James den Sinn dieser Elite in ihrem Dienst an der Erhaltung und Besserung der Demokratie erblickte. In ähnlicher Weise erachtete er die traditionellen Werte der martialischen Erzeihung für eine weitere Quelle der höheren Gesinnung. „Militarism", schrieb er, is the great preserver of our ideals of hardihood, and human life with no use for hardihood would be contemptible. Without risks or prizes for the darer, history would be insipid indeed; and there is a type of military character which every one feels that the race should never cease to breed, for every one is sensitive to its superiority. The duty is incumbent on mankind, of keeping military characters in stock - of keeping them, if not for use, then as ends in themselves and as pure pieces of perfection."

Die innere Überlegenheit des militärischen Menschen weitete James offensichtlich als Selbstzweck, weil dieser Typus etwas Höheres, über die Masse Hinausragendes darstelle. Er kam darin Nietzsches ästhetischer Bewunderung des Kriegertypus sehr nah. James war aber gleichzeitig deklarierter Pazifist. Um diesen Konflikt zu resolvieren, suchte er nach einem „moralischen Äquivalent" des Krieges und des Kriegers, welches aufgrund der Indienstnahme (als Zivildienst gedacht) solcher Menschen für die Gemeinschaft das friedfertige Fortbestehen dieses Typus auch Pazifisten gegenüber rechtfertigen würde. Und dennoch ist die Trennlinie zwischen James und Nietzsche trotz allem eine dezidiert moralische.

' "' 11

William James, „The Social Value of the College-Bred", Writings, 1902-1910, op. cit., S. 1245. Ibid., S. 1244f. William James, „The Moral Equivalent of War", Writings, 1902-1910, op. cit., S. 1285.

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Es waren letzten Endes James' Optimismus und traditionell christliche Werte, die ihn die Konsequenzen einer naturalistischen Ethik nicht akzeptieren ließen. Dieser Konflikt zwischen einer mit seinem geistphilosophischen Naturalismus konsequenterweise Hand in Hand gehenden naturalistischen Ethik und seiner gleichzeitigen intuitiven Bindung an die christliche Tradition fährte zu manchem Zwiespalt in James' Denken und Person, den er mit seiner Philosophie zu überwinden suchte. Die Stellung religiöser Werte in seinem von ihm selbst als „radikalen Empirismus" getauften System ließ James keine Ruhe. Dieser Konflikt hatte auch einen sehr persönlichen Hintergrund in James Biographie, der für seine spätere Philosophie bestimmend sein sollte. Von 1869-1870 erlag der damals junge Arzt schweren Depressionen, die er als persönliche Machtlosigkeit gegen den „Nihilismus" beschrieb. Einige Zeit ging James gar mit Selbstmordgedanken und erholte sich schließlich nur kraft eines erstaunlichen Willensaktes von dieser Krankheit. James entschied sich bewußt, an den Menschen und den Wert des Daseins zu glauben. So notierte er im Frühjahr 1870: My first act of free will shall be to believe in free will. For the remainder of the year, I will abstain from the mere speculation and contemplative Grüblei [sic] in which my nature takes most delight, and voluntarily cultivate the feeling of moral freedom ... suicide seemed the most manly form to put my daring into; now, I will go a step further with my will, not only act with it, but believe as well. 12

Dieser intuitive, nicht rigoros logisch begründete Willensentscheid für das Leben brachte James auf den philosophischen Grundton seines Werkes, den er „Meliorismus" nannte. Der Kosmos sei zwar nicht teleologisch, aber auch nicht determiniert, argumentierte James, sondern eben pluralistisch. Wenn James vom pluralistic universe sprach, dann meinte dieser Begriff seine Überzeugung, daß Entwicklung und „Ausgang" der Geschichte vom Willen der Menschheit mitbestimmt werden. Im Bereich des melioristischen Systems gab es für James daher zukunftsträchtige Fragen, die durch empirische Beobachtung nie gelöst werden können. Dennoch hielt James es (zumindest bei den „lebenswichtigen" Fragen) für unzulässig, in der Unentschiedenheit auszuharren, nur um ein Fehlurteil zu vermeiden. Ein entscheidendes Prinzip des Pragmatismus lautet, daß man die Möglichkeiten der Befragung und des Wissens nie unnötig blockieren dürfe. Einer lebenswichtigen Frage wie der nach der Existenz Gottes auszuweichen, bedeutete in James Augen, die Möglichkeit des höchsten Wissens zu blockieren. Schließlich sei die Entscheidung für oder wider den Glauben von größter Dringlichkeit für das melioristische Projekt: Ein gläubiger Mensch werde wesentlich anders auf die Welt einwirken als ein ungläugiber. Der radikale Empirist James legte diese Diskrepanz zwischen seinem philosophischen Biologismus und seiner persönlichen

William James. The Letters of William James, ed. Henry James. Jr., vol. 1 (Boston, 1920), S. 147 f.

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Neigung zum Glauben auf eine für ihn typische Weise bei: Er rief nicht zum Glauben auf, sondern plädierte gegenüber Skeptikern für ein pragmatistisches Recht auf Glauben, denn ob der Glaube als „Wahrheit" der gegebenen, aber verborgenen „Wirklichkeit" widerspreche, könne vom Menschen empirisch nicht festgestellt werden. In einer solchen Situation dürfe der Mensch, so James, sich für die Alternative entscheiden, welche eine positivere Wirkung auf das eigene Leben und das des Menschen im allgemeinen haben würde. Dies ist die Wurzel des traditonellen Mißverständnisses, welches besagt, James liefere lediglich die amerikanische Rechtfertigung des scheinbar Nietzscheschen Grundsatzes „nichts ist wahr, alles ist erlaubt". Eins seiner bekanntesten Werke, „The Will to Believe", ist eigentlich ein Plädoyer für das Recht des Menschen auf Glauben. Es sei, so James, an essay in justification o f faith, a defence of our right to adopt a believing attitude in religious matters, in spite of the fact that our merely logical intellect may not have been coerced. 1 3

Der versöhnliche Charakter von James' Philosophie offenbart seinen Pragmatismus als einen humanistischen Empirismus. Es wäre unmöglich, auf so wenigen Seiten der ganzen Breite von James' Denken Rechnung zu tragen, aber die in diesem kleinen Umfang präsentierte Darstellung kann eine mögliche Begründung dafür liefern, warum James Nietzsche philosophisch überging. Als rigoroser christlicher Philosoph hätte sich James zu eloquenten Invektiven gegen Nietzsche hinaufschwingen können. Die dialektische und rhetorische Kunst sämtlicher Nietzsche-Gegner hätte er darin bei weitem übertroffen. Als drakonischer Empirist andererseits hätte er sich mit aller Wahrscheinlichkeit zumindest näher mit Nietzsche auseinandergesetzt. Daß er Nietzsche kannte, steht fest (aus der Genealogie der Moral z.B. zitierte er in eigener, recht ansehnlicher Übersetzung). Aber als Pragmatist mit einem selbsterlassenen Recht auf Glauben hingegen konnte James der vor dem Sturz ins Bodenlose nicht zurückschreckenden Skepsis Nietzsches bestimmt nichts abgewinnen. Den unbegrenzten Zweifel aus Prinzip nannte James die „Mephistophelian" oder „pyrrhonistic" Skepsis, weil der damit gewonnene Sieg über das Fehlurteil nur um den Preis einer völligen Blockierung aller Möglichkeiten des Wissens erkauft werden könne. James hegte noch die Hoffnung, den Kosmos durch guten Willen im kleinen bessern zu können, während Nietzsche sich zu einem Fatalismus durchringt, der das ewig ziellos werdende und dadurch ewig sich gleichbleibende, also ewig ins Nichts fallende Universum zu begrüßen vermöchte. Empirismus und Religion, Moderne und Vergangenheit miteinander in Einklang zu bringen, bedeutete James das „present dilemma in philosophy". Als er einmal vor Studenten das System beschrieb, das sie suchen müßten, charakterisierte er in erster Linie seinen eigenen weltanschaulichen Wunsch:

13

William James, „The Will to Believe", Writings, 1878-1899, op. cit., S. 457.

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Y o u want a system that will combine both things, the scientific loyalty to facts and willingness to take account of them, the spirit of adaptation and accommodation, in short, but also the old confidence in human values and the resultant spontaneity, whether of the religious or of the romantic type. 1 4

V . l . b Josiah Royce (1855-1916) Interessanterweise war es ein jüngerer Kollege von William James in Harvard, der kalifornische Philosoph Josiah Royce, der einige wenige Impulse für sein eigenes Denken von Nietzsche erhielt. Diese Impulse waren freilich fragwürdiger Natur und lassen gelegentlich an Royce' Verständnis des Nietzscheschen Denkens zweifeln, aber übergangen hat er Nietzsche jedenfalls nicht. Royce und den von ihm verehrten James führte das gemeinsame Interesse an neuerer Psychologie sowie den Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit menschlichen Wissens zueinander. Ihre philosophische Korrespondenz veranlaßte James dazu, Royce 1882 nach Harvard zu holen, wo der Wahlcambridger später Ordinarius wurde und bis an sein Lebensende blieb. Die enge Freundschaft und der fachliche Respekt beider Philosophen füreinander verminderte jedoch um kein Jota den immer schwelenden intellektuellen Disput zwischen ihnen. Royce war kein Pragmatist, sondern Idealist (1875 studierte Royce in Deutschland unter Lotze und Wundt, interessierte sich vorwiegend für Hegel), was seine Beschäftigung mit Nietzsche im Vergleich zur Nichtachtung desselben von Seiten James' umso paradoxer macht. Royce hat Nietzsches Philosophie in seine eigenen geistphilosophischen Überlegungen nicht direkt mit einbezogen. Wie James trieb Royce die Frage nach der Korrespondenz des individuellen und kollektiven Wissens mit dem Wesen des Wirklichen um. Anstatt diese Frage mit einem experimentellen Empirismus zu beantworten, postulierte Royce den Sinn der Suche nach Wahrheit als .das Bemühen des Individuums, mit dem Absoluten vereint zu werden. Auf den ersten Blick meint man, das könnte von den Thesen der Pragmatisten kaum entfernter sein, da diese alle dazu tendierten, die Existenz der Substanz „Geist" entweder zu leugnen oder (wie James) für nicht empirisch nachweisbar zu erklären. Für Royce aber hing die Möglichkeit wahren Wissens überhaupt von der Existenz eines Absoluten ab, das nicht nur das gesamte Wissen über das Sein enthielte, sondern dieses Wissen selbst wäre. „All reality must be present to the Unity of the Infinite Thought",15 denn wäre das Absolute nur das Wissen über das Sein, müßte es noch ein weiteres absolut Wissendes geben, das die Wahrheit dieses Wissens wiederum zu prüfen vermöchte - ein regressus infinitus also. Das war keineswegs innovativ, aber Royce gab seinem Konzept des Absoluten immer-

14 15

William James, „Pragmatism", Writings, 1902-1910, op. cit., S. 495. Josiah Royce, The Religious Aspect of Philosophy (Boston, 1885), S. 433.

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hin eine etwas neue Wendung, indem er das absolute Wissen mit dem gesamten Wissen aller Menschen als eines kollektiven Geistes gleichsetzte. Das, was am Pragmatismus also die letzte Spur eines gewissen Restidealismus verkörperte - die methodische Supposition eines empirischen Endzustandes, in dem alles Wissen schließlich vereint sein würde -, stellte gleichzeitig die pragmatistische Neuerung an Royce' idealistischer Philosophie dar. Um die Menschen mit dem Absoluten zu vereinen, mußte Royce also einen Weg finden, die Menschen selbst miteinander zu verbinden. Die werdende Existenz eines unter den Menschen weilenden absoluten Geistes in Form einer geistigen Vereinigung aller Menschen zu erkennen, war ein zentrales Ziel seines Philosophierens und markierte genau die Schnittstelle, an der sich Metaphysik und Ethik in seinem Denken berührten. Der Imperativ des geistigen Zusammenschlusses lautete bei Royce: The universal will of the moral insight must aim at the destruction of all which tes us into a heap of different selves, and at the attainment of some higher organic aim.'6

separapositive

Es mutet heute befremdend an, daß Royce einem Optimismus das Wort redete, demzufolge es vorstellbar sei, daß „all the world of individuals would act as one Being, having a single Universal Will. Harmony would in fact be attained". 17 Das fand auch selbst der Meliorist William James etwas weit hergeholt. Noch befremdlicher muß uns aber erscheinen, daß ein Denker wie Royce gerade in moralischen Fragen ausgerechnet das Werk Nietzsches nach neuen Gesichtspunkten auskundschaftete. Dennoch hatte das seinen Grund. Royce war der Überzeugung, daß zumindest die westliche Welt sich zu seiner Zeit in einer moralischen Sinnkrise befand, die als Folge der Säkularisierung der Gesellschaft und der Kultur anzusehen sei. Er dachte allerdings nicht daran, die Uhr zurückzudrehen. Zwar hielt er die Gemeinschaft aller Christen als eine „beloved community" in Ehren, die seiner Meinung nach eine geistig sehr tiefe Vereinigung mit dem Absoluten anstrebe, stritt aber nicht ab, daß die Menschheit als ganzes sich ethisch neu orientieren müsse: „I indeed agree with the view that, in many ways, our traditional moral standards ought to be revised. We need a new heaven and a new earth". 18 Das schließliche Ziel aller Moral blieb aber für Royce die harmonische Aufhebung des Konfliktes zwischen dem Willen des Einzelnen und dem der Gemeinschaft, der beloved community: Neither within nor without, then, do I find what seems to me a settled authority, -a settled and harmonious plan of life, - unless, indeed, one happy sort of union takes place between the inner and the outer, between my social world and myself."

Ibid., S. 193. Ibid., S. 145. Josiah Royce, The Philosophy of Loyalty (New York, 1908; hier nach dem 1971er Nachdruck der Ausgabe von 1924 zitiert.), S. 9. Ibid., S. 37.

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Royce benötigte zur Rekonstruktion einer die Kluft zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Willen überbrückenden Moral ein neues Leitprinzip, das mit dem summum bonum des Absoluten in Übereinstimmung stand. Dabei mußte dieses Prinzip sowohl säkularen als auch sakralen Ansprüchen genügen, da ein umgreifender Atheismus nicht das Ziel der Gemeinschaft sein sollte - die Idee mußte aber auch für alle verbindlich sein können, was einen religiösen Konsens unmöglich machte. Royce' Vorschlag lautete, das Konzept der Loyalität (loyalty) als höchstes Gut zu setzen, da in der Loyalität der Schaffenswille des Einzelnen in einem höheren Zweck aufgehe, dem sich andere auch anschließen könnten. Loyalty kombiniere also das Prinzip der Treue als eines höchsten ethischen Gutes mit dem Bewußtsein, eine gemeinsame Sendung mit anderen Menschen zu teilen: Thus loyalty ... s o l v e s the paradox of our ordinary existence, by s h o w i n g us outside o f ourselves the cause which is to be served, and inside of ourselves the will which delights to do this service. 2 0

Eine mögliche Form der Loyalität war für Royce der Patriotismus. Das wirkte sich in seinem Denken während der Kriegsjahre als Appell an Amerika aus, durch bewaffnete Intervention die Interessen des eigenen Landes zu vertreten und gleichzeitig einem höheren Ziel zum Schutze der Zivilisation zu dienen: W e A m e r i c a n s k n o w what the Lusitania

outrage meant, and to what spirit it g a v e

expression. ... Our duty is to be and to remain the outspoken moral opponents of the present German policy, and of the German state. ... In the service of mankind, w e o w e an unswerving sympathy not to one or another, but to all of the present allied e n e m i e s of Germany. 2 1

Letzen Endes müsse die Loyalität aber ein Metaideal bleiben, das alle objektivierte Formen des loyalen Handelns als Prinzip übersteige, wenn es Gültigkeit als höchstes Gut haben solle. In diesem Sinne expandierte Royce die Definition seiner Idee der Loyalität als „loyalty to loyalty" - der Mensch solle loyal um der Loyalität willen sein und enthebe sich auf diese Weise etwaigen Konflikten, die zwischen verschiedenen Arten von Loyalität als Ausdruck verschiedener Willen entstehen könnten. Daß dieses moralische Ersatzgut tatsächlich als oberstes Prinzip wirken könnte, glaubte Royce, weil er apriorisch den Willen in jedem Menschen voraussetzte, die Einheit mit dem Absoluten zu suchen. Das Substrat menschlichen Denkens und Agierens war damit nach Royce der (die Einheit mit dem Absoluten wollende) Wille. ,,[A]11 life", postulierte er, h o w e v e r dark and fragmentary, is either a blind striving for c o n s c i o u s unity with the universal life of which it is a fragment, or else, like the life o f the loyal, is a deliberate effort to express such a striving in the form of a service o f a super-human cause. 2 2

2,1 21 22

Ibid., S. 42. Josiah Royce, The Hope of the Great Community (New York, 1916), S. lOf. Josiah Royce, The Philosophy of Loyalty, op. cit., S. 375.

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Der Wille des Menschen wolle das Absolute und diene dadurch einem übermenschlichen Zweck. Dieser Leitbegriff läßt bereits erkennen, daß Royce innerhalb seiner Loyalitätsphilosophie eine der obskursten Interpretationen des Übermenschlichen bei Nietzsche zustandebrachte, die es je gegeben hat. Mit dem Ideal des Übermenschen als „Sinn der Erde" versuche Nietzsche, so Royce, das alle Menschen miteinander verbindende Hingezogensein des Individuums zum höheren Leben im Absoluten zu schildern. Royce begegnete seinem Leser mit der Forderung, Nietzsche als unbewußten Mitdenker der Loyalität zum Absoluten zu erkennen: Nietzsche, individualist and ethical naturalist though he was. illustrates our present thesis. He began the later period of his teaching by asserting that „God is dead". ... All this seems to leave man very much to his own devices. Yet Nietzsche at once set up the cult of the ideal future being called the Uebermensch or Superman. And the Uebermensch is just as much of a god as anybody who ever throned upon Olympus or dwelt in the sky. ... If our philosophy of loyalty is right, Nietzsche was not wrong in this appeal to the superhuman. The superhuman we indeed have always with us. Life has no sense without it.23

Den Willen zur Macht deutete Royce infolgedessen als „power idealized through its social efficacy, and conceived in terms of some ... dream of a completely perfected and ideal, but certainly social, individual man". 24 Diese Einbindung der Philosophie Nietzsches in eine soziale Utopie repräsentiert die gravierendste Schwachstelle in Royce' Interpretation. Darin erschöpfte sich sein Nietzsche-Bild aber nicht; diese Verdrehung war mehr das Ergebnis von Royce' Wunsch, Nietzsches theoretischen Beistand bei der Ausarbeitung seiner Loyalitätsphilosophie nicht aufzugeben. Der Hintergrund zu dieser undurchsichtigen Umwertung des Übermenschlichen lag bei Royce' Erkenntnis von der Notwendigkeit der individuellen Konstituierung des Selbst im Rahmen einer nichtreligiösen Moral. Seine neue Moral konnte den Individualismus nicht ausschalten, sondern mußte gerade ihn berücksichtigen - „Individualism in ethics has ... its permanent and, as I believe, its absolute justification in the nature of things" 25 -, da das Prinzip der Loyalität gegenüber der Idee der Loyalität als abstrakte Leitidee keine ethischen Inhalte beschreiben konnte. Jeder Mensch ist in ethischer Hinsicht damit mehr oder weniger sich selbst überlassen. Zu Sittenkodex und Wertesystem bezog Royce keine genaue Stellung. Auch metaphysisch gesehen aber war für Royce das Selbst nicht automatisch gegeben. Der Mensch habe das Potential zur Hervorbringung eines Selbst, das in seinem Willen angelegt sei - dieses Potential zeige sich bereits im angeborenen Streben zum Absoluten hin. Dieser Wille sei aber nicht mit der Personalität

23 24 25

Ibid., S. 381 f. Ibid., S. 85f. Ibid., S. 79.

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identisch, denn der Wille allein zerstreue sich, da er nicht „wisse", wie dieses Streben zu erfüllen sei. Dazu bedürfe es des Bewußtwerdens eines Ziels, das unseren Willen - also unsere verschiedenen Triebe - dirigiere. Das meinte Royce, als er von der Notwendigkeit der „Schöpfung des eigenen Willens" sprach, da der hier bezeichnete Wille ein bewußter, zielgerichteter und zentrierter werde: By nature ... I have no personal will of my o w n . One of the principal tasks of my life is to learn to have a will of my o w n .

T o learn your o w n will, - y e s . to create your

o w n will, is one of the largest of your human undertakings. 2 6

Der Mensch müsse demnach sich selbst ein Ich setzen, sich selbst im autokreativen Schöpfungsakt hervorbringen. Daraus leitete Royce, wie bereits gesagt, die Notwendigkeit für das Individuum ab, die Werte auch selbst individuell zu bestimmen (die dann dem Prinzip der Loyalität subsumiert werden, um die Harmonisierung der eignen Werte mit denen der Mitmenschen zu realisieren). Dies demonstriert die weitere Kontiguität zwischen Royce und Nietzsche: Der Mensch als Wertsetzer herrscht in Nietzsches ethischem Denken wesentlich vor. Es war auch eigentlich wegen dieser gemeinsamen Überzeugung von der durch die Koordinierung der Triebe erreichbaren höheren Existenzform des Individuums (bei Royce als great individual, bei Nietzsche als freier Geist), daß Royce sein eigenes philosophisches Anliegen im Denken Nietzsches wiedererkannte. „The central motive of Nietzsche", konstatierte Royce, „seems to be this. It is clear to him that the moral problem concerns the perfection, not of society, not of the masses of men, but of the great individual". 27 Royce trat allen Nietzsche-Interpretationen, die seine Philosophie als Rechtfertigung einer zügellosen Entfesselung der Triebe auslegten, entschieden entgegen. Nietzsches Philosophie war nach seinem Ermessen „certainly not sensualism". 28 Die vollkommene Form der great oder beloved community müßte dem absoluten Willen und Wissen vollkommener Individuen entspringen, die kraft des Bewußtwerdens der Einmaligkeit des eigenen Selbst auch andere Willen als ebenfalls für das Absolute konstitutive Unikate zu würdigen wüßten. Das Ideal is that of the perfect individual.

T h e perfect individual is to be self-contained, a law

unto himself, no follower of God or of man, no recognizer of any rule that is imposed upon him from without.

Yet the perfect individual is to b e in no s e n s e a seeker for

self-indulgence, his existence is through and through strenuous. 2 9

Der höhere Mensch als das sich selbst Gesetze gebende große Individuum schwebte Royce als das ethische Ideal vor, womit für ihn auch Nietzsches Übermensch gemeint war:

Ibid., S. 31. Josiah Royce, „Nietzsche", The Atlantic Monthly, Ibid., S. 331. Ibid., S. 325.

119 (1917), S. 322.

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T h e Superman ... is, namely, an ideal, the vision of the individual that should be. ... B y this ideal w e g i v e s e n s e to our life. And because the Superman is an ideal and not a definitely e x p e c t e d product o f a nature p r o c e s s , the sense that this ideal g i v e s to our lives c o m e s through an imitation o f this deliberately created concept o f the perfect individual, but still more through a determination restlessly to labor upon the task of creating the concept. 3 0

Royce erkannte allerdings auch die ihm gesetzten Schranken bei dieser versuchten Gewinnung des Nietzscheschen Übermenschen für die Loyalitätsphilosophie. Er wußte, daß Nietzsches Individualismus sein ganzes Werk als philosophische Zentripetalkraft zusammenhält, während im System Royce' die Perfektion des Individuums nur eine Vorstufe zur Überhöhung des individuierten Willens in der Einheit des absoluten Willens bildete. Diese Erkenntnis zwang Royce schließlich auch das Geständnis ab, daß seine Vision vom telos des Menschen in der Überwindung der Grenzen des principium individuationis von Nietzsche nicht geteilt werde. Nach dem Weg zu diesem seinen Ziel, sagte Royce, dürfe man Nietzsche nicht befragen, denn: T h e great p r o b l e m o f reconciling the unique individual with the world-order is simply not N i e t z s c h e ' s problem. O n e must not g o to him for light upon that subject.

Therein

lies his perfectly o b v i o u s limitation. 31

Royce' Interesse an Nietzsche war keine motivierende Kraft seiner Philosophie, sondern das Ergebnis seines intellektuellen Eklektizismus, der ihn immer wieder dazu trieb, neue Ausblicke auf das eigene System bei anderen Denkern zu suchen. So ambivalent wie James' Abneigung gegen Nietzsches Philosophie war auch auf jeden Fall Royce' Aneignung derselben. V . l . c George Santayana (1863-1952) Ebenfalls ambivalent war die Reaktion des einzigen namhaften amerikanischen Philosophen, der sich offen gegen Nietzsche (vor allem in der Kriegsschrift Egotism in German Philosophy, 1916) stellte: George Santayana. Das Verhältnis zu Nietzsche bei Santayana, auch er Professor für Philosophie in Harvard, nahm sich aber noch kurioser als das seiner Kollegen James und Royce aus. Unter letzterem promovierte Santayana sogar 1888 in Harvard, aber die Nachwelt erinnert sich seiner als eben jenen Denkers von der Harvarder Fakultät, der zu den dort bereits etablierten Schulen nicht gehörte. Santayana hinterließ eine eigene kleine „Schule" (die ohne große Wirkung blieb) in New York unter Morris Raphael Cohen (New York City College) und Irwin Edman (Columbia), baute aber keine eigene Tradition in Cambridge auf. Nach seiner Emeritierung kehrte Santayana sogar Harvard wie Amerika den Rücken und setzte sich in Europa

30 31

Ibid., S. 324. Ibid., S. 327f.

240

Philosophische Rezeption

schreibend zur Ruhe (das tat auch schon in jungen Jahren Santayanas Harvarder Assistent, Thomas Stearns Eliot). Einige philosophische Grundfesten hatte das Denken Santayanas mit dem seiner ehemaligen Lehrer dennoch gemein. Auch ihm galten Bewußtsein und Vernunft als Epiphänomen des Willens. Ebenfalls schätzte er das „rationale Leben" als höchstes Ziel des Menschen, hielt aber grundsätzlich die bewußte Reflexion menschlichen Handelns für eine Tätigkeit, die erst post facto einsetzt. An erster Stelle herrsche der Affekt, der das Handeln zu steuern suche: Reflection is indeed a part of life, but the last part ... the greatest pleasure which w e actually get from reflection is borowed from the experience on which we reflect. 3 2

Obwohl er das rationale Leben stets als Ideal hochhielt, legte Santayana dabei nie die Überzeugung ab, daß „[t]he ideal of rationality is itself as arbitrary, as much dependent on the needs of a finite organization, as any other ideal".33 Das bißchen Göttlichkeit am Menschen - die Vernunft, Personalität, oder psyche, wie er zu sagen pflegte - erlösche nicht nur mit dem Tode, sondern sei fundamental ein sekundäres, spät hinzugekommenes und oft unzuverlässiges Nebenprodukt des menschlichen Organismus. Dies alles hätten ihm auch James und, in einer schwachen Stunde, vielleicht auch Royce zugestanden, aber nicht folgen konnten sie dem einstigen Schüler in dessen grundlegendem Pessimismus. In Harvard widersetzte sich Santayana dem pragmatistischen Optimismus, der den Blick stets auf eine möglicherweise schönere Zukunft gerichtet hielt. Er hingegen schaute sich in der Gegenwart um, blickte ebenfalls in die Geschichte zurück, und sah nur wenige Momente, die ihm wirklich gefielen. Santayana blieb übrigens auch der einzige amerikanische Philosoph von Rang, der durch Schopenhauer beeinflußt wurde. Von seinem obligatorischen akademischen Wanderjahr in Deutschland (in Göttingen und Dresden mit Stunden bei Paulsen und Deussen) brachte er die Begeisterung für Schopenhauer zurück, über den er seine Dissertation zu schreiben gedachte. Royce durchkreuzte den Plan, Schopenhauer als philosophisches Leichtgewicht zurückweisend, und legte seinem Doktoranden das Thema Lotze ans Herz, über den dieser auch getreulich schrieb.34 Da er aber immer noch dazu neigte, das Leben als eine grundsätzlich böse und kurze Angelegenheit zu betrachten, begab sich Santayana gleich zu Anfang seiner

32

" 34

George Santayana, The Sense of Beauty: Being the Outline of Aesthetic Theory (New York, 1896; hier nach dem Nachdruck von 1955 zitiert.), S. 9. Ibid., S. 14. Später, als er seine Memoiren verfaßte, schilderte Santayana die Situation etwas gedämpfter, aber dennoch klar: „On my return to America in 1888 I at once consulted Royce as to my thesis for the doctorate, and suggested for a subject the philosophy of Schopehauer, because Schopenhauer was the German author that I liked most and knew best. The wise Royce shook his head. That might do, he said, for a master of arts, not for a doctor of philosophy. Instead, he proposed Lotze." (George Santayana, Persons and Places. Fragments of Autobiography [Cambridge, Mass.. 1986], S. 389.)

Philosophische Rezeption

241

philosophischen Karriere auf die Suche nach den Elementen, die der Existenz des Menschen einige wenige Momente des Sinns und der Schönheit schenken. Seine Philosophie wurde im Verlauf dieser Suche zu einem im höchsten Maße ästhetischen und elitären Projekt. Das Große und Hohe im Menschen und vor allem in der Kunst zu entdecken und zu ergründen, wurde sein Anliegen - das er aber nie als soziales Erneuerungsideal ansah. Dem Leben diese sinnstiftenden Momente abzugewinnen, war für Santayana nur den wenigen Menschen hoher Gesinnung vorbehalten. Diese hohe Gesinnung entspringe einer Haltung, die als künstlerische, religiöse oder philosophische Veranlagung über die gewöhnliche Stumpfheit des Lebens hinauszugelangen sich anschicke. Die meisten Menschen lebten aber in Santayanas Augen aus eben dieser mittelmäßigen Stumpfheit heraus, und zwar nicht, weil es ihnen an Entwicklungsmöglichkeiten gemangelt hätte, sondern weil diese Durchschnittlichkeit ihrem Wesen entspreche. Wer die Menschheit mit philosophischen Augen betrachte, siehe allenthalben Monotonie, und: The monotony we observe in mankind must not be charged to the oppressive influence of circumstances crushing the individual soul. It is not society's fault that most men seem to miss their vocation. Most men have no vocation. 35

Weiteres habe ihm Schopenhauer gezeigt: „the vast majority will remain, as Schopenhauer said, Fabrikwaaren der Natur" ,36 Wo Santayana aber über die solche Fabrikwaren hervorbringende Natur weiterdenkt, scheint fast eine andere Stimme darin mitzuklingen: nature, in her haste to be fertile, wants to produce everything at once, and her distracted industry has brought about terrible confusion and waste and terrible injustice. 37

Das könnte, obwohl Santayana es nicht sagte, die verschwenderische Natur Nietzsches sein, welche überall das Mittelmaß bevorzugt und das Seltene, Hohe in Gefahr leben läßt. Welchen Ursprungs auch immer, ist es auf jeden Fall eine zutiefst pessimistische und keine „melioristische" Erkenntnis. Diese Erkenntnis könne den Philosophen aufklären, ihm aber nicht dabei weiterhelfen, in dieser meist monotonen, konfusen und ungerechten Welt heimisch zu werden. An dieser Stelle trat für Santayana die Kunst hinzu. Hohe Kunst, womit Santayana hauptsächlich die Tragödie meinte, transformiere die Welt, tauche sie in den verklärenden Glanz des Sublimen, um sie für den zur Empfindung fähigen Menschen tolerabel zu machen. Wirklich hohe Kunst könne auch diesen Verklärungszauber über jeden Gegenstand - „all subjects" -, selbst über das schreckliche Verkennungsschicksal des tragischen Helden, ausbreiten:

35

M 37

George Santayana, Reason in Society (New York, 1905; hier nach dem Nachdruck von 1980 zitiert.), S. 100. Ibid., S. 101. Ibid., S. 107.

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even the most repellent [subjects], when the circumstances of life thrust them before us, can thus be observed with curiosity and treated with art. The calling forth of these aesthetic functions softens the violence of our sympathetic reaction. ... Art does not seek out the pathetic, the tragic, and the absurd; it is life that has imposed them upon our attention, and enlisted art in their service, to make the contemplation of them, since it is inevitable, at least as tolerable as possible. 38

Nicht nur der in der Kunst verarbeitete Stoff aber werde im ästhetischen Schöpfungsakt verwandelt. Auch der Betrachter erfahre durch die „Kontemplation" desselben eine Änderung. Das Kunstwerk spende dem Betrachter inneren Frieden, befreie ihn von allen sonstigen Elementen seines eigenen Wesens, um nur den reinen Intellekt zurückzulassen, der im Erlebnis des Schönen besänftigt werde: The more intimate to himself the tragedy he is able to look back upon with calmness, the more sublime that calmness is, and the more divine the ecstasy in which he achieves it. For the more of the accidental vesture of life we are able to strip ourselves of, the more naked and simple is the surviving spirit; the more complete its superiority and unity, and, consequently, the more unqualified its j o y . There remains little in us, then, but that intellectual essence, which several great philosophers have called eternal and identified with the Divinity. 39

Santayana setzte voraus, daß der künstlerische, religiöse oder philosophische Mensch vor allem den Zustand der Gemütsruhe, der stoischen ataraxia sucht. Er wolle sich von der Welt und vielleicht von sich selbst erholen. Kein Zweifel, daß Schopenhauer bei der Formulierung dieses Gedankens die Hand im Spiel hatte. Er war es ja, der die Wirkung der Kunst beschrieb, bei der der Mensch, den „die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt", zur eigentlichen Ruhe finde: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. E s ist der schmerzlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still. 40

Auch für Schopenhauer lag die Möglichkeit einer vom Schmerz erlösenden Erkenntnis des Willens als Ding-an-Sich, bei der der Wahn der Individuation und die allumfassende Wirklichkeit des Schmerzes unverhüllt gesehen werden, in der direkten Befreiung vom Willen durch Kunst. Im Urteil Schopenhauers jedoch entspringt diese Erfahrung am unmittelbarsten aus der Musik. Die Tragödie, auf die sich Santayana bezog, ist das Thema Nietzsches, obwohl Nietzsche sich keine

311 M 4(1

George Santayana, The Sense of Beauty, op. cit., S. 136. Ibid., S. 145. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Arthur Hübscher, 2. Auflage (Wiesbaden, 1946-1950). Bd. 2, S. 230f.

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243

Gemütsruhe, sondern den heroischen Fatalismus von der Tragödie wünscht. Der verklärende Schein aber, in den Santayana zufolge die Kunst die Wirklichkeit tauche, wird in seinem Erstlingswerk durchaus von Nietzsche beschworen. Es hat zumindest den Anschein, als ob neben dem Schopenhauerianismus Santayanas auch Spuren Nietzsches zu finden wären. Das reimt sich allerdings nicht mit der Distanz, die Santayana in seiner Kriegsschrift zwischen sich und Nietzsche legte. In Glaubensangelegenheiten war Santayanas Distanz zu Nietzsche deutlicher ausgeprägt. Die Religion schätzte er wegen ihrer Kraft, charismatische Persönlichkeiten und erhabene Kunst hervorzubringen. Der Katholik Santayana, im protestantischen Harvard immer ein Außenseiter geblieben, verstand nie den bilderstürmenden Geist des Protestantismus, der gerade den Trost der religiösen Kunst mit Füßen trete. Dem Geist der Reformation begegnete er stets mit Herablassung und Unverständnis. Das hing auch damit zusammen, daß Santayana im Protestantismus einen egalitären Grundzug wiedererkannte, der dem katholischen Sinn für Hierarchie zuwiderläuft. Dieser Antiegalitarismus wiederum ist aber ein Berührungspunkt Santayanas mit Nietzsches Denken. Santayana nahm nicht selten die hieratische Positur des Aristokratismus ein, sowohl gegenüber geistigen als auch politischen Dingen. Die Sozialdemokratie nannte er eine Staatsform für „primitive" Gesellschaften,41 und die Demokratie als Gesamtphänomen begrüßte er nur insofern, als sie eine offene Leistungsdemokratie bleibe (die er als „Timokratie"42 bezeichnete). Die Aristokratie dagegen konnte er nur insofern kritisieren, als diese gelegentlich wegen Korruption den Aufstieg des natürlich Überlegenen zu hintertreiben pflege. Sofern aber dem Prinzip der Platonischen Gerechtigkeit durch einen aristokratischen Staat gedient werde, „aristocratic society might accordingly be a perfect heaven". 43 Aber welche Staatsform eine Gesellschaft auch immer hervorbringen möge, ohne gewisse aristokratische Elemente laufe jede Gemeinschaft Gefahr, durch die Tyrannei der Mittelmäßigen zu einer Kultur der „Herde" zu verkommen: Imagine ... aristocratic influences removed, and would any head be lifted above a dead level of infinite dulness and vulgarity? Would mankind be anything but a trivial, sensuous, superstitious, custom-ridden herd? There is no tyranny so hateful as a vulgar and anonymous tyranny. 44

Masse und Kultur seien schlichtweg nicht miteinander zu vereinbaren, weil die Masse die Kultur notwendig verhunze und verpöbele. Nur in der von einer „höhergezüchteten" Rasse bevölkerten Zukunft (an die Santayana freilich nicht wirklich glaubte), ließe sich dieses prinzipielle Dilemma der Kultur aufheben:

41 42 43 44

George Santayana, Reason in Society, op. cit., S. 114. Ibid., S. 128. Ibid., S. 98. Ibid., S. 127.

244

Philosophische Rezeption

Culture is on the horns of this dilemma: if c o m m o n it must b e c o m e mean.

if profound and noble it must remain rare,

These alternatives can never be eluded until s o m e

purified and high-bred race succeeds the promiscuous bipeds that n o w blacken the planet. 4 5

Die hier skizzierten, offensichtlichen ideellen Gemeinsamkeiten stützen den Verdacht, daß Santayana mit Nietzsches Denken vertraut gewesen sein muß. Man braucht nicht lange darüber zu mutmaßen, ob er grundsätzlich über dessen Philosophie informiert war, denn Nietzsches Werk kannte er auf jeden Fall - genau in welchem Ausmaß er es kannte, ist allerdings nicht zu sagen. Berücksichtigt man aber in erster Linie die Gemeinsamkeiten zwischen beiden, dann ist zunächst die Überraschung groß, die einen angesichts von Santayanas Schrift Egotism in German Philosophy befällt. Das knapp 170 Seiten lange Buch ist eine einzige (und nicht gerade sehr feinfühlige) Abrechnung mit der deutschen Philosophie. Santayanas Zweck und Taktik sind aus anderen Quellen schon vertraut: Er wollte den Zusammenhang zwischen dem deutschen Denken und dem deutschen Krieg aufzeigen. „Not that the German philosophers are responsible for the war", beteuerte er, aber dennoch - diese Philosophen deutscher Zunge shared and justified prophetically that spirit of uncomprimising self-assertion and metaphysical conceit which the German nation is now reducing to action. 4 6

Schon immer seien ihm die deutschen Metaphysiker suspekt gewesen, denn von Anfang an habe er in ihrem Denken etwas Finsteres und Aggressives - aber auch Hohles gespürt: During more than twenty years, while I taught philosophy at Harvard C o l l e g e , I had continual o c c a s i o n to read and discuss German metaphysics.

F r o m the beginning it

w o r e in m y e y e s a rather questionable shape. Under its obscure and fluctuating tenets I felt something sinister at work, something at o n c e hollow and aggressive. 4 7

Santayanas These lautete, die großen deutschen Philosophen seien alle in erster Linie vom Egoismus und Romantizismus motiviert gewesen, was in ihrer Philosophie letztlich zum Solipsismus geführt habe. Dieser äußere sich darin, daß die deutschen Denker ihre eigene nationale Kultur als die einzig bedeutende betrachtet und diese Lehre auch weltweit zu verbreiten versucht hätten. Den deutschen Sonderweg als Glauben an die besondere deutsche Weltmission sah er seinen Anfang bei Fichte und Hegel nehmen. Aber seine Polemik zog auch weitere Kreise. Kants kategorischen Imperativ nannte er einen Nährboden des moralischen Fanatismus, weil darin dem Individuum das Recht zugestanden werde, seine eigenen Moralvorstellungen der ganzen Welt aufzuzwingen. Stirner warf er vor,

45 46

47

Ibid., s . 111. George Santayana, Egotism in German Philosophy Ausgabe von 1939 zitiert.), S. 7. Ibid., S. 5.

(New York, 1916; hier nach der englischen

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245

die Philosophie verpöbelt zu haben, weil sein Denken die Arbeiterklasse zur Rebellion gegen die Kultur anstachele: this poor schoolmaster [Stirner] ... may have embodied prophetically a rebellion against polite and religious follies which is brewing in the working classes - classes which to-morrow perhaps will absorb all mankind and give for the first time a plebeian tone to philosophy. 48

Daß Marx auch nicht ungeschoren davon kam, versteht sich. Nietzsche einer Kritik zu unterziehen, zögerte er zunächst, weil, so sagte er, man diesen Denker eigentlich nicht als wirklichen Philosophen ansehen dürfe. Mit der Begründung, Nietzsche habe allerdings als Philosoph gelten wollen, übte Santayana diese Kritik aber doch. Er erwähnte, daß Nietzsche die Vorzüge der Aristokratie erkenne, dabei aber an „the vague image of a military aristocracy"49 und nicht an eine geistige Hegemonie denke. Die Suche nach Wahrheit interessiere Nietzsche nicht sonderlich, was zum Teil an seinem Mißverständnis der Griechen liege: „how little he [Nietzsche] learned from the Greeks, no modesty or reverence, no joy in order and in loveliness, no sense for friendship, none for the sanctity of places and institutions".50 Die Umwertung aller Werte erklärte Santayana als die bloße Verdrehung aller überlieferten Werte, und seine ganze „Philosophie" erzeuge Nietzsche, indem er die wesentlichsten Aspekte des Schopenhauerschen Denkens einfach auf den Kopf stelle: [Nietzsche] planned a system which was to be an emendation of that of Schopenhauer. The will to live would become the will to dominate ... the suspense of the will in contemplation would yield to a more biological account of intelligence and taste; finally in the place of pity and asceticism (Schopenhauer's two principles of morals) Nietzsche would set up the duty of asserting the will at all costs and being cruelly but beautifully strong. These points of difference from Schopenhauer cover the whole philosophy of Nietzsche. 51

Über die Gründe, warum Santayana Nietzsche eine solche grobe Abfertigung erteilte, kann man nur spekulieren. Anlaß war der Krieg. Aber die - gewiß ambivalente - geistige Nähe Santayanas zu Nietzsche kompliziert den Fall. Zum einen identifizierte Santayana Nietzsche mit dem protestantischen Geist, was keine unübliche Assoziation war. Viel schwerer ins Gewicht gegen Nietzsche gefallen ist aber bestimmt Santayanas persönlicher und philosophischer Quietismus. Nietzsches Bruch mit Schopenhauers Prinzip der Erlösung vom Willen wird es für Santayana schwierig gemacht haben, in Nietzsche einen geistigen Verwandten zu sehen. Das Gleiche gilt für die Mitleidsmoral. Nietzsches „Immoralismus" deutete Santayana immer nur moralisch (nie erkenntnistheoretisch), und diesen

4

"

411 5,1 51

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

S. S. S. S.

99. 115. 140. 114.

246

Philosophische Rezeption

Standpunkt jenseits von gut und böse, den er „egoistisch" nannte, hielt er außerdem für „vulgär". In seinen Memoiren hielt Santayana fest, daß er Nietzsches Moralvorstellungen kenne und nachvollziehbar finde, aber doch schließlich ablehne: Not that my o w n philosophy was partisan or afraid of Nietzsche. commercial morality inspired me with particular horror.

Neither tribal nor

I knew that the first "was

brutal and the second vulgar; but they both were intelligible phases in human civilization, just as Catholicism was. 5 2

Der Katholizismus sei vielleicht auch nur eine historische Erscheinung, aber eine, mit der die Zivilisation weitaus besser fahre als mit dem Nietzscheanismus. Letztlich spricht einiges dafür, daß es in der Hauptsache doch der Schock des ersten Weltkrieges war, der in Santayana eine aggressive Abneigung gegen die Philosophie Nietzsches erzeugte. Obwohl Satayana die genteel tradition in Amerika kritisierte, war er selbst der Inbegriff eines genteel Menschen, ja eines gentleman. Der alten europäischen Kultur fühlte er sich aufs innigste verbunden, unter anderem deswegen, weil er selbst in Spanien geboren wurde und Europa schon von Kindesbeinen an kannte. Die Schrecken dieses Zerstörungskriegs und dessen Folgen für die Kultur Europas erschütterten ihn zutiefst. Die Moral Nietzsches brachte er auch in einen direkten kausalen Zusammenhang mit beiden Weltkriegen - trotz aller Beteuerungen, er wolle deutschen Philosophen die Schuld am Krieg nicht geben. Im Selbstgespräch der Lebensrückschau aber notierte er, es seien die Deutschen, und vor allem das antikatholische Preußen gewesen, die versucht hätten, „to saddle a Nietzschean morality on peaceful lands". 53 Es mag aber auch sein, daß Santayana als junger Mensch vor dem Ausbruch des Krieges etwas mehr für Nietzsche übrig hatte. Spuren finden sich in dem autobiographischen Roman The Last Puritan (1935). Dort beschrieb Santayana den Werdegang eines neuzeitlichen Puritaners, des äußerst skrupelösen Philosophiestudenten und Weltbürgers Oliver Alden, der im wesentlichen ein Selbstbildnis Santayanas war. In seiner Jugend befindet sich Oliver in der Obhut der deutschen Gouvernante Fräulein Irma, die auch für die kulturelle Erziehung ihres Zöglings zu sorgen sich verpflichtet fühlt. Das Kurrikulum besteht unter anderem in der Heranführung Olivers an Dichtung und Denken Goethes. Er wird zum begeisterten GoetheVerehrer und lernt zudem von Fräulein Irma, die deutsche Sprache zu beherrschen. Auch zur deutschen Philosophie findet er Zugang, und sein Studium führt ihn nach Deutschland selbst, wo er Philosophie und Naturwissenschaften als Fächer wählt. Olivers Verhältnis zu Deutschland ist von Ambivalenz geprägt. Mal fühlt er sich in Deutschland mehr zu Hause als in seiner neuenglischen Heimat, mal spürt

52 53

George Santayana, Persons and Places, op. cit., S. 527. Ibid.. S. 527.

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247

er allzu d e u t l i c h d i e Fremdheit d i e s e r Kultur. V o n seiner V e r w a n d t s c h a f t w i r d er davor g e w a r n t , d i e d e u t s c h e P h i l o s o p h i e zur e i g e n e n z u machen.

„ D o n ' t let the

Germans cheat y o u , m y b o y " , rät i h m ein C o u s i n , They are greater bluffers at philosophy than any smart Yankee ever was at the game of poker. Their manipulations of history are always different and always scandalous. It is all a play of willful arbitrary perspectives, hiding what you please, and joining what you please. Nothing else is required for them to pose as the latest leaders in the march of thought. Blow, blow, thou Zeitgeist; thou are not so unkind as the truth would be to these self-advertising prophets. 5 4 O l i v e r erinnert s i c h g e l e g e n t l i c h an d i e s e M a h n u n g , sich v o r d e n „ f a l s c h e n Propheten" D e u t s c h l a n d s z u hüten, und beherzigt sie.

O f t g e n u g vergißt er s i e

aber auch u n d überläßt s i c h d e m E n t h u s i a s m u s für d e n deutschen Geist - und a u c h für die P h i l o s o p h i e N i e t z s c h e s .

D e r e n d g ü l t i g e Bruch mit N i e t z s c h e (und schein-

bar auch mit D e u t s c h l a n d ) k o m m t mit d e m W e l t k r i e g . D i e m o r a l i s c h e Epiphanie, w e l c h e O l i v e r d i e A u g e n ö f f n e t , d a m i t er s e i n e n Irrweg erkenne, ereignet s i c h b e i der Lektüre der K r i e g s m e l d u n g e n in den T a g e s z e i t u n g e n .

In einer längeren

erlebten R e d e beschreibt der Erzähler O l i v e r s Austritt aus der N i e t z s c h e - J ü n g e r schaft, d i e v i e l l e i c h t Santayanas e i g e n e r ist: now the morning paper, and the evening paper too, had a new meaning for him. H e began to read them with European eyes. They began to make his [Nietzschean] moral philosophy seem rather distant, rather empty. H e couldn't fix his atttention on those verbal questions. Germany was sweeping everything before it. Germany was prepared, organised, scientific, determined. W a s n ' t that admirable? And this wealth of resource and invention, this tireless enterprise and perpetual success, wasn't it all a proof of G e r m a n superiority, of the manifest destiny of Germany to lead the world? Then why did his stomach rise at this thought? Compared with the French and even the English, w e r e n ' t the Germans very near to him in spirit? H a d n ' t h e been brought up on Goethe? No! It had been only an expurgated, verbal, ladylike Goethe that Irma had set before him: Goethe the lyric poet, Goethe the maxim-maker, Goethe the connoisseur. But there was Goethe the vitalist, the heathen, the super-moralist, venerating power, fawning on success. That was the Goethe with real sap in him, blooming again in Nietzsche, in Bismarck, and in this war; the greedy Goethe that had inspired so many greedy professors and doctors and sycophants of to-day. ... Revolting, Oliver began to think it all, all this worldliness and optimism, flaunted by a profound, an incurable mediocrity. Just the things that Cousin Caleb Wetherbee had blamed in America: but h o w much uglier, how much more aggressive, they were in Germany! In America these vices were childlike, unconscious, easily yielding to kindness and goodwill; but in Germany they rankled, nursed by centuries of envy, hatred, and deliberate self-praise. 5 5

51

55

George Santayana, The Last Puritan (New York, 1935; hier nach dem Nachdruck von 1964 zitiert.), S. 192. Ibid., S. 527f.

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Wenn es in Santayanas Leben ein Nietzsche-Kapitel gab, was allen Spuren nach zu urteilen auch der Fall war, dann war es bereits 1914 abgeschlossen. Damit ist ebenfalls diese erste Spurensuche abgeschlossen, und ihr Ergebnis lautet: Kein bedeutender amerikanischer Philosoph wurde nachweislich in bedeutendem Maße von Nietzsche beeinflußt; keiner von ihnen hat eine monographische Interpretation der Philosophie Nietzsches geschrieben. James, Royce und Santayana war Nietzsche bekannt, aber diese Kenntnis drückte sich jeweils, wie sich erwiesen hat, als Nichtachtung, eklektische Aneignung und Ablehnung (einer möglichen frühen Anhängerschaft folgend) aus. Die zwischen 1899 und 1950 entstandenen amerikanischen Monographien zu Nietzsche stammten alle von keinen namhaften Philosophen, aber doch (mit der Ausnahme Menckens) von Akademikern. In Erinnerung geblieben sind zu Recht (mit einer Ausnahme, die nachfolgend besprochen wird) nur die Studien Menckens und Kaufmanns. Herausstellen wird sich, daß auch in diesem Bereich die Moralkritik und die „Umwertung" im Lichte der Machtphilosophie Nietzsches die Interessen der Interpreten leiteten. Nietzsche war für die erste Hälfte des Jahrhunderts primär Moralphilosoph und Verkünder des Macht anstrebenden Übermenschen.

V.2 Monographien V.2.a Grace Neal Dolson, „The Philosophy of Friedrich Nietzsche" (1901) Der Anfang dieser Reihe von Monographien läßt beim heutigen Leser höhere Erwartungen für nachfolgende Arbeiten aufkommen, als zunächst erfüllt werden. Grace Neal Dolsons Dissertation, The Philosophy of Friedrich Nietzsche (1899; 1901 bei Macmillan erschienen) war zwar kein leuchtender Stern der NietzscheForschung, aber doch der besonnene Versuch einer vergleichsweise objektiven Gesamtdarstellung von Nietzsches Leben und Werk auf knappem Raum. Die Bedeutung dieser Studie liegt heute vielleicht sogar eher in der Tatsache ihrer Entstehung bereits 1899 (an einer der Elitenuniversitäten der Vereinigten Staaten, der Cornell University) als in der damit versuchten Interpretation. Man bedenke, daß Santayana 1888 die Möglichkeit verwehrt wurde, über Schopenhauer zu dissertieren, der aufgrund seiner Moral des grenzenlosen Mitleides als wesentlich „ungefährlicher" denn Nietzsche galt. Im ersten Teil ihrer Arbeit, der Kurzbiographie, gab sich Dolson sachlich, blieb psychoanalytischen Ausflügen und Rückschlüssen auf Nietzsches Philosophie fern und räumte mit einigen Unwahrheiten auf. Obwohl sie sich stark auf die Biographie der Schwester stützte (viel mehr an Quellen bot sich zu dieser Zeit auch nicht), wies Dolson Nordaus Lügengeschichten zum Zusammenhang von Nietzsches Krankheit und seiner philosophischen Produktion entschieden zurück: There has been much difference of opinion as to the nature and extent of Nietzsche's illness. ... Max Nordau maintains, what is manifestly untrue, that all of Nietzsche's

Philosophische Rezeption

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b o o k s were written between periods o f residence in a mad h o u s e . ... T h e truth s e e m s to be that he s h o w e d no symptoms o f insanity during the long period of his illness. 5 6

Eine fundamentale Voraussetzung dieser Studie war also Dolsons feste Überzeugung, daß Nietzsche als Philosoph völlig emstzunehmen sei, sowie, daß das Werk als vom erst Ende 1888 ausgebrochenen Wahnsinn unberührt angesehen werden müsse: Whatever one may think of N i e t z s c h e ' s c o n c l u s i o n s , his work certainly d e s e r v e s careful consideration, and any preconceived idea that it is the result o f incipient m a d n e s s , must necessarily vitiate such consideration.

It is s o easy to think that

opinions differing radically from those c o m m o n l y accepted, bear the stamp of unhealthiness. (12)

Dolson gliederte ihre Analyse nach der zu diesem Zeitpunkt schon tradierten Dreiperiodeneinteilung von Nietzsches Philosophie. Diese klar abgegrenzten Phasen des Denkens brachte Dolson zusammen, indem sie ein vereinigendes Moment der Nietzscheschen Philosophie in der platonischen Suche nach dem höchsten Gut erblickte. Je nach den einzelnen Phasen in Nietzsches Entwicklung, die sie als „ästhetisch", „intellektuell" und „ethisch" einordnete, offenbare sich Nietzsche dieses summum bonum in anderer Gestalt: zuerst als das Schöne, sodann als das Wahre und zuletzt als das Mächtige. Über dieses Prinzip der Kompartmentalisierung gelangte Dolson nicht hinaus. Alle Aspekte des Nietzscheschen Denkens wurden einzeln für sich betrachtet, und nur das Strukturmoment des höchsten Gutes überbrückte in ihrer Interpretation die Klüfte zwischen den „drei Epochen" von Nietzsches geistigem Leben. Diese sehr strenge Trennung zwang Dolson zudem zu einer hierarchischen Wertung der jeweiligen Phasen. Erst den Gedanken des Spätwerks, die sie ja ganz im Sinne der Zeit als vorwiegend ethisch charakterisierte, bescheinigte sie, im Gegensatz zu den früheren Phasen, Züge wirklicher Originalität: „Nietzsche's originality", führte sie aus, „and the theories that will give him a distinctive position in philosophy, are to be found in the third period". (68) Die Kehrseite dieser Gewichtung der Spätschriften war also eine drastische Herabsetztung der Bedeutung aller vorangegangener Werke. Für die Zeit bis Zarathustra galt ihr: This brief account of N i e t z s c h e ' s position with regard to aesthetics and religion is sufficient to s h o w that his statements not only lack systematic form, but also originality o f thought.

M o r e than that, his lack o f originality is not the eclecticism of a philoso-

pher, but rather that of a merely superficial reader. ... His skepticism is ... blind to the illogical statements upon which it rests and to which it leads. (67f.)

Mit der hier angesprochenen „blinden, unlogischen Skepsis" deutete Dolson Nietzsches Überlegungen zum Charakter der „Wahrheit" an. Die Polyvalenz

Grace Neal Dolson, The Philosophy of Friedrich Nietische (Cornell Dissertation, 1899; New York, 1901), S. 11 (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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dieses Begriffs in Nietzsches Gebrauch legte Dolson als unnötige Konfusion aus. Sie erkannte zwar, daß Nietzsche mit verschiedenen Wahrheitsbegriffen gleichzeitig operiert, entrüstete sich aber über eine gedankliche Komplexität, die sie für Nietzsches Unwilligkeit (oder nach ihrem Ermessen Unfähigkeit) hielt, diese Begriffe univok festzulegen: Nietzsche tells us everything that truth is not, but makes no attempt at any positive definition, although he constantly implies that there is an objective standard somewhere. ( 4 2 )

Diese Doppelbödigkeit des Begriffs „Wahrheit" bei Nietzsche ist, wie im Kontext des Vergleichs mit dem Pragmatismus gesehen wurde, auf den ersten Blick paradox. Dolsons Definition dieses Paradoxons ist vortrefflich in ihrer Schlichtheit, aber der von ihr daraus abgeleitete Schluß enthält eine Aporie. Dolson fertigte Nietzsches Wahrheitsverständnis mit dem voreiligen Vorwurf des absoluten Relativismus ab, dessenthalben die Möglichkeiten aller Erkenntnis völlig zerstört werden müßten: He denied that there were any absolute standards of measurement. Truth is always my truth and your truth: it can not exist apart from us.

Moreover, any consensus of

opinion with regard to an idea detracts from its value. ( 1 8 )

Wahrheit als Wert kann für Nietzsche in der Tat nicht unabhängig vom Subjekt existieren - jede Vorstellung einer absolut gesetzten Wahrheit ist für ihn nichts als der Auswuchs eines tyrannischen Moralismus. Aber Nietzsches Denken ist gleichzeitig ein einziges Suchen nach Erkenntnis der „Wahrheit". Für Dolson wurde aber nicht sichtbar, daß Nietzsche sich mittels einer „Grammatik" ausdrücken muß, die seinem Denken nur äußerst ungenügend gerecht werden kann. So deutete sie diese sich aus den Fesseln der moralinhaltigen Sprache freikämpfende Ausdrucksweise Nietzsches als unbeholfenen Versuch, sich vom philosophischen Vorbild Schopenhauers zu lösen. „With the end of the aesthetic period", erläuterte sie, „Nietzsche's direct dependence upon Schopenhauer also came to an end". (117) Die „mittlere Phase" stelle damit also die Abrißarbeit am Bauwerk der Schopenhauerschen Metaphysik, und die dritte Phase erst die eigentliche Baustelle der Nietzscheschen Philosophie dar. Die Moralkritik und die Auseinandersetzung mit den christlichen Werten würdigte sie als Nietzsches eigentlichen Beitrag zur modernen Philosophie. Auch Dolson wünschte, wie andere ihrer Generation, kritischen Widerstand gegen den wuchernden philantrophischen Geist der Jahrhundertwende in Amerika zu sehen. Nietzsche solle der philosophische Kommandeur dieser individualistischen Resistance werden: he does express ideas and feelings which are common at the present time and which until recently have found no adequate expression. There is a great deal in Nietzsche's philosophy that must be admitted to be true.

One can hardly deny that too much

emphasis has been placed upon the virtues of humility and self-sacrifice and that no really strong character forms itself through their means. ( 1 2 2 )

Philosophische Rezeption

251

Das populäre Etikett einer neuen Moralphilosophie klebte auch Dolson also auf Nietzsches Werk. Doch selbst bei aller Klischeehaftigkeit dieser Zuordnung muß indes noch einmal hervorgehoben werden, daß Grace Neal Dolsons Studie erstaunlich frei von Ressentiments und negativen Vorurteilen ist. Dolson war auch eine enthusiasthische Nietzsche-Interpretin, die die Applizierbarkeit Nietzscheschen Denkens auf soziale Probleme beweisen wollte. Damit stand sie am Anfang einer langen Tradition reformistischen Denkens in der amerikanischen Nietzsche-Rezeption. Und damit führte auch eine klare Linie zu Menckens Buch, das die Grundhaltung sowie viele einzelne Thesen Dolsons aufnahm, ausfüllte, erweiterte und popularisierte (vgl. Kap. II.2.d). Der Folgeband zu Menckens Studie hätte also angesichts dieser Vorarbeit der philosophische Versuch eines geschulten Interpreten sein können, das Labyrinth der Wahrheit bei Nietzsche doch zumindest ansatzweise zu erkunden. Es kam anders. V.2.b Paul Elmer More, „Nietzsche" (1912) Menckens The Philosophy of Friedrich Nietzsche von 1908 folgten als nächste monographische Werke zu Nietzsche zwei Traktate 1912, respektive 1914, die nicht anders denn als ausladende Invektiven gegen Nietzsche zu verstehen sind. Paul Elmer More (1864-1937), bedeutendster Mitbürger der neuhumanistischen Galaxie um Irving Babbitt, brachte als erster dieser zwei Ankläger sein Nietzsche hervor. Mores Interpretation, die den Namen im eigentlichen Sinne kaum verdient, ist ein ununterbrochener Fluß von Beleidigungen, in dem fast alle der gängigen derzeitigen Vorurteile gegen Nietzsche bedenkenlos vorgebracht werden. Weder die Diskrepanz von Leben und Werk des Philosophen, noch die Vorwürfe des Irrationalismus, noch das Abstreiten jeglichen wirklichen philosophischen Inhalts in Nietzsches Werk und manches mehr sparte More aus. Im krassen Gegensatz zu der recht objektiven Beurteilung Dolsons sah More z.B. den Ausbruch der Geisteskrankheit als ein in Nietzsches Philosophie tief verwurzeltes Moment an: [now] we begin to see that the roots of disease were more deeply implanted in his nature than those would have us believe who think to find in his words a return to sanity and strength. 57

Die seltsam gedrechselte Sprache Nietzsches, so More, und die abartigen Argumente, die das philosophisch gebildete Auge sofort als bloße Sophisterei erkenne, bestächen nur die Halbgebildeten, die sich bei der Lektüre Nietzsches einbildeten, große Überlegungen beim Lesen seiner Werke mitzudenken: N o doubt, if we look into the causes of his growing popularity, we shall find that a considerable part of his writing is just the sort of spasmodic commonplace that enrap-

57

Paul Elmer More, Nietzsche (Boston and New York, 1912), S. 4.

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tures the half-cultured and flatters them with thinking they have discovered a profound philosopical basis for their untutored emotions. 5 8

Nur in puncto Antiphilanthropie sah sich More gezwungen, Nietzsche recht zu geben, da der neuhumanistische Glaubenskodex an der platonischen Vorstellung von Gerechtigkeit orientiert war. Das war der Kern von Babbitts eher wohlwollender Inkorporierung Nietzschescher Prinzipien in seine eigene Gesellschaftskritik, und More wich hier keineswegs von der ideologischen Linie seines Freundes und Kollegen ab. So gab er zu: That much of N i e t z s c h e ' s protest against the e x c e s s e s of humanitarianism w a s sound and well directed, I for one am quite ready to admit.

H e s a w , as f e w other men of

our day have seen, the danger that threatens true progress in any system o f education and government which makes the advantage of the average rather than the distinguished man its first object. 5 9

Damit stieß Mores Entgegenkommen allerdings bereits an seine Grenzen. V.2.c Paul Carus, „Nietzsche and Other Exponents of Individualism" (1914) Paul Carus (1852-1919) wiederum, dessen Nietzsche and Other Exponents of Individualism 1914 erschien, fand nichts an Nietzsche, was nicht kritikbedürftig wäre. Der in Deutschland ausgebildete Carus (Dr. phil. 1876 in Tübingen), Herausgeber der wichtigen philosophischen Zeitschriften The Monist und The Open Court, bekleidete in Amerika kein akademisches Amt und hätte wahrlich in keine der damaligen philosophischen Fakultäten Amerikas hineingepaßt. Seine eigene Philosophie war eine verquaste und eklektische Mischung aus Piatonismus, Monismus und Positivismus. Mal schien er Realist zu sein, der die Phänomene je nach ihrer Teilhabe an der reinen Idee einordnete, mal behandelte er geistphilosophische Fragen als bloße Probleme der Physiologie. Sein Wahrheitsbegriff jedenfalls war einheitlich und ideologiefest - in dem Sinne, daß ihn keine Skepsis anfocht, weil er sich den Luxus der Bezweiflung eigener Überzeugungen nicht gönnte. „Tatsachen", schrieb er, bleiben Tatsachen, und die Wahrheit wird immer wahr sein und bleiben.

In anderen

Worten, die Gesetzmässigkeit der Welt ist allgemein und e w i g . W a s hier wahr ist, ist überall wahr, und was heute wahr ist, ist wahr für alle Zeiten. 6 0

Eine Kampfansage an den Pragmatismus also, denn dieser verliere sich in „Pluralismus und Subjektivismus" und führe schließlich dazu, daß die Philosophie „auf

5

"

w 611

Ibid., S. 19. Ibid., S. 75. Paul Carus, Philosophy as α Science (Chicago, 1909; hier nach der von Carus angefertigten deutschen Übersetzung von 1911, Philosophie als Wissenschaft, zitiert), S. 8.

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das Niveau poetischer Ergüsse und mystischer Träumereien" herabsinke.61 The Open Court und The Monist dienten ihm beide oft als Forum für seinen Feldzug gegen die modernen Philosophen - aus seinen dort erschienenen Artikeln gegen Nietzsche ist bereits im ersten Kapitel zitiert worden. Daß es in Carus' monographischer Nietzsche-Untersuchung zu einem Frontalzusammenstoß mit dem Philosophen des Perspektivismus kommen mußte, läßt sich vor diesem Hintergrund relativ leicht verstehen. Zu diesem Zeitpunkt betete Carus förmlich am Altar des Positivismus. „The belief in an individual Godbeing is giving way", konstatierte er, aber dieser Glaube weiche nun der recognition of a superpersonal God, the norm of scientific truth, the standard of right and wrong, the standard of worth by which we measure the value of our own being; and the kingdom of the genuine overman will be established by the spread of the scientific comprehension of the world, in matters physical, social, intellectual, moral, and religious. 62

Die positivistische Wissenschaft wurde von Carus als himmlischer Alleinherrscher des neuen Reichs des Geistes inthronisiert, und der Philosophie bleibe seines Erachtens nur noch übrig, sich den von dieser neuen Herrschaft eingeführten Gepflogenheiten unterzuordnen. Die Philosophie müsse „a systematic comprehension of the knowledge of [the] age" (1) werden. Als Philosoph, der seinen Beruf bewußt als ancilla scientiae verstanden haben wollte, kannte Carus keine Gnade für Nietzsche, der ihm als dreistester Gegner der modernen Wissenschaft galt: in modern times Friedrich Nietzsche expressed the most sovereign contempt for science. Among all the philosophies of modern times there is perhaps none which in its inmost principle is more thorougly opposed to our own than Nietzsche's. (5)

Auch Carus' Beschwerden über Nietzsche bestanden aber aus nichts als geborgten Tropen und haltlosen Klischees. Nietzsche trat bei ihm als der Entfesseier aller Triebe, der Leugner aller Wahrheit, der Anbeter eines „Übermensch" genannten Ideals der brachialen Kraft und der tyrannischen Herrschaft auf. Mehrmals überführte Carus Nietzsche der Theomanie und Megalomanie. Den wirklichen Todesstoß aber meinte er damit zu liefern, indem er Nietzsche als Solipsist entlarvte, was ihn berechtigte, Nietzsche zu eben jenen Pragmatisten zu zählen, die nichts als „Poesie, Mystik und krankhafte Träumerei" im Kopfe hatten: It is obvious that „the real world" of Nietzsche is more unreal than „the true world" of philosophy and of religion which he denounces as fictitious, but he was too naive and philosophically crude to see this. Nietzsche's „real world" is a fabric of his own personal imagination, while the true world of science is at least a thought-construction

61 62

Ibid., S. lOf. Paul Carus, Nietzsche and Other Exponents of Individualism (Chicago, 1914), S. 144 (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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of the world which pictures facts with objective exactness; it is controlled by experienc e and can be utilized in practical life. (20)

Mehr gibt es wahrlich nicht Erwähnenswertes über diese zwei Diffamierungsversuche zu sagen, außer vielleicht, daß sie als Reaktion auf das anwachsende Interesse an Nietzsche anzusehen sind und wahrscheinlich mit dazu beigetragen haben, daß sich zumindest zwei weitere Philosophen nur ein paar Jahre später dazu berufen fühlten, ihren Nietzsche der Fachwelt zu präsentieren. V.2.d William Mackintire Salter, „Nietzsche the Thinker" (1917) William Mackintire Salter (1853-1931) schrieb etliche kürzere Artikel zu Nietzsche und betätigte sich vor allem während der Kriegsjahre als wortmächtiger Beteuerer von Nietzsches Unschuld an den Herrschaftsgelüsten des Kaiserreichs. Seine Reputation als einer der führenden amerikanischen Nietzsche-Forscher begründete er aber 1917, als er seine längste Replik auf die Nietzsche-Gegnerschaft vorlegte: Nietzsche the Thinker. Schon der Titel kündigte Salters Absicht an, Nietzsche den Philosophen als Gegenbild zu Nietzsche dem Rhapsoden oder Solipsisten ins Feld zu führen, da Salter der Ansicht war, daß Nietzsche der Denker noch gar nicht wahrgenommen worden sei. Diesen Denker wollte er nun einer amerikanischen Leserschaft entdecken, und genau diese Absicht äußerte er im Vorwort seiner fast 500 Seiten starken Studie: If I differ from s o m e w h o have written in English upon him, it is partly in a s e n s e of the difficulty and delicacy of the undertaking.

F e w appear to have thought it worth

while to study N i e t z s c h e - t h e treatment he c o m m o n l y receives is (to use an expressive German word, for which I know no good short equivalent) „plump". 6 3

Trotz Salters teilweise berechtigter Zuversicht, ein Innovator der NietzscheForschung zu sein, muß jedoch gesagt werden, daß seine Monographie wesentliche Struktur- und Interpretationselemente dem Vorbild Grace Neal Dolsons schuldete. Zum Gliederungsprinzip wählte Salter die bei Dolson vertretene dreiteilige Analyse der entsprechenden drei „Phasen" von Nietzsches Denken. Auch die Suche nach einem neuen höchsten Gut wurde als das eigentliche Substrat der Nietzscheschen Philosophie identifiziert und in der Untersuchung der Spätschriften zu ihrem schließlichen Ergebnis geführt - diese „letzte Phase" galt auch Salter also als die Etappe der eigentlichen Originalität und Selbstfindung in Nietzsches philosophischer Produktion: N i e t z s c h e s intellectual history falls, roughly speaking, into three periods.

In the first,

he is under the influence of Schopenhauer and Wagner. ... In the s e c o n d , he m o r e or less frees himself from these influences. It is the period o f his e m a n c i p a t i o n . . . . In the

63

William Salter, Nietzsche the Thinker: A Study (New York, 1917; hier nach der englischen Ausgabe, ebenfalls 1917, zitiert.), S. ν (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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third, his positive constructive doctrine more and more appears. The early idealistic instinct reasserts itself, but purified by critical fire. It is the period of independent creation. (31)

Salters Werk ist aber nicht als ausgedehnte Kopie der Dolsonschen Monographie zu verstehen, sondern enthält ein vielfaltiges Aufgebot an eigenständigen Thesen. Entscheidend für die Genese dieser Interpretation war, wie James Peter Cadello vermerkt,64 Salters eigener philosophischer Hintergrund. Er betrat akademisches Terrain zunächst als Theologiestudent am Knox College und an der Yale University. Dieses Studium setzte er in Harvard fort, aber schon während seiner Semester in Yale hatte sein Glaube an die Kirchenorthodoxie zu bröckeln angefangen. Als Austauschstipendiat von Harvard studierte Salter in Göttingen, wo er sein eigentliches Philosophiestudium absolvierte - mit Konzentration auf die klassische griechische Philosophie. Währenddessen fiel Salter gänzlich vom christlichen Glauben ab und versuchte sich als Philosoph, wurde aber nirgends akademisch beheimatet. Seine Lehrtätigkeit führte ihn von der „Philadelphia Society for Ethics" zu der University of Chicago und der Johns Hopkins University, aber an keiner Hochschule ließ er sich nieder. Ein sehr wichtiges Ereignis seiner frühen Jahre (das Cadello unerwähnt läßt) nach dem Göttinger Interregnum war die Begegnung mit dem deutsch-amerikanischen Philosophen Felix Adler. Adler unterrichtete an der Cornell University und gründete die „New York Society of Ethical Culture". Auch er war ein säkularer Denker, der aber die utilitaristische Notwendigkeit einer christlich-sozial ausgerichteten Moral für den Zusammenhalt der Gesellschaft lehrte und sich tatkräftig für viele Sozialreformen einsetzte. Dieser reformatorische Geist schwebte stets im Hintergrund von Salters Philosophie, da er sich auf der Suche nach neuen ethischen Prinzipien befand, die das Vakuum der verflüchtigten christlichen Ethik ausfüllen könnten, ohne die Fundamente der altruistischen Moral zu sprengen. Die Inhalte dieser Prinzipien zu spezifizieren, war das Dilemma der frühen ethischen Schriften Salters. Das soziale Bedürfnis nach solchen Prinzipien setzte er voraus, scheiterte aber immer wieder an der Definition derselben, da seiner Meinung nach no line of principle can be drawn as to how far a society may go, and where it must stop, in securing social welfare. We can only say that it may go as far as it needs to go and can go. 6 5

Diesen Konflikt haben wir bei Josiah Royce und vielen anderen schon beobachtet: Salters Problem war das eines fehlenden moralischen Standards, eines alle einzelnen Werte bestimmenden höchsten Gutes - welches er schließlich durch Nietzsche zu entdecken hoffte. Damit ist schon angedeutet, daß Salter Nietzsche nicht nur

64

"

James Peter Cadello, Nietzsche in America, op. cit. (Vgl. Kapitel 6: „William Mackintire Salter: Ethical Idealist".) William Salter, Anarchy or Government? (New York, 1895), S. 87.

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als Moralkritiker auslegte, sondern ihn überdies als den Urheber und Befürworter eines neuen Moralsystems betrachtete. Allein die Tatsache, daß Salter seine These von Nietzsche als einem Sozialreformer glaubhaft zu machen versuchte, stellt seine Interpretation in ein fragwürdiges Licht. Wie andere Interpreten, leitete Salter aus der Kritik des Christentums die Schlußfolgerung ab, Nietzsche wolle die herkömmliche altruistische Moral durch eine vitalistische ersetzen. Die lebensfeindlichen Werte der Selbstlosigkeit sollten in einer nietzscheschen Zukunft den lebensfördernden (im Sinne des physikalischen und voluntativen Gedeihens) Werten der höheren Selbsterhaltung weichen. An die kommende Existenz einer solchen Zukunft scheint Salter zumindest provisorisch auch geglaubt zu haben, prophezeite er doch das Kommen einer neuen Zeitrechnung vor und nach Nietzsche: I do not wish to prophesy, but I have a suspicion that sometime - perhaps at no very distant date - writers on serious themes will be more or less classified according as they know him or not; that we shall be speaking of a pre-Nietzschean and a postNietzschean period in philosophical, and particularly in ethical and social, analysis and speculation. (4)

Sozialreform kann aber nicht ernsthaft als Nietzsches philosophisches Anliegen postuliert werden, mag dies noch so oft behauptet worden sein. Reform geschieht nur dann, wenn eine neue Moralvorstellung in revolutionäre Handlungen umgesetzt werden soll und entspringt einem Interesse, das sich in der Hauptsache auf die Menschheit als ganzes richtet, auf die Masse - ob an sich allein oder in ihrem Verhältnis zu einer elitären Minderheit gesehen. Reformatorische Moral will also in erster Linie wirken. Nietzsches Interesse aber richtet sich auf Individuum und Masse als Text, den er mit den Augen des Philologen liest, um denselben seiner Kritik zu unterziehen. Seine Proposition läuft nicht auf die Überschreibung des Textes, sondern die klärende Erkenntnis desselben hinaus. Im Prozeß der Interpretation enthält er sich jeglichen Moralismus. Wenn Nietzsche sich den ersten Immoralisten nennt, heißt das nicht nur, er habe sich vom Weltbild des Christentums, sondern überhaupt von allem Moralismus befreit - von aller dualistischen Begrifflichkeit also. Die Inthronisierung einer bestimmten Moral anstreben, bedeutete für Nietzsche, die notwendige perspektivistische Skepsis gegen sich selbst aufzugeben. Es mag bisweilen anders aussehen - z.B., wenn Nietzsche ein „Gesetz wider das Christenthum" erlassen zu haben vorgibt. Aber dieses Christentum ist ihm letzten Endes nichts mehr als eine (niedere, aus der Krankheit entsprungene) weitere Erscheinungsform des seinen Machtzuwachs anstrebenden einen Willens, den „korrigieren" zu wollen eben sowenig Sinn ergäbe, wie die „Natur", oder wie Nietzsche manchmal sagt, den „Verlauf" der Welt (JGB 22) korrigieren zu wollen. Salter, seinem eigenen Drang nach sozialem Wandel und ethischer Rekonstruktion folgend, entnahm diesem Amoralismus Nietzsches trotzdem die Absicht, die Gesellschaft und die Natur in eine neue Richtung zu steuern:

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H e felt indeed that the weightiest question of philosophy was just how far the realm of the unchangeable extended, so that knowing this we might set out to improve the changeable side of things with all the courage at our command ... and the only sense in striving in these directions is to win power, whereby we may come to the help of nature and correct a little her foolish and clumsy ways. (58f.)

Salter setzte alles daran, Nietzsche eine „soziale Gesinnung" zu bescheinigen, teils, um seiner Philosophie Akzeptanz und Gehör zu verschaffen, teils, um sie für seine eigenen Bedürfnisse dienstbar zu machen, aber dies alles auf Kosten von Nietzsches kritischen Leistungen. Von solcher Zurechtbiegung ist hier nicht nur die Moralkritik Nietzsches betroffen. Selbst sein Griechentum erscheint hier in ganz neuem Lichte. Einfach absurd liest sich etwa Salters Deutung der Beschreibung dionysischer Ekstase in der Geburt der Tragödie. Wo Nietzsche die geistige Verrückung und Entzückung bacchanalischer Selbstentgrenzung in der Aufhebung des principium individuationis als Schattenseite des Winckelmannschen Griechentums vor Augen führt, las Salter ein „almost socialistic sentiment" in diese „Niederreißung sozialer Barrieren" hinein: We have already noted his glowing picture of the effect of the ancient Dionysian festivals and dramas in uniting different classes, breaking down the barriers between free men and slaves, making men feel, indeed, their oneness with all that lives - no one without deep human sympathies could have written in this way. (68)

Den Durchbruch bei der versuchten Einsetzung eines neuen Wertestandards zur Grundlegung einer neuen Ethik meinte Salter mit der Entdeckung der Schlüsselfunktion des Willens zur Macht in Nietzsches Philosophie zu erreichen. Als wissenschaftlich (sprich: psychophysisch) „nachweisbares" Grundmotiv menschlichen Agierens erfüllte der Gedanke des Willens zur Macht Salters Forderung eines universellen, aber auf Glaubensartikel nicht angewiesenen Prinzips, mit dem Handlungen je nach ihrer Teilhabe an demselben bzw. Förderung desselben eingestuft werden könnten. Stellenweise zeugte Salters Definition des Willens zur Macht von bestechender Einsicht in Nietzsches eigenen Gebrauch des Begriffs. Menschliches Handeln müsse man, so Salter, gänzlich auf die Grundfunktion des Willens zur Macht zurückführen, die sich als Aneignung ausdrücke und dadurch die Mehrung der Macht sowie der Beherrschung der Umwelt bezwecke: It is a will, however, not only to dominate (this all power strives for), but to dominate by incorporating, by making the foreign substance of power an integral, though subordinate, part of itself. This is manifest in hunger and the overt acts of seizure the living thing perhaps takes more than it can actually appropriate. Exploiting, stealing belongs thus to its nature. Accordingly life is radically misconceived when it is taken as mere adaptation to environment; „adaptation" is something secondary. (197f.)

Mit dieser behaupteten Integrierung fremder Substanz berief sich Salter zweifellos auf das, was Nietzsche die „Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen" (JGB

258

Philosophische Rezeption

230) nennt. Nietzsche spricht damit das Verhalten des Menschen zu Welt und Wahrheit an, die Eigenschaft menschlichen Wahrnehmens und Denkens, „das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen", dessen Absicht „auf Einverleibung neuer .Erfahrungen', auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum also" (JGB 230) geht. Salter erkannte zwar nicht, wie weit Nietzsches erkenntnistheoretische Überlegungen über den bloßen Biologismus hinausgehen, aber dennoch war seine Version des Willens zur Macht als des Motivs der Erkenntnis eine bedeutende Leistung in der Forschung. Salter verstand sogar, daß Wille zur Macht kein vorgeschriebenes oder anzustrebendes Ideal in Nietzsches Gebrauch ist, sondern „an analysis of interpretation of reality - a view as to its last elements". (194) Ihm wurde auch klar, daß bei Nietzsche Moral nicht der Gegensatz oder die versuchte Zügelung des Willens zur Macht, sondern dessen Produkt ist: „not so much antithetical to will to power, as a concealed form of it". (363) Gleichzeitig überging Salter aber den nicht-ethischen Charakter des Willens zur Macht bei Nietzsche, um ihn als eigenen Maßstab ethischen Handelns anzulegen. Um die Leerstellen seines eigenen ethischen Systems zu überbrücken, unterschob er Nietzsche die Absicht zur Aufstellung einer solchen Machtethik: on a general basis of this sort he c o n c e i v e s of the possibility o f a properly scientific ethics arising, which should stand to past morals something as chemistry d o e s to alchemy. K n o w l e d g e being scientific, as it can apply number and measure, an attempt is [made] in order to see if a scientific order of values cannot be built „on a number and measure scale of force," ascent in the scale signifying increase o f value, descent diminution in value - all other estimations being prejudices, naivetes, misunderstandings. (36 If.)

Wenn Salter allerdings eine neue Moralenzyklika verfassen wollte, in der Wert oder Unwert einer Handlung danach bemessen werden sollte, inwieweit der Wille zür Macht seine Machtquanta dabei erhöht, sah er sich dabei im Widerspruch zu der sozialen Reformideologie, der er anhing. Das Unmögliche doch möglich machen konnte Salter nur, indem er gewisse Ausdrucksformen des Willens zur Macht wenn nicht verbot, so doch auf der Werteskala sehr tief ansiedelte: N i e t z s c h e ' s ideal was not one of mere p o w e r ... but if w e ask h o w far force d e s e r v e s to be revered w e can only answer, to the extent reason blends with it - w e must ask h o w far it is ruled by something higher and serves it as its instrument and means. (356)

Erstens bemühte er sich, die dem Menschen allein eigentlich zukommende Form des Willens zur Macht als Intelligenz auszuweisen. Er griff dabei auf ein antikes Argument zurück, das er als das Nietzsches identifizierte: Das Tier kenne nur die physische Gewalt, wenn es seinen Instinkt zu befriedigen suche, nur der Mensch aber kenne die Vernunft, die ihn von allen anderen Wesen unterscheide und somit seine höchste Proprietät sei:

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Man passes as the strongest animal - but why? Because, Nietzsche answers, he is the cunningest. Intelligence is power along the human line of evolution. In the progress of mankind, ever less physical force is necessary; as time goes on, we wisely let machines work, man becomes stronger and more spiritual. (371)

Auch wenn Nietzsche die Erkenntnis der Wahrheit eindeutig als höchsten Wert setzte, bliebe die Vernunft trotzdem eine nichtmoralische Instanz, ein Werkzeug eben, das der Wille zur Macht im Menschen hervorgebracht hat. Salter ging es aber nicht um den bloßen Gebrauch der Vernunft zur Steigerung der menschlichen Verfügung über die Welt, sondern um die Einsetzung der Vernunft zur Ausgleichung sozialer Mißstände. Er versuchte also zweitens, plausibel zu machen, daß Nietzsche den Sinn der Vernunft unter anderem in der Zügelung gewalttätiger Triebe im Menschen sehe. Zwar hebe Nietzsche den Dualismus der moralischen Wertungen „gut" und „böse" auf, aber „some actions are ... more intelligent than others, and this fact gives rise to diverse judgements. ... Acts called evil are really stupid". (118) „Intelligente" Handlungen waren für Salter eben jene, die „soziale Spannungen" beseitigen, indem sie z.B. die ungleiche Verteilung des Reichtums ausgleichen. Für Nietzsche stehe demnach wie für Salter fest: that the needful thing is not violences, but the gradual alteration of men's minds, justice becoming greater and violent instincts weaker on all sides. He considers the remedies of an equal division of property and common ownership, and finds them both impracticable. Instead he urges that avenues to small ownership should be kept wide open, and that the acquistion of wealth suddenly and without effort should be prevented. (139)

In endlosen Abwandlungen wiederholte Salter diesen Standpunkt, den er auch mit fadenscheinigen Begründungen zu stützen versuchte. Mehrmals betonte er z.B., daß Nietzsche eigentlich mit den arbeitenden Klassen „sympathisiere" (133) und schließlich die Belange und Bedürfnisse der Arbeiter in seine reife Philosophie integriert hätte, wären ihm noch einige wenige Jahre geistigen Schaffens .vergönnt gewesen: if he had lived to complete the work on which he was bent in his later years, he would have supplemented his doctrine of the higher man, which was doubtless his main concern, with some adequate exposition of the place and functions of the average worker in society. ... Work well done, of whatever kind, always has his admiration. (435)

So redlich Salters Untersuchung gemeint gewesen sein mag, so sehr verfehlte sie die Natur der Philosophie Nietzsches. Nicht nur, daß Nietzsche kein sozialer Denker im eigentlichen Sinne ist - selbst die blassesten Spuren eines solchen Engagements für die „Vielzuvielen" bei ihm finden zu wollen, grenzt an eine völlige Verkennung von Nietzsches Denken und Person. Als Versöhnungs-, Verteidungs- und Entschärfungsversuch muß Salter seine Monographie auch gemeint haben, aber seine Verharmlosungstaktiken weisen ein so geringes Maß an

260

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Subtilität auf, daß er auch dieses Ziel wahrscheinlich kaum erreichte. Später kritisierte Crane Brinton Salter genau wegen dessen „Verweichlichungsarbeit" am Bild Nietzsches.66 Außerdem änderte Salters Interpretation nichts an der einseitigen Betrachtung Nietzsches als eines Moralphilosophen, der nur gelegentlich Exkurse in andere philosophische Bereiche mache. Wichtig für die Entwicklung des Verständnisses der Philosophie Nietzsches war aber doch, daß Salter zwei Dinge erkannte: erstens, daß Wille zur Macht doch der Standard ist, an dem Nietzsche den Wert bestimmter Phänomene mißt und zweitens, daß der höherwertige Wille des höheren Menschen auch mit höherer Intelligenz einhergeht. Das zu erklären, vermochte er indes nicht. V.2.e George Burman Foster, „Friedrich Nietzsche" (1931) Einen ähnlichen Hang zum christlich-moralischen Atheismus trifft man bei einem anderen Halbapostaten an: George Burman Foster (1858-1918). Anders als Salter war der Philosophie- und Religionswissenschaftler Foster langjähriger Inhaber eines Lehrstuhls, und zwar an der University of Chicago. Aber genau wie Salter verbrachte er einen wichtigen Teil seines Studiums in Deutschland (Göttingen und Berlin), und nach den Auslandssemestem sowie der kurz darauf folgenden Berufung (zunächst in Kanada an der McMaster University) verabschiedete sich Foster ebenfalls zusehends von fundamentalen Prinzipien der theologischen Orthodoxie. Zwar vollzog sich dieser Prozeß langsamer bei Foster als bei Salter, dafür aber auch etwas gründlicher. Der letzte bedeutende gemeinsame Faktor im intellektuellen Leben der beiden besteht darin, daß auch bei Foster die Philosophie Nietzsches als eine Triebfeder der Bewegung weg vom traditionellen Glauben funktionierte. Die Fachwelt schreckte Foster zunächst 1906 mit dem Werk The Finality of the Christian Religion auf. Der Begriff finality meinte bei Foster nicht das Ende, sondern die Endlichkeit - also Historizität, Gewordenheit - des Christentums. Damit wollte er seine These verdeutlichen, daß die christliche Orthodoxie (der Begriff des Orthodoxen figurierte in seinem Denken als Metapher aller moralischen Rückständigkeit und seelischen Verschlossenheit) im Laufe ihrer Geschichte die Glaubensinhalte des Christentums ins Jenseitige und Transzendente (oder wie Foster oft sagt, ins Übernatürliche) abgedrängt habe. Dem Automatismus der Kirchenobrigkeit wollte Foster die Person Jesu als werteschaffenden Revolutionär entgegenstellen, der seinen Jüngern einen Werte- und Verhaltenskodex für das Leben, also für das Diesseits beizubringen bestrebt war. Obwohl gewissermaßen innovativ erscheinend, war und ist das ein fast typischer Gestus der theologischen Moderne: das Christentum durch radikale und relativierende Kritik vor seiner beständig herannahenden Zersetzung retten zu wollen.

M

Crane Brinton, „The National Socialists' Use of Nietzsche", op. cit., S. 131.

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Foster sah Jesus als Prediger des unendlichen Wertes des Individuums sowie als Aufbegehrer gegen jegliche Art von Hegemonie und Rigidität an, welche notwendig die Entwicklung und Expansion der individuellen Persönlichkeit einzudämmen versuchte. Diese Deutung enthielt sicherlich ein Zugeständnis an den sich unaufhaltsam ausbreitenden, radikalen Individualismus der Moderne, bezeugte aber auch Fosters ganz eigenen, unverrückbaren Glauben an den Wert des Einzelnen. Die darin figurierenden Entlehnungen Fosters beim Jesus-Bild Nietzsches sind allerdings eindeutig. Zumindest ein Aspekt von Nietzsches Porträt Christi reflektiert diese Würdigung der „weltlichen" Lehre Jesu, daß das „Himmelreich" ein „Zustand des Herzens [ist] - nicht Etwas, das ,über der Erde' oder ,nach dem Tode' kommt". (AC 34) Es ist, wie schon besprochen wurde, das Lebensvorbild Christi, das Nietzsche aus den Dogmen der Kirche herauszulösen versucht: D i e s e r „frohe Botschafter" starb wie er lebte, w i e er lehrte

- nicht um „die M e n s c h e n

zu erlösen", sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. ( A C 3 5 )

Aber nicht genug, daß Foster Aspekte dieser Nietzscheschen Sicht auf Christus für das eigene Denken adaptierte; er konstruierte zudem spirituelle Verbindungen zwischen der Person des Heilands und dem Philosophen Nietzsche selbst: w e must allow something in c o m m o n between Nietzsche and Jesus.

Jesus w a s a

revaluator of values ... Jesus „lived dangerously." There w a s no preference in Jesus for s e l f - c o m p l a c e n c y , for love of e a s e , for s e c o n d best, for life at any price, for slipping into a warm nook like s o m e backboneless mollusk. 6 7

Foster beschrieb Nietzsche also ganz ähnlich wie Christus als Bannerträger des unantastbaren Wertes des Individuums, als Werteschöpfer und Umwerter, sowie als Feind des Mechanismus (eine Interpretation, die ja später von Jacques Barzun wieder aufgegriffen wurde; vgl. Kap. IV.2.a). Die Gegnerschaft zum Mechanismus beruhte weniger auf wissenschaftlichen Einwänden als darauf, daß Foster diese Weltanschauung als orthodoxe Form des Positivismus oder Naturalismus betrachtete. Den Naturalismus im Sinne empirischer Fortschrittlichkeit und Weltlichkeit begrüßte Foster, aber nur insofern, als dieser dem Menschen sein Recht auf Spiritualität und Mystik nicht streitig mache, ohne die es für Foster keine Werte, auch keine weltlichen, geben könne. Deswegen fügte er mit den restlichen Pinselstrichen an seinem Jesus-Bild eine Versöhnungsmotivik in das Porträt ein: Jesus wurde ihm zum Vorbild des Ausgleichs zwischen Naturalismus und Spiritualismus, weil Jesus Fosters Auffassung zufolge weltlich in seiner Geistigkeit und geistig in seiner Weltlichkeit gedacht und gehandelt habe. Foster bezeichnete seine eigene Philosophe als „spiritualistic evolutionism", dessen Ziel es sei

67

George Burman Foster, Friedrich Nietzsche, (New York, 1931), S. 211 f. (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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to defend against supernaturalism the ideal of understanding and explaining reality which science requires, and against naturalism the ideal of meaning and worth which are the kernel of the religious interest - this is at once the task and the salvation o f the modern man. 68

Foster suchte Worte für genau dieses doppelbödige Bedürfnis des Menschen, das William James mit seinem Recht auf Übersinnliches bedachte: den Glauben im Zeitalter des empiristischen Positivismus zu verteidigen, ohne den Empirismus über Bord zu werfen. Mit Nietzsches Hilfe hoffte er, eine neue Religiosität und eine neue Ethik zu finden, die diesem Bedürfnis entsprächen. Die logischen Schwierigkeiten bei der Realisierung dieser oxymoronischen Philosophie erwiesen sich auch für Foster schnell als unüberwindbar. Das Scheitern dieses versuchten transzendenten Empirismus protokollierte das 1909 erschienene The Function of Religion in Man 's Struggle for Existence. Die Möglichkeiten des faktischen Glaubens an Gott und Messias verwarf Foster in diesem Werk - nicht jedoch die Möglichkeiten des kontrafaktischen Glaubens. Auch in diesem Fall war der Titel schon vielsagend: Mit Function spielte Foster auf den Funktionalismus an, den er nun als Existenzberechtigung der Religion und des Glaubens auswies. Immer noch überzeugt, daß der Empirismus unfähig sei, dem Dasein des Menschen Werte zuzumessen, beharrte Foster auf der Notwendigkeit des Glaubens als Wertquelle, als letzten Grundes, auf den sich der Mensch mit seiner „Menschlichkeit" zurückziehen dürfe. Den Menschen hielt er grundsätzlich für „incurably religious", 69 was soviel heißt wie unfähig, das Leben ohne religiösen Glauben zu ertragen. Ob der Mensch die einzelnen Glaubensartikel für „wahr" erachte, sei nebensächlich, weil aus pragmatischer Sicht der vitale Wert jener Artikel die Wahrheitsfrage überrage: the question of the „truth of religion", as a former generation used the phrase, has died out of the consciousness of modern man. The man of today must think of religion as a necessary creation of human nature and evaluate it from that point o f view. 7 0

Was Foster damit vorschlug, war eine radikale religiöse Version des Vaihingerschen „als ob". Der Mensch solle glauben, weil er es zum Überleben brauche, obwohl er in unserer Zeit eigentlich nicht mehr im Sinne des credo quia absurdum glauben könne. Gleichzeitig Christ und Evolutionist zu sein, bedeutete für Foster das Unmögliche, aber dennoch Notwendige zu tun. Die psychologische Einsicht in den Funktionalismus der Religion bekam Foster unter anderem von Nietzsche, und von ihm meinte er auch seinen Standpunkt des uneigentlichen Glaubens zu erhalten. Der Synergismus von Fosters eigener Philosophie und

ω 69

70

George Burman Foster, The Finality of the Christian Religion (Chicago, 1906), S. 217. George Burman Foster, The Function of Religion in Man's Struggle for Existence (Chicago, 1909), S. 153. Ibid., S. 88.

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seiner Nietzsche-Interpretation läßt sich am besten an seiner monographischen Studie Friedrich Nietzsche beobachten, die in den Jahren des ersten Weltkrieges entstand und 1931 posthum erschien. Die Struktur der Studie unterscheidet sich nicht wesentlich von der an den Arbeiten Dolsons und Salters bereits aufgezeigten: Die Entwicklung von Nietzsches Denken wurde in drei Epochen gegliedert, von denen die letzte die eigentliche Blüte dieser Philosophie darstellen solle. Den frühen Nietzsche reduzierte Foster auf die Kombination des Darwinismus mit dem Schopenhauerschen Pessimismus: W e have reached now the innermost kernel of N i e t z s c h e ' s v i e w of life, namely, the Schopenhauerian doctrine of will, given positive features under the influence of Darwin and his doctrine of the struggle of existence. (31)

Noch stärker als Dolson oder Salter aber betonte Foster, daß das Ende der Schopenhauer-Jüngerschaft für Nietzsche auch den kategorischen Bruch mit dem Pessimismus bedeutete. Amor fati nannte er hiemach den „optimistischen" Angelpunkt der Weltanschauung Nietzsches. Der lebensnotwendige, aus dem amor fati des heroischen Fatalismus fließende Optimismus hatte für Foster seine Entsprechung in der christlichen Heilshoffhung, die den Gläubigen vor der drohenden Verzweiflung an einer immanent sinnleeren Welt schütze. Cadello bemängelt zu Recht an Fosters Gleichung, daß Nietzsche kein Optimist gewesen sei,71 übersieht indes, daß Fosters Begriff des amor fati nicht so ganz simplistisch geriet, wie man Cadello zufolge vielleicht zu meinen geneigt wäre. Foster war sich bewußt, daß amor fati Affirmation des Seins bedeutet the central point of N i e t z s c h e ' s philosophy is a lyrical and enthusiastic affirmation o f life; of life beautiful, strong, exubrant, o v e r f l o w i n g ; o f life manifesting itself, variously and vividly, in art, and in social, intellectual, political, administrative activity; o f life in all its plenitude and p o w e r (78) -,

aber er wußte auch, daß Nietzsche eine Affirmation der Welt bei gleichzeitiger fatalistischer Kenntnis der fundamentalen Tranzendenzlosigkeit 'der Existenz verlangt: „We should say yes to life, we should love fate, even the hardest fate. Amor fati - there is the whole of Nietzsche's soul". (108) Dieses hardest fate, das schwerste Schicksal, begegne uns in eben jener Erkenntnis der Sinnleere. Daß das Sein bei Nietzsche grundsätzlich im Kontext der Natur zu verstehen ist, hatte Foster dabei stets vor Augen. Natur als Gegensatz zum Übernatürlichen war ein wichtiger ontologischer Anhaltspunkt Fosters, da er selbst mit seiner Spiritualität den Bereich des Natürlichen nicht verlassen wollte. Die Natur sei für Nietzsche, so Foster, als Wille zur Macht im Menschen existent und für den Menschen konstitutiv. Der Geist, erkannte Foster auch, ist für Nietzsche Epiphänomen des grundlegenden Willens, der im Gewände des Lebens zur Mehrung

James Peter Cadello, Nietzsche in America, op. cit., S. 282.

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seiner Macht hinstrebt. Darin offenbart sich aber eine Kodependenz; nichts mehr als ein funktionaler Kunstgriff des Willens ist alles in den Bereich des Geistigen Gehörende, dessen selbiger Wille wiederum zum Leben und zur Mehrung seiner Macht bedarf: we see that at the end Nietzsche's fundamental view is that all cognition, knowledge, truth, is a vital flinction, a servant of life. And life is a function of the Will to Power.

Nietzsche's epistemology, then, is a biological evaluation of cognition on a metaphysical basis. (174) Aus dieser Erkenntnis zog Foster allerdings zwei weitere Konsequenzen für seine Nietzsche-Interpretation, die sich als Trugschlüsse erweisen. Erstens ging er davon aus, daß der Glaube als Überlebens- und Machtmehrungstaktik aller Menschen im Geiste inhärent verankert sei. Philosophie aber, ob in Form des Glaubens, der Kritik oder des „starken Pessimismus", ist für Nietzsche immer der sehr persönliche Ausdruck individueller Menschen, die j e nach dem Grade der „Gesundheit" ihres Willens, also ihrer Fähigkeit, den Pessimismus und die Vielheit der Perspektiven in sich zu tragen, eine verschiedene Haltung zur Welt hervorbringen. Eine bindende Erscheinungsform des sich des Geistes bedienenden Willens für alle Menschen gibt es nach Meinung Nietzsches nicht. Man hat, betont er, nothwendig auch die Philosopie seiner Person: doch giebt es da einen erheblichen Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mängel, welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthümer und Kräfte. Ersterer hat seine Philosophie nöthig, sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im besten Falle die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit (FW „Vorrede zur zweiten Ausgabe" 2)

Das Christentum kann für Nietzsche, auch wenn er gelegentlich dessen pragmatische Vorzüge lobt, trotzdem nie mehr als eine Dekadenzerscheinung des geschwächten Willens sein. Der höhere Wille oder höhere Mensch sucht die Gefahren des Pessimismus und der nihilistischen Erkenntnis. Zweitens beschränkte Foster die Bedeutung der Wahrheit bei Nietzsche auf funktionale Illusion, was aber nicht der Fall sein kann, da dies aus Nietzsche den Plagiator eines mißverstandenen Pragmatismus machte. Es waren diese Fehleinschätzungen aber, die Foster dazu verleiteten, Nietzsche als religiösen Denker zu interpretieren, der die Sache dieses „uneigentlichen Christentums" fördere: all his life, Nietzsche was a profoundly religious man. ... His atheism resolves itself into a faith which is as a burning flame, and which glows like the evening star in the pale azure sky. Zarathustra's faith - faith in life, faith in the infinite possibilities of life - this is a faith that shall remove mountains. ... [H]e confirms a law which operates everywhere; namely, that religion, under one form of another, is a sociological necessity. ... Religion does not necessarily imply belief in a God. ... What is religion? Religion means the belief of a community, belief in a common ideal, based on identity of interests. (199)

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Auch wenn Nietzsche von der „sozialen Notwendigkeit" der Religion überzeugt wäre, dann nur als Notwendigkeit der „Herde". Der freie Geist oder Übermensch, der für Nietzsche der Sinn der Erde sein soll, wirft das Joch des geistigen Absolutismus, ob als Religion oder dogmatische Philosophie, notwendigerweise ab. Auch wenn Foster durchaus mit Recht dem entstellten Image Nietzsches als eines geistesächtenden Vitalismusbarbaren mit der Feststellung Abhilfe leistete, Nietzsche erkenne den Schrecken des Verlustes des naiven Glaubens an Gott, er fühle „deeply and painfully this loss of God" (221), so ist der Tod Gottes für Nietzsche auch eine Befreiung. Die für die Masse entsetzliche Botschaft des „tollen Menschen" vom Tod Gottes (FW 125) ist für den willensstarken fatalistischen Philosophen der Lichtstrahl eines endlich klaren Himmels, einer neuen Morgenröte: In der That, wir Philosophen und „freien G e i s t e r " fühlen uns bei der N a c h r i c h t , dass der „alte Gott todt" ist, wie von einer neuen M o r g e n r ö t h e angestrahlt; unser H e r z strömt dabei über v o n Dankbarkeit, Erstaunen, A h n u n g , E r w a r t u n g , - endlich erscheint uns der Horizont wieder frei ( F W 3 4 3 ) .

Dionysos philosophikos feiert seine Geburt in der Todesstunde des alten Gottes. Aber Nietzsches Vielfalt der Perspektiven vermochte Foster nicht in den Griff zu bekommen. Es ist grundlegend falsch, die Autorität Nietzsches für die Begründung eines augenzwinkernd vorgeschützten Christentums als (Über-)Lebenslüge zu beanspruchen, wie Foster dies versuchte. Überdies ist eine solche Absicht als Ausgangspunkt einer Gesamtinterpretation unbrauchbar. Daß Foster dennoch einige Probleme der Nietzsche-Interpretation wesentlich besser als beispielsweise Salter bewältigte, soll nicht übergangen werden (wie dies Cadello etwa tut). Foster behauptete z.B. an keiner Stelle, Nietzsche sei ein sozialer Denker gewesen. Selbst die angebliche „soziale Notwendigkeit" der Religion war bei Foster eine Extrapolation aus den geistigen Bedürfnissen des Individuums. Foster suggerierte sich und seinem Leser auch nicht wie Salter, Nietzsche bezwecke mittels der Umwertung der Werte die Grundlage für die geistige Erhöhung der Menschheit als ganzer. Er vertrat lediglich die These, daß Nietzsches ausschließliche Konzentration auf das große Individuum sich in keinem Widerspruch zur eigentlichen Lehre Christi befinde. Der Sorge um die von Nietzsche verübte Kritik am Prinzip des Mitleids, die Salter als Mißverständnis von Nietzsches wirklicher Mission abtat, begegnete Foster mit einer genauen und sachlichen Interpretation. Sowohl immanent als auch komparatistisch deutend, wies Foster auf die von Nietzsche mit Piaton, Aristoteles, Spinoza und Kant geteilte Auffassung hin, daß weder dem Bemitleideten noch dem Mitleidenden irgendein Nutzen aus dem sympathischen Affekt erwachse: Plato, Aristotle,

Spinoza, Kant,

w e r e all against pity, had contempt for pity.

...

Sympathy adds to the number o f those who a r e miserable. . . . F o r what is sympathy? It is the sharing o f a n o t h e r ' s burden; only, this sharing o f the burden does not relieve

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any of the weight on the shoulders of him who is miserable, while it places a burden which was hitherto absent on the shoulders of him who was up till then happy. Sympathy, then, adds to the stock of ugliness and suffering in the world. (184ff.)

Aber selbst die Vorzüge der Fosterschen Studie ändern nichts an der Tatsache, daß auch diese Nietzsche-Monographie weder einschlägige neue Erkenntnisse noch eine schlüssige innere Einheit der Interpretation vorzuweisen hatte. Foster ahnte den Zusammenhang von Machtwillen, Gesundheit und Geist bei Nietzsche, ohne dieses komplexe Geflecht genau aufdröseln zu können. Und Foster eignete sich Nietzsches Philosophie zu einem bestimmten Zweck an, um schließlich bei einer Zweckentfremdung des Gegenstandes seiner Untersuchung zu landen. Auch er gedachte wie Salter, seinen Gegnern - also den Feinden Nietzsches wie More und Carus - das interpretatorische Handwerk zu legen, um schließlich durch den zionistischen Geist seiner Überzeugung teilweise geblendet zu werden. Die tendenziöse Gegnerschaft (More u. Carus) einerseits und das von schweren interpretatorischen Fehlem getrübte Wohlwollen (Dolson, Salter u. Foster) andererseits, die dem Gegenstand in diesen Monographien entgegengebracht wurden, lassen Skepis gegenüber der philosophischen Ernsthaftigkeit aufkommen, mit der Nietzsche zu dieser Zeit in Amerika bedacht wurde. Die Skepsis wächst sich zur Resignation aus, wenn man feststellt, daß die Mitglieder der Akademien in den 20er und 30er Jahren sich nicht mehr im großen Format mit Nietzsche befaßten. Es gab die wissenschaftlichen Aufsätze der späten 20er und der 30er Jahre, die im letzen Kapitel bereits kommentiert wurden. Will Durant äußerte sich in zwei Werken zu Nietzsche (The Story of Philosophy [1926], The Mansions of Philosophy [1929]), aber die neue Richtung gerade seines Kurses vermindert deutlich das Interesse an diesen Arbeiten. Auch die genannten Aufsätze sind kein befriedigender Ersatz für monographische Interpretationen. Und dennoch: In dieser Zeit erschien keine neue monographische Untersuchung aus den akademischen Kreisen Amerikas. Die Dekade 1940-50 dagegen beglich dann dieses Soll mit drei längeren Studien zu Nietzsches Philosophie. V.2.f Crane Brinton, „Nietzsche" (1941) Der Harvarder Historiker Crane Brinton (1898-1968), dessen Faschismusanklage gegen Nietzsche wir bereits kennengelernt haben, schlug 1941 mit einer schriftlichen Großoffensive zu, als er sein Nietzsche präsentierte. Daß diese äußerst unprofessionelle wissenschaftliche Arbeit sogar eine zweite Auflage erlebte, muß als Unglücksfall der amerikanischen Nietzsche-Rezeption verbucht werden. Daß sie bewußt als Reaktion auf nazistische Diktatur und den zweiten Weltkrieg entstand, gab Brinton selbst im Vorwort zu verstehen: This study is ... an attempt to place Nietzsche's work in the more general currents of „opinion" in our time. ... Begun before Munich, finished after the defeat of France,

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it must bear some marks of contemporary events. ... I have not, then, written sine ira et studio,n

Was dieses politische Ereignis, als philosophischer Ausgangspunkt genommen, für die Methodik seiner Interpretation bedeutete, ließ Brinton aber erst am Schluß der Arbeit offen durchscheinen. Um einer großen Bedrohung wie dem Nationalsozialismus entgegentreten zu können, meinte Brinton, müsse man sich mittels fester Ideologie, eines absoluten, beinah fanatischen Glaubens, ja einer völligen intellektuellen Intoleranz gegen die Anfechtungen des Gegners wappnen. „We may", mutmaßte er, „have to be fanatics to prevail over fanatics, drunken to beat the drunken". (240f.) Auf schwächeren Grundpfeilern als dem entschlossen und bewußt gewählten Fanatismus kann eine philosophische Interpretation kaum ruhen. Brinton schreckte vor keiner Assozierung der Philosophie Nietzsches mit dem Ungeist des Nationalsozialismus zurück. Unter Bezug auf die unter der Überschrift „Die Herren der Erde" zusammengetragenen Aphorismen in der Kompilation Der Wille zur Macht erklärte er Nietzsche zum Inspirator des Führerprinzips (ein beliebtes Stichwort antifaschistisch motivierter Nietzsche-Attacken, wie sich schon gezeigt hat) und der „Rassenhygiene". Zugegeben, da heißt es bedenklicherweise bei Nietzsche, wie Brinton notierte, es sei an der Zeit, je mehr der Typus „Heerdenthier" jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen (KSA XII 2[13]).

Brinton setzte sich aber meist mit selbstherrlicher Ignoranz über die große Vorsicht hinweg, die bei Nietzsche immer geboten ist, und im Falle dieses Zitates hielt er es nicht anders. Der zweite Blick auf obiges Fragment beispielsweise stößt darauf, daß Nietzsche fragt: „wäre es nicht an der Zeit", und daß er diese Frage als „eine versucherische und schlimme Frage" ansieht, „denen in's Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdigen Fragen haben, den stärksten Seelen von heute". Liest man im Nachlaß gar zum Anfang der Notiz zurück, so sagt uns Nietzsche im voraus, diese Frage sei ein „Mißtrauen, das immer wieder kommt, meine Sorge, die sich mir nie schlafen legt [...] meine Sphinx, neben der nicht nur Ein Abgrund ist". Nietzsches „Sphinx" ist wahrlich von ungezählten Abgründen umgeben, in die zu schauen er sich selbstgefährdend immer wieder vorneigt. Er denkt über die „Ausgestaltung der Sklaverei" hinaus, als die sich für ihn die „Vollendung der europäischen Demokratie darstellen wird", die den Menschen verkleinert, ihn in den Dienst der Mittelmäßigkeit stellt. Diese Fragen und schlimmen Verdachtsmomente teilt er nur den „stärksten Seelen" mit, also freien Geistern, die ihre

72

Crane Brinton, Nietzsche (Cambridge, Mass., 1941), S. ix (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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Kraft an der Abgründigkeit solcher Gedanken messen. Für die Gewaltherrscher hat Nietzsche keine Worte. Diese Fragen sind die Gänge des Labyrinths, durch das kein gerader Weg führt, und vor allem aus solchen Fragen soll sich der Interpret hüten, Befehle zu machen. Anstatt abstrakter sah Brinton jedoch konkret gemeinte „Herren der Erde" bereits am Horizont heraufziehen: „Nietzsche called for the Supermen. Mussolini and Hitler answered the call". (171) Nach Meinung Brintons deutete alles in Nietzsches Denken auf eine vorbereitende Rolle für die faschistische Ideologie hin. Er vermutete in Nietzsche den manchmal oberflächlich leugnenden, aber unterschwellig konstanten Antisemiten „Nietzsche himself had Jewish friends. ... Yet most of the stock of professional anti-semitism is represented in Nietzsche" (215) -, dessen Rhetorik sich mit der der Nationalsozialisten durchaus messen lasse: „Nietzsche can write as crudely as any Nazi Jew-baiter". (105) Der „gute Europäer" Nietzsche galt ihm als grelle Fassade, hinter der eigentlich der pangermanisierende Deutschnationalist stecke. Die manchmal bis an die äußersten Grenzen der Sprache stoßende Kritik Nietzsches an just diesem Germanentum erklärte Brinton als psychologischen Schutzmechanismus, als Ausdruck verschmähter Liebe: Nietzsche's hatred is most transparently disappointed love. H e had wooed his fellowcountrymen, and they had turned him down. They had not followed Zarathustra. ... The Germans, in spite of their weaknesses, had still seemed to Zarathustra the most hopeful stuff out of which to make Supermen. (114f.)

Daß sich Brinton damit der Afterlogik nationalsozialistischer Interpreten bediente, die diesen Antigermanismus in Nietzsches Schriften auch wegzuerklären hatten, erwähnte er freilich nicht. Hinweise auf Nietzsches Antinationalismus, gutes Europäertum und Antigermanismus legte Brinton dagegen als verlogene Scheingefechte überaus gutmütiger Nietzscheaner aus. Er teilte die Nietzsche-Interpreten demgemäß in „gentle and tough Nietzscheans" ein, wobei die „sanften" Nietzscheaner hier als eher gleisnerische Verharmloser erschienen: The gentle Nietzscheans regard the Master, in a nowadays cant phrase, as a man of good will.

For them, Nietzsche's work is in a central tradition of ethics marked by

Socrates, Jesus, Buddha, Luther, and other children of God. (184)

Die Apologieversuche solcher Nietzsche-Freunde, zu denen er auch William Salter rechnete, erachtete Brinton für völlig unhaltbar. Solche gentle Nietzscheans „have taken in stride paradoxes that would have given their Master pause". (185) Diese Kritik müßte man eigentlich in Hinsicht auf viele Fälle gelten lassen, wenn Brinton nicht die von ihm zusammengefaßten Thesen der tough Nietzscheans dagegen als völlig akkurate Auslegungen hinstellte: For them [the tough Nietzscheans] the Master was an aristocrat of the heart and the head, a man filled with a great contempt for the pig-men about him. ... Their Nietzsche was the dionysian rebel, the unashamed pagan, the joyous fighter, the flashing thinker, the superb ironist, whose wit danced merrily through the bewildered herd, and now and then knocked down some loud bawling beast. (185)

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Letztlich hielt er Nietzsche im denkbar harmlosesten Fall für einen Pseudophilosophen, der „young men and women undergoing the manifold troubles of adolescence" (233) anspreche. Das stets wiederkehrende Gegenbild dieser Studie zum Irrlehrer Nietzsche ist Sokrates (eine Gegenüberstellung, die neun Jahre später eine wichtige Reaktion bei Kaufmann provozieren sollte.) Es waren zwei Charakteristika, für die Brinton Sokrates als Signum einsetzte. Das eine war das Ideal des Maßhaltens, der goldenen Mitte des meden agan. Nach Brinton mißachtet Nietzsche diese Tugendlehre so völlig in seiner eigenen Philosophie sowie in seinem Verständnis des Griechentums, daß er am Ende sogar aus den Griechen Faschisten macht: The Greeks, he insisted, were not the sober lovers of the Golden Mean stuffy German academics found them to be. ... These old Greeks might almost have read Nietzsche, and joined the Nazi party. (77)

In dem Moment aber als Sokrates die im ersten Hauptteil der Politeia erörterten Argumente des Thrasymachos', denen zufolge die Gerechtigkeit der Vorteil des Stärkeren sei, wiederlegt, ist für Brinton der Aristokratismus Nietzsches als antiquierte Sophisterei entlarvt: Might, even in this world, must not be allowed to make right. Ever since Socrates so readily refuted the unsubtle arguments of Thrasymachus, the best people, and certainly the best philosophers, have in general agreed that Truth is great even though it does not prevail, (xv)

Nietzsches polemische Äußerungen gegen Sokrates und die Kritik an der Verabsolutierung von Idee und Vernunft im Piatonismus führte Brinton als Beweis für Nietzsches eindeutige Gegnerschaft gegenüber Sokrates an. Das sei, so Brinton, schon in der Geburt der Tragödie ein Zeichen von Nietzsches Irrationalismus gewesen: „Socrates, one of the great heroes of that traditon [of European rationalism], is for Nietzsche a villain". (83) Von dieser Position aus argumentierend wies Brinton das Werk Nietzsches als wissenschaftlich unseriös zurück. Damit griff er lediglich ein weiteres Klischee der Nietzsche-Rezeption auf: das vom dilletantischen Eklektiker Nietzsche, der weder die erforderliche Geduld noch das Talent für ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung aufbringen könne: Like most „imaginative" writers who crusade against what they call science, Nietzsche had no first-hand acquaintance with any scientific discipline. ... In general, Nietzsche's reading and education, save for his brief apprenticeship in classical philology, was that of a serious dabbler - or, if you prefer, a philosopher. (81)

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf dagegen zeichnet er als ehrenhaften Gegner Nietzsches, der im Gegensatz zum nomadischen Philosophen des Willens zur Macht schließlich „a great career as a classical scholar" erreicht habe. (42) Das Gros der sonstigen Tropen der Rezeption, die Brinton gegen Nietzsche bemühte, bestand in blankem Rufmord. Das Kind Nietzsche nannte er einen

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„prig" (einen betulichen, pedantischen Besserwisser also; 8) und den jungen Baseler Professor einen akademischen Drückeberger, den ernsthafte Studenten bald zu meiden begannen. (41) Der Nietzsches Karriere jäh beendende Wahn gab ihm Grund, alle Spätschriften als „the work of a madman" (64) abzutun. Diese Bodenlosigkeiten waren nicht einmal die Erfindung Brintons, sondern der geistlose Rekurs auf längst als solche entlarvte Blamagen der Rezeptionsgeschichte. Die spärlichen Interpretationsversuche, die Brinton in seine Monographie einstreute, lassen aus heutiger Sicht erneut Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen. Den Dualismus vom Dionysischen und Apollinischen etwa legte er moralistisch als Umschreibung des Begriffspaars gut/böse aus: „According to Nietzsche ... the Dionysian is A Good Thing ... the Apollinian is A Bad Thing". (39f) Ein Aspekt seiner „Interpretation" jedoch interessiert in philosophischer Hinsicht. Bei der Behandlung des Willens zur Macht stieß Brinton auf eine Verstrickung, die sich ihm als Aporie herausstellte. Zwar versuchte er nicht, hinter das scheinbare Paradoxon zu sehen, um es eventuell aufzulösen, aber der logische Konflikt wurde immerhin hier definiert. Dieser Konflikt entzündet sich an folgender Ungereimtheit: Wenn die Welt Wille zur Macht und nichts außerdem ist, fragte er, wie kann das zumindest zahlenmäßig siegreiche Wertsystem des Abendlandes als niedere „Sklavenmoral" abgewertet werden? Ist das Christentum im Laufe der Geschichte zur moralischen Hegemonie emporgestiegen, mit welchem Recht verurteilt es dann Nietzsche? Even the major thesis of Nietzsche's attack on Christianity contains a paradox that strains the limits of logic. Christianity, according to him, is the victory of the weak over the strong. But if the weak are victorious, are they not then really the strong? Have not they carried out successfully the supreme demands of the Will to Power?

(106) Rangordnung und Macht - es sind beides Grundgedanken von Nietzsches Philosophie, aber wie verträgt sich der Maßstab der „Macht" mit Nietzsches hegemonialer Weitung der höchsten und seltenen Menschen, die nicht zur weltlichen Vormacht tendieren, sondern von der Natur im Überlebenskampf benachteiligt sind? Um genau dieses Paradoxon zu lösen und als Grundgedanken der Philosophie Nietzsches zu zeigen, schrieb der an der Duke University lehrende Philosoph George Allen Morgan neun Jahre an seiner Interpretation What Nietzsche Means, die er endlich im selben Jahr wie Brinton vorlegte. V.2.g George Allen Morgan, „What Nietzsche Means" (1941) What Nietzsche Means wurde in der Hauptsache nicht als Verteidigung oder „Aufklärungsschrift", sondern als philosophische Interpretation konzipiert. Dieser Ansatz allein zeichnet Morgans Arbeit gegenüber dem Werk Salters oder Fosters aus. Auch hätte diese Monographie die erste wahrhaft große philosophische Gesamtinterpretation der amerikanischen Nietzsche-Forschung werden können, aber erstens ging sie in den Kriegswirren der 40er Jahre unter. Zweitens

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erreichte Morgans Buch letztlich keine befriedigende Antwort auf die Frage, die hier schon als zentral identifiziert wurde: die Frage nach der Wertsetzung Nietzsches im Bild des Übermenschen. Diese Frage beherrschte zwar die Thematik der Studie, wurde hier aber nicht gelöst. Es ist, als habe Morgan ein unfehlbarer Spürsinn oder Instinkt immer wieder an die Kernprobleme der Nietzscheschen Philosophie herangeführt, an denen ihm aber sein interpretatorisches Instrumentarium in Schlüsselpunkten versagte. Wie diese Frage von Morgan angegangen wurde, wird gleich zu klären sein. Zunächst darf aber nicht übergangen werden, daß, obwohl diese Interpretation, wie gesagt, keine reine Apologie war, sie dennoch Einiges an Aufklärungsarbeit leistete. Morgan schickte vorweg, daß kaum ein anderer bedeutender Philosoph - und als solchen las er Nietzsche auch - so vielen Mißverständnissen von Seiten der Interpreten ausgesetzt war. Er räumte auch ein, daß diese Geschichte von Fehldeutungen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil durch Nietzsches Sprache verursacht wurde: Nietzsche has suffered, probably more than any philosopher, from the wildest sort of subjective interpretation and criticism. Since the way he wrote makes it so easy to mistake or twist his meaing, and the way he lived makes it still easier to explain his meaning away, it is necessary to establish what in the light of the evidence he probably did mean, quite regardless of why, psychologically or historically, he came to think as he did. 73

Morgan verdeutlichte aber, daß diese durch die Sprache gestiftete Verwirrung nicht aus Präzisionsmangel seitens Nietzsches herrührte, wie von vielen anderen Interpreten angenommen worden war. Er verstand den wahren Grund der Konfusion: Nietzsche, dem in der Geschichte der Metaphysik grabenden Archäologen, ist die Sprache, vor allem die Sprache der Philosophen, ein unbrauchbares Artefakt geworden, weil ihre Geschichtlichkeit von ihm herauserkannt wird. Dennoch muß Nietzsche mit dieser metaphysischen Restsemiotik laborieren, um sich überhaupt zu Wort melden zu können. Daß Nietzsche diese gefährliche Wasserstraße zwischen dem Skylla und dem Charybdis des Seins und des Werdens anhand einer in nur zeichenhafter Sprache beschrifteten Karte zu durchsegeln gezwungen ist, entging Morgan nicht: we believe language adequate to experience only if we forget its origin, which must have occurred for the sake of. ready social intercourse in a primitive world. A word, once mistaken for knowledge, is really a sound used as a sign for an experience, and it becomes a concept as soon as it is used for more than the one original experience. Words serve only to denote (Bezeichnen), not to comprehend ( B e g r e i f e n ) . (248)

13

George Morgan, What Nietzsche Means (Cambridge, Mass., 1941), S. viif. (hiemach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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Die Historizität der Sprache zwingt aber auch zur Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Wissens, des Bewußtseins und aller Erscheinungen unserer (geistigen) Welt. Daß Nietzsche die Moral unter diese geschichtlichen Konstrukte einreiht, also die grundlegende Verfälschung des Seins durch die Wertungen der Moral als Motiv der Kritik und Grund des Ansatzes einer „Genealogie" dieser Moral betrachtet, steht bezeichnenderweise auch in Morgans Untersuchung zu lesen. (152) Das heißt, daß Morgan - zumindest hier - die Kritik der Moral nicht als banale Opposition zur Kirche begriff, sondern als ontologische Kritik ahnte. Vieles an der Entstehung dieser Monographie war aber wohl „Ahnung", weil dort völlig richtige Einsichten ohne ausreichende Begründung vorgeführt werden. Jedenfalls las Morgan als erster Interpret der amerikanischen Rezeption Nietzsches Moralkritik als Kritik an einem ontologischen Dogmatismus: Essentially what morality does Nietzsche propose to criticize? As just stated, it is one claiming absolute status: its imperatives are categorical, its values supreme; all else must be approved or condemned with reference to them. Secondly, it claims absolute universality of form: it ... insists that a single pattern, a single rule, obtains for all. Thirdly, its content consists in absolute antitheses: certain qualities are utterly good, others utterly evil. (162f.)

Die Spaltung der Welt in die moralischen Gegensätze „gut" und „böse" ist nur eine Ausgestaltung der grundsätzlichen Aufteilung der Welt in Gegensätze, die Nietzsche als „die Übersetzung der Moral in's Metaphysische" (EH „Warum ich ein Schicksal bin" 3) versteht und mit seiner Philosophie zu überwinden versucht. Nietzsches Immoralismus, der ein so herausragender Begriff der Rezeption gewesen ist, darf keineswegs ausschließlich mit einer platten Antichristlichkeit erklärt werden. Der Immoralist Nietzsche bekämpft die „Moral" als Dogmatismus, als die Verabsolutierung von Werten in einer an sich wertlosen Welt. Die „Moral" in der „Metaphysik" bedeutet also das Operieren mit kategorischen Dualismen überhaupt. Ist die Welt Wille zur Macht und nichts außerdem, dann können Gegensätze in der Ethik sowie in der Seinsphilosophie nur Konstrukte sein. Das ist auch keine geheimgehaltne Spekulation der Notizhefte. Nichts anderes will Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (sein Begriff für den Zustand des Immoralisten) ausdrücken, wenn er schreibt: Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven (JGB 2).

Die Hintergrundsperspektiven des Immoralisten, mit denen er die Welt „von innen" auf ihren „intelligiblen Charakter" (JGB 36) hin ansieht, zeigen ihm, daß alle Gegensätze im Willen zur Macht schwinden. Morgan kam nah genug an diesen Themenkomplex heran, um in sein Zentrum hineinschauen zu können. „Moral distinctions", schrieb er, „are .perspectival'; all actions are the same at

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bottom" ( 1 7 4 ) , aber dann verlor er die Konsequenzen dieser wertmäßigen Einheitlichkeit aller Handlungen aus dem Blick. Diese unvollständige Auslegung drängt wieder eine unserer Ausgangsfragen auf: Warum mißlingt der Ansatz zu einer synthetischen Interpretation übermenschlicher Werte oder des von Brinton identifizierten Geist-Wille-Paradoxons in dieser Studie? Ein wesentlicher Grund hierfür war sicherlich, daß Morgans Monographie durch die existenzphilosophischen Tendenzen der amerikanischen Universitätsphilosophie der 40er Jahre stark beeinflußt wurde. Die in diese Zeit fallende Entdeckung Jaspers' hat eine wesentliche Rolle in dieser Entwicklung gespielt, und Morgan schickte seiner Studie voraus, daß er dem Werk Jaspers' „indebted" sei. (ix) Das wäre aber auch ohne die wissenschaftliche Danksagung erkennbar gewesen: Nietzsche galt Morgan als Existentialist ä la Kiekegaard: Like K i e r k e g a a r d , Nietzsche is an „existential" thinker; his philosophy is indeed lived, not merely c e r e b r a t e d . . . . But almost by definition these are things that elude analytical e x p r e s s i o n ; o n e c a n only hope to lead the reader to the point where he may listen

to

them rather than see them, (ix)

Der radikale Atheismus war für Morgan ein Fundamentalsatz der Nietzscheschen Philosophie ( 3 6 ) , der seine erschütternde Radikaliät daraus bezieht, daß durch ihn alle Transzendentalien hinfällig geworden sind. Die existentielle Not des Menschen resultiere aus der Einsicht, die Nietzsche als erster mitgeteilt habe, daß das Sein ohne Grund, ohne letzten Bezug sei. Die Welt nach der Offenbarung der Philosophie Nietzsches zeichnete Morgan als endlosen Regreß phänomenaler Illusionen: the „ t r u t h " which d e m a n d s c o u r a g e o f the thinker . . . is the truth about illusion, and the various stages o f

illusion previously considered - science, art,

metaphysics,

religion - a r e so many m e a n s o f flight from reality, if literally believed in.

Thus

Nietzsche envisages several levels o f „illusion," each false in comparison to the one beneath it . . . but the last level is not „true b e i n g " :

it is simply . . . a world o f illusion,

i.e. o f relativity and flux, in which nothing e v e r „really i s . " is literally bottomless.

So, for Nietzsche, reality

T h e r e is no ultimate truth in the sense o f something eternal and

rational which would be the perfect fulfillment o f our craving to know. ( 5 0 f . )

Dieser Regreß ist letzten Endes an sich schon unhaltbar. Noch schwieriger aber wird die Aufrechterhaltung einer solchen These, wenn man gewisse transzendente Werte aufzugeben nicht bereit ist. Das war aber die Haltung Morgans, der Nietzsche als existentialistischen Therapeuten betrachtete. ,,[T]he goal of self-fulfillment" (40) titulierte er als Grundmotiv des Nietzscheschen Denkens. „Ziele" kann es aber für Nietzsche nicht geben. Man erinnere sich, daß Nietzsche über „die Weltbewegung" sagt, wenn sie „einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat". ( K S A X I I I 11 [72]) Aber nicht genug, daß bei Morgan dennoch von solchen Zielen gesprochen wurde, auch die „Essenz", ein Relikt der Urgeschichte der abendländischen Metaphysik, fehlte in Morgans Interpretation

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nicht, denn für ihn „the individual has to liberate himself from environmental influences which are false to his essential being". (40f.) Der Widerspruch zwischen dieser Teleologie der Menschennatur als Bestimmung zur Selbstrealisierung (oder vielleicht „Seinserhellung"?) und dem Regreß der Grundlosigkeit der Welt könnte nicht krasser sein, und trotzdem hält sich dieser Widerspruch in Morgans Interpretation durch. Den Willen zum interpretatorischen Widerspruch, zum Herausarbeiten aller „Gegensätze" des Nietzscheschen „Philosophierens", den Jaspers zum Strukturprinzip seines Nietzsche74 machte, beherzigte Morgan auch. Er habe sich gehütet, eine nicht vorhandene logische Konsequenz in Nietzsches Philosophie hineinzulegen: „One danger has been constantly before me: it would be very easy to over-systematize Nietzsche, and to give his thought an order that is mine rather than his", (ix) Jeder Interpret muß sich bemühen, den Gegenstand seiner Betrachtung nicht mit fremden Ideen zu überlagern. Aber den bloßen Widerspruch an sich als Prinzip der Nietzscheschen Philosophie anzusehen, kann eine Interpretation letzlich zur Aussagelosigkeit verdammen. Morgan versuchte, einen solchen Widerspruch mit Nietzsches Hilfe auszuhalten, ohne Nietzsches Gedanken dazu konsequent durchdacht zu haben. Die versuchte Überwindung dieses Widerspruches hieß: Vereinbarkeit von Grundund Wertlosigkeit des Seins als Wille zur Macht mit der Setzung des geistigsten Menschen als des höchsten Exemplars der Gattung homo sapiens. Nietzsche hat eine verborgene, labyrinthische Lösung für diesen Widerspruch, aber bis in die inneren Gemächer des Minotaurus drang Morgan nicht hinein. Seine Einblicke in die Vorhalle des Labyrinths zeichnen sich aber durch eine Scharfsichtigkeit aus, die in der amerikanischen Nietzsche-Rezeption vorher nicht anzutreffen war. Morgan setzte voraus, daß es Nietzsche um die Vervollkommnung des Individuums, „individualized and perfected human existence" (42), zu tun sei. Er ziehe Nietzsche selbt, bekennt Morgan, zur existentiellen Eigentheraphie heran, um den Weg dieser Vervollkommnung zu begehen: Amid the sands o f humanitarian optimism, w h e n western civilization w a s a foolish ostrich, he [Nietzsche] met my thirst for a mind fresh and fearless and deep.

The

present v o l u m e is a by-product o f my sojourn, written that men o f g o o d will many drink more freely at the same spring, (vii)

Der Leser, der ebenso die Not der zusammengebrochenen westlichen Zivilisation empfinde, sei also eingeladen, sich ebenfalls an dieser Quelle zu laben. Diese

So formuliert Jaspers dieses Prinzip in seiner Einleitung: „Alle Aussagen [Nietzsches] scheinen durch andere aufgehoben zu werden. Das Sichwidersprechen ist der Grandzug Nietzscheschen Denkens. Man kann bei Nietzsche fast immer zu einem Urteil auch das Gegenteil finden". (Karl Jaspers, Nietzsche: Einföhrung in das Verständnis seines Philosophierens [Berlin, 1936; hier nach dem Nachdruck aus dem Jahr 1974 zitiert.], S. 17.)

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Not habe den modernen Menschen so völlig vereinahmen können, weil ihm seine Werte zum Problem geworden seien. Mit beachtlicher Schärfe sah Morgan, daß der mit Nietzsche in Verbindung stehende Zusammenbruch der Werte nicht nur die „Moral", sondern die ganze Philosophie des Abendlandes mit in den Abgrund des Relativismus gerissen hat, weil die „Moral" schon seit jeher in der Metaphysik verborgen war: Morality has been „the real Circe of the philosophers" since the time of Plato. ... Even their logic, their trust in reason and its validity, is a moral phenomenon, and their systems have collapsed primarily because they were based on morality. (141)

Der höhere Mensch, der freie - für Morgan „selbstrealisierte" - Geist muß diese vernichtende Erkenntnis suchen. „[W]elchen Sinn hätte unser ganzes Sein", fragt Nietzsche die freien Geister, „wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre?" (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 27) Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit äußere sich in der Philosophie gleichzeitig als Moralismus. Warum Nietzsche aber gleichzeitig an dieser Erkenntnis der Wahrheit gelegen sein soll, konnte sich Morgan nicht erklären. Wenn der Geist oder das Bewußtsein nur Epiphänomen der Triebe und das Denken ein Verhalten dieser Triebe zueinander sein soll („Consciousness is not an autonomous, sovereign power, nor is it the true self. It is an instrument of the ruling oligarchy of urges" [107]), wird nicht, überlegte Morgan, der Wert der Erkenntnis und der Wahrheit fraglich? In der Tat: „Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens [zur Wahrheit]" (JGB 1), sagt Nietzsche. Als Antwort auf dieses Rätsel spielte Morgan mit der Möglichkeit, daß der banale Vitalismus tatsächlich den Sinn von Nietzsches Philosophie ausmachen könnte. „Loyalty to life - .remaining true to the earth'" (116) solle Nietzsches Gegenwert zum Wert der Erkenntnis sein. Diese Opposition hätte aber untragbare Konsequenzen, dächte man den Grundsatz derselben zu Ende, denn dies hieße bezweifeln, ob das Bewußtsein im Vergleich mit den Ansprüchen des vitalen Lebens überhaupt noch einen Wert für den Menschen haben könnte. Auch die Verneinung des Bewußtseins erwog Morgan als Deutung einer neuen Wertsetzung bei Nietzsche, denn er war gezwungen zu postulieren, Nietzsche habe neue Werte schaffen wollen: Wenn der Mensch „perfektioniert" werden soll, dann hat sein Dasein ein bestimmtes telos, an dem neue Werte zu messen wären. Es ergäbe sich also daraus: Das Bewußtsein schwäche, der Instinkt stärke den Menschen, und nur das Stimulans zum Leben sei zu bejahen: consciousness questions, doubts, suggests alternatives, whereas the „first imperative of instinct" is „one does not ask about certain things."

Hence the first requisite for

creating an instinctive tradition is to get rid of consciousness. (110)

Auch für Morgan war aber klar, daß die Auflösung des Bewußtseins nicht die Triebfeder von Nietzsches Kritik des Moralismus in der Philosophie sein könne. Der „Hang des Erkennenden", der dem „Willen zum Schein, zur Vereinfachung,

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zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche" entgegensteht, ist zwar „eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks", aber er erscheint Nietzsche als der „sublime" Hang des erkennenden Menschen, sein vornehmster Charakterzug, der „die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen will". (JGB 230) Und ist nicht selbst diese Grausamkeit eine Mehrung des Machtgefühls? Nietzsche bedenkt ja die Möglichkeit, „dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der .Wahrheit' gerade noch aushielte". (JGB 38) Der Wille will seine Macht erleben und vor allem mehren; der Geist ist Mittel dieses Willens. Der Widerspruch zwischen Geist als Wert an sich und Willen als Grund des Seins scheint kaum krasser sein zu können. Es schien Morgan, als wolle Nietzsche sagen, es sei „impossible to live with truth or to live without it". (51) Die Erkenntnis der Wertlosigkeit der Wahrheit und der Grundlosigkeit des Seins zu erreichen, bedeutet Pessimismus. Was bedeutet es aber, diese Erkenntnis zu wollen? Pessimismus und Bejahung miteinander zu vereinen, den Zustand des Pessimismus der Stärke zu erlangen, ist Nietzsches Antwort auf die Krisis der Werte. Die Tragweite dieses Pessimismus der Stärke, dessen andere Namen „dionysische Philosophie", „ewige Wiederkehr" oder „amor fati" sind, ist in Nietzsches Denken unermeßlich. Die „Weisheit des Silens" enthält letztlich die Grundeinsicht der Nietzscheschen Ontologie, die Eckhard Heftrich als die Identität von Welt und Nichts erkennt.75 Diese Identität, die später noch ausführlicher zu besprechen sein wird, ist die Grundtatsache des Willens zur Macht. Sie zu bejahen, dieses Ganze von Welt und Nichts zur Gänze zu wollen, bedeutet den Durchbruch zum amor fati: „Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn - : meine Formel dafür ist amor fati ...". (KSA XIII 16[32]) Daß dieser amor fati der höchste Zustand des höchsten Menschen sein müsse, erkannte auch Morgan. Er erläuterte aber nur ungenügend, warum dies der höchste Zustand des Menschen sei, was an sich die eigentliche Frage beschreibt, die es zu beantworten gilt. So führte Morgan aus: In the crisis of values Nietzsche's final position is : instead of condemning reality as not to our „taste," let us cultivate a taste for reality. The supreme achievement of this goal is the Dionysial relationship to existence, Nietzsche's formula for which is amor fati - love of the fate which returns everlastingly. Learning to love fate - particularly the fate that is oneself - is the hardest and longest of the arts, but because values are plastic we can learn it, in our distant grandchildren at least. (31 If.)

Es fällt am obigen Passus ein weiteres Problem auf: Amor fati umschrieb Morgan als „learning to love fate", als wäre dies eine erlernbare Haltung zum

Eckhard Heftrich, Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts (Frankfurt a.M., 1962). Vgl. insbesondere das 7. Kapitel: „Nihilismus als Phänomenologie des Nichts - Das Werden als die Identität von Welt und Nichts".

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Sein. Als Erlernbares aber gewönne dieser allumgreifende, bejahende Fatalismus wieder einmal den Charakter eines Ideals oder eines anstrebbaren Ziels. Die Genealogie zeigt aber, daß jede Moral, also jede Auslegung des Seins, aus den schon gegebenen Lebensbedingungen ihres Schöpfers herrührt. Geschwächte bringen die Weltinterpretation hervor, die bei Nietzsche das Zeichen „Sklavenmoral" erhält. Umgekehrt heißt es von den „freien Geistern", sie seien „neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares [...] bereit zu jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von .freiem Willen'". (JGB 44) „Freier Wille", gibt Nietzsche durch die Anführungszeichen zu verstehen, ist hier nicht das, dessen Existenz er sonst unter diesem Begriffe leugnet. Der Wille des freien Geistes ist ein Wille zur höheren Macht. Erst dieser intelligible Wille aber bedingt die Beschaffenheit des Geistes (also auch das freiheitliche Streben nach höherer Macht) bei den seltensten, höchsten Menschen. Man kann nicht lernen, einen bestimmten Willen zu haben - man kann die Menschen nur nach dem Grade dieses Willens, wie er in ihnen erscheint, in die Rangordnung einstufen. Morgans existentialistisches Anliegen fordert aber gerade die Erlernbarkeit des amorfati, weil ein Wertesystem oder ein Maßstab erforderlich ist, um das Ziel der Vervollkommnung des Individuums zu bestimmen. Die Umwertung der Werte und die ewige Wiederkehr sollen diese neue Wertsetzung vollbringen, weswegen Morgan diese beiden Konzepte als Hintertür betrachtete, durch die der Mensch dem Nihilismus entkommen könne: Thus his philosophy becomes an attempt to deal with the issues set by the coming of nihilism in modern civilization. ... The way to victory is the „revaluation of all values". (56) [...] [E]ternal recurrence appealed to Nietzsche not primarily as a cosmological theory, but as a way to transform humanity and escape nihilism: in short, it came as a new religion. (285)

Den Nihilismus zu fliehen, hieße aber das Grundgemäuer des Nietzscheschen Labyrinths zerstören. Nietzsche will durch den Nihilismus hindurch, aber nur indem er diesen Nihilismus erkennt und dessen Notwendigkeit bejaht: Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihlismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch - bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl - sie will den ewigen Kreislauf (KSΑ ΧΙΠ 16[32]).

Auch die Klärung der inneren Notwendigkeit dieses Satzes muß vorerst aufgeschoben werden. Morgans teleologische Fixierung führte ihn jedenfalls noch einmal an einer Lösung des Geist-Wille-Paradoxons vorbei, obwohl das Problem jetzt offen

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freigelegt war. Aber das Wichtigste an dieser Interpretation schlug sich in Morgans Erkenntnis nieder, daß, wenn es irgendeinen Maßstab der Werte bei Nietzsche gibt, dieser doch der Wille zur Macht sein muß, und daß der höchste Grad des Willens zur Macht immer durch die Gegenwart des stärksten, höchsten Geistes begleitet wird. Es kann, die sogenannte Gegensatzphilosophie hin, Gegensatzphilosophie her, keinen Zweifel daran geben, daß Nietzsche die Menschen als Stellvertreter in einer Rangordnung sieht. Anders wäre der „Aristokratismus", der in fast jedem Aspekt seines Denkens zu sehen ist, nicht zu erklären. Diese Rangordnung ist, wie Morgan begriff, die des Willens zur Macht: Nietzsche recognizes that a further approximation to a definite standard of value is necessary: he must grade the kinds of life. This central doctrine of „gradation" CRangordnung) has been hinted at several times already, in his aristocratic intuition of value. ... [W]hat distinguishes healthy from decadent, and what is the specific nature of the life we propose to enhance? Will to power. ... Power, then, is the standard o f value which Nietzsche affirms with all the eloquence at his command, in the martial words of The Antichristian and The Will to Power. (117f.)

Wille zur Macht, überzeugte sich Morgan, ist der Schlüssel zum Denken Nietzsches. Aber diesen Schüssel in der Hand zu halten, heißt nicht, ihn auch zum Erschließen dieses Denkens anwenden zu können. Morgan vermutete, daß das Gewicht, welches dieses Konzept „Wille zur Macht" in seiner Deutung als „great unifying idea[s]" (66) erhielt, auch die Methode rechtfertige, den „eigentlichen" Nietzsche im Nachlaß zu suchen. Fast zur gleichen Zeit der Vorlesungen Heideggers in Freiburg (bedenkt man, daß Morgan die Arbeit an seiner Interpretation 1932 aufnahm) behauptete Morgan, daß dieser Philosoph einer tückischen „series of masks" (20) sein wahres Gesicht nur im Nachlaß zeige. Dort erst erblicke der Interpret den Willen zur Macht als chaotisches Substratum der Welt: Reality - fluid, many, clashing and overcoming, shaping and breaking - is this not the will to power once more? So Nietzsche intends it. Beyond life, the will to power comes at last to include all nature, droning the utmost music of chaos. (271)

Morgan nahm als erster amerikanischer Rezipient den Willen zur Macht als wahrhaft ontologisches Postulat. Die Auslegung dieses Postulates aber blieb, wie vieles andere in Morgans Interpretation, ein leider nicht eingelöstes Versprechen. Allein die Identifikation der Gleichsetzung von Wille zur Macht und Welt allerdings stellte einen großen Forschungsertrag dar, der nicht ohne Wirkung - auf Walter Kaufmann etwa - blieb. Schwerwiegende Schlüsse folgen aus dieser Setzung (und bei Nietzsche ist es auch Setzung) des Willens zur Macht als Wesen der Welt. Ist Wille zur Macht das einzige Faktum dieser Welt, dann ist Wille zur Macht auch das einzige Kriterium zur Fixierung der Rangordnung der Menschen. Der Mensch mit dem höchsten Willen zur Macht - der Mensch, in dem der Wille die höchste Macht will - wäre also der höchste Mensch. Damit ist schon jedweder Egalitarismus-

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gedanke bei Nietzsche ausgeschlossen. Aber wie erkennt man den höchsten Menschen? Man kann es nur, wenn man weiß, was der höchste Grad des Willens zur Macht ist. Die Erlangung von Macht als äußerer Machtentfaltung kann nicht das Erkennungsmerkmal sein - „die Macht verdummt". (GD „Was den Deutschen abgeht" 1) Der höchste Mensch könnte schon eher der freie Geist, der dionysische Philosoph der Zukunft oder gar der Übermensch sein. Aber den Geist an sich als Kriterium der Macht zu setzen, erweist sich als unbegründbar. Die, die der Sklavenmoral zur Vorherrschaft verhalfen, sind nach Nietzsches Einschätzung mittels ihrer „Klugheit" zum Sieg gekommen. Die höchsten Menschen werden sicherlich notwendig erkennende Menschen sein, aber der Satz läßt sich nicht in die Form umkehren: Die erkennenden Menschen werden notwendig die höchsten Menschen sein. Es ist nicht bloßer Widerspruch, wenn Nietzsche einerseits sagt, daß der Wert der Erkenntnis nicht erwiesen, andererseits aber, daß die Stärke eines Geistes seine Fähigkeit zum Aushalten der nihilistischen Erkenntnis der Wahrheit sei. Morgan erkannte auch hier, daß der höchste Mensch zugleich der geistigste sein müsse. Um dies zu begründen, mußte er aber den immanenten Bereich des Machtwillens verlassen. Durch das Setzen eines apriorischen Wertes, nämlich des Wertes der Selbstüberwindung, versuchte Morgan, höchsten Machtgrad und höchste geistige Potenz miteinander zu vereinen. Das Erleben der Macht und des Machtzuwachses in der Überwindung eines Widerstandes bedeute not only that the most spiritual or intellectual man - other things being equal - is most valuable, but also that he is strongest. Therefore he [Nietzsche] makes „spiritualization" or „sublimation" part of the power standard. What are his reasons for including „spiritalization" in the meaning of power? One of them is that if power is measured by resistance overcome, the most spiritual man is strongest because he surmounts the greatest difficulties. ... [this is] ... also confirmed by Nietzsche's belief that the most intellectual are able to lead the hardest life - one of spiritual independence and adventure - and to do the most difficult thing: create new values. (128)

Die herausragende Bedeutung der Sublimierung der Triebe bei Nietzsche kann nicht bestritten werden. Man muß Morgan zustimmen, daß für Nietzsche „the highest things in human culture - religion, philosophy, art - are sublimations of such passions as cruelty and lust". (99) Auch daß die harmonische Organisation der Triebe wiederholt bei Nietzsche als Charakteristikum des höheren Menschen begegnet, trat klar in Morgans Schilderung hervor: Given the self as a group of urges, the attainment of a measure of unity amid their natural conflict becomes a problem analogous to that of the unity of the biological organism, and Nietzsche's solution is essentially the same. He considers integration an achievement, not a datum; an exception, not the rule. (102)

Morgan durfte damit auch Rechte als Entdecker für sich beanspruchen, denn als erster unter amerikanischen Philosophen (es soll nicht vergessen werden, daß ein

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Essayist wie Randolph Boure beispielsweise diese Erkenntnis auch teilte) wies er auf die Funktion der Sublimierung in Nietzsches Denken hin. Die Selbstüberwindung an sich, jedoch, setzt Nietzsche nicht als höchsten Wert. Die Selbstüberwindung ist erstens das Mittel des höheren Machtwillens, die Potenzierung seiner Macht effektiver zu realisieren. Auch läßt sich einwenden, daß die Setzung der Selbstüberwindung als Ziel die Frage aufwirft, was dabei überwunden wird und von wem (ein Gedanke Klages')? Ist die Welt Wille zur Macht, so ist auch der Mensch Wille zur Macht, und derselbe monistische Wille kann sich selbst nur schwerlich überwinden. Ohne einen weiteren Zweck kommt diese Theorie nicht aus. Es bleibt die überaus wichtige Frage nach dem höchsten Willen zur Macht unbeantwortet, ohne dessen Definition die Rangordnung nicht verstanden werden kann. Die sonstigen Errungenschaften von What Nietzsche Means dürfen aber auch nicht aus dem Blick geraten. Angesichts dessen, was Morgan in seiner Nietzsche-Deutung zur Klärung führte, ist es umso überraschender, daß ihm keine synthetische Interpretation des Übermenschlichen gelungen ist. Die Funktionsweise des Intellektes beispielsweise als eines Aneignungs-, Vereinfachungs- und Assimilierungsinstrumentes wurde hier zum ersten Mal in der amerikanischen Forschung ausführlich behandelt: Nietzsche observes that man's conscious thinking shares the functions of all organic existence - interpretation, assimilation, elimination. ... The primary, fiction-producing impulse was always the tendency to treat things as the same, for purposes of assimilation; but in the struggle for survival it was countered by an increasing sensitivity to difference, fostered by disastrous experiences. Higher forms combined greater responsiveness with greater self-control, yielding a more subtle adaptation to environment. (245)

Auch die seinsphilosophischen Aspekte des Nietzscheschen Denkens wurden hier erstmalig gestreift. Das Werden (im Gegensatz zum statischen „Sein") als eigentlicher Charakter der Welt kam bei Morgan zur Geltung ebenso wie die Erkenntnis des Immoralismus als einer seinsphilosophischen Haltung. Nietzsches „Perspektivismus" erschien hier nicht wie üblich als billige Lizenz zum absoluten Werterelativismus und damit zur Aussetzung aller Selbstkontrollen des Invididuums, sondern als Versuch, den die Welt fälschenden Charakter der Erkenntnis als moralische Wertung zu verstehen. Jede Perspektive sei für Nietzsche a valuation - magnifying what is „nearest" to us - for the sake of living; the test of a perspective is our ability to live with it; and valuation expresses power: our perspectives are functions of our degree of power. (260)

Damit legte Morgan auch den Grundstein für seine Interpretation des Willens zur Macht als des alles leitenden Fundamentalgedankens der Nietzscheschen Philosophie. Hierin besteht ja auch die eigentliche Leistung der Morganschen Monographie: Das Konzept „Wille zur Macht" wurde endlich als Weltdeutungsversuch aner-

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kannt. Morgan betrat damit einen neuen Weg in der Nietzsche-Rezeption. Als vorbereitendes Moment bleibt seine Monographie von ungeheurer und leider meist unerkannter Wichtigkeit. Stellt man diese Arbeit der von Crane Brinton zur Seite, die ja im selben Jahr erschien, dann wird die Gewichtigkeit dieser Interpretation noch evidenter. Es wirft auch ein etwas anderes Licht auf das Werk Walter Kaufmanns, das oft als erste ernsthaft philosophische Nietzsche-Monographie der amerikanischen Tradition apostrophiert wird. Zweifellos erreichte Morgans What Nietzsche Means seine Leserschaft einfach entweder zu spät oder zu früh - im Tumult der Kriegsatmosphäre der 40er Jahre verschwand die Studie beinah, während Brintons kriegshetzerischer Diffamierung relativ günstige Rezeption beschieden war. Es wäre also durchaus ein wichtiges Korrektiv der amerikanischen Nietzsche-Rezeption, wenn Morgans Werk endlich Anerkennung fände. Den Weg aus dem Labyrinth der Nietzscheschen Philosophie fand Morgan nicht, aber daß und wo dieses Labyrinth vorhanden ist, sah er zuerst: The world of our acquaintance thus ceases to be a thin veil of illusion between mind and ultimate Being; it takes on depth and becomes indeed a „labyrinth" for endless exploration." (258)

V.2.h Walter Kaufmann, „Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist" (1950) Walter Kaufmann hat gewiß nicht das letzte Wort über die Philosophie Nietzsches gehabt. Dennoch kommt seiner Nietzsche-Monographie als bedeutendster amerikanischer Interpretation in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts (vielleicht auch der zweiten) außerordentlich große Bedeutung zu, und so ist es richtig, daß eine Epochenbetrachtung der amerikanischen Nietzsche-Rezeption mit diesem Werk schließt. Allein die Wirkung dieses Buches schon weist es als Schlüsselstudie der amerikanischen Forschung aus. Ob Zustimmung oder Ablehnung äußernd, kann kein amerikanischer Interpret (und manch ein nicht-amerikanischer) nach Kaufmann - möge er Danto, de Mann oder Nehamas heißen - über Nietzsche schreiben, ohne zu Kaufmann auch Stellung zu beziehen. Nicht nur in Anbetracht seiner Übersetzungen ist Kaufmann als Gründungsvater der neueren philosophischen Nietzsche-Rezeption in Amerika auf einen sehr hohen Sockel gehoben worden. Es gilt ihn hier auch keineswegs von diesem zu stürzen, aber doch die große, unbestrittene Errungenschaft seines Nietzsche-Buches aus 45 Jahren Abstand ein klein wenig skeptisch wie auch würdigend zu betrachten. Diese Interpretation erweckte sofort die Aufmerksamkeit der Fachwelt - das läßt sich auch schon an den frühesten Rezensionen ablesen. Diese Aufmerksamkeit schlug auch oft genug in direkte Wirkung um. So gestand Walter Cerf, Professor am Brooklyn College in New York, daß erst Kaufmanns Nietzsche.

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Philosopher, Psychologist, Antichrist ihn dazu bewogen habe, die gängigen Vorurteile gegen Nietzsche, denen er selbst Glauben geschenkt habe, zu revidieren, und daß er ein größeres Verständnis für Nietzsches Philosophie erst mit Kaufmanns Hilfe erlangt habe: I have shared the generally accepted ideas about Nietzsche without bothering to w i n n o w the chaff from the wheat, thus helping to spread gossip about his work. I am now convinced, or almost s o . that the Nietzsche w h o m Mr. Kaufmann discovered c o m e s closer to the true Nietzsche than the various images and idols which, accepted by layman and professional alike, have blocked a fuller comprehension of N i e t z s c h e ' s thought. 7 6

Walter Watson von der University of Chicago erkannte, daß Kaufmanns Studie auch von internationaler Bedeutung für die Nietzsche-Forschung sein würde: „Of the thousand or so books on Nietzsche, this is among the most important"; 77 James Gutmann von der Columbia University hielt das Buch für der JaspersMonographie ebenbürtig, 78 und ein anonymer Rezensent riet: „His [Kaufmanns] book is to be warmly commended as the most thorough and the most reliable book in English on this erratic genius" ,79 Auch für die deutsche Nietzsche-Forschung war es keineswegs belanglos, daß ein emigrierter Deutscher jüdischen Hintergrundes, nun Gelehrter an der berühmten Princeton University, die einst Thomas Mann beherbergte, ein 500-seitiges Werk über ausgerechnet den Philosophen verfaßte, auf den der lange Schatten der Nazi-Zeit noch fiel. Mehr noch, Kaufmann gelang es mit philosophischer und philologischer Akkuratesse, Nietzsche aus diesem Schatten in das Licht einer hellen Dialektik hinüberzuretten. Gerade diese aufklärerische Helle stellte aber auch das fast Traditionelle an dieser Interpretation dar, die Nietzsches Philosophie damit ihre „Gefährlichkeit" nehmen wollte. Von vornherein bezeugte Kaufmann die Absicht „to buck the current prejudice against Nietzsche". 80 Rückblickend schrieb er im Vorwort zur vierten Ausgabe (auch diese Zahl ein „statistisches" Indiz seiner Wirkung) von 1974:

16

Walter Cerf, Rezension von Walter Kaufmann: „Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist", Philosophy and Phenomenological Research, XII (September 1951-June 1952), S. 287. 77 Walter Watson. Rezension von Walter Kaufmann: „Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist", Ethics. Α/ι International Journal of Social, Political, and Legal Philosophy, LXI (19501951), S. 231. ™ James Gutmann, Rezension von Walter Kaufmann: „Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist", The Journal of Philosophy, XLVIII (September 27, 1951), S. 645. 79 Anonymus, Rezension von Walter Kaufmann: „Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist", The Philosophical Quarterly, 3 (1953), S. 96. "" Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, New Jersey, 1950; hier nach der vierten Ausgabe von 1974 zitiert.), S. xi (hiernach im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert).

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When I began to work on Nietzsche, he was in eclipse both in his native Germany and in the English-speaking world, and it seemed needful to dissociate him from the Nazis and to show that he had been a great philosopher. 8 '

Der Wille, einen salonfähigen Nietzsche zu präsentieren, verband Kaufmann mit zahlreichen anderen Interpreten der amerikanischen Tradition, wie sich schon mehrmals gezeigt hat. Ebenfalls „traditionell" war Kaufmanns Fixierung auf den Übermenschen als anstrebbare Idealform des Lebens. Der Kern der Kaufmannschen Interpretation erwuchs aus der Frage nach der Identität des Übermenschen oder des freien Geistes, bzw. höchsten Menschen. Zur Abrundung der gewollten Ansehnlichkeit seines Bildes vom Übermensch-Ideal mußte Kaufmann auch gelengtlich den einen oder anderen hinter dieser Idee lauernden Abgrund überspringen, was ebenfalls kein neuer Kurs in der amerikanischen Rezeption war. Gleichzeitig brach Kaufmann aber in ganz neue Richtungen auf, die in der Zeit vor 1950 nicht oder kaum präsent waren. Zum einen las er Nietzsche als einen Denker, der aus der Philosophiegeschichte nicht herausfällt, sondern diese vollendet. Als erster sah er sogar Verbindungen zwischen der Philosophie Hegels und der Nietzsches, die ihm überdies noch wichtiger erschienen als die seit jeher beschworenen Anlehnungen an Schopenhauer: Nietzsche is here assigned a place in the grand tradition of Western thought and envisaged against the background of Socrates and Plato, Luther and Rousseau, Kant and Hegel - not, as has often beeen done, as Schopenhauer's wayward disciple or a lone epigone of the pre-Socratics. (xiii)

Zum anderen entwickelte er ein Bild der Nietzscheschen Philosophie als eines gewachsenen Ganzen, als eines Stein für Stein errichteten Hauses des Denkens, welches nach dem Plan eines einzigen Konzeptes erbaut wurde: des Willens zur Macht. Entschiedener noch als Morgan erkannte Kaufmann den Willen zur Macht als philosophischen Grundgedanken der gesamten Philosophie Nietzsches, und diese These stellte er seiner Interpretation als erste voran: „It is the contention of the present book that the will to power is the core of Nietzsche's thought". (xiv) Dies vorausgeschickt, kann man nun beginnen, die Entfaltung dieses zentralen Arguments bei Kaufmann zu verfolgen. Wichtig ist zunächst, daß Kaufmann die Entwicklung von Nietzsches Philosophie als dialektischen Prozeß ansah. Diese Annahme diente ihm einerseits als Systemprinzip - was für Kaufmann aber nicht bedeutete, daß Nietzsche Systemdenker sei, sondern, daß Nietzsche keineswegs nur Bruchstücke einer möglichen Philosophie hinterlassen habe, welche die Beseitigung von internen Aporien oder Selbswidersprüchen unmöglich machten. Nietzsches Denken galt ihm als „systematisch" im Sinne einer konsequenten organischen Entwicklung:

Walter Kaufmann, „Preface to the Fourth Edition (1974)", Nietzsche, op. cit., S. iii.

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It is difficult to find any satisfactory alternative to the systematic approach which fails us in this c a s e .

N o half systematic anthology o f sundry o p i n i o n s c a n tell us „what

N i e t z s c h e m e a n s " ... w e cannot understand N i e t z s c h e if w e deliberately ignore the thought p r o c e s s e s by which „he c a m e to think as he did." (76)

Dieser prozessuale Interpretationsansatz bedeutete für Kaufmann aber andererseits, daß man Nietzsches Philosophie als einen über lange Jahre entwickelten Versuch, einen einzigen Widerspruch zu überwinden, lesen müsse. Nietzsches frühes Denken stelle das Verfahren dar, wie Nietzsche diesen Zweispalt entdeckte, der es später aufzulösen galt. Dieser von Kaufmann identifizierte Zwiespalt ist, ohne daß er ihn direkt so benannte, 82 als ontologischer Konflikt erkennbar. Dahinter verbirgt sich auch eine große interpretatorische Neuerung der Lesart Kaufmanns - Nietzsche wurde hier nur sekundär, wenn nicht sogar bloß peripher, als sozialer oder politischer Philosoph ausgelegt: „He was not primarily a social or political philosopher, his .influence' and Bäumler's caricature of him as Politiker notwithstanding". (123) Wenn also kein politischer Philosoph, als der Nietzsche in der amerikanischen Rezeption immer wieder dargestellt wurde, was ist er dann? Kaufmanns Antwort lautete: „Nietzsche was a dialectical monist". (235) Zunächst zum Dialektiker Nietzsche: Der Verbindung zu Hegel entspringt hier die erste Hälfte dieses Doppelbegriffs. Mit etwas fragwürdiger Logik gelangte Kaufmann sogar zu dem Schluß: „Nietzsche and Hegel were both primarily concerned about the realm of Absolute Spirit, i.e., art, religion, and philosophy". (123) In erster Linie ging es Kaufmann aber nicht um die Spekulation über einen absoluten Geist in Nietzsches Werk, sondern um die rückwärts fragende Bewegung der Dialektik, welche versucht, möglichst ohne Hinzunahme apriorischer Prinzipien alle Prämissen des Denkens immanent zu durchleuchten, und welche die „festen" Überzeugungen der Philosophen durch die Aufdeckung eines internen Widerspruchs verwirft. Es ist also vielmehr die Destruierung absoluter oder dogmatischer Argumente und Grundsätze der Geistphilosophie und der Ontologie, welche Nietzsche nach Meinung Kaufmanns mit Hegel gemein haben soll. 83 Das ist gewiß ein Grundzug des Nietzscheschen Perspektivismus, diese

"2

Es ist eine Schwäche der Kaufmannschen Interpretation, daß dort behauptet wird, der Wille zur Macht sein kein metaphysischer Gedanke: „His own conception of the will to power is not .metaphysical' either in Heidegger's sense or in the positivists'; it is first and foremost the key concept of a psychological hypothesis." (Walter Kaufmann, Nietzsche, S. 204.) Diese These ist innerhalb der von Kaufmann vorgebrachten Interpretation als inkonsequent zu betrachten, da gleichzeitig eingeräumt wird, daß Nietzsche den Willen zur Macht als Grundtatsache der Physis, deren Erscheinung auch der Mensch ist, erkennt. Hierfür reicht eine rein psychologische Erklärung des Phänomens Wille zur Macht nicht aus.

83

Man merkt, daß hiermit - wohl ohne Kaufmanns Absicht - den dekonstruktivistischen Interpretationen der Philosophie Nietzsches auch Vorschub geleistet wurde. Auch dies ist ein weiterer moderner Aspekt der Kaufmannschen Position in der amerikanischen Rezeptionsgeschichte.

Philosophische Rezeption

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Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen; Zauber der entgegengesetzten Denkweise; sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen. (KSA ΧΠ 2[155])

Es sei hier auch nur kurz vorweggenommen, daß diese Abneigung schließlich in Nietzsches Ansicht von der „[u]nendliche[n] Ausdeutbarkeit der Welt" (KSA XII 2[117]) gipfelt. Für Kaufmann bedeutete diese Art des Denkens bei Nietzsche auch die Möglichkeit, den Bogen bis hin zu Sokrates zurückzuspannen: Nietzsche was more consistently „dialectical" - or to avoid any misunderstanding, he was, like Socrates, a far more rigorous questioner and by no means prepared to admit that the systems of the past are overwhelmingly true. He doubted that the truth was to be found in „things past and and books." These had to be subjected to scrutiny no less than any other opinions. All assumptions had to be questioned. (84)

Es sei auch just diese Dialektik, die Nietzsche zur Erkenntnis des Zwiespaltes in seiner frühen Philosophie geführt habe: „the philosophy of his youth was marked by a cleft which all but broke it in two". (178) Um welchen Zwiespalt es sich genau handelt, kann nun zur Sprache kommen. Anders als jeder amerikanische Interpret vor ihm setzte sich Kaufmann mit dem gesamten Werk Nietzsches auseinander. Auch den Schriften der sogenannten „ersten und mittleren Phasen" wendete er sich zu, um seine Interpretation auch zu einer erschöpfenden Gesamtdarstellung zu machen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, „Schopenhauer als Erzieher", die seiner Meinung nach „nothing less than the consummation of Nietzsche's early philosophy" (157) darstelle. Es fügte sich sehr gut in Kaufmanns Rehabilitierungsprojekt, daß Nietzsche in dieser Schrift die Überzeugung äußert, der Philosoph und der Künstler seien die höchsten Formen der Menschheit und der Natur. Diese Überzeugung sei aber gleichzeitig gerade auch die Quelle des oben erwähnten Widerspruches. Daß der Philosoph und der Künster im Vergleich zur Masse so selten in der Weltgeschichte auftreten, bedeutet für Nietzsche, daß sie „Beweise gegen die Zweckmässigkeit der Natur in ihren Mitteln" seien, da die Natur „durch die Erzeugung des Philosophen und des Künstlers das Dasein deutsam und bedeutsam machen" wolle. (SE 7) Die Natur zeigt sich Nietzsche schon früh als letzte Grundtatsache des Seins, da er im Laufe seiner „Dialektik" die Möglichkeit einer metaphysischen „Hinterwelt" abstreitet. Die Mittel der „verschwenderischen" Grundtatsache Natur seien nicht zweckmässig, aber ein Zweck scheint hier dennoch evident zu sein: die Hervorbringung einer höheren Art Mensch. In dieser frühen Schrift scheint Nietzsche sogar noch die Ansicht zu vertreten, es sei für den Einzelnen möglich, dieses höhere Sein zielstrebig zu erlangen: Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: „sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst." (SE 1)

Philosophische Rezeption

286

Selbige Betrachtungen, insbesondere „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben", enthalten aber wortgewaltige Polemiken gegen Hegel und dessen Vorstellungen vom Prozeß und Ziel des Weltgeistes. Das bemerkte Kaufmann auch: Nietzsche explicitly disagrees with the optimism of the contemporary Hegelians and Darwinists. Empirical facts do not seem to him to warrant the belief that history is a story of progress, that ever greater values are developed, and that whatever is later in the evolutionary scale is also eo ipso more valuable. (149)

Was ist aber das Postulat vom Zweck der Natur, wenn nicht ein apriorischer Grundsatz oder der Rekurs auf Traszendentes? Eine solche teleologische Ansicht der Natur ist innerhalb des immanent suchenden, doch dialektischen Denkens Nietzsches nicht widerspruchsfrei. Man müßte auch zum Nachweis eines solchen telos zunächst wissen, was „Natur" oder „Welt" überhaupt sei. Ist das aber nicht erkennbar, so läßt sich auch kein Ziel für den Menschen aufstellen. Diese Unhaltbarkeit kommt später an mehreren Stellen zum vollen Ausbruch, an denen verschiedene Abwandlungen eines Gedankens zu lesen sind: Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein „Ideal von Vollkommenheit" oder ein „Ideal von Glück" oder ein „Ideal von Tugend" zu erreichen [...] Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. (KSΑ ΧΙΠ 15 [30])

Dennoch rückt Nietzsche zu keiner Zeit von der Überzeugung ab, daß es höchste Menschen gibt, und daß diese höchsten zugleich die geistigsten sind. Das gibt, wie Kaufmann es ausdrückte, Nietzsche ein „value problem" auf, denn ohne Kenntnis der Bedeutung von „Natur" (wenn sie nun doch keine Emanation des Weltgeistes, noch das Uhrwerk der Mechanisten sein soll) als letzter Wahrheit kann Nietzsche keinen Maßstab setzen, vermöge dessen „höhere" Menschen als solche identifiziert werden könnten: „The point at which Nietzsche's early attempt to solve his value problem finally breaks down is this: how can he determine what specimens are the most valuable?" (174) Der Konflikt wurde ja von Morgan schon beschrieben: Warum soll die Beschaffenheit seines Geistes den „Rang" eines Menschen angeben (wenn sie das tatsächlich tut)? Die Natur, ja die Welt werde bei Nietzsche später Wille zur Macht heißen, aber zuerst sei, Kaufmann zufolge, die ganze Ausdehnung dieses Begriffes für Nietzsche selbst noch nicht klar gewesen. Der Gedanke erscheint, notierte Kaufmann, bereits als Vorform im Nachlaß der späten 70er Jahre, müsse aber da noch von Nietzsche ausgearbeitet werden: The phrase „will to power" makes its first appearance in the notes o f the late eighteenseventies, not as the basic force of a monistic metaphysics but as one of two cardinal psychological phenomena:

„Fear (negative) and will to power (positive) explain our

strong consideration for the opinions of men". [KSA VIII 23(63)]

This is but a

variation of a theme struck earlier at the beginning of the third Meditation.

(179)

Philosophische Rezeption

287

Damit ist auch signalisiert, warum Kaufmann von Nietzsche als einem „dialektischen Monisten" sprach. Wenn die Dialektik die Methode Nietzsches gewesen sein soll, so bezeichnet der Begriff Monismus die Totalität des Prinzips des Willens zur Macht, das als Grundtatsache aller Wirklichkeit von Nietzsche gesetzt werde. Komplett durchdacht habe Nietzsche das Konzept des Willens zur Macht jedoch zu dieser Zeit (Ende 1876-Sommer 1877) noch nicht. Zunächst sei sogar auch dieser Gedanke durch eine Spaltung zerrissen. Anfänglich habe es in Nietzsches Denken, so Kaufmann, zwei Formen der Macht gegeben - die eine geistig, innerlich, positiv; die andere materiell, äußerlich, negativ. Dabei bezog sich Kaufmann u.a. auf die imperative Frage, die am Ende von „Richard Wagner in Bayreuth" formuliert wird: „Wer von euch will auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, dass die Macht böse ist?" (WB 11) In der oben von Kaufmann angeführten Nachlaßstelle war der Wille zur Macht als das Positive charakterisiert worden, der aber offenbar nicht mit dem hier (WB II) bezeichneten Machtbestreben identisch ist. Wenn es eine Machtform gebe, auf die zu verzichten sich lohne, dann müsse dies, so Kaufmann, die äußere, weltliche Macht sein: Power here must evidently mean „worldly power".... If this interpretation is correct, one should expect that Nietzsche scorned power, so understood, in his early period; and this expectation is fully borne out by the facts. ... [A]t the end of the Meditation on Wagner he inquires: „Who of you will renounce power, knowing and experiencing that power is evil?" (180)

Die Unterscheidung von zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der Macht führe aber zu einer Dichotomie, welche von der monistischen Dialektik negiert werden müsse. Man erinnere sich daran, daß Nietzsches Denken später dahin geht, alle Gegensätze schlechthin aufzuheben. Mit dieser Aufspaltung der Macht in eine erstrebenswerte und eine verwerfliche Form (was ja ein Beispiel der „Übersetzung der Moral in's Metaphysische" [EH „Warum ich ein Schicksal bin" 3] ist), sei Nietzsche, so Kaufmann, wieder dort angelangt, wo er am Anfang gestanden habe - beim Widerspruch: „Nietzsche's problem is still the same as ever: he distinguishes between power and true power". (202) Morgan versuchte ja, diesen Konflikt der geistigen Begründung der MachtRangordnung zu lösen, indem er die Selbstüberwindung als Maßstab und Ziel des Willens zur Macht setzte. Kaufmann würdigte durchaus Morgans Behandlung dieses bislang vernachlässigten Prinzips der Selbstüberwindung, beharrte aber zu Recht auf seinem Standpunkt, daß eine solche Selbstüberwindung die Rangordnung keineswegs begründen könne. Erstens dränge sich die Frage auf: Warum Überwindung? Sicherlich könne man mittels der Sublimierung und Überwindung über das Chaos seiner Triebe Herr werden, ohne die Physis zu kasteien: Our impulses are in a state of chaos. We would do this now, and another thing the next moment. ... No man can live without bringing some order into this chaos. This may be done by throroughly weakening the whole organism or by repudiating and

288

Philosophische Rezeption repressing many of the impulses:

the physis

but the result in that c a s e is not a „harmony," and

is castrated, not „improved."

Yet there is another way - namely, to „or-

ganize the chaos": sublimation allows for the achievement o f an organic harmony and leads to that culture which is truly a „ t r a n s f i g u r e d p h y s i s . " (227)

Damit werde allerdings nur ausgedrückt, daß ein bestimmter Typus Mensch zur Sublimierung und Selbstüberwindung fähig sei und darin seine besten Lebensbedingungen, also die Seinsweise, in der sein Wille am besten gedeihe, finde. Warum ein solcher Mensch zu den höchsten gehören sollte, sei aber damit keineswegs gesagt. Kaufmanns zweiter Einwand betraf die Dichotomie selbst. Implizit in einer solchen Idee der Überwindung seien zwei Kräfte: die niedere dynamis der Instinkte und die höhere dominatio des Geistes. Auch dies gleiche aber einer Spaltung, die sich als künstlich erweisen müsse: the simile o f o v e r c o m i n g ... implies the presence o f two forces, o n e o f which overc o m e s the other.

„Self-overcoming" is conceivable and meaningful w h e n the s e l f is

analyzed into two forces, such as reason and the inclinations.

Apart from s u c h a

duality, apart from the picture of one force as o v e r c o m i n g and controlling another, s e l f - o v e r c o m i n g s e e m s impossible. (215)

Diese Anzweiflungen waren aber gleichzeitig methodisch gemeint. Kaufmann versuchte nachzuzeichnen, wie Nietzsche zu der Schlußfolgerung kommen konnte, daß die Selbstüberwindung doch die Seinsweise der höchsten Menschen sei. Für Nietzsche ließen sich so grundlegende Bedenken nur beseitigen, wenn diese Dualismen sich auflösten. Wenn also Trieb und Geist, Kraft und Verstand, Natur und Macht als eins gedacht werden könnten, dann befände man sich in einem geschlossenen, immanenten System, das sein eigener Maßstab wäre. Sobald Nietzsche klar geworden sei, daß Welt und Wille zur Macht eine Identität verkörperten, sei der Widerspruch aufgehoben gewesen:84 Instead o f assuming two qualitatively different principles, such as strength and reason, he would reduce both to a single, more fundamental force:

the will to p o w e r .

And

the distinction of brawn and brains he would explain in terms of a quantitative difference b e t w e e n d e g r e e s of power. (202)

Wenn der Wille zur Macht (als Welt) eine ganze, unendliche Stufenleiter von Potenzen (parallel zu den Stufen der Scheinbarkeit der „Wahrheit") kenne, dann sei die Errichtung einer Rangordnung ohne Bezug auf transzendente Kriterien möglich. Der Standard höherer Werte darf in der Tat für den Dialektiker Nietz-

M

An einer Stelle verglich Kaufmann Nietzsches Konzept der Sublimierung sogar direkt mit der Hegeischen Aufhebung: „Each of the two men [Hegel und Nietzsche] found a single word that epitomizes his entire dialectic; and the two words, though not identical, have literally the same meaning and can be analyzed into the same three distinct connotations. ... Hegel's ,auftteben'... Nietzsche's .sublimeren'". (Walter Kaufmann, Nietzsche, op. cit., S. 236)

Philosophische Rezeption

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sehe nichts sein, was außerhalb der Welt liegt. Die Welt sei Wille zur Macht, also müsse nach Kaufmann Macht das Gute sein, das in Form des höchsten Gutes den höchsten Machtgrad darstelle: „he [Nietzsche] would now posit a quantitative scale and consider .true' power as simply more power". (202) Damit ist aber die Interpretation des Nietzscheschen Denkens nicht an einem Endziel angekommen. Es stellt sich die durchaus wichtigere und schwierigere Frage nach der Identität des höchsten Grades der Macht. Kaufmann versuchte, eine Antwort auf diese Frage ex negative zu folgern. Er überlegte zunächst, was für Nietzsche die Schwachen als „schwach" identifiziere. Auch hierin unterschied sich Kaufmann von seinen Vorgängern, denn er konzentrierte sich nicht auf das Ressentiment als Wesensmerkmal des schwachen Menschen. Die bisherige, fast ausschließlich moralische Interpretation Nietzsches zwang viele Leser zu dieser Konzentration, aber das Ressentiment ist nur Ausdruck des geschwächten Willens des „Schlechtweggekommenen". Das Wesen dieses schwachen Willens ist sein Was-sein, das Ressentiment nur sein So-sein. Das Ressentiment als Akzidens einer untergründigen Essenz deute, so Kaufmann, auf eine viel grundlegendere Eigenschaft hin: Der schwache Mensch definiere sich immer in Relation zu anderen bzw. zu den Wertsystemen anderer. Auch die Mitleidsmoral erweise sich als Reaktion auf die aktive Moral der Starken. Der schwache Mensch sei im Grunde seines Wesens eine abhängige Lebensfern! - deswegen bedürfe er fester Überzeugungen und transzendenter Werte, die ihn den bedrohlichen Kraftanstrengungen der Dialektik entziehen: Nietzsche assumed that only the weak need to rely on the rules of others. Man, being unique by nature, should be able to generate his own standards, if only he were powerful enough. ... Nietzsche's polemics against Philistine morality and against Christian ethics are, at least in part, mere corolaries of his belief that all established codes must ever be transcended by men who are creative. (250)

Der Gegensatz zur sklavischen Abhängigkeit gegenüber dogmatischen Wahrheiten und Werten zeigt sich im freien Geist, der das größte Wagnis auf sich nimmt! äßfl Afe§§hied von allen festen Überzeugungen. Es ist dies wieder der „sublime Hang" des Geistes, der den Willen gefährdet. Der freie Geist „par excellence" macht keinen Gebrauch mehr von der „Gewissheit": Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er „gläubig"; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence. (FW 347)

Der freie Geist hat also eine Lust und Kraft der „Selbstbestimmung", welche eine „Freiheit" des Willens wäre. Der schwache Mensch ist auf jeden Fall fremdbestimmt. Also, hier Abhängigkeit, dort Unabhängigkeit? Über die Unabhängigkeit sagt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse:

Philosophische Rezeption

290

Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: - e s ist ein Vorrecht der Starken. Und w e r e s versucht, auch mit d e m besten Rechte dazu, aber ohne e s zu

müssen,

beweist damit, dass er wahrscheinlich nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit v e r w e g e n ist.

Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfaltigt die Gefahren,

w e l c h e das Leben an sich schon mit sich bringt (JGB 2 9 ) .

Die höhere Macht, schloß Kaufmann, bestehe in der Fähigkeit, alle festen Glaubenssätze (als da auch die Prinzipien der Vernunft sind) durch die Dialektik des freien Geistes auflösen zu können, ohne daran zugrundezugehen: Nietzsche, the philosopher, considered philosophy „the most spiritual will to power" (JGB 9) and proposed to measure p o w e r and weakness in terms of man's willingness to subject e v e n his most cherished beliefs to the rigors o f rationality. (232)

Dazu finde sich nach Kaufmann nur der geistigste Mensch in der Lage. Der höchste Machtgrad sei die höchste Freiheit, die wiederum als moralische und intellektuelle Freiheit in Form der geistigen Autarkie erkennbar sei.85 Der geistig autarke Mensch müsse keine Knechtschaft dulden, weil er an keinen Glauben mehr verfallen sei. Kein Außerhalb seiner Selbst müsse er dulden, weil er in sich allein selbstgenügend sei. Der Wille zur Macht würde demnach zur Autarkie als höchster Form seiner Befriedigung hin streben - damit freilich auch zur gefahrlichsten Form, weil der Mensch dann keinen festen Boden mehr unter den Füßen hätte, da er dem Sein dessen „änigmatischen Charakter" nicht mehr nehmen wollte. Indem er den Grundtrieb des Willens zur Macht als Verlangen nach Freiheit oder Autarkie deutete, rückte Kaufmann Nietzsche noch näher in die Verwandtschaft mit dem deutschen Idealismus. Und hierin sah Kaufmann tatsächlich die größte Ähnlichkeit zwischen Nietzsche und Hegel: P o w e r is enjoyed only as more power. the o v e r c o m i n g of impotence.

One enjoys not its possession but its increase:

Since impotence is the equivalent of d e p e n d e n c e , o n e

might say that the achievement of independence is the source of pleasure. ... E v e n closer is [now] the relation of the will to p o w e r to H e g e l ' s notion of spirit, which w a s c o n c e i v e d as essentially a striving or freedom. ... Of all these sundry manifestations of the will to power, Nietzsche probably approved only of the striving for f r e e d o m .

(186) Eine so überzeugende Interpretation hat es in der Geschichte der amerikanischen Nietzsche-Rezeption noch nie gegeben - überzeugend, weil komplett, in sich geschlossen, immanent. Den Hegel-Vergleich kann man auch weiter ausspinnen, um zu erklären, warum der höchste Mensch die Macht als äußere Herrschaft über andere verabscheuen müßte, denn seit den Ausführungen über

"5

Wie früh dieser Gedanke bei Nietzsche bereits auftaucht, ersieht man an der auch von Kaufmann angeführten Nachlaßstelle vom Sommer 1877, wo es weiter heißt: „Lust an der Macht. - Die Lust an der Macht erklärt sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht." (KSA VIII 23 [63])

Philosophische R e z e p t i o n

291

Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes weiß man, daß der Herr sich eigentlich in die Abhängigkeit gegen seinen Knecht begibt. Der Herr braucht die Arbeit des Knechtes, ohne die er nicht leben kann, während er sich die Anerkennung des Knechtes höchstens zu erzwingen, aber nicht wahrhaft zu verdienen vermag. Nietzsches höchster Mensch will autark, nicht an die Abhängigkeit des Hegeischen Herrn gebunden sein. Ja, führte man Kaufmanns Monismus des Willens zur Macht zu einer letzten hegelschen Konsequenz aus, so könnte man den Willen zur Macht als Korrelat des Weltgeistes sehen. Die Autarkie ist ein Zustand der Bedingungslosigkeit, die sonst auch „absolut" genannt wird. So könnte der Wille zur Macht als allumfassende Monade des Seins gesetzt werden, ohne daß er damit zum transzendenten Prinzip würde, an das der Mensch seine Freiheit verlöre. Der Mensch behielte diese seine Freiheit, denn, obwohl er als Teil der Welt nur Emanation des Willens zur Macht wäre, stellte er gleichzeitig die notwendige Vermittlung des Willens zur Macht in der Welt dar. Ohne die Welt und den Menschen könnte der Wille zur Macht nicht existieren. Die Versuchung, sich dieser Ansicht anzuschließen, ist groß. Aber kann der Mensch für Nietzsche in einer absoluten Freiheit oder einem absoluten Willen zur Macht aufgehen? Das Absolute ist zweifellos das Unbedingte, aber Nietzsche mahnt: „der Sklave nämlich will Unbedingtes". (JGB 46) Nietzsche ist ein skeptischer Perspektivist, der dauernd seinen Standpunkt wechselt, um das Ganze des Seins zu erfassen - nur das kann z.B. der Sinn der sogenannten „Widersprüche" seiner Philosophie sein. Im Kontext dieses Perspektivismus erscheint auch die Freiheit als vielseitig beleuchtetes Phänomen. Schon früh spricht Nietzsche vom „Zug zur Freiheit", der den freien Geist auszeichne: Wohl aber dürften wir uns „freizügige Geister" in allem Ernste (und ohne diesen hochoder grossmüthigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen, und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellecten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum sehen, - um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen. (VM 211)

Aber es gibt in seinem Denken als entgegengesetzte Ergänzung auch eine andere Sicht der geistigen „Unabhängigkeit": Unabhängigkeit (in ihrer schwächsten Dosis „Gedankenfreiheit" benannt) ist die Form der Entsagung, welche der Herrschsüchtige endlich annimmt, - er, der lange Das gesucht hat, was er beherrschen könnte, und Nichts gefunden hat, als sich selber. (M 242)

Der Interpret sollte sich bemühen, mindestens soviel Skepsis gegen diese Gedanken aufzubringen, wie Nietzsche selbst tut. Geht man also zum oben als erstem zitierten Passus aus „Vermischte Meinungen und Sprüche" zurück, so fallt nun auf, daß Nietzsche nicht von „freien" Geistern, sondern nur „freizügigen" spricht. Außerdem nennt er den Zug zur Freiheit einen „Trieb des Geistes", was nicht dasselbe wie ein (oder gar der) Trieb des „Willens" ist. Jetzt gehe man

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Philosophische Rezeption

noch weiter zu der Stelle zurück, an der Kaufmann von einer „quantitativen Skala der Macht" (202) sprach. Man muß dagegen einwenden: Nietzsche schreibt nirgends, die Welt sei Macht und nichts außerdem, sondern Wille zur Macht. Der Wille ist die Grundtatsache der Welt, die auch im Menschen ist. Was will der Wille? Er will wollen. Am Anfang und noch einmal am Ende der dritten Abhandlung der Schrift Zur Genealogie der Moral spricht Nietzsche diese Tatsache aus: „eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen". (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 1) Damit strebt der Wille aber kein Ziel (also kein telos) an, weil dieses Wollen mit seinem Wesen identisch ist. Über die freien (nicht bloß freizügigen) Geister heißt es in Jenseits von Gut und Böse, sie seien „bereit zu jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von ,freiem Willen'". (JGB 44) Das hier gemeinte Wagnis ist der Perspektivismus, und der Bereitschaft dazu liegt ein Überschuß an freiem (sprich: starkem) Willen zugrunde. Der Wille will wollen; den Geist benutzt er dazu. Rufen wir in Erinnerung, daß der „Höchste Zustand, den ein Philosoph erreichen kann" (KSA XIII 16[32]) amorfati heißt. Wenn der Wille seinem Wesen gemäß über alles wollen will, dann bestünde seine höchste Erfüllung im höchsten Wollen, als welches sich das Wollen des Ganzen des Seins präsentiert. Mehr als alles kann man nicht wollen. Deswegen ist das dionysische Ja-sagen der Motor der Nietzscheschen Philosophie. Amor fati - könnte der höchste Zustand des Willens nicht so heißen - muß er nicht so heißen? Wer das Ganze des Seins, auch dessen ontologische Bedingung durch das es umgebende Nichts, ohne „Abzug" wollen kann, dem wendet sich alles im Leben zum Vorteil. Für diesen Wollenden ist jede Tatsache der Welt sein Sieg, seine Gabe, seine Freude - die Welt ist förmlich für ihn geschaffen. Die nihilistische Erkenntnis der Transzendenzlosigkeit der Welt (auch „ewige Wiederkehr" genannt) aber ist Prüfstein und Mittel des Willens, zu diesem alles bejahenden Wollen zu finden. An einer Stelle seiner Argumentation stellte Kaufmann fest, die Erfahrung von Lust und Unlust sei nur akzidentell am Streben des höheren Menschen nach Wahrheit. Ist für Nietzsche aber, in diesen metaphysischen Begriffen gesprochen, nicht auch der Geist Akzidens gegenüber der Substanz des Willens? Zweifellos sucht Nietzsche die Wahrheit. Vornehmster Wille und vornehmster Geist gehören also zusammen. Diese Wahrheit erkennen, bedeutet für ihn Perspektivismus, die Gesamterfassung aller möglichen Standpunkte in Hinsicht auf das Sein. Die höchsten Menschen suchen ebenfalls die Wahrheit, sind also geistige Menschen. Dieser Wahrheitswille ist aber als Werkzeug des Willens bei ihnen vorhanden. Der Wille braucht diese perspektivistische Erkenntnis der Wahrheit, um den Zustand des amorfati zu erreichen. Völlig im Recht behauptete Kaufmann, daß Nietzsche in einem Raum reiner Immanenz zu denken versuche. Diese Immanenz ist die Bedingung des amor fati, denn Bejahung ist immanent möglich (eigentlich notwendig), Verneinung aber nicht. In einem geschlossenen und völlig inklusiven System (gedacht im Satz:

Philosophische Rezeption

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„die Welt ist Wille zur Macht und nichts außerdem"), welches keine transzendenten Kompenenten zuläßt, kann der Mensch sagen: „Die Welt ist, also soll sie sein, wie sie ist". Die umgekehrte Aussage: „Die Welt soll nicht sein, wie sie ist" muß sich stets auf ein Transzendentes beziehen (gedacht z.B. als: „die Welt ist Wille zur Macht und außerdem die höchste Realisierung der Macht als absoluter Geist"). Diese geschlossene Immanenz bedeutet aber gleichzeitig, wie Heftrich postuliert, die Identität von Welt und Nichts.86 Gibt es nur Welt, dann ist außerhalb ihrer - das Nichts. Das muß der höchste Mensch erkennen und gleichzeitig wollen, wenn sein Wille so stark ist, daß er zum Zustand des amor fati hin will. Der höchste Mensch kann zur Welt als Ganzem nur dann „ja" sagen, wenn er die Existenz von allen transzendenten Entitäten ausschließt, weil sein Wollen sonst diesen gelten könnte, welche aber für dieses sein Wollen unerreichbar wären. Nur die immanente Welt kann vollkommen gewollt werden. Eine solche Welt ist aber gleichzeitig eine Welt des Nichts, weil ohne telos, ohne „höhere" Bedeutung. Das Medium dieser Erkenntnis ist der Perspektivismus. Diese Erkenntis selbst wierderum ist der Nihilismus, durch den man hindurch muß, um zum amor fati zu gelangen. Schwächere Menschen werden durch das Erleben dieses Nihilismus vernichtet; deswegen steht der Hang zur Wahrheit dem Willen entgegen (die Ursache der Vorwürfe des voluntativen Antirationalismus), denn nur der stärkste Wille kann den Nihilismus kennenlernen, und trotzdem immer noch das Schwierigste wollen: Welt und Nichts zusammen wollen. Dieses höchste Wollen als Wille zum Ganzen bleibt aber ohne die Erfahrung der nihilistischen Einsicht (die schon zu Anfang bei Nietzsche in der Geburt der Tragödie die „Weisheit des Silens" heißt) unerreichbar. Die Welt als eine in sich geschlossene Grenze zum Nichts beschreibt einen Kreis - Nietzsches Philosophie der Erkenntnis der Welt ist auch deshalb ein „kreisendes Denken", 87 als Perspektivismus realisiert. Nietzsche will diesen Kreis abschreiten: Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben - mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. (KSA ΧΠ 9[177])

Den Kreis umlaufen bedeutet, einem unendlichen Kontinuum einzelner Punkte also Perspektiven - entlanggehen. Ist das Gesehene in der Mitte des Kreises, so ist jeder Punkt äquidistant zum Gesehenen. Die einzige Möglichkeit, die Ganzheit des Gesehenen zu erfassen, liegt im unaufhörlichen Abschreiten des Zirkels (was aufgrund des sich stets wechselnden Blickwinkels immer wieder scheinbare „Widersprüche" ergeben muß). Dies birgt aber, wie gesagt, die Erkenntnis, daß dieser Kreis vom Nichts umschlossen ist. Die Teilhabe am Wissen, das mit dem Erlangen von amor fati einhergeht, setzt gewiß auch Freiheit des Geistes voraus. Dieser Geist versagt sich nichts und

86 87

Eckhard Heftrich, Nietzsches Philosophie, op. cit., S. 264. Ibid., vgl. Kap. 1. „Die Kryptogramme des kreisenden Denkens"

294

Philosophische Rezeption

steht imperial über dem Moralismus der Metaphysiker. Diesen Charakter des Nietzscheschen Immoralismus als Freiheit vom Dogmatismus jeglicher Art identifizierte Kaufmann völlig zutreffend. Aber durch seine Konzentration auf die Macht allein (als Grundlage der Welt) und den Übermenschen, übersah er die zentrale Rolle des wollenden Willens. Auch den Perspektivismus verkannte er, indem er die Existenz von „Widersprüchen", als die sich die verschiedenen Perspektiven darstellen, in Nietzsches Denken leugnete. 88 Kaufmann wollte Nietzsche rehabilitieren, und da ist es vielleicht nur allzu natürlich, daß er dabei geneigt war, den Geist in den Mittelpunkt von Nietzsches Denken zu stellen. Mit dieser Hervorhebung der Vorrangsstellung des Geistes erwarb er auch Verdienste um das amerikanische Nietzsche-Bild, lief aber gleichsam Gefahr, den Philosophen Nietzsche zu verharmlosen, wie andere (Salter etwa) dies taten. Diese Kritik seiner Interpretation der Willensphilosophie beruht nichtsdestotrotz hauptsächlich auf technischen Einwänden. Es scheint inkonsequent, daß Kaufmann zunächst den Primat des Willens zur Macht im Denken Nietzsches eruierte, diesen Primat aber dann in ein reines Freiheitsbestreben umwandelte. Das hatte sicherlich, wie bereits angedeutet, Gründe, die mit einer nachvollziehbaren Opportunität zusammenhingen. An einer Stelle behauptete Kaufmann sogar eine gewisse Parallelität zwischen philosophischen Grundsätzen Nietzsches und der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. (270) Offensichtlicher könnte ein Appell an die besonderen Sensibilitäten einer amerikanischen Leserschaft kaum ausfallen. Es soll aber keineswegs die Bedeutung dieser Interpretation bagatellisiert werden, denn Kaufmann identifizierte als erster den Drang nach geistiger Freiheit eindeutig als Proprietät des höheren oder gar t/öermenschen. Damit war der Dunstkreis eugenischer Kraftmeierei und Vitalismuslehre endlich zerstoben. In der nun reinen (allerdings auch überreinen) Luft des neuen Kaufmannschen Nietzsche-Bildes trat ein neuer und glaubhafter „Übermensch" hervor. Der Übermensch der Kaufmannschen Interpretation „has overcome his animal nature, organized the chaos of his passions, sublimated his impulses, and given style to his character". (316) Dies wäre ein Mensch der konsequentesten Selbstüberwindung. Kaufmann betonte zudem die klassische Herkunft des Begriffs Übermensch als hyperanthropos bei Lukian und setzte diese Idee überhaupt in einen klassisch-griechischen Rahmen: To Nietzsche these Übermenschen appear as symbols of the repudiation of any conformity to a single norm: antitheses to mediocrity and stagnation. As he himself had tried to break with conformity in order to realize his own unique individuality -

Im Gegensatz zu Morgan etwa distanzierte sich Kaufmann von Jaspers, dessen „.ambiguity' theme" er als unfundierte Übernahme von Bertram und voreingenommenenAuswuchs der eigenen Philosophie Jaspers' kritisierte. „Jasper's position", schrieb er, „depends on his own Existenzphilosophie ... not on the presence in Nietzsche's writings of contradictions that defy reason". (Walter Kaufmann, Nietzsche, op. cit., S. 74.)

Philosophische Rezeption

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looking for an „educator" in whose most beloved features he might behold his ideal self „immeasurably high above" - the Greeks envisaged their ideal individualities in their Übermenschen. (309)

Diese Auffassung des Übermenschlichen suggeriert aber, wie zu Anfang der Diskussion bemerkt wurde, eine denkbare Anstrebbarkeit der übermenschlichen Seinsweise, die schon in Morgans Arbeit störte. Die existentialistischen Nietzsche-Deutungen anderer Interpreten bemängelnd, verfiel Kaufmann selbst auch gelegentlich in diese Manier, so z.B. mit der Feststellung einer „Selbstrealisierungsethik" bei Nietzsche: „An ethics of selfrealization is thus suggested. ... Man need only cultivate his nature to realize himself, but he does not „naturally" succeed - and the vast majority of men never do realize themselves". (157f.) Die Selbstverwirklichung sei ein Akt bewußter Kultivierung, befinde sich also in Reichweite des strebenden Individuums. Für Nietzsche hingegen scheint festzustehen, daß der höhere Wille als (intelligibles?) Gegebenes erst im Menschen vorhanden sein muß, der ihn zum bewußten Selbstwerden hindrängt. Dieser Wille ist nicht erziehbar, sondern gegeben oder nicht. Gleichzeitig war sich Kaufmann im klaren darüber, daß Nietzsche nicht die Schaffung eines neuen Wertekodexes als sein Anliegen betrachtet. (110f.) Dem Mythus neuer, zarathustrasch-nietzschescher Gebote wäre damit auch ein Ende gesetzt. Nietzsche, sagte Kaufmann, habe keine Ambitionen zum Religionsstifter gehabt: „Nietzsche himself did not want to be the founder of a new religion; he wished to be read critically". (115) Die Umwertung, die Konzeption des allumfassenden Ja-sagens, band Kaufmann aber ausschließlich in die Religionskritik ein. Mit der Vorstellung einer Umwertung versuche Nietzsche, so Kaufmann, die Philosophie von jeder religiösen Basis zu befreien, welche den Menschen gegenüber dem Reich des Transzendenten notwendigerweise verkleinere: Nietzsche was more deeply impressed than almost any other man before him by the manner in which belief in God and a divine teleology may diminish the value and significance of man. ... To escape nihilism - which seems involved both in asserting the existence of God and thus robbing this world of ultimate significance, and also in denying God and thus robbing everything of meaning and value - that is Nietzsche's greatest and most persistent problem. (101)

Es muß aber entschieden abgestritten werden, daß Nietzsche dem Nihilismus entfliehen will, ist dieser doch ein unabdingbares Durchlaufstadium auf dem Wege zum amor fati. Auch in seiner Behandlung der Religions- und Moralkritik bemühte sich Kaufmann u m eine humanistische Färbung der Philosophie Nietzsches in einer Weise, die manchmal fast an Schönfärberei grenzte. Völlig zutreffend wies er die verhängnisvollen Terminini Herren- und Sklavenmoral als Sammelbegriffe für geschichtliche Entwicklungen aus, welche die Moralkritik als eine historistische Kritik zeigen: The problem touched here is ... of supreme importance and actually nothing less than the problem of Historismus ... whether there are genuinely supra-historical values or

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whether all values are merely historical phenomena which are valid only in a certain place and time. The relation of the „historical" and „supra-historical" thus involves the problem of the relativity of values. (147f.)

Die Kritik des Christentums erweise sich als eine philosophische Betrachtung, die nicht um die Person Christi kreise. Kaufmann führte die keineswegs neue These ins Feld, daß Nietzsches Respekt vor der Lehre Jesu durch seine bittere Polemik gegen die paulinistisch gesteuerte Entwicklung der christlichen Kirchenlehre nicht aufgehoben werde, warnte aber auch davor, aufgrund dieser Unterscheidung Nietzsche zum Anwalt der Evangelien machen zu wollen. (338) Nietzsches Ablehnung, obwohl milde gegenüber Jesus, treffe sowohl die historische Kirche als auch ihren Heiland. Wenn sich die Lehre des historischen Christentumes wegen der in ihrem Ressentiment zum Ausdruck kommenden „niederen Gesinnung" als Weltanschauung völlig disqualifiziere, so mache die Mitleidsmoral seines Stifters die Person Christi ebenfalls ungeeignet als Vorbild für höhere Menschen und freie Geister. Das Ideal des Mitleids sei mit Nietzsches Denken inkongruent: According to Nietzsche, pity is bad both for those who feel it and for those who are being pitied. ... A religion that preaches pity assumes that suffering is bad; it is in that sense a „religion of comfortableness." Self-perfection, however, is possible only through suffering, and the ultimate happiness of the man w h o has overcome himself does not exclude suffering. (368)

Höhere Menschen wählen die Härte gegen sich selbst, begeben sich freiwillig in das Labyrinth der nihilistischen Welterkenntnis ohne Rücksicht auf die Folgen. Mitleid schade nicht nur dem Bemitleideten und dem Mitleidenden, sondern bedeute auch das Gegenteil der Bereitschaft zum großen Wagnis des Nihilismus. Wer sich selbst bemitleide und Mitleid erwarte, wolle die Möglichkeit nicht akzeptieren, daß er vielleicht im Labyrinth zugrundegehe. Genau diese Gleichgültigkeit gegen das eigene Leiden stellte Kaufmann auch mit in den Vordergrund der Moralkritik. Aber den tradierten Mißverständnissen dieser Ethik der Härte wollte Kaufmann mit dem Hinweis vorbeugen, daß Nietzsche diese Härte ausschließlich als Härte gegen sich selbst meine: Hardness against oneself and one's friends is essential for those who would educate and perfect themselves and their friends - but hardness against those who would not be able to stand such treatment is, says Nietzsche, entirely unpardonable ... he takes consideration for the weak to be the spiritual man's duty toward himself: he o w e s it to himself. (370)

Kaufmann belegte diese Ansicht mit einer Stelle aus dem in der Tat heißt:

Antichristen,

an der es

Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmässigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seines Gleichen, so ist dies nicht bloss Höflichkeit des Herzens, - es ist einfach seine Pflicht.

(AC 57)

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Das mag zunächst unmißverständlich wirken, aber das Unmißverständliche bei Nietzsche feststellen, heißt, auch ihm den „änigmatischen Charakter" (KSA XII 2[155]) seines Denkens nehmen. Diese Pflicht des Ausnahmemenschen hat er gegen sich selbst und nicht gegen die Mittelmäßigen. Zieht man den Gesamtkontext des ganzen Aphorismus, aus dem dieser Passus stammt, in den Gesichtskreis der Interpretation, so zeigt sich, daß dem Ausnahmemenschen an der Erhaltung dieser „Kaste" der Mittelmäßigen liegt, weil die Spitze der kulturellen und gesellschaftlichen Pyramide, die er und seinesgleichen bilden, auf dieser breiten, unteren Basis ruht. „[D]ie Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, dass es überhaupt Rechte giebt. - Ein Recht ist ein Vorrecht" (AC 57) steht an gleicher Stelle. Ohne seine Schwierigkeiten, die den Leser eben zu äußerst unbequemen Gedanken zwingen, wäre Nietzsche nicht der, der er in seiner Philosophie wird. Bei Kaufmann verschwinden aber gelegentlich diese Schwierigkeiten und schwerwiegenden Implikationen, denn er schreckte nicht davor zurück, selektiv zu zitieren, wo es seiner Sache dienlich war. Dies galt insbesondere für Kaufmanns Behandlung politischer Aspekte der Philosophie Nietzsches. Nichts kann die Bedeutung von Kaufmanns beweiskräftiger Distanzierung Nietzsches vom Mißbrauch seiner Philosophie durch die Nationalsozialisten schmälern. Kaufmann bot eine gründliche Aufarbeitung der wichtigsten Momente der deutschen Nietzsche-Rezeption, angefangen bei den Machenschaften der Schwester 89 und des Nietzsche-Archivs über den GeorgeKreis und Ernst Bertram bis hin zu den Entstellungen durch faschistisch angehauchte Interpreten wie Oehler, Bäumler und Härtle. Stück für Stück wurde vor allem die fälschende Aneignung Nietzsches für nazistische Zwecke aufgedeckt. Und dennoch beschleicht den Leser ein leises Unbehagen ob der glättenden, vereinheitlichenden Systematik, mit der Kaufmann diese Bereinigung des Namens Nietzsche durchführte. Es ist nur zu begrüßen, daß Kaufmann einerseits belegte, wie eindeutig sich Nietzsche vom Antisemitismus und Pangermanismus Wagners und der eigenen Schwester distanziert: Anti-Semitic Teutonism - or proto-Nazism - was one of the major issues in Nietzsche's life, if only because his sister and Wagner, the two most important figures in his development, confronted him with this ideology. In both cases Nietzsche's attitude was uncompromising - and if his suggestion to „expel the anti-Semitic squailers out of the country" (JGB 251) might seem a mere literary flourish, one may recall that this

"

Vor allem Editionsfragen wurden hier von Kaufmann geklärt, aber auch die gesamte auf der Schwester lastende Schuld behandelte er. So faßte er zusammen: „it was her [Elisabeth FörsterNietzsches] handling of Nietzsche's Nachlass that constitutes the decisive factor" in der frühen Fehlentwicklung in der Nietzsche-Rezeption, die sich bis auf das Liebäugeln der Schwester mit den Schergen des Nazi-Regimes erstreckt. Wenig glaubhaft ist aber Kaufmanns These, die rechtzeitige (also sofortige) Veröffentlichung von Ecce Homo hätte die meisten Mißverständnisse im Keime erstickt. (Walter Kaufmann, Nietzsche, op. cit., S. 5.)

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idea so possessed him that, when madness began to break down his inhibitions, he scrawled across the margin of his last letter to Burckhardt: „Abolished Wilhelm, Bismarck, and all anti-Semites" - while the last note to Overbeck ends: „Just now I am having all anti-Semites shot." (45f.)

Kaufmann versuchte aber darüber hinaus, plausibel zu machen, daß Nietzsche alle gewalttätigen Mittel der Politik und jegliche nicht-demokratische Form des Staates (zumal er ein prinzipieller Gegner des Staatswesens an sich gewesen sei) ablehne. „We should face the question", bemerkte er, „whether Nietzsche did not, after all, have in mind political might" als einen notwendigen Aspekt der Macht. (194f.) Mit einem Verweis auf den Aphorismus 113, „Das Streben nach Auszeichnung" , aus Morgenröthe konstatierte Kaufmann, Nietzsche sei „quite unequivocal on this point". (195) Dort unterzieht Nietzsche den Typus des Asketen einer psychoanalytischen Durchleuchtung und stellt fest, an diesem sei „das lebendigste Gefühl der Macht" zu beobachten. (M 113) Das hat den Anschein, als wolle Nietzsche sagen, der Asket verfüge über einen „bewundernswerten" Machtwillen. Kaufmann neigte ohnehin zu der Auffassung, die geistige Kultiviertheit stelle automatisch eine überlegene, die rohe Physikalität eine niedere Form der Macht für Nietzsche dar. Dieses Psychogramm des Asketen bestätige seine These also, da sich der geistig in sich gekehrte Verzichter von weltlichen Dingen überhaupt abgewendet habe. Kaufmann überging dabei allerdings, daß für Nietzsche dieser „Triumph des Asketen über sich selber" die „letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung" verkörpert, „bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber verkohlt". (M 113) Der Asket fühlt zweifellos Macht, aber es ist eine dem kranken, vom Ressentiment mißgestalteten Willen korrespondierende Macht, die für Nietzsche notwendig von niederer Rangordnung sein muß. Nietzsches Demokratiekritik legte Kaufmann, ähnlich beschönigend, als Unzufriedenheit mit den demokratischen Staatsformen des späten 19. Jahrhunderts aus: he seems more sympathetic toward that truer democracy of the future which „wants to create and guarantee independence for as many as possible, independence of opinions, way of life, and business" (WS 293). Nietzsche envisages the eventual „victory of democracy" and the rise of a „middle class that may forget socialism like a disease that has been weathered"; and he adds: „The practical result of this spreading of democratization will first be a European League of Nations" (WS 292). (187)

Die in dieser Passage angeführten Stellen aus „Der Wanderer und sein Schatten" wirken zugunsten von Kaufmanns These, aber ist dem Leser erst einmal der gelegentliche Argwohn gegen Kaufmanns Methoden gekommen, so beginnt er, solche von Kaufmann vorgebrachten Zitate regelmäßig nachzuschlagen. Auch in diesem Fall lohnt sich die Kontrolle, denn Nietzsche schreibt im obigen Aphorismus tatsächlich weitere interessante, von Kaufmann nicht aufgenommene Kommentare. Er versucht z.B., den „Sieg der Demokratie" zu erklären:

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Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Socialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vortheil davon: denn alle Parteien sind jetzt genöthigt, dem „Volke" zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. (WS 292) Dieses „auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vortheil davon" heißt bei Nietzsche nichts anderes, als daß solches Angstschüren die falsche Art der Bekämpfung des Sozialismus sei, weil dadurch die Demokratie begünstigt werde. Man kann unmöglich der Auffassung sein, da spreche Nietzsche als Demokrat. Unbestritten bleibt Kaufmanns Entdeckung, daß es sich beim Begriff der „blonden Bestie" um die Übersetzung einer klassischen rhetorischen Figur handelt: des Löwen. 9 0 Gegen seine Feststellung, Nietzsche habe nie an die Vorherrschaft einer arischen Herrenrasse gedacht, ist ebenfalls nichts einzuwenden. Diese Aufklärungsarbeit war ganz im Gegenteil überfällig. Aber dem Leser sei trotzdem nochmals geraten, Kaufmanns Zitate zu überprüfen. So, wenn es bei ihm heißt: it is characteristic that the term „master race" reappears elsewhere in The Will to Power to designate a future, internationally mixed, race of philosophers and artists who cultivate iron self-control (WzM 960). (302) Wenn Nietzsche also an irgendeine Art von „Herrenrasse" denken sollte, dann nur als Bezeichnung für einen internationalen Philosophen- und Künstlerverband. Es ist hiermit wieder genau jener „antiseptische" Nietzsche in den Vordergrund gestellt, den Walter Sokel bei Kaufmann sehr triftig kritisiert.91 Die angesprochene Nachlaßnotiz selbst (WM 960) handelt von einer anderen Vision als die von Kaufmann in Szene gesetzte: Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, deren Gleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das Wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzten, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen „Herren der Erde"; - eine neue, ungeheure, auf der härtesten SelbstGesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: - eine höhere Art Menschen, welche sich, Dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichthum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienten als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am „Menschen" selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird. (KSA XII 2[57])

"

Vgl. hierzu auch: Detlev Brennecke, „Die blonde Bestie. Vom Mißverständnis eines Schlagworts", Nietzsche-Studien, 5 (1976), S. 113-145. „Walter Kaufr η has given us an antiseptic image of him [Nietzsche] which cannot remain credible for long". (Walter Sokel, „Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche", Nietzsche-Studien, 6 [1977], S. 442.)

300

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Die angeblich von Nietzsche gewollte „echte" Demokratie wird hier nur als Werkzeug in den Händen einer Herrscherrasse begrüßt - freilich einer geistig hochstehenden Herrscherrasse, aber auch einer Rasse von „Gewaltmenschen". Diese Notiz trägt auch nicht die Spuren der Krankheit, entstammt nicht den letzten Tagen vor dem Ausbruch des Wahnsinns, sondern ist dem Herbst 1886 zuzuordnen. Nietzsche wiederholt mit solchen Sätzen seine Herausforderung an seine Leser, das Wagnis auf sich zu nehmen, die „schlimmsten" Gedanken mit ihm zusammen mitzudenken. Bei einem so schreienden Fall selektiven und eigentlich sinnentstellenden Zitierens muß man davon ausgehen, daß Kaufmann an diesen glattgebügelten, humanistischen Nietzsche auch selbst glaubte. Eine heutige Leserschaft jedoch, welche mit Widerstand gegen Nietzsche in der philosophischen Forschung wahrlich nicht mehr konfrontiert ist, muß dieses Bild jetzt in Frage stellen. Der am weitesten ausgebaute Fall solcher Vereinheitlichung und Verharmlosung in Kaufmanns Monographie ist die Auseinandersetzung mit Nietzsches Verhältnis zu Sokrates. Im dreizehnten Kapitel seiner Monographie, „Nietzsche's Attitude Toward Socrates", 92 führte Kaufmann eine langwierige Zurückweisung der These von Nietzsches Standpunkt als Antisokratiker durch, und ging dabei vom Grundsatz aus, daß Nietzsches kritische Äußerungen zu Sokrates eigentlich die Versuche eines Schülers darstellen, mittels Attacken gegen den eigenen geliebten Meister selbst flügge zu werden. Wie Oscar Wilde es formuliere, versuche Nietzsche, so Kaufmann, das zu töten, was er liebe. (392) Mit dieser Auslegung reduzierte Kaufmann Nietzsches Auseinandersetzung mit Sokrates auf eine idiosynkratische, psychische Banalität. Er wies auf eine vielsagende, aber sehr verkürzte Nachlaßnotiz hin, in der Nietzsche sein Verhältnis zum Geburtshelfer der griechischen Philosophie als schwierige Nähe ausdrückt: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe". (KSA VIII 6[3]) Sinngemäß sagt Nietzsche genau das Gleiche über seine Freundschaft mit Wagner in Der Fall Wagner. Dieses Bekenntnis, daß Nietzsche im Kampf gegen Wagner die eigene decadence überwunden habe, deutete Kaufmann nicht idiosynkratisch, sondern philosophisch. Das war für seine Zwecke auch billig, denn Wagner verkörpert zudem die anrüchigen Tendenzen zum Deutschnationalismus und Antisemitismus, von denen sich Nietzsche mit diesen Angriffen gegen Bayreuth ausdrücklich distanziert. Daß Nietzsche aber durch die Sokrates-Polemiken etwas Wichtiges, ja philosophisch Fundamentales an sich auch zu überwinden versucht - nämlich die „Zwei-WeltenTheorie" in der Philosophie -, unterschlug Kaufmann, weil das Bild Sokrates' der vielleicht wichtigste humanistische Talisman in seinem beschönigten NietzschePorträt war.

n

Dieses Kapitel erschien bereits 1948 in Aufsatzform: Walter Kaufmann, „Nietzsche's Admiration for Socrates", Journal of the History of Ideas, 9 (1948), S. 472-91.

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Gewiß mochte Kaufmann hiermit den falschen Topos des antirationalen Nietzsche auch mittels einer Aussöhnung mit Sokrates korrigieren. Daß er diesem Thema ein ganzes Kapitel widmete, dürfte auch als Reaktion auf Brintons Diskussion der Sokratesthematik bei Nietzsche verstanden werden. Mehrmals übte Kaufmann gezielte, scharfe und gerechtfertigte Kritik an Brinton.93 Aber in seinem berechtigten Eifer vereinfachte er Nietzsches „attitude toward Socrates" auch. Mit seiner Zielbestimmung der geistigen Freiheit als eines höchsten Machtgrades wollte Kaufmann die Machtphilosophie zum Kern des Nietzscheschen Denkens erklären und zusätzlich beweisen, daß Nietzsche ein anstrebbares Idealleben sich vorzustellen versuche, das in Übereinstimmung mit einem höchsten Gut stehe. Die Realisierung dieses Ideallebens fordere die Sublimierung der Triebe, deren Kraft nicht verlorengehen, sondern im Dienste der Vernunft verfeinert werden solle: The Good Life is ... the life of those who are in full control of their impulses and need not weaken them, and the good man is for Nietzsche the passionate man who is the master of his passions. (280)

Diese Haltung, meinte Kaufmann, habe in Nietzsches Augen vor allem Sokrates vorgelebt. Somit sei Sokrates „the very embodiment of Nietzsche's highest ideal" (399), denn „Among philosophers it was, above all others, Socrates who was the perfect master of his passions". (280) Diese Behauptung stellt aber die eigentliche These Nietzsches vollends auf den Kopf, nämlich: daß Sokrates eben nicht die Sublimierung der Triebe, sondern die tyrannische Herrschaft der Vernunft über die Triebe zugunsten einer, wie er sagt, „Superfötation des Logischen" (GD „Das Problem des Sokrates" 4) gepredigt habe. Das Mittel Sokrates', die Anarchie der Triebe in eine Ordnung zu verwandeln, sei eine Arznei für schwache, dekadente Naturen, die der gewalttätigen Herrschaft eines tyrannischen Dogmatismus bedürften, um über sich selbst Herr zu werden: Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, - sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung ... Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. „Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist." (GD „Das Problem des Sokrates" 9)

Sokrates' „Kur" ist für Nietzsche offenbar nicht Sublimierung, sondern Moralismus, den Sokrates auch „in's Metaphysische" übersetzte, indem er die Gleichung „ Vernunft=Tugend=Glück" zur Vorherrschaft in der Philosophie brachte. (GD „Das Problem des Sokrates" 4) Natürlich betont Nietzsche ebenfalls die große Bedeutung des Sokratismus für die Kulturwerdung des Abendlandes, und offensichtlich erkennt er diese Tendenz

93

Vgl. vor allem die Seiten: 65, 69, 162, 394 u. 408.

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P h i l o s o p h i s c h e Rezeption

zur Dominanz der Vernunft auch an sich selbst wieder - ein gemeinsamer Zug mit, vielleicht eine Erbschaft von Sokrates. Der Athener wird jedenfalls nicht von Nietzsche „verteufelt". Zuletzt steht auch Sokrates mitten im Kreis der zirkulierenden perspektivistischen Betrachtung. Nietzsche ist auch Wahrheitssucher, der der Täuschung der sinnlichen Wahrnehmung entraten will, und „genau im Widerstreben gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war". (JGB 14) Mit dem Attribut des Vornehmen spricht Nietzsche seine höchste Ehrung aus. Und die Auseinandersetzung mit Piaton und dem Piatonismus als Christentum („Piatonismus für's ,Volk"') „hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen". (JGB „Vorrede") Sokrates und der Piatonismus haben in Nietzsches Augen ihre Berechtigung und Größe. Sie sind auch letzen Endes Symbole für die stärkste, herrschende Geistesströmung des Okzidentes. Daß der Sokratismus für Nietzsche einen eigenen, inhärenten Wert besitzt, steht fest. Ausschließlich auf diese Position aber zog sich Kaufmann zurück und deutete die Spekulation über die kulturhistorische Funktion Sokrates' in der Geburt der Tragödie als Nachweis der bei Nietzsche überwiegenden Verehrung für seinen „Meister". Im Erstlingswerk mahnt Nietzsche auch, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt. (GT 14)

Sokrates steht damit als Wahrer der „sogenannten Weltgeschichte" dar. Andererseits zeigt sich Sokrates in dieser Rolle als „das Urbild des theoretischen Optimisten" (GT 14), der die erschütternde pessimistische Weisheit des Silens durch den Herrscherzug der Vernunft ausmerzen will. In erster Linie wendet sich Nietzsche in dieser Schrift der tragischen Erkenntnis zu, die Sokrates in seiner Einseitigkeit nicht erkenne. Sokrates verstehe diese Erkenntnis nicht zu würdigen, weil er Dogmatiker und Moralist sei - das meint Nietzsche, wenn er hier „das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates" schildert, „jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat", dem „versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen". (GT 14) Und trotzdem soll nach Kaufmann der multiokulare Perspektivist Nietzsche nur den Geist des Sokrates in seinem Werk beschworen haben: It seems as if Nietzsche had purposely left behind our entire civilization to travel back through the centries to ancient Athens to join the company at Plato's

Symposium.

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303

Perhaps no other modern philosopher has tried so hard to re-experience the spirit of Socrates and his disciples. (366)

Die Methode des aus dem Zusammenhang gerissenen Zitats, die auch Thomas Jovanovski in seiner minuziösen Untersuchung des Sokrates-Kapitels bei Kaufmann feststellt,94 findet auch weiteren Gebrauch. Kaufmann bemerkte beispielsweie zugunsten seiner These von Nietzsches eigentlicher Sokrates-Anhängerschaft, daß Nietzsche in der Geburt der Tragödie Sokrates als eine „Gottheit" bezeichne, die durch Euripides spreche. Kaufmann zitierte: „.Euripides, too, was ... a mask only: the deity who spoke out of him was not Dionysus, nor Apollo, but ... Socrates'". (393) Aber nicht nur wurde das von Eurpides in Bewegung Gesetzte, nämlich der Untergang der griechischen Tragödie, bei Kaufmann nicht erwähnt; das von Nietzsche eigentlich Gemeinte wurde durch die effektiv gesetzten Ellipsen ausgeklammert. Vollständig heißt es: Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: Die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysiche und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. (GT 12)

Auch wenn man die Bezeichnung „Dämon" als daimonion lesen will, ändert das wenig an Nietzsches Urteil, denn nur einige Seiten weiter unten nennt er diese innere Stimme des Sokrates dessen „Instinct", der ihn im Vergleich zu anderen Menschen als „Montrosität" erkennbar mache: Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferischaffirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre Monstrosität per defectum! (GT 13)

Da scheint Kaufmanns Version dieses Sokrates-Bildes nicht mehr Interpretation, sondern eher bewußte Verfälschung des Denkens Nietzsches zu sein. Dennoch regt sich wieder der Verdacht, daß Kaufmann einfach von diesem Nietzsche völlig überzeugt war. Man kann z.B. nicht behaupten, Kaufmann versuchte, die Spuren seiner Zitiermethode zu verwischen. Diese Unstimmigkeiten lassen sich leicht aufdecken, vor allem, wenn man Nietzsches Schriften näher kennt. Zuletzt wirkt es auch als eine bloße Idiosynkrasie, daß Kaufmann Nietzsches Beschreibung vom Tod Sokrates' als eine der „liebevollsten" Darstellungen seines Hinscheidens in der Philosophiegeschichte seit Piatons Kriton apostrophierte. Wenn die Schilderung des Schierlingtrunks in der Geburt der Tragödie (13) fast als neutral oder unbewegt beschrieben werden kann, so spitzt sich Nietzsches Sicht später in Die fröhliche Wissenschaft zur giftigen Verurteilung zu. Sokrates'

1,4

Thomas Jovanovski, „Critique of Walter Kaufmann's ,Nietzsche's Attitude Toward Socrates'" Nietzsche-Studien, 20 (1991), S. 329-358.

304

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Mahnung an das darzubringende Opfer für den Heilgott Asklepios liest Nietzsche in „Der sterbende Sokrates" als Blasphemie gegen das Leben: Dieses lächerliche und furchtbare „letzte Wort" heisst für Den, der Ohren hat: „Oh Kriton, das Leben ist eine KrankheitΓ Ist es möglich! [...] Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten! Und er hat noch seine Rache dafür genommen - mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Musste ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Grossmuth zu wenig in seiner überreichen Tugend? - Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden! (FW 3 4 0 )

Für den, der Ohren dafür hat, heißt das: Sokrates war vom Ressentiment erfüllt. Diesen Aphorismus als liebevolle Würdigung Sokrates' lesen zu wollen, wäre mit den Grundgedanken Nietzsches inkommensurabel. Es liegt nahe zu vermuten, daß einige Aspekte von Nietzsches Wesen und Denken sich in der Interpretationsarbeit Walter Kaufmanns verselbständigten, so daß der Interpret schließlich dieses antiseptische Nietzsche-Bild durchaus für das einzig wahre hielt. In verschiedenerlei Hinsicht bot Walter Kaufmann seinen Lesern einen Nietzsche ohne Ecken und Kanten. Struktur und Argumentation seiner Studie sind darauf angelegt, Nietzsches Philosophie als gradliniges Hinschreiten auf das Ziel des geistig freien, die Mittel der Gewalt stets verabscheuenden Übermenschen nachzuzeichnen. Insofern figuriert die von Kaufmann propagierte Ähnlichkeit Nietzsches mit Sokrates oder Hegel nicht nur als Berechtigung für die Einordnung Nietzsches in die ruhmreichste Ahnenreihe der Philosophiegeschichte, sondern auch als hermeneutischer Schlüssel. Wieder einmal entlarvt sich hier Nietzsche in einer Interpretation als ein Sucher nach dem höchsten Gut für den Menschen. Diese stark vereinheitlichende und verharmlosende Tendenz schwächt Kaufmanns Interpretation zweifellos - entmachtet sie aber gewiß nicht. Kaufmanns Deutung ist eine in sich schlüssige und streng durchdachte Ableitung aller Aspekte des Nietzscheschen Denkens aus dem Gedanken des Willens zur Macht. Der Erfolg seiner Monographie beruhte nicht auf Zufall. Zuletzt muß man Kaufmann Respekt dafür erweisen, daß er Nietzsche in Amerika lesbar machte - und damit sind keineswegs nur seine Übersetzungen gemeint. Erst durch Walter Kaufmann wurde Nietzsche für viele amerikanische Akademiker zum Philosophen im Gegensatz zum antirationalen Poeten oder gar deutschnationalen Popanz. Kaufmann setzte sich das Ziel, Nietzsche einerseits aus den Mißverständnissen seiner Rezeption zu befreien und andererseits als wahres philosophisches Ereignis zu zeigen. Er schätzte den Ausgang seines Vorhabens 1974 richtig und ohne falsche Bescheidenheit ein: „The book has succeeded on both counts, and now Nietzsche is studied more widely than ever before", (iii) Im Werk Walter Kaufmanns schloß sich der Kreis des ersten halben Jahrhunderts der amerikanischen Nietzsche-Rezeption. Gleichzeitig wurde aber dieser Kreis aufgebrochen, um den Weg für nachfolgende Generationen von amerikanischen Nietzsche-Interpreten freizumachen. Obwohl manche dieser Interpreten bestimmte Thesen Kaufmanns zu Recht korrigiert haben, läßt eine gleichrangige Errungenschaft in der amerikanischen Rezeptionsgeschichte noch auf sich warten.

VI. Literarische Rezeption Kaum ein Philosoph hat die Gemüter der Künstler so bewegt wie Friedrich Nietzsche. Das ist fast ein Gemeinplatz der Forschungsliteratur zur NietzscheRezeption geworden, aber nichtsdestotrotz eine Tatsache, die kein Literatur- oder Philosophiehistoriker stillschweigend übergehen darf, wenn es sich um Nietzsche handelt. Wie sich gezeigt hat, galt schon den Schulphilosophen der Jahrhundertwende die Schriftstellerei als die eigentliche Domäne des Nietzscheschen Schaffens, und in dieser Domäne ließen sich viele Schriftsteller und Dichter bereitwillig nieder - manch einer für nur kurze, andere wiederum für längere Zeit. Diese enorme Attraktion gründete einerseits in der ästhetischen Thematik Nietzsches, andererseits in seiner Sprache. Die revolutionäre Gestaltungskraft, mit der Nietzsche seinen Stil formte, bewegte alle seiner Leser stark (einerlei, ob dies positive oder negative Reaktionen hervorrief), und zu Recht zählt man Nietzsche heutzutage zu den größten Stilisten, Erneuerern und Experimentatoren der deutschen Sprache. Wie es Bruno Hillebrand mit Bezug auf Gottfried Benn formuliert: über den Stilisten, den Sprachartisten Nietzsche haben sich die Literaten bald verständigt - das hielt an, bis 1950 Gottfried Benn noch einmal sagte: „seit Luther das größte deutsche Sprachgenie". 1

Diese besondere Anziehungskraft der theoretischen Ästhetik und erschütternden Sprachgewalt Nietzsches ergab zudem, daß vorwiegend zwei Werke die Anverwandlung Nietzscheschen Denkens bei den Schriftstellern dominierten: Die Geburt der Tragödie, wegen ihrer Theorie von den ästhetischen Fundamentalkräften des Dionysischen und Apollinischen sowie von Geburt, Wesen, Tod und Wiedergeburt der Tragödie, und Also sprach Zarathustra, wegen der eindrucksvollen Verkünderfigur des Zarathustra (die in einer Zeit der Abkehr von den traditionellen Religionen ein Bedürfnis nach neuen Propheten erfüllte) und des lebensemeuernden Pathos von Übermensch, Umwertung und ewiger Wiederkehr. Außerdem: Zu Literatur lassen sich ja literarische Vorlagen am besten verarbeiten. Die größte Wirkung übte Nietzsches Denken erwartungsgemäß auf die Schreibenden deutscher Zunge aus, aber Nietzsche ist recht eigentlich ein Philosoph internationalen Formats, und so wiesen bald die Literaturen aller westlichen

Bruno Hillebrand, „Einführung", Nietzsche und die deutsche Literatur (Tübingen, 1978), S. 4. Das Benn-Zitat entstammt: Gottfried Benn, „Nietzsche - nach fünfzig Jahren", Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff. Bd. 1. Essays. Reden. Vorträge (Wiesbaden, 1959), S. 483.

306

Literarische Rezeption

Kultursprachen die Spuren seines Einflusses auf. Hierin machte auch die amerikanische Literatur keine Ausnahme. Und dennoch bestätigt die Geschichte der literarischen Nietzsche-Rezeption in Amerika vor 1950 einmal mehr unser schon eruiertes Ergebnis, daß die Essayistik immer noch das vorherrschende Gebiet in diesem Falle bildete. Es waren im Vergleich zur literarischen Rezeption in Deutschland, Österreich und der Schweiz verhältnismäßig wenige amerikanische Künstler, bei denen man von einem wichtigen Nietzsche-Einfluß sprechen kann. Das ist nur verständlich, muß aber als ein grundlegender Unterschied zwischen der amerikanischen und der deutschen Nietzsche-Rezeption zur Kenntnis genommen werden. Die vorliegende Betrachtung orientiert sich an drei generellen Gattungen Roman, Drama, Lyrik -, die durch nur wenige oder sogar nur einen Künstler vertreten werden. Im Falle des Romans treten vor allem Jack London und Theodore Dreiser, des Dramas nur Eugene O'Neill und der Lyrik vorwiegend Wallace Stevens auf. Die Auswahl wurde nicht einfach nach dem Prinzip getroffen, daß jeder der hier gewählten Künstler sein Genre musterhaft repräsentiert. Es gibt auch eine Reihe von anderen Schriftstellern, die intellektuelle Annäherungen an Nietzsche vorweisen. Zwei Gruppen wurden aber bei der Auswahl größtenteils ausgeschlossen: die poetae minores, die sich mit Nietzsche beschäftigten, aber keine bleibende oder gar bemerkenswerte Rolle in der Geschichte der amerikanischen Literatur spielten, und die poetae majores, die nur sehr oberflächlich Nietzschesche Themen streiften oder den Namen Nietzsches erwähnten. Angestrebt wird hier ein repräsentativer Überblick, der nicht ins Uferlose ausschweift. Es sollen die Fälle gesichtet werden, in denen Nietzsches Denken durch einen Künstler einen wichtigen Beitrag zur amerikanischen Literatur leistete, und so kommen die oben genannten Schriftsteller dazu, unter dem Leitstern der Nietzscheschen Philosophie versammelt zu sein.

VI.l Roman V l . l . a Jack London (1876-1916) Während im Falle des deutschsprachigen Romans der bedeutendste NietzscheEinfluß bei Autoren der klassischen Moderne - alsda sind Thomas Mann, Heinrich Mann, Robert Musil und andere - anzusiedeln ist, erzielte Nietzsche in Amerika seine eigentliche Wirkung beim naturalistischen Roman. Sicherlich fehlte Nietzsche nicht ganz im amerikanischen Roman der Moderne oder der Avantgarde. Henry Miller etwa suchte gelegentlich, seine Vorliebe für körperliche Exzesse verschiedenster Art mit Nietzscheschen Stichworten geistig auszu-

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schmücken, 2 aber es handelte sich in seinem Fall eher um episodenhaftes Dilettieren als ernsthafte philosophische Exposition, und bei Dos Passos oder Faulkner wird man vergeblich nach einem maßgeblichen Wirken Nietzsches suchen. Im Naturalismus lagen die Dinge schon anders. Bei Bret Harte, Frank Norris oder Upton Sinclair kann man gelegentlich Nietzsches Spur aufnehmen, aber ausgerechnet die zwei wichtigsten amerikanischen Naturalisten Amerikas waren zugleich die Romanciers, die eindeutig thematisch bestimmende Elemente von Nietzsches Denken für ihr Werk empfingen: Jack London und Theodore Dreiser. Woran lag es, daß diese Verbindung zustandekam? Der Naturalismus amerikanischer Prägung fiel nicht nur in die Zeit der ersten Welle der Auseinandersetzung mit Nietzsche, sondern war obendrein wegen seines durchdringenden Materialismus und Mechanismus zur Aneignung zumindest einiger der einfacheren Gedanken dieses Philosophen besonders geneigt. Bis zum Anbruch der amerikanischen Nietzsche-Rezeption war diese mechanistischmaterialistische Philosophie in Amerika fest verankert (Ende des 19. Jahrhunderts z.B. erreichte Herbert Spencer mit seiner Synthetischen Philosophie [1860-1896] eine kaum überbietbare Popuarität in den USA). Diese intellektuelle Dominanz wirkte maßgeblich auf die Künstler des Naturalismus: Im Gegensatz zum sozialen Pathos eines Gerhart Hauptmann oder Arno Holz richteten Amerikas Naturalisten einen äußerst deterministischen Blick auf den wertfreien Daseinskampf der Gesellschaft. Diese ideologische Haltung brachte eine starke Tendenz mit sich, Nietzsche nur unter bestimmten Gesichtspunkten zu sehen: Der heroische, immoralische Individualist als Verwirklicher des Ideals vom Übermenschen bestimmte weitgehend das Nietzsche-Bild, das durch die Werke dieser Autoren geisterte. Als Autor des Sea Wolf (1904) ging Jack London in die Geschichte der Weltliteratur ein. Dem Porträt des rücksichtslos über sein Schiff Ghost herrschenden (und rohe Kartoffeln einhändig zerquetschenden) Kapitäns Wolf Larsen sowie der abenteuerlichen und heroisierten Biographie Londons selbst war es zu verdanken, daß dieser Schriftsteller sich unter die unvergessenen Autoren unseres Jahrhunderts einreihen durfte. Londons mutmaßlicher Nietzscheanismus wurde auch zuerst an diesem Werk festgestellt.

2

Miller schätzte Also sprach Zarathustra und schrieb auch einen leider nicht erhaltenen Aufsatz zu Der Antichrist (vgl. Robert Ferguson, Henry Miller. Ein Leben ohne Tabus, übers. Christa Broermann und Verena Koch [München, 1991], S. 63). Ein Romancier der 40er und 50er Jahre, bei dem ein sehr vereinfachtes und zum Teil entstelltes Nietzsche-Verständnis zum thematischen Leitprinzip wurde, ist die Philosophin Ayn Rand, die vor allem in ihrem Roman Atlas Shrugged (1957; sowie ansatzweise in dem früheren Werk The Fountainhead, 1943) eine Utopie zu schildern versuchte, in der die „fähigsten" und moralinfreisten Menschen endlich die segenreiche Allmacht über die von den ressentimentbeladenen „Untermenschen* zerrüttete Gesellschaft genießen würden. Mit ihrem von ihr selbst objectivism getauften philosophischen System sowie diesen vielgelesenen Romanen sorgte Rand für manchen Streit unter Intellektuellen und solchen, die sich welche dünkten.

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Von Kontroversen verdunkelt ist aus der Sicht der Kritik indes einerseits die moralische Absicht des Autors, die sich in der Schilderung Larsens kundtut, sowie andererseits die Frage nach der Präsenz Nietzscheschen Gedankenguts in dieser Figur. Die Aura Wolf Larsens veranlaßt manch einen Kritiker, wie hier Alfred Kazin, dazu, London für einen Protofaschisten zu halten - „he was a prototype of the violence-worshipping Fascist intellectual if ever there was one in America" 3 -, während andere, der Figur Larsens zum Trotz, in London den Verfechter einer sozialistischen Umstrukturierung der kapitalistischen Gesellschaft und der Abschaffung ihres .blutrünstigen Einzelgängertums' immer noch sehen wollen. Für H. Bruce Franklin etwa ist der Klassenkampf 1980 noch lebendiger denn je, und aus dem drei Jahre nach dem Sea Wolf erschienenen The Iron Heel hört er den angeblich immer noch hochaktuellen Aufruf zur Revolution, Zerschlagung des Großkapitals und internationalen Solidarität heraus erschallen: The Iron Heel presents with terrifying clarity the savagery of the struggle in which we are engaged. ... London suggests to us that we fellow creatures of capitalist society, in the epoch when capitalism is being torn asunder by its internal contradictions, must struggle as fiercely as his fictional revolutionaries to prevent the boast of the Iron Heel - to grind us down and walk upon our faces - from coming true. 4

Über die Rolle Nietzsches im Sea Wolf scheiden sich die Geister in ähnlicher Weise. Für Leroy Kaufmann steht fest, London habe mit der Figur Wolf Larsens die Philosophie Nietzsches anklagen wollen, 5 während der letzte Biograph Londons, Andrew Sinclair, jegliche Nietzsche-Lektüre Londons vor 1905 kategorisch abstreitet. 6 Richard O'Connor hingegen hält Nietzsche für den dominanten philosophischen Einfluß auf Londons eigenes Weltbild und Werk: [London] had read and reread Darwin and Huxley. He absorbed the works of Herbert Spencer, whose doctrine of the survival of the fittest and theory of atavism were the philosophical foundation of most of his stories about men contending against nature and each other. ... He read his way through the later philosophers from Kant to Spinoza, Hegel to Leibnitz. ... But it was Friedrich Wilhelm Nietzsche's deep dark well of pessimism at which he drank most copiously. The embittered German philosopher ... seemed to confirm and enlarge upon so much of what he had learned from experiences. 7

Die Verwirrung ob dieser Streitpunkte ist allerdings nicht einfach dem Eigenwillen oder der Streitlust verschiedener Interpreten zur Last zu legen. Jack London war als Mensch und Künstler höchst widersprüchlich, und man läuft bei

3 4

5 6 7

Alfred Kazin, On Native Gmunds, op. cit., S. 111. H. Bruce Franklin, „Introduction": Jack London, The Iron Heel (1907; Chicago: Lawrence Hill Books, 1980), S. vi. Leroy Kaufmann, Influence of Nietzsche, op. cit., S. 57. Andrew Sinclair, Jack. A Biography of Jack London (London, 1978), S. 80. Richard O'Connor, Jack London. A Biography (London, 1965), S. 120f.

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der Auslegung seiner politischen und künstlerischen Intentionen stets Gefahr, in eine Falle zu tapsen. Der Verherrlicher der „blonden Bestie" war Mitglied und gelegentlicher Wortführer der Sozialistischen Partei Amerikas. Der dem großen, über alle Konvention und Moral hinwegschreitenden Individuum huldigte, verfaßte „solidarische" Essays. Der Autor des Sea Wolf lieferte mit The Iron Heel einen auf den ersten Blick tatsächlich äußerst klassenkämpferisch wirkenden Roman. Diesen löste er dann später mit dem autobiographischen Werk Martin Eden (1909) ab, in dem die London-Figur Martin Eden stets gegen den Sozialismus opponiert und den Banner des Nietzscheschen Übermenschen entrollt. Der Kandidat der Sozialistischen Partei für das Amt des Bürgermeisters von Oakland, Kalifornien im Jahr 1905 trat kurz vor seinem vermeintlichen Freitod 1916 mit einer äußerst „übermenschlich" motivierten offiziellen Erklärung aus dieser Partei aus. Londons Selbstzeugnisse haben außerdem nicht gerade dazu beigetragen, Licht in das Dunkel dieser Streitereien zu bringen. Zum einen behauptete London an einigen (vor allem späten) Stellen, daß die Werke Sea Wolf und Martin Eden als negative Darstellungen des Individualismus im allgemeinen und der Philosophie Nietzsches insbesondere konzipiert gewesen seien. Kurz vor seinem Tod notierte er: „Martin Eden and Sea-Wolf attacks on Nietzschean philosophy", 8 und in einem Brief an Mary Austin vom 5. November 1915 beschwerte er sich darüber, daß diese Kritik als solche nicht wahrgenommen worden sei: I have again and again written books that failed to get across. Long years ago, at the very beginning of my writing career, I attacked Nietzsche and his super-man idea. This was in The Sea-Wolf. Lots of people read The Sea-Wolf, no one discovered that it was an attack upon the super-man philosophy.9

Es sollte allerdings unseren Argwohn erwecken, wenn die behauptete ideologische Botschaft eines Romans so unauffällig formuliert sein sollte, daß die Hauptaussage von den allermeisten Lesern ins absolute Gegenteil umgebogen wurde. Dafür hätte London ein sehr schlechter Schriftsteller gewesen sein müssen, was er keineswegs war. Stellen wir diesem Brief außerdem andere, kontradiktorische Aussagen gegenüber, dann erhärtet sich der Verdacht, daß London in Fragen zur eigenen Gesinnung zumindest manchmal Zweideutigkeiten oder Unwahrheiten von sich gab. In einem anderen Brief an George P. Brett vom 21. Februar 1912 also drei Jahre nach dem Erscheinen von Martin Eden - gestand London: „I, as you know, am in the opposite intellectual camp from that of Nietzsche. Yet no man in my camp stirs me as does Nietzsche". 10 Das klingt nach einem halbher-

' 9

10

Joan London, Jack London and His Times: An Unconventional Biography (New York, 1938), S. 3 If. Jack London, Letters from Jack London, ed. K. Hendricks and I. Shepard (New York, 1965), S. 483. Ibid., S. 361.

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zigen Bekenntnis zum Sozialismus wider besseres Wissen - wider das Wissen eines verkappten Nietzscheaners. Die gängige Antwort auf dieses Paradox lautet, London sei in sich zerrissen gewesen und habe nicht gewußt, ob er sich dem Kollektiv oder dem Kult des großen Individuums anvertrauen sollte. Kaufmann spricht von der „divided loyalty he [London] felt between individualism and socialism", 11 und Bridgewater plädiert für ein künstlerisches Psychogramm Londons als einer Art gespaltener Persönlichkeit, welches den rationalen Jack London und den „ästhetischen" säuberlich auseinander hält: his [London's] enchantment with Nietzsche was primarily (esthetic; rationally he may have been increasingly an advocate of the Socialism so detested by Nietzsche, but aesthetically he was totally captivated by the Superman-idea. 12

In gewisser Weise mag das auch begrenzt stimmen, aber nur unter großen Vorbehalten. Um diese gespaltene Loyalität zu verstehen, bedarf es eines klareren Begriffs von Londons „Sozialismus". Zunächst muß festgehalten werden, daß London vor allem anderen ein dogmatisch überzeugter Materialist und Darwinist Spencerscher Provenienz war. „I see the soul", hieß es aus seinem Munde, as nothing else than the sum of activities of the organism plus personal habits, plus inherited habits, memories, experiences of the organism. I believe that when I am dead I am dead.' 3

Für London gab es ein einziges, mechanisches Prinzip, welches der Welt der Phänomene innewohnte, und das war der Daseinskampf, der nur die tüchtigsten Tiere (also auch Menschen) überleben läßt. Man soll sich in diesen Dingen über Londons intellektuelle Fähigkeiten nichts vormachen. Einen originellen Geist darf man ihn nicht nennen, aber man muß würdigen, daß er über ein erstaunliches autodidaktisches Auffassungsvermögen verfügte. Im Eigenstudium verschlang er als junger Mensch all jene Werke, welche seinerzeit den neuesten Stand der Dinge in Wissenschaft und Philosophie bildeten.14 Das schloß nicht aus, daß er sich auch den ideologischen Untugenden dieses Zeitalters hingab. Vor allem die neuen eugenischen Rassentheorien überzeugten den jungen Schriftsteller, der in seinem eigenen Leben von lauter heldenhaften Figuren umgeben war, die sich nur kraft ihrer angeborenen Stärke und ihres dominanten Willens im Daseinsgemetzel nach oben gekämpft hatten. Ob als jugendlicher Austernpirat, auf hoher See bei der Robbenjagd oder in Alaska unter den Goldschürfern und Pelzjägern, London erlebte persönlich nicht

"

Leroy Kaufmann, Influence

12

Patrick Bridgewater, Nietzsche

of Nietzsche,

op. cit., S. 4 2 .

13

Zitiert bei: Henry Steele C o m m a g e r , The American

14

Londons Schilderung der eigenen Schwierigkeiten bei den ersten intellekteilen Gehversuchen,

in Anglosaxony

welche er sein alter ego in Martin

(Leicester, 1972), S. 164. Mind, op. cit., S. 111.

Eden durchmachen läßt, kann man allen Ernstes nicht anders

denn als rührend bezeichnen (vgl. vor allem die Kap. 5-13).

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wenige „blonde Bestien", und das eugenische Denken des ausgehenden 19. Jahrhunderts fügte sich mühelos in sein bereits aus eigener Erfahrung geprägtes darwinistisches Weltbild. Daher kam es also, daß London in Zeitungsartikeln vor der Bedrohung der angelsächischen Rasse durch die „gelbe Gefahr" aus dem fernen Osten warnte15 und an seinen Freund Cloudesley Johns schrieb (am 23.06.1897), der Sozialismus sei nur eine Angelegenheit für bestimmte wesensgleiche, „überlegene" Rassen: Socialism is not an ideal system devised for the happiness of all men; it is devised for the happiness of certain kindred races. It is devised so as to give more strength to these certain kindred favored races so that they may survive and inherit the earth to the extinction of the lesser, weaker races.16

Nur jugendlicher Leichtsinn und Übermut? Man schaue sich zudem die sozialistischen und gesellschaftskritischen Essays Londons etwas näher an. In dem 1903 erschienenen Aufsatz „How I Became a Socialist" beschrieb London, wie der Titel verrät, seine eigene Bekehrung zum Sozialismus. Da ist auffällig wenig von Solidaritätsgefühlen oder Sympathie mit den arbeitenden Massen und rein gar nichts vom Marxismus zu lesen. Überhaupt erwähnte London Marx so gut wie nie in seinem essayistischen Schaffen, und es ist fraglich, ob er dessen Werke näher kannte. Londons Motiv für seinen angeblichen Wechsel vom Individualismus zum Sozialismus schilderte er in diesem Essay als die Angst vor der eigenen Verwahrlosung, die mit den im Alter nachlassenden physischen Kräften einhergehen könnte. London wünschte sich eine Art gesicherter Altersvorsorge und gesundheitserhal tender Arbeitsverringerüng: I confess a terror seized me. What when my strength failed? ... And there and then I swore a great oath. ... / shall do no more hard work, and may God strike me dead if I do another day's hard work with my body more than I absolutely have to doΡ

Auch hier begegnete die behauptete ideologische Umkehr in der Verkleidung einer Abkehr von einer ursprünglich Nietzscheschen Haltung: I looked on the world and called it good, every bit of it. Let me repeat, this optimism was because I was healthy and strong, bothered with neither aches nor weaknesses ... I was a rampant individualist. It was very natural. I was a winner. ... I could see myself only raging through life without end like one of Nietzsche's blond beasts, lustfully roving and conquering by sheer superiority and strength. As for the unfortunates, the sick, and ailing, and old, and maimed, I must confess I hardly thought of them at all.18

15

" 17

"

Jack London, „The Yellow Peril", Revolution and Other Essays (New York, 1910), S. 282f. Der Aufsatz erschien zuerst 1904 in der San Francisco Examiner. Charmian London, The Book of Jack London, vol. I (New York, 1921), S. 297. Jack London, „How I Became a Socialist", Novels and Social Writings, ed. Donald Pizer (New York, 1982), S. 1119. Ibid., S. 1117f.

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Diese verflachte Version des Nietzscheschen amor fati, unter dessen Schutz London auf die Welt schaute und „called it good, every bit of it", wich also beim Sea Wo//-Verfasser einer Lebensauffassung, die Nietzsche als die des „niedergehenden Lebens" gilt. Kann das wirklich die Überzeugung des damals noch von fast unverschämter Gesundheit strotzenden Jack London gewesen sein? Im Essay „Revolution", 1908 erschienen, heroisierte London die militante Front der auf dem Vormarsch befindlichen sozialistischen Umstürzler und gab sich mehr als einmal deutliche Mühe, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß diese Helden mit dem „Abschaum" der untersten sozialen Schichten nichts gemein hätten: One thing must be clearly understood. This is no spontaneous and vague uprising of a large mass of discontented and miserable people - a blind and instinctive recoil from hurt. ... The revolutionist is no starved and diseased slave in the shambles at the bottom of the social pit, but is, in the main, a hearty, well-fed workingman."

Die für uns wichtigen Stichworte lassen sich leicht identifizieren: discontented, miserable, instinctive recoil from hurt. London wollte den Eindruck abwenden, die Ideale der Revolution seien das Ergebnis der Moral eines „Sklavenvolkes". Er dachte dabei zweifellos an Nietzsches Abneigung gegen „Socialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben, - die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren ..." (AC 57), von denen er sich auf jeden Fall distanzieren mochte. Und wenn zuletzt manchen Kritikern und dem Romancier selbst zufolge die Gewaltphantasien, die Kraftmeierei und das Heldentum des großen Individuums das Gegenideal zu Londons Vision charakterisieren sollten, welches er in Gestalt von Wolf Larsen und Martin Eden zu vernichten beabsichtigt haben sollte, dann verliert dieses „sozialistische" Bekenntnis an Glaubwürdigkeit angesichts der Gewaltromantik, mit der London die revolutionären Mächte umspann: Here is a tremendous human force. It must be reckoned with. Here is power. And here is romance - romance so colossal that it seems to be beyond the ken of ordinary mortals. ... They laugh to scorn the sweet ideals and dear moralities of bourgeois society. They intend to destroy bourgeois society with most of its sweet ideals and dear moralities. 20

Selbst als „Sozialist" hielt Jack London dem heroischen, selbstherrlichen und alle Moral mißachtenden großen Individuum stets die Treue. Fünfzehn Jahre lang gelang es ihm, die Sozialistische Partei Amerikas, der er angehörte, durch seine individualistische und heldensüchtige Brille zu sehen, bis ihm die philosophische Spannung zu groß wurde und er sich entschloß, mit folgender Begründung 1916 aus der Partei auszutreten:

"

Jack London, „Revolution", Novels and Social Writings,

2

Ibid., S. 1149.

"

op. cit., S. 1151 f.

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I am resigning from the Socialist Party, because of its lack of fire and fight. ... My final word is that liberty, freedom and independence are royal things that cannot be presented to, nor thrust upon, races or classes. If races and classes cannot rise up and by their strength of brain and brawn, wrest from the world liberty, freedom and independence, they never in time can come to these royal possessions ... and if such royal things are kindly presented to them by superior individuals, on silver platters, they will know not what to do with them, will fail to make use of them, and will be what they have always been in the past ... inferior races and inferior classes. 21

London hielt es unter den mildtätigen Schutzpatronen „minderwertiger" Rassen und Klassen nicht länger aus. Es wird angesichts dessen schwierig zu verstehen, warum er sich so lange mit dieser Partei dennoch identifizierte. Ein wahrscheinlicher Grund dafür ist, daß dies seine einzige intellektuelle Anlaufstelle war. London holte nur unter großen Mühen 1896 als zwanzigjähriger den Schulabschluß nach und erwarb damit die Berechtigung zum Studium an der Berkeley University, wo er zwei Semester zubrachte. Während dieser Zeit des ersten Kontakts zur intellektuellen Sphäre wurde London, der sich auf diesem Gebiet verständlicherweise noch unsicher fühlte, von den Kreisen der kalifornischen Boheme freundlich aufgenommen (vor allem von Anna Strunksky, die später die Frau William English Wallings wurde). Selbst während seiner späteren publizistischen Tätigkeit, nachdem er als Romancier und Geschichtenschreiber zu Ruhm gekommen war, wollten etablierte intellektuelle Kreise wenig mit ihm zu tun haben. Unter Sozialisten dagegen wurde er als kritischer Essayist zum ersten Mal ernst genommen, und die abenteuerliche Atmosphäre antibürgerlicher Radikalität ersetzte ihm das weltliche Abenteuer der gefahrlichen Glückssuche zu Land und See, derer er als freischaffender Schriftsteller nunmehr entbehren mußte. Mit aller Wahrscheinlichkeit war London, wie übrigens viele junge „Radikale" dieser Zeit, mehr vom Lebensgefühl denn vom philosophischen Überbau der sozialistischen Bewegung überzeugt. Sein eigentliches Thema war nicht die politische Schicksalsentscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern das bipolare Verhältnis von Primitivität und Zivilisation, welches in Form dieser politischen Debatte des öfteren in seinen Werken auftrat. Die Konsequenzen der Entscheidung für das Primitive oder das Zivilisatorische blieben bei London stets auf das große Individuum und nicht auf die Masse bezogen. Ein zweiseitiges Strickmuster lag deshalb Londons Werken immer wieder zugrunde: Es ging entweder um die Zähmung und Verfeinerung des primitiven Eindringlings in der zivilisierten Welt, oder um die überlebensnotwendige Rebarbarisierung des Zivilisierten, der sich plötzlich der Natur ausgesetzt vorfindet. Die Zivilisation bot in Londons Weltbild zwar Zugang zum höheren Genuß der Intellektualität oder Geistigkeit, untergrub aber das angeborene Urvertrauen des heldenhaften Einzelgängers in das Leben und bedrohte, kraft des moralisch verfügten Verbots

Charmian London, The Book of Jack London, vol. II, S. 336f.

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des freien, ungehinderten Daseinskampfes, auch dessen angestammte soziale Überlegenheit. Daß London damit der Vitalismusbesessenheit vieler früher Nietzscheaner nahestand, liegt auf der Hand. Diese Einsicht muß aber ausdrücklich vorausgesetzt werden, wenn man Londons Haltung gegenüber Nietzsche richtig verstehen und seine scheinbar antinietzscheschen Äußerungen kritisch auswerten will. Unbeantwortet geblieben ist allerdings noch die Frage nach Londons faktischer Vertrautheit mit der Philosophie Nietzsches. Glaubt man den Ausführungen seiner zweiten Frau Charmian, so steht außer Zweifel, daß er sich 1905 über die mit der Scheidung von seiner ersten Frau Elizabeth verbundenen Sorgen mit Nietzsche-Lektüre hinweghalf. So schrieb er seiner (damals noch) Geliebten: Have been getting hold of some Nietzsche. I'll turn you loose first on his „Genealogy of Morals" - and after that, something you'll like - „Thus Spake Zarathustra".22 Möglicherweise diente ihm Nietzsche auch als Tonikum gegen den Kummer über die scharfe Kritik, die von linksgerichteten Kritikern am Sea Wolf ausgeübt worden war. Der Mangel an Belegen läßt allerdings noch unentschieden bleiben, ob London auch vor dieser Zeit Nietzsche bereits gelesen hat. Selbst wenn er bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Blick in Nietzsches Schriften getan haben sollte, was bei seiner Lesewut kaum denkbar wäre, hat er wohl durch Vermittler bereits von den Grundzügen des Nietzscheschen Denkens erfahren. Londons Tochter Joan schrieb es dem Sozialisten und Bohemien Frank Strawn-Hamilton zu, ihren Vater mit Nietzsche vertraut gemacht zu haben. So ihre Darstellung: His knowledge of Nietzsche was derived largely from listening to Strawn-Hamilton, and when he did turn to Nietzsche's own pages he was so enchanted by the philosopher's vocabulary and slogans that he noted little else. „The blond beasts," „the glad perishers," „the Superman," „Live dangerously!" - these were more potent than wine.23 Strawn-Hamilton, der auch einen Auftritt in Martin Eden hat, lernte London um die Jahrhundertwende kennen, als beide noch Mitglieder der 1900 aufgelösten „Socialist Labor Party" waren. Mit seiner persönlichen Bravour und seinem gebildeten name-dropping konnte Strawn-Hamilton London sehr beeindrucken, der schon allein die Tatsache bewunderte, daß dieser Mentor ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorzuweisen hatte: a remarkable man, college-bred ... spilling over with the minutest details of every world philosophy from Zeno to Nietzsche, deeply versed in political economy and sociology - in short, a genius of extraordinary caliber.24

22 23

24

Ibid., S. 31. Joan London, Jack London and His Times. An Unconventional 209. Ibid., S. 183.

Biography

(New York, 1939), S.

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Wenn London nicht selbst vor 1905 Nietzsche las, dann bekam er jedenfalls so früh wie 1900 von Eingeweihten wie Strawn-Hamilton oder dem Ästhetizisten George Sterling, von London „the Greek" genannt (Sterling wird auch in Martin Eden in der Figur des genialen poete maudit Russ Brissenden ein Denkmal gesetzt; vgl. Kap. 31-32), über Nietzsches Denken Auskunft. Selbst ohne Kenntnis dieses Hintergrundes allerdings könnte nur noch ein Beflissener der Spitzfindigkeit um ihrer selbst willen behaupten, es fehlten ausreichende Hinweise auf Nietzschesche Konzepte im Sea Wolf, um auf eine Beeinflußung schließen zu können. Auch wenn diese Konzepte drastisch vereinfacht und entstellt in Erscheinung treten, entsprechen sie damit lediglich umso mehr dem populären Nietzsche-Bild der Zeit, das London in radikalen Kreisen zu sehen bekommen hätte. Sogar in der diesem Roman 1903 vorausgegangen, seine erste Berühmtheit begründenden Hundegeschichte „The Call of the Wild" {Der Ruf der Wildnis) befindet sich bereits der Gedanke an das Fehlen, ja die völlige Unangemessenheit moralischer Prinzipien in der unberührten Natur, welche für amerikanische Naturalisten den „eigentlichen" Zustand des Seins widerspiegeln sollte. Der aus seiner wohlbehüteten kalifornischen Heimat gestohlene Hund Buck, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist zu Überlegungen über Moral und Lebenskampf fähig und lernt, in der harten Schule des alaskaschen Winters den Egoismus dem Kollektivdenken vorzuziehen. Er paßt sich den neuen Verhältnissen an und wird tüchtiger, legt seine alte zivilisatorische Weichlichkeit ab. Dies bewirkt aber gleichzeitig the decay or going to pieces of his moral nature, a vain thing and a handicap in the ruthless struggle for existence. It was all well enough in the Southland, under the law of love and fellowship, to respect private property and personal feelings; but in the Northland, under the law of club and fang, whoso took such things into account was a fool. 25

Dies nimmt aber nur die Thematik vorweg, die im Sea Wolf viel ausführlicher zum Prinzip erhoben wird. Dennoch gibt es heftigen Widerstand gegen eine sich auf Nietzsche stützende Interpretation von Londons Meisterwerk, dem Sea Wolf. Charles Child Walcutt ist so sehr vom Bestreben erfüllt, die Spuren Nietzsches in diesem Roman zu tilgen, daß er behauptet, „in the novel itself there is ... no mention of Nietzsche" ,26 während der Name des Philosophen zusammen mit dem Schopenhauers doch schon im zweiten Satz des Werkes unübersehbar aufleuchtet. Der IchErzähler Humphrey Van Wey den berichtet dem Leser als erstes nicht einfach, er sei unterwegs zu seinem Freund Charley Furuseth gewesen, als seine Fähre

25

26

Jack London, The Call of the Wild, White Fang, and Other Stories (1903; New York: Penguin, 1986), S. 62f. Charles Child Walcutt, American Literary Naturalism (Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 1956), S. 112.

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kenterte und er selbst beinahe ertrunken wäre; er befindet es auch noch für wichtig mitzuteilen, daß dieser Furuseth „loafed through the winter months and read Nietzsche and Schopenhauer to rest his brain." 27 Just zu dieser Zeit will Van Weyden seinen Besuch abstatten und ist selbst gerade mit der Arbeit an einem Essay beschäftigt, „which I had thought of calling ,The Necessity for Freedom: A Plea for the Artist.'" (SW 2) Mit minimalen Zügen gelang es London, seinen Protagonisten ohne großes Getue sofort einer ganz bestimmten Lebenssphäre zuzuordnen. Der als Literaturkritiker arbeitende und eigentlich dilettantische Rentier Van Weyden ist Ästhetizist und Dandy, der für die grenzenlose Freiheit des Künstlers plädiert. Sein Freund Furuseth erbaut sich an Nietzsche, weil er offensichtlich Neurastheniker ist. Ein fundamentaler Aspekt des Romans ist also die schon eingangs skizzierte Kontrastierung von weltfremder Intellektualität und dem tatsächlichen Erlebnis einer moralinfreien Welt (auf der Ghost), in der nur „Übermenschen" das Sagen haben und der Geist als bloße Begleiterscheinung von Wille und Leibeskraft enttarnt wird. Das ist die Welt, die Van Weyden durch Wolf Larsen kennenlernen, ja in der er sich behaupten lernen wird. Das impliziert nicht die Falschheit von Nietzsches (so gesehener) Weltdeutung, sondern die Verfehltheit eines bloß theoretischen, abstrakten Verständnisses der Implikationen dieser Philosophie. Van Weyden begegnet in Larsen der Art von Philosophie, die London fünf Jahre später in Martin Eden als „living philosophy" (wahrscheinlich die etwas holprige Umsetzung des Begriffs „Lebensphilosophie") zelebrierte, wie sie Russ Brissenden und Frank Strawn-Hamilton vorlebten: The books were alive in these men. They talked with fire and enthusiasm, the intellectual stimulant stirring them as he had seen drink and anger stir other men.

What he

heard was no longer the philosophy of the dry, printed word, written by half-mythical demigods like Kant and Spencer. It was living philosophy, with warm, red blood, incarnated in these two men till its very features worked with excitement. 28

Hatte Jack London also die Absicht, mit der Figur Wolf Larsens den Versuch einer literarischen Umsetzung des Nietzscheschen Übermenschen zu wagen? Es spricht einiges dafür, selbst wenn man zu denen gehört, die geneigt sind, den Versuch für mißlungen zu halten - vor allem deswegen mißlungen, weil der Übermensch hier angeblich zum bloß gewissenlosen Krafttier reduziert wird. Man übersieht aber leicht die an Wolf Larsen bewußt entwickelte Nietzschesche Thematik, wenn man sich nur auf die allgegenwärtige animalische Vollkommenheit der Figur konzentriert, die dem darwinistischen Fundus des Autors entnommen ist. Der Leser unterliegt oft dem Gesamteindruck dieses übertriebenen und

27

2

"

Jack London, The Sea Wo//(1904; New York: Bantam, Doubleday, Dell, 1989), S. 1 (hiernach im Text als SW, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.) Jack London, Martin Eden (1909; New York: Penguin, 1985), S. 374 (hiernach im Text als ME, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.)

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heutzutage fast unerträglichen Evolutionismus, denn an mehreren Stellen schlug Londons fetischistisches Ariertum gewaltig zu Buche. „Knowing him [Larsen]", bemerkt Van Wey den, I review the old Scandinavian myths with clearer understanding. The white-skinned, fair-haired savages who created that terrible pantheon were of the same fibre as he. (SW 66)

Van Wey den gibt damit das simple Verständnis seines Schöpfers von „blonder Bestialität" getreu wieder. Sicherlich betont Van Weyden auch unmißverständlich, daß Larsens Stärke wie eine unübersehbare Energie von ihm ausgeht: „my first impression or feel of the man, was ... of his strength." (SW 13) Solche Geständnisse des Erzählers verleiten schnell dazu, diese körperliche Qualität für das Essentielle der Figur Wolf Larsens zu erachten. Daher entsteht z.B. für Kaufmann der Eindruck, daß Larsen „denies the intellectual for the atavistic" und infolgedessen kein „Nietzschean hero" sein könne.29 Aber seine Bemerkungen über Larsens physische Stärke ergänzt Van Weyden um eine genauere Bestimmung dieser beeindruckenden Kraft, welche eine solche „atavistische" Einebnung des Sea Wolf als gravierende Fehlinterpretation erweist: the massiveness seemed to vanish and a conviction to grow of a tremendous and excessive mental or spiritual strength that lay behind, sleeping in the deeps of his being. (SW 16)

Im Sea Wolf schaffte es London, auf geschickte Weise beide Varianten seines stofflichen Grundmusters ins Erzählgewebe einzuflechten. Der verzärtelte und verfeinerte Zivilisationsmensch Van Weyden wird gewaltsam in das Reich der primitiven Natur und des unfiltrierten Daseinskampfes gestoßen - symbolisiert durch das die gesamte Literaturgeschichte durchsegelnde Schiff als Mikrokosmos der Gesellschaft und des Lebens. Dies ist eine Sphäre, in der „Force, nothing but force obtained. ... Moral suasion was a thing unknown." (SW 32) Der primitive Wellenreiter Wolf Larsen (wie der einstweilige Seemann Jack London) andererseits wird durch seine inhärente Intelligenz, seine unkontrollierbare Neugier und nicht zuletzt seinen höheren Machtwillen zur wissenschaftlichen und philosophischen Lektüre geführt - das Buch als Symbol der zivilisierenden Geistesmacht. Ebenfalls wie London ein Autodidakt, liest Larsen mehr oder weniger die gleichen Werke, welche Londons eigene Bildung konstituierten: Tyndall, Praetor, Darwin, Spencer - aber auch die großen poetischen Kunstwerke Shakespeares, Tennysons und Poes. Von Bedeutung ist darüber hinaus, daß seine Berührung mit den Kulturgütern des Geistes Larsens unbewußte Standhaftigkeit im Leben gefährdet. Nicht nur beneidet er seinen Bruder Death Larsen um dessen „gesunde" Stumpfsinnigkeit -

Leroy Kaufmann, Influence of Nietzsche, op. cit., S. 83 u. 43.

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H e is a lump of an animal without any head. ... And he is all the happier for leaving life alone. H e is too busy living it to think about it. My mistake w a s in e v e r opening the books - (SW 7 1 ) ,

er analysiert zudem mit einer erstaunlichen Präzision und mit Nietzschesch gefärbtem Vokabular die die voluntative Gesundheit unterminierende Kraft des Geistes und die eigene Sehnsucht nach der heilbringenden Illusion: I sometimes catch m y s e l f wishing that I, too, were blind to the facts of life and only knew its fancies and illusions.

T h e y ' r e wrong, all wrong, of course, and contrary to

reason; but in the face of them my reason tells m e , wrong and most w r o n g , that to dream and live illusions g i v e s greater delight. ... I often doubt, I often doubt, the worthwhileness o f reason. ( S W 155)

Mit den eigenen Worten stellt Larsen noch einmal genau die Frage, mit der Nietzsche Jenseits von Gut und Böse eröffnet: „Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?" (JGB 1) Die Spannung von Primitivität und Zivilisiertheit faßte London wiederholt unter diesem Gesichtspunkt und dieser Frage, ob es denn nicht eine höhere „Vernunft des Leibes" gebe, welche besser als die Vernunft des Kopfes wisse, was des Menschen Wohlergehen ausmache. Im Zeichen des modernen Irrationalismus wurde Nietzsche allzu häufig als der Philosoph hingestellt, welcher dieser Leibesvernunft zu Ehre und Herrschaft verhelfen, welcher das westlich-logozentrische Verhältnis von Vernunft und Trieb auf den Kopf stellen wolle. London gesellte sich so gelegentlich zu denjenigen, welche gegen die zersetzende Kraft der Vernunft das Wort Zarathustras im Munde führten: D e r Leib ist eine g r o s s e Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine H e e r d e und ein Hirt.

Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine

Vernunft, mein Bruder, die du „Geist" nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. (Za „ V o n d e n Verächtern des Leibes")

Nicht von ungefähr stirbt Wolf Larsen an einem „brain breakdown" (SW 230). Der für den Materialisten wissenschaftlich erwiesene Sitz des Geistes hat sich gegen den Leib gewendet und ihn damit zugrundegerichtet. Walcutt sieht darin sogar eine Anspielung auf die „Gehirnerweichung" Nietzsches, die ihn elf Jahre lang dahindämmem ließ, bis ihn der Tod von seiner vegetativen Scheinexistenz erlöste. 30 Wolf Larsens elendes Ende bedeutet trotzdem immer noch keine eindeutige Absage Londons an Nietzsche. Selbstredend kündigte der schreib- und lesewütige London dem Geist das Vertrauen nicht auf. Er befand sich vielmehr in einer für ihn gefährlichen Ambivalenz, zumal er, seitdem er mehr oder weniger endgültig an Land gegangen war, nicht mehr klar wußte, zu welcher Lebenssphäre er nun gehörte. In einem der letzten Kapitel von Martin Eden schilderte er, wie der am

30

Charles Child Walcutt, American Literary Naturalism,

op. cit., S. 112.

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Erkenntnisekel erkrankte Eden versucht, zur geistigen Unschuld seines früheren Lebens zurückzukehren, indem er seine alten Freunde aus dem Arbeitermilieu wieder aufsucht. Schmerzlich muß er feststellen, daß ihm dieser Weg auf immer versperrt bleiben muß. „I am a sick man", konstatiert Eden - „oh, not my body. It is my soul, my brain. I seem to have lost all values. I care for nothing." (ME 464) In dieser Lage des seiner Werte verlustig Gegangenen identifizierte sich London sogar mit Nietzsche. Charmian London zufolge brachte er das in bezug auf das eigene Leben so zum Ausdruck: I don't seem to care for anything - I'm sick my dear. It's Nietzsche's „Long Sickness" that is mine, I fear. This doesn't seem to be what I want. I don't know what I want. 31

Nietzsche machte ihn nicht krank, sondern ganz im Gegenteil: London sympathisierte mit diesem großen Leidensgenossen, bei dem er wahrscheinlich oft neuen Lebensmut schöpfte. Schließlich erkennt auch Van Weyden, welches Verdienst um sein eigenes Seelenheil er dem sonst oft schrecklichen Wolf Larsen verdankt. Der lebensunfähige Ästhetizist erstarkt und gesundet unter Larsens strenger Herrschaft. Das schwächende Verhältnis von Geist und Leib wird im Falle Van Weydens mit Larsens Hilfe korrigiert (wenn auch nicht umgedreht): The youth of the race seemed burgeoning in me, over-civilized man that I was, and I lived for myself the old hunting days and forest nights of my remote and forgotten ancestry. I had much for which to thank Wolf Larsen. (SW 201)

Es ist aber nicht einfach der primitive Überlebenswille, den Larsen in seinem zunächst widerspenstigen Schüler weckt. Van Weyden modifiziert nun auch seine eigene Philosophie empiristisch und gewinnt dadurch wieder „festen Boden" unter den endlich erworbenen Seemannsbeinen: I had learned to look more closely at life as it was lived, to recognize that there were such things as facts in the world, to emerge from the realm of mind and idea and to place certain values on the concrete and objective phases of existence. (SW 108)

Van Weydens letztendlicher, in der selbsterrungenen Rückkehr zur Zivilisation symbolisierte Erfolg (er macht die gestrandete Ghost mit eigenen Händen wieder seetüchtig) besteht darin, daß er den Egoismus, den Lebens- und Machtwillen und die Immoralität, welche er bei Larsen neu kennenlernt, mit der zivilisierenden Macht des Geistes aussöhnt. Er steht am Ende zwischen Wolf Larsen und der nach einem Schiffbruch aus dem Meer geretteten Literatin Maud Brewster, die kein Verständnis für Larsens materialistische Weltlehre aufbringen kann und ohne Van Weydens Hilfe dem sicheren Tod durch Larsens Hand überlassen wäre. Während diese zwei in endlosen Wortgefechten aneinander vorbeireden, steht das „Weltkind in der

Charmian London, Book of Jack London, vol. II, op. cit., S. 31.

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Mitten" Van Weyden als Beobachter daneben, der nun einfach nach eigener, eher unideologischer Fasson (über-)leben will: his [Larsen's] was the sheer materialistic side, and Maud's was the idealistic. For myself, beyond a word or so of suggestion or corrrection now and again, I took no part. (SW 170) Der in seinem Materialismus wurzelnde Immoralismus Wolf Larsens läßt erkennen, daß London mit aller Wahrscheinlichkeit ein Nietzschesches Vorbild bei der Ausarbeitung dieser Figur Pate stand. Nietzsches Immoralität legt der Erzähler als Amoralität aus und schreibt diese Haltung Wolf Larsen zu: „he was of the type that came into the world before the development of the moral nature. He was not immoral, but merely unmoral." (SW 68) Larson fehlt aber nicht schlicht jeder Begriff von Moral. Das Leben hat ihm vielmehr gezeigt, daß die Moral keinen metaphysischen Grund hat. Entscheidenderweise macht das ihn aber für Van Weyden nicht zum Repräsentanten des Bösen - er befindet sich wahrlich jenseits von solcher Begrifflichkeit und zeichnet sich für Van Weyden durch eine überraschende Redlichkeit aus. Die Robbenjäger, die auf der Ghost angeheuert haben, erkennt Van Weyden als dezidiert evil, aber: „Wolf Larsen's features showed no such evil stamp. There seemed nothing vicious in them. ... It seemed, rather, a frank and open countenance". (SW 24) Seine Ablehung moralischer Vorstellungen begründet Larsen Van Weyden gegenüber mit dem Daseinskampf und der völligen Differenzlosigkeit in der Natur. Das heißt für ihn, die Natur bevorzuge niemanden. Sie erscheint ihm daher als großer spendthrift, als „Verschwender". Für jeden erfahrenen Nietzsche-Leser ist das ein Signal, denn hier ist von Nietzsches „verschwenderischer Natur" die Rede, welche die Masse gewähren läßt und somit die seltensten, höchsten Exemplare jeder Gattung in stetiger Gefahr leben heißt: Nature is a spendthrift. Look at the fish and their millions of eggs. For that matter, look at you and me. In our loins are the possibilities of millions of lives. ... Life? Bah! ... Nature spills it out with a lavish hand. Where there is room for one life, she sows a thousand lives. (SW 48) Daraus ergibt sich wiederum für Wolf Larsen, daß jegliche Wertung im Leben nur von den hier und jetzt Lebenden kommen und sich nur auf Kriterien des Überlebens beziehen könne. London nahm damit dem Gedanken Nietzsches von der transzendenzlosen Wertsetzung zwar seine Tiefe, aber daß er eine banalisierte Form genau dieses Gedankens in Wolf Larsens Mund legte, ist ein fast zwingender Schluß: Do you know the only value life has is what life puts upon itself? ... [M]y life is pretty valuable just now - to myself. It is beyond price ... it is the life that is in me that makes the rating. ... Do you know, I am filled with a strange uplift; I feel as if all time were echoing through me, as though all powers were mine. I know truth, divine good from evil, right from wrong. My vision is clear and far. (SW 48)

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Zur Abrundung der Wertetheorie Wolf Larsens spickte London diesen Monolog mit zwei weiteren Nietzscheschen Stichworten: ewige Wiederkehr (all time echoing through me) und das Recht des Herrenmenschen auf Werteschaffung (/ divine good from evil, right from wrong). Und auf seinem Schiff ist es tatsächlich nur dem Herrn, Wolf Larsen, gegeben zu bestimmen, was gut und was böse ist. Es wäre denkbar, daß Larsen nicht nur aus einer nachgefälschten Form des Übermenschen gegossen sein, sondern in manchem die Rolle Nietzsches selbst spielen sollte. Seine Augen sind z.B. „the true artist's ... eyes that masked the soul with a thousand guises". (SW 17) Der Widerschein des Philosophen der Masken leuchtet kurz im Spiegel der Seele Wolf Larsens auf. Die populäre Reaktion auf den Sea Wolf in Form enormer Verkaufszahlen verschaffte London Geld, Ruhm und eine gewisse Genugtuung. Die Reaktion derjenigen Kritiker, auf deren Urteil er besonderen Wert legte - der intellektuellen Linken -, dürfte ihn indes eher getrübt haben. Selbst wenn man einräumte, daß Van Weyden und nicht Wolf Larsen der eigentliche Held des Romans sein sollte, reizte auch erstere Figur nicht gerade zum Lob einer im Werk entfalteten gemeinschaftlichen Gesinnung. Van Weyden ist am Ende zwar kein dekadenter Vertreter einer verdorbenen Bourgeoisie mehr, dafür aber ein siegreicher Individualist geworden, der ganz alleine seiner feindlichen Umwelt sein Existenzrecht abtrotzt. Sein Triumph über Larsen, den er in vollen Zügen auskostet, enthält keine brüderliche Solidarität: You are no longer the biggest bit of the ferment. You were, once, and able to eat me, as you were pleased to phrase it; but there has been a diminishing, and I am now able to eat you. (SW 220)

Ebenfalls Van Weydens im Verlauf des Romans nur stets anwachsende Verachtung des Kochs Mugridge ließe keine sozialistische Interpretation seines Charakters zu. Über den Sea Wolf verlautbarte manch ein Kritiker aus Londons eigenem „Lager" harsche Worte. Lewis Mumford fand sich sogar Jahre später nicht in der Lage, sein Urteil zu revidieren oder wenigstens zu mildern: London ... seized the suggestion of the Superman and attempted to turn it into a reality. And what did he become? Nothing less than a preposterous bully ... blessed with nothing more than the gift of a magnificent animality, and the absence of a social code which would prevent them from inflicting this gift upon their neighbours. In short, London's Superman was little more than the infantile dream of the messenger boy or the barroom tough. 32

Der thematisch angestrengte und stilistisch gequälte Revolutionsroman The Iron Heel folgte drei Jahre später als nächstes längeres Werk nach The Sea Wolf (abgesehen vom 1905 veröffentlichten Roman The Game, der aber früher ent-

32

Lewis Mumford, The Golden Day: Α Study in American Experience and Culture (London, 1927), S. 248f.

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standen war) und ist teilweise als Beschwichtigungsgestus Londons gegenüber seinen Genossen aufzufassen. The Iron Heel erzählt die Geschichte des Revolutionärs Ernest Everhard, der als Autodidakt sich durch Bildung aus dem Proletariat erhebt und zum streitbaren Intellektuellen aufschwingt. Die Figur Everhards birgt bereits schemenhaft das Selbstbildnis Londons in sich, das zwei Jahre später in Martin Eden viel deutlichere Konturen gewinnt. Wenn er nicht gerade mit gesellschaftskritischen und philosophischen Vorträgen und Disputen in den Salons des Großbürgertums seine Zeit verbringt, führt Everhard eine sozialistische Arbeiterbewegung an, die zunächst auf dem liberalen Weg freier Wahlen ihr reformatorisches Programm durchzusetzen versucht. Diese gewaltlosen Ambitionen der organisierten arbeitenden Klassen werden sofort von den die Politik des Staates eigentlich bestimmenden Kräften der Industrie und des Bankwesens - der brutalen „eisernen Ferse" eben - blutig niedergedrückt. Als Reaktion gegen die revolutionäre Bedrohung bekennt sich der scheinbar demokratische Staat nun offen zur Oligarchie mitsamt paramilitärischem Sicherheitsapparat, um ein effektives Bollwerk gegen die schwellenden Massen aufzuwerfen. Everhard und seine Genossen führen ab jetzt ihren Widerstandskampf aus dem Untergrund. Der Stoff dieses Romans stellt den Interpreten vor die diffizile Frage, ob sich London denn tatsächlich zwischen Sozialismus und Individualismus hin- und hergezogen fühlte. Die spezifische Art von Londons Behandlung besagten Stoffs relativiert allerdings diese Unsicherheit. In seinen Werken verfolgte London stets Entwicklung und Kampf eines großen Protagonisten gegen eine sich variierende Übermacht, und auch in diesem angeblich sozialistischen Roman wich er von seinem Lebensthema nicht ab. Im Vordergrund steht immer die heroisch skizzierte Figur Ernest Everhards, dessen sprechender Name keinen weiteren Zweifel an seiner Identität als einem großen Individuum Londonscher Prägung läßt. Der Name ist diesmal auch keine Variation des Wolfes, des persönlichen Totemtiers Jack Londons. Everhard führt vielmehr den Beinamen „eagle spirit" und gibt sich damit als Kreatur des Zarathustraschen Bestiariums zu erkennen. Ob es sich um Helden der geistigen Aristokratie oder des leibhaftigen Proletariats handelt, die politisierten Zuordnungen der Figuren Londons blieben immer akzidentell - Everhard z.B. ist in erster Linie ein eigentlich überparteiischer Heros. Auch in seinen Konfrontationen mit den Vertretern der eisernen Ferse zeigt er sich weniger an den Zielen der sozialistischen Gesellschaftsreform als am Kampferlebnis und Machtzuwachs interessiert. Das Schlüsselwort „Macht" wirft Everhard ein kampfeslüsterner Kapitalist als einzige philosophische Wahrheit und als Drohung entgegen, die aber von Everhard sofort als eigene Parole aufgegriffen und zurückgeschleudert wird: „There is the word. Power.

It is the king of words - Power.

„I am answered," Ernest said quietly. Power.

Not God, not M a m m o n , but

Pour it over your tongue till it tingles with it. P o w e r . " „It is the only answer that could be given.

It is what w e of the working class preach.

W e know, and well w e know by

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bitter experience, that no appeal for the right, for justice, for humanity, can ever touch you." 33

In eindeutiger Übereinstimmung mit der Nietzscheschen Genealogie verblassen hier die tradierten Vorstellungen von Recht und Gerechtigkkeit gegen das alles hervorbringende Substrat des Machtwillens. Oft als mehr oder weniger naives, in fiktionaler Gestalt vorgelegtes sozialistisches Manifest verstanden, wird The Iron Heel von einigen Interpreten auch als Anti-Nietzsche-Roman ausgelegt. Viel Spekulation rankt sich um eine frühe Aussage im Roman, welche Everhard als Nietzscheschen Aristokraten charakterisiert: He was a natural aristocrat - and this in spite of the fact that he was in the camp of the non-aristocrats. He was a superman, a blond beast such as Nietzsche has described, and in addition he was aflame with democracy. (IH 8)

Wie London (gemäß dem Bekenntnis aus dem Brief an George P. Brett, siehe oben) gehört Everhard offiziell zum „Lager" der Antiaristokraten, sympathisiert aber gefühlsmäßig mit der gegnerischen Partei. Hier prallen Nietzschesche „Naturaristokratie" und Demokratie aufeinander. Zudem gibt es im Roman eine Fußnote zu dieser Stelle, in der es heißt: Friedrich Nietzsche, the mad philosopher of the nineteenth century of the Christian Era, who caught wild glimpses of truth, but who, before he was done, reasoned himself around the great circle of human thought and off into madness. (IH 8)

Dieser Kommentar genügt Kaufmann z.B. als Beweis für die eigentliche ideologische Tendenz des Romans, die sich ihm zufolge als Gegenteil des Nietzscheanismus offenbart. „This statement", schließt Kaufmann, „shows that London was aware that he was disagreeing with a concept of Nietzsche's known as the eternal recurrence" .34 Dabei übersieht oder unterschlägt Kaufmann aber, daß es sich bei The Iron Heel um eine doppelte Rahmenerzählung handelt. Zunächst soll der Roman ein von Everhards Frau Avis (wieder einmal ein geflügeltes Wort als sprechender Name) erstelltes Manuskript wiedergeben, in dem sie seine Geschichte und die ihres gemeinsamen Kampfes gegen die eiserne Ferse für die Nachwelt aufzeichnet. Zweitens gibt das Werk vor, eine historisch-kritische Ausgabe zu sein. Seit dem Kampf gegen die eiserne Ferse am Anfang des 20. Jahrhunderts sollen sechs Jahrhunderte verflossen sein, von denen die letzten vier unter der kollektivistischen Herrschaft der „Brotherhood of Man" nach dem Niedergang der Oligarchie gestanden haben. Bei den Fußnoten handelt es sich keineswegs um ein editorisches Sprachrohr des Autors, sondern um die didaktischen Bemühungen eines

33

34

Jack London, The Iron Heel (1907; Chicago: Lawrence Hill, 1980), S. 63 (hiernach im Text als IH, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.) Leroy Kaufmann, Influence of Nietzsche, op. cit., S. 64f.

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fiktionalen Herausgebers, der die historische Sehweise einer vom sozialistischen Staatsapparat durchdrungenen Kultur darstellt. Diese Fußnoten befinden sich häufig in einem krassen Mißverhältnis zur Figur Everhards und bezeugen mehrmals den Versuch, den Leser vom Bild der heroischen Rolle des Londonschen Protagonisten wegzusteuern. Schon im „Vorwort" dieses Herausgebers wird prophylaktische Korrektur betrieben: w e smile, indeed, and forgive A v i s Everhard for the heroic lines upon w h i c h she modelled her husband.

W e know to-day that he was not so colossal, and that he

loomed a m o n g the events o f his times less largely than the Manuscript w o u l d lead us to believe. ... H e w a s , after all, but one of a large number of heroes w h o , throughout the world, devoted their lives to the Revolution. (IH 1)

Während der Textkommentator oft vom Autor genötigt ist, der Erzählung doktrinäre ideologische Ansichten aufzuzwingen, bekommt Everhard stets Aussagen in den Mund gelegt, die sich eindeutig mit den individualistischen Überzeugungen Londons überschneiden. Londons Begriff der Maxime Nietzsches, die Philosophie habe von nun an dem Leben und der „Erde treu" zu bleiben (Za „Zarathustra's Vorrede" 3), wird von Everhard unverhüllt propagiert: T h e w i s e heads have puzzled so sorely over truth because they went up into the air after it.

Had they remained on the solid earth, they would have found it easily

e n o u g h . (IH 14)

Die herrschenden Klassen verachtet er weniger aufgrund ihrer Bereitschaft zur Ausbeutung der Massen als wegen ihrer „Dummheit", die sie dazu zwinge, an moralischen Konventionen festzuhalten. Anstatt klar zu erkennen und offen zu bekennen, daß menschliches Handeln durch innere Triebe bestimmt werde, suchen sie noch nach jämmerlichen ethischen Rechtfertigungen für ihr Machtbestreben: they can't d o a thing unless they think it is right. They must have a sanction for their acts.

W h e n they want to d o a thing ... they must wait till there arises in their brains,

s o m e h o w , a religious, or ethical, or scientific, or philosophic, concept that the thing is right. (EH 4 6 )

Noch bedenklicher stimmt den Leser die Einschätzung Everhards von der kommenden Herrschaft der Oligarchie - seines mutmaßlichen Erzfeindes -, unter deren Strenge und ausgeprägtem Formwillen eine Epoche herrlicher, erhabener Kunst eingeläutet werden werde: W h e n the oligarchs have completely mastered the people, they ... will b e c o m e worshippers of beauty.

They will b e c o m e art-lovers.

generously rewarded, will toil the artists.

And under their direction, and

The result will be great art; for no longer,

as up to yesterday, will the artists pander to the bourgeois taste of the middle class. It will be great art, I tell y o u and wonder cities will arise that will make tawdry and c h e a p the cities of old time. beauty. (IH 142f.)

And in these cities will the oligarchs dwell and worship

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Damit wird klar, gegen wen Everhard (mit der anzunehmenden Zustimmung Londons) eigentlich opponiert: die mittelmäßige Bourgeoisie. Dahinter steckt die kulturpolitische Grundüberzeugimg Nietzsches, daß vor allem die Herrschaft der Mittelmäßigkeit in jeder Form zu bekämpfen sei. Und daß in diesem Zusammenhang die Schaffung von Kunst als höchste, dem Mittelmäßigen am extremsten entgegengesetzte Tätigkeit des Menschen gegen den Kollektivismus ausgespielt wird, verrät das unverkennbare Zeichen Nietzsches. Es ist inakzeptabel, Everhard als Antihelden sehen zu wollen, denn er trägt all jene Charaktermerkmale, die bei London den Kanon des Heroischen ausmachen, um dessentwillen die sonstige Gesellschaft eigentlich existiere. Nach Everhards Festnahme und Inhaftierung durch die Häscher der Oligarchie wird Avis Everhard immer aktiver in der Resistance gegen die staatliche Macht. In Chicago gerät sie in einen Aufstand der Massen hinein, der sich schlagartig in eine sintflutartige Gewaltorgie verwandelt, und bei dem sie die Menschen der unteren Gesellschaftsschichten plötzlich als „Abschaum des Lebens" erlebt: It was not a column, but a mob, an awful river that filled the street. ... I had seen the people of the abyss before, gone through its ghettos, and thought I knew it; but I found that I was now looking on it for the first time. ... It surged ... drunk with hatred, drunk with lust for blood ... the refuse and the scum of life, a raging, screaming, screeching, demoniacal horde. (IH 207)

Man sollte das Epiphanische dieses Erlebnisses nicht übersehen. Natürlich kennt Avis Everhard die Massen durch ihre agitatorische Tätigkeit, aber jetzt, als seien ihr die Schuppen von den Augen gefallen, blickt sie wie zum ersten Mal auf diese Menschen, die sich ihr als dämonische Horde entlarven. Die Bezeichnung Abschaum („refuse", „scum") sowie die Beschreibung des Ressentimentmoments im Amoklauf der Massen („drunk with hatred") lassen wieder vermuten, daß London hier Rekurs auf Nietzsches Berührungsekel mit den „ Vielzuvielen" nahm. Kurz nach dieser Episode bricht das Manuskript jäh, sogar mitten im Satz ab; der Rest, so der Kommentator, sei verschollen. Das ist ein für Londons eher traditionellen, an den in populären Zeitschriften abgedruckten Serienerzählungen geschulten Geschmack eher untypischer Schluß. Es kann sein, daß ihm plötzlich die Lust an der Erzählung verging. Es mag aber auch sein, daß dem Leser zu verstehen gegeben werden sollte, hier sei etwas vom „Herausgeber" ediert worden. Beides spräche gegen eine ernsthafte sozialistische Überzeugung als ideologisches Gerüst des Romans. Es deutet sogar, wie wir gesehen haben, einiges darauf hin, daß erkennbar werden sollte, wie es diesem editorischen Erziehungsbeauftragten im Falle von The Iron Heel verwehrt ist, ein solches großes Individuum wie Ernest Everhard adäquat zu würdigen. Die doktrinären, linientreuen Kritiker des linken Intellektuellentums hatten London wegen seines Wolf Larsen einer schmerzvollen Rüge unterzogen, weil ihnen in ihrem Dogmatismus auch nicht gegeben war zu verstehen, was in diesem Werk eigentlich vorging. Es scheint nicht zu verwegen zu fragen, ob London nicht möglicherweise in The Iron Heel neben der Versöhnungsabsicht eine verschlagene Kritik an den entrüsteten

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Literaturpäpsten der linken Avantgarde versteckt hat. Sollten seine mit marxistischen Scheuklappen versehenen Scharfrichter bloßgestellt werden - aber so subtil, daß sie es selbst nicht merkten? Jedenfalls kann jetzt von einer starken Ambivalenz Londons gegenüber Nietzsche noch weniger die Rede sein. Der Verdacht einer solchen tiefgreifenden Ambivalenz scheint angesichts des 1909 erschienenen Marin Eden, Londons Lieblingswerk unter den eigenen Büchern, fast ganz zu verfliegen. In diesem unverhohlen autobiographischen Roman entfaltete London an seinem Alter ego Martin Eden noch einmal sein altes Thema des sich nur durch eiserne Willenskraft in der Welt der Zivilisation und Bildung behauptenden Primitivlings. Den Anfang von Edens Geschichte (hier deutet der sprechende Name auf den Zustand der vormoralischen und -intellektuellen Unschuld der Hauptfigur, welche durch den Kontakt mit den Dingen des Geistes langsam zerrüttet wird) fädelte London genau an dem Zeitpunkt aus seiner eigenen Biographie ein, als er selbst 1895 beschloß, zur Schule zurückzukehren und damit die schicksalhafteste Entscheidung seines Lebens traf. Es war die Entscheidung für Zivilisation und Intellektualität und gegen Unschuld und Primitivität, aber den Reiz dieser zuletzt genannten Sphäre bewahrte sich London bis an sein Lebensende in Gestalt seiner hemmungslosen Heldenverehrung. Martin Edens Geistes- und Herzensbildung nimmt ihren Anfang in der Begegnung mit Ruth Morse, einer Tochter der höheren Gesellschaft. Diese Figur wurde der ersten Jugendliebe Londons, Mabel Applegarth, nachgebildet, die auf ihn ähnlich erzieherisch wirkte. Im Roman fungiert die Figur der Ruth Morse aber auch als Hemmschuh, weil sie Martin Eden den moralischen Konventionen der bourgeoisen Gesellschaft zu unterwerfen trachtet, von denen sie sich selbst nicht befreien kann. Eden kann sich vor diesem „verderblichen" Aspekt ihres didaktischen Einflusses nur kraft seines überdimensionalen Individualismus retten. Schon bevor er sich an der Lektüre titanenhafter Mengen der neuesten wissenschaftlichen, philosophischen und literarischen Werke der Zeit zu schulen beginnt, weiß er instinktiv um die Hohlheit traditioneller moralischer Vorstellungen: „He had always been irreligious, scoffing good-naturedly at the sky-pilots and their immortality of the soul". (ME 58) Interessant an der natürlichen philosophischen Veranlagung der Figur ist aber weniger dieser banale Materialismus als Edens Identifizierung von der gängigen Moral mit der Kompensationsmechanik des Ressentimentmenschen. Als Ruth versucht, gegenüber Martin einen fleißigen und sparsamen Emporkömmling, der in ihres Vaters Bank arbeitet, als Vorbild glaubhaft zu machen, entlarvt Eden den Parvenü sogar unbekannterweise als Dyspeptiker, der glücklicheren Menschen ihre Lebensfreude mißgönnt: „I'll bet h e ' s got dyspepsia right n o w ! " „ Y e s , he h a s , " she confessed; „but - „ „ A n ' I b e t , " Martin dashed on, „that h e ' s solemn a n ' serious as an old owl, an' doesn't c a r e a rap for a good time, for all his thirty thousand a y e a r . not particularly joyful at seein' others have a good time.

A n ' I'll bet he's

Ain't I right?" ( M E 1 0 9 )

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Allein das Schlagwort „Dyspepsie", das so häufig in Nietzsches Spätschriften begegnet, muß uns die Ohren zuspitzen lassen. Besiegelt wird der Befund Nietzscheschen Einflusses durch die eben stark vereinfachte und reduzierte, aber deutlich erkennbare Thematisierung von Nietzsches moralgenealogischem Konzept des Ressentiment. Ein weiteres Mal später im Roman macht dies London noch deutlicher, wenn er, in einem erneuten Anfall seines Arierfetischischmus, einen jüdischen Redner auf einer Versammlung sozialistischer Aktivisten auftreten läßt. Der Vortragende wird von Eden als „biologischer Auswurf" analysiert, der es nur aufgrund seiner „Klugheit" zu Wege gebracht hat, sich dennoch im Überlebenskampf zu behaupten: The speaker, a clever Jew, won Martin's admiration at the same time that he aroused his antagonism. ... To Martin this withered wisp of a creature was a symbol. He was the figure that stood forth representative of the whole miserable mass of weaklings and inefficients who perished according to biological law on the ragged confines of life. They were the unfit. In spite of their cunning philosophy and of their antlike proclivities for cooperation, Nature rejected them for the exceptional man. (ME 390)

Eben jene Klugheit gilt Nietzsche als alleiniges Mittel des von der Natur benachteiligten Ressentimentmenschen, Macht über die natürlich vornehmen „Herrenrassen" zu erlangen. So erläutert er in der Genealogie der Moral: Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat [...] (GM „,Gut und Böse', ,Gut und Schlecht'" 10)

Obwohl beileibe kein Antisemit, zählt Nietzsche dennoch gerade die Juden zu den geschichtlich folgeträchtigsten Völkern solcher „klugen Ressentimentmenschen". Eden wird noch im Verlauf seiner Entwicklung zum deklarierten Nietzscheaner, aber sein Zuschreiten auf diesen philosophischen Endzustand wird schon im Vorfeld mit weiteren Mitteln signalisert. Der wiederholte Zusammenprall Edens mit der Konventionalität der bürgerlichen Gesellschaft dient zur mehrmaligen Unterstreichung seines heroischen Individualismus, denn er beweist sich stets als unnachgiebig. „I am I" verkündet er, „and I won't subordinate my taste to the unanimous judgment of mankind." (ME 256) Sein neuer Lebensinhalt, die Schriftstellerei (den er ja mit London teilt), soll auch ganz im Zeichen des heroischen Individualismus und des Widerstandes gegen Konventionen stehen: He wanted to glorify the leaders of forlorn hopes, the mad lovers, the giants that fought under stress and strain, amid terror and tragedy, making life crackle with the strength of their endeavor. And yet the magazine short stories seemed intent on glorifying the Mr. Butlers, the sordid dollar-chasers, and the commonplace little love affairs of commonplace little men and women. (ME 160)

Wieder einmal fallen bei London das antibourgeoise Gehabe und das Nietzschetum in eins. Martin Eden zählt nicht zu den „Mr. Butlers" dieser Welt, sondern

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zu den großen Geistern, welche der Erzähler als „lonely eagles sailing solitary in the azure sky far above the earth and its swarming freight of gregarious life" (ME 299) charakterisiert. Erneut wird Londons Protagonist vom schützenden Zarathustra-Tier begleitet. Die namentliche Erwähnung Nietzsches geschieht, auch der Biographie Londons gemäß, erst nach der Einführung Edens in den radikalen Philosophiezirkel um einen Anarchisten namens Kreis durch den bereits erwähnten Dichter Russ Brissenden (Londons Freund George Sterling). In dieser Episode tritt auch Frank Strawn-Hamilton auf. Von Kreis selbst heißt es: „He'll talk Nietzsche, or Schopenhauer, or Kant, or anything". (ME 371) Nach der spontanen Weiterbildung im Radikalensalon ist Eden für die einzige politische Tätigkeit, die neben dem Schreiben auch Platz in seinem Leben findet - die Opposition zum Sozialismus -, ideologisch gerüstet. Der Poet Brissenden, der einen ästhetischen, aber für ihn als einen Adepten des Geniekultes auch krankhaften Genuß an den rhetorischen Künsten sozialistischer Redner hat, motiviert Eden dazu, einigen politischen Versammlungen beizuwohnen. Diese heißblütigen Podiumsdiskussionen werden schnell zu Selbstdarstellungsgelegenheiten für Eden und seine antisozialistischen Ansichten, da die Ausstrahlung seiner alle in ihren Bann schlagenden Persönlichkeit die anderen Vortragenden völlig in den Schatten stellt. Hier erklärt sich Eden nicht nur zum „inveterate opponent of socialism" (ME 383), sondern begründet seinen Aristokratismus mit Nietzsches Namen und den plakativsten seiner Begriffe: I have swung back to aristocracy, if you please. I am the only individualist in this room. I look to the state for nothing. I look only to the strong man, the man on horseback to save the state from its own rotten futility. Nietzsche was right. ... The world belongs to the strong - to the strong who are noble as well and who do not wallow in the swine-trough of trade and exchange. The world belongs to the true noblemen, to the great blond beasts, to the non-compromisers, to the „yes-sayers." And they will eat you up, you socialists who are afraid of socialism and who think yourselves individualists. Your slave-morality of the meek and lowly will never save you. (ME 384)

Londons Charakterisierung seiner Hauptfigur als eines von Nietzsche inspirierten Aristokraten bedient sich gewiß in erster Linie einer schlagworthaftigen Minimalsprache. „Blonde Bestie", „Edelmensch" und „Ja-Sager" werden hastig den Vertretern der „Sklavenmoral" entgegengeschleudert, und diese Technik illustriert abermals, daß London oft seinen eigenen, geistig eher schlichten Individualismus einfach mit Modeworten aus dem Vokabular Nietzsches ausstaffierte. Man kann also berechtigterweise einwenden, London habe seine (vielleicht oberflächlichen) Nietzsche-Kenntnisse seinem persönlichen Titanismus untergeordnet. Dieser Einwand richtet dennoch nichts gegen die Feststellung von Londons Vertrautheit und Identifikation mit Grundkonzepten der Philosophie Nietzsches aus. Vor allem betrefflich der Aspekte des Nietzscheschen Denkens, die sich als Gegenmodell zum christlichen und sozialistischen Kollektivdogma eignen,

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bezog London Nietzsches Argumente mit in die eigene Weltauslegung ein. Das macht sich an Wolf Larsen, Humphrey Van Weyden und Emest Everhard bemerkbar, tritt aber am offensichtlichsten an der Gestalt Martin Edens hervor. Der Bruch Edens mit dem Arbeitermilieu beispielsweise, das er ehedem sein eigen nannte, setzt eine Auflösung emotionaler Bindungen voraus, die Eden bewußt erst mittels der Nietzscheschen Kritik an Herdenmentalität und Mitleidsmoral vollzieht. Einem Anfall mitleidiger Schwäche erliegt er fast, als er seiner von harter körperlicher Arbeit zerrütteten Schwester nach längerer Trennung wieder begegnet und sich gestehen muß, daß auch sie zu der von ihm verachteten Herde gehört. Sein elitäres Theoretisieren möchte er einen Moment lang zugunsten der Familienloyalität aufgeben, doch faßt er sich ein Herz und bleibt bei der konsequenten Ablehnung, die ihm sein Nietzscheanismus abverlangt: As he watched her go, the Nietzschean edifice seemed to shake and totter. ... And yet, if there was ever a slave trampled by the strong, that slave was his sister Gertrude. He grinned savagely at the paradox. A fine Nietzsche-man he was, to allow his intellectual concepts to be shaken by the first sentiment or emotion that strayed along aye, to be shaken by the slave-morality itself, for that was what his pity for his sister really was. The true noble men were above pity and compassion. Pity and compassion had been generated in the subterranean barracoons of the slaves and were no more than the agony and sweat of the crowded miserables and weaklings. (ME 402f.)

Martin Edens Ende gibt vielleicht auf den ersten Blick zu der Vermutung Anlaß, auch hier wollte London die Ausweglosigkeit des praktizierten Nietzscheanismus darstellen. An seiner bereits genannten „Wertekrise" und seiner gesellschaftlichen Heimatlosigkeit leidend, begeht Eden Selbstmord (pathetischerweise faßt er den Entschluß zum Freitod direkt im Anschluß an eine kurze Swinbume-Lektüre), indem er von Bord eines Schiffes springt - die See, Sphäre seiner anfänglichen Unschuld, hat ihn nun endlich wieder. Kaufmann nimmt den Suizid als relativ unbestreitbaren Beweis einer Zurücknahme der von ihm ohnehin als unentschlossen betrachteten Affinität Londons zu Nietzsche.35 In Antwort auf diese Auslegung ist zunächst einmal festzuhalten, daß die Arbeit äfii Schluß von Martin Eden in die Zeit fiel, als die persönliche Krise Jack Londons sich bereits allzu spürbar abzuzeichnen begann. Seine von ihm selbst immer als gegeben hingenommene und infolgedessen auch oft mißbrauchte Gesundheit ließ nicht nur nach, sondern wich verschiedenen schweren Gebrechen und Krankheiten, zu denen auch seine Dipsomanie hinzukam, mit der er zeitlebens immer wieder zu kämpfen hatte. Geschrieben wurde das Werk größtenteils auf hoher See - London und seine Frau Charmian hatten sich auf Weltreise auf dem Schooner Snark begeben, den London sich in seinem Eigensinn selbst zu bauen entschlossen hatte, und der somit zu einer weiteren seiner finanziell äußerst verlustreichen Unternehmungen wurde. Zu Hause hatten die Banken mittlerweile

35

Ibid., S. 66.

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Londons Bonität für nichtig erklärt, und die Fahrt selbst wurde zur Katastrophe: Die Londons mußten zunächst auf Hawaii Station machen, um den unzuverlässigen Kapitän, den sie angeheuert hatten, loszuwerden und dringliche Reparaturen vornehmen zu lassen. Weiter schafften sie es nur bis nach Tahiti, von wo aus London einen Platz auf einem Dampfer für die Rückfahrt nach Amerika buchen mußte. Die aus dieser Situation erwachsenen schweren Depressionen Londons schlugen sich in dem abrupten Ende von Martin Eden nieder. Kaum war Eden zur entwickelten Persönlichkeit geworden, schon beseitigte ihn London. Es gibt aber wichtigere, immanente Gründe im Roman für diese Vernichtung des Protagonisten. Martin Eden befindet sich eben in einer Wertkrise. Seine Willenskraft und Vitalität lassen in dem Maße nach, wie seine philosophische Einsicht in das Weltgeschehen zunimmt. Nachdem z.B. Brissenden gerade nach Abfassung seines bislang genialsten poetischen Werkes sich das Leben nimmt, erkennt Eden, daß sein Freund und Vorbild an der alles umfassenden Massenkultur zugrundegegangen ist. Diese Erkenntnis lähmt ihn innerlich so sehr, daß er selbst kein einziges Werk mehr zu Papier bringt, sondern nur noch aus der Schublade veröffentlicht und von seinem bereits etablierten Ruhm zehrt: The thought of again setting pen to paper maddened him. He had seen Brissenden torn to pieces by the crowd, and despite the fact that him the crowd acclaimed, he could not get over the shock nor gather any respect for the crowd. (ME 438f.)

Was mit Martin Eden geschieht, spiegelt haargenau den Untergang Wolf Larsens wider - die unbewußte, unschuldige und von daher lebensbefähigende Vernunft des Leibes kann sich angesichts der immer wachsenden kleinen Vernunft des Geistes nicht mehr behaupten. Noch einmal, und das letzte Mal im großen künstlerischen Format, bedient sich London seines zuverlässigsten Stoffes: Die zum höheren geistigen Leben erwachte „blonde Bestie" scheitert an ihrer eigenen geistigen Bildung. Just diese Entwicklung wird nicht plötzlich eingeführt, sondern von langer Hand geplant, und hierbei ist Nietzsche nicht als Katalysator der Krankheit zum Tode, sondern als Analytiker anzusehen, der London die Begriffe für die Behandlung dieses Sujets liefert. Kaum hat Eden Ruth Morse kennengelernt und sich zum ersten Mal in eine Bücherei begeben, stellt der Erzähler eine „transvaluation of values" fest, die „had taken place in him [Eden]" (ME 95). Eden ist sich dieser Umwertung noch nicht bewußt, „not conscious of this", aber seine noch nie kritisch berührte Akzeptanz des Lebens, als die London das Konzept des amor fati auslegte, zeigt bereits Risse, die in der folgenden erlebten Rede scheinbar auch für Eden sichtbar werden: U p to then he had accepted existence, as he had lived it with all about him, as a good thing.

He had never questioned it, except when he read books; but then, they were

only books, fairy stories of a fairer and impossible world.

But now he had seen that

world, possible and real ... and thenceforth he must know bitter tastes, and longings sharp as pain, and hopelessness that tantalized because it fed on hope. (ME 77)

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London wies Nietzsche damit nicht zurück, sondern zeigte, daß ihm sein eigenes Thema der Spannung von Intellektualität und Vitalität mit Nietzsches Hilfe klarer wurde. Natürlich muß ergänzend eingeräumt werden, daß gerade amor fati für Nietzsche nicht eine Lebensbejahung bedeutet, die nur auf der Stufe der animalischen Vernunftlosigkeit möglich sei, sondern eine Begrüßung des Seins als eines Werdens, welche ohne philosophische Einsicht sich nicht realisieren ließe. Jack London brachte Nietzsche auf sein eigenes Niveau herunter, aber daß es sich dabei um Nietzsche handelte, entzieht sich aller Spekulation. Auch die interpretatorische Armada, die unter der Flagge einer im Werk Londons vollzogenen Überwindung des Nietzscheanismus durch den Sozialismus segelt, ist nun so leck, daß sie nicht mehr als seetüchtig betrachtet werden kann. Jack London blieb immer Individualist, der sich bei Nietzsche Unterstützung holte, während er sich gleichzeitig aus weniger überzeugenden Gründen eines zeitweiligen Sozialismus befleißigte. Sieht man sich gezwungen, London ausschließlich als entweder Nietzscheaner oder Sozialist benennen zu müssen - was in Anbetracht der Existenz weiterer „sozialistischer" Nietzscheaner dieser Zeit in Amerika wie William English Walling, Max Eastman oder zahlreiche andere nicht unbedingt notwendig wäre -, dann muß die Entscheidung fast zwingend für den „Nietzsche-man" ausfallen. V l . l . b Theodore Dreiser (1871-1945) Der zweite amerikanische Romancier, der hier ins Blickfeld gehört, gilt ebenfalls als wichtiger Vertreter des Naturalismus und als von Nietzsche beeinflußter Schriftsteller. Der Naturalismus Theodore Dreisers hatte eine sogar noch formvollendetere Mustergültigkeit für diese literarische Schule als der Jack Londons, da die narrative Umsetzung von Milieutheorie und Determinismus, vor allem in dem Klassiker An American Tragedy (1925), einen noch größeren Platz in seinem Werk einnahm als in dem seines jüngeren Kollegen. Während der Untergang Wolf Larsens und Martin Edens einem inneren Konflikt (mehr symbolischer Art im Falle Larsens, faktischer Art in dem Edens) zwischen Lebenswillen und Erkenntnisekel zugeschrieben werden kann, stoßen Dreisers Figuren entweder mit den repressiven moralischen Konventionen ihres bürgerlichen Umfelds zusammen oder scheitern an den Grenzen ihres eigenen, meist dürftigen Lebenshintergrundes. Vornehmlich in An American Tragedy, dem bleibenden Beitrag Dreisers zum literarhistorischen Kanon der USA, führt die eigene geistige, moralische und finanzielle Beschränkheit der Hauptfigur Clyde Griffiths dieselbe in den Abgrund. Zwischen 1912 und 1917 jedoch verfaßte Dreiser vier Romane, die weniger vom Sozialpathos lebten, sondern dem Thema des großen, willensstarken Individuums gewidmet waren. Ein fatumhaftes Zweigestirn, das sich aus zwei Begriffen zusammensetzt superman und convention - und unter anderem im Hause des nietzscheschen Aszendenten steht, waltet über diesen Werken. Die „Trilogie" um die Figur des

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rücksichtslosen Großfinanciers Frank Cowperwood, bestehend aus The Financier (1912), The Titan (1914) und The Stoic (1917 geschrieben; erst 1947 postum veröffentlicht und als Fragment in gewisser Hinsicht zur eigentlichen Trilogie nicht mehr gehörig), sowie der größtenteils autobiographische Künstler-Roman The „Genius" (1915) zeigen einen Dreiser, der vielmehr an die starke Willenskraft und das angeborene Herrschaftsrecht des großen Einzelgängers als an die unabwendbare Determination durch race, milieu et moment glaubte. Mit der partiellen Ausnahme von Eugene Witla, dem Protagonisten und Dreiser-Abbild in The „ Genius", hängt Erfolg oder Scheitern dieser Titanen nicht wie bei London von ihrer Fähigkeit ab, die materialistische Erkenntnis in die Wertlosigkeit des Seins auszuhalten. Bei Cowperwood und Witla steht der Intellekt ganz im Dienste des Willens und des Triebes. Reflexion kennen sie nur in seltenen Momenten. Es ist immer die Gesellschaft, deren konventionelle Ressentimentmoral dieser Heroen nicht zu akzeptieren bereit sind, welche ihr Fortkommen zu hindern droht. Ohne dieses Hindernis, so scheint es, stünde ihrer Machtsucht nichts im Wege. Welche Rolle Nietzsche bei der Ausarbeitung des Sujets dieser Romane wahrscheinlich spielte, ist klar - die Moralgenealogie und der Gedanke vom Übermenschen könnten hierfür das thematische Gerüst gestellt haben. Der Quellennachweis des Nietzsche-Einflusses indes läßt sich bei Dreiser leider nicht so weitgehend belegen wie im Falle Jack Londons. Bei der Suche nach der biographischen Spur einer Begegnung Dreisers mit dem Denken Nietzsches aber kann man immerhin die Quelle dingfest machen. Der in der Geschichte der amerikanischen Nietzsche-Rezeption so überaus wichtige H.L. Mencken war auch hier wieder am Werk; er versuchte mehrmals, Dreiser zur Nietzsche-Lektüre zu animieren. Menckens Freundschaft spielte überhaupt eine instrumentale Rolle in Dreisers Karriere, da der Kritiker die Reklametrommel für den umstrittenen Schriftsteller kräftig rührte und sich zusätzlich immer der Sache seiner Verteidigung annahm, wenn Dreiser ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Das geschah nicht selten, da Dreiser für den damaligen Geschmack recht freizügig mit der Darstellung von Sexualität und dem Verletzen sexualmoralischer Tabus in seinem Werk umging.36 (Sowohl Frank Cowperwood als auch Eugene Witla hintergehen ihre Frauen mit einer geradezu manischen Besessenheit, weil sie nicht einsehen wollen, warum sie irgendeinen ihrer Triebe auch nur einmal zügeln sollten.) Als verderbter „Sex-Autor" verschrien, hatte Dreiser mehrmals Publikationsschwierigkeiten, weil sein Verlag Angst vor der öffentlichen Reaktion hatte, oder weil Dreiser einfach mit der Zensur in Konflikt geriet. Mencken hielt sich zugute, der einzige Publizist von Rang zu sein, der für Dreiser einstand:

M

Noch in den 40er Jahren rügt Alfred Kazin die „Krudität" des Dreiserschen OEuvres und nennt dessen Schöpfer „himself so perfect a symbol of the crudity and emotional depths of American realism" (On Native Grounds, op. cit., S. 16.)

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When „The Genius" was attacked by the Comstocks, it fell to my lot to seek assistance for Dreiser among the intelligentsia. I found them almost unanimously disinterested [sic] to lend a hand. 37

Als Erwiderung auf die Anfechtungen moralisch entrüsteter Kritiker, bescheinigte Mencken seinem Freund eine der „various rare and exhilarating sorts of superiority", welche vom überlieferten Geschmack stets verkannt würden, weil sie zu sehr über der Mittelmäßigkeit der Massen stünden, um für diese genießbar zu sein. Mit der für ihn typischen Übertreibung verglich Mencken Dreiser gar mit solchen Größen wie Flaubert und Zola.38 Menckens Ermunterungsgesten zur Auseinandersetzung mit Nietzsche fielen in die Frühzeit seiner Bekanntschaft mit Dreiser. Letzterer hatte 1907 aus Geldnot eine Stelle bei dem Zeitschriftenverlag Butterick angenommen, zu dessen Publikationen The Delineator gehörte, in der Mencken einen Essay zu veröffentlichen wünschte. Es war nicht zuletzt der vermittelnden Hilfe Dreisers zu verdanken, daß Mencken schließlich die Herausgeberschaft von The Smart Set erhielt. Als die beiden sich jedenfalls 1908 das erste Mal persönlich kennenlernten, war Mencken gerade mit der Arbeit an seinem Nietzsche-Buch fertig geworden. Sein die Jahre überdauerndes Interesse an Nietzsche war also durchaus noch auf seinem Höhepunkt, als er Dreiser am 7. März 1909 schrieb: Incidentally, I have happened upon two foreign books that may interest Dodge 3 9 & Co. The First is Nietzsche's autobiography, „Ecce Homo". ... The book is a semiinsane rhapsody, but I rather think it would sell. 40

Der Wink brachte jedoch keine Reaktion von Seiten Dreisers hervor. Anscheinend nicht geschickt hat er Dreiser jedenfalls Ecce Homo, das dieser ohnehin im Original nicht hätte lesen können. Dafür bekam er von Mencken wenig später dessen Nietzsche-Monographie mitsamt Widmung zugesandt. Das mußte Dreiser kommentieren, was er am 16. Dezember 1909 auch tat: Dear Mencken: I have received „The Philosophy of Friedrich Nietzsche", by one H.L. Mencken, and the book of poems from the press of Thomas B. Mosher, both duly inscribed. I have read the inscriptions in both cases, and the introduction and bibliography in the case of Mr. Nietzsche. If the outline of Mr. Nietzsche's philosophy in the introduction is correct, he and myself are hale fellows well met. 41

Das erweckte bestimmt Hoffnungen bei Mencken, die aber durch einen zehn Tage später geschriebenen Brief gedämpft wurden. Darin gestand Dreiser: „I am deep

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"

39

40 41

H.L. Mencken, Prejudices. Second Series (New York, 1920), S. 90. H.L. Mencken, Prejudices. Third Series (New York, 1922), S. 107. Gemeint ist Mabel Dodge, die zum bohemen Kreis um Figuren wie John Reed und Eugene O'Neill gehörte und später einen wichtigen literarischen Salon führte. Thomas P. Riggio (ed.), The Dreiser-Mencken Leiters, 1907-1945 (Pennsylvania, 1986), S. 22f. Ibid., S. 41.

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in Nietche [sic] but I can't say I greatly admire him. He seems to [be] Schopenhauer confused and warmed over". 42 Zu dieser Epistel ist dreierlei zu sagen. Erstens äußerte sich Dreiser jetzt eher abfällig zu Nietzsche, was heißt, daß er entweder Menckens Buch nicht sehr gut verstand, oder die Philosophie Nietzsches tatsächlich ablehnte. Zweitens bedeutete für Dreiser, Menckens Studie zu lesen das Gleiche, wie Nietzsche selbst „intensiv" zu studieren. Drittens verfügte Dreiser offenbar über mindestens rudimentäre Schopenhauer-Kenntnisse. Die falsche Schreibweise von Nietzsches Namen legte Dreiser übrigens nicht mehr ab. Anscheinend wurde der Fehler nur noch durch Redakteure und Lektoren behoben, da er z.B. in seinem Tagebuch am 10. August 1920 vermerkte, seine Frau Helen „is reading the life of Neitche by his sister and her comments on him & Wagner interest me very much". 43 Mencken versuchte es trotzdem noch einmal am 25. Oktober 1911 - „I wish you would look through Nietzsche - say, ,The Genealogy of Morals' and ,The Antichrist'" 44 -, aber ob diese Mühe etwas fruchtete, läßt sich heute nicht definitiv belegen. Es würde in der Tat sehr gut passen, wenn sich herausstellte, Dreiser wäre diesem Rat gefolgt, denn gerade die Genealogie der Moral zeigt sehr genaue Überschneidungen mit Dreisers Behandlung von Moral und Immoralität auf. Handfeste Beweise für seine Nietzsche-Lektüre gibt es bei Dreiser aber nicht, sondern nur für die Mencken-Lektüre. Daß es sich aber bei Dreisers Nietzsche-Bild um den Nietzsche H.L. Menckens handelte, kann man klar erkennen, denn es war Mencken, der den Übermenschen als antikonventionellen Intellektuellen interpretierte, der den Fortschritt kraft seiner Bereitschaft zum Bruch mit dem Konformismus ermöglichte. Es mag sein, daß Dreiser nur den Menckenschen Nietzsche kannte, aber dieser muß ihm dann doch sehr vertraut gewesen sein. Späteren Kontakt zu anderen Nietzsche-Interessenten in Amerika hatte Dreiser auf jeden Fall. In Chicago kannte er die Schriftsteller Ben Hecht und Floyd Dell sowie den Literaturkritiker Burton Rascoe, die sich alle bisweilen mit Nietzsche beschäftigten. In New York verkehrte Dreiser in den bohemen Kreisen des Greenwich Village, wo er Umgang mit den noch wichtigeren Intellektuellen und Radikalen Max Eastman, William English Walling, Randolph Bourne, John Reed und Emma Goldman pflegte. 45 Vielleicht bekam Dreiser hier wirksamere Anregung zur Nietzsche-Lektüre oder schnappte einfach im Gespräch detailliertere Kenntnis fundamentaler Konzepte der Philosophie Nietzsches auf. In den nach der Zeit von Menckens ersten pädagogischen Bemühungen entstandenen Essays Dreisers fand jedenfalls eine gewisse Umkehrung der in der Korrespondenz mit

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Ibid., S. 42. Thomas P. Riggio (ed.), Theodore Dreiser. American Diaries, 1902-1926 (Philadelphia, 1982). Dreiser-Mencken Letters, op. cit., S. 79. Vgl. Robert Elias, Theodore Dreiser: Apostle of Nature (New York, 1949), S. 183-85; sowie Allen Churchill, The Improper Bohemians (New York, 1959), S. 46, 82, 154 u. 176.

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Mencken geäußerten Bevorzugung Schopenhauers gegen Nietzsche statt. Im Aufsatz „Personality" wurde die „vitale Kraft" der großen Persönlichkeit gegen den Quietismus Schopenhauers ausgespielt: That which places one being over another and sets differences between man and man is not alone intellect or knowledge, as some would have us believe (Schopenhauer, for one), but these plus, other things being equal, the vital energy to apply them or the hypnotic power of attracting attention to them - in other words, personality. 44

Diese Hingabe an die vitale Ausstrahlung und hypnotische Anziehungskraft eines dominanten Charakters bedeutet an sich längst keine Anleihe beim Individualismus Nietzsches, aber im Essay „The American Financier", welcher von jenem Typ handelte, der in den Cowperwood-Romanen das große Faszinosum bildete, wurde das Konzept der die Masse überragenden Individualität direkt an Nietzsche geknüpft: If one stands with the individualists, as one may well do, and believes that there are no laws created by mass conditions and necessities which the individual should not be allowed to break ... then one will be compelled to agree with Nietzsche that it is folly not to wish that the significant individual will always appear and will always do what his instincts tell him to do. 47

Letztlich erhob Dreiser einen Nietzscheschen Wahlspruch zu einem Lebensmotto, das er, nach eigenem Bekenntnis, der Welt gepredigt hätte, wenn er die Homiletik überhaupt als seine Berufung angesehen hätte: If I were to preach any doctrine to the world it would be love of change, or at least lack of fear of it. From the Bible I would quote: „The older order changeth, giving place to the new," and from Nietzsche: „Learn to revalue your values." 48

Großem Enthusiasmus über dieses Bekenntnis steht freilich entgegen, daß Dreiser Nietzsches Aussage hier mit einem Bibelzitat vermischte, und daß bei Nietzsche nirgends der wörtliche Aufruf steht: „Lerne, deine Werte umzuwerten" . Was Dreiser überhaupt damit meinte, bleibt ein wenig undurchsichtig und deutet eher auf ein im Gespräch aufgefangenes Stichwort, das er hier als gebildete Verbrämung verwertete, als auf eine persönliche Auseinandersetzung mit der Umwertung Nietzsches. Es ist sicherlich der Konflikt mit der Moral, in den der große Individualist notwendigerweise hineingerät, der Dreiser als Element des Nietzscheschen Denkens hier interessierte. Wenn er sich darüber beschwerte, daß Amerika „noch keinen Nietzsche hervorgebracht" habe,49 dann erklärte er den Mißstand als das

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Theodore Dreiser, „Personality", Hey, Rub-A-Dub-Dub! A Book of the Mystery and Wonder and Terror of Life (1920; London: 1931), S. 118. Theodore Dreiser, „The American Financier", Hey, Rub-A-Dub-Dub!, op. cit., S. 95. Theodore Dreiser, „Change", Hey, Rub-A-Dub-Dub!, op. cit., S. 25. Theodore Dreiser, „Life, Art and America", Hey, Rub-A-Dub-Dub!, op. cit., S. 279.

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Ergebnis der Herrschaft der Mittelmäßigkeit und des Konformismus in Amerika. Seit wann, fragte er, has the dullness of the mass, or man, his ignorance or indifference, apparently calculated and conditional, not stood its ground against the overtures of intelligence, science, the arts, philosophy? ... Energetic thought is all but taboo. 50

Gegen alle Tabus, welche fur Dreiser als der Inbegriff aller Moral galten, müßten die großen, „energisch denkenden" Individualisten ankämpfen. Oder sie müßten diese Konventionen zumindest klug und gleisnerisch umgehen. Moralische Integrität oder, besser gesagt, die äußerliche Anpassung an die Sittlichkeit der Sitte, vorzutäuschen, ist genau die Überlebenskunst, die Frank Cowperwood in The Financier zu beherrschen lernen muß. Den ersten Cowperwood-Roman ließ Dreiser in Philadelphia spielen, einer der ältesten und traditionsreichsten Städte der ehemaligen neuenglischen Kolonie, die im Werk als Symbol des alteingesessenen Puritanismus und konformistischen Pfahlbürgertums fungiert. Cowperwood fällt völlig aus dem Rahmen dieser Atmosphäre selbstgefälliger und scheinheiliger Aufrichtigkeit heraus, weil ihm ein für die Eingliederung in diese Gesellschaft unentbehrliches Organ fehlt: das Gewissen. Dieser Mangel geht aber keineswegs mit einer verminderten Intelligenz einher. Cowperwood ist ganz in der Lage, seinen eigenen Ausnahmecharakter analytisch zu erkennen, was Dreiser am deutlichsten mit der Methode der erlebten Rede demonstriert. „That thing conscience", heißt es, which obsesses and rides some people to destruction, did not trouble him at all. He had no consciousness of what is currently known as sin. There were just two faces to the shield of life from the point of view of his peculiar mind - strength and weakness. Right and wrong? He did not know about those. They were bound up in metaphysical abstrusities about which he did not care to bother. Good and evil? Those were toys of clerics, by which they made money. 5 '

In Cowperwoods Augen verschleiern die Begriffe „Recht" und „Unrecht" lediglich das natürliche Verhältnis von Stärke und Schwäche; „gut" und „böse" sind ihm ebenfalls „metaphysische Abstrusitäten", die aber speziell vom Klerus zur Machterlangung mißbraucht werden. Eine solche Einsicht muß ein Materialist nicht unbedingt von Nietzsche geborgt haben, aber die Parallelität der hier gebrauchten Termini zur Moralgenealogie Nietzsches ist doch sehr auffällig. „An sich von Recht und Unrecht reden", behauptet Nietzsche, entbehrt alles Sinns, an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts „Unrechtes" sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen

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Theodore Dreiser, „The Essential Tragedy of Life", Hey, Rub-A-Dub-Dub!, op. cit., S. 256. Theodore Dreiser, The Financier (1912; New York: Meridian, 1986), S. 240 (hiernach im Text als F, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.)

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Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt [...] (GM „.Schuld', .schlechtes Gewissen' und Verwandtes" 11)

Die „asketischen Priester" knechten die vornehmen „Herrenmenschen" mit ihren Konzepten von gut und böse, weil in diesen Klerikern ein besonderes Ressentiment glüht, „das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens", welches „über das Leben selbst" herrschen will. (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 11) Daß Bridgewater „virtually no sign"52 von Nietzsche in diesem Roman entdecken kann, wirkt angesichts einer solchen Korrespondenz wie der Ausdruck einer kontraproduktiv übertriebenen Vorsicht. Im Titan dagegen erkennt Bridgewater solche Zeichen, vornehmlich wegen der Kapitelüberschrift „Man and Superman" (die aber ebensogut auf G.B. Shaw zurückgeführt werden könnte), obwohl Nietzsche in keinem der Cowperwood-Romane ausdrücklich genannt wird. Das geschieht nur in The „Genius". Wenn der Interpret also einen Nietzsche-Einfluß in irgendeinem der Cowperwood-Bücher ausfindig machen will, dann muß er bereit sein, solchen Parallelen überall Gewicht beizumessen, wo sie auftauchen. Die Amoralität ist also Cowperwoods natürlicher Zustand; Stärke und weltlicher Machtzuwachs heißen seine Maßstäbe des Guten sowie die Ziele seines Strebens. Bereits als frühreifes und selbstsicheres Kind liest Cowperwood seinen alltäglichen Erfahrungen die Grundtatsachen der materialistischen Weltanschauung ab. Zum Erlangen solchen Wissens braucht er nie Bücher, sondern verläßt sich allein auf die Autarkie seines eigenen Intellektes und Willens. Das Schlüsselerlebnis seiner Kindheit ereignet sich auf dem Fischmarkt in der Stadt, wo er beobachtet, wie ein Hummer einen im selben Tank befindlichen Tintenfisch anfallt und verschlingt. Fressen oder gefressen werden offenbart sich dem kleinen Frank Cowperwood als wichtigste Lehre des Lebens: „How is life organized?" Things lived on each other - that was it. Lobsters lived on squids and other things. What lived on lobsters? Men, of course! ... And what lived on men? he asked himself. Was it other men? ... Sure, men lived on men. (F 8f.)

Einerseits aus Lust nach Reichtum, aber noch mehr aus dem Bedürfnis nach Macht und Freiheit beschließt Cowperwood schon in jungen Jahren, seine ganze Kraft und Intelligenz dem Ziel des finanziellen Aufstiegs in die Ränge der Wirtschäftskapitäne zu unterwerfen: „The thing for him to do was to get rich and hold his own - to build up a seeming of virtue and dignity which would pass muster for the genuine thing." (F 121) Den wohlgepflegten Heiligenschein glaubt er nur solange brauchen zu müssen, bis er kraft seiner finanziellen Übermacht selbstherrisch bestimmen, was er tun und lassen soll, und sich einen Weg bahnen kann, sich über alle Konventionen der Gesellschaft hinwegzusetzen. Die großen Finanzkräfte, so stellt es sich Cowperwood dar, müssen sich um Anfechtungen seitens der Masse nicht mehr sorgen:

Patrick Bridgewater, Nietzsche in Anglosaxony, op. cit., S. 170f.

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W h y , these giants of c o m m e r c e and m o n e y could do as they pleased in this life, and did. ... [T]he little guardians of the so-called law and morality, the newspapers, the preachers, the police, and the public moralists generally, so loud in their denunciation of evil in humble places, were c o w a r d s all when it came to corruption in high ones. (F 121)

Als noch nicht gemachter, aber rasch emporkletternder junger Mann wahrt Cowperwood noch den äußeren Schein des Anstands. Um seinen vom Erzähler immer wieder als betont „stark" und „heidnisch" herausgestrichenen Geschlechtstrieb unter dem Schutzmantel der Ehe befriedigen zu können, heiratet er seine erste Frau Lilian, die ihm intellektuell nicht gewachsen und eine Sklavin der Konvention ist. Er tröstet sich aber mit dem Gedanken, daß er durch kluges Handeln auch außerhalb der Ehe seinem Genuß an Frauengesellschaft wird desungeachtet frönen dürfen. „It had never occurred to him", erläutert der Erzähler, that he could not or should not like other w o m e n at the same time. deal of palaver about the sanctity o f the h o m e .

There w a s a great

It rolled off his mental sphere like

water off the feathers of a duck. (F 4 9 )

Cowperwoods Morallosigkeit ist eine Art Unschuld oder Naivität, die an den unberührten Zustand Martin Edens vor seiner geistigen Erweckung erinnert. Diese Navität wird Cowperwood aber zum Stolperstein, weil er die Wachsamkeit und vor allem das Rachegelüst, das Ressentiment seiner Mitmenschen unterschätzt. Den ersten Rückschlag der Gesellschaft erleidet er im Zusammenhang mit seiner ersten Affäre. An der jungen Aileen Butler, die auch später die zweite, und viel öfter hintergangene Mrs. Cowperwood wird, reizt Cowperwood ihre Schönheit, Klugheit und Unkonventionalität. Aileen willigt schnell in die Liaison ein, die unentdeckt bleibt, bis ein auf sie eifersüchtiges junges Mädchen den Ort ihrer Stelldicheine in Erfahrung bringt und dies auch Lilian Cowperwood brieflich mitteilt: [The letter] was written by a girl, a member of St. Timothy's Church, w h o did live in the vicinity o f the house indicated, and w h o knew Aileen by sight and w a s jealous of her airs and her position.

She w a s a thin, anemic, dissatisfied creature w h o had the

type of brain which can reconcile the gratification o f personal spite with a comforting sense o f having fulfilled a moral duty. (F 186)

Diese „anämische, unzufriedene Kreatur", welche ihre „Boshaftigkeit" gegen die vom Leben durch Schönheit und Intelligenz begünstigtere Aileen als Motiv zur Erfüllung einer moralischen Pflicht erlebt, entspricht genau dem Bild Nietzsches vom Ressentimentmenschen, der das Vornehme zerstören will, weil er angesichts alles Vornehmen an seiner eigenen Unvollkommenheit noch mehr leidet. Diese Entdeckung tritt eine Lawine der Racheversuche unter Cowperwoods Feinden los. Aileens Vater intrigiert zusammen mit anderen, weniger begabten und mutlosen Geschäftsmännern gegen Cowperwood, der in einem kleinen Skandal um den Mißbrauch der Kassen der Stadtverwaltung eine Nebenrolle

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spielt. Diese Verwicklung gelingt es ihnen, zum Schauprozeß um die Unterschlagung öffentlicher Gelder aufzuspielen, bei dem das Urteil gegen Cowperwood ausfällt, der nun eine Geld- und Haftstrafe zu verbüßen hat. Fassunglos nimmt er zur Kenntnis, daß seine Macht von solchen minderbemittelten Massenmenschen herausgefordert und letztlich wegen einer Lappalie vorübergehend zerstört wird. Die Lehre, die ihn Dreiser daraus ziehen läßt, ist nicht, daß er einen Verstoß gegen die Ethik sich zuschulden kommen ließ, sondern daß er zu unvorsichtig bei der Geheimhaltung seiner Machenschaften und zu zögerlich in der Ausübung von Macht war. Rechtmäßiges Handeln bleibt stets eine Frage des persönlich Opportunen für den egoistischen Individualisten. In den Nachfolgeromanen zur Lebensgeschichte Frank Cowperwoods änderte Dreiser diese Konstellation nicht, wandelte sie höchstens in einigen typologischen und stofflichen Einzelzügen ab. The Titan erzählt von Cowperwoods Umzug nach und finanziellem Aufstieg in Chicago. Nicht nur versucht er, seinem jetzt durch die Lokalzeitungen und kleinbürgerliche Gerüchteküche von Philadelphia verbreiteten schlechten Ruf zu entfliehen, auch erhofft er sich bessere moralische Bedingungen für die Fortsetzung seiner amoralischen Lebensweise in der jungen Stadt im mittleren Westen. Cowperwood kommt hier intuitiv auf das Konzept des Moralrelativismus und vermutet, ein neues „Klima" bringe auch neue Sitten mit sich: „Morality varied, in his mind at least, with conditions, if not climates." (F 134) Als Taine-Leser z.B. kann Dreiser für diese Theorie durchaus auch andere Quellen als Nietzsche gehabt haben, aber vor allem im Spätwerk Nietzsches spielen Geographie und Klima neben historischen Bedingungen eine häufige Rolle in seinen Überlegungen zur Moralgeschichte und -Vielfalt. In den letzten Jahren seines geistigen Lebens schreckt Nietzsche nicht vor theoretisch Absonderlichem zurück. Überall, „wo es geistreiche Menschen giebt und gab", stellt er fest, habe es auch „eine ausgezeichnet trockne Luft" gegeben. (EH „Warum ich so klug bin" 2) Die Theorie, daß auch Moralsysteme durch besondere Klimata bestimmt werden können, hätte Dreiser auf jeden Fall, wenn nicht bei Nietzsche, so doch ausdrücklich bei seiner definitiven Quelle, Menckens Nietzsche-Monographie, vorgefunden. 53 Die Transplantation der Geschichte nach Chicago hat aber auch programmatischen Charakter für den amerikanischen Naturalismus. Vor allem die sozialengagierten Naturalisten, wie Upton Sinclair mit seinem berühmten Arbeiter- und Slumroman The Jungle (1906), wählten Chicago häufig als Spielort oder gar als

Mencken erläutert beispielsweise, wenn Nietzsche einen Unterschied im Moralkodex zwischen den alten Ägyptern und den Goten festgestellt habe, dann sei dieser den jeweiligen klimatischen Bedingungen dieser Kulturen zuzuschreiben: „The morality of the Egyptians, he [Nietzsche] found, was one thing, and the morality of the Goths was another. The reason for the difference lay in the fact that the environment of the Egyptians - the climate of their land, the nature of their food supply and the characteristics of the peoples surrounding them - differed from the environment of the Goths" (Philosophy of Nietzsche, op. cit., S. 76).

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eigenständiges Sujet, weil diese „Stadt der großen Schultern", wie sie Carl Sandberg in seinem vielanthologisierten Gedicht „Chicago" nennt, ihrer Meinung nach den unfiltrierten und brutalen Überlebenskampf der modernen Industriegesellschaft am pointiertesten inszenierte. Sobald Frank Cowperwood aus dem Zug tritt, wittert er in dieser Stadt blond-bestialische Höhenluft: „Here hungry men, raw from the shops and fields, idylls and romances in their minds, builded them an empire, crying glory in the mud." 54 Schon mit dem Titel The Titan gab der Autor zu verstehen, daß Cowperwood jetzt entschlossen ist, sich durch nichts mehr auf seinem Aufstieg verhindern zu lassen, also nie wieder in die Fänge der Moralapostel zu gelangen. Er will das Vorrecht des natürlichen Aristokraten genießen und wie ein Sonnenkönig über ein neues Imperium herrschen: „By right of financial intellect and courage he was first, and would so prove it. Men must swing around him as planets around the sun." (T 32) Erneut träumt er seinen großen Traum: kraft seiner durch günstige Zufälle und schnelles Handeln an der Börse zurückerworbenen finanziellen Macht den Sieg über die Moral der Massenmenschen davonzutragen. Diese Mehrzahl der Menschen betrachtet er nun verschärfter denn je zuvor als Untertane und Lasttiere, „rather like animals, patient, inartistic, hopeless" (Τ 174). Gemäß seinem neuen Selbstbild von uneingeschränkter Herrlichkeit, lebt sich Cowperwood auch als Frauenheld nach ganz neuen Maßstäben aus. Die Mätressen lösen sich im fröhlichen Tempo nacheinander ab, wenn er sich nicht gerade die Gesellschaft von mehreren gleichzeitig gönnt. Jetzt geht er auch viel entschiedener gegen mögliche Enttarnung vor. Im Kapitel „Man und Superman" droht er einem der gekränkten Ehegatten, die seinen Wege säumen, mit dem Tod für den Fall, daß er Cowperwoods Verbindung zu dessen Frau publik mache. Von der Unmöglichkeit überzeugt, diesem „superman" beizukommen, gibt sich der Gehörnte mit einer monetären Abfindung zufrieden. Die Übermenschenidentifikation wird jetzt von Dreiser mehrmals wörtlich in den Roman eingewebt. Auch eine weitere Geliebte erlebt Cowperwood als „a kind of superman ... impelled by some blazing internal force which harried him on and on." (T 425) Auch die wiederholte Niederlage Cowperwoods wurde allerdings wahrscheinlich durch Dreisers von Nietzsche mitgeprägtes Weltbild programmiert. Zu dieser Zeit (1914) noch ein Anhänger des Antidemokratismus, bedauerte Dreiser die festgefahrene und scheinbar unüberwindbare Hierarchie der amerikanischen Politik und Kultur, welche die natürliche „gesellschaftliche Pyramide" (dieses Bild war sicherlich eine Ausleihe bei Nietzsche, auch von Mencken unzählige Male betont) umkehrten: [in America] the tendency is to put the pyramid on its apex, to discard the opinions of those at the highest point of the intellectual scale for the prejudices and stupidity o f the

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Theodore Dreiser, The Titan (1914; New York: Meridian, 1984), S. 13 (hiernach im Text als Τ, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.)

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multitude. The idea that all men are created equal is one of the fundamental errors of our system of government. ... To level down is the cry of mediocrity everywhere. 55

Die Last dieser auf den Kopf gestellten Pyramide erdrückt auch einen Titanen wie Frank Cowperwood. Mit Cowperwoods Scheitern bekannte sich Dreiser aber nicht zur Absage an das große Individuum. Die Industriebarone Amerikas erschienen ihm immer noch als Nachfolger der römischen Imperatoren oder der Medici.56 Nur schien er mit Nietzsche zu glauben, daß gerade die „seltensten Exemplare" des Menschen von der verschwenderischen Natur nicht bevorzugt würden, weil die Mittelmäßigkeit stets die zahlenmäßige Überlegenheit besitze. Mitten auf seinen Eroberungsfeldzügen als Straßenbahnmagnat, bei denen er im Begriff ist, sich das ganze Schienennetz der Stadt unter den Nagel zu reißen, holen Cowperwood die Rachsüchtigen ein. Der Ruch aus Philadelphia hat schon längst Chicagoer Kreise erreicht und bewirkt, daß Cowperwood gesellschaftlich geächtet wird. Aus Kummer ob des gesellschaftlichen Ausschlusses und der vielen Seitensprünge ihres Mannes ist Aileen dem Trunk und dem Tabak verfallen, verkehrt sogar in der kulturellen Unterwelt, und unterhält eigene Liebeleien. Hinzu kommt, daß ein besonders erzürnter und leider mächtiger Ehegatte, der von Cowperwoods Frauengeschichten direkt betroffen wird, sich zur Vernichtung des Konkurrenten entschließt. Er verbündet sich mit anderen finanzstarken Cowperwood-Gegnem (wie es ehedem in Philadelphia geschah), die einen für das wiederkehrende Ressentimentmotiv in Dreisers Werk besonders interessanten Plan ersinnen. Sie lancieren eine Hetzkampagne unter den Sozialisten, Anarchisten und sonst Unzufriedenen der Stadt, welche Cowperwood seinen üppigen Lebensstil ohnehin verübeln, die darin gipfelt, daß verschiedene Bürgerinitiativen die Aufhebung von Cowperwoods Pacht auf die Straßenbahnschienen fordern. Ihre Beweggründe sprechen Nietzschesche Bände: there were the anarchists, socialists, single-taxers, and public-ownership advocates. There were the very poor who saw in Cowperwood's wealth and in the fabulous stories of his New York home and of his art collection a heartless exploitation of their needs. ... The workingman ... felt himself to be defrauded of a portion of his rightful inheritance. It was all a question of compelling Frank A. Cowperwood to do his duty by Chicago. (T 471)

Man achte hier genau auf Dreisers Sprache. Die Armen „fühlen" sich durch die bloße Tatsache von Cowperwoods Reichtum „ausgebeutet" - eine Meinung, die

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Zitiert bei Robert Elias, Theodore Dreiser, op. cit., S. 175. (Zuerst in der Philadelphia Ledger 1914 abgedruckt.) Manchmal kehrt Dreiser auch das Verhältnis um, so daß die historischen Figuren wie ein Abglanz der gegenwärtigen Herrscher wirken. So ist ihm „Cosimo I of the Medici ... little more than a very active Vanderbilt I of his day" (vgl. Theodore Dreiser, „The American Financier", op. cit., S. 80 u. 82).

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der Erzähler offenbar nicht teilt. Der Arbeiter „fühlt" sich um das betrogen (oder „enteignet"), was ihm „eigentlich zusteht". Cowperwood soll lediglich seine „Pflicht" gegenüber der Gesellschaft tun. All diese Begriffe gehören in genau das Wortfeld, das Nietzsche immer wieder der „Sklavenmoral" zuordnet. Allesamt sind sie moralische Begriffe, die in Dreisers damals noch unmoralischer Weltanschauung keinen Platz haben. Der Erfolg des „Sklavenaufstandes" bleibt aber nicht aus, und Cowperwood steht noch einmal vor dem Nichts. Im letzten, unvollendeten und z.T. aus Aufzeichnungen rekonstruierten Roman The Stoic nahm Dreiser noch weniger Neuerungen des Stoffs vor. Cowperwood setzt seine Straßenbahngeschäfte in Europa fort, hat mehrere Affären, und kehrt gebrochen nach New York zurück, wo er Ruhe nur noch im Tod findet. Die rechte Lust an der Fortsetzung hatte Dreiser wohl nicht mehr, und die Tatsache, daß sie unvollendet blieb, hing sicherlich mit der politischen Wende zusammen, die er in den späten 20er Jahren durchmachte. Er näherte sich immer mehr dem Sozialismus, schrieb voll des Lobes einen Reisebericht über einen Besuch in der Sowjetunion - Dreiser Looks at Russia (1928) - und trat im letzten Lebensjahr sogar in die Kommunistische Partei der USA ein. Noch vor diesem Übergang zum „dritten Stadium" seines Naturalismus, wie Charles Walcutt57 es nennt, schrieb er ein letztes Werk des heroischen Individualismus, das auch sein „autobiographischer Roman" werden sollte. Wenn die in The „ Genius" vorgeführte Figur des Eugene Witla wirklich ein psychologisch sehr genaues Selbstbildnis Theodore Dreisers sein sollte, dann ist es ein erstaunlich vernichtendes. Der Gegensatz zwischen diesem Roman und dem Cowperwood-Zyklus besteht darin, daß dies eigentlich kein Roman des großen Individuums, sondern des großen Indivdualismus ist - eines Ideals, dem der Protagonist Witla nacheifert, aber nie genügt. Überhaupt teilt Eugene Witla mit Wolf Larsen und Martin Eden die Unfähigkeit zum wahrhaft Übermenschlichen, also zur geistigen Höhe von amor fati und affirmativer Erkenntnis der ewigen Wiederkehr bei Wahrung der Willenskraft. Sie stellen, ob bewußt oder unbewußt von den beiden Autoren so porträtiert, einen Zwischenzustand, die Schwebelage von Zarathustras „Seil, genüpft zwischen Thier und Übermensch", dar und stürzen in den „Abgrund", über dem dieses Seil gespannt ist. (Za „Zarathustra's Vorrede" 4) Sie befinden sich zwischen Tier und Übermensch, weil sie zwischen Geistigkeit und animalischer Unschuld wählen oder scheitern müssen. Witlas anfangliche „Unschuld" ist allerdings gegen die Larsens oder Edens weniger eine animalische Unbewußtheit als ein unkritischer Dilettantismus. Als einziges unter Dreisers Werken thematisiert The „ Genius " das prototypische Jahrhundertwendemotiv des ästhetizistischen Dilettanten - dies ist wohl auch

Charles Child Walcutt, „The Three Stages of Theodore Dreiser's Naturalism", Publications Modern Language Association, LV (1940), S. 266-289.

of the

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der Grund, allen anders lautenden Beteuerungen des Autors zum Trotz, 58 warum das Hauptwort im Titel durch Anführungszeichen eingeklammert ist. Eugene Witla dünkt sich ein Genie, oder möchte es mehr als alles andere in der Welt sein, bleibt aber höchstens ein etwas überdurchschnittlich begabter Maler, der weder das große Talent, noch die nötige Strenge und Beherrschung zur wirklich großen Kunst aufbringen kann. Der Künstler als zweite große Erscheinungsform des übermenschlichen Individualisten wird schon in den Cowperwood-Romanen gefeiert. Der Erzähler weist dort darauf hin, daß auch die gekonnte Geldvermehrung eine „Kunst" sei, und Cowperwood entwickelt einen leidenschaftlichen Kunstsammei trieb. Der Künstler gilt Cowperwood als großer Weltinterpret und als Werteschöpfer: One of his earliest and most genuine leanings was toward paintings. He admired nature, but somehow, without knowing why, he fancied one could best grasp it through the personality of some interpreter, just as we gain our ideas of law and politics through individuals. (F 60)

Eugene Witlas Verhängnis ist sein mangelnder Ehrgeiz, ein Werteschaffender zu sein. Als junger Mensch, nach seinen künftigen Berufsplänen gefragt, erwidert er ja unversehens: „I'd like to be an artist", aber „why, he could not have said". 59 Zwar demonstriert Witla auch den für den Dreiser dieser Zeit charakteristischen Zug zur Heldenverehrung, aber während dieser Hang von Cowperwood erlebt und dann eigens ausgelebt wird, bleibt er für Witla stets nur ästhetisch vermittelt. Er denkt oft an die großen Namen des heroischen Individualismus - „The sound of great names and great fames was in his ears, - Carlyle, Emerson, Thoreau, Whitman" (G 44) -, aber ohne sich auch nur einmal ernsthaft mit den Schriften dieser großen Namen auseinanderzusetzen. Der Ästhetizist genießt stets nur das schöne Gefühl der Beredsamkeit und des Gelehrtseins, hat aber an der eigentlichen Quelle dieses schönen Scheins kein vertieftes Interesse. Da heißt es, Witla „read of great philosophers" (G 44), und die Präposition verdeutlicht subtil aber unmißverständlich, daß es sich hier um sekundäres Wissen handelt. Seine Begegnungen, als Leser, mit anderen Philosophen, unter anderem auch Nietzsche, verflüchtigen sich ebenfalls in der empfindsamen Hitze seines dilettantischen Gemüts. Am Schluß des Romans läßt Witla die krummen Wege seines Werdeganges Revue passieren und wertet die Entscheidung für sein künftiges Leben als eine Wahl zwischen materialistischer, nietzschescher Unerschrockenheit und dem Trost des Glaubens. Letztlich ist für ihn diese Wahl aber keine existente Möglichkeit, da sich Witla weder dem Glau-

58

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Dreiser hat z.B. behauptet, er wolle nicht in Copyrightkonflikte mit einem anderen Verlag geraten, der einen ebenfalls Genius betitelten Roman herausgebracht habe. (Vgl. Letters of Theodore Dreiser, ed. Robert Elias [Philadelphia, 1959], S. 183). Theodore Dreiser, The „ Genius" (1915; New York: Meridian, 1984), S. 17 (hiemach im Text als G, gefolgt von der Seitenzahl, zitiert.)

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ben, noch Nietzsche, noch irgendetwas anderem mit wirklichem Lebensemst widmen kann. „In Eugene", lautet das Fazit des Erzähers, one saw an artist who, pagan to the c o r e , enjoyed reading the Bible for its artistry o f e x p r e s s i o n , and Schopenhauer, Nietzsche, Spinoza and J a m e s for the m y s t e r y o f things which they suggested. ( G 7 1 4 )

Das ist nichts mehr als undifferenzierte Anempfindelei. Von Eugenes Nietzsche-Lektüre wird auch nie detailliert berichtet - nur, daß er im Atelier einer befreundeten Künstlerin ein ihm unbekanntes Buch neben anderen Bänden im Regal stehen sieht: „.Also sprach Zarathustra' by Friedrich Nietzsche" (G 133). Kurz darauf hat er während eines Kurzurlaubs in den Bergen ein exaltiertes Erlebnis, das vom Erzähler nicht spezifzierte, aber eindeutig Zarathustrasche Spuren aufweist. Es scheint plausibel, daß sich Witla vor diesem Erlebnis den Zarathustra zu Gemüte geführt haben soll, denn er befindet sich in der Höhenluft der Berge „under such halcyon conditions", daß ihn urplötzlich ein Gefühl für „the perfection life could reach at odd moments" (G 155) überwältigt. Just im Begriff des „Halkyonischen" hören wir den Klang von Nietzsches Stimme widerhallen. Gerade in bezug auf Zarathustra schrieb der Philosoph selbst: „Man muss vor Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören [ . . . ] " (EH „Vorwort" 4). Aber auch die „kurzen Momente", die von der Einsicht in die Vollkommenheit des Seins erfüllt sind, entstammen dem eigentümlichen Zeitgefühl Zarathustras. Dieser Bergrausch Witlas wird zum Erlebnis der Seinsverklärung: T h e days spent in the mountains were seventeen e x a c t l y , and during that time

...

E u g e n e reached a curious exaltation o f spirit different from anything he had e x p e rienced before. ( G 1 5 2 )

Das, was bei anderen Romanfiguren zum Lebenswendepunkt hätte werden können, ist aber bei Eugene Witla vergessen, sobald er sich wieder im Flachland befindet. In seinen unsteten Neigungen und seiner Charakterlosigkeit erreicht er weder den Vorteil der reflexionslosen Lebensstärke eines Frank Cowperwood, noch die intellektuelle Befriedigung der „living philosophy" Martin Edens. Die Beschreibungen von Witlas Denk- und Lesegewohnheiten dienen dem Erzähler aber als Versatzstücke, welche nur das Grundtemperament des Künstlertums dieser Figur unterstreichen sollen. Eugene Witla kennt die romantische Sehnsucht nach dem Erlebnis des Künstlerdaseins und den Wirkungen des vollkommenen Manierismus, kann aber die Arbeit am Kunstwerk nicht mit dieser Vorstellung in Verbindung bringen. Er sehnt sich danach, to get out o f the ranks o f the c o m m o n p l a c e ; to assume the c h a r a c t e r and the habiliments o f the artistic temperament as they were then supposed to be; to have a refined, semi-languorous, semi-indifferent m a n n e r ; to live in a studio, to have a certain freed o m in morals and temperament not a c c o r d e d to the ordinary person - these were the great things to do and be.

O f c o u r s e , art composition was a part o f this.

Y o u were

supposed ultimately to paint great pictures o r do noble sculptures, but in the meanwhi-

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le you could and should live the life of the artist. And that was beautiful and wonderful and free. (G 49f.)

Die Kunst oder das Leben des Künstlers sollte, wie man sieht, auch ein Ausweg aus der bürgerlichen Moral und der Mittelmäßigkeit der Masse sein. Dreiser stattet Eugene Witla auch mit der für Cowperwood prototypischen Amoralität aus. „There was something", heißt es analog zu den vielen Ausführungen über Cowperwoods Charakter, „about the personality of Eugene that was subversive of conventionality" (G 662). Diese Subversivität resultiert ebenfalls wie bei Cowperwood aus einer materialistischen Erkenntnis des Weltwesens. Aber im Gegensatz zu Cowperwood neigt Witla auch dazu, dem Glauben an irgendeine Immaterialität oder Spiritualität die Anhängerschaft nicht gänzlich aufkündigen zu wollen. Er kehrt mehrmals zu etwas zurück, „that was not material life at all, but spiritual, or say immaterial, of which all material things were a shadow." (G 662) Dies bedeutet aber nur eine weitere Schwäche für Witla in der entseelten Welt Theodore Dreisers. Auch er betrügt zwar seine Frau Angela mit der Zwanghaftigkeit des Dreiserschen Wiederholungstäters, empfindet aber immer wieder Reue für seine Tat und bringt es so nie fertig, seine Frau zu verlassen, was Cowperwood immerhin zweimal gelingt. Er muß aus Willensschwäche sein Leben in einer unglücklichen Ehe verbringen. Auch in der letztendlichen Lebenskrise, die mit der Erkenntnis des Endes seiner Karriere als Zeitschriftenherausgeber und des Scheitems seines Künstlertums kommt und die ihn gerade zur verachteten bürgerlichen Mittelmäßigkeit verdammt, sucht er eine Stütze und wendet sich dem dunklen Spiritualismus der Christian Science zu, obwohl er sonst immer lauthals die Gottlosigkeit des Universums proklamiert. Es ist allerdings doch möglich, daß ein weiterer Einbruch im Leben Eugene Witlas in einem Nietzscheschen Zusammenhang steht. Kurz nachdem ihm die ersten Erfolge als vielversprechender junger Künstler, dessen Werke aber nur Versprechen bleiben, zuteil werden, wird seine Karriere durch die psychische Intellektuellenseuche der Jahrhundertwende, die Neurasthenie, jäh unterbrochen. Eines Tages sitzt er vor der Staffelei und spürt a peculiar nervous disturbance - a sudden glittering light before his eyes, a rumbling in his ears, and a sensation which was äs if his body were being pricked with ten million needles. It was as though his whole nervous system had given way at every minute point and division. For the time being he was intensely frightened, believing that he was going crazy. (G 241)

Die Ursache der Krankheit, die Witla selbst als „neurasthenia" diagnostiziert, ist die für Jack Londons Figuren typische, aber in Dreisers Werken äußerst seltene Wertekrise. Witlas Nervenschwäche wurzelt darin, daß his mind was a maelstrom of contradictory doubts, feelings and emotions. ... [T]his peculiar faculty of reasoning deeply and feeling emotionally were now turned upon himself and his own condition. (G 242)

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Auf einmal leidet er unter Angst vor „Life stripped of its illusion", dem Alp Wolf Larsens, und zerrüttet seine eigene Gesundheit mit sezierender Selbstanalyse. Der Perspektivismus Nietzsches, den er auch in psychologicis anwendet (und welcher bei Thomas Mann als die „doppelte Optik" der narrativen Seelenforschung figuriert 60 ), sucht auch Eugene Witla in Form eines „dual point of view" heim: he was troubled with a dual point of v i e w - a condition based upon a peculiar power o f analysis - self-analysis in particular, which was constantly permitting him to tear himself up by the roots in order to s e e h o w he was getting along. (G 3 4 6 )

Auch diese Wendung im Leben des Protagonisten ist eine mehr oder weniger typische Erscheinung der Literatur des europäischen fin de siecle, aber es wäre durchaus stimmig, wenn Dreiser diesen für ihn sonst unüblichen Stoff bei Nietzsche gefunden hätte, zumal er in diesem Roman mit der oben beschriebenen Zarathustra-Anspielung deutlicher denn je Bezug auf Nietzsche nahm. Man kann indes bei einem Autor wie Dreiser, der verhältnismäßig wenige Selbstzeugnisse zum eigenen Schreibverfahren hinterließ, nicht immer des nachweisbaren Nietzsche-Einflusses sicher sein. Theodore Dreiser war kein Theoretiker und äußerte sich nur selten über das Theoretische seiner Arbeit. Der Interpret bleibt also auf Text- und Motivvergleiche angewiesen, die aber auf manche Nietzsche-Anverwandlung, wie hier dargestellt, bei Dreiser doch schließen lassen. Dieser Mangel an ästhetischer Reflexion galt genauso sehr für Jack London wie für Theodore Dreiser. Beide kamen nie in den Genuß poetischer Vorbildung, sondern schrieben aus der eigenen, von ihrer größtenteils wissenschaftlichen und philosophischen Lektüre unterstützten Lebenserfahrung. Aus diesem Grunde trat der Nietzsche-Einfluß bei beiden in nur einer Form auf: Ihre Charaktere funktionieren als Vehikel Nietzschescher Konzepte, oder werden gelegentlich mit Nietzscheschen Mitteln psychologisch durchleuchtet, wobei weder London noch Dreiser als große Psychologen angesehen werden können. Ihre Vorstellungen von Genre, Aufbau und Duktus blieben, im Vergleich zu den von Nietzsche beeinflußten Schriftstellern des deutschen Sprachraums, von den Schriften des Philosophen meist unberührt, was sich zum Großteil daraus erklärt, daß London, Dreiser und soviele andere amerikanische Interessenten Nietzsche nur in Übersetzungen kannten. Es sei aber auch nochmals betont, daß beide keine theoretischen Köpfe waren und auch dann nie ein Dokument des Nietzscheschen Sprachzweifels etwa wie Hofmannsthals Chandos-Brief hervorgebracht hätten, selbst wenn sie den Philosophen im Original hätten lesen können. Man merkt außerdem, in welchem Maße beide Autoren sich am klischierten Nietzsche-Bild des frühen 20. Jahrhunderts orientierten. Ablehnung jeglicher

Nietzsche bezeichnet beispielsweise die Geburt der Tragödie als den Versuch, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens...." (GT "Versuch einer Selbstkritik" 2)

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Moralvorstellung, Vitalismus, antidemokratisches Aristokratentum und Übermenschentum sind die beherrschenden Themen Londons und Dreisers sowie vieler amerikanischer Nietzscheaner wie Walling, Eastman, Reed und andere, die London und Dreiser entweder persönlich oder von ihren Schriften her kannten. Auch die von beiden Romanciers aufgefangene und künstlerisch verwertete Proposition der Unvereinbarkeit von kritischer Intellektualität und voluntativer Vitalität ist bei Nietzsche keine Notwendigkeit, sondern eine Beobachtung, die aber insbesondere bei Jack London fast zum Naturgesetz gemacht wurde. Unter dem dogmatischen Darwinismus und Spencerismus vieler amerikanischer Intellektueller dieser Zeit litt auch das gängige Nietzsche-Bild, und bei der NietzscheAuslegung Jack Londons und Theodore Dreisers verhielt es sich nicht anders. Wenn beide konsequent Nietzschesche Ideen zum Bestandteil ihrer Romane machten, dann leider oft ohne tieferes Verständnis dieser Konzepte. Um einen amerikanischen Dichter kennenzulernen, der von Nietzsche auch Anregungen empfing, über die Fonnelemente seines Metiers neu nachzudenken, müssen wir zum nächsten Autor (und zur nächsten Gattung) übergehen, der eine bedeutende Rolle in der Geschichte der literarischen Nietzsche-Rezeption in Amerika hatte: Eugene O'Neill.

VI.2 Drama Eugene O'Neill (1888-1953) Eugene O'Neill erwarb seinen festen Platz unter den Klassikern der amerikanischen Literatur nicht nur als Nobelpreisträger (1936), sondern auch, und eigentlich viel mehr, als erster ernsthafter Dramatiker Amerikas, der dem Schauspiel als höherer Kunstform gerecht zu werden und damit über das populäre Unterhaltungstheater hinauszugehen suchte. Dieses populäre Theater kannte er nur zu gut, war doch sein Vater der seinerzeit berühmte Schauspieler James O'Neill, der mehr als sechstausend Mal in seiner melodramatischen Paraderolle, der des Grafen von Monte Christo, auf den Brettern stand. Bewußt wollte Eugene O'Neill mit dem Schauspiel der Vätergeneration brechen und seriöse Kunst schaffen. Moderne amerikanische Stückeschreiber, sowie Kritiker und Publikum, haben es ihm zu danken gewußt, daß er den ersten Schritt wagte, um den Weg für eine eigene amerikanische Theatertradition zu bahnen. Überraschend einig sind sich die Literaturwissenschaftler aber nicht nur über O'Neills Rolle als Schlüsselfigur in der Geschichte der amerikanischen Bühnenkunst, sondern auch über den Nietzsche-Einfluß in seinem Werk. Kein anderer bedeutender amerikanischer Schriftsteller bekannte so offen, daß er fundamentale Anregungen für seine Arbeit von den Schriften Nietzsches erhielt. Diese Bekenntnisse finden sich in Briefen, öffentlichen Interviews und manifestartigen Erklärungen; sie reichen von den im Theaterprogramm zum Stück The Great God

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Brown (1926) abgedruckten Exzerpten aus der Geburt der Tragödie61 bis hin zur Erwähung in der Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises.62 O'Neill hatte nicht nur großen Respekt vor der Philosophie Nietzsches, sondern entwarf in starker Anlehnung an dessen in der Geburt der Tragödie entwickelte Theorie von Wesen und Wiedergeburt der Tragödie ein völlig neues Programm für das Theater als seelische Heilanstalt des modernen Menschen, als neue Kirche eines ungläubigen Zeitalters. Die Besessenheit vom Emeuerungsgedanken, sowohl der Kunst wie auch des Menschen, teilte der Expressionist O'Neill auch mit europäischen Vertretern dieser Schule. Auch bei ihnen, wie z.B. Georg Kaiser oder Paul Kornfeld, ging dieses Pathos mit dem Nietzscheanismus einher. Die Umsetzung dieses Programms versuchte O'Neill vor allem in den zwischen 1926 und 1928 uraufgefiihrten Stücken The Great God Brown (1926), Marco Millions (1928) und Lazarus Laughed (1928) zu realisieren. Diese Dramen, welche Kurt Müller als die „ Antwortstücke" O'Neills bezeichnet, zählen zu den von der Kritik (oft zu Recht) meist stiefmütterlich behandelten Werken des Dramatikers, die alle von der „Rolle des messianischen Verkünders" zeugen, in der sich O'Neill zu dieser Zeit zarathustrasch verklärt sah.63 Nietzsches Beteiligung an diesen Stücken der Verkünderzeit O'Neills wird im folgenden noch zu zeigen sein, aber zunächst sollte der biographische Rahmen von O'Neills Nietzscheanismus abgesteckt, seine Vorstellung vom Ziel eines neuen Theaters geklärt und die Frage gestellt werden, ob Nietzschesche Elemente auch in den Werken vor 1926 sichtbar sind. Bedauerlicherweise weiß man viel zu wenig über das genaue Ausmaß von O'Neills Nietzsche-Lektüre. Welche Werke sie insgesamt umfaßt haben mag,

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„Tragedy and Dionysus", Greenwich Playbill (Jan. 23, 1926; O'Neill Papers, Dartmouth College Library; zitiert bei Drimmer, Nietzsche in American Thought, op. cit., S. 503.) Viele der hier zitierten Selbstzeugnisse O'Neills befinden sich in der sehr handlichen Materialsammlung Ulrich Halfmanns: Eugene O'Neill: Comments on the Drama and the Theater. A Source Book (Tübingen, 1987). Wo dies der Fall ist, wird die entsprechende Stelle in Klammem als „Halfmann" mit Seitenzahl angegeben. Es ist wichtig zu merken, daß diese Erwähung von Nietzsches Namen in der Stockholmer Rede zwar wichtig, aber innerhalb der Rede selbst sekundär ist. An der entscheidenden Stelle drückt O'Neill seine Bewunderung für Strindberg aus, von dessen Werk er soviel gelernt habe: „I am only too proud of my debt to Strindberg, only too happy to have this opportunity of proclaiming it to his people. For me, he remains, as Nietzsche remains, in his sphere, the master, still to this • day more modern than any of us, still our leader." (New York rimes [Dec. 11, 1936], S. 34; vgl. Halfmann, S. 134.) Egil Tömquist z.B. konzentriert sich auf die in dieser Rede beteuerte Modernität Nietzsches, wobei der Eindruck entsteht, als sei es nicht in erster Linie um Strindberg gegangen. (Egil Törnquist, „Nietzsche and O'Neill: Α Study in Affinity", Orbis Litterarum, XXIII [1968], S. 97.) Diese Feststellung ist von Bedeutung, weil bis 1936 Nietzsche längst nicht mehr die Schlüsselfunktion in O'Neills Werk hatte wie in den 20er Jahren. Kurt Müller, Inszenierte Wirklichkeiten. Die Erfahrung der Moderne im Leben und Werk Eugene O'Neills (Darmstadt. 1993), S. 137f.

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kann nicht präzise bestimmt werden - mit zwei Ausnahmen. Außer Zweifel steht, daß Nietzsches Erstlingswerk über die Tragödie sowie das prophetische Evangelium des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr, Also sprach Zarathustra, die Grundpfeiler waren, auf denen O'Neills Kenntnis der Nietzscheschen Philosophie ruhte. Der Literaturkritiker Barret Clark berichtet, daß O'Neill in den 20er Jahren stets ein Exemplar der Geburt der Tragödie bei sich in der Manteltasche hatte,64 und laut anderen Zeugnissen erkor er sich den Zarathustra zum wiederholt befragten Handorakel. Seiner zweiten Frau Agnes Boulton zufolge betrachtete O'Neill dieses Werk als eine Art Bibel, die immer griffbereit auf dem Nachttisch lag.65 Sie gibt außerdem zu Protokoll, O'Neill habe weitere Werke Nietzsches gelesen und reichlich mit Randbemerkungen versehen, ergänzt ihre Aussage aber leider nicht um die Titelangaben. Die betreffenden Bände selbst sind bedauerlicherweise auch nicht überliefert. Der Beginn von O'Neills Beschäftigung mit Nietzsche läßt sich relativ genau datieren. Ein Brief an den Dichter Benjamin De Casseres vom 27. Juni 1927 (als sich O'Neills Interesse an Nietzsche auf seinem Höhepunkt befand also) enthielt die Angabe O'Neills, er habe den Zarathustra mit 18 Jahren zum ersten Mal gelesen (also 1907 - O'Neill wurde im Oktober 1888 geboren) und wiederhole diese Lektüre jedes Jahr einmal.66 Damit gehörte Nietzsche neben Ibsen und Max Stirner zu den frühesten intellektuellen und künstlerischen Erlebnissen des erwachsenen O'Neill. Offenbar hielt sein Interesse außerdem sehr lange an. Auch um weitere Beweise zur bloßen Feststellung dieser Auseinandersetzung mit dem deutschen Philosophen ist die Literaturgeschichtsschreibung nicht verlegen. Neun (leider undatierte) Seiten handschriftlicher Exzerpte aus Zarathustra befinden sich in der O'Neill-Sammlung der Yale University. Die Geburt der Tragödie nannte er „the most stimulating book on drama ever written"67 und einen Frage-

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Vgl. Barret Clark, Eugene O'Neill: The Man and His Plays (New York, 1929), S. 4. Frau Boulton schrieb: „Thus Spake Zarathustra ... had more influence on Gene than any other single book he ever read. It was a sort of Bible to him, and he kept it by his bedside in later years as others might that sacred book. In those early days in the Village [1917] he spoke often of Zarathustra and other books of Friedrich Nietzsche, who at that time moved his emotion rather than his mind. He had read the magnificent prose of this great and exciting man over and over again, so that at times it seemed an expression of himself. I have some copies of Nietzsche that belonged to him, which he bought and read before I knew him, and which are copiously marked." (Agnes Boulton, Part of a Long Story [Garden City, N.Y., 1958], S. 61.) Zwei Werke enthalten den betreffenden Auszug aus diesem Brief. (Vgl. Arthur & Barbara Gelb, O'Neill [New York, 1962], S. 814; sowie Louis Sheaffer, O'Neill: Son and Playwright [Boston, Toronto, 1968], S. 123.) O'Neill berichtet femer, er habe das Werk im Laden des New Yorker Buchhändlers Benjamin Tucker gefunden, und daß er bei jeder erneuten Durchsicht des Zarathustra „never disappointed" sei, „which is more than I can say of almost any other book. (That is, never disappointed in it as a work of art. Spots of its teaching I no longer concede.)" Daß er hier eingesteht, sich von gewissen Aspekten der im Zarathustra enthaltenen „Lehre" bereits distanziert zu haben, deutet schon auf das spätere Nachlassen seines Interesses an Nietzsche hin. Zitiert bei: Louis Sheaffer, O'Neill: Son and Artist, op. cit., S. 174.

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bogen von 1928 füllte er mit folgender lapidarer Antwort auf die Frage „What is your literary idol?" aus: „The answer to that is one word - Nietzsche". 68 Das waren alles keine Lippenbekenntnisse zu einer intellektuellen Mode, denn O'Neills ganze Auffassung vom Theater hing in den 20er Jahren von seinem Nietzsche-Verständnis ab. Was genau kennzeichnete diese Auffassung von der Sendung des neuen Dramas? Das Theater habe laut O'Neill die Aufgabe, den modernen Menschen wieder zum Glauben fähig zu machen, aber nicht zum Glauben an Gott. O'Neill dachte an eine andere Art von Religiosität, die das Zeichen des sich damals auf Nietzsche stützenden Vitalismus trug. „The only way we can get religion back," versicherte er, „is through an exultant acceptance of life." 69 O'Neills Beurteilung der Moderne wurde durch die Grundansicht dominiert, daß die traditionellen Religionen durch den Materialismus unwiederbringlich zerstört worden seien. Seine nunmehrige Heimatlosigkeit in der Welt des Glaubens habe den modernen Menschen in eine Sinnkrise gestürzt. Diese „heutige Krankheit" erklärte O'Neill zu dem einen „großen Thema", dessen sich die moderne Kunst, einschließlich des Schauspiels, annehmen müsse: the sickness of today as I feel it [is] the death o f the old God and the failure o f science and materialism to give any satisfying new one for the surviving primitive religious instinct to find a meaning for life in, and to comfort its fears o f death with.

It s e e m s

to me anyone trying to do big work n o w a d a y s must have this big subject behind all the little subjects o f his plays or novels, or he is simply scribbling around on the surface of things and has no more real status than a parlor entertainer. 7 0

Als ein erst 1929 gefälltes Urteil über die Moderne mag diese Feststellung der existentiellen Trostlosigkeit des Materialismus nicht mehr besonders originell wirken, zumal ein so populärer Autor wie Jack London dies bereits 1907 thematisiert hatte, aber als Thema für das amerikanische Theater war es durchaus neu. Daß O'Neill diese moderne Krankheit als den „Tod Gottes" zu umschreiben beliebte, verrät schon die Quelle dieser heilkundlichen Weltanschauung. Es ist unerheblich, ob O'Neill sich dabei der Worte des „tollefn] Menschfen]" mit seiner Wehklage „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödet! Wie trösten wir uns, die Mörder alle Mörder?" (FW 125) oder Zarathustras „Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb" (ZA „Zarathustra's Vorrede" 3) erinnerte, die Bezeichnung der Diagnose ist Nietzsches. Den Verlust des alten religiösen Dogmas faßte O'Neill aber auch als neue Chance für die Menschheit auf. Und auch diesen Standpunkt verdankte er

68

m 70

Anonymus, „A Eugene O'Neill Miscellany", New York Sun (Jan. 12, 1928), S. 31 (vgl. Halfmann, S. 73). Zitiert bei: Arthur & Barbara Gelb, O'Neill, op. cit., S. 520. Zitiert bei: George Jean Nathan, „The Theatre. III. The First of a Trilogy", American Mercury, 16 (January 1919), S. 119 (vgl. Halfmann, S. 83).

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wesentlich Nietzsche, denn O'Neill schlug vor, die im Christentum verankerte Liebe zum göttlichen Jenseits durch eine neue „illusionslose" Liebe zum Diesseits abzulösen, die seine Vorstellung von der „neuen Religion" erfüllen sollte. Der Mensch des ungläubigen Zeitalters habe keine andere Wahl als affirmativ einzusehen, daß „life has no meaning outside himself" oder unterzugehen. Die Möglichkeit, aus dieser Einsicht eine neue Freiheit und eine neue, höhere Wertschätzung des Lebens zu ziehen, biete ihm allein die Moderne: If there is anything significant about modernity it is that w e are facing life as it truly is. That fact differentiates this age from any other. W e have no religion to evade life with.

Like all the other evasions, religion is breaking d o w n . 7 '

Darin schwingt auch der Perspektivismus Nietzsches mit, in dem sich die moderne Orientierungslosigkeit einerseits als gefahrlicher Horizontverlust und andererseits als unermeßlicher Freiheitsgewinn zeigt. Mit seinen Werken wollte O'Neill eine neue „exaltation" im Zuschauer hervorrufen, „an intensified feeling of the significant worth of man's being and becoming",72 und verwahrte sich damit gegen den Vorwurf, er gebe sich einem trostlosen Pessimismus hin, der das Theater eigentlich erst recht zum Ort der Lebensverneinung mache: I have been accused o f unmitigated g l o o m . ... There is a skin deep optimism and another higher optimism, not skin deep, which is usually confounded with pessimism. T o m e , the tragic alone has that significant beauty which is truth. It is the meaning of life - and the hope.

The noblest is eternally the most tragic. 73

O'Neill begriff sich selbst nicht einfach als Dramatiker, sondern ausdrücklich als Tragiker und als Verfechter eines in der neuen Tragödie manifestierten höheren, also nicht oberflächlichen Optimismus, der oft als Pessimismus verstanden bzw. mißverstanden werde. Damit sind drei Begriffe gefallen, die für O'Neills Vorhaben, Nietzsches Philosophie in verwandelter Gestalt auf die Bühne zu bringen, prägend waren. Zunächst fallt O'Neills Entscheidung für die Tragödie als seine dramatische Gattung auf. Untrennbar von O'Neills Gedanken der Verwandlung des Theaters in einen „geheiligten" Ort war sein Rückgriff auf das Modell der attischen Tragödie. Angesichts dieser keineswegs unerhörten Intention einer Wiederbelebung des Griechischen möchte man diese Bevorzugung des Tragischen vielleicht zunächst als konsequenten, weil mit der poetischen Hierarchie der aristotelischen Tradition im Gleichklang befindlichen Schritt bewerten. O'Neills programmatische Formulierungen lassen aber rasch erkennen, daß sein Begriff des Tragischen nichts mit

71

72

73

Zitiert bei: Young Boswell (d.i. Harold Stark), „Young Boswell Interviews Eugene O'Neill", New York Tribune (May 24, 1923), sec. 1, S. 13 (vgl. Halfmann, S. 27). Zitiert bei: Malcolm Mollan, „Making Plays with a Tragic End", Philadelphia Public Ledger (Jan. 22, 1922), magazine sec., S. 3. Eugene O'Neill, „Eugene O'Neill's Credo and His Reasons for His Faith", New York Tribune (Feb. 13, 1921), sec. 3, S. 1 & 6 (vgl. Halfmann, S. 10).

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Aristoteles und alles mit Nietzsche zu tun hatte. Das, was er apodiktisch als „das Griechische" ausgab, bewegt den Leser fast zu der Mutmaßung, daß O'Neill die Aristotelische Poetik gar nicht kannte. Die Tragödie, so definierte er sie, has the meaning the Greeks g a v e it. T o them it brought exaltation, an urge toward life and ever more life.

It roused them to deeper spiritual understandings and released

them from the petty greeds of everyday existence.

W h e n they saw a tragedy on the

stage they felt their o w n hopeless h o p e s ennobled in art. ... T h e point is that life in itself is nothing.

It is the dream

that keeps us fighting, willing - living! ... A man

wills his o w n defeat when he pursues the unattainable.

But his Struggle

is his suc-

cess! 7 4

Drei für Nietzsche zentrale Begriffe - Tragödie, höherer Optimismus und Pessimismus - trafen in dieser Definition exemplarisch aufeinander. Die Tragödie war also für O'Neill die Kunstform, welche die Hoffnungslosigkeit des Daseins offenbare, dann aber durch künstlerische Mittel, dem Traume ähnlich, diese Hoffnungslosigkeit in die tragische Würde des Kämpfens, Wollens und Lebens (drei weitere überaus Nietzschesche Vokabeln) überhöhe - so daß dieser tiefe Pessimismus letztlich in Lebensbejahung (die Kurzformel des amor fati) münde. Nichts anderes besagt die provokativ antiaristotelische Definition des Tragischen, mit der Nietzsche seinen philologischen und philosophischen Auftritt wagt. Laut Nietzsche könne nur das Zusammenwirken von den dionysischen und apollinischen Kräften diese Überhöhung des Verzweiflungsoptimismus bewirken. Die dionysische Weisheit, von Nietzsche auch Weisheit des Silens oder „tragische Erkenntnis" genannt, vermittele die Einsicht in die eigentliche Transzendenz- und somit Trostlosigkeit des Daseins, die aber, „um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht". (GT 15) Das Heilmittel der Kunst schöpfe sich aus dem formgebenden und verklärenden Prinzip des Apollinischen, das Nietzsche auch der Sphäre des Traumes zuordnet. Gespendet werde dem Zuschauer der attischen Tragödie damit der metaphysische Trost [...], dass das Leben im Grunde der D i n g e , trotz allem W e c h s e l der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei (GT 7).

O'Neills Zuschauer sollten nach Absicht des Dramatikers das Theater mit einem sehr ähnlichen Gefühl verlassen: „with a deep feeling of life flowing on, of the past which is never the past - but always the birth of the future" ,75 Nicht Katharsis, sondern Vermittlung tragischer Erkenntnis und metaphysischen Trostes solle die Aufgabe des modernen Theaters sein. Der metaphysische Trost O'Neills wurde hier offensichtlich auch an eine stark verkürzte Form der ewigen Wiederkehr geknüpft. Dieses Konzept eines tragi-

74

75

Zitiert bei: Mary B. Mullett, „The Extraordinary Story of Eugene O'Neill", American Magazine, 94 (November 1922), S. 120 (vgl. Halfmann, S. 25f.). Eugene O'Neill, „Letter to the Dramatic Editor", New York Times (Dec. 18, 1921), sec. 6, S. 1.

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sehen aber lebensfrohen Fatalismus, welcher im Text der Geburt der Tragödie weder Optimismus genannt noch direkt mit dem Begriff des Pessimistischen in Verbindung gebracht wird, formulierte O'Neill sicherlich auch in Anlehnung an einen Begriff aus dem Versuch einer Selbstkritik, den Nietzsche 1886 der neuen Ausgabe seiner philosophischen Overtüre beifügt. Dort spricht Nietzsche ja vom berühmten „Pessimismus der Stärke", der sich durch eine „intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins" kennzeichne. (GT „Versuch einer Selbstkritik" 1) Selbst über die historischen Quellen der Tragödie ließ sich O'Neill ausschließlich von Nietzsche belehren. Bei Nietzsche kann man nachlesen, es sei eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. (GT 10)

O'Neill nun konzipierte seine Tragödie als einzig legitimen Nachfolger dieser „ältesten Gestalt" des Dramatischen, als legitimate descendant of the first theatre that sprang, by virtue of man's imaginative interpretation of life, out of his worship of Dionysus. I mean a theatre returned to its highest and sole significant function as a Temple where the religion of a poetical interpretation and symbolical celebration of life is communicated to human beings, starved in spirit by their soul-stifling daily struggle to exist as masks among the masks of living! 76

Nicht aus bloßer Nachahmung Nietzsches oder unter Berufung auf dessen Autorität nahm O'Neill hier einerseits die Figur des Dionysos und andererseits die Metapher der Maske als konstitutive Momente des Tragischen in seinen Plan eines neuen Theater-Tempels auf. Die Gottheit Dionysos steht Nietzsche zufolge hinter jedem wirklichen tragischen Helden auf der griechischen Bühne. Hamartia und Anagnorisis des Helden stellten demnach nichts anderes als die Verstümmelung des Dionysos-Zagreus fläeh, der somit als Archetyp des Tragischen bezeichnet werden könne. Um das Leiden der tragischen Erkenntnis und das Heil des metaphysischen Trostes empfangen zu können, müßten die Zuschauer nach Meinung O'Neills ihre Identität mit dem Archetypen des vernichteten Helden, „their ennobling identity with the tragic figures on the stage", 77 erkennen. Nur wenn der Held Archetyp sei, von O'Neill ebenfalls in Gestalt des Dionysos gedacht, bleibe im Rahmen der Theorie auch die Intention möglich, daß die Lebensbejahung über die Zerstörung

76

77

Eugene O'Neill, „A Dramatist's Notebook", American Spectator, 1 (Jan. 1933), S. 2 (vgl. Halfmann, S. 111). Zitiert bei: Arthur Hobson Quinn, A History of the American Drama From the Civil War to the Present Day. vol. II., From William Vaughn Moody to the Present Day (New York and London, 1927), S. 198f.

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des Helden als bloß einzelner Erscheinung eines unzerstörbaren, substanziellen Wesens hinausgehe. Die Maske, die O'Neill als Requisit in die Stücke der späten 20er Jahre einführte, sollte zur Archetypisierung des Bühnenhelden dienen, der hier freilich als Ausgestaltung des Dionysos nicht mehr erkennbar war. Der konsequente Gebrauch der Maske auf der Bühne könne die großen Tragödien von der Fixierung auf eine tragische Persönlichkeit befreien und der absoluten Identifikation des Publikums mit dem Helden das Tor öffnen. Daß O'Neill als Beispiel einer potentiellen maskierten Neubesetzung eines klassischen Stückes den Hamlet wählte, ging wahrscheinlich auch auf Nietzsches Hamlet zurück, den es zu handeln „ekelt", weil er „einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan" habe. (GT 7) O'Neill mochte auf jeden Fall dem erkenntniskranken Dänen eine Larve aufsetzen: Hamlet,

for example. M a s k s would liberate this play from its present confining status

as exclusively a „star vehicle." W e w o u l d be able to s e e the great drama w e are n o w only privileged to read, to identify o u r s e l v e s with the figure of Hamlet as a symbolic projection o f a fate that is in each o f us. 7 8

Eine Quelle für O'Neills Theorie eines neuen tragischen Mummenschanzes war das Werk des englischen Theatertheoretikers Edward Gordon Craig, The Theatre Advancing, das O'Neill 1929 las, 79 in dem Tanz und Maske als Mittel zur Restauration des modernen Theaters vorgeschlagen werden. Zweifellos dachte O'Neill aber auch an die Bedeutung der Maske, ja die Lust an der Maske bei Nietzsche, die auch als „Bad und Erholung des antiken Geistes" (FW 77) von ihm gepriesen wird. Der endlose Regreß der Masken funktioniert im Denken Nietzsches als Wahrheitsmetapher, wie ein Bild der unzähligen Zwiebelhäute der Erkenntnis, die keinen letzten Kern umhüllen. Die Maske ist aber auch psychologisches Motiv - der tiefe Geist hält der Welt eine Maske vor, um sein Innerstes rein zu halten. Nicht umsonst spricht Nietzsche von Ent/arvungspsychologie. Gleichzeitig legt er seinem Leser nah, daß es „zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ,vor der Maske' zu haben", denn der große, leidende Geist findet alle Formen v o n Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, w a s nicht S e i n e s g l e i c h e n im Schmerz ist, zu schützen. (JGB 2 7 0 )

O'Neills Figuren, vor allem die des Dion Anthony in The Great God Brown, schützen sich vor anderen mit der Maske. Gleichzeitig setzte O'Neill die Maske aber auch als Entlarvungsinstrument ein, um die Seele des Helden sichtbar nach

78

79

Eugene O'Neill, „Memoranda on Masks", American Spectator, 1 (November 1932), S. 3 (vgl. Halfmann, S. 108). Vgl. Oliver Sayler, „The Artist of the Theater", Shadowland (April, 1922), S. 49, 66 u. 77 (vgl. Halfmann, S. 18ff.).

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außen zu kehren. Die Maske als Theaterrequisit „can express those profound hidden conflicts of the mind which the probings of psychology continue to disclose to us". Die Tragödie sei damit als ein „drama of souls" und ein psychoanalytisches Unternehmen anzusehen: For what, at bottom, is the new p s y c h o l o g i c a l insight into human cause and effect but a study in masks, an exercise in unmasking? ... [the mask is] a symbol of inner reality. 80

Nicht nur das metaphysisch-tröstliche, sondern auch das psychoanalytische Moment kennzeichnet die Stücke Eugene O'Neills. Beide Grundzüge seines Schaffens wurzeln in der Lektüre verschiedener dramatischer, philosophischer und psychologischer Werke. Insgesamt wären, wie wir gesehen haben, seine Überlegungen zu Konzept und künstlerischen Mitteln eines neuen Theaters ohne die Einwirkung der Philosophie Nietzsches nicht denkbar. Wo die Anwendung dieser Nietzscheschen Prinzipien in seinen Stücken erkennbar wird, gilt es jetzt zu klären. In den ersten expressionistischen Stücken O'Neills, welche zugleich als erste seiner Werke vom Eigengepräge des reifen Dramatikers zeugen, ist vom metaphysischen Trost nichts zu spüren. O'Neill zeigte sich hier ausschließlich an der Vernichtung seiner Protagonisten interessiert. Sicherlich gehört die Zerstörung des Helden zum Wesen des Tragischen, auch in der Auffassung Nietzsches, der beschreibt, wie der Zuschauer „den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit" sieht und „sich doch an seiner Vernichtung" erfreut. (GT 22) Merkwürdig abwesend oder stark vereinfacht in diesen Stücken ist allerdings auch die tragische Erkenntnis. Vor allem The Emperor Jones (1920) und The Hairy Ape (1922) drehen sich um Figuren von so beschränkter Intelligenz, daß von Erkenntnis tragischer Natur nur in einem sehr engen Sinne die Rede sein kann. Gleichsam sieht Kaufmann Nietzsche überall in diesen frühen Stücken herum geistern. Das dominante Motiv dieser Schauspiele ist aber weniger die Einsicht in die Weisheit des Silens als der Atavismus - der ständig drohende, plötzliche Umschlag in die Primitivität, die von den Zivilisationsmächten mit nur schwachem Griff und nur vorübergehend in Schach gehalten wird. Das kurze, in nur acht Szenen aufgeteilte Stück The Emporer Jones handelt von dem schwärzen Amerikaner Brutus Jones (das Thema der Brutalität oder vielmehr Primitivität - englisch: „brüte" - wird ja schon durch den sprechenden Namen angedeutet), der einer in den USA wegen Mordes über ihn verhängten Gefängnissstrafe entkommen ist, indem er auf eine westindische Insel flieht. Dort bringt er es vermittelst List und Betrugs nach zwei Jahren zur Alleinherrschaft über die gesamte Bevölkerung der Insel und scheffelt durch Ausbeutung der Eingeborenen in dieser Zeit auch ein ansehnliches Vermögen zusammen, mit dem er die Insel bei Nacht und Nebel zu verlassen gedenkt. In den für sein Werk

"" O'Neill, „Memoranda on Masks", op. cit., S. 3.

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charakteristischerweise sehr langen (und in den späteren Stücken oft fast unrealisierbar komplexen) Bühnenanweisungen schreibt O'Neill der Hauptfigur große körperliche Stärke und Willenskraft zu: He is a tall, powerfully-built, full-blooded negro of middle age. ... [T]here is something decidedly distinctive about his face - an underlying strength o f will, a hardy, self-reliant c o n f i d e n c e in himself that inspires respect. 8 ' (i)

Kurz vor seiner Flucht wird Jones wegen seiner Machenschaften im Inselreich von dem englischen Händler Smithers zur Rede gestellt, und es folgt dann eine Selbstrechtfertigung Jones', die sich als eine Erörterung über „kleine" und „große" Verbrechen gestaltet, welche als Anlehnung an die Immoralität Nietzschescher Prägung verstanden werden könnte: J O N E S : Ain't I de Emperor? I tells y o u , Smithers. I does.

D e laws don't g o for him. ( J u d i c i a l l y ) Y o u heah what

D e r e ' s little stealin' like you d o e s , and dere's big stealin' like

For de little stealin' dey gits y o u in jail s o o n or late.

For de big stealin' dey

makes y o u Emperor and puts y o u in de Hall o ' Fame w h e n y o u croaks. (EJ 8/i)

Als Herrschernatur beansprucht Jones Sonderrechte für sich, die ihn zwar bald nicht mehr schützen werden, ihn aber moralisch entlasten sollten. Bis jetzt fügt sich die Ausgangsposition des Stücks in das Klischee des Herrenmenschen Nietzsches. Die nachfolgenden Szenen stellen jedoch systematisch das Versagen der Intelligenz und der Willenskraft Jones' dar, so daß er sich schließlich zu einem Grad von Primitivität zurückbildet, der ihn den „Buschnegern", wie er seine einstweiligen Untertanen immer selbstentblößend verhöhnt, gleichstellt bzw. ihnen gegenüber unterlegen macht. Während er eines Nachts den Dschungel zu durchqueren und zu einem am anderen Ende der Insel versteckten Boot zu gelangen versucht, geben die Grundfesten seiner Zivilisiertheit Stück für Stück nach. Auslöser dieses Dezivilisierungsprozesses sind die Trommeln der nun auf Rache sinnenden Inselbewohner und die leicht beeinflußbare Phantasie Jones'. Noch in der Szene vor der Flucht durch den Urwald gelingt O'Neill ein erster Seitenhieb gegen die Kirche, indem er Jones' Christentum mit dem Voodoozauber der Eingeborenen vergleicht. Als Smithers ihn vor der schwarzen Magie der Medizinmänner warnt, brüstet sich Jones mit seiner Taufe in der Baptistenkirche, die seiner Meinung nach viel mächtiger als „jeder andere Zauber [!]" sei: J O N E S : G ' l o n g , white man!

Y o u ain't talkin' to me. ( W i t h a chuckle)

Doesn't you

know d e y ' s got to do wid a man was member in good standin' ο ' de Baptist Church? [ . . . ] Let d e m try deir heathen tricks. D e Baptist church done pertect me and land d e m all in hell. (EJ 15/i)

Eugene O'Neill, „The Empörer Jones", Nine Plays (New York, 1954), S. 5 (hiernach im Text als EJ, gefolgt von Seiten- und Szenenzahl, zitiert.)

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Im Wald verirrt sich Jones allerdings, und die zunehmend schneller und lauter werdenden Trommelschläge schüren die sich als Halluzinationen manifestierenden Ängste in ihm, die für den Zuschauer sichtbar auf der Bühne nachgestellt werden. Zunächst erblicken Jones und Publikum nur die „LITTLE FORMLESS FEARS" (ii) in Form amorpher schwarzer Gestalten mit glühenden Augen. Anschließend begegnen der Reihe nach: der Mann, den Jones ermordet hat (iii), eine Arbeitskolonne im Gefängnis (iv), eine Sklavenauktion aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (v) und ein Medizinmann auf der Bühne (vii), der Jones dazu bewegen will, einen Krokodil als heidnische Gottheit anzubeten. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Jones' prachtvolle Uniform so zerschlissen, daß er nur noch einen Lendenschurz zu tragen scheint: „His pants have been so torn away that what is left of them is no better than a breech cloth." (EJ 29/vi) Zum Schluß wird Jones leichte Beute für seine ehemaligen Arbeitssklaven, die aber der festen Überzeugung sind, den Tyrannen nur kraft ihres Zaubers getötet zu haben. Viel von Nietzsches Einfluß in diesem Stück zu wähnen, scheint abwegig, und dennoch behauptet Kaufmann, daß zum Schluß Jones „has stripped away his faith from the materialistic way of life and his faith in Christianity [so] that he is able to view the dionysiac realm."82 Das Dionysische und der Irrationalismus sind aber nicht das gleiche, was O'Neill auch zu verstehen schien, wenn man seine Äußerungen zum Wesen des Theaters berücksichtigt. Angesichts der Rückführung Jones' an einer Reihe von Phantasiebildern - dem Dschungelleben und der Sklaverei als übertragenen Rassenerfahrungen aller schwarzen Amerikaner vorbei, die seinem „kollektiven Unbewußten" zu entstammen scheinen, wirkt die Vermutung Müllers viel berechtigter, es handele sich hier um Motive aus der Psychoanalyse Freuds und Jungs.83 Zwar stritt O'Neill mehrmals ab, in seinen Stücken bewußt mit Thesen der Psychoanalyse gearbeitet zu haben, gab aber zu, Freuds Totem und Tabu und Jenseits des Lustprinzips sowie Jungs Über die Psychologie des Unbewußten gelesen zu haben,84 und es würde nicht überraschen, wenn seine Proteste gegen solche Assoziationen den Versuch darstellen sollten, Verknüpfungen zwischen seinem Namen und der damals schon unter amerikanischen Intellektuellen zur allgegenwärtigen Mode gewordenen Psychoanalyse abzuwehren.85 O'Neill

n

" 84

85

Leroy Kaufmann, Influence of Nietzsche, op. cit., S. 246. Vgl. Kurt Müller, Inszenierte Wirklichkeiten, op. cit., S. lOlf. So schreibt O'Neill an Marthe Carolyn Sparrow: „I have only read two books of Freud's, Totem and Taboo and Beyond the Pleasure Principle. The book that interested me the most of all those of the Freudian school is Jung's Psychology of the Unconscious which I read many years ago." (Vgl. Marthe Carolyn Sparrow, The Influence of Psychoanalytical Material on the Plays of Eugene O'Neill [Masters thesis. Northwestern University, 1930], S. 76f.; vgl. Halfmann, S. 84f.) Auch Joseph S. Tedesco urteilt in bezug auf Interpretationen von O'Neills Werk, daß obwohl die Nietzsche-Anverwandlung nicht zu übersehen sei, „it is odd that Jungian psychology has not been used more often as a theoretical frame of reference for analysis". („Dion Brown and His Problems", Critical Essays on Eugene O'Neill, ed. James Martine [Boston, 1984], S. 117).

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wollte nie als Mitreiter auf irgendeiner Welle gelten. Sowenig kann er jedenfalls von der Psychoanalyse nicht gehalten haben, bedenkt man, daß er sich selbst 1926 in New York einer psychoanalytischen Behandlung unterzog. Die Figur des Yank in The Hairy Ape, die Kaufmann als Dionysiker gilt und seiner Meinung nach im Laufe der Handlung zu einer sich dem „apollinischen Reich" nähernden „Gottheit" und zum „Bilderstürmer" werde, demonstriert ebenfalls wenige Züge, die ihn als Nietzscheschen Helden erkennen oder vom Atavismus Brutus Jones' stark unterscheiden ließen. Die existentielle Heimatlosigkeit, die „heutige Krankheit", welche in Jones' Zwischenstellung auf dem Weg vom Primitiven zum Zivilisierten angedeutet wird, kommt indes in The Hairy Ape viel prägnanter zum Ausdruck. Der Schiffsheizer Yank erblickt in der harten und kruden Arbeitswelt der schwarzen Bande, genauso wie Jones auf seinem Thron, seinen sicheren Platz in der Welt, den Platz, zu dem er „gehört", wie er immer wieder betont - „I belong". Alle Figuren auf der Bühne sollen nach den Anweisungen O'Neills wie „Neanderthaler" aussehen 86 (i), aber besonders Yank strotzt von animalischer, brachialer Kraft, welche auch sein eigenes Selbstbild widerspiegelt. Er ist sich seiner Stärke und seiner Funktion in dieser Welt so sicher, daß er gegen die Sehnsüchte seiner Kameraden nach den glorreichen Tagen der alten Seefahrt oder den künftigen Tagen der sozialistischen Gerechtigkeit völlig gefeit ist. Energisch wendet er sich gegen die Klage eines anderen Schiffsarbeiters, der sich über die Ausbeutung der unteren Klassen durch das Kapital beschwert. Das ist für Yank „Heilsarmee-Faselei", und der Kläger selbst ein gemeiner, nichtsnütziger „Feigling": Y A N K : D e Cap'tlist class, huh? Wanter k n o w what I t'ink?

A w nix on dat Salvation Army-Socialist bull. ...

Yuh ain't no g o o d for no one.

Y u h ' r e de bunk.

Yuh

ain't got no noive, get me? Yuh're y e l l o w dat's what. ( H A 48/i)

Den anderen Männern erklärt er die Welt als Skala maschineller Kausalzusammenhänge - „alles wird durch irgendetwas anderes bewegt" - und weist sich selbst im blinden Stolz (wie Jones sich über die „Buschneger" erhebt) als denjenigen aus, der auf der untersten Sprosse dieser Leiter steht - was für ihn bedeudet, die prima causa und nicht einfach Teil der Maschinerie eines seelenlosen Apparates zu sein: Y A N K : Everyting else dat makes de woild m o v e , s o m e p ' n makes it m o v e . m o v e without s o m e p ' n else, see? me!

D e r e ain't nothin' foither.

woild m o v e s !

D e n yuh get d o w n to me. I'm de end!

I'm de start!

It can't

I'm at d e bottom, get I start s o m e p ' n and de

It - dat's me! ( H A 48/i)

Hierhin gehört wenigstens Kaufmanns Feststellung einer Kritik O'Neills an der mechanistischen Weltauffassung.

86

Eugene O'Neill, „The Hairy Ape", Nine Plays, op. cit., S. 39 (hiernach im Text als HA, gefolgt von Seiten- und Szenenzahl, zitiert.)

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Der Zusammenbruch dieses ignoranten, selbstsicheren Zugehörigkeitsgefühls kommt mit einer Einsicht, die mit Vorbehalt als eine Art O'Neillsche tragische Erkenntnis identifiziert werden könnte. Auf dem Schiff reist die dekadente, nervenschwache höhere Tochter Mildred Douglas - „looking as if the vitality of her stock had been sapped before she was conceived" (HA 50/ii) -, die aus Erlebnissucht in ihrer Freizeit als Philanthropin tätig ist. Sie möchte gem die Arbeiter an Bord erleben, entsetzt sich aber im Kesselraum so sehr beim Anblick Yanks, daß sie unter Geschrei - „Take me away! Oh, the filthy beast!" (HA 58/iii) - davonläuft. Damit ist die Zugehörigkeit, das „zusammengezogene Weltbild" (GT 23) Yanks zerstört. In der nächsten Szene läßt O'Neill mit bissiger Ironie seinen Protagonisten in der Haltung von Rodins „Der Denker" (iv) über seine Lage nachbrüten. Er „bemüht sich" zu denken - „Can't youse see I'm tryin' to tink?" (HA 60/iv), was ihm aber nicht ohne weiteres von der Hand geht. Er muß zunächst von den anderen darüber aufgeklärt werden, daß er von Mildred Douglas und ihresgleichen verachtet wird. Seine Wut ist nun so groß, daß er nur noch daran denken kann, auf die brutalste Art und Weise seine Rache zu nehmen: „I'll bust de face offen her!" (HA 64/iv) Ab jetzt verroht Yanks Erscheinung zunehmend mit jeder Szene, bis er dem „haarigen Affen", als den ihn Mildred Douglas beschimpft hat, äußerlich immer mehr ähnelt. Offensichtlicher hätte O'Neill die zuerst in The Empor er Jones vorgeführte atavistische Rückentwicklung des Menschen kaum noch gestalten können. An Land gegangen, um Mildred zu finden, versucht Yank (in einer stark expressionistisch gefärbten Szene), einen „Gentleman" anzufallen, der aus der Kirche herauskommt, in der Yank Mildred vermutet. Seine Schläge prallen auf einem unsichtbaren Panzer ab, der den Gentleman umgibt, während Yank selbst von der Polizei verprügelt und einen Monat lang ins Gefängnis gesteckt wird. Nunmehr in völliger Affenmenscherscheinung auftretend, versucht der entlassene Hank sich der linksradikalen Gewerkschaft International Workers of the World anzuschließen. Seinen Beitrittswunsch erklärt er mit seiner Zerstörungswut, die er an der Gesellschaft auslassen will: „Dynamite! Blow it offen de oith". (HA 81/vii) Von den Gewerkschaftlern als vermeintlichen Spitzel der Polizei hinausgeworfen, geht Yank zuletzt in den Zoo, wo er sich mit einem Gorilla „unterhält", der in parodistischer Spiegelung ebenfalls die „Denker"-Haltung eingenommen hat. Yank läßt den Gorilla frei, der ihn dann zur absurden Beendigung des Stückes erdrückt. Zuvor aber richtet Yank einen Monolog an das Tier, in dem er seine eigene Situation im Leben, seitdem er zu „Bewußtsein" gekommen ist, umschreibt. Dem Gorilla neidet er, daß dieser nicht denken muß, denn „Denken ist schwierig", und während der Affe „irgendwohin gehört", sieht sich Yank als Wanderer „zwischen Himmel und Erde", wo er immer nur „die schlimmsten Schläge" von oben und unten zugleich abbekommt: yuh're lucky, see? Yuh don't belong wit 'em and yuh k n o w it. But me, I belong wit 'em - but I don't, see?

D e y don't belong wit m e , dat's what.

Get me?

Tinkin' is

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hard ... Sure, you're de best off! ain't in heaven, get me? punches from bot' of 'em. de bottom.

Y o u belong!

Yuh can't tink, can yuh? ... I ain't o n oith and I

I ' m in de middle tryin' to separate 'em, takin' all de woist M a y b e dat's what dey call hell, huh? But y o u , yuh're at Sure!

Yuh're de on'y one in de woild dat does, yuh lucky

stiff! ( H A 86/viii)

Mit The Hairy Ape zeichnete O'Neill die Entwicklung zum Übermenschen nicht dramatisch nach, sondern drehte sie um, obwohl er schon 1922 an anderer Stelle davon sprach, daß er „den Geburtsschrei des Übermenschen" im neuen Theater vernehmen könne. 87 Die tragische Erkenntnis, sofern einem zum „haarigen Affen" degenerierten Stumpfsinnigen eine solche Erkenntnis zuteilwerden kann, bestand hier im Einsehen der eigenen Nichtzugehörigkeit zur Welt. Den Figuren Jones und Yank gemeinsam ist, daß ihre Glaubenssysteme, ob Herrschaftswahn, Christentum oder Arbeiterstolz, zusammenbrechen, womit die beiden Protagonisten in die Wüstenei einer sinnlosen Irrationalität entlassen werden. Vom metaphysischen Trost gab es immer noch keine Spur. O'Neill bekundete aber zu dieser Zeit einen deutlichen Hang zum Irrationalismus. Da hieß es in einem Interview: our emotions are a better guide than our thoughts. Our emotions are instinctive.

They

are the result not only of our individual experiences but of the experiences of the w h o l e human race, back through all the ages.

They are the deep undercurrent,

whereas our thoughts are often only the small individual surface reactions. 8 8

Diese Aussage verrät einerseits den voluntativen Instinktglauben, der noch um diese Zeit oft mit Nietzsche identifiziert wurde, deckt sich andererseits aber auch mit einer jungschen Interpretation von The Emperor Jones. In einem Brief aus dieser Zeit verbannte O'Neill die Vernunft aus dem Theater sogar: „Reason has no business in the theatre ... any more than it has in a church. They are both either below - or above it". 89 Dennoch stammen einige der Äußerungen zum Theater der Glaubenserneuerung ebenfalls aus dieser Zeit. Eine mögliche Antwort auf das Paradox ist, daß O'Neill erst noch nach Mitteln suchen mußte, um diese Aufforderung zur transzendenzlosen Lebensbejahung auf der Bühne inszenieren zu können. Weiter ist denkbar, daß diese Stücke auf ältere Entwürfe aus einer Zeit zurückgingen, als sich O'Neill noch nicht mit diesen programmatischen Gedanken trug. Er bearbeitete seinen Stoff meist sehr bedächtig, ließ Pläne oft erst lange „reifen" vor der endgültigen Ausarbeitung, und es ist durchaus plausibel, daß er noch Anfang der 20er Jahre neues Material

" 1,8

Vgl. Oliver Sayler, „The Artist of the Theater", Shadowland (April, 1922), S. 49, 66 u. 77 (vgl. Halfmann, S. 20). Mary B. Mullett, „The Extraordinary Story of Eugene O'Neiir, American Magazine, 94 (November, 1922), S. 34 (vgl. Halfmann, S. 22). Brief von O'Neill an George Jean Nathan vom 7.5.1923. (Zitiert bei: A. Caputi [ed.], Modern Drama [New York, 1966], S. 449f.)

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brauchte, um sein Vorhaben realisieren zu können - scheinbar ohne neuere Ideen allerdings in älteres Material inkorporieren zu können. Der Einfluß Nietzsches in diesen ersten zwei Stücken ist jedenfalls, entgegen dem Entdeckungswillen Kaufmanns, nur sehr schemenhaft präsent. Schließlich kam O'Neill aber auf eine Formel für die Inszenierung dieses Konzeptes, die an den drei großen „Verkünderstücken" beobachtet werden kann. Die tragische Erkenntnis erhielt jetzt eine eindeutige Gestalt als die Einsicht in das Versagen aller Götzen des Glaubens (ob als Glaube an Macht, Geld, das fromme Leben oder Gott gesehen), vor allem als die Einsicht in die Unfähigkeit des Christentums, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen. Der metaphysische Trost, den der Zuschauer an sich erfahren sollte, war die Bejahung allen Lebens durch Erkenntnis der ewigen Wiederkehr allen Lebens. Man muß hier freilich den Begriff Nietzsches und den seines Interpreten wieder einmal auseinanderhalten. Während Nietzsche bestrebt ist, seiner neuen Metaphysik eine eigene Zunge zu verleihen, und diesen Begriff als einzige Möglichkeit wählt, das Werden als Sein in Worte zu fassen (also, um die Wesensmetaphysik zu verwerfen, aber ontologisch nicht sprachlos zu bleiben), interpretierte O'Neill den Gedanken der ewigen Wiederkehr als Neufassung des zyklischen Weltbildes der Pythagoreer. Soll er sich als Quelle für den Wiederkehrgedanken nur an Also sprach Zarathustra gehalten haben, dann dürfte diese Interpretation nicht überraschen, denn Zarathustras Visionen der Wiederkunft sprechen auch die Sprache der jahreszeitlichen Welterneuerung: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. (Za „Der Genesende" 2)

O'Neills Version des Wiederkunftgedankens wurde möglicherweise auch durch den amerikanischen Transzendentalismus gefärbt, der lehrt, daß das Leben als Ganzes in der oversoul aufgehoben sei, selbst wenn die Individualität oder Personalität sich auflöse. Auf jeden Fall blieb O'Neill bei seiner bereits erwähnten Konzipierung eines Bildes von „life flowing on, of the past which is never the past - but always the birth of the future". 90 Die Anwendung dieser Doppelformel von Götzendämmerung oder AntiChristentum und ewiger Wiederkehr schließlich wurde zum ersten Mal im ersten „Maskenspiel" O'Neills deutlich: The Great God Brown

(1926).

In den zwei Protagonisten dieses Stückes, William Brown und Dion Anthony, schilderte O'Neill den Zusammenprall verschiedener Lebenshaltungen, die als dionysische Rauschhaftigkeit, apollinischer Formwille, christliche Askese und

90

Eugene O'Neill, „Letter to the Editor", op. cit., S. 1.

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merkantiles Erfolgsstreben etikettiert werden können. Die Verschränkung dieser zwei Figuren miteinander beginnt in der Kindheit und bleibt bis zum Tode unlösbar bestehen, gegeben durch: die gemeinsame Schulzeit und von beiden geteilte Jugendliebe zu Anthonys späterer Frau Margaret, sodann durch die gemeinsame Arbeit im Architektenbüro Browns, die Bindung beider an die Prostituierte Cybel und schließlich durch die Übernahme der Identität des verstorbenen Anthony durch Brown. Während Brown auf ein eigenes Leben und vor allem die Liebe verzichtet, um den Wünschen seines Vaters gemäß ein erfolgreicher Architekt zu werden, gibt Anthony das Architekturstudium auf, gehorcht der Stimme seines dionysischen Dämonion und wird Künstler. Er muß aber erkennen, daß ihm der von Brown zu Geschäftszwecken eingesetzte Formwille fehlt, daß er also nie ein großer Künstler wird, weil seine kreative Kraft unbeherrscht ist. Brown stellt dagegen eine Existenz der reinen Form ohne Kreativität dar. Schon dem jungen Schüler soll der Zuschauer „a disciplined restraint" anmerken. 91 (prologue) Die Trennung der von Nietzsche nach Heraklitscher Manier als notwendig zueinander gehörige Antipoden bezeichneten Kräfte des Dionysischen und Apollinischen in zwei verschiedenen Figuren drückt O'Neills Überzeugung vom Auseinanderfallen des klassischen Ganzheitsanspruches im modernen Menschen aus. Brown, der des dionysischen Lebensmutes entbehrt, büßt durch Lebensverzicht und Erfolgsbesessenheit die eigene Identität ein, während sich Anthony viel konkreter systematisch zu Tode trinkt. Beide haben aus verschiedenen Gründen ihr „eigentliches" Leben verpaßt. Während sich Anthony fragen muß, warum er seine Lebensfreude nie ausleben darf - „Why am I afraid to dance, I who love music and rhythm and grace and song and laughter?" (GB 315/prologue) -, muß Brown dafür verantworten, daß er seine Seele verkauft hat und sich selbst deswegen verachtet - „Why must the demon in me pander to cheapness - then punish me with self-loathing and life-hatred?" (GB 366/IV.i) Die Flucht in den Alkohol bringt schließlich Anthonys Tod, und Brown scheitert zuletzt an seiner Unfähigkeit, die Rolle des Anthony, die er spielen will, wirklich zu beseelen - die eigene innere Leere holt ihn ein. Die sehr konstruierte Zwangskatastrophe des Stückes nimmt ihren Lauf, als Brown die Leiche Anthonys nachträglich verschwinden lassen will, dann von der Polizei entdeckt, verfolgt, gestellt und erschossen wird. Daß Brown überhaupt als Doppelgänger Anthonys auftreten kann, liegt am Maskengebrauch in diesem Stück. Alle Figuren tragen im Wechsel verschiedene Masken, die mal ein nach außen getragenes Trugbild, mal den eigentlichen inneren Seelenzustand schildern. Brown nimmt der Leiche Anthonys die Maske ab und setzt sie fürderhin selbst auf, nicht zuletzt um die lang ersehnte Liebe Margarets für „sich selbst" in Gestalt seines Freundes zu gewinnen.

Eugene O ' N e i l l , „The Great God Brown", Nine Plays, gefolgt v o n Seiten-, Akt- und Szenenzahl, zitiert.)

op. cit., S. 307 (hiernach im Text als GB,

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Vor allem in dieser O'Neillschen Tragödie zeigte der Dramatiker, wie stark er sich bei der Ausarbeitung der Mittel und Ideen an Nietzsche anlehnte. Der Maskengebrauch etwa geht eindeutig auf Gedanken Nietzsches zurück. Die jugendliche Maske Anthonys weist eine Mischung aus innerer Verletzbarkeit und äußerlich vorgeschütztem Hochmut sowie ungezügelter Sinnlichkeit auf: dark, spiritual, poetic, passionately supersensitive, helplessly unprotected in its childlike, religious faith in life [with] the expression o f a m o c k i n g , reckless, defiant, gayly scoffing and sensual young Pan. ( G B 3 1 0 / p r o l o g u e )

Er ist in Nietzsches Worten ein „Verborgener", der einerseits seine eigene Verwundbarkeit aus Selbstschutz versteckt hält und andererseits früh erkennt, daß die Menschen ihn unmaskiert nicht sehen wollen. Als ihm Margaret ihre Liebe erklärt, macht er einen Entlarvungsversuch, wird dann aber von ihr, in einem Anflug äußerst expressionistischen Stilgebrauchs seitens O'Neills, nicht mehr wiedererkannt. Er muß sich erneut maskieren, um mit ihr überhaupt weiterreden zu können. Genau dieses Phänomen der Verfestigung der eigenen Maske im Auge des anderen beschreibt Nietzsche: Ein s o l c h e r V e r b o r g e n e r , der aus Instinkt das Reden z u m Schweigen und V e r s c h w e i gen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht v o r Mittheilung, will es und fördert es, dass eine M a s k e von ihm an seiner Statt in den H e r z e n und Köpfen seiner F r e u n d e herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines T a g e s die A u g e n darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine M a s k e von ihm giebt, - und dass es gut so ist. ( J G B 4 0 )

In jungen Jahren ist Anthony noch hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Mitteilung und der Notwendigkeit des Schweigens und Verschweigens. In einem Atemzug versucht er, Margaret seine dionysische Lebensauffassung und seine Sehnsucht nach Aufflösung der Individuation mitzuteilen, um nur dann sofort zum vorgetäuschten Appell zum tätigen Leben der apollinischen Individuation zurückzugreifen: D I O N . (with more and more Relax! behind!

mastery

in his tone)

L e t g o your clutch on the world! Gone!

Death!

Now!

B e born!

I love, y o u love, w e love!

Dim and d i m m e r ! Awake!

Live!

Come!

Fading out in the past

Dissolve into dew - into

silence - into night - into earth - into s p a c e - into p e a c e - into meaning -into j o y - into God - into the Great God Pan! [ . . . ] W a k e up! for s c h o o l !

T i m e to learn!

L e a r n to keep step!

L e a r n to pretend!

Join the procession!

T i m e to get up!

T i m e to exist!

C o v e r y o u r nakedness!

Great Pan is dead! ( G B

Time

L e a r n to lie!

318/prologue)

Als „großer Gott Pan" fordert er symbolisch die geweihte Jungfrau dazu auf, ihren Griff „von der Welt loszulassen" und mit ihm in die Lethe des Schlafes einzugehen, schließt sich dann aber sofort wieder den Wachheitsparolen der Gesellschaft an und zitiert offensichtlich den Ausruf, den Nietzsche als Weheklage über den Tod der Tragödie anführt: „der grosse Pan ist todt" (GT 11). In späteren Jahren offenbart er sein Inneres nur noch der Prostituierten Cybel, denn er hat beschlossen, außer bei ihr „still" hinter seiner Maske zu leben: „I

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became silent for life and designed a mask of the Bad Boy Pan in which to live" (GB 346/II.ii). Der „große Gott Pan" versteckt sich vor dem „großen Gott Brown", wie er seinen Freund höhnisch nennt. Browns Maske andererseits ähnelt dem Scheinbild des „wissenschaftlichen Menschen", der nach Nietzsche den Eindruck der Oberflächlichkeit absichtlich erwecken will: E s giebt „wissenschaftliche M e n s c h e n " , welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit d a r a u f schliessen lässt, dass der M e n s c h oberflächlich ist: - sie wollen

zu einem falschen Schlüsse

verführen. ( J G B 2 7 0 )

Browns „Wissenschaft" ist die Kunst, auf Kosten der eigenen Person den gesellschaftlichen Erfolg zu erzwingen, und just diesen Schein der Oberflächlichkeit versucht er aufrechtzuerhalten, wenn er sein Leiden unter dem Lebensverzicht mit mechanischer Heiterkeit überspielt und den Erfolg als Zufall ausgibt, der ihm einfach in den Schoß gefallen, an dem er selbst kaum beteiligt gewesen sei, und worüber er sich sogar wundere - „Well, to be frank, it's been mostly luck. Things have come my way without my doing much about it." (GB 326/1.ii) -, während er in Wahrheit sich seiner Arbeit völlig aufopfert. Anthonys im Laufe der Jahre zunehmende, an den Änderungen seiner Maske sichtbar werdende Pervertierung soll als krankhafte Auswirkung des verinnerlichten Ideals der christlichen Askese auf seine dem entgegengesetzte dionysische Natur vom Publikum verstanden werden. Die Pan-ähnliche Qualität seiner Maske weicht dem Ausdruck einer mephistophelischen Satansfratze. Bereits in der ersten Szene des ersten Aktes nach dem Prolog, sieben Jahre nach dem Schulabgang, ist Anthonys wirkliches Gesicht schon stark gealtert, aber: T h e m a s k , too, has changed.

It is older, m o r e defiant and m o c k i n g , its sneer m o r e

forced and bitter, its Pan quality becoming Mephistophelean. ( G B 3 2 0 / 1 . i )

Anthony selbst identifiziert diesen Wandel seiner Persönlichkeit, in Anlehnung an die in Zarathustra begegnende Sonnenanbetung, als das Resultat von Lichtentzug: D I O N . W h e n Pan was forbidden the light and warmth o f the sun he g r e w sensitive and self-conscious and proud and revengeful - and b e c a m e P r i n c e o f D a r k n e s s .

(GB

3 4 8 / 1 1 . ii)

Dennoch sucht er selbstzerstörerisch immer wieder im Glauben seinen Trost. Im ersten Akt sieht der Zuschauer, wie Anthony seine Bibel in die Hand nimmt, sich aber sofort wegen dieses Schwächeanfalls Vorwürfe macht: D I O N . ( s u d d e n l y reaches

out and takes up a copy of the New Testament

...) „Come

unto m e all ye who are heavily laden and I will give you r e s t " . . . . I will c o m e - but where are y o u , Savior? . . . ( H e tosses

the

Testament

aside

contemptuously)

Blah!

Fixation on old M a m a Christianity! ( G B 3 2 0 f . / I . i )

Auch im zweiten Akt beobachtet ihn der Zuschauer wieder einmal bei erbaulicher Lektüre: „DION is sitting on the stool in back of the table, reading aloud from

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the .Imitation of Christ' by Thomas ä Kempis to his mask". (GB 341/II.2) Daß er aber hinter der Hülle seines ausgebrannten Glaubens nichts Inhaltliches mehr findet, hat er bereits akzeptiert. Er trägt nicht mehr den Glauben im Herzen, sondern nur noch die ihm als Konsequenzen dieses Glaubens gebliebenen Narben im Antlitz, denn sein wahres Gesicht ist nun das des Asketen und Märtyrers geworden (Il.i). Von Brown als Zeichner eingestellt, ist Anthony zur eigentlichen kreativen Triebfeder des Architektenbüros Browns geworden. Die Entwürfe seines Freundes läßt sich Brown selbst zuschreiben, aber es ist immerhin Anthony, dem die Pläne gelingen. Aber auch dieser - freilich geheime - Erfolg bedeutet dem Lebensmüden und Alkoholkranken nichts. Sein letztes Projekt, zugleich sein „Meisterwerk", versinnbildlicht seine völlige Loslösung vom Christentum und seinen Übertritt zum Dionysikertum, welches ohne das Gegenwicht des apollinischen Formerhaltungstriebes zum Selbstvemichtungswillen wird. Anthony entwirft eine moderne Kathedrale, deren Turmspitze von nichts anderem als der Figur des Silens geschmückt ist: DION. This cathedral is my masterpiece! It will make Brown the most eminent architect in this state of God's Country. ... It's one vivid blasphemy from sidewalk to the tips of its spires! - but so concealed that the fools will never know. They'll kneel and worship the ironic Silenus who tells them the best good is never to be born! (GB 348/n.ii)

Diese Entlehnung aus der Geburt der Tragödie (GT 3) versuchte O'Neill nicht einmal künstlerisch zu entfremden. Hier ging die Montage in direktes Zitieren über. Kurz vor seinem Tod bringt auch Brown ein letztes, verzweifeltes christliches Bekenntnis über die Lippen, nimmt dieses aber sofort zurück und führt dabei ein abgewandeltes Zarathustra-Zitat im Mund. „Mercy, Compassionate Savior of Man!" ruft er den Himmel an, spricht dann aber zynisch den Verlust Gottes aus, der, anstatt einen „tanzenden Stern [zu] gebären" (Za „Zarathustra's Vorrede" 5), sich angewidert auf.einen „fernen, ekstatischen Stern" zurückgezogen hat, um den Menschen mit seinem Tod allein zu lassen: Bah! I am sorry, little children, but your kingdom is empty. God has become disgusted and moved away to some far ecstatic star where life is a dancing flame! We must die without him. (GB 371f./IV.ii)

Schon bei der Erstaufführung dieses komplexen und oft undurchsichtigen Stückes, in dem verschiedene symbolische Linien nebeneinander herlaufen, stellte sich heraus, welche Schwierigkeiten jeder Inszenierung von The Great God Brown anhaften müssen. Der konfuse Wechsel der Masken, oft innerhalb eines einzigen Dialogs, verwirrt und wirkt ablenkend. Die übertriebene Vielfalt an genauen Ausdrucksvarianten, die O'Neill jeder Maske abverlangte, läßt sich in der Theaterwirklichkeit kaum darstellen. Außerdem ist vieles ohne Kenntnis der Nietzscheschen Referenzpunkte, an denen die Symbolik zu orten ist, einfach miß-

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oder unverständlich. Die Kritiker zeigten sich so verblüfft, daß O'Neill sich genötigt sah, eine Erläuterung des Stückes in den Feuilletons abdrucken zu lassen. Sehr verwundert habe ihn, daß die Kritiker nicht einmal verstanden hätten, wie im sprechenden Namen „Dion Anthony" die antinomische Symbolik von Dionysos und dem heiligen Antonius aufgehoben sei: I had hoped the names chosen for my people would give a strong hint of this. (An old scheme, admitted - Shakespeare and multitudes since.) Dion Anthony - Dionysus and Saint Anthony - the creative pagan acceptance of life fighting eternal war with the masochistic, life-denying spirit of Christianity as represented by Saint Anthony - the whole struggle resulting in this modern day in mutual exhaustion - creative joy in life for life's sake frustrated, rendered abortive, distorted by morality from Pan into Satan, into a Mephistopheles mocking himself in order to feel alive; Christianity, once heroic in martyrs for its intense faith, now pleading weakly for intense belief in anything, even Godhead itself. 92

Margaret sei offensichtlich als Gretchen-Figur zu erkennen, während der Zuschauer in Brown den neuen Götzen des Materialismus zu sehen habe: Brown is the visionless demi-god of our new materialistic myth - a success - building his life of exterior things, inwardly empty and resourceless, an uncreative creature of superficial preordained social grooves, a by-product forced aside into slack waters by the deep main current of life-desire. 93

So durchsichtig wie O'Neill sich seine Symbolik vorstellte, ist sie bei weitem nicht, was darauf schließen läßt, daß er zu dieser Zeit in seinem eigenen Nietzscheanismus so befangen war, daß ihm nicht im Traume eingefallen wäre, die meisten Zuschauer könnten vielleicht noch nie etwas von Nietzsche gehört haben. Anspielungen, die völlig vom Rückbezug auf das Nietzschesche Orginal abhingen, ließ er jedenfalls nachher nur noch selten in seine Stücke einfließen. Selbst das mit Nietzscheschen Elementen fast überfrachtete Lazarus Laughed läßt ein Verständnis des Stückes ohne Nietzsche-Lektüre als mögliche (dennoch „mangelhafte") Variante zu. Die andere große Erneuerung an The Great God Brown außer dem Maskengebrauch war die Einführung der Figur des O'Neillschen „Weisen", die als Transportmittel für die Lehre der ewigen Wiederkehr figuriert. Die Prostituierte Cybel erhielt ihren sprechenden Namen laut O'Neill als Anspielung auf die alte asiatische Erdgöttin Kybele (auch „Rhea" bei den Griechen): „Cybel is an incarnation of Cybele, the Earth Mother". 94 O'Neill beschrieb diese Figur als eine schöne, aber eigentlich äußerst bovine Frau, die sowohl Fruchtbarkeit als auch das instinktive Urvertrauen zum Leben repräsentiere:

92

"3 94

Eugene O'Neill, „Eugene O'Neill Writes About His Latest Play, The Great God Brown", New York Evening Post (Feb. 13, 1926), sec. 5, S. 6 (vgl. Halfmann, S. 66). Ibid., S. 6. Ibid., S. 6.

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C Y B E L is seated on the stool in front of the piano. She is a strong, calm, sensual, blonde girl of twenty or so, her complexion fresh and healthy, her figure full-breasted and wide-hipped, her movements slow and solidly languorous like an animal's, her large eyes dreamy with the reflected stirring of profound instincts. She chews gum like a sacred cow forgetting time with an eternal end. (GB 329/1.iii)

Nur in Cybels Gegenwart läßt Anthony seine Maske Fallen. Es ist ihre Güte einerseits und Amoralität andererseits - „Excellent! You're not a moralist, I see" (GB 330f./I.iii) lobt Anthony sie -, welche ihm eine kurze Erholung von seiner eigenen zerrissenen Natur ermöglichen. Ihre Berührung seiner Stirn beschreibt er als lindernden kalten Umschlag gegen die Stiche des Denkens - „a poultice on the sting of thought!" (GB 330f./I.iii) Sowohl Anthony als auch Brown versucht sie davon zu überzeugen, daß das Leben an sich unendlich gut sei, wenn man es ohne Hintergedanken akzeptieren könne, ohne es mit fernen Idealen zu vergleichen: „Life's all right, if you let it alone." (GB 330f./I.iii) Obwohl sie weder den frustrierten Künstler noch den seelenlosen Geschäftsmann retten kann, überläßt ihr O'Neill als seinem philosophischen Sprachrohr die Möglichkeit, den Zuschauer zum Leben zu führen. Ihr bleibt das letzte Wort im Stück, an dessen Schluß sie Glanz und Glorie des sich immer wieder von neuem gebärenden, zyklischen Lebens anpreist: C Y B E L . Always spring comes again bearing life!

Always again!

Always, always

forever again! - Spring again! - life again! - summer and fall and death and peace again! (with agonized

sorrow)

- but always, always, love and conception and birth and

pain again - spring bearing the intolerable chalice of life again! - (then with exultance)

agonized

bearing the glorious, blazing crown of life again! (GB 375/IV.ii)

Dieses Bild von der Selbsterneuerung des Lebens verstand O'Neill offenbar als den Inhalt der Lehre der ewigen Wiederkehr, die er seinem Publikum hier zum ersten Mal als philosophische Religion im neuen Theatertempel predigte. Im nächsten Stück dieser Phase, Marco Millions (1928), das anscheinend mal mit, mal ohne Masken vom Autor projektiert wurde, 95 stattete O'Neill die Verkünderfigur mit einer noch grösseren Rolle aus. Das Spiel handelt von der Zeit Marco Polos am Hofe des Kublai Chan. Dieser historische Stoff eignete sich als klassische Metapher der Begegnung von Okzident und Orient (die asiatische Herkunft des Kublai Chan mag auch als Nachempfindung Zarathustras intendiert gewesen sein), welche unter O'Neills Regie zum tryptichonartigen Bühnensinnbild wurde, auf dem drei Religionen - Christentum, Buddhismus, Zarathustrascher Fatalismus - dargestellt und miteinander verglichen wurden. Obwohl er sich sonst am Gerüst der bekannten historischen Begebenheiten hielt, änderte O'Neill ein wichtiges Detail aus der Überlieferung Polos zu diesem

95

Die Druckversion des Stückes enthält keine Angaben zu Masken, aber in „Second Thoughts" (American Spectator I, 2 [December 1932], S. 2) schreibt O'Neill: „In Marco Millions all the people of the East should be masked".

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Zweck des Religionsvergleichs. Während Polos Reisebeschreibungen zufolge sein Vater und seine Onkel nach ihrer ersten Reise ins Mongolenreich vom großen Chan nach Europa zurückgeschickt worden seien, um hundert Missionare (zwecks der Bekehrung des Volkes zum Christentum) mit ins Morgenland zurückzubringen, hieß es bei O'Neill, der Chan habe den Papst um die Freistellung von hundert Weisen aus dem Westen gebeten, die mit seinen Priestern darüber debattieren sollten, welche Weltreligion die wahre sei: MAFFEO. To request the Pope to send him a hundred wise men of the West T E D A L D O , (dryly) This Kublai is an optimist! MAFFEO. - to argue with his Buddhists and Taoists and Confucians which religion in the world is best. MONK. ( o u t r a g e d ) Impudent ignoramus! Does he imagine the Church would stoop to such bickering? 96 (I.ii)

Das Ergebnis des Vergleichs ist eine Art Umkehrung der Lessingschen Ringparabel. Es wird gezeigt, daß all die klassischen Glaubensrichtungen einen gemeinsamen Ursprung in der Jenseitssehnsucht haben, aber alle deswegen auch lebensfeindlich und destruktiv sind. Kublai Chan als Weisheitsinstanz im Stück verwirft alle etablierten Weltreligionen zugunsten eines lebensbejahenden Fatalismus, der zwar nie als eine Lehre Zarathustras identifiziert wird, aber jeden Zweifel an seiner Nietzscheschen Herkunft ausschließt. O'Neills Einwand gegen das Christentum trat hier nicht in Form der Askese Dion Anthonys, sondern der merkantilen Raffgier William Browns auf, die sich heuchlerisch hinter dem Überlegenheitsdünkel gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften versteckt. Die Geschichte der Polos als Händlerfamilie und Sendboten Roms bot sich O'Neill zu einer solchen Interpretation auch vortrefflich an. Bereits in Venedig bei den Vorbereitungen zur zweiten Reise, auf der Marco zum ersten Mal seine um die praktische kaufmännische Ausbildung des Jungen besorgten Onkel und seinen Vater begleitet, wird die äußerst weltliche Geldgier der älteren Polos verdeutlicht. Maffeo spricht sich für den Versuch aus, den Chan zum christlichen Proselyten zu machen - weil es die Profite steigern würde: „MAFFEO. (craftily) It'd pay to convert him. He's the richest king in the world." (MM 223/1.ii) Auch in diesen Szenen vor dem Aufbruch nach Cambaluc in der Mongolei beginnen die Bestrebungen der älteren Polos, dem schwärmerischen jungen Marco seine poetische Ader und seine Liebessehnsucht auszutreiben, auf daß er sich den weltlichen Dingen des Geschäftemachens widme. Er wird von seinen Onkeln ausgelacht, als sie ein von ihm geschriebenes, stümperhaftes Liebesgedicht entdecken. Anstatt zu protestieren, lenkt Marco gehörig ein und schwört, sich nie wieder solcher Narretei hinzugeben:

**

Eugene O'Neill, „Marco Millions", Nine Plays, op. cit., S. 223 (hiernach im Text als MM, gefolgt von Seiten-, Akt- und Szenenzahl, zitiert).

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MARCO. (with a great bluster of manliness) Oh, I don't mind your making fun. I can take a joke. It was silly. Poetry's all stupid, anyway. I was only trying it for fun, to see if I could. You won't catch me ever being such a fool again! (MM 225/1.11)

Endlich am Hofe des Mongolenkaisers angelangt, wird der junge, dem Chan umbekannte Marco sofort ins theologische Kreuzverhör genommen. Kublai Chan wiill von Marco erfahren, ob er glaube, im Besitz einer unsterblichen Seele zu sein. Der zu dieser Zeit offiziell noch als Buddhist geltende Kublai Chan ist offfenbar bemüht, seinen jungen Diskutanten vom Gegenteil zu überzeugen, indem err ihn selbst die Unlogik dieses Glaubens aufdecken zu lassen beabsichtigt: KUBLAI. MARCO, KUBLAI. MARCO. KUBLAI. MARCO. KUBLAI.

(suddenly to MARCO) Have you an immortal soul? (in surprise) Of course! Any fool knows that. (humbly) But I am not a fool. Can you prove it to me? Why, if you didn't have a soul, what would happen when you die? What, indeed? Why, nothing. You'd be dead - just like an animal. Your logic is irrefutable. (MM 243/I.vi)

Schon bei seinem ersten Auftritt wird die Zarathustra-Identifikation des Chan in den Vordergrund seiner Charakterisierung gerückt. Er spricht mit Marco wie Zarathustra zum sterbenden Seiltänzer, als er diesen trösten und ihm die Furcht vor dem Tode nehmen will, indem er ihm versichert: „Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib". (Za „Zarathustra's Vorrede" 3) Es ist laut Zarathustra der „Erwachte" und der „Wissende", der sagt: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem". (Za „Von den Verächtern des Leibes") Marco erhält, der Überlieferung gemäß, seinen Posten als Provinzverwalter uQd Schreiber am Hofe Kublais, weil der Chan vorerst die Kindlichkeit („Marco touches me, as a child might" [MM 246/1.iv]) seines Wesens schätzt. Seine Unfähigkeit, an den eigenen Tod als Auslöschung seiner selbst zu denken, findet Kublai Chan geradezu „heldenhaft": „You cannot imagine your death. You are a born hero." (MM 244/1.vi) Damit wiederholt er auch Nietzsches Überzeugung, daß die Verborgenheit des Todes nützlich sei, weil sie den Menschen zum Leben verführe: Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menshen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen. (FW 278)

Mit diesen „heroischen" Scheuklappen kann der Chan, sosehr er sich zunächst von Marcos Monoperspektivität beeindruckt zeigt, jedoch die eigenen Augen nicht schützen. Seine anfangliche Begeisterung für Marco wird mit der Zeit durch Unbehagen an der Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit von dessen Weltanschauung abgelöst, denn der Chan will nicht die Mittel zum größeren Reichtum, sondern das Wesen der Welt erkennen. In seiner wachsenden Unzufriedenheit über den immer einflußreicher werdenen Fremden an seinem Hofe, sucht Kublai Chan das Zwiegespräch mit seinem geistigen Berater Chu-Yin.

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Die Figur des Chu-Yin, wichtigster Stellvertreter des buddhistischen Bemühens um die vollkommene Gemütsruhe im Stück, reflektiert die Ambivalenz Nietzsches gegenüber dem Buddhismus, welche wiederum Nietzsches Ambiguität hinsichtlich des einstigen Lehrers Schopenhauer widerspiegelt, für den der Buddhismus ein Quell des eigenen Denkens war. Christentum und Buddhismus ist für Nietzsche gemeinsam, daß ihre Ausbreitung zu Weltreligionen „in einer ungeheuren Erkrankung des Willens" ihren Entstehungsgrund findet. (FW 347) Dekadent und nihilistisch sei deshalb nicht nur das Christentum, sondern auch der Buddhismus als „Religion für späte Menschen [...], die zu leicht Schmerz empfinden" . (AC 22) Gleichzeitig hat der Buddhismus Nietzsche zufolge den Vorteil, „hundert Mal realistischer als das Christenthum" zu sein, weil er die direkte Überwindung des Leidens am Willen lehrt. (AC 20) Chu-Yin gehört, dieser doppelten Optik gemäß, einerseits zur Sphäre der „Schlechtweggekommenen". Er bekundet dem Chan seine eigene Antipathie gegen den tüchtigen Marco, die letztlich aus einem eindeutig erkennbaren Ressentiment erwächst: „I am an old man full of malice and venom and it embitters me to see others unreasonably happy". (MM 253/11.i) Er teilt auch manche Ähnlichkeit mit dem Weisen aus „Von den Lehrstühlen der Tugend", der den Schlaf als Weg zur Glückseligkeit predigt. Diese somnolente Weisheit der Lebensmüden intoniert Chu-Yin, als er der Prinzessin Kukachin, Tochter des Chan, den Schlaf als bestes Mittel gegen den Liebeskummer empfiehlt: C H U - Y I N . A little sleep, Princess, and you will be beautiful. [...] Life is perhaps most wisely regarded as a bad dream between two awakenings, and every day is a life in miniature. (MM 266/11.ii)

(Das Herzeleid Kukachins gilt ihrer unglücklichen, weil verschmähten Liebe zu Marco.) Als der Chan, von seinen Generälen angefeuert, sich mit dem Gedanken trägt, Krieg gegen den Westen aus Rache an Marco zu führen, zeigt sich an Chu-Yin andererseits seine Zugehörigkeit zum Realismus der buddhistischen Ataraxie. Chu-Yin rät Kublai Chan ausdrücklich gegen die Rache, das Grundempfinden des Ressentimentmenschen, weil eine Rachehandlung dem eigenen Gemüt mehr Schaden als Genugtuung zufüge. Der Quietist Chu-Yin lehrt den Schutz des Selbst vor dem schmerzlichen Ungestüm des eigenen Willens: CHU-YIN. (from below, recites in a calm, soothing tone) The noble man ignores self. The wise man ignores action. His truth acts without deeds. His knowledge venerates the unknowable. To him birth is not the beginning, nor is death the end. (MM 265/11.ii)

Diese Art von Weisheit entpuppt sich als praktikable Gefühlshygiene, welche der Erkrankung am Ressentiment vorbeugt, aber zugleich einen grundsätzlichen Hang zur Lebensverneinung verrät. Kublai Chans Vertrauen zu seinem Berater zeigt zu diesem Zeitpunkt bereits einige Risse. Er läßt sich vom Kriegsvorhaben abbringen, richtet aber zuvor

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einen Apell an Chu-Yin und seine Kriegsherren, der dem Imperativ einer ganz anderen Lebensphilosophie gehorcht: „Go in and dance, everyone! You, too, General! [...] learn to dance and be silent!" (MM 288/III.i) Der Tanz als Sinnbild der fatalistischen Leichtfüßigkeit, der Affirmation des grundlosen Diesseits, gehört in die Symbolwelt Zarathustrascher Riten. Der lebensfrohe Archaismus des tanzenden Gottes, der Gegensatz zur Trauermiene der neuzeitlichen Jenseitsreligionen, wird von Zarathustra wiederentdeckt, denn er „würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde". (Za „Vom Lesen und Schreiben") Der Tänzer muß kunstfertig und formliebend, aber auch der Leichtigkeit fähig sein, und symbolisiert somit den höheren apollinischen Menschen, der die dionysische Weisheit nicht vergißt. „Nur im Tanze", sagt Zarathustra, „weiss ich der höchsten Dinge Gleichniss zu reden". (Za „Das Grablied") Der entscheidende Moment der Bekehrung Kublai Chans zum starken Pessimismus der ewigen Wiederkehr kommt mit dem Tod Kukachins, die O'Neill mit einem Gestus überraschender Sentimentalität an einem gebrochenen Herzen sterben läßt. Die Priester, von denen der Chan sich Erleuchtung erhofft, welche ihm gleichzeitig diesen Schicksalsschlag erklärlich machen soll, können ihm alle nur bestätigen, daß der Tod die eigentliche Wahrheit sei. Was der Mensch als „das Leben" kenne, sei nur der trügliche Widerschein des Todes. Dies als Weisheit gelten zu lassen, geruht der Chan aber nicht. Ein buddhistischer Priester - ein „Selbstüberwinder", wie der Kaiser ihn mit dem Nietzsche-Wort benennt -, der den Glauben an den Tod nicht überwinden kann, gilt dem Chan als falscher Lehrer: KUBLAI. (to the BUDDHIST PRIEST) Worshipper of Buddha, can your self-overcoming overcome that greatest overcomer of self? BUDDHIST PRIEST. This is a thing which no god can bring about: that what is subject to death should not die. Death is. CHORUS. Death is. KUBLAI. (wearily) And your answer, priest of Islam? PRIEST OF ISLAM. It is the will of Allah! Death is. CHORUS. Death is. Death is. Death is. (MM 300/m.ii)

Den Tod als metaphysische Grundeigenschaft des Daseins kann Kublai Chan nicht akzeptieren. Gerade der Tod ist ihm jetzt das Unmögliche geworden - das Leben dagegen erscheint ihm als sich ewig wiedergebärender Kreis verklärt. Während Marco als Lebensverdienst nur noch übrigbleibt, den Bürgern von Venedig die „Millionen" seines Handelserlöses vorzurechnen, gelangt Kublai Chan zur höchsten Dankbarkeit gegenüber dem Leben (trotz des Todes der eigenen Tochter), die aus der Erkenntnis der ewigen Wiederkehr entsteht. Nicht einen Gott, sondern das Leben selbst solle man dem Chan zufolge anbeten: KUBLAI. I command the World to pray! In silence! Prayer is beyond words! Contemplate the eternal life of Life! Pray thus! In silence - for one concentrated moment - be proud of life! Know in your heart that the living of life can be noble! Know that the dying of death can be noble! Be exalted by life! Be inspired by death!

372

Literarische Rezeption Be humbly proud!

B e proudly grateful!

Be immortal because life is immortal.

Contain the harmony of w o m b and grave within you! sleep requited in the arms of death! in peace!

P o s s e s s life as a lover - then

If y o u awake, love again!

W h o k n o w s which? What d o e s it matter?

If y o u sleep on, rest

It is nobler not to know! ( M M

301/m.ii)

Diesen Abschlußmonolog erkennt der Leser sofort als Variante des von Cybel in The Great God Brown proklamierten Wiederkunftsglaubens. Das neue Ingrediens im Glaubensbekenntnis des Kublai Chan ist das der Kybele-Figur noch fehlende Element der ausdrücklichen Aufforderung zur Lebensbejahung, welches eine letzte Steigerung in der Figur des auferstandenen Lazarus von Lazarus Laughed erfährt. Eugene O'Neill schien als fast einziger dieses Stück von 1928 hoch zu schätzen. Verschiedene Probleme, nicht zuletzt das bierernste Sendungsbewußtsein des ganzen Dramas, belasten Lazarus Laughed schwer. Technische Schwierigkeiten verschärfen nur noch die relative theatralische Ungenießbarkeit dieses Werkes. Auch hier z.B. hat der Maskenbildner laut Bühnenanweisungen wieder ein schier übermenschliches Aufgebot an Ausdruckskunst zu vollbringen, und die Besetzung ist von monumentalen Proportionen: Über hundert Schauspieler sind notwendig, allein um die Hundertschaften der die verschiedenen Völker und Lebensalter repräsentierenden Statistenrollen zu spielen. Nicht ohne Grund also hat Lazarus Laughed bislang nur eine Aufführung erlebt. Mit diesem Stück erreichte O'Neill zugleich Höhepunkt und Abschluß der Nietzscheschen Mission in seinem Werk. Die allgemeine Religionskritik war wieder latent vorhanden, wurde aber zugunsten der hieratischen Inszenierung der Wiederkunftslehre in den Hintergrund gedrängt. Das in Lazarus Laughed versuchte Projekt entsprach dem Gedankenexperimemt einer hypothetischen Umkehrung der Weltgeschichte, die O'Neill sicherlich bei Nietzsche in Form der Paulusund Luther-Kritik kannte. Nietzsche sieht die Historie einen ganz anderen Lauf nehmen, wenn man die Reformation Luthers aus ihr wegdenkt: Um den katholischen Glauben sei es nämlich seiner Meinung nach bereits im 16. Jahrhundert geschehen gewesen. Nur die Gegenreformation habe dem Katholizismus neues Leben eingehaucht (vgl. vor allem AC 61). O'Neill griff noch weiter in die Geschichte zurück und versuchte sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn ein ganz anderer Mensch statt Jesus zur Erlöserfigur der westlichen Tradition erkoren worden wäre. Die Figur, die er dafür einsetzte, war der biblische Lazarus. So wie Nietzsche auf das Leben Jesu anspielt, indem er Zarathustra im 30. Lebensjahr erwecken läßt, nahm O'Neill den Zarathustra-Faden wieder auf, indem er den todessehnsüchtigen Lazarus - „He wished for death!" berichtet eine Nebenfigur über Lazarus' vergangenes Leben97 (I.i) - als Auferstandenen zum

97

Eugene O'Neill, „Lazarus Laughed", Nine Plays, op. cit., S. 384 (hiernach im Text als LL, gefolgt von Seiten-, Akt- und Szenenzahl, zitiert.)

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großen Ja-Sager stilisierte. O'Neills überlieferte Selbstzeugnisse zum Stück belegen seinen klaren Wunsch, mit Lazarus Laughed eine eigene ZarathustraParabel zu schaffen. Im bereits zitierten Brief an Bejamin De Casseres lobte er den hermeneutischen Scharfsinn des Adressaten, der bereits beim Durchsehen des Manuskriptes eine Anverwandlung Zarathustras in der Figur des Lazarus wiederzuerkennen meinte.98 Das Zarathustra-Vorbild wurde auch mit O'Neills eigenem, von Nietzsche entlehntem Dionysos-Kult vermischt. Mit jeder Szene wirkt die Erscheinung Lazarus' (der als Erleuchteter im Gegensatz zu allen anderen Figuren keine Maske trägt) jünger und „griechischer". In der ersten Szene des zweiten Aktes feiern athenische Dionysos-Jünger den in Griechenland eingetroffenen Lazarus (eine wohl unbewußte Paulus-Anspielung) als Reinkarnation der von ihnen angebeteten Gottheit. Schließlich soll er, so die Bühnenanweisungen, dem Weingott zum Verwechseln ähnlich sehen: LAZARUS now looks less than thirty-five. His countenance now might well be that of the positive masculine Dionysus. ... Not the coarse, drunken Dionysus, nor the effeminate God, but Dionysus in his middle period, more comprehensive in his symbolism, the soul of the recurring seasons, of living and dying as processes in eternal growth of the wine of life stirring forever in the sap and blood and loam of things. (LL 415/U.i) Interessant an dieser Anweisung ist nicht nur der wieder einmal auftauchende Gebrauch des Wiederkunftsbildes oder die Frage, wie genau ein solcher Dionysos auszusehen habe, damit der Wiedererkennungseffekt beim Publikum erzielt werde, sondern der dezidierte Wunsch O'Neills, Lazarus als den „späteren", philosophischen Dionysos und nicht den „frühen" Trunkenbold porträtiert zu sehen. Diese Präzisierung scheint darauf hinzudeuten, daß O'Neill auf die unterschiedliche Interpretation des Dionysos beim frühen und späten Nietzsche anspielte. In seinen Arbeitsnotizen zum Stück griff er jedenfalls unter anderem auf das alte Schema von Dionysos, Apollon und Silen zurück, das in Nietzsches Spätschriften im starken Pessimismus der antichristlichen Lebensbejahung aufgeht.99

99

„What you say of .Lazarus Laughed' deeply pleases me - particularly that you found something of .Zarathustra' in it." (Brief an Benjamin De Casseres vom 22.06.1927; zitiert bei: Arthur & Barbara Gelb, O'Neill, op. cit., S. 814.) Dort notiert O'Neill z.B.: „Dionysus - Named from the brightness of the sky and the moisture of the earth. - The Greeks thought of him not merely as the soul (spiritual form) of the vine but of all that life in flowering things of which the vine is the most emphatic example. ... He is the center of the cycle ... Silenus: the oldest of them all, so old he has come to have gift of prophecy. ... Dionysus inspires + rules over all music of reed as Apollo over strings. The religion of D. was, for those who lived in it, a complete religion, a complete sacred representation and interpretation of the whole of life". (Notizen zu Lazarus Laughed; zitiert bei: Virginia Floyd [ed.], Eugene O'Neill at Work: Newly Released Ideas for Plays [New York, 1981], S. 98.)

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Ist man mit den aus Zarathustra übernommenen Motiven vertraut, wirkt die Handlung des Stückes in manchen Punkten sehr vorhersehbar. 100 Der auferstandene Lazarus ist nun ausgezogen, um den Menschen seine frohe Botschaft zu überbringen, daß es keinen Tod gibt: „There is no death!" (LL 387/1.i) Die Todesüberwindung des Lazarus' hat allerdings nichts mit dem im christlichen Glauben verheißenen himmlischen Leben nach dem Tode zu tun, sondern soll das Resultat der Einsicht in die Lehre der ewigen Wiederkehr sein. Die Bewohner seines eigenen Dorfes drangsalieren ihn mit der Frage nach dem Jenseits, der er mit der Aufforderung an sie zuvorzukommen sucht, in einer Welt anstatt zwei zu leben: „O Curious Greedy Ones, is not one world in which you know not how to live enough for you?" (LL 387/1.i) Man erinnere sich, daß Nietzsche die „zwei-Welten-Theorie" der platonischen Metaphysik als Kern des Christentums identifiziert und als „Piatonismus für's Volk" bezeichnet. Das Ergebnis dieses neuen, von Lazarus proklamierten Glaubens soll die Lebensfreude einerseits und die Apotheosis des Menschen andererseits sein: „The greatness of Man is that no god can save him - until he becomes a god!" (LL 398/1.ii) Doch die Menschen wollen sich nicht ohne weiteres zur einzigen Manifestation des Göttlichen erklären lassen. Dem Widerstand der noch am Jenseitsglauben festhaltenden Menge kommt Lazarus aber mit einem besonders Nietzscheschen Mittel bei: dem Lachen. Das Gelächter des höheren Menschen ist bei Nietzsche überschäumender Ausdruck der in Worte nicht faßbaren Daseinsbejahung, die den in die Lehre der ewigen Wiederkehr eingeweihten starken Pessimisten ergreift. Der Grad ihrer Fähigkeit zum Lachen, schreibt Nietzsche an einer Stelle, könne sogar ein Maßstab sein, um die Rangordnung der Philosophen zu bestimmen (JGB 294). Der Mensch, der das Schwerste ertragen, der der Schlange des Pessimismus den Kopf abgebissen hat, lacht dieses Gelächter, das Zarathustra einmal hört: Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte! Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, - und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird. Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich's, jetzt zu sterben! (Za „Vom Gesicht und Räthsel" 2)

"*' Ein interessantes „verstecktes" Stmkturmotiv aus dem Nietzscheschen Fundus glaubt allerdings Leroy Kaufmann in Lazarus Laughed zu erkennen, da er eine Parallele zwischen der Parabel Zarathustras von den „drei Verwandlungen" des Geistes und der Entwicklung Lazarus' im Laufe des Stückes sieht: „In the first two acts of the play Lazarus bears the weight of humanity upon his back. Like the camel he takes the message of the eternal recurrence to the people [...] In the beginning of the third act, Lazarus enters into the spirit of the lion. [...] After his attack on Tiberius, Lazarus becomes the child who is the Yea-Sayer or the affirmer of life. [...] No longer the lion, he has become a gentle child of innocence, representing the new beginning." (Influence of Nietzsche, op. cit., S. 276, 278 u. 280.)

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Es ist das Lachen eines Hirten, von dem Zarathustras Gleichnis erzählt, und Hirt war im „alten" Leben ebenfalls Lazarus. Zarathustra lehrt diese Kunst des „guten" Lachens und mahnt seine Jünger: „vergesst mir auch das gute Lachen nicht!" (Za „Vom höheren Menschen" 20) Und wie sein Vorbild muß auch Lazarus wider das Vergessen der Menschen ankämpfen. Mit seinem Lachen vermag er zwar, die Menschen zu verzaubern, sie sofort in den Zustand eines rauschhaften Enthusiasmus zu versetzen: Such a laugh I never heard! It made my ears drunk! It was like wine! And though I was half-dead with fright I found myself laughing, too! (LL 385/1.i)

Ohne die ständige Gegenwart Lazarus' verlernen die Menschen aber sofort wieder diese Kunst des guten Lachens und stürzen in eine noch tiefere Verzweiflung. Immer wenn Lazarus von einem Ort weiter ziehen will, flehen ihn die jetzt Lebensberauschten an zu bleiben, weil sie den Verlust des Elixiers fürchten, ohne das sie nicht mehr leben zu können glauben: „Do not forsake us! We forget!" (LL 404/1.ii). Lazarus erklärt, sie vergäßen nicht einfach die olympische Heiterkeit der Todesüberwindung, sondern vor allen Dingen seine Lehre, und deswegen sei ihr Gelächter ein „schuldiges" Lachen, das noch vom Glauben an Gott (anstatt an den Menschen) beschmutzt sei: L A Z A R U S . You laugh, but your laugher is guilty! [...] Have you so soon forgotten, that now your laughter curses life again as of old? {He pauses - then sadty) That is your tragedy! You forget! You forget the God in you! You wish to forget! Remembrance would imply the high duty to live as a son of God - generously! - with love! with pride! with laughter! This is too glorious a victor)' for you, too terrible a loneliness! [...] Throw your gaze upward! To Eternal Life! (LL 397/1.ii)

Aber nicht nur die Schwäche der Zaghaften muß Lazarus überwinden, sondern auch die Rachegelüste der Mächtigen. O'Neills Darstellung der Opposition zwischen amorfati und der Lebensverneinung des Ressentiments, auf das er in den anderen Stücken nur peripher Bezug nahm, gipfelte in der Begegnung Lazarus' mit dem römischen Thronanwärter Caligula und dem Kaiser Tiberius. Der Ruf von Lazarus' Macht über die Menschen verbreitet sich rasch im gesamten Reich, und der Kaiser wünscht den Mann zu sehen, der ihm eventuell die Herrschaft strittig zu machen droht. Das Grundmotiv der Figur des Caligula, des sagenumwobenen und vor allem wegen seiner Grausamkeit bekannten Gebieters, ordnete O'Neill mit einem etwas groben Wink offenkundig der Rubrik des Ressentiments unter. Diese unmißverständliche Charakterisierung wird bemüht, wenn Caligula Befehl gibt, die vor den Stadtmauern Roms versammelten Jünger Lazarus' ermorden zu lassen, weil er ihre Freude nicht ertragen kann: „For their joy I will revenge myself upon them! Mercy? If there is no death, then death is a mercy!" (LL 425/11.ii) Lazarus trägt aber den Sieg über Caligula davon, denn seine Apostel gehen lachend in den Freitod, ehe die Legionen sie erreichen. Er erwidert den Haß Caligulas mit dem Aufruf zum ja-sagenden Lachen und zu dem das Chaos des Universums zelebrierenden Tanz (den schon Kublai Chan rühmte):

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LAZARUS. Are you a speck of dust danced in the wind? Then laugh, dancing! Laugh yes to your insignificance! [...] as dust, you are eternal change, and everlasting growth, and a high note of laughter soaring through chaos from the deep heart of God! Be proud, Ο Dust! Then you may love the stars as equals! (LL 417/Π.ί)

Zuletzt wird Lazarus von Caligula nach Capri gebracht, um dem Kaiser Tiberius vorgeführt zu werden. Am Torbogen zum kaiserlichen Palast sieht Lazarus als erstes einen gekreuzigten Löwen (Ill.i). Das hier ans Kreuz geschlagene, letzte Totemtier Zarathustras, der „lachende Löwe[n]u (Za „Die Begrüssung"), versinnbildlicht den Grundkonflikt, den dieses Stück mit dem philosophischen Projekt Nietzsches teilt: „Dionysos gegen den Gekreuzigten" sowie gegen die haßerfüllten Kreuziger. (EH „Warum ich ein Schicksal bin" 9) Der Löwe als Vorbild der „blonden Bestie" ist in der Symbol weit Nietzsches das dionysischste aller Tiere. Tiberius hofft von Lazarus den Schlüssel zum ewigen Leben zu erhalten, möchte aber gleichzeitig Lazarus' eigenen Glauben zerstören, um seine Allmacht bestätigt zu sehen. Die Hinrichtung von Lazarus' Frau Miriam wird verfügt, um seinen Willen zu brechen, aber auch im Angesicht ihres Todes bleibt er standhaft, da es diesen Tod „gar nicht gibt". Dieser willkürliche Tötungsakt soll aber auch das Ressentiment Tiberius' sichtbar machen - nach eigenem Bekenntnis muß er aus seinem hypertrophierten Neid heraus jede Form der Liebe vernichten: I killed your love, too, did I not? Well, I must! I envy those who are loved. Where I can, I kill love - for retribution's sake. (LL 465/IV.i)

Auch in diesem Stück stellte O'Neill dem Ausdruck der lebensverneinenden Verzweiflung zum Schluß eine monologische Verkündung entgegen, welche die Liebe zur „Ewigkeit" zum einzig möglichen Heil des Menschen erklärt: LAZARUS. Hitherto Man has always suspected his life, and in revenge and selftorture his love has been fruitless! He has even betrayed Eternity, his mother, with his slave he calls Immortal Soul! Hope for you, Tiberius Caesar? Then dare to love Eternity without your fear desiring to possess her! Be brave enough to be possessed! (LL 461/IV.i)

In der letzten Parallele zur Lebensgeschichte Jesu wird sogar die Passion in Lazarus Laughed nachgestellt: Auf Geheiß des römischen Kaisers wird Lazarus auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und somit ist zuletzt die Möglichkeit einer kultischen Verehrung von Lazarus als Märtyrer gegeben. Die Religionsgeschichte wird nach diesem Martertod eine andere werden, in der amorfati das Evangelium und Lachen das Sakrament bilden. Es ist auch ironischerweise schließlich das Todesgelächter Lazarus', das Tiberius endlich betört und bekehrt, der beim Anblick des flammenden Scheiterhaufens die Lehre der Ewigkeitsliebe selbst bestätigt: „I laugh with him". (LL 476/IV.ii) Es läßt sich nicht sagen, ob O'Neill hier an Nietzsches Erwähnung des Mithras-Opfers Tiberius' auf Capri dachte (JGB 55), aber zuletzt ist ein solches Detail nicht von größerer Konsequenz.

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Weitere weniger bedeutsame Überschneidungen zwischen Lazarus Laughed und Also sprach Zarathustra ließen sich aufzählen, würden aber die Kenntnis des Nietzscheschen Grundtons des Werkes O'Neills nicht wesentlich erweitern. Es war der dionysische amor fati Nietzsches, den Eugene O'Neill dem modernen Theater-Publikum als metaphysischen Trost für den Verlust Gottes beibringen wollte. In Lazarus Laughed unternahm er zum letzten Mal diesen Versuch. In den nachfolgenden Stücken, vor allem in seinem vielleicht bekanntesten Werk, der an die Orestie angelehnten Trilogie Mourning Becomes Electra (1929/1931), kehrte O'Neill zu den psychologischen Themen zurück, die schon in seinen früheren Dramen eine so große Rolle gespielt hatten. In den Arbeitsheften zu Mourning Becomes Electra von 1926 bis 1931 finden sich keine Nietzsche-Bezüge mehr.101 Daß die Umsetzung der Ideen Nietzsches nach 1928 O'Neills Vorstellung vom neuen Theater nicht mehr beherrschte, hatte sicherlich eine Vielzahl von Gründen. Drimmer weist darauf hin, daß der Anbruch der Depression im Jahre 1929 und der damit verbundene Aufstieg der Proletarierliteratur, welche Nietzsche für viele Intellektuelle deaktualisierte, O'Neill klargemacht haben könnte, daß diese Thematik nicht mehr erwünscht war. Die eher unenthusiastische Aufnahme der Stücke der Verkünderphase durch die Kritiker dürfte auch nicht ohne Auswirkung auf O'Neills Nachdenken über das Theater gewesen sein. Lazarus Laughed war außerdem ein Stück, das sich an Nietzsche-Anverwandlung kaum überbieten ließ. In gewisser Weise war nach diesem Werk der Nietzsche-Stoff für O'Neill einfach erschöpft. Auch persönlich waren die Jahre 1926 bis 1929 eine Zeit des Umbruchs für Eugene O'Neill. In der Psychoanalyse suchte er, wie bereits erwähnt, Hilfe gegen Depressionen. Außerdem machte er sich von seiner Alkoholsucht frei, zog 1929 nach Frankreich und ließ sich von seiner zweiten Frau Agnes scheiden. Die pathosträchtige Attitüde des Weltweisen gewöhnte er sich ab und begab sich auf die Suche nach neuem Stoff. Das Triumvirat von The Great God Brown, Marco Millions und Lazarus Laughed erkennen wir allerdings als den bis heute ambitioniertesten, wenn auch z.T. gescheiterten Versuch, eine neue Tragödie nach der Vorstellung Nietzsches ins Leben zu rufen. So fällt der Vorhang auf eine einmalige Symbiose zwischen der Philosophie Nietzsches und der amerikanischen Literatur sowie der Theaterkunst überhaupt. Da es jetzt auf der Bühne der ekstatischen Dionysos-Verehrer wieder still geworden ist, bricht die Zeit an, als letztes den etwas leiseren Stimmen der Lyriker zu lauschen, die einer Nietzscheschen Poesie das Wort flüsterten. Vor allem der große amerikanische Ideenlyriker Wallace Stevens wird im Zentrum dieses Dichterkreises stehen.

""

Vgl. Eugene O'Neill, Mourning Becomes Electra. Special Edition (New York, 1931).

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VI.3 Lyrik Gerade in der Lyrik trieb der deutsche Nietzscheanismus äußerst vielfältige literarische Blüten. Als extreme Gegenpole denke man sich etwa einerseits die hieratische, religiös angehauchte Nietzsche-Mythologie Stefan Georges, die sich in einzelnen Gedichten wie dem berühmten „Nietzsche" von 1900 (1907 auch in den Siebenten Ring aufgenommen) oder dem Gesamtphänomen des Cäsarismus im George-Kreis niederschlug, und andererseits das dagegen eher kühle Theoretisieren Gottfried Benns über Nietzsches Bedeutung für Kunst und Kultur, das in Gedichten und Essays seinen Ausdruck fand. Dazwischen befinden sich die Namen zahlreicher, von Nietzsche beeinflußter Poeten deutscher Zunge, die außerhalb des Tätigkeitsfeldes dieser Betrachtung liegen, aber als Eideshelfer zur Beteuerung der breiten Wirkung Nietzsches in der deutschen Lyrik einstehen. Für sehr viele dieser Dichter waren es thematisch der Lebens- und Geniekult und stilistisch die ekstatische, hochpathetische Sprache des „dionysischen" Nietzsches der Dithyramben und des Zarathustra, welche ihnen die wichtigsten Impulse für das eigene Schaffen lieferten. Aus diesem Grunde sind auch die NietzscheGedichte derer, denen man den künstlerischen Rang eines George oder eines Benn schlichtweg absprechen muß, für den heutigen Leser oft nicht leicht zugänglich oder einfach ungenießbar. Gerade im Expressionismus überschlug sich eine unentwegt die Haare raufende Histrionik mit pathetischer Sprachakrobatik, die dem heutigen ästhetischen Empfinden oft verschlossen bleibt. So etwa das Gedicht Nietzsche (1919) des Sturm- undΛ/τί;Ott-Mitarbeiters Arthur Drey, das die Tragik des verkannten Genies mit einer unverhehlten Apotheose verbindet: So steht der Gott-Mensch in der Welt umher, Ein Schöpfer, den die Schöpfermacht enttäuscht, Was soll er schaffen, wenn das Erdenheer Doch jeden Helfer wütend blind zerfleischt?102

Zum Nietzsche-Einfluß in der amerikanischen Lyrik dagegen ist zunächst einmal erneut festzuhalten, daß seine Verbreitung mit der seines deutschen Gegenparts nicht zu vergleichen ist. Der Panegyrikos des großen Individuums als des modernen entfesselten Prometheus' gehörte sicherlich ebenfalls zur Geschichte amerikanischer Dichtung, aber die große Vaterfigur dieser Richtung, mit der fast alle Dichter Amerikas nach ihm ringen mußten, war Walt Whitman. Ein deutscher Dichter-Philosoph war zur Auslösung des großen lyrischen Individualismus in Amerika nicht vonnöten. Außerdem erlangten in Amerika dicadence und Expressionismus, die beiden Schulen europäischer Literatur, die sich am passioniertesten auf den Bund mit Nietzsche einschworen, nicht die Bedeutung, die ihnen in der alten Welt beschieden war. Der große Bruch mit der amerikanischen Tradition der beschaulichen Kontemplations- und Naturlyrik eines Philip Freneau,

11,2

Zitiert bei: Theo Meyer, Nietzsche

und die Kunst (Tübingen u. Basel, 1993), S. 256.

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Ralph Waldo Emerson, Henry Wadsworth Longfellow und, ja, Walt Whitmann ereignete sich relativ abrupt mit dem Anbruch der literarischen Moderne, die ihre fulminanten Vorboten in Edgar Allan Poe und Emily Dickinson hatte, um dann im Imagismus des frühen Ezra Pound, William Carlos Williams, T.S. Eliot oder der großen Lyrikerinnen Hilda Doolittle(H.D.) und Marianne Moore einen ersten eindeutigen Ausdruck zu finden. Ist also in den Werken dieser Künstler nach Nietzsches Nimbus zu suchen? VI.3.a Ezra Pound (1885-1972), T.S. Eliot (1888-1965) Die Frage pressiert am ehesten bei den zwei Namen, die in die Weltliteratur eingingen: Pound und Eliot. Kaum ein anderer Lyriker dieses Jahrhunderts wirkte so nachhaltig und weitverbreitet auf die internationale Dichtung wie diese beiden nicht nur von den Musen begnadeten, sondern auch enzyklopädisch belesenen Schutzpatronen der Moderne - und doch figurierte Nietzsche als wichtiger poetologischer Inspirator in der Entwicklung weder des einen noch des anderen. Das große Lebenswerk Pounds, die Cantos, ist ideologisch der Philosophie Nietzsches geradezu diametral entgegengesetzt. Allein das Geschichtsbewußtsein dieses großartigen, unabgeschlossenen Projektes wäre im Ermessen Nietzsches ein wissenssüchtiges, „monumentales" Monstrum der für das Leben nachteiligen, ja das Leben überwuchernden Historie. Jeder einzelne Teil der Cantos sollte als panoptisches Ideogramm funktionieren, das mit jeder Wendung und Spiegelung auf das Ganze des Gedichts einerseits und auf die darin (mit fast größenwahnsinnigem Selbstvertrauen) zum Stoff genommene Kulturgeschichte andererseits verweist. Genau dieses Prinzip wandte Pound an, indem er z.B. den Zyklus mit dem seiner Meinung nach ältesten Teil der Odyssee, der Hadesfahrt aus dem elften Kapitel, begann, und diesen nicht etwa aus dem ihm vertrauten griechischen Original, sondern aus der lateinischen Renaissance-Übersetzung des Andreas Divus übersetzte - und diesen Text wiederum nicht etwa in modernes Englisch, sondern in sein eigenartig modernisiertes Altenglisch tradierte, das man bereits aus seiner Übersetzung des „Seafarer" kannte.103 Dieses Motiv, so wollte Pound verdeutlichen, umgreift die ganze Geschichte und Geographie der abendländischen Literatur. Aufgrund dieser Idee und Methode kam Pound dazu, Bruchstücke der Kulturgeschichte, von den Sinnsprüchen Laotzes angefangen bis hin zu den Briefen des zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten, John Adams, seinem Text einzugliedern. Der Sinn dieses frenetisch anmutenden Aufbewahrungstriebes war die versuchte Heilung des modernen Zeitalters durch das Wissen um die Kultur. Mit Nietzsche teilte Pound immerhin dessen Diagnose der Moderne: Sie galt ihm als Barbarei. Aber da er nicht wie Nietzsche die Niedergangstendenz der Moderne

"" Vgl. Christine Froula, Α Guide to Ezra Pound's

Selected Poems (New York, 1983), S. 128-132.

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als notwendigen Teil eines zirkulären Geschichtsprozesses begrüßen konnte, wollte Pound mit dieser Kulturbewahrung (sowie mit der meist bekannteren Theorie vom Wuchertrieb des Finanzwesens, die ihn auf die Abwege des Faschismus Mussolinis führte) die Barbarei aufhalten. Eher galt Nietzsche für Pound als Teil dessen, was zur Misere unseres Jahrhunderts zu zählen wäre. In dem die Arbeit an den Cantos vorbereitenden Gedicht Hugh Selwyn Mauberley (Life and Contacts) (1920) gibt es ein Indiz für eine bewußte Ablehnung Nietzsches von Seiten Pounds. In diesem neun kürzere Gedichte umfassenden Zyklus nahm Pound Abschied von seinem alten Ich und seiner Zeit. Die Cantos sollten das Zeichen dafür werden, daß Pound die Beteiligung an der Barbarei und dem kulturellen Verfall der Moderne verweigerte. In Mauberley kündigte Pound diese Verweigerung an, und so übertitelte er das erste Gedicht: „E.P. Ode Pour L'Election De Son Sepulchre". Es ging ihm unter anderem hier um „his final / Exclusion from the world of letters" (60-61), um die Dinge, welche „Gradually led him to the isolation / Which these presents place / Under a more tolerant, perhaps, examination" (26-28). Zu den Faktoren, die Pound selbst seine Zeit und seine Zeitgenossen allmählich abstoßend werden ließen, gehörte seine unerfüllte Suche nach der nunmehr fehlenden „Mildness, amid the neo-Nietzschean clatter" (21).104 Nur der sehr junge Erza Pound wäre vielleicht ein Pound des Dithyrambus geworden, aber zu dieser frühen Zeit schon hauste sein Geist im lateinischen Mittelalter. Dem „neo-Nietzscheschen Gezeter" fühlte er sich fern. Der bedrückende Weltpessimismus des vor-anglikanischen T.S. Eliot könnte diesen Dichter, ersten Vermutungen nach, vielleicht eher in die Nähe Nietzsches stellen. „The Waste Land" (1922) umkreist ja eine der zentralen Fragen im Denken Nietzsches: Was bedeutet der Tod Gottes für den modernen Menschen? Im modernen Zeitalter offenbarte sich Eliot die einst blühende geistige Landschaft der abendländischen Kultur als Wüstenei, weil der Verlust des Glaubens eine seelische Dürre verursacht habe: Ist ihr das Lebenswasser des festen Glaubens an einen höheren Sinn des Daseins entzogen, so kann die Seele des Menschen keine Frucht mehr tragen. Der moderne Materialist sah sich bei Eliot von einer leblosen Natur umgeben, die nur der Sonne brennende Hitze auf totem Gestein kennt. Selbst die einst durch und durch belebte, pantheistische Natur antiker Philosophen war nun zum anorganischen Ganzen degradiert: What are the roots that clutch, what branches grow Out of this stony rubbish? Son of man, You cannot say, or guess, for you know only A heap of broken images, where the sun beats, And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief, And the dry stone no sound of water. (19-24) 105

104 105

Ezra Pound, „The Age Demanded", Persona of Ezra Pound (New York, 1971), S. 201. T.S. Eliot, „The Waste Land", Collected Poems, 1909-1962 (New York, 1970), S. 53f.

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Daß Eliot hier an die Nachricht Zarathustras vom verstorbenen Gott erinnern wollte, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich. Diese These braucht sich aber nicht nur auf den Anglozentrismus Eliots zu stützen: Zu Nietzsche äußerte er sich direkt in einer Rezension, in der er ihn einen Literaten nannte, dessen Berühmtheit im wesentlichen von der Aura seiner Persönlichkeit abhänge, der zum Ergötzen der Halbgebildeten eher Verwirrung stifte als philosophische Erkenntnis zu Tage fördere: Nietzsche is one of those writers whose philosophy evaporates when detached from its literary qualities, and whose literature o w e s its charm not alone to the personality and wisdom of the man, but to a claim to scientific truth. Such authors have always a peculiar influence over the large semi-philosophical public, who are spared the austere effort of criticism required by either metaphysics or literature, by either Spinoza or Stendhal; who enjoy the luxury of confounding, and avoid the task of combining, different interests. 106

Wie sein Lehrer Santayana zog Eliot die „Strenge" Spinozas der ihm als metaphysische Laxheit erscheinenden Systemlosigkeit Nietzsches vor. VI.3.b John Gould Fletcher (1886-1950) Benjamin De Casseres (1873-1945) Wenn also diese großen Lyriker der amerikanischen Moderne nicht unter die Nietzsche-Verehrer eingereiht werden können, bleibt als nächstes zu fragen, ob Nietzsche von den poetae minores des Landes freundlicher aufgenommen wurde. Gewisse Spuren Nietzsches entdeckt Patrick Bridgewater bei dem heute fast völlig vergessenen Dichter John Gould Fletcher.107 In seinen Lehrjahren schulte sich Fletcher anfangs am antiromantischen Schlichtheits- und Spracherneuerungsideal der Imagisten um Pound, brach aber relativ schnell mit dieser Richtung und schloß sich sodann ideologisch, wenn nicht geographisch der sogenannten agrarian movement an, die von Schriftstellern des amerikanischen Südens wie Allen Tate, John Crowe Ransom und Robert Penn Warren ins Leben gerufen wurde.108 Fletcher teilte ihre Sorge um den Erhalt traditioneller amerikanischer Lebensgewohnheiten und Gedichtformen* hatte sich aber schon 1907 als Expatriierter in England niedergelassen, wo er während des Großteils seiner schriftstellerischen Karriere (bis 1933) lebte. In den Jahren 1904/1905 erschloß er sich als HarvardStudent, auf die Anregung seines Freundes Lyman Willets Rogers hin, die Werke Nietzsches. Auch ihn faszinierte die Spekulation über die Zukunft einer sich vom

"* T.S. Eliot, „Rezension von A. Wolf, The Philosophy of Nietzsche (London, 1915)", The International Journal of Ethics, XXVI (Oct. 1915-July 1916), S. 426f. 107 Vgl. Patrick Bridgewater, Nietzsche in Anglo-Saxony, op. cit., S. 173-183. "* Als wichtigstes Dokument dieser Bewegung gilt die Essaysammlung der gemeinschaftlichen Autorschaft von „Twelve Southerners", die den Titel trägt: I'll Take My Stand (1932).

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Christentum lossagenden Menschheit. Life Is My Song (1937): Nietzsche place the disdainful sche day night!' 09

So notierte er in seiner Autobiographie,

... would have done with Christianity once and for all and would put in its will to power and the religion of the superrpan. Such was Rogers' own creed; and all through 1904-05 I absorbed it in large doses, reading Nietzafter day at the Harvard Union, and dreaming about the superman at

Fletchers Erinnerungen legen ein interessantes Zeugnis der frühen Beschäftigung mit Nietzsche an amerikanischen Elite-Universitäten um die Jahrhunderwende ab, führen aber nicht zur Aufdeckung wesentlicher Komponenten in seinen eher mittelmäßigen Gedichten, welche als Produkt dieser Nietzsche-Lektüre der frühen Jahre gelten könnten. Auch Bridgewater hat große Schwierigkeiten, den Nachweis eines durchgängigen und klar erkennbaren Nietzscheanismus Fletchers zu erbringen, und muß in Hinsicht auf einen großen Teil der frühen Werke einräumen: „at the beginning of his European period Fletcher reacted against his Harvard Nietzscheanism". 110 Einzelne Motive tauchen in den späteren Gedichten auf, welche sicherlich gewisse Ideen Nietzsches stichwortartig umsetzen. So begegnet etwa in Branches of Adam (1926) eine eindeutige Paraphrasierung der ewigen Wiederkehr: Time is no more! All is destroyed, renewed, Passing from planet to planet and back to temporal death, All is recurrence ever." 1

Auch andere poetische Gebilde und einzelne Ideen Nietzschescher Prägung gibt es außer diesem in den Werken Fletchers, aber da seine Dichtung an sich einen zu Recht eher unbedeutenden Platz in der Literaturgeschichte einnahm, soll er die Diskussion anderer Autoren nicht länger aufhalten. Es sei an dieser Stelle nur noch auf einen weiteren, heute unbedeutenden Dichter hingewiesen, der noch eindeutiger denn Fletcher als Nietzscheaner auszuweisen ist: Benjamin De Casseres. De Casseres ging seinen schriftstellerischen Ambitionen zunächst im Zeitungsgewerbe als Herausgeber des El Diario in Mexiko nach. Später schrieb er für die New Yorker Hearst-Zeitungen und wurde sogar von H.L. Mencken entdeckt, der ihm Aufträge für The American Mercury erteilte. Auch Eugene O'Neill prote-

"" John Gould Fletcher, Life Is My Song ( N e w York, 1937), S. 2 0 (zitiert bei Patrick Bridgewater, Nietzsche

in Anglosaxony,

op. cit., S. 173f.).

""

Patrick Bridgewater, Nietzsche

in Anglo-Saxony,

111

John Gould Fletcher, Branches

of Adam (London, 1926), S. 7 9 (zitiert bei Patrick Bridgewater,

Nietzsche

in Anglosaxony,

op. cit., S. 180).

op. cit., S. 175f.

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gierte De Casseres kurz." 2 Objektiv gesehen, hatte er allerdings nur wenig Erfolg mit seinen dichterischen Gehversuchen. Fast sämtliche Gedichte mußte er unter Aufwendung eigener finanzieller Mittel drucken lassen, da sich die Verlage für seine Arbeiten nicht interessierten. Die Bedenken der Verleger waren sicherlich nicht unbegründet. De Casseres charakterisierte sich selbst völlig zutreffend als „Fury of the emotions and the intellect". 113 Als dithyrambischer Zelebrant der schonungslosen Begierde produzierte De Casseres seitenlange Peinlichkeiten einer egoistischen, selbstverliebten, solipsistischen Nabel- und Genitalschau, die auf Mencken revolutionär gewirkt haben mögen, heute aber nur noch einen historischen Reiz als Dokument ihrer Zeit haben. So beschrieb er sich und „seinesgleichen" in Mirrors of New York: We materialism. We sex. We are We and we glory

in New York celebrate the black mass of are concrete. We have a body. We have male to the core. have founded our kingdom on the senses, in α. 114

De Casseres arbeitete größtenteils stilistisch unbeherrscht, weil er die dionysische Freiheit in dithyrambischer Stilpluralität suchte, und weil seine Dichtung aus betont korporealer Quelle hervorsprudelte. Wie er selbst sagte: „My style is my spit, my semen". 115 Das rein provokativ intendierte Stilprinzip der Körperflüssigkeiten hat zumindest in den 20er Jahren die Verleger noch nicht überzeugen können. In Nietzsche erblickte De Casseres das Modell des in den Wahnsinn entflohenen Dionysikers und modernen Prometheus', der lieber das ganze Universum zerstören wollte, als irgendeine Entität neben sich zu dulden, die seinem hypertrophischen Ich etwas vom Glanz der verabsolutierten Selbstherrlichkeit zu nehmen vermöchte. Es ist also eigentlich diese im Leben Nietzsches repräsentierte Figur des „holden Wahnsinnigen", welche De Casseres vorschwebte, und nicht so sehr seine Philosophie, die einen Weg in De Casseres Dichtung fand. In der literarischen Porträtsammlung privater Heldenverehrung Forty Immortais pries De Casseres just diesen entrückten Bilderstürmer als seinen Nietzsche an:

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Eugene O'Neill steuerte sogar das Vorwort zur Gedichtsammlung Anathema! bei, wo er über De Casseres schrieb: „He cries out his negations with a huge and resonant YES! He is that phenomenal ironist who does not want to be gentle, who must be supremely contemptuous and fiercely assertive." („Foreword", Benjamin De Casseres, Anathema! Litanies of Negation [New York, 1928], pp. vii-xi.) Benjamin De Casseres, „Fantasia Impromptu", Works of Benjamin de Casseres (New York, 193638), III, S. 50f. Benjamin De Casseres, Mirrors of New York (New York, 1925), S. 13f. Benjamin De Casseres, „Fantasia Impromptu", op. cit., S. 51.

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Literarische Rezeption Nietzsche! In that word there flashes across the brain the confused vision of stupendous

disasters; tempestuous seas loosed from their beds o f matter that fall savagely o n flaming constellations; sideral systems wrenched and torn from their ancient g r o o v e s and sent hurtling back to chaos, cataracts of lava falling from inconceivable heights on planets that hang limply in space; a massacre of g o d s and demons; mountains that totter and g o to smash in their o w n abysses; hurricanes that drag with them the debris of ancient outworn hells; flames and lightning flashes that incinerate the empty thrones of all the murdered g o d s . A b o v e it all there is heard a frenzied dithyrambic chant that celebrates the nuptials o f Death and Life.

It is the passionate D i o n y s i a c hymn of Friedrich Nietz-

s c h e , mad incendiary, w h o inherited his insanity from Prometheus." 6

Die maßlose Selbstliebe, die De Casseres bei Nietzsche glorifizierte, übertraf er allerdings selbst in seinen eigenen Gedichten, denn nicht nur alle Götter, sondern selbst noch den Übermenschen gedachte er zu stürzen, um seinem alleinherrschenden Ego den nötigen Lebensraum zu erschließen: „All gods will I turn into shadow - Apollo and / the Overman to come no less."117 Nichts könnte aber ironischer sein als diese groteske Imitation der rhetorischen Gesten der späten Egomanie des bereits der Wirklichkeit entgleitenden Nietzsche, denn auch das Werk De Casseres' muß man letztlich als Kuriosität einstufen, deren Wert und Unwert selbst die Literaturwissenschaft nicht über Gebühr zu beschäftigen braucht. De Casseres stand stellvertretend für eine pubertäre Identifikation vieler junger Amerikaner dieser Generation mit dem Egoismus Nietzsches, Stirners und anderer. De Casseres' Ergüsse wurden, im Gegensatz zu denen vieler sonstiger Oberflächen-Nietzscheaner, schriftlich festgehalten wesentlicher war der Unterschied nicht. VI.3.C Robinson Jeffers (1887-1962) Sind diese Randfiguren lyrischer Nietzsche-Anverwandlung in der amerikanischen Literatur jetzt genannt, so darf man die Peripherie verlassen und sich dem Zentrum dieses Bereiches nähern. Nun gilt die Suche nach dem dichterischen Nietzsche-Einfluß den bedeutenden amerikanischen Lyrikern unseres Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Diskussion tauchen zwei Namen auf, die gemein haben, daß sie im Vergleich zu den beherrschenden Strömungen in der amerikanischen Lyrik ihrer Zeit aus dem Rahmen fielen - woraus sie auch einen Teil ihrer Größe bezogen. Die Nietzsche-Aufnahme beider indes muß als noch umstritten gelten. Zuerst fällt hier der Name Robinson Jeffers'. Von vornherein ist zu vermerken, daß wenn Nietzsche irgendeine Rolle in der Dichtung Jeffers' spielte, sie zuerst als von geringerer Bedeutung im Vergleich zu seinem im höchsten

117

Benjamin De Casseres. Forty Immortais (New York, 1926), S. 1. Benjamin De Casseres, Anathema! Litanies of Negation, op. cit., S. 311.

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Maße originären Denken gelten muß. Man darf auch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Jeffers Nietzsche letztendlich ablehnte. Im Gegensatz zu den amerikanischen Modernisten brillierte Jeffers mit im traditionellen Blankvers geschriebenen, langen Erzählgedichten wie Tamar (1924) und Roan Stallion (1925) - einer für moderne Lyrik äußerst atypischen Form. Gerade das Zeitgemäße und Typische mied Jeffers aber bewußt, und auch die Thematik seines Schaffens wich radikal von der seiner Zeitgenossen ab. Nicht die Bedrohung der Kultur durch die wiederentfesselte Barbarei der Bluttat etwa bewegte Jeffers, sondern die Bedrohung der Natur und des in stolzer Isolation lebenden Individuums durch die „Barbarei" der Zivilisation. Nicht nur lebte Jeffers in völliger Abgeschiedenheit und Naturnähe an der südlichen Küste Kaliforniens in Carmel, auch seine Gedichte, vor allem die formvollendten kurzen Werke, lebten aus einem extrem „anthropofugalen" (Ulrich Horstmann) Bewußtsein. In Gedichten wie „Hurt Hawks" (1928), „November Surf" (1929), „Carmel Point" (1951) oder „Vulture" (1954) zelebrierte Jeffers eine entvölkerte Landschaft, deren Wildheit von den Einebnungstechniken menschlicher Naturbemächtigung unberührt war. Häufig ersetzten hier deswegen anthropomorphisierte Tiere den Menschen als zur lyrischen Reflexion bewegendes Agens. Wenn man danach sucht, findet man auch in diesem heroischen „Inhumanismus" (Arthur Coffin) Motive, die auf Nietzsche zu deuten scheinen. Dies läßt sich am viel anthologisierten Gedicht „Hurt Hawks" beispielhaft demonstrieren. Wie der Titel andeutet, geht es auf der Erzählebene in „Hurt Hawks" um einen verletzten Habicht, der, dem sicheren Tode im Schatten eines Eichbaumes entgegenharrend, vom lyrischen Ich des Gedichtes erspäht wird. Auffallend ist sogleich die Subjektivität, die dem Tier zugeschrieben wird. Der Habicht, so reflektiert die erzählende Stimme, erinnert sich im Bewußtsein des bevorstehenden Todes der Tage seiner Herrlichkeit und Freiheit als stolzes Raubtier: „at night he remembers freedom / And flies in a dream, the dawns ruin it". 118 Allein diese Nuancierung macht deutlich, daß es Jeffers nicht um die vom Aussterben bedrohte Natur, sondern um die gefährdete Freiheit des Individuums zu tun war. Jegliches moralinsaure ökologische Pathos lag Jeffers fern. Die obwaltende Gefühlslage der Beschreibung dieser Szene wirbt nicht um Mitleid, sondern um Respekt für die stolze Existenz, die hier gebrochen am Boden liegt und zugleich die zunehmende Ausgrenzung des Individualisten in der Welt des Zivilisationsmenschen symbolisiert. Dem Gedicht zufolge birgt der Schmerz eines solchen Wesens viel schlimmere Qualen als der eines anderen Tieres (oder gar eines Menschen?), weil es der Schmerz eines Starken ist: „He is strong and pain is worse to the strong" (CPJ I 377/8). Die Sympathien werden nach Nietzschescher Manier im Vergleich zur christlichen Fürsorgeethik offenbar umgekehrt. Nicht

"" Robinson Jeffers, The Collected Poems of Robinson Jeffers in 3. Vols., ed. Tim Hunt (Stanford, 1988), S. 377 (hiernach im Text als CPJ, gefolgt von Band-, Seiten- und Zeilenzahl, zitiert.)

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das Leid des Schwachen, sondern des Starken verdient unsere Anteilnahme, wenn auch nicht unser Mitleid. Diese Tatsache, suggeriert das Gedicht, könne aber nur von wenigen verstanden werden, und hier erfolgt der eindeutige Übertritt aus dem Tierreich in die Sphäre des Menschlichen: Die „communal people" dieser Welt, heißt es, verstehen die edle Lebensart der einsamen Kämpfernatur nicht, welche keinen mitleidigen, sondern einen wilden Gott anbetet, und daher auch kein Mitleid erwartet: The wild God of the world is sometimes merciful to those That ask mercy, not often to the arrogant. You do not know him, you communal people, or you have forgotten him; Intemperate and savage, the hawk remembers him; Beautiful and wild, the hawks, and men that are dying, remember him. (CPJ I 377/13-17)

Nimmt man hier die Präsenz Nietzschescher Elemente an, so wären mehrere allein in diesem Passus zu erkennen. Der hier angesprochene „wilde Gott" ist ein Gott „der Welt", also dem Irdischen und nicht dem Himmlischen zugehörig. Von diesem Gott hat man keine Gnade zu erwarten, weil er als Inkarnation des Lebens (anstatt eines jenseitigen Prinzips) sich gegenüber den Lebenden indifferent verhält. Es ist die Vergöttlichung von Nietzsches „verschwenderischer Natur", die im Gedicht „Birds and Fishes" in den „millions of little fish" (CPJ III 426/1) symbolisiert wird, welche dem Zugriff der Raubvögel schutzlos ausgesetzt sind, denn: „Justice and mercy / Are human dreams" (CPJ III 426/14-15) - Träume, die in der Natur nicht begründet werden können. An diesen Gott glauben also Menschen, die Raubtieren ähneln (der Materialismus Nietzsches, der keinen Wesensunterschied zwischen Tier und Mensch macht, trifft hier mit dem Bild der „blonden Bestie" zusammen), die „beautiful and wild" sind und, wie Zarathustra, der Erde die Treue halten. Das Raubvogel-Motiv an sich errinnert auch sofort an Zarathustras Adler, der im Rahmen der Symbolik Nietzsches als das „stolzeste" Tier ausgewiesen wird. Die „communal people", in Nietzsches Sprache die „Vielzuvielen", wenden sich vom Angesicht dieses Gottes ab und tragen aufgrund der Ausbreitung ihrer Mitleidsethik auch die Schuld daran, daß die letzten stolzen Raubmenschen, „men that are dying", wie wilde Tiere von der Zivilisation ausgelöscht werden. Selbst der Tod des Habichts in „Hurt Hawks" erinnert an ein Wort Zarathustras: „ .stirb zur rechten Zeit!'" (Za „Vom freien Tode"). Vom Erzähler des Gedichts, der dem Mitleid dann doch erliegt, wieder gesund gepflegt und freigelassen, kehrt der Raubvogel dennoch zu seinem Retter zurück, um den gerechten Tod einzufordern, der für ihn bestimmt war - kann er doch nicht mehr jagen, also nicht mehr seiner freien, unabhängigen Existenz leben: He wandered over the foreland hill and returned in the evening, asking for death,

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Not like a beggar, still eyed with the old Implacable arrogance. I gave him the lead gift in the twilight. (CPJ ΠΙ

426/24-27) Im hehren Gegensatz zu den „communal people", die sich am Leben festklammern, stirbt der Jünger des wilden („unbekannten"?) Gottes den rechtschaffenen Tod zur rechten Zeit. Durch diesen Tod sucht der Sterbende, sich die freie Verfügung über das eigene Leben (ein „Herrenrecht") zu wahren - gleich der Freiheit des Kämpfers, die Zarathustra beschreibt: Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben. (Za „Vom freien Tode")

Damit sind zunächst entweder bewußte oder zufällige Parallelen zwischen Nietzsche und Jeffers angedeutet, aber die sicheren Grenzen zwischen der Philosophie Nietzsches und den Jeffers ureigenen poetischen Prinzipien zu ziehen, ist ein weitaus schwierigeres, vielleicht unmögliches Unterfangen. Das Problem bei der Bestimmung des Nietzsche-Einflusses auf Robinson Jeffers besteht in der Spurensicherung. Jeffers erwähnte Nietzsche nie in seinen Gedichten und schrieb keine theoretischen Schriften, in denen er sich auf Nietzsche bezog, oder deren Argumentation auf eine solche Verbindung schließen ließe. Sich an einer Stelle ausdrücklich von Nietzsche distanzieren tat er allerdings. Über das Erzählgedicht The Women at Point at Sur (1927) schrieb Jeffers an den Freund James Rorty: „It is a matter of ,trans-valuing values,' to use the phrase of somebody that local people accuse me quite falsely of deriving from"." 9 Der „jemand", um den es sich handelt, ist offenbar Nietzsche, von dem Jeffers zumindest an dieser Stelle nichts abgeleitet haben wollte. Gleichzeitig beanspruchte er aber Nietzsches Begriff der Umwertung, um die Idee eines seiner bekanntesten langen Gedichte zu umreißen - und führt den Interpreten damit aufs Glatteis, denn bestätigt diese Aussage nicht Ablehnung und Aufnahme zugleich? Man weiß, daß der junge Jeffers als Internatsschüler in der Schweiz (vom zwölften bis zum fünfzehnten Lebensjahr) den Zarathustra kennenlernte, und daß sich dieses Werk sowie Jeneits von Gut und Böse in seiner Handbibliothek befanden.120 Jahre später, im Vorwort zur retrospektiven Sammlung The Selected Poetry of Robinson Jeffers von 1937, nannte der Dichter eine der Lehren Zarathustras ein bewußtes „formatives Prinzip" seines eigenen Schaffens: Another formative principle came to me from a phrase of Nietzsche's: „The poets? the poets lie too much". The quotation is from Thus Spoke Zarathustra ... I was nineteen when the phrase stuck in my mind; a dozen years passed before it worked effectively, and I decided not to tell lies in verse. 121

"* Zitiert bei: Lawrence Powell, Robinson Jeffers: The Man and His Work (Los Angeles, 1934), S. 187. 1:0 Vgl. Arthur B. Coffin, Robinson Jeffers. Poet oflnhumanism (Madison, 1971), S. 60. 121 Robinson Jeffers, .Foreword", The Selected Poetry of Robinson Jeffers (New York, 1937), S. xv.

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Schleierhafter denn Jeffers' nun als ambivalent erscheinendes Verhältnis zu Nietzsche ist die Bedeutung seines Entschlusses, in seinen Versen nie wieder „zu lügen". Man kann durchaus bei Nietzsche darüber streiten, was Lüge und Wahrheit eines Gedichtes sein mögen, und hier müßte man zudem entwirren, wie Jeffers seine eigene Aussage verstand. Aber das Wort schleierhaft kennzeichnet grundsätzlich den Zusammenhang zwischen dem Dichter des Inhumanismus und dem des Zarathustra. Unter allen Interpreten tritt Arthur B. Coffin am entschiedensten für die These ein, daß Nietzsches Philosophie einen der bedeutendsten Einflüsse auf das Werk Robinson Jeffers' darstelle. Über drei Kapitel hinweg in seiner Studie Robinson Jeffers. Poet of Inhumanism (1971) geht er den verdeckten Beweisen Nietzschescher Einflußnahme in Jeffers' langen Gedichten nach, ist aber leider oft gezwungen, nach Strohhalmen zu greifen, um das Niveau seines detektivischen Enthusiasmus zu halten. Die langen Gedichte Jeffers' enthalten zahlreiche Schilderungen sexueller Exzesse und Tabu Verletzungen, die von Inzest über Vergewaltigung bis hin zur Sodomie reichen. Nichts sparte Jeffers an den geschlechtlichen Abgründen des Menschlichen in seinem Werk aus, und Coffin ist stets geneigt, diese Entgleisungen Jeffers'scher Figuren als „dionysische" Thematik zu werten. Von der pubertierenden Protagonistin des nach selbiger Hauptfigur genannten Gedichtes Tamar heißt es bei Coffin, sie sei „the first of Jeffers' characters to attempt a revaluation of values by an implicit attack on conventional Christian morality". 122 Worauf sich Coffin bezieht, ist der Inzest, zu dem Tamar sowohl ihren Bruder als auch ihren Vater anstiftet. Jeffers' immer wiederkehrende Tendenz, die Abwege menschlichen Handelns darzustellen, und sein offensichtlich etwas obsessives Interesse an diesem Stoff gerät unter der hermeneutischen Appartur Coffins zur symbolischen Verhüllung der Ideen von Sublimierung, ewiger Wiederkehr und Umwertung aller Werte: The Nietzschean ideas in the poem are fairly obvious. The Will to Power is sexually sublimated in Tamar - she has no other means of asserting her will. Eternal Recurrence is brought home to Tamar when she discovers that her „darling sin" makes her nothing. In a nearly classic fulfillment of Nietzsche's doctrine of the transvaluation of values, she repudiates the laws to which her hypocritical father still clings.123 Hätte Jeffers die genannten Konzepte Nietzsches wirklich auf diese Art zum Ausdruck bringen wollen, so müßte man ihm ein sehr seltsames Verständnis der Nietzscheschen Philosophie attestieren. Ein anderes Beispiel des interpretatorischen Übereifers Coffins betrifft das spätere Versepos At the Birth of an Age, in dem Jeffers die Geschichte der Nibelungensaga aufgriff, was Coffin als Indiz des Nietzscheschen Motivs der

122 123

Arthur B. Coffin, Robinson Jeffers, op. cit., S. 73. Ibid., S. 77.

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Überwindung gilt.124 Der Geist Nietzsches, den Coffin wiederholt in diesen ganzen Werken auftauchen sieht, scheint aber eher eine Chimäre zu sein. Will man dennoch die Möglichkeit einer Verarbeitung Nietzschescher Konzepte im Werke Jeffers' ernsthaft überprüfen, dann ist es ratsam, dem - freilich zweideutigen - Wink zu folgen, den der Dichter selbst im Brief an James Rorty gab, das Erzählgedicht The Women at Point Sur betreffend. Dieses in der Erstausgabe 175 Seiten umfassende Gedicht handelt von dem Pastor Rev. Dr. Barclay, der vom Glauben abgefallen ist und eines Tages seiner Gemeinde befiehlt, die Kirche als „toten" Ort zu verlassen. Bei der Eröffnung des Gedichtes zieht sich Barclay auf den Standpunkt des Agnostizismus, „ignorance" , zurück - außer in bezug auf das Christentum, das er im angeblichen Wissen um dessen Falschheit zur Lehre des „Abschaums", zum Aberglauben „syrischer Fischerleute" erklärt: „I have nothing true to tell you, no profession but ignorance, I can tell you what's false. Christianity is false. The fable that Christ was the son of God and died to save you, died and lived again. Lies. You'd swallow The yarns of idle fishermen, the wash of Syria?" 125 (I)

Diese Inszenierung der „Gott-ist-tot"-Thematikist zunächst so allgemein gehalten (abgesehen von der Identifikation von Christentum und unterster Gesellschaftsschicht), daß kein zwingender Grund besteht, sie mit Nietzsche in Zusammenhang zu bringen, aber im Laufe der weiteren Entwicklung zeichnen sich die Bezüge zum Zarathustra-Stoff recht klar erkennbar ab. Indem er sein Amt niederlegt und der christlichen Lehre offen den Glauben aufkündigt, begibt sich Barclay in eine „valueless free- / dorn" (WPS 23/II), welche der Wertefreiheit Nietzsches nachempfunden ist. Diese Patenschaft macht Jeffers an späterer Stelle noch unmißverständlicher, wenn er Barclay predigen läßt: „I have come to establish you / Over the last deception, to make men like God / Beyond good and evil". (WPS 64/X) Abgesehen vom Übermenschen und Willen zur Macht ist kein Stichwort der Nietzscheschen Philosophie in der Rezeption geläufiger als das vom zu erreichenden Standpunkt „jenseits von gut und böse". Nach dem Schicksalsmoment, als Barclay die Kanzel verläßt, beginnt sein „Going down" (WPS 27/111), welches auch eine wortwörtliche Übernahme aus Zarathustra darstellt, denkt man an die Schlußzeile des allerersten Teils der Vorrede, in der von einem anderen Untergehen die Rede ist: „Also begann

124 10

Ibid., S. 143. Robinson Jeffers, The Women at Point Sur (New York, 1927), S. 20. (Hiemach im Text als WPS, gefolgt von Seiten- und Gesangzahl, zitiert.)

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Zarathustra's Untergang" (Za „Zarathustra's Vorrede" 1). Was nun genau mit Barclay geschieht, zerbröselt unter der metaphernreichen, ausweichenden Rhetorik Jeffers', denn nur in vagen und pathetischen Umschreibungen, die vielleicht eine versuchte Annäherung an den prophetischen Duktus des Zarathustra repräsentieren, erfährt der Leser, daß beispielsweise für Barclay „the world / Dissolved in a moment". (WPS Π Ι Ι Ι Ι ) Das ist vielleicht der negative Gegenpol zum weltverklärenden Augenblick des großen Mittags in Zarathustra (zumal die Bedeutung des Augenblickes zum Zeitpunkt von Barclays Erleuchtung umgewandelt wird, wo es, wie ähnlich bei Zarathustra, heißt: „All the / relations of the world have changed in a moment". [WPS 39/V]), aber wichtiger als diese nicht weiter definierte „Weltauflösung" ist jedoch die Reaktion Barclays, der durch einen Akt reiner Willenskraft die Welt neu hervorbringt: „summoned the world / back. / Willed it to being, and with the pain of creation". (WPS 27/111) Der anfängliche Standpunkt des Nichtwissens wird erleuchtungsähnlich durch das Wissen um die Macht als einziges grundlegendes Prinzip des Lebens abgelöst. Die Machtmetaphorik herrscht neben dem zunehmenden Wahn Barclays nun im Gedicht vor, denn Barclay - im großen Gegensatz zu Zarathustra - entdeckt „Gott" wieder, den er jetzt aber als Machtzentrum identifiziert und als solches den Menschen zeigt: „There is certainly / One power, and all its forms are equal before it. / I call it God to the people". (WPS 44f./VI) Die Vermutung, daß dieser Machtmonismus Barclays vom Willen zur Macht Nietzsches deriviert ist, unterstützen andere Signale, welche die Machtbesessenheit des Apostaten begleiten. Einerseits beschließt er, die göttliche Macht in sich selbst zu erleben, indem er Jünger um sich scharrt, die sich ihm als höherem Menschen - „I am of the higher race" - Untertan machen müssen. Er sucht „Selbstbefreiung" in der äußeren Machtentfaltung, in der Herrschaft über andere Menschen, was zwar nicht im Verständnis Nietzsches vom höheren Menschen begründet liegt, aber lange Zeit als der Inhalt des Begriffs vom Übermenschen allgemein verstanden wurde: „To master the people, set myself / free / To master the people". (WPS 44/VI) Die zweite Quelle der mystischen Verschmelzung mit dem Gott der Allmacht findet er im orgiastischen Wahn, den er als Sakrament des „Magus Zarathustra" erlebt: „Here you are, madness. / The Magus Zoroaster thy dead". (WPS 67/XIII) Daß dieser Wahn des Protagonisten bei Jeffers fast notwendig die Gestalt sexueller Ausschweifung annimmt, ließ sich vielleicht schon erahnen. Nicht umsonst heißt das Gedicht auch The Women at Point Sur, denn die neue Gemeinde des Wahnpredigers besteht größtenteils aus Frauen, mit denen Barclay auf einem seiner neuen Behausung nagegelegenen Hügel heidnische Feste feiert, zu denen unter anderem wilde Reigentänze um ein großes Freudenfeuer gehören, die sowohl an die Sonnenfeste Zarathustras, „wo Götter tanzend sich aller Kleider schämen" (Za „Von alten und neuen Tafeln" 2), als auch an die in der Geburt der Tragödie geschilderten Dionysosriten erinnern. Eine der Frauen, Myrtle

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Cartwright, gerät beim Feuertanz in eine entrückte Ekstase und reißt sich mit dionysischer Geste die Kleider vom Leibe: She combed the heap [of her hair] with her hands and shook it on the air, then suddenly Leaped up and down before him [Barclay] like flame. He commanded, „Flame, flame!" And others were leaping. The first, feeling the breath Choke in her throat, caught in her hands her clothing And tore it from the throat to the midriff. (WPS 122/XVIH)

In immer neuen Grenzerlebnissen des Verbotenen hechelt der sich in die Theomanie hineinsteigernde Barclay immer stärkeren Machterfahrungen hinterher, die größtenteils im Ausbruch aus den Fesseln der Sittlichkeit geschehen. Den Gipfel dieses /lusbrechens erreicht er im Verbrechen - in der Vergewaltigung der eigenen Tochter, die aus Verzweiflung und Ekel dann Selbstmord begeht. Damit ist auch die Katastrophe eingeleitet, die in der völligen geistigen Umnachtung und schließlich im Tode Barclays endet, der in die Wildnis flieht und an Durst (von jeher ein Symbol der seelischen Verworfenheit und Trennung von Gott) und Erschöpfung stirbt. Er scheitert schlußendlich an einer Erkenntnis, mit der Zarathustra andererseits seine Reden beginnt: Der Mensch ist kein Gott, sondern ein kümmerliches Wesen zwischen Affen und Gott: „you ape-descended / Unable to see God but clothed in the contemptible body / of the ape". (WPS 166/XXX) Nicht die Macht des Zufalls, sondern die Absicht des Dichters brachte die Parallelen zwischen Also sprach Zarathustra und The Women at Point Sur zustande. In keinem anderen Gedicht operierte Jeffers so offensichtlich mit Ideen, wenngleich nie mit Stilelementen, welche ihren Ursprung im Werke Nietzsches hatten. Die Zarathustra-Anspielungen sind hier nicht zu verfehlen, aber darf man mit Coffin zu dem Schluß gelangen, daß „In the Reverend Arthur Barclay, Jeffers has created his own Zarathustra."?126 Um dies entscheiden zu können, muß man eine Deutung der eigenen Aussage Jeffers* zum betreffenden Gedicht versuchen (geht man davon aus, daß er auch in Briefen nicht mehr zu „lügen" sich vorgenommen hatte). Die „Umwertung", die Jeffers mit The Women at Point Sur darzustellen versuchte, betraf die Entsagung gegenüber dem Christentum. Zu den Grundfesten der Weltanschauung Jeffers' gehörte, daß das Göttliche nur im weltlichen Leben zu suchen sei - eine höchst Nietzschesche Sehweise, die aber keineswegs mit ihm zuerst in die Welt kommt. Ein Leben nach dem Tode vermochte sich Jeffers nur nach pantheistischer Art vorzustellen: Die Substanz eines sich auflösenden Lebewesens erhalte sich nur in der Aufnahme durch andere, die nun davon leben sollen. So bedachte der Dichter in „Vulture" (1954) die Vorstellung, auch er könne in der einsamen und gefühllosen Landschaft des Diesseitigen einem Raub-

114

Arthur B. Coffin, Robinson Jeffers, S. 96.

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vogel zum Fraß fallen - und doch sah er ein würdiges Ende darin: „What a sublime end of one's body, what an enskyment; what a life / after death". (CPJ III 462/16-17) Nicht auf Engelsschwingen, sondern auf Geiersfittichen wollte Jeffers den Himmel erreichen. Wie kam es angesichts all dessen, daß er in seiner Dichtung nicht von Nietzsche „derived" haben wollte? Eine solche Dementierung setzt als einzig denkbaren Schluß voraus, daß The Women at Point Sur eine Absage an Nietzsche erteilen sollte. Und in der Tat gestaltete Jeffers in Barclay eine Perversion der Zarathustra-Figur, ist doch der den Nietzscheschen Zarathustra vor dem Abgleiten in Größenwahn und Messianismus bewahrende Zug gerade dessen Verlangen nach individualistischen Jüngern, die ihm nicht folgen, sondern den eigenen Weg gehen sollten: Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es. Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir and wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch. (Za „Von der schenkenden Tugend" 3)

Jeffers' Barclay dagegen ergeht sich gerade in der Beherrschung seiner Schafe und führt sie in jenen Abgrund, aus dem Zarathustra den Menschen herausführen will - die Aufstellung von Götzen, die nur vom Selbst ablenken. Barclay erlangt seine Macht aber eindeutig dadurch, daß er die Worte Zarathustras im Munde führt. Insofern ist Nietzsche als „Anti-Zarathustra" in der Gesellschaft der Women at Point Sur zu finden. Das Bestreben, in weiteren Gedichten Jeffers' Nietzsche-Bezüge aufzudecken, kann sich nur in solchen Streitigkeiten und Unsicherheiten verlieren, denn mit so eindeutigen Nietzsche-Anlehnungen wie in The Women at Point Sur schrieb er nie wieder, und es ist in seinem Fall angemessen, dem Urteil des Dichters selbst Glauben zu schenken. Robinson Jeffers wollte seinen großen Individualismus als einen dem Nietzsches grundverschiedenen verstanden wissen, und diesen Wunsch sollte man würdigen. Im Anschluß an das Kapitel Robinson Jeffers wendet sich die Diskussion nun einem letzten Fall umstrittenen Nietzsche-Einflusses zu, in den einer der enigmatischsten und begabtesten amerikanischen Lyriker unserer Zeit verwickelt war: Wallace Stevens. VI.3.d Wallace Stevens (1879-1955) Wallace Stevens gehört zu den Dichtern, die fast ausschließlich in ihrem Werk aufgehen und nach Möglichkeit von der eigenen Person abzulenken versuchen. Sein Privatleben war im Vergleich zur bewegten Biographie eines Ezra Pound etwa alles andere als ereignisreich, und am literarischen Treiben nahm er nur kurz in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg teil, als er häufiger zu Dichtertreffen in New York eingeladen wurde, wo er u.a. William Carlos Williams und Marianne Moore kennenlernte. Sicherlich lebte auch Robinson Jeffers zurückgezogen, aber gerade mit diesem Eremitentum stilisierte er sein Leben zu einer ästhetisch

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konstruierten Existenz, während Stevens sehr bürgerlich mit seiner Familie in Hartford, Connecticut als Vizepräsident der Versicherungsgesellschaft „Hartford Accident and Indemnity Company" lebte. Für Stevens war Dichtung Dichtung und Geschäft Geschäft. Auch Stevens' Gedichte tragen das Zeichen einer Außenseiterrolle in der literarischen Welt. Hier findet man weder Spuren des Dithyrambischen noch des klassisch „Modernen". Seine Formen sind eher traditionell, tendierte er doch zum Blankvers einerseits, und zu einer knappen, geordneten, aber ungereimten Strophenstruktur andererseits. Auch sonst unterscheidet sich sein Werk von dem der Modernisten, die das alte lyrische Ich zugunsten der Montagetechnik und die traditierten Strophenformen zugunsten einer für das Auge bestimmten, aufgebrochenen Zeilenstruktur auflösten. Stevens' Dichtung ist, um mit Maijorie Perloff zu sprechen, noch lyrische Dichtung im romantischen Sinne: For Stevens ... poetry always remains lyric poetry, as late Romantic theory (if not always the poetry) had defined if - the poem as short verse utterance (or sequence of such utterances) in which a single speaker expresses, in figurative language, his subjective vision of truth, a truth culminating in a unique insight or epiphany that unites poet and reader.127

Daß Stevens trotz der - nach den ästhetischen Maßstäben der Moderne beurteilt - als antiquiert zu benennenden Eigenschaften seiner Gedichte in der Kritik als einer der größten amerikanischen Lyriker der Moderne hervorragt, spricht nur noch mehr für das hohe Niveau seines künstlerischen Schaffens. Der Reiz dieser Gedichte erwächst nicht nur aus der Plastizität und dem Erfindungsreichtum ihrer Sprache, sondern auch aus dem unerschöpflichen Grundgedanken, welcher stets der rote Faden dieser Dichtung ist: die Wechselbeziehung von Welt und Poesie, von Realität und Imagination. Mehr noch denn als romantischer ist Stevens als philosophischer Dichter zu bezeichnen. Die Literaturwissenschaft hat sich in den letzten 30 Jahren immer stärker mit Stevens befaßt, und vor allem seit Erscheinen von Harold Blooms Wallace Stevens: The Poems of Our Climate (1977) auch den Nietzscheaner Stevens entdeckt. Während Bloom im Kontext seiner Theorie des „starken" Dichters nach Möglichkeiten sucht, Stevens' Gedichte unter Gebrauch Nietzschescher Prinzipien zu interpretieren, nehmen zwei Studien aus den 80er Jahren in jeweils einem Kapitel die Spur faktischen Einflusses auf: Milton Bates' Wallace Stevens: A Mythology of Self (1985) sowie J.S. Leonards und C.E. Whartons The Fluent Mundo: Wallace Stevens and the Structure of Reality (1988). Der neueste Beitrag zur Diskussion, B.J. Leggetts Early Stevens. The Nietzschean Intertext (1992), widmet sich sogar gänzlich dem Einfluß Nietzsches auf den frühen Stevens.

127

Maijorie Perloff, „Revolving in Crystal: The Supreme Fiction and the Impasse of Modernist Lyric", Wallace Stevens: The Poetics of Modernism, ed. Albert Gelpi (Cambridge, 1985), S. 51.

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Stevens' Gedichte weisen einige Motive, Bilder und Begriffe auf, die zu der Annahme bewegen, daß es sich um Entlehnungen aus dem Werke Nietzsches handelt, aber in Stevens' (wenigen erhaltenen) Vorträgen ging er nie auf einen solchen Einfluß ein, und ausdrücklich erwähnt wurde Nietzsche von Stevens in nur einem Gedicht: „Description Without Place" aus dem Band Transport to Summer von 1947. Es gehören Detektivarbeit, Textvergleich und etwas Spekulation dazu, um die Nietzscheschen Artefakte in der großen Galerie des Stevenschen (Euvres zu identifizieren, und Vorsicht ist immer geboten, nicht mehr sehen zu wollen als aller Wahrscheinlichkeit nach auch wirklich vorhanden sein könnte. Man beginnt am besten mit den handfesten Hinweisen. Zunächst einmal erwähnt Stevens weder in seinen frühen Briefen noch im Tagebuch, das er · während und kurz nach der Harvarder Studienzeit führte, Nietzsche namentlich. Es ist andererseits auch typisch für den Stevens sowohl der Briefe wie auch des Tagebuches, daß seine eigenen Überlegungen und Betrachtungen eine ungleich größere Rolle spielen als Berichte über seine gegenwärtige Lektüre, obwohl in vielen Fällen die Lektüre durchaus als Katalysator der persönlichen Betrachtungen angenommen werden kann. Das trifft auch für die Gedichte zu, in denen erfundene Figuren und hermetische Bilder einer privaten Symbolwelt viel häufiger Platz haben als historisch Erkennbares oder Ereignisse aus dem Tagesgeschehen. Jedenfalls demonstrieren manche Eintragungen der frühen Jahre einen philosophischen Charakter, der eine Verwandtschaft mit Gedanken Nietzsches plausibel macht. So notierte Stevens im Tagebuch am 4. März 1906, also im Alter von 26 Jahren und neun Jahre bevor er in Lyrikzeitschriften zu veröffentlichen begann: People are not particularly interested in humanity nowadays. ... W e study the individual + that individual is o n e ' s self + through o n e ' s self to o n e ' s neighbor. ... W e g o slumming in a quarter, w e help starving Asiatics - true; but w e do not pursue the ideal of the Universal Superman - at least not to-day.

But w e may the day after to-mor-

row. 1 2 8

Zwei Dinge an diesem Tagebuchauszug stechen sofort ins Auge: Erstens bindet Stevens seinen Begriff der „Humanität" weniger an soziales Engagement als an die Entwicklung des Individuums, und zweitens setzt er als Terminus für die anzustrebende Form des Individuellen den „universalen Übermenschen" ein. Es ist kaum denkbar, daß Stevens den Begriff „superman" 1906 gebrauchen konnte, ohne sich zumindest auf Äußerungen über Nietzsche zu beziehen, die er im Gespräch aufgefangen haben könnte. Legt man die hier von Stevens bekundete kritische Distanz zum philanthropischen Aktionismus mit auf die Waage, so scheint auch möglich zu sein, Stevens könnte sich hierbei sogar auf die eigene Nietzsche-Lektüre gestützt haben. Weitere Eintragungen aus demselben Jahr betreffen Stevens' Einzelgängertum, Egoismus und Moralkritik, womit er in offensichtlicher Nähe zum Denken

,2

" Holly Stevens (ed.), The Letters of Wallace Stevens (New York, 1966), S. 89.

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Nietzsches steht. Am 9. April beschwert er sich über die nachteilige Wirkung des Kontaktes mit zuvielen Mitmenschen - mit höchstens dreien auf einmal halte er es noch aus, alles darüber sei ihm lästig: I detest „company" and do not fear any protest of selfishness for saying so. People say one is selfish for not sharing one's good things - a naively selfish thing in them. The devil take all of that tribe. It is like being accused of egoism. Well, what if one be an egoist - one pays the penalty. 129

Nur allzu bereitwillig läßt sich Stevens den Vorwurf des Egoismus machen, denn der Schutz des Ich gilt ihm viel mehr als das womöglich abfallige Urteil der „vielen". Genau diese noli-me-tangere-Haltung begegnet wieder in dem späten Essay „The Noble Rider and the Sound of Words", 130 in dem Stevens Töne anschlägt, die eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Nietzsches Einsamkeitspathos haben. Die obige Tagebucheintragung enthält noch weitere Ausführungen zu der „gewissenlosen Lebensfreude", die im christlichen Abendland als sündhaft gelte: It must be a satisfaction to be without conscience. Conscience, nowadays, invades one's smallest actions. Even in that cell where one sits brooding on the philosophy of life, half-decided on „joyousness" - one observes one's black brother in a corner, and hears him whisper, „The joyous man may not be right. If he dance, he may dance in other people's ashes." It is the may that dashes one. ... The truth is that beauty without conscience, holiness, temperance, justice etc. without conscience, are - all of them - triumphant.' 3 '

Also weltliche, tanzende Lebensfreude, die nicht mehr unter der Knute des „schwarzen Bruders" steht, genannt: Gewissen - das ist für den jungen Stevens schon ein großes Lebensziel, das außerdem im Gegensatz zur christlichen Trübsinnigkeit und Verdächtigung alles Weltlich-Freudigen mit der Wirklichkeit übereinstimmt („The truth is ..."). Auch hier könnte unter der Voraussetzung einer einigermaßen beweisbaren Nietzsche-Lektüre von einem Einfluß des Philosophen auf den jungen Dichter ausgegangen werden. Dann stünde auch die vor allem in den frühen Gedichten häufig behandelte Moralkritik Stevens' in einem gewissen Zusammenhang mit Nietzsches Philosophie. Die wichtigste Quelle solchen Beweismaterials ist die Korrespondenz, die Stevens in den 40er Jahren mit Henry Church führte, denn hier deutete er an, daß er Nietzsche tatsächlich in jungen Jahren gelesen habe. Der Amerikaner Church

^ 1311

131

Ibid., S. 89. Dort beschwerte sich Stevens über das Eindringen immer neuerer Kommunikationsmöglichkeiten in die Privatsphäre (ein Phänomen, das heute gerne als das Entstehen des „global village" beschrieben wird): „There is no distance. We are intimate with people we have never seen and, unhappily, they are intimate with us." (Wallace Stevens, „The Noble Rider and the Sound of Words", The Necessary Angel. Essays on Reality and Imagination [New York, 1951], S. 18.) Letters of Wallace Stevens, op. cit., S. 89f.

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lebte in Ville D'Avray kurz vor Paris ungefähr das Leben, das sich Stevens unter anderen Bedingungen für sich selbst gerne vorgestellt hätte. Church war finanziell unabhängig, widmete sich Kunst und Literatur und arbeitete mehr aus eigenem Antrieb denn aus beruflicher Notwendigkeit als Herausgeber der Pariser Zeitschrift Mesures. 1939 schrieb er Stevens mit der Bitte um die Erlaubnis, französische Übersetzungen einiger der Gedichte aus Harmonium (1923; erweiterte Auflage 1931) veröffentlichen zu dürfen. Der geschäftsmäßige wich langsam dem freundschaftlichen Austausch, und die beiden schrieben sich bis zum Tode Churchs im Jahre 1946 (als er und seine Frau schon wieder in Europa waren, nachdem sie die Kriegsjahre in der Sicherheit von New York, Princeton und Arizona zugebracht hatten). Das Thema Nietzsche schnitt zuerst Church in den Briefen an, der sich mit dem Gedanken trug, zunächst ein Schauspiel, dann aber doch eine (nie zustandegekommene) Abhandlung über Nietzsche zu schreiben. Am 8. Juni 1942 schrieb Church Stevens über seine allgemeine Lektüre und zog dabei einen Vergleich zwischen Erasmus und Sokrates, der hier aber offenbar der Sokrates Nietzsches war und der von Church als „Biermensch" tituliert wurde: He [Erasmus] seems to me the archetype of the Renaissance Biermensch like Socrates of the Greeks. He brought reason to our lives - like Socrates - and put the brakes on the development of the medieval miracle just as years sooner Socrates stopped the miracle of Greek culture of the sixth century. I know you don't agree with me - and that goes to show that I've been reading Nietzsche again. 132

Zum Glück druckt Leggett diesen sowie andere Auszüge aus den Briefen Churchs (und Stevens') ab, die nicht in die veröffentlichte Korrespondenz Stevens' aufgenommen wurden und bisher nur im Stevens-Archiv der Huntington Library zugänglich waren, denn dieser Brief klärt eine verwirrende Stelle im (bereits veröffentlichten) Antwortschreiben Stevens' auf. Er schrieb am 12. Juni an Church zurück: What you say about the effect of Erasmus is more than interesting, but the truth is that what I like about Erasmus is a certain chic. ... That he ever mattered in any other respect somehow doesn't interest me. About Nietzsche: I haven't read him since I was a young man. My interest in the hero, major man, the giant, has nothing to do with the Biermensch; in fact, I throw knives at the hero, etc. But we shall get round to that some other time. 133

Ohne Kenntnis des zuerst erfolgenden Schreibens von Church muß man annehmen, daß sich Stevens mit „Biermensch" einen besonders herablassenden Ausdruck für Nietzsche ausdachte (mit deutscher Sprache und Literatur hatte er sich in Harvard befaßt; was es mit „major man" auf sich hat, wird noch später zu

m

Zitiert bei: B.J. Leggett, Early Stevens.

133

Letters

of Wallace

Stevens,

The Nietzschean

op. cit., S. 4 0 9 .

Intertext

(Durham, N C . , 1992), S. 34.

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klären sein). Im Kontext sind zwei Varianten denkbar: Entweder meinte Stevens mit Biermensch tatsächlich den Erasmus/Sokrates Churchs, oder den ursprünglichen Bezug des ersten Briefes hatte er vergessen, so daß im Antwortschreiben tatsächlich Nietzsche doch als der „Biermensch" wieder auftauchte. Church ging in weiteren Briefen auf seine Beschäftigung mit Nietzsche ein, und Stevens äußerte sich zur selbigen am 8. Dezember 1942 wieder. Dort schrieb er: I am very much interested in your preoccupation with Nietzsche. In his mind one does not see the world more clearly; both of us must often have felt how a strong mind distorts the world. Nietzsche's mind was a perfect example of that sort of thing. Perhaps his effect was merely the effect of the epatant. The incessant job is to get into focus, not out of focus. Nietzsche is as perfect a means of getting out of focus as a little bit too much to drink.'34

Nietzsche wirke nach Einschätzung Stevens wie der übermäßige Alkoholgenuß auf den Geist - also doch der Biermensch? Manches an dieser Briefstelle ist unbehaglich. Der Absatz schließt mit der Zurückweisung des Betäubungsmittels der Nietzscheschen Philosophie, beginnt aber mit Stevens' offen bekundetem Interesse an derselben. Und genau die in Hinsicht auf Nietzsche im Brief angesprochene Art, wie „ein starker Geist die Welt verändert", ist eines der zentralen Themen der Dichtung Wallace Stevens'. Am 5. Januar berichtete er Church nun, er versuche, die englische Übersetzung sämtlicher Werke Nietzsches (die Levy-Ausgabe) bei seinem New Yorker Buchhändler zu erstehen. Vier Werke habe er bereits erhalten: Zur Genealogie der Moral, Also sprach Zarathustra, Der Fall Wagner und Morgenröthe. (Zudem kaufte er sich später die Biographie der Schwester Nietzsches, und aus einem späteren Brief kann man schließen, daß er auch Menschliches, Allzumenschliches in seine Bibliothek aufnahm.) Diese Einkäufe quittierte er mit der Bemerkung: „I am quite sure that the ones I have are what I saw twenty-five years ago".135 Wenn die Angabe präzise ist, dann las Stevens Nietzsche schon gegen Ende des ersten Weltkrieges. Ebenso denkbar wäre, daß er für die Briefmitteilung einfach nach einer griffigen, runden Zahl suchte, und daß die eigentliche Ixktüre auch weiter zurückliegen könnte. Die fortschreitende, jetzt zum zweiten Mal aufgenommene Lektüre zeitigte aber nicht die Zustimmung Stevens'. Church bat um seine Hilfe bei der Auslegung des Aphorismus 34 aus Jenseits von Gut und Böse, in dem es um die „Stufen der Scheinbarkeit" und um den Wert oder Unwert der Wirklichkeit gegenüber der Illusion geht. Stevens gab eine knappe, aber sehr genaue Interpretation der Kernideen und nahm dann urplötzlich auf das im Juni 1941 abgeschlossene Gedicht „Notes Toward a Supreme Fiction" Bezug, ein programmatisches und zugleich sein längstes Werk (659 Zeilen). Hierzu meinte er nun:

154 135

Ibid., S. 431. Zitiert bei: B.J. Leggett, Early Stevens, op. cit., S. 37.

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This [JGB 3 4 ] is quite a different fiction from that of the N O T E S , e v e n though it is present in the N O T E S . W e are confronted by a choice of ideas: the idea o f God and the idea o f man. The purpose of the N O T E S is to suggest the possibility o f a third idea: the idea of a fictive being, or state, or thing as the object of belief by w a y of making up for that element in humanism which is its chief defect.' 3 6

„Notes" enthalte auch diese Idee Nietzsches, bestrebe aber im Grunde etwas ganz anderes. In weiteren Briefstellen Stevens' zu Nietzsche teilte er mit, daß ihm Menschliches, Allzumenschliches nicht gefalle, obwohl die Sprache des deutschen Originals ihn beeindrucke, 137 und daß er Nietzsche in seiner Phantasie wesentlich mit Basel verbinde: what I really got out of Nietzsche last winter was a sense of Basel and o f Burckhardt living there. If the war was over, I should fly to Basel this afternoon and perhaps buy a set of Burckhardt (in French) and a f e w photographs, and, possibly, an autographed letter or two.' 3 8

Damit war der Austausch der beiden zu Nietzsche im Grunde abgeschlossen. Stevens gelang es aber mit nur einer Handvoll Briefe, einen von extremen Gegensätzen geprägten Eindruck seines Verhältnisses zu Nietzsche zu hinterlassen. Offenbar las er Nietzsche als junger Mann, behauptete jetzt aber wenig Gefallen an dessen Werken finden zu können. Gleichzeitig war sein Interesse groß genug, daß er sich mehrere Bände der Gesamtausgabe anschaffte und auch systematisch las. Mit seiner eigenen Dichtung habe Nietzsche Stevens zufolge nichts zu tun, aber kurz nach dieser Phase der Korrespondenz schrieb Stevens das Gedicht „Description Without Place" (1946), in dem genannter „Nietzsche in Basel" seinen Auftritt hat. Zu allem Überfluß erwähnte Stevens, im äußerst wichtigen Essay „A Collect of Philosophy", in dem er seine eigene Position zwischen Philosophie und Poesie genau zu bestimmen versuchte, das Konzept „Ewiges Wiederkehr" 139 [sie] als Beispiel einer „großen poetischen Idee". Vielzu oft wird vielzu großzügig mit psychoanalytischer Interpretation der Selbstzeugnisse von Schriftstellern und Dichtern umgegangen, und manchmal heißt es, genau das Dementieren von Beeinflußung oder das Fehlen von Einflußspuren weise auf die große Bedeutung einer bestimmten Quelle in einem bestimmten Werk hin, weil es hier um (bewußte oder unbewußte) Vertuschung gehe. Das ist eine wichtige Annahme von Harold Blooms Theorie des strong poet, dessen Schöpfungsdrang und Autonomieanspruch nach Bloom so gewaltig seien, daß er den Gedanken nicht ertragen könne, einem anderen Dichter etwas zu schulden, obwohl jeder Dichter sich nur in Bezug auf Vor- oder Gegenbilder entwickeln

ι3ί

Ibid., S. 38. Brief vom 10. März 1944 (Letters of Wallace Stevens, op. cit., S. 461f.). "" Brief vom 17. Juni 1944 (zitiert bei: B.J. Leggett, Early Stevens, op. cit., S. 39). Wallace Stevens, „A Collect of Philosophy", Opus Posthumous, ed. Samuel French Morse (New York, 1957), S. 194.

137

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könne.140 Milton Bates nimmt an, Stevens habe Nietzsche, den er tatsächlich verehrt habe, wegen der brenzligen politischen Lage im Weltkrieg verleugnet141 (obwohl es sich hier um private Korrespondenz handelt, was für eine hochentwikkelte Paranoia Stevens' spräche, wenn er hier seine Position zu verschleiern versucht haben sollte), während Leggett sich der Denkart Blooms anschließt und Stevens' in den Briefen ausgedrückte Distanz zu Nietzsche als Verleugnung eines seiner bedeutendsten Vorbilder auslegt. Leggetts These ist zwar etwas abenteuerlicher als die eher uninspirierte und nicht besonders plausible Erklärung Bates', aber er verweist auf ein Detail, das nicht uninteressant ist: Stevens stritt mehr als einmal in seiner Korrespondenz (sowohl Church als auch einem anderen Korrespondenten, nämlich Jose Rodriguez Feo, gegenüber142) ab, daß Nietzsche irgendeine Rolle in seinen Gedichten spiele, obwohl eine solche Verbindung von keinem der jeweils angeschriebenen auch im geringsten vorher angedeutet worden war.143 Das allein reicht nicht zum zweifelsfreien Beweis dieser Theorie, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Felsenfest steht allein die Tatsache, daß Stevens einige von Nietzsches Werken kannte (zumindest MA, M, GM, Za, und WA) - auch gut genug, um entweder dessen philosophische Prinzipien von den eigenen klar zu unterscheiden, oder den eigentlichen, nur äußerlich überspielten Einfluß Nietzsches dem eigenen Werk subtil einzuverleiben. Bevor weitere Äußerungen Stevens' zur Philosophie und Dichtung betrachtet werden, ist ein erster Blick auf das bereits genannte „Description Without Place" sowie ein paar andere Gedichte angebracht. Dieses auch zu seinen längeren Werken gehörende Gedicht Stevens' (152 Zeilen) strebt eine Betrachtung der Wirklichkeit aus einem der zwei Blickwinkel an, die in der synthetischen Erkenntnistheorie des Dichters zusammen eine Ganzheit ergeben, oft aber vereinzelt in individuellen Werken behandelt werden. Der Titel „Description Without Place" bezeichnet die eine Seite der Welt als einer vom Menschen kreierten Fiktion. „It seems", schrieb Stevens zu diesem Werk, „to be an interesting idea: that is to say, the idea that we live in the description of a place and not in the place itself, and in every vital sense we do".144 Warum leben wir nach Meinung dieses Dichters in einer Beschreibung der Welt und nicht in der Welt selbt? Stevens' Weltsicht war transzendentalphilosophisch im Sinne Kants. Das hieß für ihn, der Mensch erlebe die „intelligible" Wirklichkeit nicht als unmittelbare Abbildung auf der tabula rasa seines Geistes, sondern sein Erkenntnisapparat

140 141

142 143 144

Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence (1973; Oxford, 1975). Milton Bates schreibt: „The intellectual climate of the forties did not favor disinterested study of Nietzsche, and this alone would account for Stevens' reluctance to admit an influence from that quarter." (Wallace Stevens. A Mythology of Self [Berkeley, 1985], S. 252.) Vgl. Letters of Wallace Stevens, op. cit., S. 248. B.J. Leggett, Early Stevens, op. cit., S. 44. Brief vom 4. April 1945 an Henry Church (Letters of Wallace Stevens, op. cit., S. 494).

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bringe von vornherein gewisse, allen Menschen gemeinsame und immer gleiche Wahraehmungsformen mit, vermittelst derer die Sinneseindrücke der Welt erst erlebbar werden. Tätigkeit und Struktur des Geistes bedingen das Entstehen einer nur im Erlebnis vorhandenen „Wirklichkeit". Ohne die in der Welt gegebenen Stimuli jedoch wäre der Geist des Menschen, abgesehen von diesen inhaltslosen Formen, „leer". Diese zwei Ansichten werden oft getrennt bedacht, aber ebenfalls nicht selten als Synthese in manchen Gedichten zusammengeführt, wie in dem kurzen Werk „Anecdote of the Jar" aus Harmonium (1923). Diese ohne den genannten theoretischen Hintergrund eher seltsam wirkende „anecdote" erzählt folgende Begebenheit: I placed a jar in T e n n e s e e , And round it was, upon a hill. It made the slovenly wilderness Surround that hill. The wilderness rose up to it. and sprawled around, no longer wild. The jar was round upon the ground And tall and o f a port in air. It took dominion e v e r y w h e r e . The jar was gray and bare. It did not give of bird or bush, Like nothing else in Tennessee. 1 4 5

Das sehr unscheinbare und auf den ersten Blick „unpoetisch" wirkende Symbol des Weckglases in diesem Gedicht hat nicht nur den Vorteil der überraschenden Originalität, sondern verbildlicht auch vorzüglich die von Stevens gemeinte Wechselbeziehung von Geist und Natur. Das Glas ist einerseits ein von Menschenhand und nach einer menschlichen Idee, aber aus in der Natur vorhandenen Rohstoffen erschaffener Nutzgegenstand, mit dem wiederum über die Natur verfügt werden kann. Noch viel wichtiger aber ist das Glas als Gefäß. Licht kann Glas durchdringen; man sieht die Welt also durch Glas hindurch, wenn auch leicht, vielleicht unmerklich, verzerrt. Ein leeres Glas, sowie ein leerer Geist, hat aber keinen Nutzen. „The jar was gray and bare. / It did not give of bird or bush", heißt es. Genauso wenig wie das Glas kann der Geist des Menschen Natur erzeugen, er kann nur damit gefüllt werden. Die Natur im Gedicht aber ist eine „slovenly wilderness", ein verwahrlostes Durcheinander der Differenzlosigkeit. Irgendein beliebiger Hügel, Baum oder Vogel in Tennessee ist genau wie der nächste, ununterscheidbar ... bis ein Referenzpunkt geschaffen wird. Nur der Mensch kann, kraft seines Geistes, solche Bezugspunkte herstellen. Die Wildnis

145

Wallace Stevens', The Collected Poems (1954; New York, 1982), S. 76 (hiemach im Text als CPS, gefolgt von Seiten- und Zeilenzahl, zitiert.)

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ist nun „no longer wild", sondern hat Form (auch wenn es eine durch das Glas bestimmte Form ist) angenommen - „round it was"-, und wird jetzt dadurch als Landschaft erst erkennbar. „Everything depends on a jar", hätte es William Carlos Williams vielleicht zusammengefaßt. Der Mensch lebt also in einer Welt, die er aus vorhandenen Materialien konstruiert, ohne wissen zu können, „wie" diese Materialien ohne sein Zutun „sind". Das ist, vereinfacht, die Grunderkenntnis der Kantschen Philosophie. Aber Stevens selbst interessierte sich nur für die Kemaussage und nicht die Einzelheiten der Beweisführung. Insofern hat Guy Davenport recht, wenn er Stevens' „Philosophie" als ein generelles metaphysisches Gesamtgefühl oder Sammelsurium verschiedener philosophischer Strömungen kennzeichnet: „ Stevens grows from a philosophical spirit rather than from any one philosophy".146 Diese zwei Seiten der Welt des Menschen resultieren nach Meinung Stevens' in zwei Aufforderungen an die Dichtung: Einerseits muß sich Dichtung auf die gegebene Welt richten, auf die Natur und den Menschen, so wie sie ohne ästhetische, philosophische oder moralische Interpretation sein können. Dichtung darf nicht eine solipsistische Fingerübung des Geistes sein: Poetry has to be something more than a conception of the mind. It has to be a revelation of nature. Conceptions are artificial. Perceptions are essential. 147

Es mag sich hier um eine zufallige Übereinstimmung handeln, aber dennoch liegt auch für Nietzsche die „Sphäre der Poesie" nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. (GT 8)

Andererseits muß die Dichtung für Stevens aber auch zeigen, wie sehr gerade solche Interpretationen (die „artificial conceptions") die Wirklichkeit des Menschen mitbestimmen und weitere solche Interpretationen auch selbst hervorbringen, welche das Weltliche zu neuen Ehren gegenüber der alten Fiktion des Jenseitigen verhelfen („creating confidence in the world"148) und somit eine bessere „Fiktion" schaffen sollen: „literature is the better part of life, provided it is based on life itself".149 Der Dichter muß den Ernst seiner Aufgabe erkennen und feststellen, „what he can make of the world".150 Somit wird der Dichter zum Schöpfer ganzer fiktionaler Wirklichkeiten, die unter anderem auch die Gestalt von Wertsystemen annehmen.

146

Guy Davenport, „Spinoza's Tulips", The Geography of the Imagination (San Francisco, 1981), S. 124. 14 ' Wallace Stevens, Opus Posthumous, op. cit., S. 164. 141 Ibid., S. 199. 149 Ibid., S. 222. 130 Ibid., S. 198.

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Solche Fiktionen, die in der Dichtung zu einer „supreme fiction" des Lebens werden können, haben also für Wallace Stevens eine entscheidende Wirkung auf unsere Welt. Die Nähe zu Nietzsche drängt sich zumindest als denkerische Analogie unverzüglich auf. Man erinnere sich nur des Aphorismus 34, den Stevens treffsicher und zügig (an einem Tag, erlaubt man einen Tag für die Briefzustellung: Churchs Bitte ist vom 19.4., Stevens Antwort vom 21.4.) für seinen Freund interpretierte. Hier stellt Nietzsche eine der Kardinalthesen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen auf, denn es geht ihm um die Stufen der Scheinbarkeit und den Wert der Fiktion: Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten [...] Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen [...] Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, nicht eine Fiktion sein? (JGB 34)

Stevens würde auch mit Nietzsche antworten, die uns angehende Welt dürfe und solle eine (auf höheren, weltlicheren, affirmativeren Stufen der Scheinbarkeit beruhende) Fiktion sein, die höchste Fiktion sogar. Stevens teilte außerdem mit Nietzsche die Auffassung, daß diese Interpretationen oder Weltfiktionen unterschiedlich ausfallen - je nach Urheber. Nietzsche spricht von den Auswirkungen der Weltinterpretationen der Herren- und Sklavennaturen, Stevens von denen der Fiktionen der major men und der secondary men. Es gilt also auch nach Stevens festzustellen, welche Fiktionen die besseren sind. „Description Without Place" nun beginnt mit einer bohrenden Frage, die gleich zum Kern vorstößt: It is possible that to seem - it is to be, As the sun is something seeming and it is. The sun is an example. What it seems It is and in such seeming all things are. (CPS 339/1-4)

Die Frage ist rhetorisch, wie in der zweiten Strophe verdeutlicht wird. Das Scheinen, sagt der Dichter, beeinflusse wesentlich das Sein, und denkt man diese vier Zeilen in deutscher Übersetzung, entsteht ein noch schöneres Sprachspiel als im Original schon vorhanden ist, denn das hier angesprochene „seeming" der Sonne ist ja ihr „Scheinen", was auch ihre Tätigkeit und eine Proprietät ihres Wesens ist. Ist das zufällig gewählt? Sonnensymbolik zählt zu den am öftesten gebrauchten Bildern in Stevens' Werk, aber er hätte auch ausreichende Deutschkenntnisse gehabt, um ein solches Spiel beabsichtigen zu können, und die Einflechtung deutscher und (viel häufiger) französischer Vokabeln ist ebenfalls für ihn charakteristisch. Das Sein jedenfalls, so hier die Aussage, sei für den Menschen vom Schein nicht zu trennen, und wie die Sonne die Erde bescheine, so tue ein Sonnenkönig oder eine -königin das gleiche für eine Epoche:

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An age is a manner collected from a queen. An a g e is green or red. Or it denies.

A n a g e believes

A n age is solitude

Or a barricade against the singular man By the incalculably plural.

Hence

Its identity is merely a thing that s e e m s , In the seeming of an original in the e y e , In the major manner o f a queen (CPS 3 4 0 / 2 3 - 3 0 ) .

Die Moral eines Zeitalters bejahe oder verneine. Entweder biete sie dem Einzelnen eine Zuflucht vor den Zudringlichkeiten der Massen, der „incalculably plural", oder stelle den Versuch dieser unzähligen Vielen dar, der Entwicklung des höheren Einzelnen vorzubeugen. Diese Strophen enthalten sicherlich wieder den Ausdruck von Stevens' Abneigung gegenüber dem Verlust der Individualität in der Masse, aber daß hiernach diese Haltung zum Individuum den entscheidenden Wesenszug eines Zeitalters bestimmen könne, und daß eine solche Haltung wiederum durch die Lebenseinstellung einer in tatsächlicher oder metaphorischer Hinsicht herrschenden Kaste („the major manner of a queen") bestimmt werden könne, läßt eine Nietzsche-Anverwandlung als immer wahrscheinlicher gelten. Nicht anders lautet die Kernaussage der geschichtlichen Moralgenealogie, mit der Nietzsche der Hegemonie christlicher Moral im Abendland entgegentreten will. Die Inthronisierung des moralischen Ideals einer Zeit und eines Volkes, lernt man dort, hängt von den Inhabern der Macht ab. Im vierten Teil von „Description Without Place" wird eine Opposition in der Reihenfolge major man vs. secondary man hergestellt, die am Gegenübertreten zweier Figuren konkretisiert wird: Nietzsche und Lenin. Bevor diese Opposition betrachtet wird, sei aber zunächst einiges zur Charakterisierung dieser Begriffe im Werk Wallace Stevens' gesagt. Die Figur des major man begann ab 1936, mit The Man With The Blue Guitar, in Stevens' Gedichten aufzutreten. Der Mann mit der blauen Gitarre zelebriert die Welt in seinem Lied und verwandelt sie mittels seines Spiels, denn jedes Kunstwerk, man erinnere sich, ist für Stevens ein Akt der Weltinterpretation. In diesem Lied besingt der fabulierende Gitarrist einen unbestimmten Helden - unbestimmt, weil er noch erst geschaffen werden muß und eigentlich gar kein Mensch ist, noch jemals sein kann: I sing a hero's head, large e y e And bearded bronze, but not a man, Although I patch him as I can And reach through him almost to man. (CPS 1 6 5 / 1 3 - 1 6 )

Im Gedanken des major man huldigte Stevens keinen großen historischen Persönlichkeiten. Napoleonismus war offenbar seine Sache nicht. Dieses „große

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Individuum" muß Fiktion bleiben, damit seine Identität stets gewandelt und um neue Elemente bereichert werden kann, denn das Werk des Dichters darf nach Stevens nie als abgeschlossen gelten. Die Welt des Poeten, einschließlich ihrer Fiktionen wie der des major man, schrieb Stevens in „A Collect of Philosophy", is intended to be a world, which yet remains to be celebrated and which, at bottom, the poets probably hope will always remain to be celebrated. 151

Die begriffliche Offenheit des Bildes vom major man gewährt auch, daß er nicht vereinnahmt werden kann, weder von der „Masse" - „The great men will not be blended", lautet ein Vers (10) in „Idiom of the Hero" (CPS 200) - noch von der Dienstpflicht gegenüber einem nationalistischen Ziel. Major man kann eine nationale Identität, oder besser gesagt, einen autochthonen Charakter haben („Say that the hero is his nation" [CPS 279/178], heißt es in „Examination of the Hero in a Time of War"), aber es gilt stets, ihn von wirklichen Menschen zu unterscheiden. Just dieser Differenzierung von man und major man widmet sich das Gedicht „Paisant Chronicle" aus Transport to Summer. Dort beseitigt Stevens alle möglicherweise noch bestehenden Zweifel an der notwendigen Fiktionalität seiner Idealfigur: M e n live to be Admired by men and all men, therefore, live T o be admired by all men.

Nations live

T o be admired by nations.

The race is brave.

The race endures.

The funeral pomps o f the race

Are a multitude of individual pomps And the chronicle o f humanity is the sum Of paisant chronicles. The major men That is different.

They are characters beyond

Reality, c o m p o s e d thereof.

They are

The fictive man created out of men. T h e y are men but artificial men.

T h e y are

Nothing in which it is not possible T o believe (CPS 3 3 4 f . / 5 - 1 9 ) .

Der Unterschied ist eklatant. Es kann dem um ein höheres Leben Bestrebten nie um Allerweltstugenden wie „Tapferkeit" auf dem Felde der Ehre oder die Bewunderung der Masse gehen, denn „All men are brave", wie Stevens hier feststellt. Die wirkliche Individualität will zwar herausragen, mißachtet aber das Urteil der Vielen über ihre Qualitäten. Deswegen gilt dem Dichter die Geschichte der Nationen als eine bloße „bäuerliche Chronik", in der die „incalculably plural"

151

Ibid., S. 199.

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von „Description" einen kläglichen und oft lächerlichen Ruhm zu erlangen suchen, der sich in Wahrheit nur als die wertlose Selbstbeweihräucherung unter Gleichgestellten oder die hohlen Worte pompöser Grabreden herausstellt („funeral pomps"). Ein solch flacher Begriff vom Heroismus gebührt dagegen dem secondary man, „the loud general large", wie er in „Jumbo" (Parts of α World, 1942) beschrieben wird: The companion in nothingness, Loud, general, large, fat, soft And wild and free, the secondary man, Cloud-clown, blue painter, sun as horn, Hill-scholar, man that never is. The bad-bespoken lacker (CPS 269/10-15).

Secondary man ist eine Kreatur der Allgemeinheit („general"), wild, unbeherrscht und seinen niederen Trieben ausgeliefert („large, fat, soft"), ein begriffsstutziges, inartikuliertes Wesen verschiedenster Mängel („bad-bespoken lacker"). Es liegt natürlich nah, eine Verwandtschaft zwischen major man und dem Übermenschen Nietzsches zu vermuten. Beide verkörpern das hohe Ideal einer Individualität, welche die Berührung mit der Menge scheut. Beide stellen ein Ziel dar, das letztendlich nicht realisiert wird, sondern den höher gesinnten Menschen dieser Erde immer nur aus der Feme entgegenleuchtet. Auch Zarathustra sagt: „Niemals noch gab es einen Übermenschen" (Za „Von den Priestern"), und in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches gesteht Nietzsche, selbst die „freien Geister" seien von ihm „erfanden" (also fiktional): dergleichen „freie Geister" giebt es nicht gab es nicht, - aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (MA „Vorrede" 2).

Beider Kontrahent ist der Massen-, Sklaven- oder „sekundäre" Mensch, der die stolze Individualität seinem Ideal der bescheidenen, konformen Vielheit zu beugen sucht. Dieser agiert aktiv gegen alles Höhere, ist, wie Stevens an anderer Stelle sagt, ein „anti-master-man, floribund ascetic" („Landscape With Boat", Parts of α World, CPS 241/1). Ein animoser Asket ist dieser Gegner der Größe also auch in diesem Urteil geben sich Stevens und Nietzsche die Hand. Noch mehr, der „anti-master-man" ist ein Asket des unbedingten Willens nach letzter Wahrheit, ein unerbittlicher Sucher nach der letzten Offenbarung: as truth to be accepted, he supposed A truth beyond all truths. He never supposed That he might be truth, himself, or part of it [..·] He never supposed divine

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Literarische Rezeption Things might not look divine, nor that if nothing Was divine then all things w e r e , the world itself, And that if nothing w a s the truth, then all Things were the truth, the world itself w a s the truth. (CPS 2 4 2 / 2 9 - 4 2 )

Für Nietzsche beschreibt der Drang nach absoluter Wahrheit förmlich das Wesen des asketischen Ideals. Der „unbedingte Wille zur Wahrheit", heißt es in der Genealogie der Moral, „das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst" (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 24). Der Asket der Wahrheit sucht das Wahre stets außerhalb der Welt und kommt in seinem Jenseitswahn nie auf den entscheidenden Gedanken: „he might be truth, himself". Des Menschen Heil bestand für Wallace Stevens gleichfalls nur im Weltlichen, aber der secondary man vermag dies nicht zu akzeptieren, sucht immer noch nach einer letzten Wahrheit im Übersinnlichen und erkennt erstens nicht, daß es eine Vielheit von Wahrheiten gibt, und zweitens, daß es nur Wahrheiten des Weltlichen und nicht des Jenseitigen geben kann. Nietzsches asketische Priester wollen ebenfalls nicht zulassen, daß es eine Pluralität der Wahrheit gibt. Die „ReinErkennenden" gemahnt Zarathustra: „Euch heisse ich - Lüsterne!" Der Lüsterne, wie ein „Mönch im Monde", begehrt in seiner beschämten Phantasie die eine Wahrheit, während Zarathustra eine „unbefleckte Erkenntnis" lehrt, welche bedeutet: „dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen". (Za „Von der unbefleckten Erkenntnis") Nietzsches Übermenschentum richtet sich gegen den Moralismus, vor allem gegen den dogmatischen Moralismus der „einen" Wahrheit. Sowohl in die philosophische Wahrheitsfindung als auch in die Ethik führt Nietzsche hiergegen den Begriff des Perspektivismus ein. „Nietzschesch" nennt Leggett auch die Perspektivität Wallace Stevens',152 und man ist durchaus geneigt, ihm hierin beizupflichten. In der ersten großen monographischen Untersuchung der Dichtung Wallace Stevens', Frank Doggetts Stevens' Poetry of Thought (1966), schreibt der Verfasser diese perspektivische Tendenz Stevens' seiner Kenntnis der Philosophie Vaihingers zu,153 aber Nietzsche als Quelle scheint angesichts der Church-Korrespondenz und der thematischen Parallelen zwischen seiner Philosophie und dem Werk Stevens' genauso wahrscheinlich, wenn nicht noch viel plausibler in Frage zu kommen. Hier mögen einige Beispiele als Bürgen für die Glaubwürdigkeit dieser These dienen. Zunächst einmal richten wir unser Augenmerk auf das Gedicht „On the Road Home" {Parts of a World), das mit den seltsamen, aber sehr an Nietzsche erinnernden Zeilen beginnt:

152

„Nietzschean perspectivism ... informs both the substance and the style of many of Stevens' early poems, particularly those that have been labeled .epistemological'" (B.J. Leggett, Early Stevens, op. cit., S. 149). Vgl. Frank Doggett, Stevens' Poetry of Thought (Baltimore, 1966), S. 105f. (Fußnote).

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It was when I said, „There is no such thing as the truth," That the grapes seemed fatter. The fox ran out of his hole. You ... You said, „There are many truths, But they are not parts of a truth." Then the tree, at night, began to change. (CPS 203/1-8)

Ein kurioses Bild: Die Früchte dieser Welt, in diesem Falle Trauben, schwellen an, gewinnen an Geschmack, wenn man die Wahrheit leugnet. Der Fuchs, ein Totemtier der Klugheit, wird erst sichtbar, wenn man sich auf diesen Standpunkt jenseits von wahr und falsch gestellt hat. Die Antwort des Gegenübers im Gedicht könnte eine auf äußerste Reduktion bedachte Zusammenfassung des Nietzscheschen Perspektivismus sein: Es gibt zwar viele Wahrheiten, die aber durch keinen letzten Grund miteinander verbunden, noch bestätigt werden. Die Stimme in diesem Gedicht findet einen neuen, offenbar näheren Zugang zur Weltlichkeit, weil die „Wahrheit" diese unmittelbarere Begegnung nicht mehr verhindert. „The Latest Freed Man", ebenfalls aus Parts of α World, rekapituliert diese Sicht der Dinge, denn auch hier ist das Subjekt des Gedichts, dieser letzte befreite Mensch, keinem geringeren Geiselnehmer als der Wahrheit selbst entkommen. Der Anfang des Gedichts lautet: Tired of the old descriptions of the world, The latest freed man rose at six and sat On the edge of his bed. He said, „I suppose there is A doctrine to this landscape. Yet, having just Escaped from the truth, the morning is color and mist, Which is enough" (CPS 204/1-7).

Der jüngst befreite Mensch sieht der frühen Morgenstunde, der Stunde der Morgenliturgie, mit keiner besonderen Absicht für den Tag entgegen. Er findet sich in einer Welt wieder, die konturenlos, nur „Farbe und Nebel" ist, äußert sich aber zufrieden zur neuen Lage, denn jetzt, da er der Wahrheit - also den „Doktrinen" und alten Beschreibungen oder „Fiktionen" der Welt - entflohen ist, kann er der Welt zum ersten Mal unschuldig begegnen. Ihn erleichtert, daß er jetzt „without a description of to be" (17) ist. Nun steht ihm frei, eine eigene Fiktion des Seins zu erfinden (was das mit der Wesensmetaphysik zu tun haben mag, wird auch noch zur Diskussion kommen). Dem Nietzsche-Leser fällt auf, daß auch für diesen Philosophen die Freiheit erst in der Befreiung von der dogmatischen Wahrheit zu finden ist. Über alle „letzten Idealisten der Erkenntniss", ob Atheisten, Antichristen, Immoralisten oder Nihilisten, urteilt er: „Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie

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glauben noch an die Wahrheit ..." Wirkliche Freiheit wäre dagegen im Assassinen-Spruch ausgedrückt: „.Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt' ... Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt ..." (GM „Was bedeuten asketische Ideale?" 24). Freiheit von der Wahrheit bedeutet in der Sprache Nietzsches selbstredend auch die Freiheit von Moral. In den frühen und sehr bekannten Gedichten wie „A High-Toned Old Christian Woman" oder „Sunday Morning" (Harmonium) findet Stevens' Kritik an der christlichen Moral zugunsten einer weltlichen Lebensbejahung einen überraschend neuen und oft sehr witzigen Ausdruck. Aber hier sei aus gleich offensichtlich werdendem Grund auf ein weniger bekanntes, ebenfalls moralkritisches Gedicht hingewiesen, das die Überschrift „The Surprises of the Superhuman" schmückt: The palais je justice of chambermaids Tops the horizon with its colonnades. If it were lost in Übermenschlichkeit, Perhaps our wretched state would soon come right. For somehow the brave dicta of its kings Make more awry our faulty human things. (CPS 98/1-6)

Der Leser kann sich hier des Eindrucks Nietzscheschen Einflusses kaum erwehren. Es hat hier sogar den Anschein, als ob diese sechs Verse ohne Nietzscheschen Hintergrund nur wenig Sinn ergäben. Warum sollte sonst, wie es in der mittleren Strophe heißt, die Gerechtigkeit erst in einer überhöhten „Menschlichkeit" verlorengehen müssen, ehe der „elende Zustand" (natürlich springt das Sprachspiel zwischen dieser Bedeutung und dem Bild des „Staates" hin und zurück) unserer Welt wieder bereinigt werden kann? Liest man aber den deutschen Begriff im Gedicht als die Übermenschlichkeit Nietzsches, so wird sinnvoll, was vorher sinnentleert wirkte. Die antechambrierende „Gerechtigkeit" von Stubenmädchen ist die Moral „kleiner Leute", die das Höhere nicht toleriert. Die ohnehin „faulty" Natur alles Menschlichen wird durch die in dieser „niederen Fiktion" enthaltene Umkehrung der Verhältnisse nur verschlimmert. Behoben werden könnte der Mißstand allein durch eine neue Fiktion - die des Übermenschlichen. Dem König der Moralisten steht der „Kapitän" des Übermenschlichen von „A Thought Revolved" aus The Man With the Blue Guitar gegenüber. Letzterer tritt fraglos als Immoralist auf, an earthly leader who could stand Without panache, without cockade. Son only of man and sun of men, The outer captain, the inner saint, [...] With all his attributes no god but man Of men whose heaven is in themselves (CPS 185f./35-50).

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Sein Gegenpart ist „The

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Leader"·.

Behold the moralist hidalgo Whose whore is Morning Star [...] In how severe a book he read, Until his nose grew thin and taut And knowledge dropped upon his heart Its pitting poison, half the night. (CPS 186/55-62)

Dieser „Hidalgo", der moralindurchtränkte Geist des inquisitorischen Kleinadels (der den „Morgenstern", also wahrscheinlich die Liebesgöttin Venus, mit seiner Asketenideologie zur „Hure" gemacht hat), ist über seinem Dogma mager geworden („his nose grew thin") und hat damit sein Herz vergiftet. Der major man will im Gegensatz zum Hidalgo nicht vom nominellen Kredit eines Titels zehren, sondern als „Sonne der Menschen" der Schöpfung Wärme spenden und als „Sohn des Menschen" der Erde treubleiben. Stevens' Perspektivität und AntiChristentum hängen offenbar wie bei Nietzsche eng zusammen. Wallace Stevens kritisierte die Moral oder das Christentum aber nicht aus Zerstörungswut oder Schwarzgalligkeit. Er war eine seltene Erscheinung unter modernen Dichtern, ein Welt- und Lebensfreund, wahrlich in den Worten eines Kritikers einer der wenigen renegades from the seemingly unbreakable tradition of nineteenth- and twentiethcentury pessimism, beside which they stand out as hearty, jovial aristocrats of the heart. 154

Stevens nahm sich nicht vor, das Christentum zugrunde zu richten - dieses galt ihm sowieso als schon längst zerfallen. Die Moralkritik erfüllte bei ihm vielmehr die Funktion von Aufklärungsarbeit. Unter der wirklichen Aufgabe der Dichtung verstand er aber die Errichtung eines neuen Glaubens, der dem Menschen sein Vertrauen zum Leben und zur Welt zurückgibt. Die Dichtung hat damit den vielleicht bedeutendsten Dienst am Menschengeschlecht unter allen Künsten oder Wissenschaften im modernen Zeitalter zu leisten, den Stevens im Essay „Two or Three Ideas" so formulierte: In an age of disbelief, or, what is the same thing, in a time that is largely humanistic, in one sense or another, it is for the poet to supply the satisfactions of belief, in his measure and in his style. ... I want to try to formulate a conception of perfection in poetry with reference to the present time and the near future ... I think of it as a role of the utmost seriousness. It is, for one thing, a spiritual role. ... To see the gods dispelled in mid-air and dissolve like clouds is one of the great human experiences. 155

154 155

Guy Davenport, „Spinoza's Tulips", op. cit., S. 127. Wallace Stevens, Opus Posthumous, op. cit., S. 206.

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Deswegen ist die Weitfiktion des Dichters von so weltbewegender Bedeutung: Sie ist soetwas wie eine neue Religion. Sicherlich überschätzte Stevens seine Mission, aber die Gravität dieser Auffassung war der zentrale Schwerpunkt im Selbstverständnis seines dichterischen Projektes (genauso wie im Falle Eugene O'Neills). Was Stevens selbst zur neuen Religion beitragen wollte, könnte man durchaus mit Nietzsche als amor fati bezeichnen. Es sei, sagte Stevens, immer der Vergleich gewesen - also das Beziehen der Wertestandards aus dem Jenseitigen anstatt aus dem Diesseitigen -, der die Welt habe unvollkommen erscheinen lassen. Der heutige Dichter der höheren Fiktion verwerfe diesen Vergleich, turns to himself and ... denies that reality was ever monotonous except in comparison. He asserts that the source of comparison having been eliminated, reality is returned, as if a shadow had passed and drawn after it had taken away whatever coating had concealed what lay beneath it.' 56

Die hier genannte „source of comparison" ist das Christentum, das nun „eliminated" ist. Jetzt kommt es also auf die neuen, den freigewordenen Platz des Christentums einnehmenden Weltbilder an, und jetzt kehren wir endlich zu „Description Without Place" zurück. Man rufe sich die Ausgangsideen des Gedichtes wieder in Erinnerung. Sie lauten: Schein und Sein sind für den Menschen nicht klar zu trennen, und der jeweilige Schein, also die jeweilige Interpretation der Welt, prägt die Wirklichkeit des Daseins mit. Die Wirklichkeit, heißt es an späterer Stelle im Gedicht, sei „A text we should be born that we might read" (128) - auch Nietzsche blickt auf die Welt als Text. Die Kunst des richtigen Lebens besteht dann in der richtigen Auslegung: „Thus the theory of description matters most" (134). Insofern ist auch für Nietzsche die Welt „noch einmal ,unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst." (FW 374) Eine starke Interpretation kann einem Zeitalter oder einer Kultur eine bejahende oder eine verneinende Haltung zur Welt verleihen. Jetzt muß es dem Dichter Stevens darum gehen, zwei Beispiele solcher Interpretationen vorzufuhren. Sodann liest der Leser als Einleitung zu diesem darstellenden Teil des Gedichts: „Things are as they seemed [ . . . ] / To Nietzsche in Basel, to Lenin by a lake" (61-63). Von diesen zwei Arten, wie die Welt schon einmal in zwei starken Interpretationen erschienen ist, handelt nun der vierte Teil von „Description Without Place": Nietzsche in Basel studied the deep pool Of these discolorations, mastering The moving and the moving of their forms In the much-mottled motion of blank time.

1!6

Ibid., S. 2 1 3 .

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His revery was the deepness o f the pool, T h e very pool, his thoughts the colored forms, T h e eccentric souvenirs o f human shapes. Wrapped in their seemings, crowd on curious crowd, In a kind o f total affluence, all first, All final, colors subjected in revery T o an innate grandiose, an innate light, T h e sun o f Nietzsche gildering the pool, Yes:

gildering the swarm-like manias

In perpetual revolution, round and round ... Lenin on a beach beside a lake disturbed T h e swans.

He was not the man for swans.

T h e slouch o f his body and his look were not In suavest keeping. The shoes, the clothes, the hat Suited the decadence o f those silences, In which he sat.

All chariots were drowned.

The

swans M o v e d on the buried water where they lay. Lenin took bread from his pocket, scattered it T h e swans fled outward to remoter reaches. As if they knew o f distant beaches; and were Dissolved.

The distances o f space and time

W e r e one and swans far o f f were swans to come. T h e eye o f Lenin kept the far-off shapes. His mind raised up, down-drowned, the chariots. And reaches, beaches, tomorrow's regions became One thinking o f apocalyptic legions. (CPS 3 4 2 f . / 6 9 - 9 9 ) D e r L e s e r sieht N i e t z s c h e und L e n i n an sehr ähnlichen O r t e n :

Nietzsche am

T e i c h , L e n i n a m S e e , a l s o beide a m W a s s e r , an der Quelle allen L e b e n s - die M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e ist eine G e s c h i c h t e v o n W a s s e r w e g e n , D ü r r e , v o m Städtebau a m W a s s e r .

v o n R e g e n und

B e i d e , N i e t z s c h e und L e n i n , haben auch

einen auffälligen E i n f l u ß a u f die unmittelbare U m g e b u n g , in d e r sie sich befinden. Das B i l d N i e t z s c h e s ,

w e l c h e s nicht das eines wirklichen N i e t z s c h e s zu

b r a u c h t , aber sein k ö n n t e , erkennt m a n s o f o r t an der W o r t w a h l S t e v e n s '

sein als

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weitere Metamorphose des major, oder wie er sonst heißt, master man. Allein durch die Geistestätigkeit, das Richten seines Blickes aufs Wasser, meistert Nietzsche dessen Farben und Verfärbungen („discolorations"), die bei Stevens stets ein Symbol der Weltinterpretation sind: „mastering / The moving and the moving of their forms / In the much-mottled motion of blank time". Der Geist Nietzsches, versteht man aus dem Metapherngebrauch Stevens', bemächtigt sich der Welt. Offenbar gilt das Stevens aber nicht als Gewaltanwendung, denn diese Szene umgibt auch eine fast pastorale Qualität, ist doch die „Reverie" der Zustand des sich in der Natur erholenden Schäferromantikers: „His revery was the deepness of the pool". Im Gegensatz zum anakreontischen Schäfer aber hat Nietzsche seine Freude nicht an der Oberfläche, sondern der Tiefe. Stevens' Nietzsche empfindet hier geradezu eine Lust an der Tiefe, und „alle Lust will Ewigkeit - , / - tiefe, tiefe Ewigkeit" (Za „Das Nachtwandler-Lied" 12). Und dieser Ewigkeit erfreut sich hier nicht nur Zarathustra, sondern auch der Nietzsche Stevens', sogar bezeichnenderweise in Form der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Was Nietzsches Blick in diesen Tiefen fesselt, sind „the swarm-like manias / In perpetual revolution, round and round ...". Die ewige Wiederkehr ist die Erleuchtung und das Geschenk Zarathustras an die höheren Menschen, und aus der Tiefe der tiefsten Gewässer steigt seine Weisheit hinauf, mag sie uns aus einem See Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenügsamer; aber mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab - zum Meere! (Za „Das Kind mit dem Spiegel") -

oder, wie zuletzt in den obigen Zeilen genannt, aus einem Meer entgegenleuchten: Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern. (Za „Von den Erhabenen")

Auch das Wasser in Basel glänzt - und zwar mit dem Widerschein des Goldes und des goldenen Sonnenscheins: „The sun of Nietzsche gildering the pool". Es braucht kaum ausgeführt zu werden, daß Nietzsches Wirkung auf das Wasser einer grandiosen Verklärung gleichkommt, denn die Strahlen seiner „Sonne" - die Quelle des Scheins am Gedichtanfang - verwandeln die Welt in eine Art vollkommenen Reichtum, „In a kind of total affluence", welcher gewiß der Reichtum des Übermenschlichen ist, der die Welt nicht, nach der Manier des „Sklavenmenschen", zum geistigen Armenhaus, sondern nach Art des großzügigen Geistes zur Schatzkammer der Seele macht. In der Fiktion der ewigen Wiederkehr wird die Welt zum gloriosen Perpetuum mobile, zum geschlossenen Ganzen einer nie abgeschlossenen Bewegung. Für Stevens bedeutet ewige Wiederkehr, die große „poetische Idee", wie man sich aus „A Collect of Philosophy" erinnert, das zirkuläre Geschichtsbild, welches das Bedürfnis des Dichters nach einer offenen, nicht abgeschlossenen Welt erfüllt. Signifikant ist dann, daß das Gegenmodell zur Nietzscheschen Interpretation, die Welt des secondary man (mit

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der „slouch of his body" nicht „in suavest keeping"), das lineare Geschichtsbild ist, für das hier Lenin steht. Daß Stevens dem Marxismus-Leninismus ganz und gar nicht zugetan war, weiß man aus den Briefen und aus den Gedichten. In „Botanist on Alp (No. 1)" beispielsweise konstatierte er: „Marx has ruined nature, / For the moment" (CPS 134/5-6).157 Er ging allerdings auch, wie man sieht, vom Vorrübergehen dieser „Fiktion" aus. Wichtig jedoch an diesem Lenin am See sind die eschatologischen Versatzstücke, die auf das hindeuten, worauf es Stevens ankam. Der Marxismus interpretiert die Geschichte als Heilsweg, der auf eine Erlösung, also einen Endzustand hinführt, der den Prozeß der Weltauslegung endgültig abschließen müßte. Der Leser sieht Lenin hier auch „thinking of apocalyptic legions", denn im Christentum sowie im Marxismus richtet sich der Sinn des Menschen auf eine Endzeit. Der Marxismus als eschatologische Fiktion muß genauso sehr wie das Christentum überwunden werden, und es scheint, als ob Stevens (wie Nietzsche) den gleichen Impuls in beiden Weltdeutungen wiedererkennt. Wenn man hier liest: „Lenin took bread from his pocket, scattered it", hört man viel berühmtere Worte deutlich mitklingen - „Jesus brach das Brot, reichte es den Jüngern und sagte ..." Lenin hat jedoch keine Jünger hier, sondern befindet sich nur unter Schwänen, die seine sozial-fürsorglichen Almosen aber verschmähen. Die Schwäne, Symbole der Reinheit und Tiere des Lichtgottes Apollon, fliehen sogar die finstere Erscheinung Lenins, denn „He was not the man for swans". Lenins Äußeres wirkt hier aber nicht nur „disturbing]", sondern auch nachlässig oder schäbig - ein krasser Gegensatz zum royalen Goldnimbus Nietzsches, aber diese Aufmachung paßt nach Meinung des Dichters zu Lenins Dekadenz, denn sie „Suited the decadence of those silences, / In which he sat". Man kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß auch für Nietzsche der Sozialismus vor allem eine Dekadenzerscheinung, ein Auflösungsmoment der Geschichte darstellt. Nicht nur das Schöne und Reine der Schwäne, auch das Heroische wirkt vernichtet in der Gegenwart Lenins, denn die Kampfwagen etwa sind versunken: „all chariots were drowned". Es ist nicht uninteressant, daß die oben zitierte Stelle aus „Das Kind mit dem Spiegel" in Zarathustra weitergeht: „Zu langsam läuft mir alles Reden: - in deinen Wagen springe ich, Sturm!", was in der (Stevens zugänglichen) englishen Übersetzung heißt: „into thy chariot, Ο storm, do I leap!" (Hervorhebung durch den Verf.)158 Bei der Wahl zwischen diesen Fiktionen kann es keinen Zweifel geben, welche Stevens dem Leser anempfiehlt. Es braucht auch keineswegs zu stören, daß der Nietzsche von „Description Without Place" sich in Basel und nicht etwa in Sils-Maria befindet. Stevens

157

158

Auf die Ähnlichkeit zwischen den Claude Lorrain-Anspielungen in diesem Gedicht und den Äußerungen Nietzsches zum großen Landschaftsmaler hat B.J. Leggett hingewiesen. (Vgl. Early Nietzsche, op. cit., S. 229 und Nietzsche, VM 171, 177.) Vgl. Friedrich Nietzsche, Thus Spake Zarathustra, trans. Thomas Common (Edinburgh, London, 1909), S. 97.

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dachte sicherlich nicht an den jungen Professor, denn „in Basel" heißt hier soviel wie „in der Schweiz" oder, besser gesagt, „in den Alpen". Auf solche geographischen Genauigkeiten wie den Unterschied zwischen Basel und Sils-Maria achtete Stevens nicht; mit rührender Überzeugung beharrte er in den Briefen darauf, daß Heidegger, für den er sich interessierte, Schweizer sei. Stevens versuchte außerdem, in Erfahrung zu bringen, ob der Philosoph auf Deutsch oder Französisch vorlese. 159 Fribourg oder Freiburg - es käme ihm wohl als philiströse Betulichkeit vor, da einen Unterschied machen zu wollen. Wichtig zu wissen, ist, daß die Berge und der Norden als Winterbereiche in Stevens' Symbolwelt die Stellvertreterfunktion für die Sphäre der höheren und philosophischen Intellektualität innehaben. Der Süden galt ihm als tropisches Urwaldgebiet, als Ausbund von Vegetation und Tierleben, wo man am nächsten mit primitiver Natur konfrontiert ist. Dieser Nord-Süd-Dualismus beruhte teilweise auf seiner Biographie. Der Neuengländer Stevens war häufig auf Geschäftsreisen in Florida und auf Kuba und bestaunte hier die fremde Welt des Südländlers. Nicht umsonst kehren exotische Vögel, Palmen und spanische Sprachfetzen in den Gedichten wieder. Die symbolische Aufteilung, die nach dem Muster der transzendentalphilosophischen Dualität aufgebaut ist, geschah jedoch absolut bewußt als Abbild eines theoretischen Prinzips. Der Norden hat somit den Vorteil des Denkens. Stevens verglich in einem Brief vom 1.2.50 an die nun verwitwete Barbara Church die verschneiten Berge in Neuengland mit den Alpen (er spielte darauf an, daß Frau Church wieder in Europa lebte) und stellte fest: „it seems to be easier to think here". 160 Oder in „Meditation Celestial & Terrestrial" aus Ideas of Order (1936) heißt es: „Day after day, throughout the winter, / We hardened ourselves to live by bluest reason / In a world of wind and frost" (CPS 124/4-6). Der sommerliche Süden dagegen hat den Vorzug luxuriöser Weltlichkeit, der Üppigkeit der Natur, und was kann am Sommeranfang, angesichts dieses bunten Füllhorns unsere blasse, „blaue Vernunft" ausrichten? But what are radiant reason and radiant will To warblings early in the hilarious trees Of summer, the drunken mother? (CPS 124/10-12)

Norden/Winter - Süden/Sommer bezeichnen bei Stevens auch die Bereiche von Moral und Amoralität, oder Jenseitigkeit und Diesseitigkeit. Die Sonne symbolisiert damit natürlich in diesem Rahmen die moralinfreie Wärme der Lebensfreude, und schon Bates161 macht darauf aufmerksam, daß Stevens' Bild von den den normalen, den „sonntäglichen" Gottesdienst schmähenden Sonnenanbetern aus „Sunday Morning" (Harmonium) -

159

161

Vgl. die Briefe an Paul Vidal vom 29. Juli 1952 und an Peter H. Lee vom 29. Sept. 1954 (Letters of Wallace Stevens, op. cit., S. 664 u. 758). Ibid., S. 664. Vgl. Milton Bates, Wallace Stevens, op. cit., S. 250.

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Supple and turbulent, a ring of men Shall chant in orgy on a summer morn Their boisterous devotion to the sun, Not as a god, but as a god might be, Naked among them, like a savage source Their chant shall be a chant of paradise, Out of their blood, returning to the sky (CPS 69f./91-97) -

große Ähnlichkeit mit Zarathustras Bild der „heissere[n] Süden" aufweist: - hinaus in ferne Zukünfte, die kein Traum noch sah, in heissere Süden, als je sich Bildner träumten: dorthin, wo Götter tanzend sich aller Kleider schämen (Za „Von alten und neuen Tafeln" 2).

Wichtig ist aber auch die Frage, ob sich hierin noch ein anderer Dualismus versteckt, der ebenfalls ein Nietzschescher ist: der von Sein und Werden. Der Winter ist das Sinnbild der Stasis, die wiederum das Merkmal des unveränderlichen Seins in der Wesensmetaphysik und der christlichen Himmelsvorstellung ist („Is there no change of death in paradise? / Does ripe fruit never fall?" [76-77] fragt das Subjekt von „Sunday Morning"), die aber vom Wandel des Frühlings und Sommers aufgebrochen und verneint wird. Mit denselben Metaphern umschreibt auch Zarathustra den Gegensatz von Sein und Werden: Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thierbändiger: dann lernen auch die Witzigsten Misstrauen; und, wahrlich, nicht nur die Tölpel sprechen dann: „Sollte nicht Alles - stille stehnV [...] dagegen predigt der Thauwind! Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender Stier ist, - ein wüthender Stier, ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber - - bricht Stege\ Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? (Za „Von alten und neuen Tafeln" 8)

Nietzsches ontologische Einsicht lautet, daß die werdende Wirklichkeit nur in Gestalt der ewigen Wiederkehr als Sein gedacht werden könne.162 Der Wandel des Sommers, das Kommen und Gehen des Lebens scheint auch in der Welt Stevens' das Werden des Seins in sich zu bergen. Im zweiten Teil von „Notes Toward a Supreme Fiction", übertitelt „It Must Change", stehen die Zeilen: We say This changes and that changes. Thus the constant Violets, doves, girls, bees and hyancinths Are inconstant objects of inconstant cause In a universe of inconstancy.

[...] It remains, It is a repitition. (CPS 389f./231-240)

162

Vgl. Eckhard Heftrich, Nietzsches Philosophie, op. cit.

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Die Welt „bleibt" nur, indem sie sich in ihrem Wandel der immer gleichen Gestalten „wiederholt". Leggett hat dieses Modell der Opposition von Sein und Werden benutzt, um den enigmatischen letzten Teil von „Peter Quince at the Clavier" (Harmonium) zu erklären, in dem behauptet wird, die Schönheit sei als Idee vergänglich, aber im Fleische ewig.163 Gerade diese scheinbar paradoxe Aussage (fast so vexierend wie Keats' „.Beauty is truth, truth beauty'") gibt der Literaturwissenschaft Rätsel auf, auf die bisher mit meist nur unbefriedigenden Antworten erwidert worden ist. Leggetts Interpretation funktioniert dagegen vortrefflich, denn so kann der Leser nun erkennen, daß laut diesem Passus aus dem Gedicht die Schönheit nur in der immer wiederkehrenden Gestalt des Menschlich-Schönen ewig erhalten bleibt: Beauty is momentary in the mind The fitful tracing of a portal; But in the flesh it is immortal. The body dies; the body's beauty lives. So evenings die, in their green going, A wave, interminably flowing. (CPS 91f./51-56)

Das „unaufhörliche Fließen" der Welle des Werdens garantiert das Ewige des Seins, während das Ideenreich der Wesensmetaphysik für nichtig erklärt wird. Man hat mitunter sogar den Eindruck, als gäbe es bei Stevens nicht nur das Motiv von Sein und Werden, sondern auch das des großen Mittags Zarathustras, des Moments der Eingebung der ewigen Wiederkehr, wenn „die Welt ... vollkommen" wird (Za „Mittags"). Nicht nur in „What We See Is What We Think" {The Auroras of Autumn, 1950) findet man diese Epiphanie des Mittags, aber hier ist sie besonders eindrucksvoll geschildert: At twelve, the disintegration of afternoon Began, the return to phantomerei, if not To phantoms.

Till then, it had been the other way:

One imagined the violet trees but the trees stood green, At twelve, as green as ever they would be. The sky was blue beyond the vaultiest phrase. T w e l v e meant as much as: the end of normal time, Straight up, an elan without harrowing, The imprescriptible zenith (CPS 459/1-10).

Die Zeit ist hier im Augenblick des Mittags aufgehoben (wie das Sein im Werden der Wiederkehr) und das Vertrauen in die Welt wiederhergestellt („ elan without harrowing"). Damit ist die Forderung eingelöst, die Stevens an die Dichtung

163

Vgl. B.J. Leggett, Early Stevens, op. cit., S. 77.

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richtete: Sie bringt ein Offenbarungserlebnis hervor, in dem der Mensch zur Welt zurückfindet. Wiederholungen all dieser Motive, die hier als Nietzsche-Parallelen identifiziert wurden, lassen sich auch aus vielen anderen Gedichten Wallace Stevens' herbeizitieren. Oft sind die Ähnlichkeiten frappant, aber man darf nicht verschweigen, daß die Unsicherheit immer noch bleibt, ob diese Überschneidungen nicht zu einem großen Teil zufallig sein könnten, ob „Description Without Place" nicht als einziges „Nietzsche-Gedicht" im Stevenschen CEuvre zu betrachten wäre. Die Berührungspunkte zwischen Nietzsche und Stevens sind auch ausschließlich thematischer Natur: Es lassen sich z.B. keine stilistischen Gemeinsamkeiten anführen, welche etwaige Nietzsche-Anleihen im Werk Stevens' noch sichtbarer machen würden. Man kann sicherlich wie Leggett den Weg der „Intertextualität" gehen und die Frage nach bewußter Übernahme Nietzschescher Gedanken von seiten Stevens' als unbedeutend abtun, da Prinzipien aus Nietzsches Philosophie fruchtbar angewandt werden können, um eine weitere Lesart dieser Gedichte zu erschließen, ohne daß dieselben Prinzipien vom Dichter in sein Werk aufgenommen worden zu sein brauchen. Doch wollen wir hier lieber die Vorsicht walten und die Frage offen bleiben lassen. Einiges weiß man immerhin mit Sicherheit, und das muß reichen: Stevens kannte die Philosophie Nietzsches, ließ Nietzsche als Figur in einem immerhin zentralen Gedicht auftreten, und schrieb Gedichte, deren gedanklicher Gehalt erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Denken Nietzsches aufweist. Der Einfluß Nietzsches auf Stevens kann als sehr wahrscheinlich gelten, aber die einwandfreie Feststellung desselben bleibt dennoch spekulativ. Man kann nicht ignorieren, daß Stevens in seinen Briefen die Nähe zu Nietzsche dementierte und z.B. in „A Collect of Philosophy" über Nietzsche verlautbarte: When I say that writing in a poetic way is not the same thing as having ideas that are inherently poetic concepts, I mean that the formidable poetry of Nietzsche, for example, ultimately leaves us with the formidable poetry of Nietzsche and little more. 164

Vielleicht ist es doch, um abermals mit Davenport zu reden, nur der „philosophic spirit" Stevens', den man in diesen Gedichten merkt, und nicht der Gedankengang irgendeines spezifischen Philosophen. Über seine Einflüsse gab Stevens nicht sonderlich viel Auskunft. Daß historische Persönlichkeiten überhaupt in seinen Gedichten genannt werden, ist kein allzu häufiges Ereignis. Zuletzt bewahrte er sehr effektiv seine ihm so teure private Innerlichkeit. Wenn allerdings „Nietzsche in Basel" die Welt mit seiner Fiktion vergoldet, muß man annehmen, daß Stevens mit anerkennendem Blick zuschaute, und diese Wahlverschwandschaft wie sovieles andere in seinem Werk aus nur ihm bekannten Gründen verschwieg.

144

Wallace Stevens, Opus Posthumous, op. cit., S. 187.

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Die Betrachtung aller hier behandelten Autoren von London bis Stevens hat gezeigt, daß es im Gegensatz zur populären und essayistischen Rezeption falsch wäre, von einer erkennbaren Entwicklungslinie des „Nietzscheanismus" in der amerikanischen Literatur im strengen Sinne zu sprechen. Das Werk eines jeden dieser Künstler bezeugt eine bestimmte Art von Nietzsche-Aufnahme, ob als Philosoph des Materialismus, der Glaubenserneuerung oder der perspektivischen Weitfiktion. Es gab jedoch keine „Schulen" oder Bünde der amerikanischen Nietzsche-Literatur, noch gab es die polemische, politisierte Inanspruchnahme von rechts und links oder die Progressionslinie von langsam ansteigendem, gipfelndem und abflauendem Interesse, die für andere Bereiche galt. Das hatte die literarische Rezeption mit der philosophischen gemein. Es wäre aber auch falsch, den gleichen literarischen Einschlag der Philosophie Nietzsches in Amerika zu erwarten, der in der deutschen Literatur zu verzeichnen ist. Es ist schon an sich bedeutsam genug, daß so wichtige Autoren wie London, Dreiser, O'Neill, Jeffers und Stevens sich mit Nietzsche auseinandersetzten. Damit zeigt sich außerdem, daß in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts schließlich kein öffentlicher Bereich (von den bildenden Künsten abgesehen) von der Nietzsche-Diskussion unberührt blieb, und solche Wirkung ist einem Philosophen nur selten beschieden. Daß eine Betrachtung über die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1950 bis 2 0 0 0 noch viel breiter angelegt sein müßte als die vorliegende Arbeit, unterstreicht nur die außergewöhnliche Bedeutung, die Werk und Person Nietzsches auch international zuteilgeworden ist.

Siglen

Die Werke Friedrich Nietzsches werden nach der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebenen Kritischen Studienausgabe (München, Berlin, New York, 198D) zitiert. Um dem Leser die Auffindung angeführter Stellen in anderen Ausgalen zu erleichtern, wird im Text unter Gebrauch der in der Forschung mittlerweife gängigen Siglen, zusammen mit der jeweiligen Aphorismen- bzw. KapitelzahJ, zitiert. Folgende Siglen werden in diesem Text benutzt:

GT HL SE WB MA VM WS Μ FW Za JGB GM WA GD NW EH

Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Schopenhauer als Erzieher Richard Wagner in Bayreuth Menschliches, Allzumenschliches Vermischte Meinungen und Sprüche Der Wanderer und sein Schatten Morgenröthe Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzendämmerung Nietzsche contra Wagner Ecce Homo

Nietzschis Maichlaß wird als KSA, zusammen mit Bandzahl und der in der KSA verwendttei Zuordnung der Hefte, zitiert.

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Personenregister Deussen, Paul 240 Dewey, John 136 Dickinson, Emily 379 Divus, Andreas 379 Dodge, Mabel 333 Doggett, Frank Stevens' Poetry of Thought 406 Dolson, Grace Neal 15, 263 The Philosophy of Friedrich Nietzsche 248-251 Doolittle, Hilda (H.D.) 379 Dos Passos, John 307 Dreiser, Theodore 331-347 Change 335

13,

Life, Art and America 335 Personality 335 The American Financier 335 The Essential Tragedy of Life 331, 336 An American Tragedy 331 Dreiser Looks at Russia 342 The „Genius" 332, 342-347 The Financier 332, 336-339 The Stoic 332, 342 The Titan 332, 339-342 Drey, Arthur 378 Drimmer, Marvin VIII, 127 Nietzsche in American Thought 6 Durant, Will 136, 159-164, 181. 192 ff. 203, 205 Adventures in Genius 192, 194 Philosophy and the Social Problem 160-164 The Mansions of Philosophy 266 The Story of Civilization 159 The Story of Philosophy 159, 170, 192 f, 266 Eastman, Max 72, 79, 131-134, 189 ff, 155, 196, 203, 205, 331, 334, 347 Art and the Life of Action 190 Heroes I Have Known 191,194 The Literary Mind 190 Understanding Germany 131 -134 Eckstein, Walter 221 f Edman, Irwin 220, 239 Eliot, T.S. 164, 379 f The Waste Land 380 Emerson, Ralph Waldo 1 9 , 8 1 , 3 7 9 Erasmus 396 f Euripides 302 Everett, Charles 34, 39, 41, 66 Faulkner. William 307

431

Fichte, Johann Gottlieb 218, 244 Fletcher, John Gould 381-384 Branches of Adam 382 Life Is My Song 382 Förster-Nietzsche, Elisabeth 14, 37, 47, 49, 53, 58, 117 , 206, 248 , 297 , 397 Das Leben Friedrich Nietzsches 13 Foster, George Burman Friedrich Nietzsche 260-266 The Finality of the Christian Religion 260 The Function of Religion in Man's Struggle for Existence 262 Foulis, T.N. 4 Fouriers, Charles 70 Freud. Sigmund 121, 155, 207. 357 Jenseits des Lustprinzips 357 Totem und Tabu 357 Frick, Henry Clay 81 Friedeil, Egon 9 Galton, Francis 22 Gelb, Arthur u. Barbara O'Neill 350 George, Henry 70 George, Stefan 297 Der Siebente Ring 378 Giddings, Franklin Henry 63-68, 86, 107 Democracy and Empire 64-68 Gladden, Washington Who Wrote the Bible? 39 Goethe, Johann Wolfgang von 113, 132, 205, 246 Gold, Mike 189 Goldman, Emma 80-88, 106, 334 Mother Earth 81 Grant, Madison 63 The Passing of the Great Race 60 Gutmann, James 282 Gutmann, Paul 219 Hake, Alfred 10 Halfmanns, Ulrich Eugene O'Neill: Comments on the Drama and the Theater 348 Hall, G. Stanley 85, 121, 217 Harte, Bret 307 Härtle, Heinrich 297 Hauptmann, Gerhart 307 Hazel ton, Roger 202, 219 Hecht, Ben 335 Heftrich, Eckhard 293 Nietzsches Philosophie 276

432

Personenregister

Hegel, G.W.F. 70, 218, 234, 244. 283 f, 286, 290, 303 Heidegger, Martin 414 Heisenberg, Wemer 209 Helmholtz. Hermann von 226 Hester, R. 201 Hillebrand, Bruno 305 Hitler, Adolf 184, 213, 216, 220 f Hoffmann, Frederick J. 207 Hofmannsthal, Hugo von Ein Brief 346 Hofstadter, Richard 54, 58, 115 Social Darwinism in American Thought 22 Hölderlin, Friedrich 206 Holz, Arno 307 Horkheimer, Max 222 Horstmann, Ulrich 385 Howe, Irving 70 Huneker, James 88-100, 182 Egoists 96 ff, 100 Mezzotints in Modem Music 99 Nietzsche the Rhapsodist 94 Overtones 93, 98 The Pathos of Distance 94 f, 99 Huszar, George de 201 Ibsen, Henrik 349 Ingersoll, Roben 39 Itschner, Hermann Nietzsche-Worte: Weggenossen in grosser Zeit 118 Jacobi, Joseph 124 f, 217 James, William 10, 209, 212, 225-234, 239, 248, 262 Does Consciousness Exist? 228 Pragmatism 234 Reflex Action and Theism 228 The Moral Equivalent of War 231 The Social Value of the College-Bred 231 The Varieties of Religious Experience 227 The Will to Believe 233 Jaspers, Karl 199, 273, 294 Nietzsche 274, 282 Jeffers, Robinson 384-392 Birds and Fishes 386 Hurt Hawks 385 f At the Birth of an Age 388 Tamar 388 The Women at Point Sur 387, 389-392 Jefferson, Thomas 19 Jesus 32 f, 35, 296, 372, 376

Jovanovski, Thomas 302 Jung, C.G. 357, 360 Über die Psychologie des Unbewußten 357 Kaiser, Georg 348 Kant, Immanuel 111, 132, 218, 230, 244, 265, 399, 401 Kaufmann, Leroy 308, 310, 317, 323, 329, 355, 357 f, 361 Kaufmann, Walter 57,281-305 Nietzsche. P h i l o s o p h e r , Psychologist, Antichrist IX, 223, 281-305 The Portable Nietzsche Reader 223 Kazin, Alfred 89, 308 Key, Ellen 84 Kiekegaard, Sören 273 Klages, Ludwig 280 Klenze, Camillo von 7 Klinger. Max 220 Kornfeld, Paul 348 Kropotkin. Peter 80 Krutch, Joseph Wood 195-198 The Modern Temper 195-198 Was Europe a Success? 195 Lagarde, Paul 184 Langbehn, Julius 58, 184 Lange, Friedrich 212 Laotze 379 Leggett, B.J. 396, 399, 406 Early Stevens. The Nietzschean Intertext 393 Lenin, Wladimir Iljitsch 131 Leonard, J.S. u. C.E. Wharton The Fluent Mundo: Wallace Stevens 393 Lessing, Gotthold Ephraim Nathan der Weise (Ringparabel) 368 Levy, Oscar 4 f, 7 ff, 122 f, 397 Lewis, R.W.B. The American Adam 19 Lippmann, Walter 136, 155-159, 161. 163, 165, 189, 191 f, 196, 203 A Preface to Politics 155-159 Drift and Mastery 155-159 Essays in the Public Philosophy 191, 194 London, Charmian 3 1 5 , 3 1 9 , 329 London, Jack 306-333, 345 f, 350 How I Became a Socialist 311 Martin Eden 326-331 Revolution 312 The Call of the Wild 315 The Iron Heel 322-326 The Sea Wolf 315-322

Personenregister London,Joan 314 London, Kurt Backgrounds of Conflict 217 f Longfellow, Henry Wadsworth 379 Lotze, Rudolf 234, 240 Löwith, Karl 221 Lukian 294

433

Nathan, George Jean 1 0 1 , 1 8 6 Nehamas, Alexander 281 Nordau, Max 10, 12, 14, 34, 47, 53, 9 9 , 248 Entartung 9, 13, 99 Nonis, Frank 307 Notestein, Wallace Conquest and Kultur 122

Luther. Martin 124, 218, 372 Mann. Mann, Mann, Mann,

O'Connor, Richard 308 O'Neill, Eugene 332, 347-378 Lazarus Laughed 372-378 Marco Millions 367-372 The Empörer Jones 355-358 The Great God Brown 3 4 8 , 3 6 1 - 3 6 7 The Hairy Ape 358-361 O'Neill, James 347 Oehler, Richard 58, 297

Erika 174, 187 Klaus 174, 187 Paul de 281 Thomas 1 1 8 , 3 4 6

Betrachtungen eines Unpolitischen Marx, Karl 70. 72, 245 Mather, Cotton 69 Mathias, George 90 McGovem, William 217 f

184

From Luther to Hitler 217 Mead, George Herbert 202 Mehring, Franz 68 Mencken, H.L. 88, 100-115, 122, 130, 133, 136, 138, 145, 148, 152, 158 f, 164, 166, 173-187, 201, 204, 332-335, 339 f, 382 Notes on Democracy 114, 177 Prejudices I-VI 177-185 Smart Set 101 The American Credo 177, 186 The American Mercury 1 0 1 , 1 7 4 The Philosophy of Friedrich Nietzsche 115, 177, 251 The Smart Set 174, 332 Merriam, Charles The New Democracy Despotism 204 Miller, Henry 306 Miller, Periy

and

the

102-

New

The New England Mind 33 Moeller van den Bruck. Arthur 184 Montinari, Mazzino 223 Moore, Marianne 379, 392 More, Paul Elmer 118, 171, 183, 195, 266 Nietzsche 251 f Shelburne Essays 171 ff Morgan, George Allen 2 7 0 - 2 8 1 , 2 9 5 What Nietzsche Means 270-281 Morrris, Charles 215 Müller, Kurt 348, 357 Mumford, Lewis 321 Mussolini, Benito 380 Napoleon 30, 73, 205

Pater, Walter 28 Patton, George 102 Paulsen, Friedrich 240 Paulus 32, 79, 372 f Peirce, Charles Sanders 209, 225, 228 f Perloff, Maijorie 393 Petre, M . D . 3 0 . 3 7 Petzold, Gertrud von VIII Nietzsche in englisch-amerikanischer Beurteilung 6 Peukert, Joseph 81 Piaton 176, 265, 302, 374 Kriton 303 Poe, Edgar Allan 3 1 7 , 3 7 9 Poincare, Henri 212 Pollard, Percival 89 Pound, Ezra 379 f, 392 Cantos 379 f Hugh Selwyn Mauberley 380 Proctor, Richard A. 317 Rand, Ayn Atlas Shrugged 307 The Fountainhead 307 Ransom, John Crowe 381 Rascoe, Burton 334 Redbeard, Ragnar (Arthur Desmond) Might is Right, the Survival of the Fittest 43 Reed, John 333 f, 347 Ten Days That Shook The World 131 Reichert, Herbert VIII Renan, Ernest 152 Richter, Raoul Nietzsche. Sein Leben und Werk 13

434

Personenregister

Riehl. Alois 2 2 f, 4 7

Stace, W . T .

218, 226

Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der

Stalin, Josef

188

Denker

Sterling, George 3 1 6 , 3 2 8

13

Roosevelt. Franklin Delano Roosevelt, Theodore

Stevens, Wallace 3 7 7 , 3 9 2 - 4 1 8

182, 2 0 4

A Collect of Philosophy 3 9 8 , 4 0 4 , 4 1 2 , 4 1 7

122, 182

The Strenuous Life

A High-Toned Old Christian Woman

60

Rousseau, Jean-Jacques 2 8 , 168 ff, 173

A Thought Revolved

Royce, Josiah 2 3 4 - 2 3 9 , 2 4 8 , 2 5 5

Anecdote o f the J a r

400

Botanist on Alp (No. 1) 4 1 3

Nietzsche 2 3 8 f The Hope o f the Great Community The Philosophy o f Loyalty

236

235-239

The Religious Aspect of Philosophy Ruskin, John

234

152

Description Without Place

Examination of the Hero in a Time of W a r 404

2 9 , 130, 2 5 4 - 2 6 0 , 2 6 3 , 2 6 5 f,

Anarchy or Government?

255

89

Santayana, George

414

Notes Toward a Supreme Fiction

397

Peter Quince at the Clavier 4 1 6

139, 2 3 9 - 2 4 8 , 381

Egotism in German Philosophy

239, 244-

248 Reason in Society

The Surprises o f the Superhuman 4 0 8

48

Two or Three Ideas Stimer, Max

VIII

Schopenhauer, Arthur

27, 30, 240, 242, 248,

409

2 8 , 7 2 , 7 8 , 8 1 , 97 f, 2 4 4 , 3 4 9 ,

384 Stöcker, Helene 8 4 . 8 6 ff

250, 263, 283, 315, 335, 370 Schreiner, Olive

407

409

T h e Noble Rider and the Sound of Words 3 9 5

The Sense of Beauty 2 4 0 , 2 4 2 Schlechte, Karl

Sunday Morning 4 0 8 , 4 1 4 The Latest Freed Man T h e Leader

241,243

The Last Puritan 247

Stoddard. Lothrop

84

Shakespeare, William Shaw, George Bernard

Revolt Against Civilization

318

Conquest und Kultur

O'Neil: Son and Playwright Sherman, Stuart Sinclair, Andrew

Strindberg, August 3 4 8 Stiunksky, Anna

166

Swinburne, Charles

Sinclair, Upton 307 The Jungle

339 VIII

Taine, Hippolyte Tate, Allen

196

339

381

Tennyson, Alfred Lord Thatcher, David

Spencer, Herbert 6 7 , 3 1 0 , 317 A System o f Synthetic Philosophy 6 3 , 307 Spengler, Oswald

63

329

Taylor, Frederick Winslow

299

Sokrates 2 6 9 , 2 8 5 , 3 0 0 - 3 0 4 , 3 9 6 f

Study of Sociology

313

Sumner, William Graham

308

Snider, Nancy

122

Strawn-Hamilton, Frank 3 1 4 , 3 1 6 , 328

349

130, 183, 195

The Genius of America

Waiden

195

59

317

VIII

Thompson, Dorothy

221

Thoreau, Henry David

63

19, 81

28

Tille, Alexander 2 f, 3, 5, 7 ff, 61

Spinoza, B a r u c h d e 2 6 5 , 381

Von

Spitz, David Patterns of Anti-Democratic Thought

61

Stoll, Elmer

101, 105, 337

Sheaffer, Louis

Sokel, Walter

405

Meditation Celestial & Terrestrial

Paisant Chronicle 4 0 4

340

Snow, C . P .

405

On the Road Home 4 0 6

Sandberg, Carl

Schiedt, R . C .

404

415

Landscape With Boat

Nietzsche the Thinker 2 5 4 - 2 6 0

Chicago

It Must Change Jumbo

268, 294

Saltus, Edgar

3 9 4 , 3 9 8 f, 4 0 2 ,

410-417

Idiom of the Hero Salter, William

408

408

204

Darwin

bis

Entwicklungsethik 3

Nietzsche.

Ein

Buch

Personenregister Tillich, Paul 221 Treitschke, Heinrich von 118 f, 129 Türck, Hermann 11 Vaihinger, Hans 195. 262, 406 Van Dören, Mark The Invitation to Learning 220 Wagner, Richard 99, 193, 210, 212, 297, 300 Walcutt, Charles 315, 318, 342 Walling, William English 71-80, 82, 84, 98, 106, 153, 313, 331, 334, 347 Socialism As It Is 71 The Larger Aspects of Socialism 71-80 Warbeke, John 48, 226, 229 Warren, Robert Penn 381 Watson, Walter 282 Whitman, Walt 20, 28, 41, 81, 378 f

Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 269 Wilde, Oscar 300 Willcox, Louise Collier 8 Williams, William Carlos 379, 392, 401 Wilson, Woodrow 122 Winckelmann, Johann 257 Wittgenstein, Ludwig 202 Wittke, Carl Frederick Democracy is Different 204 Wood, James Nelson 176 Democracy and the Will to Power 176 Wright, Willard Huntington 174 f What Nietzsche Taught 175 Wundt, Wilhelm 1 2 1 , 2 2 6 , 2 3 4 Zimmern, Helen 4 Zöllner, Johann 206

Sachregister Agon, Prinzip des 110 Agrarian movement 382 Altruismus 79 Amor fati 111, 125 f, 198, 201, 263, 276 f, 292 f, 295, 313, 331 f, 343, 353, 376 ff, 411 Anarchismus 1, 17, 38, 40-46, 80, 82 f, 85-88, 135, 192 Antidemokratismus 22, 148, 184, 341 Antigermanismus Nietzsches 268 Antikommunismus 209 Antimechanismus 208, 210, 212 Antinationalismus Nietzsches 2 6 8 Antipuritanismus 139, 149 Antirationalismus Nietzsches 195. 294, 301 Antisemitismus 193, 210, 215, 297, 300 Antiviktorianismus 28 Antiwissenschaftlichkeit 197, 208 f Aphorismus als phil. Genre 4 6 f Apollinische, das 109 f, 145, 352, 362, 371, 373 Aristoi 61, 67, 130, 163, 204 Aristokratentum, antidemokratisches 348 Aristokratie, demokratische 204 Aristokratie, intellektuelle 162 Aristokratie, natürliche 66, 176, 180 Aristokratie, wahre 108 Aristokratismus 1, 106, 141, 159, 165, 175, 230, 243, 269, 278, 329 Armory Show 89 Askese 27, 32, 36, 83, 142, 362, 365, 369 Asket, der 298, 406 f Ästhetizismus 9 Ataraxia 242 Atheismus 34, 111, 236, 260, 273 Autarkie 29, 125, 178 f, 205, 290 f, 338

Cäsarismus 379 Chauvinismus, nationaler 136, 147 Chiliasmus 69 Christentum 17, 31 f, 35-38, 79, 85, 104, 132, 141, 161, 218, 256, 260, 264, 270, 302, 352, 357, 361, 366, 368 f, 371, 383, 390, 392, 410 f, 414 Creel Committee 122

Belgien-Feldzug 119 Biologismus 228, 232, 258 Blonde Bestie 13, 53, 113, 119, 299 f, 309, 311, 329, 331 Börsenkrach, amerikanischer 187 Brook Farm 69 Buddhismus 368, 371

Eugenik 4, 21 ff, 60, 64, 214, 294, 311 Europäer, guter 147 f Evolution 18 f, 112, 172 Ewige Wiederkehr des Gleichen 51, 112, 176, 197, 201, 208, 221 f, 277, 305, 321, 342, 352, 361, 367, 371 f, 374, 388, 398 Existenzphilosophie Nietzsche-Interpretation

Carlylismus 205

199, 273 f, 295 Expressionismus 378

Darwinismus 1 7 2 , 2 1 2 , 2 6 3 , 3 1 1 , 3 4 7 Decadence 9 f, 55. 64 f, 77, 89, 99, 123, 161, 300, 379 Demokratie 22 ff, 141, 162, 178, 203, 221, 298 Demokratiekritik 23 f. 61, 106, 157, 173, 176, 298 Determinismus 332 Deutschnationalismus Wagners 210 Deutschtum 44, 122, 182 Dialektik, monistische 287 Diktatur, nazistische 266 Dilletantismus Nietzsches 45-48 Ding-an-Sich 242 Dionysiker, der 358, 383 Dionysikertum 365 Dionysische, das 205, 352, 357, 362 ff, 371 Dionysos-Kult 373 Dogmatismus, ontologischer 272 Edelmensch 328 Egalitarismus 166, 172. 203 f Egoismus 92, 97, 244 Ekstase, dionysische 257 Erkenntnis, nihilistische 264 Erkenntnis, tragische 361 Etatismus 218 Eudämonismus 180

Sachregister Faschismus 158, 204, 213 Faschistische Nietzsche-Interpretation 213-219 Fatalismus, heroischer 263 Ferrer School 160 Fin de sifccle 9, 89, 346 Formwille, apollinischer 362 Frauenemanzipation 84 Freudianismus 85, 207 „Führerprinzip" 214, 216, 218 Funktionalismus, religiöser 262 Gefahr Nietzsches 16 Geist, freier 12, 78, 111, 201, 212, 222, 238, 265, 268, 276, 278 f, 284. 290, 292. 297 Genteel tradition 141 Gilded Age 89 Griechentum 144, 269 Harvard University 165, 171 Hay market-Aufstand 4 1 , 4 4 Herdenmensch 81, 113 Herdenmentalität 105, 177, 329 Herrenmensch 61, 337 Herrenmoral 191 Herrennatur 402 Herrenrecht 387 Hitler-Stalin-Pakt 204 Humanism, New 164-174 Humanists, New 135 Hyperanthropos 294 Iconoclasm 38, 65, 98, 156 Imagismus 379, 381 Immoralismus 109, 120, 157, 280, 294, 320 Immoralismus Nietzsches 2 4 5 , 2 5 6 , 2 7 2 Individualismus 19, 97, 154, 237, 239 Individualismus, heroischer 243, 327 Individuation, apollinische 363 Individuum, großes 312 International Workers of the World 70 Irrationalismus 166, 195, 251, 318, 357, 360 Irrationalismus Nietzsches 270 Ja-Sagen 148, 293 Ja-Sager 328, 373 Kommunismus 189 ff, 194 Kommunistische Partei Amerikas 342 Krankheit 49-53, 99 Krankheit Nietzsches 123, 213 Kriegsschuld Nietzsches 116-126, 213-219 Kulturpessimismus 195

437

League of American Writers 189 Lebensbejahung 2 0 1 , 2 7 6 Lebensphilosophie 316 Liberalismus 135, 141, 204 f Literary Radicals 189 Lost generation 89, 186 Loyalitätsphilosopie Royce' 236-239 Macht-Rangordnung 287 Malcontent 140 f Marxismus 188 f, 192, 204, 208, 311 Maske 354, 363 f, 366 f Materialismus 1 7 2 , 2 0 1 , 2 0 9 , 3 0 7 , 3 5 0 Mechanismus 210 f, 261, 307 Meliorismus 232 Menschennatur 26-31, 274 Merkantilismus 179 Milieutheorie 331 Militarismus 137 Mitleid 27, 82, 168, 172, 173, 201, 245, 296, 329 Monismus, dialektischer 287, 291 Moral, altruistische 256 Moral, christliche 105, 159 Moral, vitalistische 256 Moralgeschichte 12 Moralismus 294, 302 Moralkritik 12,225 Morallosigkeit 338 Moralrelativismus 339 Napoleonismus 404 National Security League 122 Nationalismus 128, 130, 134, 148 , 210, 214, 220 Nationalsozialismus 214 ff, 219, 268, 269, 297 Natur, verschwenderische 386 Naturalismus 261, 307, 331, 340 Naturrecht 80 Neurasthenie 9 New School for Social Research 195, 222 Nietzsche-Archiv 7 Nihilismus 111, 197, 200, 232, 278, 295 ff Nominalismus 228 Odyssee, die 379 Oktoberrevolution 70, 131 Overman 8 Paganism, New 28 Pangermanismus Wagners 297 Pathos der Distanz 94 f

438

Sachregister

Paulinismus 3 1 , 2 1 9 Perspektivismus 111 f, 187, 209, 211, 230, 253, 280. 284. 291-294, 346. 351, 407 Pessimismus 27. 199, 201, 264 f, 276, 353. 374 Philanthropie 24, 65, 201 Plagiat Nietzsches 45-48 Piatonismus 269, 302, 374 Popularisierung Nietzsches 88-115 Populismus 60 Positivismus 59, 253, 262 Pragmatismus 111, 202, 225-234. 250 Priester, asketischer 139, 227, 337 Principium individuationis 95, 239, 257 Protestantismus 243, 245 Puritanismus 141 f. 146, 149, 166. 171, 195, 336 Pythagoreisches Zeitrad 51, 1 1 2 , 3 6 1 Radicalism, Literary 135-164 Rangordnung 67, 148, 278 „Rassenhygiene" 215, 267 Rassenideologie, nazistische 213 Rausch, dionysischer 362 Realismus 228 Reformation, lutherische 217 Relativismus 250, 275 Relativitätstheorie 209 Renaissance 125. 205 Ressentiment 177, 191, 289, 296, 304, 312, 325, 327, 337 f, 370 f, 375 Ressentimentmensch 326 f, 338 Ressentimentmoral 332 Revolution, französische 170 Romantizismus 244 Rückkehr zur Natur 28 f Seinserhellung 199, 274 Selbstüberwindung 29, 125, 280, 288, 294 Semiotik 202 Sexualität 83 Sexualpolitik 85 Sklavenmoral 107, 192, 270, 277, 295, 328. 342 Sklavennatur 402 Socialist Party of America 70, 309, 312 Sowjetunion 188 f, 342 Sozialdarwinismus 3 f, 25, 58-68, 135 Sozialethik 24 ff, 60, 68, 135, 300, 310 f, 342 Sozialismus 71-80 Spanisch-amerikanischer Krieg 67 Spencerismus 347

Stil Nietzsches 48 Sublimierung 29, 143-148, 156 f, 280, 288, 301 Superman 8 Theomanie Nietzsches 3 5 , 3 7 Timokratie 243 Tod Gottes 265 Totalitarismus 217 ff Tragödie, griechische 198, 303, 351, 355, 363 Transzendentalismus 19. 27, 69 Trost, metaphysischer 353, 355, 361

, 353,

Überhistorische, das 76. 205 Übermensch 18 f, 21 f. 53, 56, 73, 153, 175, 201, 205, 207, 214, 225, 237, 239, 253, 283, 294 f, 305, 309, 316, 334, 340, 342, 360, 384, 405 Übersetzungen von Nietzsches Werken 2-9 Umwertung der Werte 79, 82, 86, 125, 140, 266, 278, 305 Unwissenschaftlichkeit Nietzsches 51 Utilitarismus 59, 179 Virtü 125 Vita activa 151 Vita contemplativa 151 Vitalismus 199, 205 f. 208, 276, 295, 314, 347, 350 Voluntarismus 166 Wagnerismus 9 Weimarer Republik 188 Weltkrieg, erster 116-134 Weltkrieg, zweiter 213-224 Werterelativismus VII, 112 Wilhelminisches Reich 1 7 , 1 1 6 Wille zur Macht 26-31, 53, 67, 120, 138, 143, 161, 166, 173, 179, 211, 225, 258, 264, 270 f, 277 f, 280 f, 283, 287 ff, 291, 295, 305, 390 Willensmetaphysik 27 Zivilisationskritik Züchtung 62

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Christian Koecke

Zeit des Ressentiments, Zeit der Erlösung Nietzsches Typologie temporaler Interpretation und ihre Aufhebung in der Zeit 24 x 17 cm. XII, 242 Seiten. 1994. Ganzleinen. ISBN 3-11-014066-7 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 29)

Studie zu der Stellung von Zeit und Interpretation im Werk Nietzsches. Nietzsche hat keine Theorie der Zeit, sondern ihn beschäftigt in erster Linie, wie Zeit interpretiert werden muß. So entwickelt er eine Typologie der Zeitinterpretation, mit der sich der Erste Teil des Buchs befaßt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Begriff des Ressentiments entgegengebracht, der in der Forschung bisher häufig eindimensional behandelt worden ist. In einem nächsten Schritt wird dann deutlich, daß für Nietzsche die Interpretationen von Zeit selbst wieder der Zeit unterworfen sind. Der Zweite Teil befaßt sich mit der philosophischen, historischen, aber auch religiösen Dimension dieses Zeitverständnisses.

Paul Bishop

The Dionysian Seif C. G. Jung's Reception of Friedrich Nietzsche 24 x 17 cm. XVI, 411 Seiten. 1995. Ganzleinen. ISBN 3-11-014709-2 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 30)

Chronologische Darstellung der Aufnahme von Themen und Gedanken Nietzsches in C. G. Jungs Werken. Aus dem Inhalt: Jung's reception of Nietzsche. The letters and the autobiography — Jung's early reception of Nietzsche in his psychoanalytic writings (1902 — 1917) — Jung's reception of Nietzsche in Psychologische Typen — Jung's reception of Nietzsche in his writings 1922—1934 — Jung's reception of Nietzsche in Three Eranos Lectures — The early seminars (1925-1934) — Jung's seminar on Nietzsche (1934—1939) — Jung's reception of Nietzsche in his writings 1935 — 1945 — The mystic Dionysos. Nietzsche, Jung and the death of God.

Walter de Gruyter

W DE G

Berlin · New York

Carol Diethe

Nietzsche's Women: Beyond the Whip 24 X 17 cm. XIV, 177 Seiten. Mit 20 Abbildungen. 1996. Ganzleinen. I S B N 3-11-014819-6 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 31)

Der Titel verbindet die Anspielung auf Nietzsches Schrift , Jenseits von Gut und Böse" mit dem bekannten Zarathustra-Zitat: „Du gehst Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" Eine Untersuchung über die Bedeutung Nietzsches für prominente Frauen seiner Generation (in englischer Sprache). Das Buch untersucht, weshalb so viele prominente Frauen aus Nietzsches Generation, die alle das berühmte Zarathustra-Zitat „Du gehst Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" kannten, den Einfluß Nietzsches auf ihr Leben und Werk trotzdem dankbar anerkannten. Merkwürdig wenige Frauen betrachteten ihn als „Weiberfeind".

Andrea Orsucci

Orient — Okzident Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild 24 X 17 cm. XVI, 406 Seiten. 1996. Ganzleinen. I S B N 3-11-014607-X (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 32)

Aus d e m Inhalt: Philologische Lektüren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches" — Über die „fremden Griechen" — Ethnologie und Religionswissenschaft in Nietzsches Schriften der achtziger Jahre — Nietzsche und der Antisemitismus seiner Zeit.

John Elbert Wilson

Schelling und Nietzsche Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches 4 X 1 7 cm. XI, 400 Seiten. 1996. Ganzleinen. I S B N 3-11-015128-6 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 33)

Eine Untersuchung über Nietzsche im Vergleich mit dem deutschen Philosophen F. W J. Schelling (1775-1854). Aus d e m Inhalt: Schellings Prinzipienlehre und „Methode" - Prinzipienlehre bei Nietzsche: Aus Nietzsches Basler Vorlesungen über die vorplatonische und platonische Philosophie — Zusammenfassende Darstellung des Mythologiebegriffs beim späten Schelling — Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen — Problembereiche in der „Geburt der Tragödie (1872) — Andere Schriften Nietzsches aus dieser Zeit — „David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller (1873) - Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) — „Schopenhauer als Erzieher" (1874) - „Richard Wagner in Bayreuth" (1876) - „Wir Philologen" (Notizen aus dem Jahre 1875) — Ein Blick auf spätere Schriften — Ein Blick in die Jugendzeit Nietzsches (1862-1868).

Walter de Gruyter

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Berlin · New York