Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H. L. A. Harts: Ein kritischer Vergleich [1 ed.] 9783428476381, 9783428076383

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Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H. L. A. Harts: Ein kritischer Vergleich [1 ed.]
 9783428476381, 9783428076383

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MICHAEL PAWLIK

Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H . L . A . Harts

Schriften zur Rechtstheorie Heft 154

Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H.L.A. Harts Ein kritischer Vergleich

Von Michael Pawlik

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Pawlik, Michael: Die reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H. L. A. Harts : ein kritischer Vergleich / von Michael Pawlik. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 154) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07638-9 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07638-9

Vorwort Das vorliegende Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung einer Arbeit dar, die im Sommersemester 1992 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen wurde. Die Anfertigung der Arbeit wurde von Herrn Professor Dr. Günther Jakobs betreut, dem ich für die vielfältigen Anregungen und Einsichten, die er mir vermittelt hat, zu großem Dank verpflichtet bin. Herr Professor Dr. Urs Kindhäuser hat als Zweitgutachter meinen Überlegungen viel Toleranz und Langmut entgegengebracht. Wesentliche Vorarbeiten zu dieser Arbeit konnte ich während meiner Studienzeit am Magdalene College, Cambridge, leisten. Dem College sowie den Institutionen, die mir den Aufenthalt in Cambridge ermöglicht haben - dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Studienstiftung des deutschen Volkes - verdanke ich den schönsten und, wie mir scheint, auch fruchtbarsten Teil meines Studiums. Ich widme das Buch meinen Eltern. Der Dank, den ich ihnen schulde, liegt jenseits dessen, was sich mit Büchern ausgleichen und mit Worten schicklicherweise zum Ausdruck bringen läßt.

Düsseldorf, Juli 1992 Michael Pawlik

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 3

1. Kapitel Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts: Begriffsmerkmale des Rechts und Aufgabe der Rechtstheorie A.

Die Positivität des Rechts I.

Die Auffassung Kelsens: Positivismus als einzig wissenschaftliche Weise der Rechtsbetrachtung

II. Die Argumente Harts: Zweckmäßigkeit des positivistischen Rechtsbegriffs 1.

III.

Disziplinares Argument

19 21 22

Moralisch-pädagogisches Argument

23

3.

Ermöglichung größerer begrifflicher Klarheit

24

Tatsächliche Verbindungen von Recht und Moral

27

1.

Die Position Kelsens: Faktische Friedensfunktion des Rechts

28

2.

Die Ausführungen Harts: Verhaltenslenkung qua Regel; die Lehre Voraussetzungen erfolgreicher sozialer Kontrolle durch Regeln

30

b)

Der Mindestgehalt des Naturrechts (1) Herleitung des naturrechtlichen Mindestgehalts aus dem Überlebenswunsch des einzelnen (2) Mindestumfang der Rechtsgewährleistungen in einer funktionierenden Gesellschaft

30

Recht als Sollensordnung; Umfang der inhaltlichen Vorgaben an die Rechtsanwendung durch Rechtsvorschriften 1. Das Recht als Sollensordnung

2.

30

a)

Die Normativität des Rechts I.

17

2.

vom "minimum content of natural law"

B.

^

31 32 35

36 36

a)

Ausgangspunkt Kelsens und Harts: Sichtweise der Rechtsdogmatik

36

b)

Abgrenzung zum Rechtsrealismus

37

(1)

37

Position des Rechtsrealismus

(2) Beziehung der Lehren Kelsens und Harts zum Rechtsrealismus .... Inhaltliche Vorgaben an die Rechtsanwendung durch die Rechtsvorschriften formelle Gerechtigkeit a) Kernbereich "eindeutiger" Fälle

b)

39 41 41

(1)

Die Position Kelsens

41

(2)

Die Ansicht Harts

43

Formelle Gerechtigkeit

43

8

Inhaltsverzeichnis

3.

4.

II.

C.

Keine vollständige Determinierung der Rechtsanwendung durch Rechtsnormen Die Ansicht Kelsens: Darstellung aller rechtmäßigen Entscheidungs möglichkeiten als Aufgabe rechtswissenschaftlicher Interpretation

45

b)

Die Meinung Harts: Bereich rechtlich ungeregelten Ermessens unvermeidbar und wünschenswert

47

(1)

Unvermeidbarkeit von Problemfällen

47

(2)

Ermessen bei der Rechtsanwendung wünschenswert

48

(3)

Die Behandlung der Problemfälle

48

(4)

Rechtsordnung als Kompromiß zwischen gegensätzlichen Leitideen

49

Problematik der Ausführungen Kelsens und Harts

50

a)

Argumentationslücke bei Kelsen: Fehlen einer brauchbaren Interpretationslehre

50

b)

Das Problem der Lehre Harts: Keine ausgearbeitete Interpretationstheorie

53

Kritik an der "analytical jurisprudence" John Austins

56

1.

Einwände gegen den Gedanken des "Souveräns"

57

2.

Kritik am Begriffspaar "Befehl" und "Gehorsam"

58

Ziel und Methode der analytischen Rechtstheorie

60

I.

Die Position Kelsens: Formalismus und Rekonstruktivismus

60

II.

Die Auffassung Harts: Methodische Öffnung der analytischen Theorie und Deskriptivismus

62

2. Kapitel Der Begriff des Rechts: Modifizierte Zwangstheorie oder Recht als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln?

A

44

a)

^

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens und Harts Kritik

66

I.

Die Lehre Kelsens

66

1.

66

Unterschiede zwischen dem Recht und anderen normativen Ordnungen a)

b)

II.

Verhaltenslenkung durch Recht

67

(1)

Indirekte Verhaltenslenkung

67

(2)

Terminologische Schwankungen

69

Das Recht als Zwangsordnung

70

2.

Die Organisation des rechtlichen Materials

72

3.

Kelsens Lehre und die herkömmliche Zwangstheorie

73

Die Kritik Harts

75

1.

Pflichtregeln und Ermächtigungsregeln

75

2.

Reduzierbarkeit von Ermächtigungs- auf Pflichtregeln?

76

a)

Nichtigkeit als Sanktion

76

b)

Der Rechtssatz Kelsens: Verzerrung der unterschiedlichen sozialen Funktionen von Rechtsvorschriften

76

Inhaltsverzeichnis III.

Beurteilung von Harts Kritik Kelsens und Harts Ansätze: grundsätzlich komplementär» nicht widersprüchlich

79

2.

Leistungsfähigkeit der Kelsen'schen Sichtweise

81

a)

b) B.

II.

C.

Entideologisierende Wirkung und Grenzen der Leistungsfähigkeit von Kelsens Konzeption

81

(1)

Abgrenzung gegen das Naturrecht

81

(2)

Erlaubtes und verbotenes Verhalten

83

Methodische Stringenz

Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen nach Hart I.

84 85

Der Bereich außerrechtlicher (sozialer) Pflichten

85

1.

Die Existenzvoraussetzungen einer sozialen Regel

85

2.

Der Begriff der sozialen Pflicht

86

Der Bereich der Rechtspflichten

87

1.

Die Erkenntnisregel als Pflichtregel

88

2.

Sonstige rechtliche Pflichtregeln

89

a)

Die Position im "Concept of Law"

89

b)

Harts modifizierter Rechtspflichtbegriff in den "Essays on Bentham"

90

Der Rechtsbegriff Harts: Recht als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln

92

I.

93

Die Grundgedanken des Hart'schen Rechtsbegriffs 1.

Die allgemeine Formulierung der Abgrenzungskriterien

93

2.

Der Übergang vom vorrechtlichen in den rechtlichen Zustand

93

a)

II.

Der vorrechtliche Zustand: Vorhandensein nur von primären Pflichtregeln

94

b)

Beseitigung der Mißstände durch die Einführung von Sekundärregeln

95

c)

Die spezifische Qualität sozialer Verhaltenslenkung durch Recht

96

Beurteilung von Harts Konzeption

98

1.

Einwände gegen Harts Darstellung und Terminologie

98

2.

Primär- und Sekundärregeln als Pflicht- und Ermächtigungsregeln

99

3.

a)

Verzerrung der sozialen Funktionen der Rechtsregeln infolge der Hart'schen Zweiteilung

b)

Gleichsetzung von Pflicht- und Ermächtigungs- mit Primär- und Sekundärregeln nicht überzeugend

Sekundärregeln als Regeln über Primärregeln

3. Kapitel Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

A.

79

1.

Der Stufenbau der Rechtsordnung I.

100 101 102

^

105

Die Position Kelsens

105

1.

105

Die Stufenbaulehre Merkls und Kelsens

Inhaltsverzeichnis

10

a) b) 2. II.

106

Verhältnis der dynamischen Betrachtungsweise zur Rechtssatzlehre

109 Ill

1.

In den Stufenbau einbezogene Rechtsregeln

111

Derogationsfähigkeit als maßgebliches Stufungskriterium

113

a)

Die Ausführungen Harts

113

b)

Vergleich mit der Auffassung der Reinen Rechtslehre

113 117

Die Position Kelsens

117

1.

Die Lehre von der Alternativermächtigung

117

2.

Die zwei Rechtmäßigkeitsbegriffe Kelsens

120

II.

Die Position Harts

124

III.

Rechtspflicht der Amtsträger zu rechtmäßiger Entscheidung?

125

Die Kontinuität einer Rechtsordnung I.

II. D.

105

Rechtliche Bedingtheit als Stufungskriterium

Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte I.

C.

Rechtsordnung

Die Ansicht Harts 2.

B.

Einbeziehung aller Rechtsnormen und Rechtsakte einer

127

Die Position Kelsens und ihre Problematik

128

1.

Geltungskontinuität als Einheitskriterium

128

2.

Einwände gegen die Konzeption Kelsens

131

Die Ansicht Harts und ihre Schwierigkeiten

132

Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

134

I.

Die ursprüngliche Lehre Kelsens

135

1.

Die "negative Stufe" in Kelsens Argumentation

135

2.

Die "positive Stufe" in Kelsens Argumentation

137

a)

Das Verhältnis von positivem Recht und Moral

137

b)

Das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht

139

II.

Die Kritik Harts und die Modifikationen in Kelsens Spätwerk 1.

141

a)

Harts Einwände gegen die "negative Stufe" von Kelsens Theorie

141

b)

Harts Kritik an Kelsens Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral

143

c)

Einwände Harts gegen Kelsens Position zum Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht

2.

141

Die Kritik Harts

Kelsens Meinungsänderung im Spätwerk

144 146

a)

Gleichzeitige Geltung widersprüchlicher Normen; Beziehung von Recht und Moral

146

b)

Das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht

147

Inhaltsverzeichnis

11

4. Kapitel Die Normativität des Rechts; Geltung und Wirksamkeit

A.

Grundlage von Normativität: Rechtswissenschaftliche Deutung oder soziale Praxis? I.

II.

151

1.

Die Norm als Deutungsschema

151

2.

Die Grundnorm als Annahme

152

Die Position Harts: Erkenntnisregel als Umschlagpunkt von Recht in 155

III.

Die Normativitätsbegriffe Harts und Kelsens

158

IV.

Das Verhältnis der beiden Normativitätskonzeptionen zueinander; Beurteilung von Harts Kritik

159

Kritik an Harts Auffassung

162

Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit bei Kelsen; Harts Stellungnahmen

163

I.

Kelsens Begriff der Wirksamkeit

163

II.

Verbindung von Geltung und Wirksamkeit durch die Grundnorm

166

1.

Die Position Kelsens und der Einwand Harts

166

2.

Argumentationsstufen innerhalb der Grundnormtheorie

167

III.

C.

150

soziale Praxis

V. B.

Die Meinung Kelsens: Grundnorm als rechtswissenschaftliche Erkenntnisvoraussetzung

^

Geltung und Wirksamkeit bei der Einzelnorm

170

1.

Die ursprüngliche Position Kelsens und die Meinung Harts

170

2.

Die spätere Meinungsänderung Kelsens

171

Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken: Standpunkte gegenüber dem Recht; die Existenzbedingungen einer Rechtsordnung nach Hart

173

I.

Die Unterscheidung im "Concept of Law": Interner und externer Standpunkt

173

1.

173

2. II.

III.

Der interne Aspekt von Regeln und der interne Standpunkt a)

Die Position Harts

173

b)

Vermischung unterschiedlicher Fragen bei Hart

174

Der externe Standpunkt und seine Problematik

Modifikation von Harts Ansicht in späteren Werken: "Committed legal statements" und "detached legal statements"

176

178

1.

Zwei Gruppen von "external statements" im "Concept of Law"; Lückenhaftigkeit dieser Klassifizierung

178

2.

Ausfüllung der Lücke durch Hart

179

3.

Keine Lösung der Hauptproblematik in Harts neuer Lehre

180

Die Minimalbedingungen für die Existenz einer Rechtsordnung

181

1.

181

2.

Die Darlegungen Harts Kritik an Harts Ausführungen

183

a)

183

Vermischung von semantischem und pragmatischem Praxisbegriff

12

Inhaltsverzeichnis

b)

D.

Lehre von den Existenzbedingungen als unzureichende Wirksamkeitsanalyse

184

Kritischer Rechtspositivismus oder Begriffsrealismus?

188

I.

Die Position Kelsens

188

II.

Rechtsnorm und Rechtssatz

189

III.

1.

Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis bei Kelsen und die Interpretation Harts

189

2.

Kritik an Harts Interpretation

190

Verhältnis von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft bei Hart

Ergebnis

Literaturverzeichnis

I.

II.

191

1 9 4

^

Chronologisches Verzeichnis der zitierten Schriften Hans Kelsens und H.L.A. Harts

196

I.

Kelsen, Hans

196

2.

Hart, H.L.A

197

Sekundärliteratur

198

Einleitung Die Zahl der lobenden, ja mitunter enthusiastischen Beurteilungen von Hans Kelsens Reiner Rechtslehre und H.L.A. Harts "Concept of Law" ist Legion. Auch wenn man vor Superlativen zurückschreckt und deshalb Äußerungen mit Zurückhaltung begegnet, die Kelsen zum "Jurist(en) unseres Jahrhunderts" emporstilisieren 1 oder die das "Concept of Law" als "probably the best book in legal philosophy ever written" bezeichnen2, so kann doch niemand leugnen, daß die beiden Autoren die rechtstheoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte3 entscheidend mitgeprägt haben und daß ihre Werke, in den Worten Kollers 4 , zu "Meilensteine(n) des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert" geworden sind. Es ist indes nicht allein ihr großer wissenschaftlicher Einfluß, der den Rechtstheorien Kelsens und Harts gemeinsam ist; ihre Entwürfe weisen vielmehr auch in inhaltlicher Hinsicht beträchtliche Parallelen auf. Übereinstimmend gehen beide Autoren von einem Rechtsbegriff aus, der die entscheidenden Merkmale des Rechts in seiner Positivität und seiner Normativität erblickt; ferner sehen sie die Aufgabe der Rechtstheorie in der Analyse der rechtlichen Grundbegriffe und ihrer Beziehungen zueinander. Über diese Ebene grundsätzlicher Festlegungen hinaus bestehen aber auch in einer Reihe von Einzelfragen unmittelbare Berührungspunkte zwischen den beiden Entwürfen. So konzipiert Hart zwei "Eckpfeiler" seiner Theorie - seine Vorstellung von der Rechtsordnung als einer Verbindung von Primär- und Sekundärregeln und seine Auffassung zu Struktur und Funktionen der Erkenntnisregel - in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit den Positionen Kelsens. Auch an anderen Stellen von Harts Theorie - etwa in seinen Ausführungen zum rechtlichen Stufenbau oder seinen Darlegungen in den "Essays on Bentham", in denen er seine im "Concept of Law" enthaltenen Positionen zur Frage des Adressaten von Rechtsvorschriften und zum Begriff der Rechtspflicht einer tiefgreifenden Revision unterzieht - , drängen sich Parallelen zur Reinen Rechtslehre auf. Kelsen seinerseits hat sich zwar, soweit ersichtlich, an keiner Stelle seiner Schriften ausdrücklich auf Hart bezogen, doch läßt sich zumindest ein Themenbereich nachweisen - nämlich die Frage nach der Anwendbarkeit von Regeln der Logik auf Rechtsnormen - , in dem er seine

1

Siehe Weinberger,

2

Murphy, Kant 180.

Normentheorie 179.

ο Kelsens erstes Hauptwerk, die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", erschien bereits 1912; die 2. Auflage der "Reine(n) Rechtslehre" wurde 1960, das "Concept of Law" ein Jahr später publiziert. 4

Meilensteine 129.

14

Einleitung

ursprüngliche Ansicht später im Einklang mit der von Hart geäußerten Kritik geändert hat. Gibt es somit eine Anzahl unmittelbarer Berührungspunkte zwischen den Theorien Kelsens und Harts, so ist es nicht weniger instruktiv, daneben auch Themenbereiche in die Untersuchung einzubeziehen, die zwar von beiden Autoren unter ähnlichen Prämissen behandelt wurden, bei deren Lösung sie jedoch jeweils eigene Wege gingen: so etwa ihre Ausführungen zur Problematik rechtlicher Interpretation oder ihre Behandlung der (in der herkömmlichen Terminologie so genannten) "rechtswidrigen, aber dennoch rechtsgültigen Rechtsakte". Ebenso wie die direkte Konfrontation der beiden Theorien ermöglichen es auch solche indirekten Vergleiche, Stärken, Probleme und Grenzen der Leistungsfähigkeit der beiden Entwürfe zu bestimmen. Eine Vielzahl von Gründen spricht somit für die Annahme, daß ein detaillierter Vergleich der Lehren Kelsens und Harts ein rechtstheoretisch lohnendes Unternehmen darstellt. Umso erstaunlicher ist es, daß bislang weder im deutschen noch im englischen Sprachraum eine umfassende Untersuchung zu diesem Thema existiert 5. Diese Lücke zu schließen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Sie ist in vier Kapitel unterteilt. Im 1. Kapitel werden die bereits erwähnten Ausgangsprämissen beider Autoren analysiert: Zunächst wird auf die Gründe eingegangen, aus denen sich ihrer Ansicht nach die Vorzugswürdigkeit des positivistischen Rechtsbegriffs ergibt. Sodann werden ihre Ausführungen zu den tatsächlichen Verbindungen von Recht und Moral erörtert (wobei Harts Lehre vom "minimum content of natural law" im Mittelpunkt steht). In einem weiteren Abschnitt wird die normativ istische Komponente im Rechtsbegriff beider Autoren gegen den Rechtsrealismus sowie gegen die "analytical jurisprudence" John Austins abgegrenzt. Schließlich werden ihre Ausführungen über Ziel und Methodik analytischer Rechtstheorien behandelt. Nach dieser Klärung des begrifflichen und methodischen Rahmens wird im 2. Kapitel zunächst Kelsens Version der Zwangstheorie - vor allem sein Rechtspflichtbegriff und seine Rechtssatzlehre - mit der Kritik Harts konfrontiert. Danach wird auf Harts eigene Meinung zu den Voraussetzungen sozialer bzw. rechtlicher Pflichten eingegangen. Abschließend wird sein Rechtsbegriff - Recht als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln - diskutiert. Das 3. Kapitel beginnt mit einem Vergleich von Kelsens und Harts Versionen der Lehre vom Stufenbau des Rechts. Sodann behandelt es Fragen, die mit der 5 Die bislang ausführlichsten Behandlungen dieser Thematik im englischsprachigen Bereich stellen dar: die Aufsätze von J. Cohen, das von J. W. Harris verfaßte Buch über "Law and Legal Science" sowie die Arbeiten von Raz. Für den deutschen Sprachraum sind vor allem der bereits erwähnte Aufsatz Kollers (Meilensteine) sowie eine Untersuchung von Hoerster (Vergleich) zu nennen.

Einleitung

für die Stufenbaulehre grundlegenden Vorstellung, daß das Recht ein sich aus sich selbst heraus erzeugendes System von Geltungsbeziehungen darstellt, im Zusammenhang stehen. In diesem Zusammenhang werden im einzelnen erörtert die Ausführungen beider Autoren zum Status "rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte", zu den Voraussetzungen, unter denen die verfassungsmäßige Kontinuität einer Rechtsordnung unterbrochen wird, sowie zum Verhältnis verschiedener normativer Systeme zueinander. Im Mittelpunkt des 4. Kapitels schließlich stehen die Fragen nach der Grundlage der rechtlichen Normativität sowie nach dem Verhältnis der beiden Komponenten von Normativität und Positivität in den Rechtsbegriffen Kelsens und Harts. Zunächst werden Kelsens Grundnormlehre und die Darlegungen Harts zur Erkenntnisregel miteinander verglichen. Danach wird auf Kelsens Ansicht zur Beziehung von Rechtsgeltung und Wirksamkeit eingegangen. Sodann werden Harts Ausführungen zu den verschiedenen Standpunkten, die der einzelne dem Recht gegenüber einnehmen kann, sowie zu den Existenzbedingungen einer Rechtsordnung kritisch diskutiert. Abschließend werden die erkenntnistheoretischen Implikationen der beiden Normativitätstheorien analysiert. Insgesamt hofft die vorliegende Arbeit, vor allem zweierlei demonstrieren zu können: Zum einen sucht sie zu zeigen, daß Kelsens und Harts Konzeptionen zwar innerhalb eines begrifflichen und methodischen Rahmens angesiedelt sind, der es erlaubt, sie beide der Gruppe analytischer Rechtstheorien zuzurechnen, daß sie sich aber ihrer allgemeinen Orientierung und Fragestellung nach im übrigen beträchtlich voneinander unterscheiden. Diese unterschiedlichen A n sätze, hier mit dem Begriffspaar "Rekonstruktivismus-Deskriptivismus" bezeichnet, schlagen sich an zahlreichen bedeutsamen Punkten der beiden Theorien nieder, was zur Folge hat, daß zwischen diesen im Grundsatz weniger ein Exklusivitätsverhältnis als vielmehr ein Verhältnis vielfältiger gegenseitiger Ergänzung besteht. Zum zweiten wird hier der Nachweis versucht, daß Hart bei der konkreten Durchführung seines Programms nicht jenen hohen Grad an methodischer Reflektiertheit und begrifflicher Geschlossenheit erreicht, der die Reine Rechtslehre auszeichnet. Harts Theorie weist vielmehr ein solches Maß an Unklarheiten, Inkonsistenzen und Widersprüchen auf, daß sie der Reinen Rechtslehre kaum als ebenbürtige oder gar überlegene Konzeption zur Seite gestellt werden kann.

1. Kapitel

Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts: Begriffsmerkmale des Rechts und Aufgabe der Rechtstheorie Kelsen und Hart entwickeln ihre Lehren von unterschiedlichen rechts- und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkten her. Kelsen hat seine Reine Rechtslehre unter Berufung auf den deutschen Gesetzes- und Staatspositivismus des 19. Jahrhunderts und die Erkenntnistheorie des Neukantianismus konzipiert 1 . Dagegen sieht Hart sich vor allem der englischen "analytical jurisprudence" (Bentham und John Austin) 2 und der analytischen Sprachphilosophie Wittgensteins und J.L. Austins verpflichtet 3. Obwohl die "analytical jurisprudence" und der kontinentaleuropäische Rechtspositivismus sich unabhängig voneinander entwickelt haben4, bestehen zwischen ihnen bedeutende Übereinstimmungen: Sie gehen beide von der Ansicht aus, daß zwischen Recht und Moral kein begrifflich notwendiger Z u sammenhang besteht, betrachten übereinstimmend das Recht als ein System von Normen bzw. - in der englischen Terminologie - von Regeln, und sie sehen die Aufgabe der Rechtstheorie in der Analyse der Grundbegriffe des Rechts und ihrer Beziehungen zueinander 5. Diese Übereinstimmungen ermöglichten es Kelsen, nach seiner Emigration die Reine Rechtslehre in der Tradition der "analytical jurisprudence" einzuordnen 6. Diese drei Elemente - Positivität und Normativität als Wesensmerkmale des Rechts und Begriffsanalyse als Aufgabe der Rechtstheorie - stellen zugleich auch die wichtigsten Verbindungsglieder zwischen der Reinen Rechtslehre und der Konzeption Harts dar. Mit ihnen legen die beiden Autoren sich bei ihrer Untersuchung des Rechts, das Bucher 7 als das "vielleicht komplexeste aller Kulturphänomene" bezeichnet, auf eine

1

HPS XV.

2

Siehe CL V sowie MacCormick , Hart 6. ο CL V sowie Introduction 1-4; allgemein zur sprachanalytischen Fundierung von Harts Werk: Eckmann, , Rechtspositivismus 101-109; Hacker , Hart's Philosophy 2-8; MacCormick , Hart 12-19; Twiningy Academic Law 576 - 578. 4

Siehe Opalek , Analytical and Empirical Theory of Law 112 f.

5

Siehe R. Dreier , Allgemeine Rechtstheorie 18 f.; Opalek , Analytical and Empirical Theory of Law 113 f. 6

GT XV; Analytical Jurisprudence 54; On the Pure Theory of Law 4.

7

Kritik 56.

. Die o i v i t ä t des Rechts

17

"Problemhinsicht" 8 fest, die zumindest in den Grundzügen übereinstimmt. Inhalt und Bedeutung der soeben genannten drei Hauptelemente der allgemeinen Problemhinsicht Kelsens und Harts darzustellen, ist Aufgabe dieses Einleitungskapitels. A. Die Positivität des Rechts Wenn Koller 9 die Werke Kelsens und Harts als "Meilensteine des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert" bezeichnet, so nimmt er damit eine Einordnung beider Autoren vor, die so geläufig ist, daß es überflüssig erscheinen mag, überhaupt noch ausdrücklich auf sie hinzuweisen: er klassifiziert Kelsen und Hart als Rechtspositivisten. Der Begriff des Rechtspositivismus weist jedoch ein erhebliches Maß an Unbestimmtheit auf. An einer einheitlichen und allgemein oder zumindest weitgehend anerkannten Begriffsbestimmung fehlt es 10 . Stattdessen umfaßt der Begriff, wie von Wright unter Heranziehung Wittgenstein'scher Terminologie bemerkt, "a variety of positions between which there is a family resemblance" 11. Daher ist es nicht damit getan, Kelsen und Hart pauschal als "Rechtspositivisten" zu klassifizieren und die Dinge damit bewenden zu lassen. Statt auf einen schillernden Begriff ist vielmehr auf die sachlichen Probleme abzustellen, die sich hinter seiner Fassade verbergen. Diese Probleme sind so mannigfaltig, daß sich im Verlaufe dieser Arbeit immer wieder Fragen stellen werden, die in der einen oder anderen Weise mit dem Problemkreis "Rechtspositivismus oder Naturrecht?" verknüpft sind. Im vorliegenden Abschnitt soll aus der Fülle der möglichen Fragestellungen das Hauptgewicht auf diejenige Behauptung gelegt werden, die R. Dreier 12 als die "Generalthese aller positivistischen Rechtstheorien" bezeichnet und die auch gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Kelsens und Harts Verständnis von Rechtspositivismus bildet: die Trennungsthese 13.

8

Den Begriff gebraucht R. Dreier, Reine Rechtslehre 242 f.

9

Meilensteine 129.

10

Dies wird durch Äußerungen in der Literatur bestätigt. So unterscheidet Baratta, Rechtspositivismus 330 drei Bedeutungen von "Rechtspositivismus" ; nach Hart, Positivism 57 f. A 25 und CL 253 sind in der heutigen Rechtstheorie mindestens fünf Bedeutungen dieses Begriffs im Umlauf; und Summers, Analytical Jurists 889 weist sogar zehn unterschiedliche Begriffsbestimmungen nach. 1 1

Is and Ought 277.

1 2

Begriff des Rechts 96.

1 3

Zum Begriff der Trennungsthese siehe die differenzierten Ausführungen von Alexy, Kritik 9 ff. Kelsen führt die Trennungsthese bereits in den ersten Sätzen seiner "Reinen Rechtslehre" (RR 1) ein; auch Hart bekennt sich mit Entschiedenheit zu ihr: CL 181; Introduction 6; Comment 37. 2 Pawlik

18

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Nach der Trennungsthese ist die Rechtsqualität positiver - und das heißt unter den Verhältnissen des modernen, gewaltenteilenden Rechtsstaats in erster Linie: staatlich gesetzter 14 - Vorschriften unabhängig von ihrer moralischen Dignität. Damit bestreitet die Trennungsthese keineswegs die Möglichkeit und Berechtigung der Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit, dem Gerechtigkeitsgehalt einer Norm; sie besteht aber - in der klassischen Formulierung Austins 15 - darauf, (that) the existence of law is one thing; its merit or demerit is another. Whether it be or be not is one enquiry; whether it be or be not conformable to an assumed standard, is a different enquiry.

Mit der Abkoppelung des Rechtsbegriffs von moralischen Kategorien wendet sich die Trennungsthese gegen das traditionelle naturrechtliche Rechtsverständnis. Bei aller sonstigen Verschiedenartigkeit ist den naturrechtlich geprägten Ansichten die Überzeugung gemeinsam, daß bloße Macht Recht nicht zu begründen vermöge, sondern daß zumindest ein Mindestmaß inhaltlicher Richtigkeit hinzukommen müsse, damit eine bestimmte Vorschrift den "Ehrentitel" des Rechts für sich in Anspruch nehmen könne 16 . In Rechtspraxis und Rechtsdogmatik ist es in aller Regel ein Ding der Selbstverständlichkeit, das Recht in positivistischer Weise zu verstehen 17: Der Amtsträger ebenso wie der ihm zuarbeitende Rechtswissenschaftler betrachtet Äußerungen staatlicher Rechtsetzungsorgane, soweit sie nicht gegen höherrangige Gesetze der betreffenden Rechtsordnung verstoßen, grundsätzlich als geltendes und anzuwendendes Recht, mag er persönlich auch den Inhalt dieses Rechts von einem politischen oder moralischen Standpunkt aus mißbilligen. In Ausnahmesituationen, insbesondere in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, kann es indessen geschehen, daß Rechtsprechung und Rechtswissenschaft die strikte Orientierung am positiven Recht aufgeben und - in gewissen Grenzen außerpositive Sollensmaßstäbe für unmittelbar rechtsrelevant erklären. Dies geschah in Deutschland in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Gerichte bis hinauf zum Bundesgerichtshof und zum Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf das Naturrecht einigen besonders verwerflichen Gesetzen aus der NS-Zeit die Rechtsqualität absprachen 18. In solchen Situationen wird die Auseinandersetzung zwischen rechtspositivistischem und naturrechtlichem 1 4

Siehe R. Dreier, Recht und Gerechtigkeit 8.

1 5

Province 184.

1 6

Siehe Beyleveld/Drownsword,

Law as a Moral Judgment 80 f.

1 7

Siehe Kelsen y Die philosophischen Grundlagen 300. - Für die Bundesrepublik siehe Art. 20 Abs. 3 GG. 1 8 Bericht über die BGH-Rechtsprechung bei Weinkauff, Naturrechtsgedanke 1689-1696; zur Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts siehe die Übersicht bei R. Dreier, Begriff des Rechts 100 A 14. - Ähnliche Fragen wie damals stellen sich übrigens heute erneut im Hinblick auf Vorkommnisse in der ehemaligen DDR.

Die o i v i t ä t des Rechts

19

Rechtsbegriff über ihre allgemeine rechtstheoretische Bedeutung hinaus auch praktisch relevant. Die Positionen Kelsens und Harts in diesem "ewigen Gegensatz" 19 sind nachfolgend darzustellen. I. Die Auffassung Kelsens: Positivismus als einzig wissenschaftliche Weise der Rechtsbetrachtung

Kelsen verteidigt die Trennungsthese, indem er sich auf die Unmöglichkeit beruft, moralische Wertungen letztverbindlich zu begründen (Wertrelativismus) und indem er dem Naturrecht generell die Funktion einer Ideologie zuschreibt. Die Unterscheidung von positivistischem und naturrechtlichem Rechtsbegriff ist für ihn gleichbedeutend mit dem Unterschied von Wissenschaft und Ideologie, Vernunft und Glauben; und er meint: Wenn der Rechtsbegriff nicht zum Vehikel beliebiger politischer und weltanschaulicher Zielvorstellungen verkommen soll, muß er positivistisch sein. Zum Beweis dieser Ansicht analysiert Kelsen zunächst eine Reihe historisch bedeutsamer Gerechtigkeits- und Naturrechtslehren - von der Lehre Piatons bis zu Coings Konzeption von einem wandelbaren Naturrecht 20 . Das Ergebnis dieser Analyse ist vernichtend: Obwohl die verschiedenen Gerechtigkeitslehren inhaltlich zum Teil unvereinbar miteinander seien 21 , hätten sie doch eines gemeinsam: Sie seien allesamt bloße Leerformeln, die, um materiale Aussagen zu machen, stillschweigend auf eine positive Rechts- oder Moralordnung zurückgreifen müßten 22 und durch die daher "jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden" könne 23 . Den verschiedenen Naturrechtsentwürfen im engeren Sinne wirft Kelsen vor, daß sie alle bereits in ihrem gedanklichen Ausgangspunkt einen grundsätzlichen kategorialen Fehler begingen: indem sie nämlich versuchten, aus der Natur (der Welt oder des Menschen) Normen abzuleiten, vollzögen sie einen unzulässigen Schluß von einem Sein auf ein Sollen 24 .

1 9

Siehe Kelsen, Diskussionsbeitrag 53 f.

2 0

Siehe RR 366-401,416-442; eine knappe Zusammenfassung gibt er in Gerechtigkeit 19-39.

2 1

So operiere etwa die Vergeltungstheorie mit "Schuld" und "Verdienst"» während beim Abstellen auf die menschlichen Bedürfnisse auf jene Größen keine Rücksicht zu nehmen sei, RR 397. 2 2

Siehe RR 397.

2 3

Gerechtigkeit 18.

2 4

Gerechtigkeit 38. - Es ist allerdings sehr die Frage, ob tatsächlich alle Naturrechtslehren über den Leisten des Sein-Sollens-Dualismus geschlagen werden können; verneinend in bezug auf die Lehre des Aristoteles Verdross , Naturrecht 60-63; kritisch im Hinblick auf Kant H. Dreier, Hans Kelsen 167 f. A. 43 m.w.N.

20

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Das Beharren auf der strikten Trennung von Sein und Sollen stellt die Basis von Kelsens Wertrelativismus dar 25 : Es sind keine Wahrheitskriterien erweisbar, aufgrund derer in rationaler Weise begründet werden könnte, warum ein bestimmtes Glied in einer normativen Ableitungskette das letzte, endgültig maßgebliche Sollen darstellt. Jeder Versuch, das Recht auf einen metarechtlichen Geltungsgrund zurückzuführen, ist deshalb nach Kelsens Ansicht notwendig zum Scheitern verurteilt es sei denn, der Autor sei bereit, eine offene Wendung zur Theologie hin zu vollziehen und Gott als letzten Grund allen Rechts zu postulieren; denn allein bei diesem fielen Wissen und Wollen, Sein und Sollen zu einer - freilich nur noch glaubbaren - Einheit zusammen26. Der philosophischen Unhaltbarkeit naturrechtlicher Letztbegründungsversuche von Normen korrespondiert nach Kelsen ihre inhaltliche Beliebigkeit. Ebenso wie mit den Leerformeln der Gerechtigkeitslehren könne man auch mit den auf einen Trugschluß gegründeten Methoden der Naturrechtslehre ... alles und daher nichts beweisen27.

Dies erweist nach Kelsens Ansicht, daß das Naturrecht keinen wissenschaftlich-rational begründbaren Rechtsbegriff ermöglicht, sondern nichts als eine Ideologie darstellt: eine politisch relevante Theorie, die zwar objektiven Geltungsanspruch erhebt, in Wirklichkeit aber nicht auf Gründen, sondern auf Interessen beruht 28 . Im Prinzip kann jede beliebige soziale Gruppierung unter Berufung auf eine ihr gerade zupaß kommende Formel ihre politischen Interessen als "natürlich" ausgeben, ihnen dadurch die "Weihe" einer höheren, ja: absoluten Richtigkeit verleihen und daraufhin das positive Recht an dem so "begründeten" Naturrecht messen - eine Beurteilung, deren Ergebnis schon vorher feststeht. Das Naturrecht kann daher nach Kelsen prinzipiell sowohl eine kritisch-kontrollierende wie auch eine affirmativ-konservierende Wirkung haben. Dabei sei die Theorie des reinen Naturrechts stets Anarchismus 29 ; praktisch betrachtet, habe jedoch in der Wirkungsgeschichte des Naturrechts seine zweite, konservative Funktion im Vordergrund gestanden: Die Naturrechtslehren hätten der Hauptsache nach dazu gedient, oc Η. Dreier, Hans Kelsen 37. - Auch Kelsen selber (Naturrechtslehre 3) bezeichnet die Relativität der Werte ausdrücklich als unausweichliche Konsequenz des Dualismus von Sein und Sollen. 2 6 RR 414,419; ähnlich auch Böckenförde, Gewalt 110. 2 7

Gerechtigkeit 39.

2 8

So die Definition Krieles

2 9

Naturrecht und positives Recht 225.

y

Rechtspositivismus 150.

21

. Die o i v i t ä t des Rechts

die bestehenden Rechtsordnungen und ihre wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Institutionen als dem Naturrecht entsprechend zu rechtfertigen 30.

Die naturrechtliche Behauptung einer "rechtsimmanenten Versöhnung von Recht und Gerechtigkeit" 31 leiste nämlich den Bemühungen sozial und politisch Mächtiger Vorschub, das von ihnen gesetzte Recht als "vollkommene Positivierung des Naturrechtes" 32 auszugeben, um es auf diese Weise der öffentlichen Diskussion und kritischen Infragestellung zu entziehen: As paradoxical as it seems, it is nevertheless a fact that the doctrine which denies that the positive law-makers really are what they pretend to be - the creators of the law - has the effect, if not the purpose, of strengthening their authority 33.

Der positivistische Rechtsbegriff ist also bei Kelsen dem des Naturrechts nicht nur deshalb überlegen, weil nur er "can be verified by objectively ascertainable facts" 34 und daher allein wissenschaftlich-rationaler Behandlung zugänglich ist; seine Überlegenheit zeigt sich vielmehr auch darin, daß er die ideologisch-affirmativen Tendenzen des Naturrechts vermeidet und es dadurch dem einzelnen Beurteiler erleichtert, kritische Distanz zum positiven Recht zu halten, das nichts als "elende(s) Menschenwerk" 35 darstellt, als solches anfechtbar und veränderbar ist und sich stets aufs Neue im Streit der Meinungen darüber, wie "gerechtes Recht" auszusehen hat, behaupten muß 36 . I I . Die Argumente Harts: Zweckmäßigkeit des positivistischen RechtsbegrifTs

Darin, daß er die Eignung des positivistischen Rechtsbegriffs herausstellt, eine kritisch-distanzierte Haltung der Rechtsgenossen zum positiven Recht zu fördern, trifft Kelsen sich mit dem Anliegen Harts. Auch dessen Argumentation zugunsten der Trennungsthese läuft auf einen "appeal to the autonomy and supremacy of critical morality" hinaus 37 . Anders als Kelsen sieht aber Hart die Entscheidung für die Trennungsthese "not (as) a matter of immutable logic" an,

30 R R 435. - Damit grenzt Kelsen sich von Bergbohms und Afax Webers These vom sozialrevolutionären oder doch radikal reformatorischen Charakter des Naturrechts ab (siehe H. Dreier, Hans Kelsen 171); kritisch zu Kelsens Auffassung Opalek y Naturrechtslehre 82. 3 1

Leser, Wertrelativismus 250.

3 2

Idee 273.

3 3

Kelsen, Law, State and Justice 386.

3 4

Law, State and Justice 385. Bubner, Das älteste Systemprogramm 263.

3 6

Siehe H. Dreier, Hans Kelsen 174; Patrono , Das doppelte Antlitz 14; Wielinger

3 7

MacCormick, Hart 160.

y

Seinsrecht 572 f.

22

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

sondern "(he) explicitly argues his position as if it were a policy choice" 38 . Ihm geht es um the comparative merit of a wider and a narrower concept or way of classifying rules, which belong to a system of rules generally effective in social life 3 9 .

Hart führt drei Argumente für die Trennungsthese an 4 0 : 1. Disziplinares Argument

41

Zunächst zeigt Hart, daß es jedenfalls für die Rechtswissenschaft zweckmäßig sei, den positivistischen Rechtsbegriff zugrundezulegen. Nur so könne sie die für das Rechtsleben in einer Gesellschaft tatsächlich maßgebenden Vorschriften vollständig erfassen 42, was eine wichtige "contribution to the study of human society and culture" 43 darstelle. Die Einbeziehung auch der moralisch bedenklichen Teile einer Rechtsordnung in die wissenschaftliche Untersuchung stelle ferner eine unverzichtbare Voraussetzung für eine fundierte kritische Bewertung dieser Ordnung dar 4 4 . Es sei höchst unzweckmäßig, diesen einheitlichen Untersuchungsbereich der Rechtswissenschaft durch die Zugrundelegung eines moralisch modifizierten Rechtsbegriffs und die Ausklammerung "unmoralischer" Vorschriften zu zerreißen: Nothing, surely, but confusion could follow from a proposal to have the study of such rules to another discipline .. 4 5 .

Dies ist freilich eine Überlegung, der auch Autoren, die ansonsten einen naturrechtlichen Rechtsbegriff befürworten, unschwer zustimmen können 46 . Die eigentliche Auseinandersetzung pro und contra Trennungsthese wird nicht um die Frage geführt, auf welche Weise der Untersuchungsbereich der Rechtswissenschaft am sinnvollsten gegenüber demjenigen anderer Disziplinen abgegrenzt 3 8 3 9

7. Cohen, The Political Element 15. CL204.

^ Übersichten über die Argumentation Harts bei Beyleveld/Brownsword y Law as a Moral Judgment 106-108; R. Dreier , Recht und Moral 192 f., Eckmann y Rechtspositivismus 39-44 sowie bei Hoerster y Einleitung 8-10. 4 1

Diese Bezeichnung stammt von R. Dreier , Recht und Moral 192.

4 2

CL 205.

4 3

Comment 37.

4 4

Comment 37.

4 5

CL205.

4 6

Kritisch zum Begründungswert dieses Arguments MacCormick , Hart 159 und insbesondere Beyleveld/Brownsword y Law as a Moral Judgment 106.

23

. Die o i v i t ä t des Rechts

werden kann; sie dreht sich vielmehr um das Problem, welcher Rechtsbegriff der gesellschaftlichen Praxis im allgemeinen und der richterlichen Entscheidungstätigkeit im besonderen als Grundlage dienen soll. Die nachfolgenden Argumente Harts sind auf dieser Ebene angesiedelt. In ihnen setzt Hart sich mit einem Aufsatz 47 auseinander, den Gustav Radbruch 1946 veröffentlicht und in dem er einen Rechtsbegriff entwickelt hat, der als "Radbruch'sche Formel" Eingang in zahlreiche wichtige Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs gefunden hat 4 8 . Danach ist der Konflikt zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit dahingehend zu lösen, daß das positive Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht ist, es sei denn, daß der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat 4 9 .

Die Kriterien der Gerechtigkeit, nach denen die Formel zu handhaben ist, entnimmt Radbruch der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte, in erster Linie dem Gleichheitsgrundsatz 50. Gegen diese Konzeption macht Hart zwei Einwände geltend: 2. Moralisch -pädagogisches Argument

51

Wie schon oben erwähnt, ist es ein zentrales Anliegen Harts - und Ausdruck seines politischen Liberalismus - , das Bewußtsein der Rechtsgenossen dafür wachzuhalten, daß eine Norm, weil zum Rechtssystem gehörend, damit nicht schon moralisch wertvoll ist; daß staatliche Dekrete dem einzelnen nie das Recht und die Last individueller moralischer Beurteilung abnehmen können; und daß, wie Hoerster 52 es ausdrückt, die moralische Fragwürdigkeit einer Handlung mit der Feststellung ihrer rechtlichen Gebotenheit oft überhaupt erst beginnt. Hart meint, zur Förderung dieses moralisch-pädagogischen Anliegens sei der positivistische Rechtsbegriff besser geeignet als ein naturrechtlich modifizierter: Es sei unwahrscheinlich, daß die Möglichkeit, einem besonders unbilligen 4 7

Gesetzliches Unrecht 339-350.

4 8

Eine Aufzählung der einschlägigen Entscheidungen findet sich bei R. Dreier, Begriff des Rechts 100 A 14; ausführlicher Weinkauff y Naturrechtsgedanke 1689-1696. - Zusammenfassend zur Radbruch'schzn Formel siehe den gleichnamigen Aufsatz von Ott. 4 9

Radbruch, Gesetzliches Unrecht 345.

5 0

Siehe Gesetzliches Unrecht 346 f.

5 1

Bezeichnung wiederum von R. Dreier, Recht und Moral 192.

5 2

Einleitung 9. - Eindringlich dazu auch MacCormick

y

Hart 160.

24

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Gesetz bereits die Rechtsqualität abzusprechen, den Widerstandswillen der Rechtsgenossen nennenswert stärken und zur Abschaffung der ungerechten Vorschrift oder der Ordnung, der sie angehöre, insgesamt führen würde: "Wicked men will enact wicked rules which others will enforce" 53 . Es sei vielmehr "surely more likely", daß die Bereitschaft zu Kritik und gegebenenfalls auch zu Widerstand bei denjenigen Rechtsgenossen stärker sein werde, die sich den Sinn dafür bewahrt hätten that there is something outside the official system, by reference to which in the last resort the individual must solve his problems of obedience54,

als bei anderen, die der Überzeugung seien, nichts Ungerechtes könne jemals den Status von Recht erlangen 55. Diesen Ausführungen läßt sich entnehmen, daß Hart Kelsens Einschätzung von der überwiegend konservativen sozial-psychologischen Funktion des Naturrechts teilt 5 6 , auch wenn er sich anders als dieser nur auf formelhafte Behauptungen beschränkt. Neben diesem Begründungsdefizit ist an Harts Argument problematisch, daß es in seiner Pauschalität jedenfalls der konkreten historischen Situation, auf die Radbruch sich bezieht - dem "Gesetz ist Gesetz"-Positivismus in Deutschland, der gerade nicht zwischen Rechtsqualität und Gehorsamsanspruch unterschied - kaum gerecht wird 5 7 . Daneben ist bemerkenswert, daß Hart mit diesen Überlegungen in methodischer Hinsicht über seinen sprachanalytischen Ansatz hinausgeht: Während er sich nach diesem darauf beschränken müßte festzustellen, wie in einer konkreten Gesellschafts- und Rechtsordnung ein bestimmter Begriff tatsächlich gebraucht wird 5 8 , erörtert er hier, wie der Begriff "Recht" - gegebenenfalls auch entgegen den gesellschaftlichen Usancen - gebraucht werden sollte. 3. Ermöglichung größerer begrifflicher

Klarheit

Hart bringt zur Verteidigung der Trennungsthese ein weiteres Argument vor, das er selbst als "perhaps a stronger reason" als die bisherigen Überlegungen bezeichnet 59 . Er führt aus, daß sie der sprachlich-begrifflichen Klarheit förderlich 5 3

CL 205 f.

5 4

CL 206.

5 5

CL 206.

5 6

So auch - mit kritischem Kommentar - Beyleveld/Brownsword,

5 7

Law as a Moral Judgment 106.

So auch R. Dreier, Rechtserkenntnistheorie 103; ders., Recht und Moral 192; siehe dazu auch Ott, Rechtspositivismus 31. 5 8

Siehe Hart, Definition and Theory 33-35,40-46.

5 9

CL 206.

. Die o i v i t ä t des Rechts

25

sei und eine bessere Identifizierung der zur Entscheidung anstehenden Sachprobleme ermögliche 60 . Dies zeige sich etwa, wenn es darum gehe zu entscheiden, ob jemand nach dem Ende des Dritten Reichs für eine bestimmte unmoralische Tat bestraft werden könne, die er während der NS-Herrschaft begangen habe und damals rechtlich erlaubt oder sogar geboten gewesen sei 61 . Die eigentliche Frage, die hier zur Entscheidung ansteht, ist, so Hart, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang in derartigen Konstellationen Ausnahmen vom strafrechtlichen Rückwirkungsverbot zugelassen werden sollten 62 . Von einem positivistischen Rechtsbegriff auszugehen und die nulla poena - Problematik mit den verschiedenen zur Abwägung stehenden Interessen in einem separaten zweiten Schritt zu erörtern stelle einen methodisch kontrollierteren Weg dar, diese Problematik zu behandeln, als wenn man all diese Fragen bereits in den Rechtsbegriff selbst hineinlese und auf einer einzigen Stufe zu lösen versuche. Dieses Argument Harts erscheint, für sich genommen, zwar bedenkenswert, nicht aber stark genug, um eine wesentliche Überlegenheit des positivistischen gegenüber einem naturrechtlich modifizierten Rechtsbegriff zu begründen; denn, einmal für das Problem sensibilisiert, ist der Naturrechtler prinzipiell nicht schlechter als der Rechtspositivist dazu geeignet, die einschlägigen

6 0

Positivism 75-77; CL 206 f.

6 1

Positivism 75-77; CL 206 f. - In dem konkreten von Hart behandelten Fall hatte die Ehefrau ihren Ehemann wegen staatsfeindlicher Äußerungen denunziert, um ihn auf diese Weise loszuwerden (OLG Bamberg SJZ 1950,207). 6 2 Die besondere Problematik, die sich nach der Gründung der Bundesrepublik für die westdeutsche Rechtsprechung aus der Existenz von Art. 103 Abs. 2 GG ergab, erörtert Hart nicht. - Kriele, Rechtspflicht 414-417; ders., Recht und praktische Vernunft 114 kritisiert Hart mit der Begründung, es sei entgegen seinem Vorbringen dem juristischen Denken nicht stets möglich, moralischen Problemen auszuweichen. Er führt dafür eine Reihe von Fällen an, die Hart nicht sachgerecht lösen könne: "Gesetzt, der Grundsatz 'nulla poena sine lege' mache, wie Hart annimmt, die Nürnberger Prozesse und die deutsche Strafrechtspraxis gegenüber Naziverbrechern illegal: wie wären dann die Richter, die an diesen Prozessen teilnahmenjuristisch richtig zu behandeln? ... Wie sollen sich Staatsanwaltschaft und Gerichte in der Bundesrepublik den Widerstandskämpfern gegen Hitler gegenüber verhalten? ...". Diese Fragen zeigten, "daß das Problem der Rechtfertigung des Widerstands gegen das Gesetz keineswegs nur eine 'außerrechtliche' ... Frage ist ... Das Problem des Widerstands wird in bestimmten Situationen zu einem juristischen Problem" (Rechtspflicht 416). Diese Einwände sind indes nicht geeignet, Harts Position zu erschüttern: Hart sagt nicht, daß der "nulla poena"-Satz auf die in Frage stehenden Sachverhalte unanwendbar sei; es sagt lediglich: 7 / inroads have to be made on this principle in order to avert something held to be a greater evil than its sacrifice, it is vital that the issues at stake be clearly identified" (CL 207; Hervorhebung von mir). Auch über diesen speziellen Fall hinaus ist es gerade der Kernpunkt von Harts Argument, daß in problematischen Fällen die Anerkennung der Rechtsqualität einer Vorschrift nur den ersten Schritt auf dem Weg zur richtigen Lösung darstellt und das Ergebnis keineswegs bereits determiniert (siehe CL 205). Hart geht es um methodische Klarheit bei der rechtlichen Entscheidungsfindung, die er durch den naturrechtlichen Anspruch gefährdet sieht, Fragen mit wesentlich politisch-moralischer Dimension als rechtsbegriffsinterne Probleme zu behandeln. (Siehe dazu auch den nachfolgenden Text.)

26

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Wertungsgesichtspunkte zu identifizieren und in seine Entscheidung miteinzubeziehen63. Harts Überlegungen bedürfen daher der Ergänzung. Eine Gesellschaft begreift sich stets auch als Wertegemeinschaft: Es gibt einen gewissen Grundbestand von Werten, zu denen man sich zumindest verbal bekennen muß, um im öffentlichen Gespräch anerkannt zu werden. In wertpluralistischen, demokratischen Rechtsstaaten wie der Bundesrepublik wird diese normative Klammerfunktion vor allem von den Grundrechten geleistet. Wenn sich diese gesellschaftliche Grundbezugsgröße ändert - in Anlehnung an K u h n 6 4 läßt sich von einem Wechsel der normativen Paradigmen einer Gesellschaft sprechen - , wenn also etwa, wie in (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, an die Stelle der Berufung auf den Führerwillen diejenige auf Grundrechte tritt, so wandelt sich auch die Identität der betreffenden Gesellschaft: Sie hat sich, ihre Stellung in der Welt, ihre Aufgaben und Ziele umdefiniert 65 . Kelsen und Hart erkennen zwar grundsätzlich die soziale Bezogenheit des Rechtsbegriffs, die sich daraus ergibt, daß dem Recht die normativen Paradigmen einer bestimmten Gesellschaft inkorporiert sind 66 . Sie machen diese Einsicht indes zur Verteidigung der Trennungsthese nicht hinreichend fruchtbar, da sie, wie gesehen, in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die Position des einzelnen und die bestmögliche Sicherung seiner individuellen Kritikfähigkeit und -bereitschaft abstellen. Aber erst wenn man daneben auch die Leistung des Rechts berücksichtigt, eine bestimmte soziale Identität zum Ausdruck zu bringen, wird deutlich, worum es in den Problemfällen, in denen die Auseinandersetzung zwischen dem positivistischen und dem naturrechtlich modifizierten Rechtsbegriff vor allem praktisch relevant wird, eigentlich geht: Die Frage, die sich nach dem Ende des Dritten Reichs ebenso stellte wie infolge des Beitritts der neuen Länder zur Bundesrepublik, ist, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang einer sich nach einem bestimmten normativen Paradigma definierenden Gesellschaft die Befugnis eingeräumt werden soll, Situationen, die unter der Herrschaft anderer Wertordnungen aufgetreten sind, nach ihren Maßstäben zu beurteilen; kurzum: ob die jetzige Gesellschaft ihre Paradigmen auch der vergangenen aufzwingen, sie für diese als maßgeblich erklären kann.

6 3

Ablehnend zu Harts Vorbringen daher Beyleveld/Brownswordy

Law as a Moral Judgment 106.

6 4

Zum Begriff des (wissenschaftlichen) Paradigmas siehe Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 28 und passim. 6 5 Siehe Honoréy Groups 7: "If the common understandings ... cease to exist the group ceases to be a group and becomes at most a collection of individuals, unless the understandings which have ceased to exist are replaced by others". 6 6

Siehe unten A III pr. sowie eindringlich Böckenförde , Historische Rechtsschule 28-31.

. Die o i v i t ä t des Rechts

27

Der Unterschied zwischen dem naturrechtlich modifizierten Rechtsbegriff, auch in der abgeschwächten Version Radbruchs, und dem positivistischen Rechtsbegriff liegt darin, daß ersterer dies als eine rechtsbegriffsinterne Frage ansieht, während letzterer es als politisch-moralisches Problem begreift. Die Konsequenzen der naturrechtlichen Ansicht hat mit besonderer Schärfe Grünwald aufgezeigt. Er kennzeichnet die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die, wie erwähnt, wesentlich auf der Radbruch'schen Formel beruht, als eine "punktuelle Betrachtung der einzelnen Gesetze": Die Feststellung der Ungültigkeit solle sich jeweils nur auf das einzelne extrem ungerechte Gesetz beziehen, ohne daß dadurch die Verpflichtungskraft der sonstigen Gesetze berührt würde 67 . Dies bewirke, daß für jeden Staat zu jeder Zeit festgestellt werden kann, daß in ihm eine intakte Rechtsordnung gelte oder gegolten habe - nämlich eine Rechtsordnung, bestehend aus den jeweiligen staatlichen Gesetzen, korrigiert durch die Normen des überpositiven Rechts. Mögen in einem Staate noch so abscheuliche Gesetze bestehen, befolgt und durchgesetzt werden - die Welt des geltenden Rechts ist immer eine heile W e l t 6 8 .

Der naturrechtliche Rechtsbegriff suggeriert also selbst im Falle so tiefer geschichtlicher Einschnitte wie dem zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik das Bestehen rechtlicher Kontinuität. Dies führt, wie Grünwald 6 9 demonstriert hat, nicht nur zu einer Reihe wenig befriedigender rechtlicher Einzelentscheidungen, sondern stellt, indem es die unterschiedlichen normativen Paradigmen der betreffenden Gesellschaften sub specie aeternitatis zu nivellieren sucht, vor allem eine fundamentale Verzerrung der politischen und sozialen Wirklichkeit dar. Damit bestätigt sich zugleich auch die Analyse Kelsens: Indem er die Zeitlichkeit eines bestimmten sozialen Selbstverständnisses mit dem Anschein von Ewigkeit versieht, erweist sich der naturrechtliche Rechtsbegriff, auch in der abgeschwächten Version Radbruchs, letztlich als Ideologie. III. Tatsächliche Verbindungen von Recht und Moral

Ebenso wie Kelsen und Hart übereinstimmend die begriffliche Trennung von Recht und Moral betonen, sind sie sich auch darin einig, daß zahlreiche Beziehungen tatsächlicher Art zwischen den beiden Bereichen bestehen. Beiden Autoren ist bewußt, daß die in einer Gesellschaft vorherrschenden moralischen und sonstigen ideellen (z.B. religiösen) Anschauungen70 in der Rechtsordnung 6 7

Kritik 14.

6 8

Kritik 14; zustimmend etwajflfoày, Strafrecht 121.

6 9

Kritik 8-19.

7 0

Hart, L L M 20 spricht insofern von der "positive morality" einer Gesellschaft, die er von der "critical morality" des einzelnen, der gesellschaftliche Institutionen und Werthaltungen von einem

28

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

in vielfältiger Weise ihren Niederschlag finden: vor allem im Rahmen der Gesetzgebung und als Interpretationstopoi im Prozeß der Normkonkretisierung 71 . Kelsen und Hart begnügen sich aber nicht damit, auf die Existenz derartiger Beziehungen zwischen der konkreten Sozialmoral einer bestimmten Gesellschaft und dem Inhalt ihrer Rechtsordnung hinzuweisen; sie vertreten darüber hinaus die Ansicht, daß eine jede Rechtsordnung faktisch nur dann überleben wird, wenn sie einen gewissen inhaltlichen Mindestbestand von Normen aufweist. Anders als das klassische Naturrecht behaupten sie damit freilich nicht, daß dieser Kernbestand von Normen für die Ausgestaltung des positiven Rechts moralisch verbindlich sei. Insbesondere sagen sie nicht, daß Rechtsordnungen überleben sollen. Sie wenden sich allein an das Machterhaltungsinteresse derjenigen, denen die Schaffung der Rechtsordnung einer Gesellschaft obliegt. Die von ihnen benannten Mindestvorschriften lassen sich mithin als Klugheitsregeln verstehen, denen jeder Gesellschaftsentwurf genügen muß, wenn er sich nicht von vornherein der Chance berauben will, Wirklichkeitsmächtigkeit zu erlangen. In diesem eingeschränkten Sinne üben auch noch die Ausführungen Kelsens und vor allem Harts jene regulative Funktion aus, die die Hauptaufgabe des klassischen Naturrechts gewesen ist. Es wird sich freilich zeigen, daß aufgrund der großen Allgemeinheit von Kelsens und Harts Überlegungen diese regulative Funktion tatsächlich äußerst gering ist. Ein weiterer Ausbau dieses Ansatzes zu einer soziologisch-anthropologischen Analyse der normativen Rahmenbedingungen, unter denen menschliches Zusammenleben auf einer bestimmten Stufe sozialer und kultureller Entwicklung, innerhalb einer bestimmten "Lebensform" überhaupt nur möglich ist, könnte jedoch zur Entwicklung einer Art von "soziologischem Naturrecht" führen und eine "gemeinsame Plattform für kritische Rechtspositivisten und kritische Naturrechtler" 72 bilden. 1. Die Position Kelsens: Faktische Friedensfunktion

des Rechts

In der "Reinen Rechtslehre" führt Kelsen zu den sogenannten SeeräuberStaaten aus:

moralischen Standpunkt aus kritisiert, absetzt. - Zur Bedeutung dieser Unterscheidung MacCormick, Hart 45-50; zur "social morality" bei Hart auch J. Cohen, The Myth of Neutrality 116. 7 1

Siehe Kelsen, RR 70; Han y CL 199 f.

7?

Weinberger, Die logischen Grundlagen 142. - Eine derartige Form der Argumentation führt allerdings, wie Böckenförde, Wertbegründung 90 bemerkt, "vielleicht zu einer soziologischen oder soziokulturellen, keinesfalls aber zu einer philosophischen Rechtsbegründung", weil in der Rückführung und Gründung des Rechts auf das zeitige Wertbewußtsein der Gesellschaft "die Richtigkeitsfrage als solche" nicht mehr gestellt wird (siehe auch unten A. 104).

29

. Die o i v i t ä t des Rechts

Als "Seeräuber" waren diese Gemeinschaften nur mit Bezug auf ihre völkerrechtswidrige Gewaltanwendung gegenüber den Schiffen anderer Staaten qualifiziert. Ihrer internen Ordnung nach war gegenseitige Gewaltanwendung wohl in einem solchen Maße wirksam verboten, daß jenes Minimum an kollektiver Sicherheit gewährleistet war, das die Bedingung einer relativ dauernden Wirksamkeit der die Gemeinschaft konstituierenden Ordnung ist7-*.

Aus diesem empirischen Befund folgert Kelsen, daß die als Recht bezeichneten Zwangsordnungen auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung de facto - d.h. ohne daß mit dieser Feststellung seitens der Rechtswissenschaft die Zuerkennung eines Gerechtigkeitswertes verbunden sei - der kollektiven Sicherheit bzw. dem Frieden dienten 74 . Das Erfordernis, daß jede das Leben einer Gemeinschaft wirksam regelnde Zwangsordnung bestimmte Verbotsnormen enthalten muß, ergibt sich nach Kelsens Ansicht bereits aus dem Begriff der "Gemeinschaft" selbst: Wären Raub und Mord im Verhältnis zwischen den Räubern nicht verboten, läge überhaupt keine Gemeinschaft, keine Räuber-"Bande" vor. 7 5

Diese Ausführungen Kelsens muß man berücksichtigen, um seine These, w o nach es kein menschliches Verhalten gibt, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein 76 , nicht mißzuverstehen. Diese These besagt nur, daß alles in eine Norm hineingeschrieben werden kann und sie, wenn sie nur einer im wesentlichen wirksamen Rechtsordnung angehört und selber im wesentlichen wirksam ist 7 7 , ungeachtet ihres Inhalts doch immer Rechtsnorm bleibt. In dieser Aussage kommt also lediglich die der Trennungsthese zugrundeliegende terminologische Festlegung in besonders pointierter Weise zum Ausdruck. Sie wird ergänzt durch Kelsens anthropologischsoziologische Erkenntnis, daß unter den Bedingungen der menschlichen Natur Gemeinschaft nur unter der Voraussetzung der Existenz bestimmter fundamentaler Verbotsnormen möglich ist 7 8 . Kelsen führt diesen Gedanken nicht weiter aus, geht er doch über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der Reinen Rechtslehre hinaus, der in der RR 49. - In diesen Zusammenhang paßt auch folgende Äußerung von Mackie (Ethik 9): "...vielleicht finden sich die besten Lehrer der Ethik unter den Kriminellen und Dieben, die sich, wie Locke sagt, aufeinander verlassen und untereinander die Regeln der Gerechtigkeit einhalten. Dabei praktizieren sie sie als Regeln der Übereinkunft, ohne die ihr Zusammenhalten unmöglich wäre, und geben nicht vor, sie hätten sie als angeborene Naturgesetze empfangen". 7 4

RR 49 f.

7 5

RR 48.

7 6

RR 201.

7 7

Zu dieser doppelten Wirksamkeitsprüfung siehe RR 218 sowie unten 4. Kap. Β I I und III.

7R f.

Im wesentlichen mit der hiesigen Deutung übereinstimmend Höffe,

Politische Gerechtigkeit 158

30

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Analyse der formalen Innenstruktur einer positiven Rechtsordnung liegt 7 9 . Die Auseinandersetzung Harts mit dieser Thematik ist im Vergleich dazu bedeutend ausführlicher und differenzierter. 2. Die Ausführungen Harts: Verhaltenslenkung qua Regel; die Lehre vom " minimum content of natural law" a) Voraussetzungen erfolgreicher sozialer Kontrolle durch Regeln Hart erläutert zum einen, daß soziale Kontrolle durch Regeln jeder Art - also auch durch Rechtsregeln - nur funktioniert, wenn die Regeln bestimmte Eigenschaften aufweisen: ...they must be intelligible and within the capacity of most to obey, and in general they must not be retrospective, though exceptionally they may b e 8 0 .

Bei der Aufzählung dieser "features of control by m i e " 8 1 knüpft Hart an die Darlegungen des naturrechtlich orientierten amerikanischen Rechtsphilosophen Fuller über "the inner morality of law" an 8 2 ; auch Hart selber betont den Bezug seiner Ausführungen zu den "requirements of justice which lawyers term principles of legality" 83 . b) Der Mindestgehalt des Naturrechts Hart begnügt sich jedoch nicht mit der Auflistung der allgemeinen formalen Anforderungen, denen Regeln genügen müssen, wollen sie ihrem verhaltenslenkenden Anspruch gerecht werden. Unter der Überschrift "The Minimum Content of Natural Law" 8 4 behandelt er auch die Problematik der Verhaltensregeln inhaltlicher Art "which any social organization must contain if it is to be viable" 85 . Seinen Ausführungen liegt die Überlegung zugrunde, daß eine Gesellschaft nur dann Bestand haben kann, wenn sie in ihrer Rechtsordnung die Überlebensinteressen zumindest so vieler ihrer Mitglieder sichert, wie zur 7 9

Siehe Höffe, siehe unten C I .

Politische Gerechtigkeit 158. - Zum Untersuchungsziel der Reinen Rechtslehre

8 1

CL 202.

8 2

Fuller , The Morality of Law 46-79.

8 3

CL 202.

8 4

CL 189-195.

8 5

C1 188. - Von daher ist der Vorwurf Menchacas (Hart 91), Hart übersehe, daß die Philosophie das Entweder-Oder zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus längst beiseitegeschoben habe, und er betreibe deshalb eine "theoretische Schaumschlägerei", nicht gerechtfertigt.

. Die o i v i t ä t des Rechts

31

tatsächlichen Aufrechterhaltung dieser Gesellschafts- und Rechtsordnung gebraucht werden. In seiner Argumentation lassen sich zwei Schritte unterscheiden: Er zeigt, wie sich der naturrechtliche Minimalgehalt aus dem Überlebenswunsch des einzelnen ergibt, und begründet seine Entscheidung, seinen Ausführungen als allgemeine Prämisse ausgerechnet den menschlichen Wunsch zu überleben zugrundezulegen. Sodann äußert er sich zu dem Umfang, in dem die Interessen der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft mindestens berücksichtigt werden müssen, damit die Gesellschaft funktionieren kann. (1) Herleitung des naturrechtlichen Mindestgehalts aus dem Überlebenswunsch des einzelnen Inhaltlich folgt nach Hart der Mindestgehalt des Naturrechts aus dem Überlebenswunsch des einzelnen, verbunden mit bestimmten anthropologischen und soziologischen Grundfaktoren der menschlichen Existenz. So ergäben sich aus der körperlichen Verwundbarkeit des Menschen das Körperverletzungs- und das Tötungsverbot 86. Aus der annähernden Gleichheit aller Menschen (auch der Stärkste müsse einmal schlafen) folge zunächst, daß es einem einzelnen allein unmöglich sei, andere auf die Dauer zu beherrschen; daraus wiederum ergebe sich die Notwendigkeit, ein System des Kompromisses und gegenseitiger Nachsicht zu etablieren, das die Grundlage von Moral- und Rechtspflichten bilde 87 . Aus der Tatsache, daß Nahrung, Kleidung und Obdach nicht in unbegrenztem Maße zur Verfügung stünden, folge zum einen das Erfordernis eines Mindestmaßes an Institutionalisierung und Schutz des Eigentums (wenn auch nicht notwendig eines Individualeigentums)88; zum anderen ergebe sich daraus der Zwang zu gesellschaftlicher Arbeitsteilung und damit die Notwendigkeit von Vorschriften, die den Abschluß von Verträgen und die Übertragung von Gütern ermöglichten 89. Schließlich machten die begrenzte Einsicht und Willensstärke des Menschen Sanktionen erforderlich, um die Wirksamkeit des Rechts zu gewährleisten 90. Davon, was sich unter der Voraussetzung des Überlebenswunsches ergibt, ist die Frage zu unterscheiden, wie Hart diese Prämisse begründet 91. Er verzichtet ausdrücklich darauf, den menschlichen Wunsch zu überleben moralisch zu 8 6

CL 190.

8 7

CL 190 f.

8 8

CL 192.

89

C L 192 f.

00 CL 193. - Zu den Parallelen des Hart'sehen "minimum content" zur Lehre Humes (auf den Hart sich ausdrücklich beruft, CL 254) siehe Skubik, Intersection 154-159. 91 Dazu Hittinger, Natural Law Theory 145 f.

32

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

bewerten; er behauptet weder, daß der Mensch als einzelner noch - wie dies etwa von Jonas 92 vertreten wird - daß zumindest die Menschheit als ganze überleben soll 9 3 , sondern er konstatiert lediglich das Faktum that an overwhelming majority of men do wish to live, even at the cost of hideous misery 94 .

Daß es ein fundamentaler Wunsch der allermeisten Menschen ist zu überleben, kommt nach Hart mit besonderer Deutlichkeit in der Sprache zum Ausdruck. Man könne nicht von dem generellen Wunsch nach Überleben absehen und Begriffe wie Gefahr und Sicherheit, Schaden und Vorteil, Bedürfnis und Funktion, Krankheit und Heilung unverändert weitergebrauchen, for these are ways of simultaneously describing and appraising things by reference to the contribution they make to survival which is accepted as an aim 9 5 .

Die Forderungen von Harts naturrechtlichem Minimalgehalt sind ihrer Form nach also hypothetische Imperative; Hart sagt dem einzelnen: "Wenn du unter den Grundbedingungen menschlicher Existenz deinen Überlebenswunsch gewährleistet sehen willst, dann tust du gut daran, auf die Einführung eines bestimmten Grundbestandes von Regeln zu dringen" 96 . (2) Mindestumfang der Rechtsgewährleistungen in einer funktionierenden Gesellschaft Darin, daß sie den naturrechtlichen Mindestgehalt vom Überlebenswunsch des einzelnen her entwickelt, ähnelt die Lehre Harts derjenigen von Hobbes 97 . Der weitere Gedankengang des "Concept of Law" zeigt jedoch, daß Harts Beweisziel sich wesentlich von dem des Hobbes unterscheidet. Hobbes sieht in der Gewährleistung von Rechtssicherheit zugleich Grundlage und Grenze der Autorität und des Gehorsamsanspruchs des Souveräns.

o? Δ 9 3

Prinzip Verantwortung 186 f. und passim. CL 187 f.

9 4

CL 188.

9 5

CL 188.

Qfi

J. Cohen, The Myth of Neutrality 114 bringt diesen Gedanken mit besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck: "... it is in the recognition by members of society (granted that survival is preferred to annihilation), that a legal order is a necessary means for making human social organisation viable. Its members should, therefore, prudently support ... a system of law that provides for mutual forbearance, protection and benefits" (Hervorhebung von mir). Siehe zu diesem Punkt auch Skubik , Intersection 181. - Zur Abgrenzung des Hart'schen Ansatzes von dem des traditionellen Naturrechts siehe auch Martin, Critique 389. 97

Auf das 14. und 15. Kapitel von dessen "Leviathan" beruft Hart sich auch ausdrücklich, CL 254. - Dazu auch Hittinger, Minimalist Natura] Law Theory 145 f.

. Die o i v i t ä t des Rechts

33

Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger ... Der Zweck des Gehorsams ist Schutz 98 .

Die Sicherung des Überlebensinteresses der Untertanen durch den Souverän hat also bei Hobbes eine normative Funktion. Anders dagegen bei Hart: Ihm kommt es nicht auf die Begründung des staatlichen Gehorsamsanspruchs an, sondern allein darauf zu zeigen, daß, warum und in welchem Umfang eine jede Rechtsordnung, der es darum geht, soziale Relevanz zu erlangen oder zu erhalten, bestimmten Minimalanforderungen inhaltlicher Art genügen muß 9 9 . Erst vor dem Hintergrund dieses spezifischen Beweisziels Harts wird die systematische Stellung seiner Ausführungen verständlich, wonach eine Rechtsordnung keineswegs allen ihren Mitgliedern den naturrechtlichen Minimalgehalt zugestehen müsse, um tatsächlich existieren und funktionieren zu können; das Recht könne durchaus einen Teil der Bevölkerung von seinen Begünstigungen ausschließen, solange der verbleibende, begünstigte Rest ausreiche, um die Durchsetzung der bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung sicherzustellen 100 . Hart will, dies ist die Quintessenz dieser Bemerkungen, nicht beweisen, daß und warum Rechtsordnungen einen bestimmten Inhalt haben sollen, sondern nur, daß und warum Rechtsordnungen einen gemeinsamen Gehalt haben, warum sie diese Gemeinsamkeiten mit geradezu naturgesetzlicher Notwendigkeit haben müssen 101 .

So gesehen, ist also Harts Konzeption "normativ uninteressant" 102. Sie stellt ebensowenig wie die Ausführungen Kelsens ein Naturrecht im klassischen Sinne dar, sondern ist ein anthropologisch-soziologischer Entwurf, der die Ebene der Faktizität, des "Seins", an keiner Stelle verläßt 103 .

9 8

Hobbes, Leviathan XXI.

9 9

Siehe CL 196.

1 0 0

CL 196.

1 0 1

Lippoldy Reine Rechtslehre 51.

1 0 2

Lippold, Reine Rechtslehre 51.

103

Auch Echnann y Rechtspositivismus 47 und Ott, Rechtspositivismus 93 betonen, daß Hart den Ist- und nicht den Sollzustand des Rechts beschreibe und deshalb keinen unzulässigen Schluß vom Sein auf das Sollen ziehe. Harris, Legal Philosophies 21 spricht deshalb von einer "sociological conception of natural law". Luksic y Law and Morality 339 beschreibt Harts Ausgangspunkt bei der Feststellung des "minimum content" als einen "semi-sociological point of view". Ebenso konstatiert auch Duff y Legal Obligation 62, daß die Lehre vom "minimum content" eine soziologische, keine normative Lehre sei. Mißverständlich sind dagegen die Ausführungen Weinbergers (Über schwache Naturrechtslehren 332), der meint, da Hart von einem naturrechtlichen Minimalgehalt spreche, könne seine Lehre dahingehend gedeutet werden, daß auch er diese inhaltliche Bestimmung nicht wertneutral verstehe, sondern als wenn auch losen - Richtigkeitsmaßstab. Eine normativistische Deutung von Harts "minimum content"Lehre ist jedoch, wie die Ausführungen im Text zeigen, mit der gesamten Anlage dieser Theorie nicht vereinbar. Weinbergers Argumentation zeigt allerdings, daß die Titulierung "minimum content of 3 Pawlik

34

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Es ist nicht allein das Etikett "Naturrecht", das Hart seinen Überlegungen gegeben hat, welches zu Bedenken Anlaß gibt. Daß Hart, wie er selber eingesteht 1 0 4 , im Ergebnis nicht mehr als eine Reihe von Gemeinplätzen (truisms) produziert 105 , mag man noch hingehen lassen, bringt es doch Harts Überzeugung zum Ausdruck, daß weitergehende Aussagen einen Anspruch auf rationale Verallgemeinerbarkeit nicht mehr erheben können. Problematischer ist dagegen die Unvollständigkeit von Harts Entwurf 1 0 6 : Die von Hart hervorgehobenen "truisms" sind, wie Krygier 1 0 7 hervorhebt, "truisms of a specifically individualist, presociological kind": Abgesehen von den Folgerungen, die Hart aus der Existenz von Arbeitsteilung zieht, stellen die von ihm dem naturrechtlichen Mindestgehalt zugerechneten Vorschriften - wie bei Hobbes - Bedingungen dar, unter denen sich eine Versammlung vorgesellschaftlich lebender Einzelmonaden zur Gesellschaftsbildung entschließen könnte, weil auf diese Weise das Überlebensinteresse jedes einzelnen besser gesichert würde. Die Dimension der Sozialität, die Position des Gesellschaftsmitgliedes, das durch seine Zugehörigkeit zu einer Sozietät definiert und durch sie in seiner Identität mediatisiert ist, vermag Hart mit dem von ihm gewählten Ansatz nicht zu erfassen. Dies führt dazu, daß er die Werte und Regeln, die dem Überleben der Gesellschaft als solcher dienen, von vornherein überhaupt nicht in den Blick bekommt 1 0 8 . Wie Krygier 1 0 9 bemerkt, braucht man nicht Hegelianer zu sein, um dies bei jemandem, der wie Hart mit dem Ziel angetreten ist, das Naturrecht in "descriptive sociology" 1 1 0 aufzulösen, für enttäuschend zu halten; denn Gegenstand der Soziologie ist nicht der vorgesellschaftliche einzelne, die "Monade", sondern der Mensch in seiner Formung durch die Gesellschaft. Durch die Enge seiner Ausgangsannahme verschließt Hart sich somit die Möglichkeit, eine

natural law" wenig adäquat ist (so auch Eckmann 48; Ott 94). - Siehe in diesem Zusammenhang auch oben A. 73. 1 0 4

CL 188.

1 0 5

Dazu kritisch Moles , H.L.A. Hart 107: "The extent of Hart's claim is to assert what no person has ever doubted for a moment, and that is that the whole of human race is not in the condition of having a war of each against all". 1 0 6 Bereits Verdross , Naturrecht 65, der ansonsten die Ausführungen Harts zum naturrechtlichen Mindestgehalt im wesentlichen zustimmend referiert, wirft die Frage auf, "ob Hart alle Merkmale des Menschen berücksichtigt hat oder ob es auch andere Daten gibt, die weitere Rechtsnormen erheischen", führt diesen Gedanken allerdings nicht weiter aus. 1 0 7

Social Theory 180; ebenso Skubik , Intersection 180.

1 0 8

Ähnlich Krygier , Social Theory 180; Skubik, Intersection 180.

1 0 9

Social Theory 180.

1 1 0

Siehe CLVund unten C I I .

Β. Die Normativität des Rechts

35

Analyse des notwendigen Mindestgehalts einer Rechtsordnung zu geben, die den Namen einer deskriptiven Soziologie wirklich verdient 111 . Harts Lehre vom Mindestgehalt des Naturrechts kann also den von ihr reklamierten Status nicht beanspruchen. Sie bringt vielmehr politische Präferenzen, eine bestimmte Ideologie zum Ausdruck: Die Gesellschaft, die Hart im Blick hat, ist die der freien und gleichen 112 einzelnen, die durch Austauschbeziehungen miteinander verbunden sind und hinter denen ein Staat steht, der - gegebenenfalls durch den Einsatz von Zwang - dafür sorgt, daß alle Gesellschaftsmitglieder die rechtlichen "Spielregeln" einhalten. Obwohl Hart selbst nicht müde wird, den deskriptiven und verallgemeinernden Charakter seiner Theorie herauszustellen 113, ist doch der affirmative Charakter dieser Ausführungen nicht zu verkennen: Hart gibt in ihnen die Kernbestandteile des liberalen Credo als Resultate anthropologisch-soziologischer Konstanten aus und erreicht dadurch ihre weitgehende Immunisierung gegenüber Veränderungsforderungen. Als Ergebnis dieser Überlegungen ist festzuhalten, daß Harts Ausführungen sowohl von ihrem methodischen Ansatz als auch von ihren Resultaten her erheblichen Bedenken ausgesetzt sind. Die Aufgabe, ein "soziologisches Naturrecht" im eingangs angedeuteten Sinne zu entwerfen, hat somit Hart letztlich ebensowenig gelöst wie Kelsen. B. Die Normativität des Rechts Neben der Positivität des Rechts ist seine Normativität das zweite Element, das den Rechtsbegriffen Kelsens und Harts gemeinsam ist: Beide Autoren betrachten eine Rechtsordnung als ein Gefüge von Normen (Kelsen) bzw. Regeln (Hart). Recht fällt danach nicht mit der Entscheidungstätigkeit der Gerichte zusammen, sondern geht dieser durch die Statuierung von Sollensvorschriften voraus. Als Sollensordnung kommt ihm eine eigenständige ideelle Existenz (Geltung) zu und ist es von Seinsphänomenen wie Macht und Gehorsam kategorial verschieden. Die Einzelheiten sowie die problematischen Aspekte dieser Position und ihrer Begründung durch Kelsen und Hart sind nachfolgend zu erörtern.

1 1 1

Ebenso Krygier,

Social Theory 180.

11? Zur Bedeutung des letztgenannten Elements bei Hart siehe Luksic, Law and Morality 340, der darauf hinweist, darin liege bereits "a speculative value judgment, a metaphysical idea, which is not self-evident on a positivistic and empirical level", Martin , Critique 389-396 sowie Weinberger , Über schwache Naturrechtslehren 330. 1 1 3

Siehe oben bei A. 99.

36

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

I. Recht als Sollensordnung; Umfang der inhaltlichen Vorgaben an die Rechtsanwendung durch Rechtsvorschriften

1. Das Recht als Sollensordnung a) Ausgangspunkt Kelsens und Harts: Sichtweise der Rechtsdogmatik Die Untersuchungsperspektive, die "Problemhinsicht" 114 , von der Kelsen und Hart mit ihrem normativistischen Rechtsbegriff ausgehen, ist die der Rechtswissenschaft in ihrer klassischen Erscheinungsform, der Rechtsdogmatik. Durch "die hermeneutische Explikation dessen, wie das Gesetz gehandhabt werden soll", arbeitet die Rechtsdogmatik der richterlichen Entscheidungspraxis zu und kontrolliert diese 115 . Auf die rechtsdogmatische Betrachtungsweise bezieht sich Kelsen, wenn er bemerkt, daß alle Juristen, auch wenn sie im Begreifen ihres Gegenstandes ein Naturrecht ablehnten und sich auf das positive Recht beschränkten, dennoch aber das ihrer Erkenntnis Gegebene nicht als Tatsache der Macht, sondern als Recht, nicht als bloßes Faktum, sondern als Norm, wenn sie die zu erfassenden Beziehungen nicht als natürliche Verhältnisse von Ursache und Wirkung, sondern als normative Relationen von Verpflichtung und Berechtigung verstehen 116 .

Wenn man den Sollenscharakter des positiven Rechts leugne, so würden daher all die Tausende von Aussagen, in denen das Rechtsleben sich täglich äußert, ihre Bedeutung verl(ie)ren 117 .

Dennoch läßt sich, wie Kelsen 118 einräumt, letzten Endes "der Sollenscharakter des positiven Rechts nicht logisch beweisen". Wie jede Festlegung eines bestimmten wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes unterliegt auch die Entscheidung der analytischen Rechtstheorien, ihren Analysen einen normativistischen Rechtsbegriff zugrundezulegen, nicht den Kriterien "richtig" und "falsch", sondern sie beurteilt sich allein nach Gesichtspunkten der Zweck mäßigkeit und der "analytischen Fruchtbarkeit" der von ihnen gewählten Untersuchungsperspektive119. Indem der Rechtsbegriff der analytischen Rechtstheorien 1 1 4

R. Dreier , Reine Rechtslehre 242 f.

1 1 5

R. Dreier , Selbstverständnis 54. - Auch Kelsen , HPS 42 formuliert, der Standpunkt des Richters sei zugleich der des theoretischen Juristen dem Gesetzesrechte gegenüber. 1 1 6

Die philosophischen Grundlagen 286.

1 1 7

RR 1. Aufl. 35. 11ο Rechtswissenschaft 79.

1 1 9

Siehe allgemein F. Cohen, Field Theory 271.

Β. Die Normativität des Rechts

37

sich an den der Rechtsdogmatik anlehnt, wird es ihnen möglich, deren begriffliches Instrumentarium analytisch zu durchdringen und systematisch darzustellen. In ihrer Fixierung auf die Sichtweise der Rechtsdogmatik liegt also die besondere "Brauchbarkeit" 120 , aber zugleich auch die Grenze des Informationsgehalts der analytischen Rechtstheorien. b) Abgrenzung zum Rechtsrealismus Indem sie das Recht als Sollensordnung verstehen, grenzen Kelsen und Hart sich vor allem gegen den Rechtsrealismus ab. (1) Position des Rechtsrealismus Der Rechtsrealismus, "bis heute die zweite Hauptspielart der Rechtstheorie" 121 , ist vor allem in zwei Varianten vertreten worden: als skandinavischer und als amerikanischer Rechtsrealismus. Obwohl die beiden Ansätze sich beträchtlich voneinander unterscheiden, weisen sie doch eine fundamentale Gemeinsamkeit auf: Zentral für beide ist, daß sie "Recht" nicht - wie Kelsen und Hart - im Sinne einer ideellen Sollensordnung, sondern als faktische, in Psychologie und Soziologie auflösbare Größe begreifen. So reduziert Hägerström, der "Stammvater" des skandinavischen Rechtsrealismus, alle seelisch-geistigen Gehalte, auch das Recht, "auf das aktuelle Geschehen, das äußere Verhalten und die aktuellen Vorstellungen in Raum und Zeit" 1 2 2 . Einem Rechtspositivismus, der eine eigenständig, also jenseits des Denkens und Handelns der Menschen existierende Rechtsordnung annimmt, schreibt er naturrechtlichen Charakter z u 1 2 3 . Auch Hägerströms Schüler Alf Ross siedelt die Rechtsbegriffe nicht in einer autonomen Sphäre der Normativität - in einem Sollen - an, sondern löst sie in Seinsfaktoren auf. So bedeutet etwa die Aussage, daß eine Norm "gilt", seiner Ansicht lediglich, daß sie von den Richtern als bindend empfunden und daher angewendet wird. Zwei Elemente machen also nach Ross die Geltung einer Norm aus: ein äußeres Verhalten, nämlich die tatsächliche Anwendung der Norm; und eine bestimmte i n nere Einstellung des Richters, nämlich sein Gefühl, durch die Norm gebunden zu sein 1 2 4 . Die Rechtswissenschaft ist dementsprechend für Ross keine spezifische

1 2 0 121

R.

Kelsen, Rechtswissenschaft 79. Dreier, Allgemeine Rechtstheorie 19.

Ryffely Rechtssoziologie 93 f. - Zu Hägerströms Auseinandersetzung mit Kelsen siehe Bjarup, Hägerström's Critique 19-45. 1 2 3

Siehe Ryffel,

1 2 4

Ross, On Law and Justice 37.

Rechtssoziologie 95 sowie Vogel, Rechtsrealismus 42 m.w.N. in Fußn. 160.

38

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Normwissenschaft, sondern "ein Zweig der Psychologie und Soziologie" 125 . Ihre Aufgabe besteht darin, das Verhalten der Gerichte zu beobachten und V o r aussagen darüber zu machen, wie sie die zukünftigen einschlägigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden werden. Den amerikanischen Rechtsrealisten geht es im Gegensatz zu den Skandinaviern weniger um die Analyse rechtlicher Begriffe 126 ; sie konzentrieren sich vielmehr, almost to the point of obsession, on the judicial process, that is, with what courts do and should do, how judges reason and should reason in deciding particular cases 127 .

Dabei erkennen sie durchaus an, daß die richterliche Tätigkeit in weitem U m fang regelgeleitet ist 1 2 3 . Dennoch verstehen sie - ebenso wie die Skandinavier das Verhältnis zwischen Rechtsregei und richterlicher Tätigkeit nicht im Sinne einer Sollensbeziehung, sondern betrachten die Tatsache, daß eine Rechtsvorschrift in einem Parlamentsgesetz niedergelegt ist, nur als Indiz dafür, daß sie von den Gerichten in bestimmten Kontexten tatsächlich angewandt werden wird. Ebenso wie für die skandinavischen ist also auch für die amerikanischen Rechtsrealisten Recht das Ergebnis der richterlichen Entscheidungstätigkeit und stellt die Vorhersage der künftigen Entscheidungen der Gerichte die eigentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft dar 1 2 9 ; eine Aufgabe, die sie nur dann angemessen erfüllen könne, wenn sie auch psychologische und soziologische Fragestellungen in das Feld ihrer Untersuchungen einbeziehe 130 .

1 2 5 Kelsen, Eine "Realistische" und die Reine Rechtslehre 13. - Einen Überblick über Kelsens Auseinandersetzung mit dem Rechtsrealismus gibt Bobbio, "Sein" and "Sollen" 20 f. 1 2 6

Zu dieser Ausrichtung des skandinavischen Rechtsrealismus siehe Ott, Rechtspositivismus 69.

197

c Hart, American Jurisprudence 123. - Diese Ausrichtung der amerikanischen Rechtstheorie ist vor allem von der Erfahrung des enormen politischen Einflusses des U.S. Supreme Court beeinflußt worden, siehe Hart, American Jurisprudence 126 f. - Zum Unterschied der Ausrichtung des Amerikanischen von der des Skandinavischen Rechtsrealismus siehe auch Dias y Jurisprudence 461. 100 Die Vorstellung, daß die amerikanischen Rechtsrealisten einen extremen Regelskeptizismus vertreten - eine Vorstellung, an deren Verbreitung Harts einseitige Darstellung im "Concept of Law" (CL 132-137) keineswegs schuldlos ist (kritisch zu Hart insofern auch MacCormick, Hart 124; Simmondsy Central Issues 87; Taylor, H.L.A. Hart's Concept of Law 606) - beruht auf einer Verallgemeinerung vereinzelter polemisch überspitzter Äußerungen einzelner Rechtsrealisten. Zur tatsächlichen Position etwa von Holmes siehe nunmehr auch Hart, American Jurisprudence 128. (In diesem Aufsatz gibt Hart eine weitaus ausgewogenere und gerechtere Darstellung des amerikanischen Rechtsrealismus als im "Concept of Law".) 1 2 9 Dies wird besonders deutlich in der berühmten Formulierung von Holmes , The Path of the Law 173: "The prophecies of what the courts will do in fact and nothing more pretentious are what I mean by the law". 1 3 0

Übersicht bei Dias y Jurisprudence 447 f.

Β. Die Normativität des Rechts

39

(2) Beziehung der Lehren Kelsens und Harts zum Rechtsrealismus Indem der Rechtsrealismus sich zur Psychologie und zur Rechtssoziologie hin öffnete, erweiterte er die Fragestellungen der analytischen Theorien und erschloß dadurch Problemebenen für die Rechtstheorie, die ihr zuvor unzugänglich geblieben waren. Es war eine notwendige Folge dieser veränderten Fragestellung, daß der Rechtsrealismus die normativistische "Innenperspektive" des Rechts aufgab, die die "Problemhinsicht" 131 der Rechtsdogmatik und der auf sie bezogenen analytischen Rechtstheorien kennzeichnet. Durch diese Verlagerung der Untersuchungsperspektive wurde indes der normativistische Ausgangspunkt der analytischen Theorien keineswegs widerlegt, sondern lediglich die wissenschaftliche Erkenntnis von Recht, dieses "vielleicht komplexeste(n) aller Kulturphänomene" 132 , um eine Reihe neuer Einsichten erweitert. Daß unterschiedliche Fragestellungen unterschiedliche Informationen ermöglichen, ist ein Gemeinplatz. Er trifft auch auf die Beziehungen zwischen analytischer und realistischer Rechtstheorie zu: Nimmt man ihre unterschiedlichen Ausgangspunkte ernst, so kennzeichnet Ergänzung, nicht Gegensätzlichkeit ihr Verhältnis zueinander 133 . Dies bedeutet indes nicht, daß die Theorien Kelsens und Harts auf der einen und die rechtsrealistischen Konzeptionen auf der anderen Seite unverbunden nebeneinander stünden. Sowohl Kelsens als auch Harts Lehren weisen vielmehr Elemente auf, durch die sich unmittelbare Berührungspunkte mit dem Rechtsrealismus ergeben. Bei Kelsen ist in diesem Zusammenhang vor allem seine zur Erklärung des Phänomens (in der herkömmlichen Terminologie so genannter) "rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte" entwickelte Lehre von der Alternativermächtigung zu erwähnen, in der er den Gerichten ein hohes Maß an autonomer Rechtsetzungsbefugnis zuerkennt 134 . Noch augenfälliger sind die Parallelen zwischen der Theorie Harts und rechtsrealistischen Positionen. Einer der wichtigsten Begriffe im "Concept of Law" ist derjenige der sozialen Regel. Die Existenz einer solchen Regel wird von Hart an zwei Voraussetzungen geknüpft: ein gewisses Verhalten muß in einer bestimmten Situation regelmäßig erfolgen; und es muß von den Gesellschaftsmitgliedern in ihrer Mehrheit als gesollt, also im Ob seiner Ausführung nicht dem freien Entschluß des einzelnen unterliegend, angesehen

1 3 1

Der Begriff stammt von R. Dreier, Reine Rechtslehre 242 f.

1 3 2

Bücher, Kritik 56.

1 3 3

R. Dreier, Allgemeine Rechtstheorie 24; Taylor, H.L.A. Hart's Concept of Law 617-619 (speziell bezogen auf das Verhältnis Harts zum amerikanischen Rechtsrealismus). 1 3 4

Dazu im einzelnen unten 3. Kap. Β I.

40

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

werden 1 3 5 . Das letztgenannte Merkmal bezeichnet Hart als den "internen Aspekt" von Regeln, die ihm korrespondierende Haltung des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes als den "internen Standpunkt". Für Harts Rechtstheorie sind die Ausführungen zu den "sozialen Regeln" vor allem deshalb bedeutsam, weil die höchste Regel einer Rechtsordnung, die Erkenntnisregel, von ihrer Struktur her einer sozialen Regel entspricht 136 : Die Erkenntnisregel, die die Geltungskriterien einer Rechtsordnung enthält, existiert dadurch, daß sie vom Rechtsstab, insbesondere den Gerichten, anerkannt und angewendet wird. Diese Ausführungen Harts weisen eine erhebliche Ähnlichkeit zum Normbegriff von Ross auf 1 3 7 . Zwar wehrt Hart 1 3 8 sich gegen eine Gleichsetzung seiner Lehre mit dessen Überlegungen. Er, Hart, habe die Unterscheidung von internem und externem Standpunkt nämlich, anders als Ross, nicht psychologistisch, sondern als Unterscheidung zweier verschiedener Aussagetypen gemeint: von Aussagen, die von den "Mitspielern" innerhalb eines bestimmten normativen Kontextes gemacht würden, einerseits, und der von einem äußeren Beobachter vorgenommenen Beschreibung der Verhaltensweisen in dieser Gruppe andererseits. Wenn Harts Ausführungen zum internen und externen Standpunkt näher untersucht werden 1 3 9 , wird sich jedoch zeigen, daß diese Selbstinterpretation Harts nicht vollständig zutrifft. Er verwendet nämlich unterschiedliche Abgrenzungskriterien nebeneinander, und während eines von diesen sich in der Tat auf die von ihm in seinem Abgrenzungsversuch gegen Ross angeführten Aussagetypen bezieht, hat ein anderes - ebenso wie bei Ross - psychologisierenden Charakter. Insofern steht Hart in einem wichtigen Punkt seiner Lehre dem Rechtsrealismus Ross'scher Prägung deutlich näher, als er selbst dies wahrhaben will. Damit deutet sich bereits an - und die nachfolgenden Einzelanalysen werden dies bestätigen - , daß die Beziehungen zwischen den Lehren Kelsens und Harts auf der einen und der Rechtsrealisten auf der anderen Seite trotz der deutlichen Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte erheblich vielschichtiger sind, als dies anfänglich den Anschein hat. Für das Verhältnis dieser Ansätze zueinander trifft das gleiche zu wie innerhalb der Gruppe der analytischen Theorien für die Beziehungen zwischen den Konzeptionen Kelsens und Harts: nicht ein E x klusivitätsverhältnis besteht zwischen ihnen, sondern ein kompliziertes Geflecht von Verweisungen und Ergänzungen. Die Eindeutigkeit des "entweder - oder" ist zu ersetzen durch den weniger spektakulären und jedenfalls mühsameren 1 3 5

Siehe CL 54-56 und unten 2. Kap. Β 1 1 .

1 3 6

Dazu unten 2. Kap. Β II 1.

III

Ross selbst (in: Book Review 1188 f.) meint sogar, Harts Ausführungen zu diesem Punkt unterschieden sich nicht wesentlich von den seinigen. l'io X J O Scandinavian Realism 166 f. 139

4 . Kap. C I .

Β. Die Normativität des Rechts

41

Versuch, anhand von Einzelanalysen diese Beziehungen aufzuweisen und zu beurteilen. Nur eine auf diese Weise, also auf der Grundlage eines selbstreflektierten Methodenpluralismus betriebene Rechtstheorie vermag der Vielschichtigkeit des Phänomens "Recht" gerecht zu werden. 2.

Inhaltliche Vorgaben an die Rechtsanwendung durch die Rechtsvorschriften'yformelle Gerechtigkeit a) Kernbereich "eindeutiger" Fälle

Wer auf dem Standpunkt steht, das Recht sei am sinnvollsten als ein System von Sollensvorschriften, von Normen oder Regeln zu verstehen, der muß entgegen einem extremen Regelskeptizismus - voraussetzen, daß es möglich sei, bestimmte Verhaltensweisen als Befolgung bzw. Nichtbefolgung dieser V o r schriften zu qualifizieren. Nur unter dieser Voraussetzung ist es nämlich möglich, in der Analyse der rechtlichen Normenstruktur mehr zu sehen als ein unverbindliches intellektuelles Spiel. Einer Rechtsvorschrift muß also ein Bedeutungsgehalt entnommen werden können, der es erlaubt, mit dem Anspruch auf intersubjektive Maßgeblichkeit bestimmte Interpretationen als inhaltlich richtig anzuerkennen und abweichende Auslegungen - ungeachtet der möglichen Rechtsgültigkeit der auf ihrer Grundlage ergangenen autoritativen Entscheidungen - als inhaltlich unzutreffend zu verwerfen 140 . Es darf, anders gesprochen, nicht nur Problemfälle geben. Dieses Erfordernis bildet das begründungsmäßige Verbindungsglied zwischen den normativistischen Rechtsbegriffen Kelsens und Harts und ihren Interpretations- und Ermessenslehren. Diesen Lehren kommt also mit anderen Worten die Funktion zu, auf einer Metaebene den Nachweis zu führen, daß die normativistische "Problemhinsicht" prinzipiell überhaupt sinnvoll und analytisch fruchtbar sein kann. Den vorstehenden Überlegungen entsprechend stellen sowohl Kelsen als auch Hart in ihren Ausführungen zu diesem Thema fest, daß es eine Vielzahl "eindeutiger" Fälle gebe, in denen nur eine rechtlich richtige Lösung in Frage komme. (1) Die Position Kelsens Bei Kelsen ist dies indes nicht unmittelbar ersichtlich. In der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung 141 stellen sein Schüler Merkl und er nämlich heraus, daß die in der Rechtsnormenhierarchie übergeordnete Norm den Inhalt des ihr

1 4 0 Zur Problematik sogenannter "rechtswidriger, aber dennoch rechtsgültiger Rechtsakte" siehe unten 3. Kap. B. 1 4 1

Dazu im einzelnen unten 3. Kap. A I .

42

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

untergeordneten Rechtsaktes niemals vollständig zu bestimmen vermöge. Dies folgt nach der Meinung beider aus der Einsicht, daß der Prozeß der stufenweisen Rechtserzeugung mit der fortschreitenden Konkretisierung und Individualisierung des Rechtsinhalts einhergehe 142 . Ein relativ abstrakter Akt, der als Erzeugungsregel eines relativ konkreten Aktes diene, könne nur eine Komponente gleichsam den Rahmen - des Konkretisierungsprozesses abgeben und müsse einer anderen Komponente Raum lassen: dem Ermessen des zur Setzung des konkretisierenden Akts zuständigen Organs 143 . Dieser Ermessensspielraum Merkl bezeichnet ihn auch als "autonome Determinante", der er die "heteronome Determinante", die in der übergeordneten Norm enthaltenen inhaltlichen V o r gaben an den Rechtsanwendungsakt, gegenüberstellt 144 - sei bald größer, bald geringer 145 ; aber kein Rechtsakt sei denkbar, der nicht zumindest "eine Spur von freiem Ermessen" ermögliche 146 . Selbst ein noch so ins einzelne gehender Befehl müsse dem ihn Vollziehenden eine Fülle von Bestimmungen überlassen. Treffe etwa das Organ A die Anordnung, daß das Organ Β den Untertan C verhaften solle, so müsse Β nach eigenem Ermessen entscheiden, wann, wo und wie er den Haftbefehl verwirklichen wolle. Dies seien Entscheidungen, die von äußeren Umständen abhingen, welche das anordnende Organ nicht vorausgesehen habe und zum großen Teil auch nicht voraussehen könne 1 4 7 . Diese Ausführungen sind indes nicht so zu verstehen, als wolle Kelsen mit ihnen die Existenz "eindeutiger" Fälle bestreiten, in denen die Anwendung einer Rechtsnorm auf einen Sachverhalt ergibt, daß nur eine einzige Handlungsweise inhaltlich rechtmäßig ist. Dies wird deutlich, wenn er davon spricht, daß die Interpretation eines Gesetzes nicht notwendig zu einer einzigen Entscheidung als der allein richtigen führen müsse, sondern daß sie möglicherweise zu mehreren führen könne 1 4 8 , und wenn er hinzufügt, rechtswissenschaftliche Interpretation müsse auf das sorgfältigste die Fiktion vermeiden, daß eine Rechtsnorm stets nur eine, die "richtige" Deutung zulasse 149 . Es mag demnach zwar im Ermessen des Vollstreckungsbeamten liegen, ob er den mutmaßlichen Straftäter jetzt oder eine 1 4 2

Siehe Kelsen, AS 234 sowie unten 3. Kap. A 1 1 b.

1 4 3

Siehe Merkl, Verwaltungsrecht 142; Kelsen, Interpretation 1364; ders., RR 347 f.

1 4 4

Verwaltungsrecht 142.

1 4 5

Kelsen, Interpretation 1363 f; ders., RR 241, 347. - Beispiel: Die Vorgaben der Verfassung an den Inhalt von Parlamentsgesetzen sind in der Regel weniger weitreichend als das Maß der inhaltlichen Determiniertheit von Gerichtsurteilen und Verwaltungsakten (siehe Kelsen, Interpretation aaO; Achterbergy Hans Kelsens Bedeutung 454). 1 4 6

Merkly Rechtsantlitz 1110; Kelsen Interpretation 1364; ders. y RR 347.

1 4 7

RR 347.

1 4 8

RR 349; Hervorhebung von mir.

1 4 9

RR 353; Hervorhebung von mir.

Β. Die Normativität des Rechts

43

halbe Stunde später verhaftet - daß er ihn verhaften muß, wenn er sich dem Recht gemäß verhalten will, steht indes nicht in seinem Ermessen, sondern ergibt sich aus dem Inhalt der einschlägigen strafprozessualen Norm. Das Ermessen bezieht sich in diesen Fällen also nicht auf das Ob, sondern lediglich auf die Modalitäten, das Wie der Normanwendung. Insgesamt geht es Kelsen somit nur darum, die begriffsjuristische Doktrin zurückzuweisen, daß alle rechtlichen Probleme einer, "der" richtigen Lösung zugänglich seien; dagegen bestreitet er keineswegs, daß es in einer Reihe von Rechtsfragen nur eine rechtmäßige Antwort g i b t 1 5 0 . (2) Die Ansicht Harts Auch Hart betont, daß es in jeder funktionierenden Rechtsordnung eine große Anzahl von Fällen gebe, in denen Ermessensprobleme sich nicht stellten, weil in Anbetracht der Eindeutigkeit der einschlägigen Rechtsvorschriften von vornherein nur eine rechtlich "richtige" Lösung infrage komme. Hart stellt die Existenz derartiger Fälle sogar weitaus deutlicher heraus als Kelsen: Die These, daß Regeln ihre Aufgabe, das alltägliche Verhalten der Rechtsgenossen zu lenken 1 5 1 , nur deshalb erfolgreich wahrnehmen könnten, weil (und insoweit) sie so formuliert seien, daß prinzipiell die Betroffenen aus ihnen unmittelbar, das heißt, ohne die Einschaltung autoritativ entscheidender staatlicher Instanzen, zu entnehmen vermöchten, was sie zu tun oder zu lassen hätten, durchzieht geradezu leitmotivisch seine Darlegungen zur Interpretations- und Ermessensproblematik 152 . b) Formelle Gerechtigkeit Gleichsam die Kehrseite von Kelsens und Harts Ansicht, daß der Bedeutungsgehalt von Rechtsvorschriften zumindest in einem Kernbereich mit dem Anspruch auf intersubjektive Verbindlichkeit festgestellt werden könne, daß es also "eindeutige" Fälle gebe, bilden ihre Ausführungen zum Begriff der formellen Gerechtigkeit. Sie betonen übereinstimmend, daß der Grundsatz der formellen Gerechtigkeit, worunter man zu verstehen habe, daß rechtliche V o r schriften auf gleiche Sachverhalte in gleicher Weise anzuwenden seien, eine Rechtmäßigkeitsanforderung an die Rechtsanwendung darstelle, und daß diese Anforderung sich unmittelbar aus dem Begriff der Rechtsnorm bzw. Rechtsregel ergebe. So schreibt Kelsen:

1 5 0

So auch Walter, Auslegungsproblem 190 f.

1 5 1

Zu der hier zum Ausdruck kommenden allgemeinen Ausrichtung von Harts Rechtslehre - hier "Normalitätsperspektive" genannt - siehe unten C II. 1 5 2

Siehe CL 121,127,130,132,132 f.; ferner MacCormick, Hart 125.

44

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts It is "just" for a general rule to be applied in all cases where according to its content the rule should be applied. It is "unjust" for it to be applied in one case and not in a similar case. "Justice" means the maintenance of a positive order by applying it conscientiously. It is "justice under the l a w " 1 5 3 .

In der "Reinen Rechtslehre" fügt er ergänzend hinzu: Damit ist aber nur das allem Recht immanente Prinzip der Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung im allgemeinen und das allen Gesetzen immanente Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Gesetzanwendung, also nur statuiert, daß Normen normgemäß anzuwenden sind. Damit ist aber nichts anderes als der den Rechtsnormen immanente Sinn ausgesprochen154,

und wenn er mißachtet werde, so sei die betreffende Entscheidung als rechtswidrig anfechtbar 155 . Mit diesen Ausführungen Kelsens übereinstimmend betont Hart, die Idee der Gerechtigkeit in ihrer einfachsten Form, als Gerechtigkeit in der Rechtsanwendung, is simply to take seriously the assertion that what is to be applied in different cases is the same general rule, without prejudice, interest or caprice 156 ,

wobei freilich die Kriterien für "gleich" und "ungleich" dem Rechtsanwender von der einschlägigen Rechtsvorschrift vorgegeben seien 157 . Der Grundsatz der formalen Gerechtigkeit sei deshalb mit einem hohen Maß an Ungerechtigkeit vereinbar; aber er enthalte "the germ at least of justice" 1 5 8 . 3. Keine vollständige Determinierung der Rechtsanwendung durch Rechtsnormen In den vorstehenden Ausführungen wurde bereits deutlich, daß nach Kelsens und Harts übereinstimmender Ansicht die Rechtsanwendung durch die anzuwendenden 1 1 5 4

Analytical Jurisprudence 49. RR 146.

1 5 5

RR 146. - Bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen (im einzelnen siehe unten 3. Kap. Β I 2), daß Kelsen die Begriffe "Rechtswidrigkeit" und "Rechtmäßigkeit" nicht in einem einheitlichen Sinne verwendet: Im Zusammenhang mit seiner Interpretations- und Ermessenslehre (siehe etwa RR 348: "... jeder Akt rechtmäßig ..., der sich innerhalb dieses Rahmens hält ..."; Hervorhebung von mir) und mit seinen Ausführungen zur formellen Gerechtigkeit (siehe das Zitat im Text) legt er einen in herkömmlicher Weise inhaltlich verstandenen Rechtmäßigkeitsbegriff zugrunde; in seiner Lehre von der Alternativermächtigung dagegen verwendet er einen geltungsbezogenen Rechtmäßigkeitsbegriff, der auch solche Rechtsakte umfaßt, die zwar unter Überschreitung des Rahmens zustandegekommen sind, denen aber dennoch Rechtsgeltung zukommt. Diese Doppeldeutigkeit von Kelsens Rechtmäßigkeitsbegriff ist bedenklich, da zu Verwirrung Anlaß gebend. 1 5 6

CL 156 f.

1 5 7

CL 155; ebenso Kelsen , Analytical Jurisprudence 49.

1 5 8

CL 202.

Β. Die Normativität des Rechts

45

Normen zwar partiell, nicht aber vollständig determiniert wird. Neben den eindeutigen Fällen, in denen es nur eine richtige Lösung gebe, existierten auch Problemfälle, in denen nach den Worten Kelsens das anzuwendende Recht nur einen Rahmen (bildet), innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung gegeben sind, wobei jeder Akt rechtmäßig ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rahmen in irgendeinem möglichen Sinn ausfüllt 159 .

a) Die Ansicht Kelsens: Darstellung aller rechtmäßigen Entscheidungsmöglichkeiten als Aufgabe rechtswissenschaftlicher Interpretation Aus diesem Tatbestand ergeben sich nach Kelsen bedeutsame Konsequenzen für eine mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auftretende Interpretationslehre. Ihre Aufgabe liege nicht darin, das dezisionistische Element in der rechtlichen Entscheidungsfindung zum Verschwinden zu bringen; sie habe sich vielmehr darauf zu beschränken, die verschiedenen in Betracht kommenden Auslegungen aufzuzeigen und es dem rechtsanwendenden Organ zu überlassen, sich für eine dieser Auslegungen zu entscheiden160. Welche Auslegung das Rechtsanwendungsorgan auch immer wähle; seine Entscheidung sei stets rechtmäßig, solange sie sich innerhalb des von der Rechtswissenschaft aufgezeigten Rahmens halte 1 6 1 . Diesen Ausführungen liegt die Überzeugung Kelsens zugrunde, daß von einem konsequent positivistischen Standpunkt aus die Bevorzugung einer bestimmten Methode der Interpretation gegenüber einer anderen nicht begründbar sei. So sei es bislang weder gelungen, Situationen, in denen der Wille des Normgebers mit dem von ihm gewählten Ausdruck kollidiere, in einer objektiv gültigen Weise zugunsten der einen oder der anderen Alternative aufzulösen, noch gebe es eine Methode, nach der von mehreren im Kontext des betreffenden Gesetzes oder der Rechtsordnung insgesamt möglichen sprachlichen Bedeutungen einer Norm eine als die "richtige" ermittelt werden könnte 1 6 2 . Alle Interpretationsmethoden können nach Kelsen also prinzipiell die gleiche Dignität beanspruchen; die Wahl zwischen ihnen ist rechtspolitischer Natur und letzten Endes Sache des autoritativ - in Kelsens Terminologie: "authentisch" - entscheidenden Rechtsanwendungsorgans, das auf diese Weise "etwas vom Berufe des Gesetzgebers erhält" 1 6 3 und Recht schafft 164 .

1 5 9

RR 348.

1 6 0

Kelsen, Interpretation 1366; ders., RR 349, 353.

1 6 1

Kelsen, Interpretation 1366; ders., RR 348. - An dieser Stelle verwendet Kelsen also wiederum einen inhaltlich geprägten Rechtmäßigkeitsbegriff. 1 6 2

Interpretation 1367; RR 349 f.

1 6 3

Merk!, Anwendung 1170.

46

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Der Gedanke, der den Überlegungen Kelsens zugrundeliegt, ist, wie Römer formuliert, "im Grunde sehr einfach und gerade deshalb die überkommene Lehre revolutionierend": Die Rechtserkenntnis kann nicht mehr erkennen als das Objekt ihrer Erkenntnis; was nicht Inhalt der positiven Rechtsnorm ist, kann auch nicht als Inhalt der Rechtsnorm erkannt werden 1 .

Der Reinen Rechtslehre geht es also "nicht um die Vindikation eines ideellen Gegenstandes"166, sondern um eine klare Abgrenzung desjenigen Bereichs, in dem die Jurisprudenz für ihre Äußerungen das Prädikat der Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann, von demjenigen, in dem sie - gestützt auf politische, moralische oder sonstige Erwägungen - wählt und entscheidet, aber nicht mehr erkennt. Erkennen und Wollen, Wissenschaft und Politik - diese Gegensatzpaare bilden den Grund, auf dem Kelsen seine Interpretationslehre errichtet. Damit erweist sich diese Theorie als Bestandteil seiner Ideologiekritik 167 : Der Jurisprudenz soll die Möglichkeit genommen werden, unter dem Deckmantel der Wissenschaft Politik zu betreiben und auf diese Weise irgendeinen Rechtsinhalt "wissenschaftlich" zu erschleichen, der nur im Rechtsverfahren der Gesetzgebung oder Gesetzesvollziehung erzeugt werden könnte 1 6 8 .

Ferner kommt in dieser Auffassung wiederum der radikale Skeptizismus zum Ausdruck, der bereits in Kelsens Wertrelativismus seinen Niederschlag gefunden hat 1 6 9 : In Anbetracht der Unmöglichkeit inhaltlicher Letztbegründungen in der "normativen Welt" ist nach dieser Konzeption die dem Wissenschaftler als solchem in derartigen Fragen allein anstehende Haltung: das Vertretbare darzustellen und im übrigen - zu schweigen.

1 6 4 RR 351 f. - Daß nach der Konzeption der Reinen Rechtslehre die Entscheidungsmacht der Rechtsanwendungsorgane sogar noch weitergeht, indem sie "geltendes Recht" selbst dann schaffen können, wenn sie über den ihnen rechtlich vorgegebenen Rahmen hinausgehen, wird im 3. Kap. Β I erörtert. 1 6 5

Römer, Verfassungsinterpretation 195.

1 6 6

Behrend, Stufenbaulehre 90.

1 6 7

Zur ideologiekritischen Komponente der Reinen Rechtslehre siehe bereits oben A I sowie allgemein Topitsch, Einleitung. 1 6 8 1 6 9

Kelsen, Formalismus 1724.

Zu Kelsens Wertrelativismus siehe oben A L - Ähnlich Engisch, Literaturbericht 606 (zustimmend H. Dreier, Hans Kelsen 148): In Kelsens Interpretationslehre geselle sich zum Relativismus der Skeptizismus; auch Schreier, Rechtsnorm 208 zieht aus einer Untersuchung u.a. von Kelsens Äußerungen zur rechtlichen Interpretation das Fazit, die Reine Rechtslehre sei "von tiefem Skeptizismus erfüllt".

Β. Die Normativität des Rechts

47

b) Die Meinung Harts: Bereich rechtlich ungeregelten Ermessens unvermeidbar und wünschenswert Auch Hart wendet sich gegen die Vorstellung - er nennt sie "the vice known to legal theory as formalism or conceptualism" 170 - , daß in der Gesamtheit der Vorschriften einer Rechtsordnung die allein richtige Lösung für alle möglichen Einzelfragen bereits potentiell enthalten sei und im Zuge der konkreten Falllösung nur noch zutreffend "erkannt" werden müsse. Er betont stattdessen, daß die Existenz eines Bereichs rechtlich ungeregelten Ermessens nicht nur unvermeidlich, sondern auch wünschenswert sei. (1) Unvermeidbarkeit von Problemfällen Die Ermessensproblematik stellt sich nach Hart lediglich gleichsam an den "Rändern" der Rechtsregeln: in Fällen, bei denen nicht mehr eindeutig klar ist, ob eine bestimmte Regel auf sie Anwendung findet oder nicht. Die Existenz solcher Rand- oder Grenzfälle beruht nach Harts Ansicht nicht allein auf Mängeln der gesetzgeberischen Formulierungskunst, und sie sei auch mithilfe von Interpretationskanones nicht vollständig zu überwinden; vielmehr folge sie aus der allgemeinen sprachanalytischen Einsicht, daß jede Regel eine Eigenschaft aufweise, die Hart 1 7 1 im Anschluß an Waismann 172 als "open texture" bezeichnet 173 . Wie man auch immer generelle Verhaltensstandards zu vermitteln suche - ob durch Beispiel (die Technik des Präjudizienrechts im anglo-amerikanischen Common Law) oder durch abstrakt-generell gefaßte gesetzliche Vorschriften (die in den kontinentaleuropäisch beeinflußten Rechtskreisen favorisierte M e thode) - , immer würden neben den klaren Fällen, die "jedenfalls" von der Regel umfaßt seien oder die eindeutig außerhalb ihres Bereichs lägen, auch solche Situationen auftreten, die zwar einige, aber nicht alle Merkmale der "klaren" Fälle aufwiesen 174 . Wenn zum Beispiel "Fahrzeuge" (vehicles) in einen öffentlichen Park verboten seien, so fielen darunter jedenfalls Automobile ("If anything is a vehicle a motor-car is one"), aber es gebe auch eine Reihe von Grenzfällen (zum Beispiel Fahrräder, Flugzeuge oder Rollschuhe), die dem

1 7 0

CL 126.

1 7 1

CL 121 und passim.

179

Verifiability 119 ff. - Zu den Unterschieden zwischen Hart und Waismann siehe Β ix, H.L.A Hart 55-64, der kritisch anmerkt, bei Hart werde die These von der "open texture" lediglich behauptet, aber nicht begründet (aaO 65). 173 Auf Parallelen der Lehre Harts zu Hecks Unterscheidung von Bedeutungskern und Bedeutungshof weist Eckmann, Rechtspositivismus 56 f. hin. 1 7 4

CL 123.

48

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Musterbeispiel "Automobil" zwar in einigen, aber nicht in allen Hinsichten entsprächen. Bei ihnen sei es nicht von vornherein klar, ob sie von dem Verbot erfaßt seien oder nicht 1 7 5 . In solchen Fallgestaltungen, die, durch die Natur oder die menschliche Erfindungskraft bedingt, beständig aufträten 176 , könne also die einschlägige rechtliche Regel allein von ihrem Wortlaut her die Frage nach ihrer Subsumierbarkeit nicht abschließend beantworten. Hier, wo die Möglichkeit der Verhaltenslenkung durch Sprache an ihre Grenzen stoße und die Rechtsregeln eindeutige Antworten verweigerten, liegt nach Hart der Bereich, in dem die zur Entscheidung berufenen Amtsträger zur Ausübung von Ermessen aufgerufen seien 177 . (2) Ermessen bei der Rechtsanwendung wünschenswert Daß der Rechtsanwender über ein gewisses Maß an Ermessen verfügt, ist nach Hart nicht nur aus den soeben genannten, in der Natur der Sprache liegenden Gründen unvermeidlich, sondern zudem auch wünschenswert. Der Gesetzgeber sei nicht allwissend und daher nicht in der Lage, alle Fallkonstellationen zu antizipieren, in denen der Sinn und Zweck einer bestimmten Regel deren Anwendung geböte. Häufig erforderten die besonderen Umstände eines konkreten Falles die nähere Konkretisierung und Präzisierung des Zwecks einer Rechtsvorschrift 178 . Diese Aufgabe könne am ehesten von demjenigen Rechtsanwendungsorgan - Gericht oder Verwaltungsbehörde - erfüllt werden, das mit den Fakten und der spezifischen Problematik des Falles vertraut sei und deshalb die beste Gewähr dafür biete, den aufgetretenen Konflikt einer rationalen Lösung zuzuführen 179 . (3) Die Behandlung der Problemfälle Daß es in den Grenz- oder Problemfällen nicht möglich sei, aus einer bestimmten Rechtsvorschrift ein eindeutiges Ergebnis abzuleiten, bedeutet nach Harts Ansicht also nicht, daß der Rechtsanwender dadurch einen Freibrief für

1 7 5

Siehe CL 123.

1 7 6

CL 123.

1 7 7

Siehe CL 124.

178

Fortführung des im Text erwähnten Beispiels: Verlangt das Ziel, Ruhe und Frieden in öffentlichen Parks zu gewährleisten, auch, elektrisch betriebene Spielzeugautos als verbotene "Fahrzeuge" anzusehen (CL 126)? Die Beantwortung dieser Frage setzt eine Präzisierung des Regelungszwecks und, damit verbunden, eine Klärung seines Verhältnisses zu sonstigen als sozial wünschenswert anerkannten Zielen (z.B. Sicherung ausreichender Spielmöglichkeiten für Kinder) voraus. 1 7 9 Siehe CL 125-127; in CL 127-132 erläutert Hart auf der Grundlage des Common Law verschiedene Techniken, die einer Rechtsordnung zur Verfügung stehen, um den Rechtsanwendungsorganen ein - graduell abgestuftes - Ermessen zu übertragen.

Β. Die Normativität des Rechts

49

irrationale oder willkürliche Entscheidungen erhalte 180 . Autoritative Rechtsanwendung bedürfe stets einer Begründung; und Rechtsbegründung finde nie in einem Vakuum, sondern stets vor dem Hintergrund einer kompletten Rechtsund Sozialordnung statt: einem hochkomplexen Gebilde vielfältig miteinander verflochtener und aufeinander bezogener Vorschriften und Wertungen: These include a wide variety of individual and social interests, social and political aims, and standards of morality and justice; and they may be formulated in general terms as principles, policies and standards 181 .

Diese Faktoren und ihre Beziehungen zueinander näher zu kennzeichnen hieße, so betont Hart, nicht weniger, als die Eigenart der Methodik juristischer Argumentation überhaupt zu charakterisieren 182. Eine solche vollständige Interpretations- und Argumentationslehre entwickelt Hart indes nicht; er beschränkt sich vielmehr auf allgemeine Ausführungen: In manchen Fällen sei aus der Vielfalt möglicher Erwägungen nur ein einzelner Gesichtspunkt relevant, der dann möglicherweise die Entscheidung ebenso eindeutig bestimme wie eine ausdrückliche Rechtsregei. Aber häufig sei dies nicht so, und die Richter seien gezwungen, zur Begründung ihrer Entscheidungen eine Vielzahl von Gesichtspunkten heranzuziehen, von denen, für sich genommen, keiner zur Stützung der Entscheidung ausreichend wäre, die aber in ihrer Gesamtheit die Entscheidung rechtlich zu rechtfertigen vermöchten 183 . Ein solches Verfahren ermögliche einen beachtlichen Grad der Rationalisierung autoritativer rechtlicher Entscheidungen; es ist aber nach Harts Ansicht nicht dazu in der Lage, das Ermessen des zur Entscheidung Berufenen vollständig festzulegen. Zuletzt müsse vielmehr der Rechtsanwender selbst und in eigener Verantwortung die Wahl zwischen den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten treffen 184 . (4) Rechtsordnung als Kompromiß zwischen gegensätzlichen Leitideen Insgesamt stellt eine jede Rechtsordnung nach Harts Ansicht somit einen Kompromiß zwischen zwei einander widerstreitenden Zielvorstellungen dar: Auf der einen Seite steht das Erfordernis, den Rechtsgenossen verläßliche, das heißt: inhaltlich möglichst eindeutige rechtliche Verhaltensmaßstäbe zur Verfügung zu stellen; auf der anderen Seite hingegen ist es begrifflich notwendig 1 8 0

CL 124; Problems 106 f.

1 8 1

Problems 107.

CL 124. - Einen entsprechenden Versuch unternimmt vom Boden der Hart'sehen Theorie aus MacCormick, Legal Reasoning. 1 8 3

Problems 107; siehe auch CL 124.

1 8 4

CL 124.

4 Pawlik

50

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

und wünschenswert, den Rechtsregeln ein gewisses Maß an Offenheit zu bewahren, um sachgemäße Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen 185 . Welches dieser beiden Momente in einer konkreten Rechtsordnung stärker betont wird, ist, wie Hart andeutet 186 , in einem gewissen Maße eine historisch kontingente Frage, hängt also vom Rechtsideal einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ab; daneben spielt aber, wie Hart hervorhebt, auch die Art des zu regelnden Sachverhalts eine wesentliche Rolle: Im Falle von Tatbeständen, bei denen nur in wenigen Situationen ein soziales Interesse daran besteht, ein an sich verbotenes Verhalten ausnahmsweise doch zu gestatten, bei denen also nur wenige Zielkonflikte denkbar sind - Musterbeispiel ist die Tötung eines anderen Menschen - , ist eine weitestgehend eindeutige Verhaltensregelung per Rechtsregel möglich; die verbleibenden Grenz- und Problemfälle sind auf ein Minimum reduziert 187 ; in anderen Fällen, etwa zum Sorgfaltsmaßstab bei industrieller Tätigkeit, sind dagegen aufgrund der Diversizität der zu regelnden Sachverhalte inhaltlich aussagekräftige allgemeine Vorschriften kaum möglich, und der Konkretisierungstätigkeit der Rechtsanwendungsorgane kommt entscheidende Bedeutung z u 1 8 8 . 4. Problematik der Ausfährungen Kelsens und Harts a) Argumentationslücke bei Kelsen: Fehlen einer brauchbaren Interpretationslehre Einwände gegen die Überlegungen Kelsens ergeben sich aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen sind seine Ausführungen zu der Frage, auf welche Weise der inhaltliche Rahmen einer Norm, d.h. die Grenze allenfalls noch zulässiger Interpretation festgestellt werden kann, äußerst lapidar gehalten. Er beschränkt sich auf die Bemerkung, es gebe schlechthin keine positivrechtliche Methode, nach der von mehreren sprachlichen Bedeutungen einer Norm nur eine als "richtig" ausgezeichnet werden könnte; vorausgesetzt natürlich, daß es sich um mehrere mögliche, das heißt: im Zusammenhang mit allen anderen Normen des Gesetzes oder der Rechtsordnung mögliche Sinndeutungen handelt 189 .

1 8 5

CL 127.

1 8 6

Siehe CL 126.

1 8 7

Siehe CL 130.

1 8 8

Siehe CL 128-130.

1 8 9

Interpretation 1367; RR 349.

Β. Die Normativität des Rechts

51

Kelsen macht also die Grenzen interpretativer Willkür, jenseits derer er Auslegungen nicht mehr als zulässig erachtet, an den möglichen sprachlichen Bedeutungen fest, die einem Rechtsbegriff im Kontext eines einzelnen Gesetzes oder der Rechtsordnung als Ganzem zukommen können 190 . Auf die Frage allerdings, was als "mögliche Sinndeutung" eines sprachlichen Begriffs in Betracht kommt und auf welche Weise sie ermittelt werden kann - auf diese Frage, die, wie Schreier 191 bemerkt, "ein, oder vermutlich das Hauptproblem der Semantik" und ein bedeutsames Aufgabenfeld juristischer Interpretationslehren darstellt und sich keinesfalls mit einem Halbsatz abtun läßt, geht Kelsen nicht ein. Seine Ausführungen zu den Schranken interpretativen Beliebens bleiben von daher äußerst fragmentarisch 192 und deuten allenfalls die Richtung an, in der nach Kelsens Meinung weiterzuforschen ist 1 9 3 . Eine "brauchbare Interpretationslehre" stellen Kelsens Ausführungen jedenfalls nicht dar 1 9 4 . Bedeutsamer als die Unvollständigkeit von Kelsens Überlegungen ist indes ihre innere Unstimmigkeit: Indem Kelsen im Einklang mit, ja: als notwendige Folge aus seinem normativistischen Rechtsbegriff betont, daß das Ermessen des Rechtsanwenders keineswegs unbeschränkt sei, sondern daß der sprachliche Sinn der übergeordneten Normen den Rahmen festlege, innerhalb dessen jener sein Ermessen rechtmäßigerweise nur betätigen dürfe, mißachtet er sein relativistisches Postulat von der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller I n terpretationslehren und legt sich selbst auf eine bestimmte Ansicht fest, der er Anspruch auf intersubjektive Maßgeblichkeit zuschreibt. Mit anderen Worten: Kelsens Normativismus verlangt von ihm, das vorauszusetzen, was sein erkenntnistheoretischer Skeptizismus verwirft: eine verbindliche Interpretationslehre. 1QO Siehe Schreier, Rechtsnorm 203 sowie die auf dem Boden der Reinen Rechtslehre vorgetragenen Überlegungen Merkls, Interpretationsproblem 1073 f. 1 9 1 Rechtsnorm 203. 1Q9

Auch Walter, Auslegungsproblem 189 stellt fest, daß die Frage, wie der Erkenntnisakt der Vollziehung zu bewältigen sei, bei Kelsen nicht eingehend behandelt werde. In die gleiche Richtung zielt der Einwand Römers, Verfassungsinterpretation 198 f., trotz der durchgängigen Betonung des Rechts als eines Rahmens in der Reinen Rechtslehre bleibe ungewiß, wie dieser Rahmen festgestellt werden solle. - Böhm, Interpretationstheorie 4 weist zudem darauf hin, daß Kelsens Annahme eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen der Erkenntnis bereits vorgegebenen und der Setzung neuen Rechts vom Standpunkt der modernen Hermeneutik aus unhaltbar ist. (Zu deren Position siehe grundlegend Gadamer , Wahrheit und Methode 330-346 und passim.) 1 9 3 Den Versuch, auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre die Umrisse einer Interpretationslehre zu entwerfen, unternimmt Walter, Auslegungsproblem 191-197 (kritisch Böhm, Interpretationstheorie 5-11). 1 9 4 Auch Jeschy Rezension 436 macht der Reinen Rechtslehre den Vorwurf, sie leide am "Mangel einer brauchbaren Interpretationstheorie"; und Winkler, Wertbetrachtung 49 urteilt: "Kelsens Interpretationslehre ist zwar einfach, aber verfehlt und irreführend".

52

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Kelsens Versuch, das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Grundbegriffen seiner Theorie dadurch zu lösen, daß er - als Konzession an den Normativismus - anerkennt, daß jede Rechtsnorm einen Bedeutungsrahmen möglicher sprachlicher Bedeutungen enthalte, während darüber hinaus dem Ermessen freier Raum gegeben sei - Einfluß des Skeptizismus - , vermag nicht zu überzeugen. Wenn Kelsen sich mit seinen Ausführungen zum einer Norm selbst ins Dickicht der Interpretationslehren begibt - wie zögerlich und unbefriedigend seine diesbezüglichen Äußerungen auch sein mögen - , so trifft ihn eine Begründungspflicht dafür, daß seine minimalistische, auf die Grenzen des möglichen Wortsinns abstellende Interpretationslehre denjenigen Konzeptionen, die den von der Sphäre rechtspolitischer Entscheidung abzugrenzenden Bereich spezifisch rechtlichen Argumentierens großzügiger bestimmen, überlegen ist. Dieser Pflicht genügt Kelsen nicht, wenn er sich darauf beschränkt, auf das Faktum hinzuweisen, daß die verschiedenen Interpretationslehren in Problemfällen häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Er muß vielmehr auf einer normativen Ebene, sozusagen in einer Auseinandersetzung unter Gleichen, zeigen, daß unter den verschiedenen Interpretationstheorien, die für ihre Ergebnisse den "Ehrentitel" 195 des Rechts beanspruchen, die von ihm vertretene Deutung des Begriffs der Rechtsinterpretation den Vorzug verdient. In seinen Ausführungen in der "Reinen Rechtslehre" findet sich aber nicht einmal der Ansatz zu solch einer "rechtsbegriffsimmanenten" Verteidigung seiner Position. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Kelsens Ausführungen zur Interpretationsproblematik auf einer petitio principii beruhen: Nur weil Kelsen von Beginn an stillschweigend unterstellt, daß er wisse, was (noch) Recht und was (schon) Politik sei, kann er Versuche, den Bereich des Rechts großzügiger zu bemessen, als unwissenschaftlich ablehnen. Damit reduziert sich die Bedeutung der Interpretationslehre Kelsens auf die allgemeine Mahnung an die Rechtswissenschaftler, in bezug auf ihre Aussagen das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zurückhaltender und selbstkritischer zu gebrauchen, als dies mitunter geschieht 196 . Was indessen positiv als (rechts)wissenschaftlich anzusehen ist - auf diese Frage geben Kelsens Ausführungen zur Frage rechtlicher Interpretation keine Auskunft. Diese Lücke, die sich aus der die Reine Rechtslehre kennzeichnenden Verbindung von erkenntnistheoretischem Skeptizismus und methodischem Formalismus 197 ergibt, stellt ihr größtes Defizit als analytische Rechtstheorie dar.

1 9 5

Siehe Lübbe-Wolff,

Buchbesprechung 508.

IQ f.

Auch H. Dreier, Hans Kelsen 153 spricht davon, daß Kelsens Lehre vor allem zu Gewißheitsverlusten, zur Problematisierung methodischer Scheinsicherheiten führe. 1 9 7

Zu diesem unten C I .

Β. Die Normativität des Rechts

53

b) Das Problem der Lehre Harts: Keine ausgearbeitete Interpretationstheorie Auch Harts Versuch, eine Mittelposition zwischen den Extremen des Regelskeptizismus auf der einen und der Begriffsjurisprudenz auf der anderen Seite zu etablieren, hat, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, seine Grundlage in der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen klaren Fällen und Problemfällen: Die Existenz ersterer führt Hart gegen den radikalen Regelskeptizismus ins Feld; das Bestehen letzterer dient ihm zur Zurückweisung der These von der stets existierenden einzig richtigen Lösung rechtlicher Problemfälle. Die zentrale Bedeutung, die diese Unterscheidung in seiner Argumentation einnimmt, wirft ebenso wie bereits bei Kelsen die Frage nach den Kriterien auf, die ihr zugrundeliegen; es ist mit anderen Worten die Frage danach, what makes a "clear case" clear or makes a general rule obviously and uniquely applicable to a particular case 1 9 8 .

Hart beantwortet diese Frage, die er - nicht ohne ein gewisses Maß von understatement - als M a matter of some difficulty" bezeichnet 199 , zwar nur verhältnismäßig kursorisch, läßt aber an seiner grundsätzlichen Position keinen Zweifel: Klar sind danach diejenigen Fälle, die allgemein als klar, als eindeutig einer bestimmten Regel unterfallend angesehen werden 2 0 0 - sei es aufgrund eines übereinstimmenden Sprachgebrauchs, sei es aufgrund des im Gesetz ausdrücklich festgeschriebenen oder allgemein konsentierten Zwecks einer Vorschrift 201 . Dies ist - ähnlich wie bei Kelsen - eine gewissermaßen minimalistische A n t wort: Hart versucht nicht, Maßstäbe zu formulieren, anhand derer sich intra systematisch begründen ließe, warum in einer konkreten Situation die Anwendung einer bestimmten Norm rechtlich gesollt ist - dies würde auf die Entwicklung einer Interpretationslehre hinauslaufen, was Hart, wie er ausdrücklich erklärt 2 0 2 , nicht anstrebt. Er begnügt sich vielmehr damit, von einem exfrasystematischen Beobachterstandpunkt aus zu konstatieren, daß in zahlreichen Situationen ein faktischer Konsens über die Anwendbarkeit einer bestimmten Rechtsregei auf einen bestimmten Sachverhalt besteht. Dieser Ausgangspunkt hat indes zur Folge, daß Hart letztlich weder die regelskeptizistischen Einwände abzuwehren noch die - in der gegenwärtigen Diskussion vor allem von Dworkin vertretene - Meinung zurückzuweisen 1 9 8

Problems 106.

1 9 9

Problems 106.

2 0 0

Siehe CL 123; Problems 106.

2 0 1

Siehe Problems 106 und dazu Waluchow, Legal Rules 68 f.

2 0 2

Problems 106.

54

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

vermag, wonach es auf jede Rechtsfrage nur eine richtige Antwort gebe 2 0 3 . Harts Argumentation ist deshalb ebenso wie das Vorbringen Kelsens zur Begründung der von ihm eingenommenen Grundposition unzureichend. Wie bereits vorstehend erwähnt wurde 2 0 4 , erkennt der Regelskeptizismus auch in seiner radikalsten Erscheinungsform, dem amerikanischen Rechtsrealismus, durchaus an, daß Gerichtsurteile in vielen Fällen mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit vorhersagbar sind, weil häufig innerhalb der Rechtsgemeinschaft, insbesondere innerhalb des Rechtsstabes, keine nennenswerten Differenzen darüber bestehen, daß die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften auf bestimmte Sachverhalte zu angemessenen Ergebnissen führt. Die Bedenken des Regelskeptizismus beziehen sich auf den gerichtlichen Umgang mit den Fällen, in denen ein solcher Konsens nicht existiert: In solchen Fällen könnten die Richter häufig aus einer Vielzahl gegenläufiger rechtlicher Prinzipien und Wertungen die ihnen im Ergebnis genehmen auswählen; dieser Entscheidungs- und Begründungsprozeß sei nur unzureichend rationalisierbar. Gegenüber diesem regelskeptizistischen Pessimismus geht die Berufung Harts auf das Faktum, daß über den Bedeutungskern einer Regel ein - wie auch immer zustandegekommener - gesellschaftlicher Konsens besteht, ins Leere. Daran zweifeln im Grundsatz auch die Rechtsrealisten nicht. Um ihre auf die rechtlichen Begründungsprozeduren bezogenen Einwände auszuräumen, hätte Hart sich vielmehr ebenfalls auf einen intrasystematischen Standpunkt stellen und zeigen müssen, inwiefern auch in Fällen, in denen es an einem vorgängigen Konsens fehlt, bestimmte, das konkrete Ergebnis vollständig oder doch jedenfalls weitgehend determinierende Bewertungen durch die Rechtsordnung gefordert werden, warum also derjenige, der den Anspruch erhebt, innerhalb dieses Systems - und nicht extra oder contra legem - zu argumentieren, diese Bewertungen nicht infrage stellen darf. Statt bloß die Existenz tatsächlicher Übereinstimmungen zu konstatieren und sich im übrigen mit einigen allgemeinen Bemerkungen zur Methodik juristischer Interpretation zu begnügen, hätte Hart also eine umfassende rechtliche Interpretations- und Begründungslehre entwickeln und dabei sein eigenes inhaltliches Vorverständnis offenlegen müssen. Da er sich dazu nicht bereit findet, bleibt - in den Worten von Simmonds 205 - seine Antwort auf die vom Regelskeptizismus vorgetragenen Bedenken "a depressingly irrelevant one": Sie verharrt unterhalb der eigentlichen Problemebene. Harts Annahme von der normativen Grundstruktur einer Rechtsordnung stellt

ΟΛ-1 Zu Dworkins Theorie siehe Bittner, Recht als interpretative Praxis. Dworkins Auseinandersetzung mit Hart (vor allem in: Model of Rules 1) wird ausführlich behandelt von Sop er, HartDworkin-Dispute. 2 0 4 Siehe oben A. 129. 2 0 5

Central Issues 78.

Β. Die Normativität des Rechts

55

damit auf der Basis der von ihm gegebenen Argumente eine bloße Behauptung dar. Der Bezug auf die Methodik juristischer Auslegung und Argumentation, die Vorstellung vom Recht als einem komplexen Argumentationsfeld verbindet den Regelskeptizismus der Amerikanischen Realisten mit Theorien, die, wie diejenige Dworkins, davon ausgehen, daß sich auch in Problemfällen aus dem System als Ganzen "die" eine richtige rechtliche Lösung ermitteln lasse - wenngleich diese Position insofern wesentlich optimistischer ist als die regelskeptizistische, als sie annimmt, daß es grundsätzlich möglich sei, die verwirrende Vielfalt juristischer Argumentations- und Auslegungsgesichtspunkte vor allem durch die Einführung der Kategorie von "Prinzipien" rational zu organisieren und auf diese Weise zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen. Diese Annahme ermöglicht es Dworkin, insofern mit Kelsen und Hart übereinstimmend, das Recht als Sollensordnung und nicht als bloßes Seinsphänomen aufzufassen. Mit seiner Konzeption der Rechtsprinzipien stellt Dworkin indes nicht nur den Normativismusbegriff der analytischen Theorien Kelsens und Harts - Rechtsordnung als Normen- bzw. Regelsystem - sondern überdies auch ihr Verständnis von der Positivität des Rechts infrage; denn kraft ihrer Struktur und ihrer Geltungsbegründung sprengen die Dworkin'schen Prinzipien den positivistischen Rechtsbegriff 206 . Gegenüber dieser Theorie, die, wiederum von einer Analyse der normativen Innenstruktur der Rechtsordnung ausgehend, beide Kernpunkte seines Rechtsbegriffs in Zweifel zieht, ist Harts Verweis darauf, daß lediglich ein Bedeutungskern von Rechtsregeln in einer Rechtsgemeinschaft allgemein anerkannt werde, erneut schlicht irrelevant - und zwar wiederum aus dem Grunde, daß Harts Entgegnung den von Dworkin eingenommenen intrasystematischen Standpunkt überhaupt nicht erreicht. So wie Hart gegenüber den Rechtsrealisten hätte zeigen müssen, warum die Rechtsordnung bestimmte Bewertungen als rechtlich gesollt fordert, hätte er im Verhältnis zu Dworkin begründen müssen, warum die Vielfalt juristischer Argumentationstopoi es unmöglich mache, Regeln und Prinzipien sowie ihr Verhältnis zueinander zweifelsfrei zu klassifizieren und so in jedem Fall zu einer, "der" richtigen A n t wort zu gelangen. Daß die einzelne Regel in Grenzbereichen unscharf ist, schließt nämlich die Möglichkeit nicht aus, etwa durch Rekurs auf die Wertungszusammenhänge des Systems als Ganzem doch noch eine eindeutige Lösung zu erreichen 207 . Das Vorhandensein oder Fehlen der sozialen Anerkennung eines bestimmten Ergebnisses ist dagegen allenfalls ein Indiz, nicht aber ein Kriterium für seine intrasystematische Richtigkeit oder Unrichtigkeit. Auch 2 0 6 2 0 7

Siehe dazu im einzelnen Dworkin , Model of Rules 1.

Auch Wood, Rule, Rules and Law 28 kritisiert "the implied concentration on individual words that is inherent in the notion of 'open texture"1, erkennt jedoch nicht die grundsätzliche Problematik der /fari'schen Konzeption.

56

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

die begründete Zurückweisung der Theorie Dworkins hätte somit wiederum die Entwicklung jener umfassenden juristischen Interpretationslehre vorausgesetzt, die in Harts Theorie fehlt 2 0 8 . Insgesamt erweist sich somit, daß Harts Ausführungen zur Interpretationsund Ermessensproblematik in ihrem Kern kaum mehr zu befriedigen vermögen als die Überlegungen Kelsens. Beide Autoren meinen, ihre Positionen ohne Entwicklung einer vollständigen rechtlichen Argumentationslehre begründen zu können. Bei beiden scheitert dieser Versuch jedoch, so daß ihre These von der analytischen Fruchtbarkeit des normativistischen Rechtsbegriffs letztlich eine von ihnen nicht zureichend begründete Behauptung darstellt. Ohne eine vollständig ausgearbeitete Argumentations- und Interpretationslehre und die damit notwendig verbundene Offenlegung inhaltlicher Wertungen ist der Rahmen oder Bedeutungskern von Rechtsvorschriften, deren Annahme eine normativistische Konzeption überhaupt erst sinnvoll macht, nicht zu identifizieren. In dieser Beziehung bedürfen die analytischen Rechtstheorien Kelsens und Harts also der Ergänzung durch andere Konzeptionen, was einmal mehr das Erfordernis illustriert, Rechtstheorie nicht auf einen unfruchtbaren Schulenstreit zu reduzieren, sondern sie methodenpluralistisch zu betreiben. II. Kritik an der " analytical jurisprudence" John Austins

Die Rechtsrealisten leugnen die normative Dimension des Rechts und unternehmen den Versuch, rechtliche Phänomene auf soziologische und psychologische Fakten zu reduzieren. Damit unterscheiden sie sich bereits im Ansatz, von ihrer allgemeinen "Problemhinsicht" her von den analytischen Theorien Kelsens und Harts. Dagegen ist Kelsens und Harts Auseinandersetzung mit der Lehre John Austins gleichsam ein Streit innerhalb der Familie. Nach Austin ist das Recht die Summe der durch die Verfügbarkeit von Zwangsgewalt unterstützten Befehle der obersten gesetzgebenden Autorität eines Gemeinwesens, die Austin im Anschluß an Bentham "Souverän" nennt. Souverän ist, wem die Mehrheit einer Bevölkerung gewöhnlich Gehorsam leistet und wer selbst niemand anderem gehorcht 209 . Dadurch, daß Austin das Recht nicht, wie die Rechtsrealisten, als ein soziologisches oder psychologisches Faktum, sondern als ein System von Regeln versteht, die sich vorschreibend an die Rechtsunterworfenen wenden, teilt er die ono Auch Hart selber scheint bemerkt zu haben, daß seine Darlegungen zur Zurückweisung der Angriffe Dworkins nicht ausreichen; jedenfalls spricht er in einem einige Jahre nach dem "Concept of Law" erschienenen Aufsatz nur noch davon, die Annahme, es gebe immer nur eine richtige Lösung, sei "difficult to substantiate" (Problems 108). 2 0 9 Siehe Austin, Lectures 1227 f.

Β. Die Normativität des Rechts

57

allgemeine, am Rechtsbegriff der Rechtsdogmatik orientierte Problemhinsicht Kelsens und Harts. Deshalb war es den beiden Autoren überhaupt nur möglich, ihre Theorien als Weiterentwicklung der "analytical jurisprudence" Austins auszugeben 210 . Die Grundbegriffe Austins - Souverän, Befehl und Gehorsam sind indes selbst nicht normativer, sondern rein faktischer Natur 2 1 1 : Der Souverän ist diejenige tatsächlich existierende Person oder Institution, die kraft der ihr zur Verfügung stehenden realen Macht für ihre Befehle den Gehorsam der Rechtsunterworfenen zu erzwingen vermag. Es ist diese unmittelbare Anbindung des Rechtsbegriffs an Faktizität, gegen die sich Kelsens und Harts Kritik richtet. 1. Einwände gegen den Gedanken des "Souveräns " Gegen den Begriff des Souveräns, wie ihn Austin verwendet, wendet Hart ein, daß auf seiner Grundlage eine ganze Reihe bedeutsamer rechtlicher Phänomene - vor allem auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Staatsorganisation - unerklärt blieben: der Grundsatz, daß Gesetze bis zu ihrer formellen Aufhebung kontinuierlich weitergelten, auch wenn der konkrete Souverän unterdessen wechselt 212 ; die Existenz von Gewohnheitsrecht 213; schließlich der Umstand, daß in modernen Staaten gewöhnlich auch diejenigen Personen, die den Souverän bilden, durch die Gesetze gebunden werden 214 . Die Struktur von Harts Argumentation ist für alle diese Fälle ähnlich und soll daher hier nur an einem Beispiel, nämlich der Selbstbindungsproblematik illustriert werden. Daß sich ein Souverän durch seine Gesetze selbst verpflichten kann, läßt sich nach Hart nur dann mit dem Begriff des an einen anderen gerichteten Befehls beschreiben, wenn man zwischen den Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft in ihrer "privaten" Eigenschaft als rechtsunterworfenen Bürgern und in ihrer "amtlichen" Eigenschaft als Parlamentsabgeordneten oder Wählern unterscheidet und behauptet, daß sie in ihrer letzteren Funktion eine von ihrer gewöhnlichen "privaten" Existenz verschiedene Person darstellen - den Souverän, dem sie als "private Bürger" gewohnheitsmäßig gehorchen. Die Abgrenzung zwischen "privaten" und "amtlichen" Funktionen und damit die Konstituierung des Souveräns kann indes ihrerseits nur wiederum durch Rechtsregeln erfolgen. Da

910 4 1 2 1 1

Dazu siehe die Einleitung zu diesem Kapitel. Simmondsy Central Issues 78; Al wart 78.

2 1 2

CL 50-64.

2 1 3

CL 43-48.

2 1 4

CL 70-76. - Besonders deutlich ist dies in Demokratien, in denen das gesamte Staatsvolk den Souverän darstellt, siehe Kelsen, GT 36.

58

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

diese Regeln den Souverän erst etablieren, können sie nicht von ihm selber erlassen worden sein. Dies zeigt nach Harts Ansicht that the simple idea of orders, habits, and obedience, cannot be adequate for the analysis of law. What is required instead is the notion of a rule conferring powers...on persons qualified in certain ways to legislate by complying with a certain procedure 2^.

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis war vor Hart bereits Kelsen gelangt. In seiner "General Theory" führt er aus, daß man demokratische Gesetze nur dann als "Befehle" ansehen könne if one ignores the relationship between the individuals issuing the command and the individuals at whom the command is directed, if one assumes only a relationship between the latter and the "command" considered as impersonal, anonymous authority. That is the authority of the law, above the individual persons who are commanded and who command 216 .

Kelsen schließt mit den Worten: 917

An impersonal and anonymous "command" - that is the norm^A .

Hart und Kelsen stellen also übereinstimmend fest, daß die Selbstbindungsproblematik sich mit einer Konzeption, die das Recht auf die faktischen Befehle eines faktischen Souveräns reduziert, nicht angemessen erklären läßt. Erforderlich ist ihrer Ansicht nach vielmehr die Annahme der Existenz von Regeln bzw. Normen, die bestimmte Personen als Gesetzgeber einsetzen und ihren in einem bestimmten Verfahren zustandegekommenen Willensäußerungen Gesetzesqualität beilegen. An die Stelle des unmittelbar auf Faktizität gegründeten Rechtsbegriffs Benthams und Austins tritt damit bei Kelsen und Hart eine Konzeption, die Recht als durchgängig normbestimmtes Phänomen versteht. 2. Kritik

am Begriffspaar

"Befehl " und " Gehorsam "

Noch deutlicher wird die Abgrenzung Kelsens und Harts zum Rechtspositivismus Austin'scher Prägung, wenn sie diesem vorwerfen, er vermöge auch den für das richterlich-rechtsdogmatische Sprechen vom Recht grundlegenden Begriff des rechtlichen Sollens nicht in angemessener Weise zu erfassen. Indem Austin das Recht auf die Summe der Befehle eines hinreichend durchsetzungsfähigen Souveräns reduziert, macht er es sich unmöglich, einen staatlichen Rechtsakt (zum Beispiel das Handeln eines Steuerbeamten) begrifflich von

2 1 5

CL 75.

2 1 6

GT 36.

2 1 7

GT 36.

Β. Die Normativität des Rechts

59

einer rechtswidrigen Nötigung (etwa einem Raub) zu unterscheiden 218. Beide Handlungen sind äußerlich insofern identisch, als sie von Zwang unterstützte Befehle darstellen. In ihrem rechtlichen Sinngehalt unterscheiden sie sich jedoch grundlegend voneinander: Das Ansinnen des Steuerbeamten ist durch ein Steuergesetz ermächtigt, das seinerseits wiederum auf der Verfassung beruht, während das Verhalten des Räubers gegen das Strafrecht verstößt. Der Unterschied zwischen dem Steuerbeamten und dem Räuber liegt also, wie vor allem Kelsen herausstellt, nicht in einer äußeren Tatsache, sondern in etwas Nicht-Faktischem: nämlich dem Umstand, daß der Steuerbeamte zu seinem Handeln rechtlich befugt ist, während dem Räuber diese rechtliche Befugnis fehlt 2 1 9 . Nur durch das Abstellen auf das Element der Befugnis kann rechtliches Sollen von faktischem Müssen unterschieden werden. Nicht die hinter ihm stehende Macht qualifiziert ein bestimmtes Handeln als rechtlich, sondern entscheidend ist der Umstand, daß dieses Handeln durch eine übergeordnete Rechtsnorm ermächtigt ist 2 2 0 . Das Fazit ist also an dieser Stelle dasselbe wie oben: Der Fehler Austins bestand darin, die grundlegenden Begriffe seiner als normativ gedachten Rechtstheorie unmittelbar an Seins-Elemente zu binden. Stattdessen muß nach Kelsens und Harts übereinstimmender Auffassung das Recht als Sollensordnung begrifflich vollständig von Seinsphänomenen getrennt 221 , muß es als "autonomous field of discourse" 222 , als "eine Welt für sich" 2 2 3 begriffen werden. Die Rechtsordnung schlägt auch auf der höchsten Ebene nicht unvermittelt in Faktizität um, sondern sie ist ein in sich geschlossenes System von Normen bzw. (in Harts Terminologie) Regeln 224 . An die Stelle des "leibhaftigen" Souveräns und seiner Befehle tritt somit eine "impersonal structure of rules" 2 2 5 mit einer den normativen Bereich abschließenden obersten Norm - der Grundnorm bzw. der rule of recognition - an der Spitze. Anschaulich formuliert Duncanson 226 : "The speaker is invisible". In dieser Überzeugung von der normativen Geschlossenheit einer

2 1 8

RR 8; CL 80.

2 1 9

RR 8.

220 G

T

31

991

Zur Seins-Sollens-Trennung Kelsens siehe RR 5; auch Hart weist "the fallacy of arguing from what is to what should be" zurück (LLM 45). 999

Duncanson, Englisch Jurisprudence 213 f.

2 2 3

Kelsen, Problem der Souveränität 14.

2 2 4

Siehe Kelsen, Problem der Souveränität 14.

2 2 5

Duff, Legal Obligation 64.

2 2 6

English Jurisprudence 219.

60

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Rechtsordnung liegt trotz der erheblichen Differenzen, die im übrigen zwischen Kelsens und Harts Normativismusbegriffen bestehen 227 , der gemeinsame Kern ihres Verständnisses von der Normativität des Rechts. Auf diese Weise - durch die Überwindung der Unvollkommenheiten des Austin'schen Modells und die Zugrundelegung einer Rahmenkonzeption, die zugleich positivistisch und konsequent normativistisch ist - erreichen sie erst den vollen Anschluß an die Sichtweise der Rechtsdogmatik. Dies versetzt sie in die Lage, das Ziel, um das auch Austin sich bemühte, mit größerer Aussicht auf Erfolg anzustreben: das Projekt, eine allgemeine Rechtslehre im Sinne einer allgemeinen Theorie des rechtsdogmatisch zugrundegelegten Rechtsbegriffs zu entwickeln. C. Ziel und Methode der analytischen Rechtstheorie Kelsen und Hart sind sich darüber einig, daß die Aufgabe der Rechtstheorie darin besteht, die rechtlichen Grundbegriffe und ihre Beziehungen zueinander in einer Weise zu analysieren, die für alle Rechtsordnungen zutrifft und in diesem Sinne allgemein ist 2 2 8 . Über diesen grundsätzlichen Rahmen hinaus bestehen indes zwischen den beiden Autoren beträchtliche Meinungsunterschiede, und zwar sowohl in bezug auf die Methode wie auch auf das Ziel rechtsanalytischer Tätigkeit. I. Die Position Kelsens: Formalismus und Rekonstruktivismus

Die Entscheidung für eine bestimmte Untersuchungsmethode ist eine unverzichtbare Vorbedingung wissenschaftlicher Tätigkeit. Durch sie wird bestimmt, welche Arten von Informationen in einer bestimmten Untersuchung verwendet werden dürfen und welche nicht. Erst aufgrund dieser Festlegung erlangt ein Vorgehen jene Planmäßigkeit und Regelgeleitetheit, die es überhaupt als wissenschaftlich qualifizieren. Die Situation der Rechtswissenschaft vor Kelsen war gekennzeichnet durch einen "Methodensynkretismus": In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt 229 .

Gegen diese Art des Vorgehens, durch welches das Wesen der Jurisprudenz als Normwissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt würden, die ihr 9 9 7

2 2 8 2 2 9

Dazu im einzelnen im 4. Kap. A. Siehe Kelsen, RR 1; Hart, CL V. RR 1.

C. Ziel und Methode der analytischen Rechtstheorie

61

durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen seien 230 , setzt Kelsen sein Postulat der "Methodenreinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis" 231 - ein Postulat, das er selbst für so zentral hielt, daß er seine gesamte Lehre, die zunächst "Normative Rechtstheorie" heißen sollte 2 3 2 , danach benannte 233 . Kelsens Reaktion auf den "Methodensynkretismus" seiner Vorgänger mit seiner überbordenden Fülle an voneinander ungeschiedenen Informationen unterschiedlichster Qualität besteht in einer radikalen Selbstbeschränkung, einer strikten Eingrenzung seines Untersuchungsbereichs. Gegenstand der Rechtstheorie soll nach seiner Vorstellung nur noch die Analyse solcher Fragen sein, die Folgerungen aus dem Begriff des positiven Rechts überhaupt sind und daher die rechtslogischen Bedingungen jedes möglichen positiven Rechtssystems enthalten 234 .

Allein die formale Struktur und die logischen Funktionen der Grundbegriffe des Rechts will Kelsen somit in seiner Reinen Rechtslehre behandeln 235 , die ihm auf diese Weise zu einer "Geometrie der totalen Rechtserscheinung" 236 wird. Mit dieser Auffassung von Methodenreinheit verbindet sich bei Kelsen eine Vorstellung vom Ziel rechtstheoretischer Analyse, die man, mit einem von Opalek 2 3 7 geprägten Begriff, als Rekonstruktivismus bezeichnen kann. Kelsen geht es um die "möglichste Vereinfachung der W e l t " 2 3 8 : darum, hinter der Komplexität und Unübersichtlichkeit positiver Rechtsordnungen ein Höchstmaß an einheitlichen Strukturen, einen "Idealtypus des Rechts" 239 aufzuweisen 240 . 2 3 0

Siehe RR 1 sowie (zur Rechtswissenschaft als Normwissenschaft) RR 72,89-93.

2 3 1

RR VII.

2 3 2

Ebenstem, Schule 21.

Siehe auch die Einschätzung von Pohlmann, Zurechnung und Kausalität 84 f.: "Kelsens Rechtslehre ist ... im Schwerpunkt Methodenlehre des Rechts und nicht Rechtstheorie im Sinne einer umfassenden Theorie des staatlich organisierten Rechtssystems". Auch Müller, Normstruktur 24 bemerkt, daß es Kelsen bei der Behandlung von Rechtsproblemen mehr um den Wissenschafts- als um den Rechtsbegriff gehe. 2 3 4

Kraft-Fuchs,

Kelsens Staatstheorie 210. Siehe auch Lorenz, Methodenlehre 70; 72 f.

Kelsen, HPS 92. - Siehe dazu auch Larenz, Methodenlehre 73; Weinberger , Die logischen Grundlagen 131. 2 3 6

HPS 93.

Sprachphilosophie 155-160; ders., Analytical and Empirical Theory of Law 114 f; siehe auch Maker , Analytical Philosophy 404 f. O-IQ

So E. Kaufmann, Kritik 85 mit Bezug auf die neukantianische Rechtsphilosophie insgesamt.

2 3 9

Flechtheim, Randglossen 42.

2 4 0

Siehe McBride, Models and Analogies 64.

62

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Sein Bestreben richtet sich mit anderen Worten nicht auf die bloß beschreibende Wiedergabe eines bestimmten Rechtsstoffes, sondern darauf, ihn in einer Weise darzustellen, zu "rekonstruieren", die ein Maximum an Einheitlichkeit und A l l gemeinheit gewährleistet. Die Verbindung von methodischem Formalismus und eines auf Vereinheitlichung und Verallgemeinerung drängenden Rekonstruktivismus läßt sich durch die gesamte Reine Rechtslehre hindurch nachweisen. Mit besonderer Deutlichkeit kommt diese Grundorientierung Kelsens indes an den beiden Punkten zum Ausdruck, an denen die Reine Rechtslehre sich vom "Concept of Law" am signifikantesten unterscheidet: zum einen in Kelsens Rechtssatzkonzeption, deren besonderes Kennzeichen darin besteht, daß sie es erlaubt, das gesamte Rechtsmaterial ungeachtet seiner Diversizität in eine einheitliche Struktur einzufügen 2 4 1 ; und zum anderen in seiner Lehre von der Grundnorm, in der er jenseits aller Empirie die Bedingungen jeder normativistischen Rechtserkenntnis überhaupt zu bestimmen sucht 242 . II. Die Auffassung Harts: Methodische Öffnung der analytischen Theorie und Deskriptivismus

Hart kritisiert den methodischen Ansatz Kelsens. Er meint, daß eine Vielzahl von Rechtsbegriffen - wie Unrecht, Rechtspflicht, rechtliche Sanktion und Rechtsordnung - auf der Grundlage von Kelsens formalistischer Analysemethode nicht angemessen verstanden werden könnten 243 . Hinter Harts A b lehnung des Kelsen'schen Verständnisses von Methodenreinheit steht eine A u f fassung vom Ziel rechtstheoretischer Analyse, die sich tiefgreifend von der A n sicht Kelsens unterscheidet und die, wiederum mit einem Ausdruck Opaleks 244 , als Deskriptivismus bezeichnet werden kann. Kennzeichen des Deskriptivismus ist, wie Opalek 2 4 5 erläutert, "the analysis of the use of linguistic expressions": das Ernstnehmen der Vielfältigkeit des Untersuchungsmaterials, das getreuliche Nachzeichnen seiner Konturen, gegebenenfalls auch seiner Unklarheiten und inneren Widersprüche. Dies entspricht dem Untersuchungsziel Harts: Ausgehend von der Philosophie der gewöhnlichen Sprache, sucht er die sprachliche Bedeutung von Rechtsbegriffen aus ihrem Gebrauch durch die Rechtsgenossen zu erschließen und dadurch

2 4 1

Dazu im 2. Kap. A 1 2 .

2 4 2

Siehe dazu 4. Kap. A I .

2 4 3

Introduction 18; siehe auch Kelsen Visited 300.

2 4 4

Sprachphilosophie 155-160; ders.

^

y

Analytical and Empirical Theory of Law 114 f.

Analytical and Empirical Theory of Law 114.

C. Ziel und Methode der analytischen Rechtstheorie

63

the distinctive ways in which the law functions in the lives of those using it or subject to i t 2 4 6

herauszuarbeiten 247. Harts zentrale Begriffskategorie bei der Durchführung dieses Projekts ist der vorstehend bereits kurz erwähnte interne Standpunkt 248 : Erst dadurch, daß eine hinreichende Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern eine bestimmte Verhaltensweise als verpflichtenden Standard ansieht und Abweichungen mit Kritik belegt, erlangt das betreffende Verhalten den Charakter der Gesolltheit, also normative Qualität. Jeder Regelkomplex, auch wenn er so weitgehend verselbständigt ist wie die Rechtsordnung, mündet letztlich - im Falle der Rechtsordnung: vermittelt durch die Erkenntnisregel - in derartige regelbildende soziale Praktiken und sprengt damit den Innenraum eines rein selbstbezüglich organisierten Systems normativer Begriffe. Aus dem hermeneutischen Grundanliegen Harts 2 4 9 folgt mit Notwendigkeit, daß er den Kreis der in der rechtstheoretischen Analyse zulässigen Informationen erweitern muß 2 5 0 : denn wenn normative Phänomene nur verständlich sein sollen durch die Bezugnahme auf den internen Standpunkt der Gesellschaftsmitglieder, auf die Funktionen, die Regeln in der gesellschaftlichen Praxis wahrnehmen, dann muß eine rechtstheoretische Analyse, die jegliche Bezugnahme auf soziale Fakten unterläßt, zwangsläufig fehlgehen 251 . Dementsprechend betont Hart, daß es zum angemessenen Verständnis rechtlicher Phänomene des Rückgriffs auf psychologische und soziologische Fakten bedürfe 252 , und charakterisiert er im Vorwort zum "Concept of Law" sein eigenes Werk als Untersuchung sowohl in "analytical jurisprudence" wie auch in "descriptive sociology" 2 5 3 . Auch im Falle Harts schlägt sich diese Verbindung aus rechtstheoretischer Zielvorstellung und methodischem Ansatz an zentralen Punkten seiner Theorie nieder 2 5 4 : darin, daß er versucht, Primär- und Sekundärregeln nach ihren unterschiedlichen sozialen Funktionen voneinander abzugrenzen; daß er die Existenz der Erkenntnisregel als soziales Faktum, als Ergebnis der Praktiken der 2 4 6

Mäher, Analytical Philosophy 406 unter Anlehnung an CL 88.

2 4 7

Siehe CL V. - Die Position Harts in diesem Punkt wurde wesentlich beeinflußt von Winch , Idee der Sozialwissenschaft. 2 4 8

Siehe o b e n B I l b ( 2 ) .

2 4 9

Dazu Hacker, Hart's Philosophy of Law 9 f.

2 5 0

Hacker , Hart's Philosophy of Law 10.

oc-i 2 5 2

Eindringlich dazu Simmonds, Propositions of Law 104. Introduction 18; Kelsen Visited 300.

2 5 3

CL V.

2 5 4

Siehe Hacker, Hart's Philosophy of Law 10.

64

1. Kapitel: Der Untersuchungsrahmen Kelsens und Harts

Amtsträger begreift; daß er schließlich, wie gesehen, auch in seinen Ausführungen zum naturrechtlichen Mindestgehalt auf anthropologisch-soziologisch geprägte Überlegungen rekurriert. Damit deutet sich bereits an, daß die signifikantesten Differenzen zwischen Kelsen und Hart nicht auf der Ebene "richtiger" oder "falscher" Schlüsse aus den von ihnen übereinstimmend angenommenen rechtsbegrifflichen Prämissen liegen, sondern daß sich in ihnen unterschiedliche Vorstellungen vom Ziel und von der Methodik rechtstheoretischer Analyse überhaupt spiegeln 255 - Vorstellungen, die, wie die Einzeluntersuchungen der Autoren hinlänglich beweisen, beide zur Erkenntnisgewinnung tauglich und insofern wissenschaftlich legitim sind. Zu erkennen, daß die Hauptkontroversen zwischen Kelsen und Hart auf dieser Ebene angesiedelt sind, hilft, den Fehler zu vermeiden, der darin besteht, sich von vornherein auf einen bestimmten Standpunkt zu stellen und von dieser Basis aus dann die jeweils andere Theorie als unzutreffend zu verwerfen. So einfach ist es nicht. Erforderlich ist vielmehr, die Zielsetzungen beider Autoren in ihrer Unterschiedlichkeit ernst zu nehmen. Dann wird sich, wie bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnt, zeigen, daß sie einander im Grundsatz ergänzen und sich nicht gegenseitig ausschließen. Von dieser Einsicht ausgehend kann man dann in einem zweiten Schritt die beiden Ansätze auf ihre innere Konsistenz und ihre analytische Leistungsfähigkeit hin untersuchen. Nur durch diese Art des Vorgehens wird man den Qualitäten und Schwächen der beiden Theorien wirklich gerecht. Die Befragung der Theorie Harts auf ihre innere Einheitlichkeit wird einige problematische Punkte ans Licht bringen. Eine, vielleicht sogar die wesentlichste Errungenschaft der Reinen Rechtslehre besteht in ihrer begrifflichen Geschlossenheit und ihrer methodischen Stringenz. Harts ehrgeiziger Versuch, "analytical jurisprudence" and "descriptive sociology" miteinander zu verbinden, weist dagegen gerade in diesen Hinsichten Schwächen auf 2 5 6 : Zur Bedeutung einiger Zentralbegriffe seiner Lehre äußert Hart sich überhaupt nicht (etwa zu dem Begriff der "sozialen Funktion"); andere Begriffe (insbesondere die Abgrenzung zwischen Primär- und Sekundärregeln und zwischen den verschiedenen Standpunkten, die man gegenüber dem Recht einnehmen kann) erläutert er in einer solchen Weise, daß am Ende mehrere, inhaltlich nicht übereinstimmende Begriffsbestimmungen stehen.

occ Dies betont auch ΜcBride, Models and Analogies 65: "The enormous differences between the two philosophies of law rest on differences of conceptual model rather than on any vast differences in underlying 'doctrine"'. ΛΓ/Γ Auch Campbell , Career 17 kritisiert Harts methodischen Ansatz ("What he does not do, is explain or justify the basis on which he proceeds") und stellt ihm "Kelsen's careful delimitation of the types of analysis and enquiry appropriate to legal science" entgegen.

C. Ziel und Methode der analytischen Rechtstheorie

65

Wie in den folgenden Kapiteln im einzelnen gezeigt werden wird, ermöglichen diese begrifflichen und methodischen Unklarheiten es Hart, unter dem Deckmantel einer scheinbar einheitlichen Begrifflichkeit tatsächlich zwei im Grundsatz voneinander unabhängige Theorien zu entwickeln: eine, die man als im Kern traditionelle Version analytischer Jurisprudenz ansehen, und eine andere, die man als kryptosoziologisch bezeichnen kann. In seiner Argumen-tation schwenkt Hart häufig und fast unmerklich von einer Sichtweise zur anderen über. Daher stellt seine Theorie trotz ihrer unbestreitbaren Qualitäten partiell einen Rückfall in jenen Methodensynkretismus dar, den Kelsen in seiner Reinen Rechtslehre zu vermeiden vermochte. Eine Konzeption, die einen deskriptivistischen Ansatz à la Hart mit der methodischen Strenge Kelsens verbindet, bleibt daher auch nach dem "Concept of Law" ein Desiderat der Rechtstheorie.

5 Pawlik

2. Kapitel

Der Begriff des Rechts: Modifizierte Zwangstheorie oder Recht als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln? Indem Kelsen und Hart das Recht durch die Merkmale der Normativität und der Positivität kennzeichnen, grenzen sie sich gegen den Rechtsbegriff der Naturrechtslehre ab, wonach das Recht ein reines, nicht notwendigerweise positiviertes Sollen darstellt. Trotzdem ist damit für die Bestimmung des Rechtsbegriffs - nach Kelsen die primäre Aufgabe für eine Theorie des Rechts1 - noch nicht viel gewonnen, da es eine Reihe weiterer Verhaltensordnungen gibt, welche die Eigenschaften der Positivität und der Normativität mit dem Recht teilen; sie reichen von den Regeln der Grammatik bis zu den Vorschriften der gesellschaftlichen Moralität. Um festzustellen, was das Recht von den übrigen in einer Gesellschaft maßgeblichen Verhaltensregelungen unterscheidet, muß die Rechtstheorie diejenigen Strukturelemente des Rechts identifizieren, die unter allen Systemen positiver Normen allein ihm zukommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage stellt ein zentrales Element sowohl von Kelsens als auch von Harts Lehre dar. Sie bildet zugleich auch denjenigen Bereich, in dem die Konzeptionen der beiden Autoren sich am signifikantesten voneinander unterscheiden. A. Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens und Harts Kritik I. Die Lehre Kelsens

1. Unterschiede zwischen dem Recht und anderen normativen Ordnungen Zwei Arten von Unterschieden bestehen nach Kelsen zwischen dem Recht und sonstigen normativen Ordnungen: Zum einen bezieht er sich dabei auf die besondere Art und Weise , wie das Recht menschliche Handlungen gebietet oder verbietet; und zum anderen stellt er auf die Erzwingbarkeit ab, die rechtlichen Reaktionen auf sozial unerwünschte Tatbestände eigen ist.

1

RR 31.

A- Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

67

a) Verhaltenslenkung durch Recht (1) Indirekte Verhaltenslenkung Kelsen nähert sich in zwei Schritten der Frage, worin das Spezifikum menschlicher Verhaltenslenkung durch Recht besteht: Da das Recht menschliches Verhalten insofern regle, als es in Beziehung zu anderen Menschen stehe, sei es, ebenso wie z.B. die Moral, aber anders als etwa die Logik, eine gesellschaftliche Ordnung 2 Allen gesellschaftlichen Ordnungen sei das Ziel gemeinsam, bestimmte als sozialschädlich verstandene Verhaltensweisen durch Verbote zu verhindern und andere, als sozial wünschenswert angesehene Verhaltensweisen durch Gebote herbeizuführen 3. Nach der Art und Weise, wie sie diese Ge- und Verbote statuierten, ließen sich innerhalb des Bereichs gesellschaftlicher Ordnungen drei Typen unterscheiden4: Zunächst könne die Gesellschaftsordnung ein bestimmtes Verhalten unmittelbar gebieten, ohne an die Befolgung oder Nicht-Befolgung des Gebotes irgendeine Folge zu knüpfen 5. Kelsen bezweifelt jedoch die Existenz solcher sanktionsloser Gesellschaftsordnungen: Wenn eine Moralordnung ein bestimmtes Verhalten gebiete, so gebiete sie zugleich, daß das gebotene Verhalten des einen Subjektes von den anderen gebilligt, das gegenteilige Verhalten aber mißbilligt werde. Auch Billigung und Mißbilligung seitens der Genossen würden aber als Lohn und Strafe empfunden und könnten daher als Sanktionen gedeutet werden 6. Von faktischer Relevanz sind aus diesem Grunde nach Kelsens Ansicht allein die folgenden beiden Idealtypen. Die zweite Möglichkeit besteht nach Kelsen darin, daß in einer ersten Norm ein bestimmtes Verhalten geboten oder verboten und in einer zweiten Norm an dieses Verhalten ein Vorteil oder an das gegenteilige Verhalten ein Nachteil in Gestalt einer Sanktion geknüpft werde 7. Von dieser Vorstellung geht Austin in seiner Rechtstheorie aus. Danach gibt es zwei Typen von Regeln mit jeweils unterschiedlichen Adressaten: Regeln des ersten Typs wenden sich unmittelbar an die Rechtsunterworfenen und schreiben ihnen ein bestimmtes Verhalten vor; Regeln des zweiten Typs dagegen sind an die Amtsträger adressiert und verpflichten diese zur Verhängung von Sanktionen für den Fall, daß Regeln der ersten Gruppe verletzt worden sind. Kelsen hält eine derartige Trennung von 2

RR 25.

3

RR 25.

4

RR 25 f.

5

RR 26.

6

RR 28 f.

7

RR 26.

68

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Verhaltens- und Sanktionsnormen in einer gesellschaftlichen Ordnung prinzipiell durchaus für möglich; im Gegensatz zu Austin beschränkt er jedoch diese Form der Verhaltenslenkung ausdrücklich auf nichtrechtliche gesellschaftliche Ordnungen, insbesondere auf den Bereich der gesellschaftlichen Moralität. Für die Struktur, oder, wie H. Dreier 8 es ausdrückt: die "Formtypik" rechts/j/frc/i/begründender Normen ist nach Kelsen eine dritte Art der Verhaltenslenkung kennzeichnend: Im Unterschied zu nicht-rechtlichen gesellschaftlichen Normen gebieten Rechtsnormen die Herbeiführung bestimmter "Weltzustände"9 nicht direkt, sondern indirekt, indem sie die Herbeiführung der entgegengesetzten "Weltzustände" unter Sanktion stellen. Prägnant kommt dieser Unterschied in einem Aufsatz Kelsens aus dem Jahre 1941 zum Ausdruck: Morality, whose technique is direct motivation, says, thou shalt not steal. The law says, if one steals, he shall be punished1®.

Während, wie vorstehend gesehen, nicht-rechtliche Verhaltensgebote nach Kelsens Ansicht nicht mit begrifflicher Notwendigkeit mit Sanktionen verknüpft sind, ist also im Recht der Zusammenhang zwischen Verhaltensgebot und (gesollter) Sanktion ein logisch-begrifflicher 11 ; ein bestimmtes Verhalten kann nur insofern als rechtlich geboten angesehen werden, "als das gegenteilige Verhalten Bedingung einer Sanktion ... ist" 1 2 . Rechtspflicht und Gesolltsein eines Verhaltens fallen somit bei Kelsen anders als etwa bei Austin - begrifflich auseinander: Rechtspflicht ist als das Gegenteil desjenigen Verhaltens, das die Bedingung eines Zwangsaktes ist...nicht oder doch nicht unmittelbar das gesollte Verhalten. Gesollt ist nur der als Sanktion fungierende Zwangsakt13.

Rechtsnormen haben deshalb nur eine Gruppe unmittelbarer Adressaten: die Amtsträger, die ermächtigt sind, gegen andere Individuen Zwangsakte als Sanktionen zu richten 14 . Einer gleichzeitigen Rechtspflicht unterliegen diese Amtsträger indes nur insoweit, als ihr Verhalten seinerseits wieder Gegenstand von Sanktionen ist. Die obersten, keinen Sanktionen mehr ausgesetzten Amtsträger 8

Hans Kelsen 203 A. 239.

9

Kulenkampffy

Rechtspositivismus 532.

Social Technique 87. - Zu dieser spezifisch rechtlichen Form der Verhaltenslenkung Römer, Zwangscharakter 150-152. 11

H.

Dreier, Hans Kelsen 202 A.232; Kulenkampff,

Rechtspositivismus 532.

1 2

RR 26. - Vonlanthen, Anschauung 28 formuliert, bei Kelsen sei die Rechtspflicht eine "bloße technische Folgeerscheinung des auf das gegenteilige Verhalten zugeschnittenen Zwangsaktes". 1 3 1 4

RR 124.

Siehe RR 35; Woozley, Adressat.

Legal Duties 476. - Allgemein zur Adressatenproblematik Krüger,

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

69

Kramer spricht plastisch von "Grenzorgan(en)" 15 - "sollen" daher zwar die gebotenen Sanktionen setzen, aber rechtlich sind sie dazu nicht verpflichtet 16 . (2) Terminologische Schwankungen Kelsen hat seine gesamte wissenschaftliche Laufbahn hindurch daran festgehalten, daß die spezifische Form rechtlichen Gebietens und Verbietens i n direkter Natur ist - mit dem Begriff der Sanktion als Fixpunkt. In der Wahl seiner Terminologie ist er allerdings schwankend gewesen. In einer Reihe von Werken aus seiner frühen und mittleren Schaffensperiode 17 unterscheidet Kelsen noch zwischen primären und sekundären Normen. Allerdings bezeichnet er - in genauer Umkehrung der herkömmlichen Terminologie - nicht diejenigen Normen als primäre, die das rechtspflichtgemäße Verhalten positiv stipulieren, sondern diejenigen, die das gegenteilige Verhalten mit einer Sanktion belegen18. Auf diese Normen allein komme es an; die sekundären Normen seien daneben im Grunde "überflüssig" 19 . In der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" bringt Kelsen denselben Gedanken zum Ausdruck, indem er zwischen "selbständigen" und "unselbständigen" Rechtsnormen unterscheidet. Enthalte eine Rechtsordnung eine Norm, die ein bestimmtes Verhalten vorschreibe, und eine andere Norm, die an die erste eine Sanktion knüpfe, so sei die erste keine selbständige Norm, sondern mit der zweiten wesentlich verbunden; sie bestimme nur die Bedingung, an die die zweite die Sanktion knüpfe 20 . In seinem Spätwerk, der "Allgemeinen Theorie der Normen", ändert Kelsen seine Terminologie nochmals. Er nimmt die Unterscheidung zwischen "primären" und "sekundären" Normen wieder auf, und er betont (unter ausdrücklicher Distanzierung von seiner früheren Ansicht): Nimmt man an, daß die Unterscheidung einer ein bestimmtes Verhalten vorschreibenden Norm und einer Norm, die für den Fall der Verletzung der ersten eine Sanktion vorschreibt, für das Recht wesentlich ist, dann muß man die erste als primäre und die zweite als sekundäre Norm bezeichnen...21.

1 5

Zum Problem der rechtlichen Motivation 566.

1 6

Siehe GT 28. - Im einzelnen dazu unten im 3. Kap. Β III.

1 7

AS 51; Wesen des Staates 1725; Unrecht 489; GT 60 f.; ablehnend dagegen Idee 273.

1 8

aaO.

1 9

Wesen des Staates 1725.

2 0

RR 56.

2 1

A T N 115.

70

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Er fährt dann aber fort, daß moderne Gesetze zumeist nur das die Sanktion auslösende Verhalten formulierten, in welchen Normen dann das positiv gebotene Verhalten implizit enthalten sei. In diesem Fällen drehe sich das Verhältnis der Bezeichnungen wieder um und es erscheint die einen Zwangsakt als Sanktion statuierende Norm als die primäre und die in ihr implizierte Norm... als die sekundäre Norm 2 2 .

Damit ist alles wieder beim Alten. Am Kern seiner Lehre hält Kelsen demnach auch in der "Allgemeinen Theorie der Normen" fest, wie folgende Äußerung abschließend beweist: Die Statuierung dieser Sanktion ist so wesentlich, daß man sagen kann: das Recht gebietet ein bestimmtes Verhalten nur dadurch, daß es an das gegenteilige Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft... 23 .

b) Das Recht als Zwangsordnung Einen weiteren Unterschied zwischen dem Recht und anderen gesellschaftlichen Ordnungen sieht Kelsen darin, daß das Recht eine Zwangsordnung sei. Diese Kennzeichnung will er allerdings nicht in einem psychologisierenden Sinne verstanden wissen. Der Wunsch der Rechtsunterworfenen, die angedrohte Sanktion zu vermeiden, sei ein mögliches, aber keineswegs das einzige Motiv für die Befolgung von Rechtsnormen; und psychischen Zwang im Sinne der Motivation zu normkonformem Verhalten übe eine jede bis zu einem gewissen Grad wirksame Gesellschaftsordnung aus; dieser Umstand sei daher zur Unterscheidung des Rechts von anderen normativen Ordnungen nicht geeignet 24 . Wenn Kelsen das Recht als Zwangsordnung bezeichnet, so bezieht er sich damit vielmehr auf die Erzwingbarkeit rechtlicher Gebote und Verbote. Während Normen der positiven Moral durch den Ausdruck von Billigung und

2 2

A T N 115.

2 3

A T N 115.

2 4

RR 36. - Diese deutliche Absage Kelsens an eine psychologisierende Lesart seiner Lehre (siehe dazu auch GT 25 f.) verkennen Raz, Concept of a Legal System 82 und J. Cohen, The Political Element 21, wenn sie schreiben, daß sich Recht nach Kelsen dadurch von anderen gesellschaftlichen Ordnungssystemen unterscheide "that it resorts to coercive sanctions as standard motives for conformity" (Raz) bzw. daß Kelsen von der Annahme ausgehe "that coercion always plays the paramount role in securing order within a legal community" (Cohen). Ein ähnliches Mißverständnis liegt den Ausführungen Ryffels, Grundprobleme 403 f. zugrunde, wonach im Gegensatz zu Kelsens Konzeption Normbefolgung nicht oder nicht nur erfolge, um die Sanktionen zu vermeiden, sondern weil die gesetzliche Wertung mit der Ansicht des Rechtsunterworfenen übereinstimme. - Gegen eine psychologisierende Deutung Kelsens wenden sich auch Bobbio, Law and Force 322 sowie H. Dreier, Hans Kelsen 203 A 239. - Allgemein zum Erfordernis einer strikten Trennung von Normstruktur- und (psychologisierender) Motivationsanalyse auch Alwart, Recht und Handlung 152 f.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

71

Mißbilligung sanktioniert würden 25 , unterschieden sich Rechtsordnungen dadurch von allen anderen Gesellschaftsordnungen, daß die vom Recht als Reaktionen auf sozial unerwünschte Tatbestände vorgesehenen Akte stets Zwangsakte darstellten, die auch gegen den Willen des von ihnen Betroffenen und im Falle von Widerstand unter Anwendung physischer Gewalt zu verhängen seien 26 . Alle rechtlich gesollten Sanktionen sind somit nach Kelsen von ihrem Inhalt her Zwangsakte; aber umgekehrt sind nicht alle Zwangsakte des Rechts zugleich auch Sanktionen 27 . Sanktionen knüpfen allein an eine bestimmte, rechtlich festgestellte, sozial unerwünschte Handlung oder Unterlassung eines bestimmten Menschen28

an. Paradebeispiele für rechtliche Sanktionen sind die Verhängung von Kriminalstrafen und Maßnahmen der Zwangsvollstreckung. Bei einer Vielzahl anderer Rechtsakte fehlt nach Kelsen dagegen die Anknüpfung an sozial unerwünschtes menschliches Verhalten: Etwa bei präventiv-polizeilichen Maßnahmen, aber auch, wenn ein totalitäres Regime ihm aus politischen oder rassischen Gründen Mißliebige in Konzentrationslager sperrt 29 . Diese Maßnahmen hätten in anderen Tatbeständen ihre Ursache - zum Beispiel im bloßen Verdacht y jemand habe eine bestimmte Handlung begangen, in einem erst bevorstehenden, als potentiell gefährlich betrachteten Verhalten oder sonstwie unerwünschten Zuständen bzw. Eigenschaften von Personen oder Sachen30. Die Reaktionen, die das Recht in diesen Fällen vorsieht, sind also in Kelsens Terminologie Zwangsakte, ohne daß sie zugleich auch Sanktionen darstellen. Der Begriff des Zwangsaktes ist somit gegenüber dem der Sanktion umfassender 31. Daß das Recht stets auf die Verhängung von Zwangsakten hinausläuft und daß es menschliches Verhalten nur indirekt regelt - nämlich indem es die Bedingungen formuliert, unter denen Sanktionen verhängt werden sollen: dies sind somit nach Kelsen die Merkmale, die das Recht gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Ordnungen auszeichnen.

2 5

RR 29; A T N 115 f.

2 6

RR 27; 36 f.; 54 f.

2 7

RR 27.

2 8

RR 42.

2 9

RR 41 f.

Kelsen räumt freilich ein, daß es Grenzfälle gebe und daß auch die Möglichkeit bestünde, den Begriff der Sanktion weiter zu definieren und auf alle Zwangsakte anzuwenden, RR 42 f. α-ι J X Siehe dazu Raz, Concept of a Legal System 81 f.

72

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

2. Die Organisation des rechtlichen Materials Die Überzeugung, daß das Recht die Verhängung von Zwangsakten unter gewissen, von ihm selbst festgelegten Bedingungen zum Inhalt habe, ist auch bestimmend für Kelsens Behandlung der Frage, wie die Rechtswissenschaft einen gegebenen Rechtsstoff zu organisieren habe. Er vertritt die Ansicht, daß es möglich sei, das gesamte rechtliche Material, trotz seiner Diversizität, in einer einheitlichen Art und Weise zu strukturieren: nämlich als Summe der Voraussetzungen, unter denen ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden soll. Die positiven Rechtsordnungen enthalten zahlreiche Vorschriften, die keine Zwangsakte statuieren: Beispiele sind Normen, die Individuen zum Abschluß von Rechtsgeschäften ermächtigen 32 oder Normen des Verfassungsrechts, die das Verfahren der Gesetzgebung regeln 33 . Auf der Grundlage seines weiten Sollensbegriffs, der nicht nur, wie es vom Sprachgebrauch her naheliegen würde, das Gebieten (und seine Kehrseite 34, das Verbieten), sondern auch das Erlauben ("Dürfen") und das Ermächtigen ("Können") 35 - kurzum: "alle normativen Funktionen" 36 umfaßt, erkennt Kelsen in der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" den Normcharakter derartiger Vorschriften ausdrücklich an; dagegen bestreitet er, daß sie "selbständige Rechtsnormen" darstellen 37. Sie seien ebenso wie Gebots- oder Verbotsnormen, die nicht unmittelbar mit einer Sanktion verbunden seien 38 - lediglich unselbständige Normen, weil sie "in w e sentlicher Verbindung mit Zwangsakte statuierenden Normen stehen" 39 , das heißt, weil sie nur eine der Bedingungen bestimmten, an die - in einer selbständigen Rechtsnorm - der Zwangsakt geknüpft sei 40 . Beispiele: Daß ein Vertrag wirksam zustandegekommen ist, ist (neben Vertragsverletzung, Schaden, Zurechenbarkeit etc.) eine der Voraussetzungen für ein auf Schadensersatz lautendes Urteil und die sich gegebenenfalls anschließende Zwangsvollstreckung 41; und daß das Parlament Gesetze verabschiedet hat, die den Diebstahl unter Strafe stellen und aus denen sich die 3 2

Siehe RR 261 f.

3 3

Siehe GT 143 f.; RR 52.

3 4

Siehe A T N 76.

3 5

RR 4 f.; ATN 77.

3 6

A T N 77.

3 7

RR 52, 55-59.

3 8

Dazu oben A I l a (2).

3 9

RR 52.

4 0

Siehe RR 57.

4 1

Siehe RR 262.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

73

Strafgewalt des entscheidenden Gerichts ergibt, sind zwei der Bedingungen, unter denen eine Verurteilung wegen Diebstahls erst erfolgen kann 42 . Im Rechtssatz, in dem die Rechtswissenschaft die Normen der Rechtsordnung darstellt 43 , können - so Kelsen - die unselbständigen in ihrem Verhältnis zu den selbständigen Rechtsnormen in einem "wenn-dann"-Schema dargestellt werden: 'Wenn das Parlament ein Gesetz gegen Diebstahl erläßt etc., dann soll das Gericht den Täter zu einer Strafe χ verurteilen" 44 . Allgemein formuliert Kelsen, die "Grundform des Rechtssatzes" laute, daß unter bestimmten, und zwar von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen ein bestimmter, und zwar von der Rechtsordnung bestimmter, Zwangsakt erfolgen solle 45 . Der Zwangsakt, dessen Verfügbarkeit nach Kelsens Ansicht das Recht gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Ordnungen auszeichnet, bildet somit auch in der Frage der rechtswissenschaftlichen Organisation des Rechtsmaterials den Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen. Indem Kelsen im "Zwangsakt" ein Strukturelement identifiziert, auf das alles Recht zuläuft und auf welches hin es organisiert werden kann, erreicht er innerhalb seiner Ausführungen zum Begriff des Rechts eine eindrucksvolle begriffliche und thematische Geschlossenheit. In diesen Überlegungen findet daher das Ziel einer begriffs- und darstellungsmäßigen Einheit, das der rekonstruktivistischen Ausrichtung der Reinen Rechtslehre insgesamt zugrundeliegt 46 , einen besonders markanten Ausdruck 47 . 3. Kelsens Lehre und die herkömmliche Zwangstheorie Indem geradezu erklärt 49 , fort. Die

Kelsen das Recht als Zwangsordnung konzipiert, ja im Zwang den "Wesensausdruck des Rechts" sieht 48 , setzt er, wie er selbst "die Tradition der positivistischen Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts" Kelsen'sche Version der Zwangstheorie unterscheidet sich jedoch

4 2

Siehe GT 143; RR 57.

4 3

Zum Rechtssatzbegriff Kelsens siehe RR 79-86 und ausführlich im 4. Kap. D II.

4 4

Siehe RR 57.

4 5

RR 80.

4 6

Dazu oben 1. Kap. C I .

4 7

Positiv auch die Bewertung von Tebaldeschi, Rechtswissenschaft 82: Die "Vereinigung von Normvorschrift und Normsanktion" sei "sowohl historisch wie theoretisch angemessen", "um den wesentlichen Charakter der Rechtssprache zu erfassen". 4 8

RR 1. Aufl. 32.

4 9

RR 1. Aufl. 25.

74

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

wesentlich von der Auffassung, die etwa der "analytical jurisprudence" John Austins zugrundeliegt 50. Bei Austin dient der Zwang, mit dessen Hilfe die rechtlichen Verhaltensgebote erforderlichenfalls durchgesetzt werden, der faktischen Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. Dagegen tritt bei Kelsen der Zwangsakt nur als gesollter auf; indem die "Nachteilsordnung in den Wortlaut der Rechtsnorm" aufgenommen wird 5 1 , bleibt sie vollständig in die normative Sphäre des Rechts eingebunden. Ross 52 bringt diesen Unterschied prägnant in der Bemerkung zum Ausdruck, die moderne Sanktionstheorie (Kelsen) vermeide die nachteiligen Konsequenzen ihrer Vorläufer, indem sie die Position einnehme that legal rules are not rules maintained by the exercise of coercion but rules about its exercise

.

Es ist also eine "Verrechtlichung" des Zwanges, die Kelsens Version der Zwangstheorie kennzeichnet. Darin kommt die normativistische Komponente seines Rechtsbegriffs 54 zum Ausdruck: Weil das Recht ein in sich geschlossenes normatives System darstellt, ist in ihm für faktische Elemente wie Zwang kein Raum. Nur normativiert, formuliert als Sollensfaktor, vermag daher der Zwangsbegriff noch Eingang in Kelsens rechtstheoretische Konzeption zu finden. Diese normativistische Umdeutung des Zwangsfaktors erreicht Kelsen freilich nur um den Preis, daß er die Zwangstheorie, verglichen mit der herkömmlichen Ansicht, noch weiter zuspitzt 55 : Das Recht wendet sich bei ihm - anders als noch bei Austin 5 6 - nicht mehr unmittelbar an die Rechtsunterworfenen, deren Verhalten zu lenken es doch in erster Linie bestimmt ist; es ist vielmehr ein Amtsträgerrecht , das an den Rechtsstab adressiert ist und dessen Ausgangspunkt die Zwangsakte bilden, mit denen die Amtsträger erfolgte Normverletzungen ahnden sollen 57 . Das Recht wird zur "Reaktionsregelung" 58.

5 0

Dazu Moore , Legal Norms 130.

5 1

HPS 212.

5 2

Directives and Norms 90.

«

Auch Geädert , Recht und Moral 157 Α. 259 bemerkt, Kelsens Zwangstheorie könne am besten dadurch erklärt werden, daß das Recht selbst die Zwangsmittel zu seiner Durchsetzung bestimme. 5 4

Dazu oben 1. Kap. Β II.

5 5

Darauf weist auch Koller , Meilensteine 139 hin.

5 6

Zu dessen Ansicht oben A l l a (1).

5 7

Auch dazu oben A l l a (1).

CO

von Olshausen , Anschauung 565.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

75

Besonders deutlich wird diese Orientierung in Kelsens Rechtssatzkonzeption: Dem zur autoritativen Entscheidung eines Rechtsstreits berufenen Amtswalter werden im Rechtssatz diejenigen rechtlichen Informationen vollständig zugänglich gemacht, deren er zur Vorbereitung und Begründung seiner Entscheidung, der "gesollten" Verhängung des Zwangsaktes, bedarf. Die gleiche Grundtendenz findet sich in Kelsens Rechtspflichtlehre: Indem ein Verhalten erst dadurch überhaupt als pflichtig qualifiziert wird, daß im Falle von Abweichungen die Setzung einer Sanktion rechtlich gesollt ist, wird auch der Begriff der Rechtspflicht über die autoritativen Reaktionen, die für den Fall von Zuwiderhandlungen vorgesehen sind, bestimmt. Kelsen geht also von Situationen aus, in denen es dem Recht nicht gelungen ist, seine Verhaltensregelungen den Rechtsgenossen so zu vermitteln, daß sie dazu in der Lage sind, diese eigenständig anzuwenden; er entwickelt seinen Rechtsbegriff von der Position des Amtsträgers her, der einen streitigen Rechtsfall zu entscheiden hat 5 9 , also von einer Situation her, in der die gesellschaftliche Selbststeuerung durch Recht nicht funktioniert hat. Es ist dieser Ansatz Kelsens - Kramer 60 nennt ihn eine "prozessualistische" Art der Rechtsbetrachtung - , der im Mittelpunkt von Harts Kritik steht. II. Die Kritik Harts

In seinem "Concept of Law" und dem zur gleichen Zeit (1961) entstandenen Diskussionsbericht "Kelsen Visited" verwirft Hart alle Versuche, die Vielfalt rechtlicher Regelungen auf eine einheitliche Struktur zu reduzieren und das Spezifikum von Rechtsvorschriften im Vorhandensein von Sanktionen bzw. von Zwangsakten zu erblicken. Er wirft diesen Konzeptionen vor, die von ihnen erreichte "pleasing uniformity" 61 der Rechtsstruktur um den Preis der Verzerrung der Komplexität der rechtlichen Phänomene, insbesondere der sozialen Funktionen des Rechts, zu erkaufen. 1. Pflichtregeln

und Ermächtigungsregeln

Den Ausgangspunkt von Harts Darlegungen bildet die These, daß nach ihren sozialen Funktionen zwei Arten von Rechtsvorschriften zu unterscheiden seien: Zum einen gibt es danach Vorschriften, die ein bestimmtes, gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten dadurch verbieten, daß sie die Pflicht statuieren, das betreffende Verhalten zu unterlassen (Pflichtregeln). Beispiele für diese Gruppe eg

J

J. Cohen, The Political Element 32 betont ebenfalls: "... it is the authorities who are given the central role under the theory". 6 0

Wirksamkeit des Rechts 254.

6 1

CL 38.

76

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

von Regelungen finden sich vor allem im Straf- und im Deliktsrecht 62 . Von diesem Regelungstypus grundsätzlich verschieden seien solche Gesetze, die ein bestimmtes Verhalten nicht verböten, sondern die im Gegenteil den Rechtskreis der einzelnen erweiterten, indem sie ihnen die Befugnis erteilten, unter bestimmten Bedingungen gültige Rechtsakte zu setzen. Solche "Ermächtigungsregeln" fänden sich sowohl im Bereich des Privatrechts (Beispiel: Regeln für die Testamentserrichtung) als auch im öffentlichen Recht (z.B. die Bestimmungen für die Erzeugung von Gesetzen)63. 2. Reduzierbarkeit

von Ermächtigungs- auf Pflichtregeln?

Ermächtigungsregeln können nach Hart nur um den Preis der Verzerrung ihrer spezifischen sozialen Funktionen auf die Struktur von Pflichtregeln reduziert werden. a) Nichtigkeit als Sanktion Austin 6 4 habe versucht, diese Reduktion dadurch zu bewerkstelligen, daß er auch die rechtlich vorgesehenen Nichtigkeitsfolgen als Sanktionen interpretierte. Dazu müsse man jedoch - so Hart - den Begriff des Zwanges bzw. der Sanktion 6 5 bis zur Unkenntlichkeit ausdehnen. Außerdem unterscheide das etwa mit einem Strafurteil verbundene soziale Unwerturteil das Strafrecht in so fundamentaler Weise von der gesetzlichen Regelung solcher Aktivitäten, die, wie z. B. das Abfassen von Testamenten, als sozial nützlich angesehen würden und grundsätzlich erlaubt seien, daß eine rechtstheoretische Gleichbehandlung dieser beiden Regelungskomplexe etwas Gewaltsames habe 66 . b)

Der Rechtssatz Kelsens: Verzerrung der unterschiedlichen sozialen Funktionen von Rechtsvorschriften

Auch Kelsens Rechtssatzkonzeption, die "power-conferring rules as fragments of laws" 6 7 verstehe, wird von Hart verworfen. Hart bestreitet nicht, daß es theoretisch möglich sei, auf der Grundlage von Kelsens Strukturformel das

6 2

CL 27.

6 3

CL 27 f.

6 4

Siehe CL239.

6 5

Hart verwendet beide Begriffe als Synonyme; so formuliert er in der einschlägigen Abschnittsüberschrift (CL 33): "Nullity as a sanction", um dann im nachfolgenden Satz sogleich von "coercive orders" zu sprechen. 6 6

CL 33-35.

6 7

CL 35.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

77

gesamte rechtliche Material zu erfassen 68. Die Unterschiede zwischen Kelsen und Hart betreffen vielmehr die grundsätzliche Frage nach der einer analytischen Rechtstheorie angemessenen Untersuchungs- und Darstellungsmethode 69. Der Zusammenhang der Kelsen'schen Theorie von der Struktur des Rechtssatzes mit der allgemeinen Orientierung der Reinen Rechtslehre ist im vorigen Abschnitt im einzelnen aufgezeigt worden und läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Kelsens auf methodische und darstellungsmäßige Einheit ausgerichteter Rekonstruktivismus veranlaßte ihn dazu, das Element des Zwangsaktes als das kennzeichnende Merkmal allen positiven Rechts herauszustellen, auf das hin bezogen sich das gesamte sonstige Rechtsmaterial organisieren läßt. Sein Normativismus erlaubte es ihm jedoch andererseits nur, den Zwangsakt als Sollenselement in seine Rechtslehre aufzunehmen. Aus dieser spezifisch Kelsen'schen Verbindung von Zwangsakttheorie und Normativismus ergab sich dann jene Sichtweise, die vorstehend im Anschluß an Kramer als "prozessualistisch" bezeichnet wurde. So wie Kelsens Rechtssatzlehre in unmittelbarer Beziehung zu seinen methodischen und begrifflichen Grundannahmen steht, ist umgekehrt auch Harts Kritik an Kelsen verbunden mit dem, ja geradezu Ausdruck des deskriptivistischen Ansatzes, der Harts Theorie insgesamt kennzeichnet. Harts Haupteinwand gegen Kelsens Konzeption ist, daß sie die primäre Funktion gesellschaftlicher Verhaltenslenkung durch das Recht verzerre. Diese ist nach Harts Ansicht not to be seen in private litigation or prosecutions, which represent vital but still ancillary provisions for the failure of the system. It is to be seen in the diverse ways in which the law is used to control, to guide, and to plan life out of court 70 .

0 0 Darauf weist auch Cameron , Observations 103 hin. - Bydlinski , Methodenlehre 193, der Kelsen aus ähnlichen Gründen wie Hart kritisiert, erkennt ausdrücklich an, die Kelserisehe Methode, das rechtliche Material zu organisieren, sei "logisch gewiß grundsätzlich möglich". 6 9 Auch J. Cohen, Myth of Neutrality 109 betont: "The difference between Hart and Kelsen on the issue of power-conferring norms is, at bottom,... not as factual, as it is valuational - a difference in the choice of analytical tools". 7 0 CL 39.- Die Quintessenz von Harts Kritik wird sehr plastisch von Edel, Legal Positivism 94 zum Ausdruck gebracht: "Coercion may be a necessary condition for modern legal systems as energy is a necessary condition for industrial productions ..., but it would not be fruitful to define industry as the independent science of using high-technology energy for production". - Dieser Aspekt von Harts Kelsen-Kiiiik wird von einer Reihe weiterer Autoren geteilt: Baker, Defeasibility 30; Bydlinski, Methodenlehre 191; Kramer, Wirksamkeit 254,257; ders., Motivation 566; Maihof er, Die gesellschaftliche Funktion 27; skeptisch zu Kelsen auch Cowan , Law without Force 691; von Olshausen, Anschauung 565; Winkler, Rechtstheorie 193. Krawietz, Zwang 322 betont in bezug auf Kelsens Zwangstheorie, daß rechtstheoretische Begriffsbestimmungen einer kritischen Überprüfung auch unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Adäquanz standhalten müßten, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, bei aller Orientierung an den jeweils geltenden Rechtsnormen die soziale Wirklichkeit des Rechts zu verfehlen. - Kritisch zu Harts Begründung dagegen MacCormick, Law as Institutional Fact 116: "In so far as this is the foundation of his critique of... Kelsen at the theoratical level it seems a very shaky one. For it depends upon a testable but unstated sociological assumption".

78

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Nicht das Mißlingen ("the breakdown or failure" 71 ) der rechtlichen Steuerung des sozialen Lebens, das von der "prozessualistischen" Betrachtungsweise Kelsens in den Blick genommen werde, sondern der gelingende Vermittlungsprozeß zwischen Recht und Gesellschaft ist also nach Hart der richtige Ausgangspunkt für die rechtstheoretische Analyse des positiven Rechts. Man kann diese Sichtweise als die "Normalitätsperspektive des Rechts" bezeichnen. Kelsens Ansatz verdunkle nicht nur den spezifischen Charakter des Rechts als Mittel sozialer Kontrolle, sondern könne auch grundlegende rechtliche Unterscheidungen - in erster Linie die Unterscheidung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten - nicht zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel verpflichte sowohl eine Geldstrafe wie auch ein Steuerbescheid den betroffenen Rechtsgenossen zur Zahlung einer bestimmten Geldsumme an eine staatliche (oder vom Staat bestimmte) Institution. Doch nur die Geldstrafe bringe ein soziales Unwerturteil zum Ausdruck, während der Steuerforderung eine solche Absicht fernliege. In Kelsens prozessualistischer Sichtweise sind indes, wie Hart ausführt, Steuer- und Strafgesetz gleichermaßen nur in ihrer Funktion als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für eine richterliche Entscheidung relevant, und deswegen kann er - so Hart - den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Typen rechtlicher Regelungen nicht erfassen 72. Kelsen sei sich - so Hart weiter - dieses unbefriedigenden Zuges seiner Theorie durchaus bewußt; dies zeige sich daran, daß er den Begriff der Sanktion nicht an ein beliebiges menschliches Verhalten knüpfe, sondern ihn sozial unerwünschten Verhaltensweisen vorbehalte 73. Kelsen sage aber nicht, nach welchen Kriterien sozial erwünschtes und daher erlaubtes und sozial unerwünschtes und daher verbotenes Verhalten voneinander zu unterscheiden seien - und auf der Grundlage seiner "prozessualistischen" Untersuchungsperspektive und seines Reinheitspostulats, das den Inhalt und den sozialen Kontext von Rechtsnormen aus dem Befassungsbereich der Rechtstheorie ausblende, könne er diese A b grenzung auch nicht vornehmen 74 . Harts Fazit ist, daß die auf der Grundlage von Kelsens prozessualistischformalistischem Ansatz entwickelten Definitionen, da sie wesentliche Fragen

7 1

CL 38.

7 2

CL 39; ausführlicher in: Kelsen Visited 299 f.; ebenso Weinberger , Begriff der Sanktion 197 f.; ähnlich Walter, Buchbesprechung 670; ders., Stand 89 ("Die jetzige Formulierung der Zwangsnorm bringt zu wenig zum Ausdruck, daß in den 'Voraussetzungen' eben jenes Verhalten steckt, auf dessen Vermeidung die Rechtsordnung intentional gerichtet ist"); Hart zustimmend Koller, Meilensteine 142 f.; Raz, Concept of a Legal System 87; i.E. auch M. Cohen, Law and Force 157-162. , J

Kelsen Visited 300 f. - Zu Kelsens Position oben A 1 1 b.

7 4

Kelsen Visited 300 f.; zustimmend Raz, Concept of a Legal System 87.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

79

unbehandelt ließen, weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht irgendeinem sinnvollen Zweck dienten und nur Verwirrung stiften könnten 75 . I I I . Beurteilung von Harts Kritik

1. Kelsens und Harts Ansätze: grundsätzlich komplementär, nicht widersprüchlich Den Kernpunkt von Harts Kritik an Kelsen bildet der Vorwurf, daß bereits der Ausgangspunkt der Reinen Rechtslehre falsch gewählt sei, weil er die primäre soziale Funktion des Rechts, einen allgemeinen Verhaltensmaßstab für die Rechtsgenossen darzustellen, verzerre. Dieser Einwand Harts ist von seinem Ausgangspunkt, seinem Verständnis von den Aufgaben der Rechtstheorie her schlüssig: Wenn es in der Tat die Aufgabe der Rechtstheorie ist, in ihrer Analyse der Rechtsstruktur von einer Unterscheidung der verschiedenen Weisen auszugehen, in denen das Recht das alltägliche Verhalten der Rechtsgenossen lenkt, dann kann Kelsens Begriff des Rechts als einer Reaktionsregelung das Verdikt "Thema verfehlt" nicht erspart werden. Die Frage ist indes, ob Hart darin Recht hat, daß er die Unhaltbarkeit der Kelsen'schen Position aufgezeigt habe, oder ob er nicht vielmehr nur die Möglichkeit einer alternativen Sichtweise erwiesen hat, neben der Kelsens Ansicht weiterhin fortbestehen kann. Auf einen in diesem Zusammenhang bedeutsamen allgemeinen Gesichtspunkt ist bereits wiederholt hingewiesen worden 76 : Es ist eine Grundthese dieser Arbeit, daß die Rechtstheorie, der komplexen Natur ihres Gegenstandes entsprechend, ein Haus mit vielen Wohnungen ist. Der ihr angemessene Standpunkt ist daher der eines Methodenpluralismus, einer "great common exploration of possible perspectives" 77, und es würde einen "partikularistischen Fehlschluß" darstellen, eine bestimmte Fragestellung und Untersuchungsmethode auf Kosten aller anderen als die allein richtige anzusehen78. Kelsen und Hart thematisieren unterschiedliche Weisen, in denen das Recht auf das Leben der Rechtsgenossen einwirkt: Hart beschreibt das Recht in seiner Funktion als Teil gelingender sozialer Selbstregulierung; Kelsen dagegen stellt die zwangsweisen Reaktionsmöglichkeiten heraus, über die das Recht verfügt und die dann relevant werden, wenn die von Hart dargestellten Selbstregulationsmechanismen versagen. 7 5

Kelsen Visited 299.

7 6

Siehe oben 1. Kapitel Β I 2; C II.

7 7

F. Cohen, Field Theory 268.

7R

R. Dreier, Einleitung 11\ Jörgensen, Norm und Wirklichkeit 7.

80

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Dabei kann die von Hart zugrundegelegte, hier als "Normalitätsperspektive" bezeichnete Sichtweise insofern als primär bezeichnet werden, als sich dieses Urteil auf die Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Rechtsordnung bezieht: Wenn nämlich nicht der weitaus überwiegende Teil aller Kontakte zwischen den Rechtsgenossen ohne Einschaltung autoritativ entscheidender staatlicher Instanzen abgewickelt würde, wenn also nicht das rechtmäßige Verhalten den Regelfall bildete, so würde die Rechtsordnung infolge der völligen Überlastung ihres Rechtsstabs binnen kurzem zusammenbrechen79. Dennoch hat dieser Umstand weder zur Folge, daß Kelsens Ansatz überflüssig wird, noch beweist er, daß Kelsen die sozialen Funktionen des Rechts verzerrend darstellt. Wenn Kelsen die indirekte Verhaltenslenkung durch das Recht von der direkten Verhaltenslenkung etwa durch die Moral abhebt und wenn er den Rechtssatz als Kompendium von Informationen für die Amtsträger konzipiert, so bringt er damit vielmehr eine Besonderheit des Rechts zum Ausdruck, die in der optimistischeren Sichtweise Harts nicht hinreichend berücksichtigt wird, die aber zum Verständnis der spezifischen Wirkungsweise des Rechts in einer Gesellschaft schlechterdings unverzichtbar ist: Anders als die Moral beschränkt sich das Recht nicht auf die Setzung allgemeiner Verhaltensstandards, deren Durchsetzung dem good will der Beteiligten und einem diffusen sozialen Druck überlassen wird, sondern stellt es eine organisierte Ordnung dar, die die Beachtung ihrer Normen auf der Grundlage geregelter, in Form von Rechtssätzen beschreibbarer Verfahren zu erzwingen vermag 80 . Daß das Recht, wenn erforderlich, auf Zwang zurückgreifen kann, macht mit anderen Worten nach Kelsen gerade seine besondere Qualität, sein spezifisches Plus gegenüber den sonstigen sozialen Verhaltensordnungen aus. Die Organisiertheit und die Monopolisierung der Zwangsgewalt im Rechtsstab sind die Merkmale, die Kelsen in seinem Rechtsbegriff als spezifisch rechtlich herausstellt 81. Diese Einsicht und die Darstellung, die Kelsen ihr gegeben hat, bleiben wertvoll, auch wenn man Hart darin zustimmt, daß regelmäßige Befolgung eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer Rechts- wie überhaupt

7 9 Siehe Cowan y Law without Force 690 f. - Kramer, Wirksamkeit 255 spricht zutreffend davon, daß die Setzung des Zwangsaktes nur eine "pathologische" Form der Wirksamkeit des Rechts darstelle.

ΟΛ

Wie Cameron , Observations 105 bemerkt, könnte ein Grund, warum Hart die Bedeutung des Zwangselements im Recht unter-schätzt habe, darin liegen, daß er die Parallelen, die zwischen den Regeln des Rechts und denen eines Spieles bestünden, überbewertet habe: "Rules of law are clearly much more compulsive, much less the product of voluntary acceptance by the subjects than are the rules of agame". Ol

Auch J. Cohen, The Myth of Neutrality 109 betont, in Kelsens Theorie sei "the legal bite (unlike the moral bite)... ultimately a matter of the threat of organized force".

A- Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

81

einer jeden normativen Ordnung darstellt 82 . Es ist daher J. Cohen 83 beizupflichten, der über das allgemeine Verhältnis des Kelsen'schen und des Hart'schen Ansatzes bemerkt: Actually, the two accounts are not in conflict, for each theorist is focusing on different targets, not paying any or enough attention to what the other thought to be of greater significance.

Somit ist Harts Anspruch, durch seine Kritik den Ansatz der Reinen Rechtslehre widerlegt zu haben, unbegründet. 2. Leistungsfähigkeit

der Kelsen'schen Sichtweise

Der Ausgangspunkt Kelsens - Recht als Reaktionsregelung - ist nicht nur auf einer allgemeinen Ebene mit dem Ansatz Harts komplementär, sondern er weist darüber hinaus einige spezifische Vorzüge auf: Sie liegen zum einen in seiner entideologisierenden Wirkung und zum anderen in der methodischen Stringenz von Kelsens Ausführungen. Andererseits setzt jedoch das auf eine logischformale Strukturanalyse des Rechts ausgerichtete methodische Instrumentarium der Reinen Rechtslehre der Leistungsfähigkeit dieser Theorie bestimmte Grenzen; sie aufgezeigt zu haben, stellt den berechtigten Teil von Harts Kritik an Kelsen dar. a)

Entideologisierende Wirkung und Grenzen der Leistungsfähigkeit von Kelsens Konzeption

Der Rechtsbegriff Kelsens enthält in zweierlei Hinsicht Barrieren gegen eine Ideologisierung des Rechtsbegriffs: ( I ) Abgrenzung gegen das Naturrecht Dadurch, daß er das Recht als Reaktionsregelung versteht, sucht Kelsen jegliche strukturellen Parallelen zu naturrechtlichen Konzeptionen auszuschließen84. Er sieht in der von ihm in seiner Rechtspflichtlehre bekämpften Ansicht, daß die Statuierung der positiven Verhaltenspflicht das rechtlich Primäre darstelle und von dem mit ihr vernüpften Zwangsakt lediglich sekundiert werden, einen Überrest naturrechtlichen Denkens: Derartige Vorstellungen entsprängen dem naturrechtlichen Glauben, daß Wert und Unwert einer Handlung der Wirklichkeit immanent seien, das heißt, daß bestimmte Verhaltensweisen unabhängig von oo Cameron , Observations 108 kommt bei seiner Beurteilung von Harts Kritik an Kelsen zu dem Schluß: "The formulation of rules of law as rules directing officials to apply sanctions on certain conditions remains that which best reveals the specific character of a legal system". 8 3 Myth of Neutrality 108. 8 4 In der ideologiekritischen Tradition Kelsens wirft neuerdings auch Alxvart> Recht und Handlung 148 der zweigliedrigen Adressatentheorie vor, sie stelle ein "Residuum des Naturrechtsdenkens" dar.

6 Pawlik

82

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

aller Positivierung sogenannte "mala in se" darstellten 85. Dies sei vom Standpunkt einer positivistischen Rechtstheorie aus inakzeptabel; für sie gebe es keinen Tatbestand, der an und für sich, das heißt: ohne Rücksicht auf seine von der Rechtsordnung statuierte Folge ein Unrecht oder Delikt sei. "Es gibt keine mala in se, sondern nur mala prohibita " 86. Diese Argumentation Kelsens ist nicht sehr klar 8 7 . Versteht man sie dahingehend, daß Kelsen meine, aus dem Begriff des Rechtspositivismus lasse sich unmittelbar die Notwendigkeit ableiten, das positive Recht als Reaktionsregelung zu konzipieren, so müßte man diese Behauptung Kelsens zurückweisen: Vom Standpunkt des Rechtspositivismus aus ist es nur entscheidend, daß eine pflichtbegründende Norm von einem positiven Gesetzgeber stammt und nicht behauptet wird, sie ergebe sich aus dem Recht der Natur. Dieses Postulat läßt sich jedoch, wie das Beispiel Austins zeigt, ohne weiteres mit der Vorstellung vereinbaren, daß sich die Rechtspflicht unmittelbar aus der tatbestandlichen Verhaltensanordnung selbst ergebe 88. Kelsens Ausführungen können jedoch auch in einem ideologiekritischen Kontext verstanden werden 89 : Entnimmt man die Rechtspflicht unmittelbar dem Tatbestand einer Gebots- oder Verbotsnorm, so erleichtert die dadurch gegebene strukturelle Parallelität von Rechts- und Moralpflichten Versuche, die positiv-rechtliche Verpflichtung als durch das Naturrecht geboten auszugeben und auf diese Weise ideologisch aufzuwerten. Dagegen läßt die Kelsen'sche Version keinen Zweifel am Setzungscharakter des Rechts: Nicht weil eine bestimmte Verhaltensanforderung in irgendeiner Weise richtig, sondern weil sie mit einer Sanktion verbunden, in ein organisiertes System von Rechtsbeziehungen integriert ist, begründet sie eine Rechtspflicht. Entsprechend ist auch die Rechtswissenschaft nicht zur Formulierung "richtigen" Rechts berufen, sondern dazu, dem Amtsträger, vor allem dem Richter, auf der Grundlage des positiven Rechts im Rechtssatz diejenigen Informationen an die Hand zu geben, deren er zu einer konkreten Fallentscheidung bedarf. Von daher hat es eine entschieden entideologisierende Wirkung, daß Kelsen das Recht als Reaktionsregelung versteht 90. Dieser Gesichtspunkt ist auch für die dem "Concept of Law" nachfolgende weitere Entwicklung von Harts eigener Theorie von erheblicher Bedeutung geworden; es sind, wie sich zeigen wird, ganz ähnliche Überlegungen, die ihn dazu bewogen haben, 8 5

Idee 274; GT 51 f.; RR 117 f.

8 6

RR 118.

07

σ /

Das kritisiert auch Woozley, Legal Duties 466.

8 8

So auch Woozley, Legal Duties 468.

0on 7 9 0

Zur ideologiekritischen Komponente von Kelsens Naturrechtskritik siehe oben 1. Kapitel A II 2. Siehe dazu auch Wielinger,

Seinsrecht 572 f.

Die modifizierte Zwangstheorie Kelsens

83

in seinen "Essays on Bentham" einen Rechtspflichtbegriff zu entwickeln, der mit demjenigen Kelsens weitgehend identisch ist. (2) Erlaubtes und verbotenes Verhalten Auf der Grundlage des Reinheitspostulats kann Kelsen nur zwischen dem "Zwangsakt" auf der einen und den "Voraussetzungen des Zwangsaktes" auf der anderen Seite unterscheiden; er kann aber nicht den Begriff der Sanktion erfassen, der, wie Walter 91 bemerkt, "nur wertend bestimmt werden kann". Da es aber nach der Formulierung Weinbergers 92 niemandem einfallen würde, aus der Norm, daß, wer ein Einkommen habe, Einkommenssteuer zahlen solle, den Schluß zu ziehen, daß es verboten sei, Einkommen zu haben, ist Hart zuzustimmen, wenn er feststellt, daß Kelsen den Begriff der Rechtspflicht angemessen nur erfassen könne, wenn er in methodischer Hinsicht über das Reinheitspostulat hinausgehe. Damit macht Hart in diesem Punkt die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Reinen Rechtslehre sichtbar: Sie ist auf einen äußerst hohen Allgemeinheitsgrad beschränkt, wenn sie die Strukturanalyse des Rechts im Einklang mit ihren methodischen Vorgaben betreiben will, und die von Kelsen versuchte Erklärung des Rechtspflichtbegriffs liegt, was er selbst nicht hinreichend klar erkannte, bereits unterhalb dieser Ebene. Die Selbstbeschränkung, zu der die Reine Rechtslehre somit durch ihre methodischen Vorgaben gezwungen ist und die sich im hiesigen Zusammenhang darin niederschlägt, daß sie über einen als bloßen "Reiz-Reaktions-Mechanismus" 9 3 verstandenen Rechtsbegriff nicht hinaus kann, bietet indes den spezifischen Vorzug, daß sie einen weiteren versachlichenden Zug von Kelsens rekonstruktivistischer Vorgehensweise ans Licht bringt. Dies wird am ehesten deutlich, wenn man sich fragt, wie Hart die Abgrenzung von steuerpflichtigem erlaubten Verhalten und strafbewehrtem verbotenen Verhalten vornehmen würde. Er müßte sich dazu auf den Wortlaut, die Formulierung der einschlägigen V o r schriften stützen. Dies kann jedoch in mehrfacher Hinsicht irreführend sein: So kann etwa an eine bestimmte, dem Wortlaut nach erlaubte Tätigkeit - etwa an selbständige Tätigkeit in Staaten mit Zentralverwaltungswirtschaft - eine so hohe Steuer geknüpft werden, daß daraus deutlich wird: Was der Gesetzgeber hier in Wahrheit erreichen will, ist die Unterlassung der betreffenden Tätigkeit. Umgekehrt kann ein bestimmtes, an sich verbotenes Verhalten mit einer so geringen Strafe belegt werden, daß sie von den Betroffenen überhaupt nicht mehr als Unwerturteil, sondern lediglich als eine Art Gebühr empfunden wird 9 4 . 9 1

Buchbesprechung 670.

9 2

Begriff der Sanktion 107 f.

9 3

H. Dreier, Hans Kelsen 203.

9 4

Ein sehr plastisches Beispiel dafür bietet der englische Fall Att.-Gen. v. Harris (1961) 1 Q.B. 74. - Zu dieser Möglichkeit siehe auch Hart selber (CL 39) sowie Lippold, Reine Rechtslehre 111.

84

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

In beiden Fällen verbrämt die Formulierung der Vorschrift ihre tatsächliche Wirkungsweise. Daß Hart durch seinen sprachanalytisch-deskriptivistischen Ansatz darauf festgelegt ist, die Formulierungen der Rechtsvorschriften, so wie sie sind, in seine Darstellung zu übernehmen, beraubt ihn der Möglichkeit, dieses Auseinanderfallen von Formulierung und tatsächlicher Wirkung deutlich zu machen 95 ; sie führt daher dazu, daß er in den Problemfällen sein eigentliches Anliegen: die Regeln der Rechtsordnung ihren tatsächlichen sozialen Funktionen entsprechend darzustellen, verfehlt 96 . Indem Kelsen dagegen das rechtliche Material unter dem Leitgedanken des Rechts als einer Reaktionsregelung rekonstruiert, vermag er sich von den in der Normformulierung enthaltenen Vorgaben zu distanzieren und so in neutraler Weise die strukturellen Parallelen herauszustellen, die auch Rechtsphänomene miteinander verbinden, die von ihrem Charakter her zunächst als so unterschiedlich erscheinen wie Steuer und Geldstrafe 97. Auch insofern kann der Kelsen'schen Lehre entideologisierende Wirkung zugeschrieben werden 98 . b) Methodische Stringenz Darin, daß Kelsen in seiner Analyse der Struktur des Rechts nicht unmittelbar an dessen verhaltenslenkende Funktion anknüpft, sondern von der Sichtweise der Amtsträger ausgeht, kommt ferner seine generelle Zurückhaltung, ja Skepsis gegenüber der sozialen Wirkkraft und der Steuerungsfunktion von Normen 99 zum Ausdruck. Vor allem aber entgeht Kelsen dadurch, daß er sich in seiner Struktur- und Funktionsanalyse des Rechts konsequent auf den normativinnerrechtlichen Bereich beschränkt, der Gefahr, seine Untersuchungen in methodisch letztlich unkontrollierter Weise mit psychologisierenden und soziologischen Erwägungen zu vermengen und auf diese Weise in innere Widersprüche zu geraten 100 . Eine Reihe der Schwächen von Harts Konzeption hat, wie in den nachfolgenden Untersuchungen im einzelnen gezeigt werden wird, in eben dieser Vermengung verschiedener Fragestellungen ihre Ursache. Damit soll freilich nicht behauptet werden, daß der Ansatz der Reinen Rechtslehre der einzig stringente sei; aber daß er im Gegensatz zum Entwurf Harts begrifflich und methodisch im wesentlichen in sich geschlossen ist, stellt 9 5

Das kritisiert auch Edgeworth , Legal Positivism 126.

9 6

Zur Ambivalenz des Begriffs der "sozialen Funktion" siehe die Bemerkungen unten C I I 2 a.

07

So auch Cameron , Observations 106; Duncanson, English Jurisprudence 216 f.; Harris , Legal Philosophies 66. QO

So auch Lippold, Reine Rechtslehre 111. 9 9

Dazu H. Dreier , Hans Kelsen und Niklas Luhmann 439; ders., Hans Kelsen 142 f.

10Ω

Das unterstreichen auch Duncanson, English Jurisprudence 216 f.; Ebenstein

y

Pure Theory 631.

Β. Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen

85

auf jeden Fall einen nicht gering zu veranschlagenden Vorzug des Kelsen'schen Rechtsbegriffs dar. Harts Versuch, Kelsens Ansatz als nutzlos zu erweisen, muß somit als gescheitert angesehen werden. B. Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen nach Hart I. Der Bereich außerrechtlicher (sozialer) Pflichten

1. Die Existenzvoraussetzungen

einer sozialen Regel

Außerrechtliche (soziale) Pflichten ergeben sich nach Hart aus sozialen Regeln. Daher sind in einem ersten Schritt deren Existenzvoraussetzungen zu erörtern. Die Existenz einer sozialen Regel hängt nach Harts Ansicht von zwei Voraussetzungen a b 1 0 1 : Ein bestimmtes Verhalten muß regelmäßig erfolgen; und es muß zumindest von sovielen Mitgliedern der betreffenden sozialen Gruppe als gesollt anerkannt werden, wie erforderlich sind, um der Regel allgemeine soziale Durchsetzung zu verschaffen 102 . Diese Anerkennung schlägt sich äußerlich nieder in eigenem regelkonformem Handeln und in der Kritik eigenen oder fremden abweichenden Verhaltens 103 . Mit einem Beispiel Harts: In einer bestimmten Gruppe mag es eine allgemeine Gewohnheit darstellen, samstags ins Kino zu gehen. Solange indes die Gruppenmitglieder diese Handlungsweise nicht als Befolgung einer Regel ansehen, sondern es "halt nur alle so tun", und sie das Fernbleiben einzelner auch nicht zum Gegenstand von Kritik oder sonstigem Konformitätsdruck machen, kann vom Bestehen einer sozialen Regel, die den wöchentlichen Kinobesuch vorschreibt, nicht die Rede sein. Dagegen mag es etwa unter den Mitgliedern einer Sekte üblich und von allen als gesollt anerkannt sein, daß jedes Mitglied monatlich einen bestimmten Bruchteil seines Einkommens an die Gemeinschaft abzuführen hat. In einer solchen Situation würde Hart von der Existenz einer sozialen Regel sprechen. Sanktionen - vor allem in Form von Kritik an Abweichungen - spielen in dieser Konzeption nur eine sekundäre Rolle: In erster Linie kommt es auf die Anerkennung der Verbindlichkeit eines bestimmten Verhaltensstandards durch die Gruppenmitglieder an. Auch die Konzeption sozialer Regeln ist somit bei Hart an seiner Vorstellung ausgerichtet, daß die primäre soziale Funktion von Regeln darin bestehe, gesellschaftliche Selbststeuerung zu ermöglichen; sie fügt sich insofern nahtlos in seine allgemeine deskriptivistische, an der "Normalitätsperspektive" orientierte Betrachtungsweise ein. 1 0 1

Dazu bereits oben 1. Kap. Β 11 b (2).

1 0 2

Siehe CL55.

1 0 3

Siehe CL 56.

86

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

2. Der Begriff der sozialen Pflicht Nicht jede soziale Regel begründet indes nach Hart eine soziale Pflicht. Als Beispiel für soziale Regeln, die nicht zugleich pflichtbegründend wirken, führt er die Regeln der Grammatik an: ... to use in connexion with rules of this kind the words "obligation" or "duty" would be misleading and not merely stylistically odd. It would misdescribe a social situation... 104 .

Um eine soziale Pflicht zu begründen, muß eine soziale Regel also nach Hart zusätzliche Qualifikationen aufweisen. Den entscheidenden Faktor in diesem Zusammenhang erblickt er in der Stärke des sozialen Konformitätsdrucks, der Intensität der mißbilligenden Reaktionen, mit denen abweichendes Verhalten sanktioniert wird: Rules are conceived and spoken of as imposing obligations when the general demand for conformity is insistent and the social pressure brought to bear upon those who deviate or threaten to deviate is great 1 0 5 .

Indem Hart den Begriff der sozialen Pflicht von der Verletzungsfolge, der Sanktion her bestimmt, rückt er, wie er selbst erkennt 106 , an diesem Punkt in unmittelbare Nähe zu den von ihm ansonsten heftig kritisierten Sanktionstheorien 1 0 7 ; Hacker 1 0 8 bezeichnet seine Lehre daher als "modified sanction theory". Freilich ist der Unterschied dieser Hart'schen Version der Sanktionstheorie zu den Vorstellungen etwa Austins erheblich: Während bei diesem die faktische Verfügbarkeit und regelmäßige Anwendung von Sanktionen Voraussetzung für das Bestehen einer Regel ist, ist bei Hart gerade umgekehrt die von den Gruppenmitgliedern als sozial maßgeblich betrachtete, d.h. als bestehend angenommene Regel Grund für die Sanktion 109 . Dadurch vermeidet Hart zwar den Fehler Austins, die Geltung normativer Vorschriften unmittelbar an faktische Elemente zu knüpfen; dennoch stellt sein Begriff der sozialen Pflicht im Gesamtzusammenhang seiner Konzeption einen Fremdkörper dar. Auf der Grundlage von Harts bisherigen, an Deskriptivsimus und Normalitätsperspektive orientierten Ausführungen wäre es zu erwarten - und allein konsequent - gewesen, daß er den Pflichtcharakter einer sozialen Regel primär aus deren tatbestandlicher Fassung herleiten und Pflichtregeln von 1 0 4

CL 84.

1 0 5

CL 84.

1 0 6

CL 86.

1 0 7

Lacey> Obligations 221.

1 0 8

Sanction Theories 160 f.

1 0 9

Siehe CL 86.

Β. Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen

87

"gewöhnlichen" sozialen Regeln etwa nach ihrer besonderen Bedeutung für die Gemeinschaft oder danach abgrenzen würde, daß sie - im Gegensatz z.B. zu den Regeln der Grammatik - besondere Opfer für den Pflichtigen mit sich brächten 1 1 0 . Hart nennt indes, genau umgekehrt, als besonderes Spezifikum sozialer Pflichtregeln die besondere Heftigkeit der Reaktionen, die auf abweichendes Verhalten folgten. Danach ergibt sich in dem oben erwähnten Sekten-Beispiel der Pflichtcharakter der Abgaberegelung nicht etwa aus der besonderen Bedeutung, die die Gewährleistung einer verläßlichen Finanzgrundlage für die Gruppenmitglieder hat, sondern daraus, daß die unbegründete Zahlungsverweigerung eines Mitgliedes heftige Kritik der übrigen auf sich ziehen würde. Nicht die gelingende Selbstregulierung innerhalb der Gruppe, sondern die Situation der Krise, in der ein Mitglied der Regel die Gefolgschaft aufkündigt, ist also hier Ausgangspunkt von Harts Erörterungen. Damit legt er an dieser Stelle genau diejenige Betrachtungsweise zugrunde, die er zuvor in seiner Kritik an Kelsen als Verzerrung der gesellschaftlichen Realität gebrandmarkt hat 1 1 1 . Wenn Hacker 1 1 2 gegen Hart einwendet, er behandle "what is of secondary significance (nämlich die Sanktionen, M.P.) as if it were of primary importance" und auf der folgenden Seite hinzufügt, bei Hart werde die Aufmerksamkeit "diverted from the rule as a guide to action which constitutes in itself a reason for action", so könnte diese Kritik auch von Hart im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Kelsens Zwangstheorie stammen. Damit erweisen sich Harts Ausführungen zum Pflichtbegriff im "Concept of Law" als ambivalent: Diejenige Sichtweise, die Hart an einer Stelle - nämlich im Zusammenhang mit dem itec/rtspflichtbegriff - ablehnt, nimmt er an einem anderen Punkt - bei der Erläuterung des Begriffs der sozialen Pflicht - selbst ein. II. Der Bereich der Rechtspflichten

In Harts Theorie gibt es zwei Arten von Rechtsregeln, die sich von ihrer Struktur und ihren Existenzvoraussetzungen her grundlegend voneinander unterscheiden 113 . Die oberste Regel der Rechtsordnung, die Erkenntnisregel, entspricht dem Muster einer sozialen Regel 114. Die übrigen Rechtsregeln 1 1 0 Diese Kriterien nennt Hart selbst (CL 85); aber sie sind bei ihm gegenüber der Bedeutung, die er dem Vorhandensein und der Stärke von Sanktionen zuschreibt, nur sekundär. 1 1 1 Die Inkonsistenz von Harts Theorie in diesem Punkt bemerken auch Beehler, Obligation to obey 134; Hacker, Sanction Theories 162 f.; Colvin, Sociology of Secondary Rules 197; ähnlich ferner Oberdiecky Sanctions and Coercion 86. 1 1 2

Sanction Theories 163.

1 1 3

Dazu Weinreby Law as Order 925.

1 1 4

Dazu sogleich im einzelnen (II 1).

88

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

verdanken dagegen ihre rechtliche Beachtlichkeit ihrer Geltung 115; für sie ist maßgeblich ihre Mitgliedschaft im Rechtssystem: Sie müssen durch ein Netz von Geltungsbeziehungen mit anderen, übergeordneten Rechtsvorschriften und zuletzt mit der Erkenntnisregel verknüpft sein 1 1 6 . Dem Unterschied zwischen diesen beiden Regeltypen entsprechend lassen sich bei Hart zwei verschiedene Rechtspflichtkonzeptionen unterscheiden 117. 1. Die Erkenntiiisregel

als Pflichtregel

Die Erkenntnisregel enthält die in einer Rechtsordnung maßgeblichen Rechtsgeltungskriterien und bildet den Geltungsgrund für alle Rechtsregeln, die diesen Maßstäben genügen 118 . Dennoch stellt sie selbst keine Ermächtigungsregel dar. Von ihrer Struktur her entspricht sie vielmehr einer sozialen Pflichtregel. Sie existiert nicht vermöge ihrer Autorisierung durch eine höhere Vorschrift, sondern kraft der Rechtsanwendungspraxis des Rechtsstabs, vor allem der Gerichte 119 : Erforderlich für das Bestehen einer bestimmten Erkenntnisregel ist insofern zum einen, daß die Amtsträger ihrer Entscheidung darüber, ob einer bestimmten Vorschrift rechtliche Geltung zukommt oder nicht, tatsächlich die in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungskriterien zugrundelegen. Zum anderen müssen die Amtsträger (zumindest in ihrer deutlichen Mehrheit) die in der Erkenntnisregel enthaltenen Geltungskriterien als "a public, common Standard of correct judicial decision" 120 ansehen und auf Abweichungen mit ernsthafter Kritik reagieren 121 .

1 1 5

Siehe Weinreb, Law as Order 923.

1 1 6

Dazu siehe Blackman, Idea of Obligation 418. - Zu diesem "Netz von Geltungsbeziehungen" im einzelnen siehe unten 3. Kap. A II. 1 1 7

Siehe dazu Hill, Legal Validity 59; Hoffmaster,

1 1 8

Dazu ausführlich unten im 4. Kapitel.

1 1 9

Hoffmaster, Legal Obligation 1313. - Fukawa nisregel dementsprechend als "an accepted convention". 1 2 0

Legal Obligation 1307-1314.

y

Hart's Legal Theory 1 bezeichnet die Erkennt-

CL 112.

191

CL 142. - Thiemel , Geltung und Wirksamkeit 27 meint, die Erkenntnisregel verstoße gegen die Trennung von Sein und Sollen: "Wie kann aus dem Faktum, daß die Behörden (bisher!) eine Regel als oberste Erkenntnisregel anerkannt haben, abgeleitet werden, daß sie dies auch in Zukunft tun sollen?" Diese Kritik geht fehl: Die Erkenntnisregel existiert nicht kraft einer bloßen Verhaltensregelmäßigkeit, sondern infolge der Bereitschaft der Mehrheit der Amtsträger, aufgrund der von ihnen als maßgeblich vorausgesetzten Erkenntnisregel Abweichungen von ihr mit Sanktionen zu belegen und sonstigen Konformitätsdruck auszuüben. Diese Konzeption setzt einen Sollensbegriff voraus, der sich wesentlich von demjenigen Kelsens unterscheidet (dazu siehe unten 4. Kap. A IV); einen Verstoß gegen die SeinSollens-Trennung stellt sie jedoch nicht dar.

89

Β. Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen

Nach Harts Ansicht ist es also nicht die Funktion der Erkenntnisregel, die Rechtsmacht der sie anwendenden Gerichte zu begründen - dies ist die Aufgabe einer anderen der von ihm eingeführten drei Spitzenregeln einer Rechtsordnung, der sogenannten Entscheidungsregel 122 - ; die Erkenntnisregel betrifft vielmehr die Art und Weise, wie, das heißt, nach welchen Kriterien, die Richter ihre Rechtsmacht zu gebrauchen haben. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem regelskeptizistischen Einwand, die autoritative Letztentscheidungsbefugnis der Gerichte zeige, daß Recht sei, was die Gerichte sagten, spricht Hart daher von der Erkenntnisregel ausdrücklich als von einer rule requiring judges to accept as law Acts of Parliament or Acts of Congress

.

Die Erkenntnisregel stellt also nach Harts Ansicht eine Pflichtregel dar 1 2 4 ; und wie im Falle sozialer Regeln beruht ihr Pflichtcharakter auf Anwendung, Anerkennung und starkem Konformitätsdruck. Die Kritik, die vorstehend an Harts Konzeption sozialer Pflichtregeln geübt wurde, gilt daher auch für seine Konzeption der Erkenntnisregel. 2. Sonstige rechtliche Pflichtregeln a) Die Position im "Concept of Law" In den Ausführungen, die Hart im "Concept of Law" zur Struktur sonstiger rechtlicher Gebotsvorschriften macht, zieht er die Konsequenzen aus seiner Kelsen-Kritik: Seiner von der Situation erfolgreicher sozialer Selbstregulierung durch Recht ausgehenden Sichtweise entsprechend steht bei ihm nicht die Statuierung von Sanktionen durch die Amtsträger im Vordergrund, sondern die Leistung des Rechts, den alltäglichen Umgang der Rechtsgenossen miteinander durch die Errichtung allgemeiner Verhaltens- und Beurteilungsstandards zu steuern. 1 2 2 So auch Hacker, Hart's Philosophy of Law 23; Raz, Identity 93. - Zu den drei Spitzenregeln einer Rechtsordnung und den in bezug auf ihr Verhältnis zueinander auftretenden Schwierigkeiten siehe unter C. 1 2 3 1 2 4

CL 142 (Hervorhebung von mir).

Die Erkenntnisregel charakterisieren ebenfalls als Pflichtregel Bittner, Praxis 150 f.; Hacker, Hart's Philosophy of Law 20, 23; Hoffmaster, Legal Obligation 1309, 1313; MacCormick, Hart 105; Raz, Concept of a Legal System 199; ders., Legal Principles 853; ders., Identity 93. - AA (Erkenntnisregel als Ermächtigungsregel): Hughes, Book Review 168; Ross, Book Review 1186; Waluchow, Legal Rules 43 Α. 9; ähnlich Eckmann, Rechtspositivismus 91 (Anerkennungsregel sei "mit den Macht übertragenden Regeln eng verwandt"). Diese Meinung kann sich allenfalls auf Harts Äußerung berufen: "...the rule which confers jurisdiction will also be a rule of recognition" (CL 95); Hart selbst hat jedoch Raz gegenüber ausdrücklich bestätigt, daß es nicht in seiner Absicht lag, mit diesen Worten eine Deutung der Erkenntnisregel als Ermächtigungsregel zu unterstützen (siehe Raz, Concept of a Legal System 199).

90

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Diese Verlagerung der Untersuchungsperspektive hat zum einen zur Folge, daß Hart mit Austin, aber gegen Kelsen die Auffassung vertritt, Rechtsregeln richteten sich ebenso wie alle anderen Regeln unmittelbar an die Rechtsgenossen, deren Verhalten zu lenken sie primär bestimmt seien 125 . Nicht aus ihrer begrifflichen Verknüpfung mit einer Sanktion ergibt sich nach Hart der Rechtspflichtcharakter einer Vorschrift, sondern einfach daraus, daß sie zum einen in ihrem Tatbestand ein bestimmtes Verhalten als pflichtig statuiert und zum anderen den in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungskriterien entspricht, also Bestandteil der Rechtsordnung geworden ist 1 2 6 . Daher hat bei Hart hier die Existenz rechtlicher Sanktionen eine im Vergleich zu Kelsen wesentlich geringere Bedeutung. Sie sind für ihn lediglich "natural necessit(ies)127: Wie er in seinen Ausführungen zum naturrechtlichen Mindestgehalt bemerkt, bedürfe es in Anbetracht des begrenzten Verständnisses und der beschränkten Willensstärke der meisten Menschen der Existenz von Sanktionen, um regelkonformes Verhalten zu gewährleisten. Der Sanktion kommt danach eine ausschließlich sozialpsychologische Funktion zu: Sie bilde ein "motive for conformity" 1 2 8 und stelle dadurch sicher that those who would voluntarily obey shall not be sacrificed to those who would n o t 1 2 9 .

b) Harts modifizierter Rechtspflichtbegriff in den "Essays on Bentham" In dem Aufsatz "Legal Duty and Obligation", der in seinen 1983 erschienenen "Essays on Bentham" enthalten ist, nimmt Hart indes eine tiefgreifende Revision seines im "Concept of Law" vertretenen Rechtspflichtbegriffs vor. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht die These, die Aussage, bestimmte Personen unterlägen einer Rechtspflicht, bedeute, daß die Pflichtigen Handlungen "may be properly demanded or extracted from them" 1 3 0 . Verdeutlichend fährt Hart fort: On this footing, to say that an individual has a legal obligation to act in a certain way is to say that such action may be properly demanded or extracted from him according to legal rules or principles regulating such demands for action 1 3 1 .

Mit diesen Worten vollzieht Hart in seinem Verständnis von der Struktur der Rechtspflicht eine vollständige Kehrtwendung: Die Rechtspflicht des einzelnen 1 2 5

Siehe CL 38.

1 2 6

So vor allem auch Hill, Legal Validity 59.

1 2 7

CL 195. - Zustimmend MacCormick , Coercion 244.

1 2 8

CL 38.

1 2 9

CL 193.

1 3 0

Legal Duty and Obligation 160.

1 3 1

Legal Duty and Obligation 160.

91

Β. Der Pflichtbegriff und seine Beziehung zu Sanktionen

Rechtsgenossen ergibt sich nicht mehr direkt aus dem Tatbestand der einschlägigen Rechtsvorschrift, sondern nur mehr mittelbar aus der Befugnis der Rechtsautoritäten - vor allem der Gerichte - , das betreffende Verhalten von ihm zu verlangen und dieses Verlangen notfalls auch unter Anwendung von Zwang durchzusetzen. Adressaten der Rechtspflichtregeln sind damit nicht länger die Rechtsgenossen selber, sondern allein die Amtsträger, die angewiesen werden, auf bestimmte Verhaltensweisen mit der Verhängung von Sanktionen zu reagieren 1 3 2 . Die Nähe dieser neuen Position Harts 1 3 3 zu Kelsens Standpunkt ist unübersehbar 134 : Indem er den Begriff der Rechtspflicht an die Befugnis der Rechtsautoritäten zur Durchsetzung der pflichtbegründenden Vorschriften im Falle von Zuwiderhandlungen knüpft, interpretiert nun auch Hart rechtliche Pflichtregeln als "Reaktionsregelungen" im Kelsen'schen Sinne und schwenkt damit in seiner Analyse von Rechtspflichtregeln von seiner ursprünglichen "Normalitätsperspektive" auf Kelsens "prozessualistische" Betrachtungsweise ein. Nicht nur im Ergebnis, sondern auch in der Begründung weist Harts neue Konzeption deutliche Parallelen zu Kelsen auf. Beiden geht es entscheidend darum, die strukturelle Verschiedenartigkeit von Rechts- und Moralpflichten eindeutig herauszustellen: direkte Verhaltensregelung durch die Moral, indirekte Verhaltensregelung durch das Recht 135 . Das Ziel ist in beiden Fällen die Abwehr von in irgendeiner Weise naturrechtlich geprägten Rechtspflichtvorstellungen. Ein Unterschied liegt allerdings darin, daß die "naturrechtlichen" Implikationen, gegen die Hart sich abzugrenzen sucht, weitaus indirekter und schwächer sind als die von Kelsen bekämpfte Position. Kelsen geht es darum, durch seine Konstruktion der Rechtspflicht den Versuch unmöglich zu machen, den Inhalt rechtlicher Verbotstatbestände mithilfe der Lehre von den "mala in se" moralisch aufzuwerten. Hart bezweckt dagegen lediglich die Zurückweisung einer Position, die man als "normlogisches Naturrecht" bezeichnen könnte und die in erster Linie von Raz vetreten w i r d 1 3 6 . Raz meint, in der richterlichen Feststellung, ein Rechtsgenosse unterliege einer Rechtspüichi, sei aus normlogischen Gründen notwendigerweise - d.h. 1 3 2

So auch Raz y Moral Rights and Legal Duties 131.

1 Ji Jl ±

Von der Hart allerdings selbst nicht vollkommen überzeugt zu sein scheint, wie seine äußerst zurückhaltende Verteidigung dieser Konzeption in seinem die "Essays on Bentham" beschließenden Aufsatz (Commands 267) vermuten läßt. 1 3 4 Auch Raz, Moral Rights and Legal Duties 131 (zustimmend MacCormick, konstatiert "a sudden Kelsenian twist to Harts view of legal duty". 1 3 5 1 3 6

Comment 110 f.)

Zu Kelsen siehe oben A 1 1 a; 2 a (1); zu Hart siehe: Legal Duty and Obligation 159.

Siehe Raz y Practical Reason and Norms 123-129, 146-148, 162-177; Legal Validity 153-157; Concept of a Legal System 234-238.

92

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

unabhängig davon, ob der Richter diese Meinung tatsächlich teile oder nicht die Aussage enthalten, der Rechtsgenosse habe auch eine moralische Pflicht, dem Ansinnen der Rechtsordnung Folge zu leisten. Raz behauptet also nicht etwa, Rechtspflichten seien per se moralisch gerechtfertigt, sondern er meint nur, sie müßten als moralisch gerechtfertigt ausgegeben werden. Die moralische Komponente in dieser Theorie ist von daher, wie Hart feststellt, "very small indeed" 137 . Dennoch stellt sie die von der positivistischen Trennungsthese postulierte begriffliche Unabhängigkeit rechtlicher Aussagen von moralischen Implikationen infrage, und deshalb ist Hart um ihre Zurückweisung bemüht, indem er die Rechtspflicht nicht aus der Verhaltensanweisung als solcher, sondern aus der Gebotenheit ihrer Durchsetzung im Falle eines Konfliktes herleitet. Auf die in der Auseinandersetzung zwischen Raz und Hart berührten Fragen kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden 1 3 8 ; es bleibt aber festzuhalten, daß Hart infolge seiner Neuformulierung des Begriffs der Rechtspflicht am Ende bei der von ihm ursprünglich scharf kritisierten Position Kelsens angelangt ist. Der Meinungswandel Harts in dieser Frage bringt ein weiteres Element der Inkonsistenz in seine Ausführungen hinein; denn indem Hart in seiner modifizierten Rechtspflichtlehre die Pflicht als Reaktionsregelung konzipiert, vertritt er in diesem Teil seiner Theorie die Ansicht, auf deren Ablehnung - als Verzerrung der primären sozialen Funktion des Rechts - er eine andere Kernaussage seiner Lehre, nämlich die Unterscheidung von Pflicht- und Ermächtigungs- und allgemein von Primär- und Sekundärregeln gründet. In dieser begründungsmäßigen Uneinheitlichkeit ist Harts Rechtstheorie der inneren Geschlossenheit der Reinen Rechtslehre deutlich unterlegen. C. Der Rechtsbegriff Harts: Recht als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln Der vorstehend dargestellten Kritik Harts an den verschiedenen Versionen der Sanktionstheorie läßt sich ein Haupteinwand entnehmen: Hart wirft diesen Konzeptionen vor, sie entstellten allesamt die unterschiedlichen sozialen Funktionen von Rechtsvorschriften, indem sie versuchten, alle rechtlichen Regelungen in einem einheitlichen Schema darzustellen und sie dadurch auf eine einheitliche Struktur zu reduzieren. Demgegenüber vertritt Hart die Ansicht, daß eine Rechtstheorie, die der Rolle des Rechts als eines wichtigen Mittels sozialer Verhaltenslenkung und Kontrolle gerecht werden wolle, sich auf einen derartigen

1 3 7

Legal Duty and Obligation 158.

ίο ο Kritisch zu Harts neuer Konzeption: Raz, Legal Rights and Moral Duties 129-131; MacCormick , Comment 110-113.

93

C. Der Rechtsbegriff Harts

Reduktionismus nicht einlassen dürfe. Es ist - dies ist die Grundvorstellung Harts - nicht das allgemeine Schema zu suchen, in das sich theoretisch alle Rechtsvorschriften einfügen lassen; vielmehr hat die Rechtstheorie die verschiedenen Typen von Rechtsregeln in ihrer irreduziblen Verschiedenartigkeit zu belassen und entsprechend darzustellen. Das "spezifisch Rechtliche" des Rechts sucht Hart daher auf der Ebene des Systems als Ganzem und seiner Organisation: In der Verbindung zweier verschiedener Regeltypen - er nennt sie Primär- und Sekundärregeln 139 - meint er "the key to the science of jurisprudence" 140 gefunden zu haben. I. Die Grundgedanken des Hart'schen Rechtsbegriffs

1. Die allgemeine Formulierung

der Abgrenzungskriterien

Die Kriterien, nach denen Hart Primär- und Sekundärregeln voneinander abgrenzt, lassen sich am leichtesten anhand eines Beispiels verdeutlichen. Eine typische Primärregel wäre für Hart die Vorschrift: "Du sollst nicht morden"; eine typische Sekundärregel die Vorschrift in der Verfassung, die das Parlament zum Erlaß strafrechtlicher Normen ermächtigt. Das Mordverbot ist als Primärregel dadurch gekennzeichnet, daß es pflichtenbegründend wirkt; die Kompetenzvorschriften der Verfassung dagegen qualifizieren sich als Sekundärregeln dadurch, daß sie Rechtsmacht verleihen 141. Indem die Verfassungsvorschriften die Erzeugung der Primärregeln (etwa des Strafgesetzbuches) überhaupt erst ermöglichen, befinden sie sich im Vergleich zu diesen überdies auf einer anderen, höheren Ebene; sie sind Regeln über Primärregeln 142. 2. Der Übergang vom vorrechtlichen

in den rechtlichen Zustand

Die in den vorstehenden Ausführungen abstrakt umschriebenen Abgrenzungskriterien konkretisiert Hart, indem er die Veränderungen beschreibt, die ein Korpus vorrechtlicher sozialer Regeln durchlaufen muß, um das Regelsystem "Rechtsordnung" zu bilden.

11Q x J7 1 ·4 0

Diese Begriffe werden in CL 79 eingeführt. Siehe CL79.

1 4 1

Siehe CL 79.

1 4 2

CL 79, 92.

94

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

a) Der vorrechtliche Zustand: Vorhandensein nur von primären Pflichtregeln In seiner Beschreibung des vorrechtlichen Zustandes legt Hart das Bild einer Gemeinschaft zugrunde, die ausschließlich über "primary rules of obligation" 1 4 3 verfügt. Erfolgreiche Koexistenz innerhalb einer solchen Gemeinschaft ist seiner Ansicht nach zwar prinzipiell vorstellbar, bedinge jedoch eine spezifische Gemeinschaftsstruktur: Es müsse sich um eine zahlenmäßig kleine Gruppe handeln, die durch Verwandtschaft und eine gemeinsame Vorstellungswelt - vor allem weitgehend übereinstimmende Wertvorstellungen - eng miteinander verbunden sei und die in einer stabilen Umgebung lebe 1 4 4 . Nur unter diesen Voraussetzungen sind nach Harts Ansicht vorrechtliche, rein gesellschaftliche organisierte Kontrollmechanismen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ausreichend 145 . Sobald diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind - wie in modernen Großgesellschaften regelmäßig der Fall - , werden die Schwächen dieser Art von sozialer Kontrolle sichtbar. Hart stellt drei Nachteile heraus: Einem ausschließlich aus Primärregeln gebildeten Korpus sozialer Verhaltensstandards fehle der Systemcharakter; es handele sich um eine Sammlung unverbundener Vorschriften, die nur das eine Merkmal gemeinsam hätten, daß sie von einer bestimmten Gruppe als verbindlich akzeptiert würden 1 4 6 . Der Mangel 1 4 3

CL 89.

1 4 4

Siehe CL 79 f.

1 4 5

Siehe CL 80.

1 4 6

Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Gemeinschaft ihre Regeln letztlich allesamt auf eine oberste Instanz, etwa auf göttliche Setzung, zurückführt. Obgleich in diesem Fall der Wille Gottes den obersten normativen Bezugspunkt der betreffenden Gemeinschaft darstellt, kommt deshalb der Norm "Du sollst allen göttlichen Geboten gehorchen" dennoch nicht der Status einer - rudimentären Erkenntnisregel zu. Die Erkenntnisregel ermöglicht es nach Hart , die rechtliche Existenz und Maßgeblichkeit einzelner Regeln von ihrer tatsächlichen Akzeptanz durch die Gesellschaftsmitglieder zu lösen und stattdessen allein mit ihrer Rückführbarkeit auf die in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungskriterien zu begründen, die ihrerseits wiederum durch die Entscheidungstätigkeit des Rechtsstabes konstituiert werden (siehe dazu oben Β II pr.; Β II 1; unten 4. Kap. A II). Durch die Installierung eines Rechtsstabes und die damit korrespondierende Einführung einer Erkenntnisregel wird die Rechtsordnung gegenüber der sie tragenden gesellschaftlichen Basis also zumindest partiell autonomisiert: die Anerkennung bestimmter Rechtsgeltungskriterien durch den Rechtsstab ersetzt die Anerkennung jeder Einzelbestimmung durch die Gruppe als Ganzes. Diese für die soziale Ordnung "Recht" charakteristische Möglichkeit des Auseinanderfallens von rechtlicher Maßgeblichkeit und sozialer Akzeptanz einer Vorschrift kann es im vorrechtlichen Zustand nicht geben: Auch wenn eine bestimmte Regel als göttliches Gebot ausgegeben wird, hängt ihre tatsächliche soziale Maßgeblichkeit davon ab, daß sie von den Angehörigen der Gemeinschaft als ein solches anerkannt wird. Mit anderen Worten: Die Regel, wonach das Wort Gottes oberstes Gesetz ist, hat im vorrechtlichen Zustand ausschließlich die Funktion der Legitimierung , nicht aber die der Geltungsbegründung ; die tatsächliche soziale Maßgeblichkeit einer unter Berufung auf den Willen Gottes erlassenen Norm beruht nicht auf dieser inhaltlichen Übereinstimmung, sondern allein auf der Akzeptanz der Beachtlichkeit dieser Begründung durch die (Mehrheit der) Gemeinschaftsmitglieder. Dieser strukturelle Unterschied läßt es

C. Der Rechtsbegriff Harts

95

jeglicher systematischen Struktur habe zur Folge, daß es kein Verfahren gebe, anhand dessen verbindlich festgestellt werden könne, ob eine bestimmte Regel zu den maßgeblichen Verhaltensstandards einer Gemeinschaft gehöre oder welchen genauen Inhalt sie habe. Dies ist der Mangel der Unbestimmtheit (uncertainty) 147 . Zum zweiten habe die Ausübung sozialer Kontrolle allein durch Primärregeln den Nachteil, daß sie zu unbeweglich sei ("static character"), weil sie kein Verfahren zur Anpassung von Verhaltensregeln an veränderte Umstände zur Verfügung stelle 148 . Schließlich sei eine ausschließlich der privaten Initiative der Betroffenen überlassene, das heißt völlig unorganisierte Durchsetzung der Sanktionen für Regelverstöße mit großer Ineffektivität ("inefficiency") verbunden; überdies berge sie die Gefahr einer nicht abreißenden Kette von Privatfehden, von "Rache" und "Wiedervergeltung", in sich 1 4 9 . b) Beseitigung der Mißstände durch die Einführung von Sekundärregeln Jede dieser Unzulänglichkeiten kann nach Hart durch die Einführung eines bestimmten Typs von Sekundärregeln beseitigt werden 150 . Das Unbestimmtheitsproblem werde durch die Einführung einer Regel gelöst, welche die autoritative Identifizierung der für eine bestimmte Gesellschaft gültigen Regeln ermögliche; diese Regel erkenne die Bezugnahme auf bestimmte Rechtsgeltungskriterien "as the proper way of disposing of doubts as to the existence of the rule" a n 1 5 1 . Eine solche Regel bezeichnet Hart als Erkenntnisregel ("rule of recognition") 152 . Die mit der Unbeweglichkeit eines Systems bloßer Primärregeln verbundenen Nachteile könnten mit Hilfe von Änderungsregeln ("rules of change") abgestellt

zutreffend erscheinen, mit Hart den Begriff der Erkenntnisregel auf institutionalisierte Ordnungen zu beschränken. 1 4 7

CL 90.

1 4 8

CL 90 f.

1 4 9

CL 91.

1 5 0

Sartorius, Positivism 45 bemerkt, die Argumentation Harts erinnere an diesem Punkt an Lockes Diskussion der Frage, inwiefern von einer Regierung als einem "umpire of the law of nature" die Behebung der "inconveniences of a state of nature" erwartet werden könne (siehe Locke, Second Treatise IX.123-126). 1 5 1

ι s?

CL 92. CL 92. - Zur Struktur der Erkenntnisregel siehe schon oben Β II 1.

96

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

werden, die ein Individuum oder eine Körperschaft ermächtigten, neue Primärregeln in Geltung zu setzen und alte abzuschaffen 153. Den durch die unzureichende Wirksamkeit privat organisierter Regeldurchsetzung verursachten Schwierigkeiten sei durch die Einführung von Entschei dungsregeln ("rules of adjudication") zu begegnen. Diese erteilten zunächst gewissen Personen - den Richtern - die Befugnis, autoritativ darüber zu entscheiden, ob in konkreten Fällen eine Pflichtregel verletzt worden sei oder nicht 1 5 4 ; darüber hinaus verliehen sie in der Regel den Gerichten auch die Rechtsmacht, die Anwendung von Sanktionen durch andere Amtsträger zu leiten und zu überwachen 155 . Die Einführung jeder dieser drei Regeln stellt nach Hart einen Schritt von der vorrechtlichen in die rechtliche Welt dar; und alle drei Regeln zusammen seien definitiv enough to convert a regime of primary rules into what is indisputably a legal system 156 .

c) Die spezifische Qualität sozialer Verhaltenslenkung durch Recht Das Recht befriedigt in Harts Analyse also die Bedürfnisse nach Ordnung und Lenkung, die zwingend auftreten, sobald aus der Monade des Familienverbandes, der homogenen "Gemeinschaft", "Gesellschaft" wird und rational kalkuliertes Eigeninteresse an die Stelle einer als fraglos richtig erlebten Gruppenidentität tritt. "Recht" ist dann nicht mehr einfach "da", sondern wird als etwas wahrgenommen, das man machen, gegebenenfalls auch verändern oder abschaffen kann. Diese Leistung vermag das Recht nach Hart vor allem deshalb zu erbringen, weil es arbeitsteilig organisiert ist, weil es mittels der Sekundärregeln seine Erzeugung, Feststellung und Durchsetzung auf einen bestimmten Personenkreis - den Rechtsstab - überträgt, der für diese Aufgaben in besonderer Weise qualifiziert ist. Der durch die Existenz von Amtsträgern mit klar definierten Aufgabenbereichen bedingte institutionalisierte Charakter des Rechts ist somit nach Hart das entscheidende Element, das die soziale Verhaltenslenkung durch Recht von einem vorrechtlichen Zustand und das zugleich auch Sekundär- von Primärregeln unterscheidet 157. Während es daher Primärregeln ihrem 1 5 3

CL 93 f.

1 5 4

CL 94 f.

1 5 5 Siehe CL 95. - Daß Hart die "rules of enforcement" lediglich als Appendix zu den Entscheidungsregeln behandelt, demonstriert, wie auch Colvin , Sociology of Secondary Rules 197 betont, mit besonderer Deutlichkeit seine Geringschätzung der Momente des Rechtszwanges und allgemein der Rechtsdurchsetzung. 1 5 6 1 5 7

CL 91.

Ähnlich Colvin , Sociology of Secondary Rules, der seine Untersuchung zu Harts Rechtsbegriff in dem Satz zusammenfaßt: "In a legal system which permits purposive alteration of the content and

C. Der Rechtsbegriff Harts

97

Inhalt nach auch schon im vorrechtlichen Zustand geben kann, ist das Hinzutreten der Sekundär regeln, die das "smooth functioning (of the primary rules) in complex societies" gewährleisten 158 , das spezifische Plus des Rechts. Die Art und Weise, wie Hart seinen Rechtsbegriff entwickelt, unterscheidet sich wesentlich vom Vorgehen Kelsens: Zwar setzt auch dieser in seinem Rechtspflichtbegriff und in seiner Rechtssatzkonzeption die Existenz eines Rechtsstabes voraus 159 ; aber entsprechend der von ihm befürworteten strikten Ausklammerung (rechts-)soziologischer Fragen aus der rechtstheoretischen Untersuchungsperspektive fragt er weder nach der spezifischen Bedeutung, die für ein System sozialer Verhaltenslenkung in der Verfügbarkeit eines autoritativ entscheidenden Rechtsstabes liegt, noch nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen, denen dadurch Rechnung getragen wird. Dagegen geht Hart, wie soeben gesehen, von eben diesen Fragestellungen aus; und wenn Theodor Geiger in seinen "Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts" die Funktion der Organisationsform des Rechts, in der "die soziale Interdependenz veranstaltlicht und monopolisiert", "in einer Zentralmacht verdichtet" sei 1 6 0 , dahingehend charakterisiert, daß die für kollektives Dasein erforderliche Ordnungssicherheit im Sinne einer Ordnungszuversicht ... hier nur durch zentrale Handhabung eines unpersönlichen Kontrollapparates gewährleistet 161

werde, so bringt diese Äußerung auch das Grundanliegen von Harts Rechtsbegriff zum Ausdruck. Dieser ist von daher, wie Harris 1 6 2 bemerkt, "both a tool of analysis and a sociological model"; er ist ein besonders markantes Beispiel für Harts Anspruch, in seiner Theorie "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" miteinander zu verschmelzen 163. Ob dieser Anspruch berechtigt ist, allgemeiner gesprochen: ob Harts Konzeption als vollwertige Alternative zur Lehre Kelsens angesehen werden kann, hängt operation of the primary rules, law is distinguished from morality and etiquette ... because it is a formal organization of social rules" (aaO 201; wenn Colvin im Zusammenhang mit der Rechtsordnung von "social rules" spricht, so ist dies allerdings wenig präzise und obendrein verwirrend; dazu siehe oben Β I, I I sowie unten I I 1). Auch Hacker , Hart's Philosophy of Law 21 kommt zu dem Schluß: "The contention that law is best understood as a union of primary and secondary rules draws attention to, and explains, the institutionalized, systematic nature of law". Ähnlich auch Bodenheimer t Book Review 961, der die Sekundärregeln mit dem "governmental apparatus set up for the purposes of official recognition, modification and judicial enforcement" der Primärregeln identifiziert. 1 5 8

Colvin , Sociology of Secondary Rules 203.

1 5 9

Siehe oben A III 1.

1 6 0

Vorstudien 133.

1 6 1

Vorstudien 136.

1 6 2

Law and Legal Science 58.

1 6 3

Dazu obenl.Kap.CII.

7 Pawlik

98

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

entscheidend davon ab, ob Harts Ausführungen ein ebenso hohes Maß an innerer Geschlossenheit und Überzeugungskraft aufweisen wie diejenigen Kelsens. Diese Frage ist nachfolgend zu untersuchen. II. Beurteilung von Harts Konzeption

1. Einwände gegen Harts Darstellung und Terminologie Im 5. Kapitel des "Concept of Law" lassen sich drei Argumentationsschritte unterscheiden: Zunächst spricht Hart über die "general idea of obligation" 1 6 4 ; dort erkundet er, unter welchen Bedingungen man auf der Grundlage des allgemeinen Sprachgebrauchs im Falle außerrechtlicher "social rules" vom Bestehen einer "Pflicht" sprechen kann 1 6 5 . Den dort entwickelten Pflichtbegriff setzt er voraus, wenn er sodann den vorrechtlichen Zustand als "one of primary rules of obligation" beschreibt 166 . Im dritten Schritt seiner Argumentation zeigt er dann, wie dadurch, daß zu diesen "primary rules of obligation" die Sekundärregeln treten, aus einem vorrechtlichen Zustand eine Rechtsordnung wird. Bereits gegen diese Art der Darstellung bestehen erhebliche Bedenken: Sie erweckt nämlich den Eindruck, als bedeute die Entstehung einer Rechtsordnung lediglich, daß zu einer bestimmten, kontinuierlich fortexistierenden Schicht von Regeln - jenen Regeln, die Hart als "primary rules of obligation" bezeichnet einige weitere Bestimmungen - die Sekundärregeln - hinzuträten. Dabei würde aber die Tatsache außer Acht gelassen, daß die Einführung der Sekundärregeln, vor allem der Erkenntnisregel, nicht eine bloße Ergänzung der Primärregeln, sondern ihre vollständige Transformation zur Folge hat: Die "primary rules of obligation" existieren von diesem Zeitpunkt nicht länger sozusagen von eigenen Gnaden, also aufgrund ihrer Befolgung und Anerkennung durch die Genossen, sondern infolge der ihnen nunmehr zukommenden Geltung, die sich wiederum aus ihrer Systemzugehörigkeit, und das heißt letztlich: aus ihrer Rückführbarkeit auf eines der in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungskriterien ergibt 1 6 7 . Zudem ist die Art, wie Hart zwischen Primär- und Sekundärregeln unterscheidet, verwirrend, weil sie die tatsächlichen systematischen Beziehungen

1 6 4

CL 79-88; die Bezeichnung "general idea..." findet sich in CL 83.

1 6 5

Dazu siehe oben Β 12.

1 6 6

CL 89.

1 6 7

Zu den zwei Typen von Rechtsregeln in Harts Konzeption siehe oben Β II; zum hiesigen Zusammenhang siehe ferner oben S. 107 A.8..

99

C. Der Rechtsbegriff Harts

zwischen den Regeln einer Rechtsordnung auf den Kopf stellt 1 6 8 . Es würde weitaus näher liegen, innerhalb einer Rechtsordnung diejenigen Regeln als primär zu bezeichnen, von denen die übrigen Rechtsvorschriften ihre Geltung und damit ihre Existenz als Regeln beziehen. Die oberste Primärregel wäre nach diesem Verständnis also die Erkenntnisregel; Sekundärregeln wären diejenigen, die innerhalb des von den Primärregeln aufgespannten normativen Begriffsfeldes regelnd eingreifen würden 1 6 9 . Daß Hart sich dagegen zur Einführung der von ihm intendierten Unterscheidung einer quasi-, genauer: kryptohistorischen Darstellungsweise bedient und aus diesem Grunde die "ursprünglichen" Regeln als Primär- und die später hinzukommenden Regeln als Sekundärregeln bezeichnet, wird seiner allgemeinen, vorstehend herausgearbeiteten Einsicht, daß das Spezifikum einer Rechtsordnung ihr "institutionalisierter" Charakter ist, nicht gerecht 1 7 0 . Harts Darstellung und Terminologie vermögen demnach nicht zu überzeugen; darüber hinaus ist es ihm, was noch weitaus ernsthafter ist, nicht gelungen, die beiden Regeltypen, die seinen Rechtsbegriff konstituieren - Primär- und Sekundärregeln - , in einer Weise voneinander abzugrenzen, die zugleich trennscharf ist und das gesamte rechtliche Material erfaßt. 2. Primär- und Sekundärregeln

als Pflicht-

und Ermächtigungsregeln

In verschiedenen Bemerkungen läßt Hart erkennen, daß für ihn die Unterscheidung von Primär- und Sekundärregeln mit der - bereits zuvor erwähnt e n 1 7 1 - Unterteilung des Rechtsmaterials in Pflicht- und Ermächtigungsregeln deckungsgleich ist: Den vorrechtlichen Zustand charakterisiert er als "one of primary rules of obligation"; und an einer anderen Stelle bemerkt er ausdrücklich: Rules of the first type impose duties; rules of the second type confer powers, public or private 1 7 2 .

Sowohl gegen die von Hart vorgenommene Typologisierung als solche als auch gegen die Gleichsetzung von Pflicht- mit Primär- und von Ermächtigungs- mit Sekundärregeln bestehen indes erhebliche Bedenken. 1 6 8 So auch Khatchadourian, Institutional Charakter of Law 205; skeptisch zu Harts Klassifizierung auch Alwart, Recht und Handlung 141 ("ihrem Gehalt nach könnte das Verhältnis der Regeln zueinander auch umgedreht werden"). 1 6 9 Es bestehen enge Beziehungen zwischen dieser Unterscheidung und der von Searle , Sprechakte 54 entwickelten Differenzierung konstitutiver und regulativer Regeln. - Dazu Alwart, Recht und Handlung 141; Khatchadourian, Institutional Charakter of Law 205-210; Mayers, Critique 129. 1 7 0 1 7 1 172

So auch Khatchadourian, AIIl.

CL79.

Institutional Character of Law 205.

100

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

a)

Verzerrung der sozialen Funktionen der Rechtsregeln infolge der Hart'schen Zweiteilung

Die von Hart zugrundegelegte Dichotomie von Pflicht- und Ermächtigungsregeln ist nicht dazu geeignet, ihre selbstgesteckte deskriptive Aufgabe zu erfüllen. Hart wirft der Zwangstheorie vor, die unterschiedlichen sozialen Funktionen rechtlicher Regeln zu verzerren, indem sie versuche, alle Rechtsvorschriften auf einen einzigen Typus zu reduzieren. Die von Hart vorgeschlagene Zweiteilung des rechtlichen Materials stellt jedoch in dieser H i n sicht kaum eine Verbesserung dar. Zum einen nivelliert sie die erheblichen Funktionsunterschiede, die zwischen pflichtgebundenen Ermächtigungen und "freien" Ermächtigungen (Erlaubnissen) bestehen 173 : Ob z.B. eine Behörde die ihr erteilte Kompetenz ausüben muß oder ob ein Privater - etwa als Gewerbetreibender oder Bauherr - eine ihm zustehende Rechtsstellung ausüben darf, stellt für die Betroffenen einen erheblichen Unterschied dar, den Hart indes nicht zu erfassen vermag. Zu ungleichartig sind überdies die in den beiden Gruppen der Pflicht- und Ermächtigungsregeln jeweils zusammengefaßten Bestimmungen: So gehören die auf einen engen privaten Lebensbereich bezogenen Regelungen des Testamentsrechts zur gleichen Gruppe (den Ermächtigungsregeln) wie die für das Zusammenleben in einer Gesellschaft grundlegenden Bestimmungen über das Zustandekommen von Gesetzen oder über die Begründung gerichtlicher Befugnisse. Andererseits werden die - mitunter hochspeziellen - Vorschriften des Deliktsrechts der gleichen Gruppe (den Pflichtregeln) zugerechnet wie diejenige Regel, die nach Hart die Spitzenregel der Rechtsordnung schlechthin ist: die Erkenntnisregel 174. Die von Hart vorgenommene Typologisierung ist also von seiner eigenen Zielsetzung her unbefriedigend 1 7 5 . Der Grund dafür liegt darin, daß es angesichts der Vielfalt der Interessen und Zwecke, die im Recht ihren Ausdruck finden, die von Hart suggerierte "einszu-eins"-Beziehung zwischen den sozialen Funktionen - ohnehin einem äußerst vagen und von Hart bedauerlicherweise nicht näher konkretisierten K r i terium 1 7 6 - und dem deontischen Charakter von Rechtsregeln nicht g i b t 1 7 7 . Wenn Harts Ausführungen die größere Leistungsfähigkeit seines Ansatzes, der es unternimmt, "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" miteinander zu verbinden, demonstrieren sollen, so erweist sich dieses Argument hier 171 x 1 7 4

Siehe Koller, Meilensteine 145; Singer, Hart's Concept of Law 206. Zur Qualifizierung der Erkenntnisregel als Pflichtregel siehe oben Β II 1.

1 7 5

So auch Singer, Hart's Concept of Law 208 f.

1 7 6

Siehe ózzuKrygier,

177

Social Theory 161-165.

Harris, Law and Legal Science 99 f.; ders., Legal Philosophies 109; Krygier,

Social Theory 166.

C. Der Rechtsbegriff Harts

101

somit gleichsam als Bumerang: Harts eigene Konzeption verdeutlicht vielmehr die Schwierigkeiten, in die eine Theorie gerät, die zu viel auf einmal erklären will: Innere Ungereimtheiten und Widersprüche sind in ihr kaum zu vermeiden. b)

Gleichsetzung von Pflicht- und Ermächtigungs- mit Primär- und Sekundärregeln nicht überzeugend

Die Behauptung Harts, daß im vorrechtlichen Zustand nur "primary rules of obligation" existierten, zu denen dann im Rechtszustand die sekundären Ermächtigungsregeln hinzuträten, kann - ganz ungeachtet der mit dieser Art der Darstellung verbundenen Gefahr der Irreführung 178 - schon auf der Grundlage von Harts eigenen Ausführungen nicht überzeugen. Ein erster wesentlicher Einwand ist schon genannt worden: Die Erkenntnisregel, nach Hart die Sekundärregel par excellence , ist keine Ermächtigungs-, sondern eine Pflichtregel 179 . Aber auch vom vorrechtlichen Zustand aus betrachtet, bestehen erhebliche Bedenken gegen die von Hart vorgenommene Gleichsetzung. Wenn nämlich im vorrechtlichen Zustand Regeln existieren wie "Du sollst nicht stehlen" 180 oder "Du sollst nicht ehebrechen" 181 , so setzen diese Vorschriften notwendig andere Regeln voraus, die es den Gemeinschaftsmitgliedern ermöglichen, Eigentum zu erwerben und zu übertragen oder die Ehe einzugehen. Solche Bestimmungen zählen in Harts Terminologie zu den Ermächtigungsregeln 182. Der Konsequenz, sie bereits im vorrechtlichen Zustand als eigenständigen Regeltypus anzuerkennen, kann Hart nur entgehen, wenn er sie zu bloßen Voraussetzungen der Pflichtregel reduziert. Damit würde er jedoch genau das tun, was er bei Kelsen als Verzerrung der sozialen Realität rügt. Ist er somit gezwungen anzuerkennen, daß schon im vorrechtlichen Zustand Pflicht- und Ermächtigungsregeln vorliegen, betont er aber andererseits, daß im Hinzutreten von Sekundärregeln das spezifische Plus einer Rechtsordnung gegenüber einem vorrechtlichen Zustand bestehe, dann folgt daraus zwingend, daß die Unterscheidung von Primär- und Sekundärregeln mit derjenigen von Pflicht- und Ermächtigungsregeln nicht identisch sein kann. Damit ergibt sich, daß die von Hart angenommene Dichotomie von Pflichtund Ermächtigungsregeln weder als solche zu überzeugen vermag noch mit 1 7 8

Dazu oben I I 1.

1 7 9

Siehe oben Β II 1.

1 8 0

Siehe CL89.

1 8 1

So ein Beispiel MacCormicks, Hart 101.

1 8 2

So auch MacCormicky Hart 101 f.

102

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Harts sonstigen Ausführungen zur Unterscheidung von Primär- und Sekundärregeln in Einklang steht. Zwischen Harts Ausführungen zum deontischen Charakter der Rechtsvorschriften und seinen Überlegungen zu den spezifischen sozialen Funktionen und Leistungen des Rechts - allgemeiner gesprochen: z w i schen dem Teil seiner Theorie, der der "analytical jurisprudence" im herkömmlichen Sinne, und demjenigen, der der "descriptive sociology" angehört - , verbleibt daher eine unaufgelöste Spannung, die durch das Begriffspaar Primärund Sekundärregeln nur vordergründig überdeckt wird. Soweit Hart Pflichtund Ermächtigungsregeln mit Primär- und Sekundärregeln zu identifizieren sucht, muß dieser Versuch daher als gescheitert angesehen werden. 3. Sekundärregeln

als Regeln über Primärregeln

In Harts Ausführungen, insbesondere in seinen Darlegungen zum Übergang vom vorrechtlichen in den rechtlichen Zustand findet sich indes noch ein weiteres Abgrenzungskriterium: Danach sind Sekundärregeln Regeln über Primärregeln in the sense that while primary rules are concerned with the actions that individuals must or must not do, these secondary rules are all concerned with the primary rules themselves183.

Diese Bezugnahme der Sekundär- auf die Primärregeln drückt sich nach Hart darin aus (that) they specify the ways in which the primary rules may be conclusively ascertained, introduced, eliminated, varied, and the fact of their violation conclusively determined 184 .

Diese Formulierung ist erkennbar auf die Funktionen der drei Regeltypen bezogen, denen Hart beim Übergang vom vorrechtlichen Zustand in den Zustand des Rechts eine zentrale Bedeutung zuschreibt: die Erkenntnis-, die Änderungsund die Entscheidungsregel. Dies deutet darauf hin, daß die Hart'sche Abgrenzung von Primär- und Sekundärregeln tatsächlich keine Differenzierung anhand abstrakter Kriterien 185 , sondern, wie Hacker 186 es nennt, eine "distinction by 1 8 3

CL 92.

1 8 4

CL 92. - Es ist mit dieser Äußerung Harts unvereinbar, wenn Hacker , Hart's Philosophy of Law 20 das "about other rules" mit "include reference to other rules" gleichsetzt. So allgemein, wie Hacker unterstellt, meint Hart das "about other rules" nicht; er hat vielmehr nur bestimmte, im vorstehenden Zitat aufgezählte Arten von Beziehungen im Blick, wobei es ihm vor allem auf die durch die Einführung von Sekundärregeln ermöglichte abschließende (conclusive) Klärung rechtlicher Fragen ankommt. Daher vermag Hackers an sich zutreffender Hinweis (aaO), auch Primärregeln könnten sich auf andere Rechtsregeln beziehen, "e.g. if the operative facts for the performance of the acts they guide involve reference to the existence or scope of other rules, or to the fact of violation of or compliance with other rules", die von Hart intendierte Unterscheidung nicht zu erschüttern. 1 8 5

Siehe Eckmann y Rechtspositivismus 65.

1 8 6

Hart's Philosophy of Law 20.

C. Der Rechtsbegriff Harts

103

enumeration" ist: Sekundärregeln sind die drei genannten Regeln, während alle übrigen Vorschriften der Rechtsordnung Primärregeln darstellen 187 . Demnach ist es zwar möglich, die Unterscheidung dieser beiden Regeltypen in einer Weise vorzunehmen, die mit der Hauptintention Harts im Einklang steht; es bleibt jedoch die Frage zu erörtern, ob auf der Grundlage dieser Abgrenzung ein überzeugender, in sich schlüssiger Rechtsbegriff formuliert werden kann. Daran bestehen erhebliche Zweifel. Die Probleme werden deutlich, wenn man die Frage stellt, woraus sich nach Hart die Rechtsmacht bestimmter Personen zur autoritativen Entscheidung von Rechtsfragen, also ihre Amtsträgereigenschaft, ergibt. Der zu einem bestimmten Zeitpunkt existierenden Erkenntnisregel lassen sich lediglich die Ernennungsvoraussetzungen für künftige Amtsträger entnehmen: Amtsträger wird, wessen Ernennung auf Gesetzen beruht, die den in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungskriterien entsprechen. Diese Gesetze gehören in Harts Terminologie zu den Entscheidungsregeln. Wer aber zu diesem Zeitpunkt Amtsträger ist: die Antwort auf diese Frage setzt die Erkenntnisregel, deren Inhalt sich überhaupt erst aus der Entscheidungstätigkeit der Amtsträger ergibt, voraus 188 . Zur Begründung der Autorität der gegenwärtigen Amtsträger müßte ein Hartianer darauf abstellen, daß diese aufgrund einer zu einem früheren Zeitpunkt geltenden Entscheidungsregel, d.h. aufgrund von Gesetzen, die von dem durch die damals maßgebliche Erkenntnisregel zur Gesetzgebung autorisierten Organ erlassen wurden, in ihr Amt gekommen seien. Diese Art der Argumentation führt indes zu einem infiniten Regreß 189: Zur Bestimmung der Amtsträgereigenschaft bedarf es stets eines Gesetzgebers, zur Begründung der Gesetzgebungsbefugnis bestimmter Personen stets des Vorhandenseins von Amtsträgern. Auf der Grundlage von Harts Ausführungen läßt sich das Recht somit nicht als eine geschlossene - was eben auch bedeutet: eine an einem bestimmten Punkt abgeschlossene - normative Ordnung begreifen 190 . 187

So auch Hacker y Hart's Philosophy of Law 20. - Auch Hart selber spricht an einer Stelle (CL 95) von den "secondary rules of recognition, change and adjudication", vermischt die damit ermöglichte klare Abgrenzung der beiden Regeltypen allerdings sogleich wieder mit derjenigen nach ihren deontischen Funktionen, indem er die in der soeben genannten Weise definierten Sekundärregeln in der Rechtsordnung in einer Verbindung mit den "primary rules of obligation" stehen sieht. ιοο Darauf weisen auch MacCormicky Legal Reasoning 55; ders., Hart 108-111; Duncansony English Jurisprudence 221; Kramer , Rule of Misrecognition 407 hin. ICQ

So auch Kramery Rule of Misrecognition 432. 1QO ^ Kramery Rule of Misrecognition 409 stellt ergänzend heraus "that there exist other models of explanation than the model of logically precise deduction". So könne man etwa im Sinne Rortys "shift ... from a philosophy of argumentation to a philosophy of narrative" und in diesem Sinne auch die Ausführungen Harts verstehen: "Hart, it might be claimed, aspires merely to furnish us a convincing if abstract story of what we can expect to encounter when we study the workings of a legal regime.

104

2. Kapitel: Der Begriff des Rechts

Damit enden Harts Ausführungen in einer Sackgasse: Sein Versuch, den Rechtsbegriff vom unterschiedlichen deontischen Charakter der verschiedenen Rechtsregeln aus, also mit den Mitteln der traditionellen analytischen Jurisprudenz zu entwickeln, scheiterte im wesentlichen daran, daß er mit seinem "soziologischen" Erklärungsanliegen nicht vereinbar war; und sein Bemühen, den Begriff des Rechts von einer Analyse der sozialen Bedürfnisse und der sozialen Funktionen bestimmter Regeltypen her zu erschließen, endet damit, daß es seine Ausgangsprämisse von der Geschlossenheit der normativen Ordnung "Recht" aus den Angeln hebt. Nachfolgend wird sich zeigen, daß es nur einen Weg gibt, auf dem Hart aus diesem Dilemma entkommen kann: Hart muß nämlich ein weiteres Kernstück der Reinen Rechtslehre in seine Theorie übernehmen, nämlich die Lehre von der Grundnorm 191 . An dieser Stelle ist als Fazit festzuhalten, daß es Hart nicht gelingt, einen in sich konsistenten Rechtsbegriff zu formulieren. Woran er dabei scheitert, ist letztlich sein allzu großer Ehrgeiz: Die von ihm unternommene Verschmelzung von "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" führt nicht zu einer Synthese beider Untersuchungsstränge, sondern zu einem Methodensynkretismus, den Kelsen durch sein - von Hart so hart gescholtenes Reinheitspostulat zu vermeiden vermochte.

Having renounced chimerical quests for rigour, Hart would then be seeking to paint evocative pictures of the dynamics and the structure of law" (siehe die in der Tat in diese Richtung gehenden Bemerkungen MacCormicks y Hart 110 f.). Kramer aaO 410 weist eine derartige Interpretation der Lehre Harts allerdings zurück, da dieser selbst das Unternehmen einer bloß erzählenden Annäherung an die Struktur einer Rechtsordnung mit klaren Worten abgelehnt habe (CL 4 f.). 1 9 1

Dazu unten im 4. Kap. A V.

3. Kapitel

Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus A. Der Stufenbau der Rechtsordnung Eine positive Rechtsordnung stellt nach Kelsens und Harts übereinstimmender Ansicht ein hierarchisch strukturiertes System von Normen (Kelsen) bzw. Regeln (Hart) dar. Diese Konzeption wirft zum einen die Frage nach dem Status und dem Existenzgrund der obersten Vorschrift der Rechtsordnung auf. Mit den Versuchen der beiden Autoren, dieses Problem zu lösen - der Lehre von der Grundnorm bzw. der Vorstellung von einer Erkenntnisregel - wird sich das 4. Kapitel beschäftigen. Zum anderen geht es um die Frage, wie die innerrechtlichen Vorgänge der Erzeugung und Geltungsbegründung rechtstheoretisch erklärt werden können. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, die Strukturprinzipien aufzudecken, die dem Prozeß der rechtlichen Selbsterzeugung und Geltungsbegründung zugrundeliegen, und die vielfältigen Rechtserscheinungen nach Maßgabe ihrer Bedeutung innerhalb dieses Prozesses zu ordnen. Die Positionen Kelsens und Harts zu diesem Problemkreis - von Kelsen 1 im Anschluß an seinen Schüler Merkl 2 als Stufenbau der Rechtsordnung bezeichnet - sollen im vorliegenden Abschnitt erörtert werden. I. Die Position Kelsens

1. Die Stufenbaulehre Merkls und Kelsens a) Einbeziehung aller Rechtsnormen und Rechtsakte einer Rechtsordnung Die wesentliche Einsicht der Stufenbaulehre Merkls und Kelsens besteht darin, daß sie sich von der Vorstellung des traditionellen Gesetzespositivismus3 löst, wonach allein generell-abstrakte positive Normen, also Verfassungs-, Gesetzes-, Verordnungs-, Satzungs- und Gewohnheitsrecht Rechtsquellen darstellen 4 . Demgegenüber erweitern Merkl und Kelsen die Hierarchie der Rechtsakte 1

RR 228.

2

Dieser ist der eigentliche Urheber der Stufenbaulehre. Kelsen hat dies ausdrücklich anerkannt und Merkl aus diesem Grunde wiederholt als Mitbegründer der Reinen Rechtslehre bezeichnet (HPS Vorrede 2. Aufl. XV; Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag 313). 3 4

Dazu Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre 54 ff.

Diese Vorstellung lag auch noch den Ausführungen Kelsens in der 1. Auflage seiner "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" zugrunde (siehe dort 511, 514). - Eine Übersicht über die Position Kelsens vor seiner Rezeption der Stufenbaulehre gibt Behrend y Stufenbaulehre 49-52. - Die

106

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

um drei Stufen: Nach "unten" beziehen sie die "individuellen Rechtsnormen" 5 (d.h. Verwaltungsakte, Gerichtsurteile und private Rechtsgeschäfte 6) sowie die Zwangsvollstreckungsakte 7, "in denen der stufenförmig geschichtete Prozeß der Rechtserzeugung und Rechtsanwendung zu seiner Vollendung findet" 8 , ein; und nach "oben" lassen sie die Rechtsordnung in einer von der Rechtswissenschaft aus Erkenntnisgründen vorausgesetzten obersten Norm - der Grundnorm kulminieren. In der Grundnorm 9 laufen alle Stränge von Geltungsbeziehungen innerhalb einer Rechtsordnung zusammen; sie bildet den obersten Geltungsgrund und zugleich die Einheitskonstituante einer jeden Rechtsordnung. Auf diese Weise fügt Merkls und Kelsens Stufenbaulehre alle Rechtsnormen und Rechtsakte einer Rechtsordnung in ein einheitliches System, einen umfassenden Geltungs- und Erzeugungszusammenhang ein 1 0 . b) Rechtliche Bedingtheit als Stufungskriterium Die Normenhierarchie hat nach Ansicht beider Autoren ihre rechtslogische Grundlage in der spezifischen Art und Weise der Verknüpfung der verschiedenen Rechtsformen. Merkl 1 1 beschreibt diese Beziehung als einen Bedingungszusammenhang, als "Zweiheit einer bedingenden und bedingten Rechtserscheinung". Sie sei eine unvermeidlich im Idealsystem des Rechts 12 vorhandene rechtswesenhafte Gestaltung13 und stelle den "Urtypus der Aktbeziehungen im Rechtssystem"14 von der Grundnorm "bis hinunter zum letzten Vollzugsakt einer Rechtsaktreihe" 15 dar. Bedeutsamkeit der Überwindung der traditionellen Position durch die Stufenbautheorie betonen auch H. Dreier , Hans Kelsen 130; Β ehr end, Stufenbaulehre 18; Kramer , Wirksamkeit 247; Öhlinger , Lehre 80 f. 5

Kelsen, RR 238.

6

Siehe Öhlinger , Stufenbau 10.

7

Merkl, Rechtskraft 219.

8

Öhlinger , Lehre 80.

9

Zu dieser ausführlich im 4. Kap. A I .

1 0

Zu den Parallelen, die Kelsens Position in diesem Punkt zur Auffassung Luhmanns aufweist, siehe H. Dreier , Hans Kelsen und Niklas Luhmann 424 f. 1 1

Rechtskraft 210.

19

Das heißt unabhängig von der konkreten Ausgestaltung einer Rechtsordnung in der von Merkl sogenannten "Realstruktur" eines Rechtssystems. (Zu Merkls Unterscheidung von "Ideal-" und "Realstruktur" siehe Rechtskraft 215 f.; zu den mit dieser Differenzierung verbundenen Problemen Behrend , Stufenbaulehre 19-27.) 1 3

Merkl , Rechtskraft 210.

1 4

Merkl , Prolegomena 1336.

1 5

Merkl , Prolegomena 1317,1339.

Α. Der Stufenbau der Rechtsordnung

107

Nach dem Kriterium der rechtlichen Bedingtheit ist, wie Kelsen 16 ausführt, eine Norm einer anderen dann übergeordnet und stellt ihren Geltungsgrund dar, wenn sie zumindest die formellen (z.B. verfahrensmäßigen) Voraussetzungen für die Schaffung dieser anderen Norm und gegebenenfalls - bis zu einem gewissen Grade - auch deren Inhalt zu bestimmen vermag. So stelle etwa die "Verfassung im materiellen Sinne", d.h. die Gesamtheit der Vorschriften, in denen die Erzeugung der generellen Rechtsnormen geregelt sei, die positivrechtlich höchste Rechtsstufe dar 17 ; die ihr nächste Stufe seien die durch Gesetzgebung oder Gewohnheit erzeugten generellen Rechtsnormen 18; sodann kämen Verordnungen 19 und schließlich die Individualrechtsnormen 20. Den Gedanken, daß zwischen den Rechtsformen, die die verschiedenen Stufen der Normenhierarchie bilden, eine Verbindung in Form eines Bedingungszusammenhanges bestehe, führen Kelsen und Merkl in ihrer Theorie von der Parallelität von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung weiter aus. Diese Theorie besagt, daß, wenn man von den Grenzfällen - der Voraussetzung der Grundnorm und der Vollstreckung des Zwangsaktes - absehe, jeder Rechtsakt zugleich die Anwendung einer höheren Norm und die durch diese Norm bestimmte Erzeugung einer niederen Norm darstelle 21 und das Recht in diesem Sinne ein "doppeltes Antlitz" 2 2 zeige. Diese Ausführungen stellen das Bindeglied zwischen Kelsens und Merkls Überlegungen zum Stufenbau der Rechtsordnung und der Interpretationstheorie der Reinen Rechtslehre 23 dar. Entsprechend seiner dort dargelegten Ansicht, daß bei der Anwendung einer Rechtsnorm stets Raum für die Ausübung von Ermessen bleibe, betont Kelsen im hiesigen Zusammenhang: Die Bestimmung der Erzeugung einer niederen durch eine höhere Norm kann verschiedene Grade haben. Sie kann aber niemals so gering sein, daß der in Frage stehende Akt nicht mehr als Akt der Rechtsanwendung, und sie kann niemals so weit gehen, daß der Akt nicht mehr als Akt einer Rechtserzeugung angesehen werden kann 24 .

1 6

RR 228; siehe Merkl Prolegomena 1339.

1 7

RR 228-230.

1 8

RR 230-235.

1 9

RR 235 f.

2 0

RR 238-271.

2 1

Kelsen, RR 240; in der Sache ebenso bereits Merkl, Rechtskraft 217 f.

2 2

Merkl, Rechtsantlitz 1097.

2 3

Zu dieser oben 1. Kapitel Β 12, 3.

2 4

RR 241.

108

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Nach dieser Konzeption ist "das Recht" somit nicht etwas Fertiges und Abgeschlossenes, eine Summe von Verhaltensvorschriften, die in allgemeinen Normen vollständig enthalten sind. Das Recht ist vielmehr etwas gleichsam beständig Werdendes; es entfaltet sich erst im Zuge der zunehmenden K o n kretisierung und Individualisierung der Rechtsnormen 25 durch die verschiedenen Rechtsformen hindurch, "bis schließlich die Stufe des tatsächlichen Zwangsvollzugsaktes erreicht ist" 2 6 . Diese Betrachtungsweise, die "das Recht in seiner Bewegung, in dem ständig sich erneuernden Prozeß seiner Selbsterzeugung" 2 7 in den Blick nimmt, bezeichnen Merkl und Kelsen als "dynamisch" 28 . Unmittelbare Konsequenz dieser Ausführungen ist, daß Kelsen und Merkl in scharfem Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung, die streng zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung unterscheidet 29, dem Gesetzgeber das Rechtsetzungsmonopol absprechen 30: Die legislativen Akte sind ebenso wie alle übrigen Rechtserscheinungen, die auf den Stufen zwischen Grundnorm und Zwangsakt angesiedelt sind, "bloße Zwischenstufe und nicht Endglied der Rechtsschöpfung" 31 und unterscheiden sich aus diesem Grunde nur graduell durch ihre relativ große Allgemeinheit - , nicht aber grundsätzlich von Gerichtsurteilen, Verwaltungsakten und Privatrechtsgeschäften. Sämtliche Rechtserscheinungen werden als die "Etappen im Rechtsrealisierungsprozeß" 3 2 in einem "interdependenten Normenkosmos" 33 verbunden, der auf der im Prinzip immergleichen Dynamik gleichzeitig rechtserzeugender und rechtsanwendender Akte beruht. Dadurch erfährt auch die herkömmliche Lehre von der Gewaltentrennung eine tiefgreifende Uminterpretation: Die drei Gewalten sind nach der Reinen Rechtslehre nichts rechtswesenhaft dem Staatsbegriff Immanentes, sondern sie sind nichts anderes als "durch die positivrechtliche Gestaltung besonders ausgezeichnete oder sonstwie politisch bedeutsame relative Ruhepunkte des Rechtserzeugungsprozesses" 34. In dieser eindeutigen Abgrenzung politisch

2 5

Siehe Kelsen, AS 234.

2 6

Merkl, Rechtskraft 221; Prolegomena 1348 f.

2 7

Kelsen, RR 283.

2 8

Siehe Merkl, Prolegomena 1314; Kelsen, RR 72,228,283.

2 9

Siehe RR 240.

3 0

Siehe H. Dreier , Hans Kelsen 132 A 247.

3 1

Merkl , Recht im Lichte seiner Anwendung 1170.

3 2

Ebenstem , Rule of Law 65.

3 3

//. Dreier, Hans Kelsen 131.

Α. Der Stufenbau der Rechtsordnung

109

motivierter von rechtsbegrifflich bedingten Strukturelementen einer Rechtsordnung liegt die ideologiekritische Komponente von Kelsens und Merkls Darstellung der "Dynamik" einer Rechtsordnung 35 - jenes "großartige(n) Versuch^) einer einheitlichen Durchkonstruktion des gesamten Rechtsgebäudes"36. 2. Verhältiiis

der dynamischen Betrachtungsweise zur Rechtssatzlehre

Die soeben dargestellte "dynamische" Betrachtung des Rechts steht in einer engen Beziehung zu der im vorigen Kapitel behandelten Rechtssatzlehre Kelsens. Die beiden Lehren bringen ein und denselben Untersuchungsgegenstand - das als normative Zwangsordnung verstandene positive Recht - von verschiedenen Perspektiven und Problemstellungen aus zur Darstellung. Sie sind beide gleichsam aufgespannt zwischen den beiden Pfeilern, die nach Kelsen überhaupt erst den Begriff des Rechtlichen konstituieren: der Grundnorm und dem Zwangsakt. Um die Verfassung als eine von bloßer Gewalt grundlegend verschiedene normative Ordnung und die Statuierung eines Zwangsaktes als etwas Gesolltes, als Grundlage einer Rechtspflicht verstehen zu können, muß die Rechtswissenschaft nach Kelsens Ansicht die Grundnorm voraussetzen 37; und um das auf diese Weise als Sollensordnung gedeutete Recht von anderen Normenkomplexen unterscheiden zu können, ist nach der Konzeption der Reinen Rechtslehre auf die spezifische Form der Verhaltenslenkung durch Recht ("Reaktionsregelung") und auf die Verfügbarkeit von Zwangsakten abzustellen. Daher läuft sowohl in der Rechtssatzlehre als auch in der dynamischen Betrachtungsweise die Rekonstruktion des rechtlichen Materials auf die M ö g lichkeit der Statuierung von Zwangsakten zu: Auf die Voraussetzungen für seine Verhängung ist die Organisation des Rechtsmaterials im Rechtssatz zugeschnitten; und in der "dynamischen" Sichtweise stellt die Rechtsform des Zwangsaktes die abschließende Ebene im Stufenbau und seine Vollstreckung den "Endpunkt der Rechtsanwendung"38 dar 39 . Daß der Zwangsakt somit in beiden Fällen das

3 4 Kelsen, AS 249; zur Kritik Kelsens an der traditionellen Gewaltentrennungslehre siehe auch Ebenstein, Rule of Law 64-68. 3 5

(2). 3 6

Zum ideoligiekritischen Aspekt von Kelsens Rechtssatzlehre siehe bereits oben 2. Kap. A I I I 2 a Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre 46. Dazu im einzelnen im 4. Kap. A I .

3 8 3 9

Η. Dreier, Hans Kelsen 131.

Raz, Concept of a Legal System 112 meint "that the dynamic and static principles of individuation apply to different legal material". Es sei nämlich nicht immer möglich "to find parts of static norms corresponding to dynamic norms". So werde etwa eine bestimmte Gesetzgebungskompetenz nach der dynamischen Betrachtungsweise unmittelbar in die Darstellung der

110

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

letzte, definitive Wort des Rechts ist, stellt erneut die innere Stringenz unter Beweis, die die Reine Rechtslehre auszeichnet. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Darstellungsweisen betrifft die Art und Weise, wie sie die zeitliche Dimension des Rechts begrifflich erfassen. Die "dynamische" Theorie bildet das Recht als etwas Werdendes, als einen nach selbstgegebenen Gesetzmäßigkeiten ablaufenden Erzeugungsprozeß , als "Recht in seiner Bewegung" 40 ab; dagegen ist die Rechtssatzkonzeption Kelsens insofern "statisch", als sie das Recht "als ein System von in Geltung stehenden Normen, das Recht in seinem Ruhezustand"41 thematisiert: im Rechtssatz wird das zu einem bestimmten Zeitpunkt existierende Recht gleichsam gebündelt und nach Maßgabe seiner Relevanz für die Verhängung gesollter Zwangsakte angeordnet: Dann, aber nur dann, wenn die auf der Tatbestandsseite aufgelisteten rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Verhängung dieses Zwangsaktes rechtlich gesollt 42 . Stufenbaulehre und Rechtssatzkonzeption, dynamische und

Normenhierarchie einbezogen. In einer statischen Darstellung der Rechtsordnung tauche diese Kompetenz dagegen nicht auf, solange von ihr kein Gebrauch gemacht und auf ihrer Grundlage keine Sanktion verhängt worden sei: "Legislative powers become, according to the static principle of individuation, conditions for the application of sanctions stipulated by the use of these powers. If no sanction has been stipulated, then the legislative powers do not exist, so far as the static principle is concerned". Mit diesen Ausführungen mißdeutet Raz jedoch Kelsens Rechtssatzkonzeption. Ein vollständiger Rechtssatz im Sinne Kelsens formuliert nicht die Voraussetzungen, unter denen ein Zwangsakt tatsächlich verhängt wird (oder wurde), sondern die Bedingungen, unter denen er verhängt werden soll. Auch wenn daher z.B. von einer neu beschlossenen Strafrechtsvorschrift noch nie Gebrauch gemacht worden ist, ist es ohne weiteres möglich, diese Bestimmung und die Kompetenzvorschrift der Verfassung, auf deren Grundlage sie erlassen wurde, auf der Voraussetzungsseite des gesollten Zwangsakts zum Ausdruck zu bringen. Die Rechtssatzkonzeption Kelsens vermag daher das rechtliche Material ebenso vollständig zu erfassen wie die dynamische Betrachtungsweise. 4 0

RR 72.

4 1

RR 72.

4 2

Walter, Aufbau 16 f., ders., Buchbesprechung 669; Vogel, Anwendungsbereich 249 f. und Raz, Concept of a Legal System 113 (zustimmend H. Dreier, Hans Kelsen 135 A. 266) meinen, Kelsen gehe in der statischen und der dynamischen Betrachtungsweise von unterschiedlichen Rechtsnormbegriffen aus: Wenn er in der statischen Sichtweise Verfassung und Gesetz sowie individuelle Rechtsakte unter einem begreife, könne er nicht gleichzeitig in der dynamischen Theorie von einem Stufenbau von Rechtsnormen sprechen, weil sich in diesem Falle die Abstufung in den Rechtsnormen selbst befinde. Diese Kritik wird jedoch der von Kelsen in der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" vorgenommenen Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtssatz nicht gerecht (Zurückweisung der Kritik auch bei Kunst, Zu Kelsens Rechtslehre 315): Die Zusammenfassung der verschiedenen Rechtsnormen, welche die Voraussetzungen für eine gesollte Sanktion bilden, erfolgt durch die RechtsWissenschaft in der Form des Rechtstfflizes. Kelsens Rechtsnormbegriff ist von dieser Rechtswrtzkonzeption strikt zu unterscheiden. Kelsen läßt keinen Zweifel daran, daß keineswegs alle Normen einer Rechtsordnung Zwangsakte statuieren, sondern daß es auch ermächtigende, erlaubende, derogierende Rechtsnormen geben kann. Solche Rechtsnormen bezeichnet Kelsen als "unselbständige Rechtsnormen"; Rechtsnormen sind sie aber gleichwohl (siehe RR 55-59 und oben). Dies zeigt entgegen der erwähnten Kritik, daß Kelsen in der statischen und in der dynamischen Theorie durchaus ein und denselben

Α. Der Stufenbau der Rechtsordnung

111

statische Betrachtungsweise stellen somit komplementäre und zum Verständnis der inneren Struktur einer Rechtsordnung gleichermaßen bedeutsame Theorieteile der Reinen Rechtslehre dar. In dieser Herausarbeitung der unterschiedlichen Weisen, unter denen die normative Ordnung Recht betrachtet und rechtstheoretisch sinnvoll organisiert werden kann, liegt eine der großen innovativen Leistungen von Kelsens Theorie. II. Die Ansicht Harts

Harts Ausführungen zu den Grundlagen der hierarchischen Gliederung einer Rechtsordnung sind, verglichen mit Merkls und Kelsens detaillierten Überlegungen, verhältnismäßig kursorisch; dennoch läßt sich ihnen eine Konzeption entnehmen, die in einigen bedeutsamen Punkten von den V o r stellungen Kelsens abweicht. 1. In den Stufenbau einbezogene Rechtsregeln Die Ausgangsproblematik ist für Hart dieselbe wie für Kelsen: Auch Hart geht es von seiner positivistisch-normativistischen Problemhinsicht her darum, auf der Grundlage einer Stufenbaulehre die Beziehungen zwischen den Bestimmungen einer Rechtsordnung als rein innerrechtliche Fragen zu deuten 43 . In diesem Zusammenhang zeigt sich indes bereits ein erster Unterschied seiner Ausführungen zur Konzeption der Reinen Rechtslehre: Der von Hart zugrundegelegte Stufenbau ist weniger umfangreich als derjenige Kelsens, denn Hart nimmt die von Merkl und Kelsen "oberhalb" und "unterhalb" der Ebene der abstrakt-generellen Gesetze vorgenommenen Erweiterungen der Stufenbaupyramide wieder zurück. Seine Hierarchie der Rechtsvorschriften endet nach "oben" hin mit der Erkenntnisregel, die im wesentlichen Kelsens "Verfassung im materiellen Sinne" entspricht 44 ; Kelsens Lehre von der Grundnorm verwirft Hart ausdrücklich als "needless reduplication" 45 . Nach "unten" schließt Hart dadurch, daß er in der Tradition der sprachanalytischen Philosophie das Recht nicht als System von (entweder generellen oder individuellen) Rechtsnormen, sondern von (notwendig generellen 46) Rechtsregeln versteht 47, Individualrechtsakte so-

Rechtsnormbegriff zugrundelegt. Die Unterschiede zwischen den beiden Sichtweisen liegen, wie im Text dargelegt, auf der Ebene der Darstellungsperspektive. 4 3

Siehe CL 102-105.

4 4

Siehe CL 104. - Zu den Ähnlichkeiten zwischen Harts Erkenntnisregel und Kelsens Verfassung im materiellen Sinne siehe Eckmann> Rechtspositivismus 124 f. 4 5

CL 246. - Dazu unten 4. Kap. A I V .

112

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

wie Zwangsakte aus seiner Stufenbaupyramide aus. Was bleibt, sind die "klassischen" Rechtsquellen: Rechtsverordnungen verschiedener Stufen ("by-laws" bzw. "statutory orders"), Parlamentsgesetze und schließlich die in der Erkenntnisregel enthaltene Verfassung 48. Mit der Ausklammerung von Individualrechtsakten und Zwangsakten setzt Hart seine von der (hier sogenannten) "Normalitätsperspektive" des Rechts ausgehende Behandlung des Rechtsstoffes konsequent fort. Es geht ihm darum, mit dem Begriff der Rechtsregei auf die Bedeutung der Existenz allgemeiner rechtlicher Verhaltensstandards hinzuweisen, an denen die Rechtsgenossen sich in ihrem alltäglichen Verhalten orientieren können 49 . Betrachtet man es wie Hart als primäre Funktion von Rechtsvorschriften, "den Gruppen und Institutionen als dauerhafte Strukturelemente zu dienen" 50 und "Maßstäbe für die Beurteilung der Einzelfälle (zu) bilden" 51 , so erfordert dies notwendig die allgemeine und abstrakte Fassung von Regelungen52, wieder preisgegeben wird 5 3 , ist es aus den vorgenannten Gründen im er besonderen den Begriff der (abstrakt-generellen) Rechtsregel zugrundelegt, wie es das Abstellen auf (individuelle oder generelle) Rechtsnormen im Rahmen der Reinen Rechtslehre ist.

4 6

Tur

4 7

Siehe Höffe , Politische Gerechtigkeit 144.

y

Positivism 61.

AO

Siehe das von Hart zur Verdeutlichung der Vorstellung vom Stufenbau des Rechts verwendete Beispiel (CL 103 f.). 4 9

Siehe CL 121.

5 0

Meyer - Cording, Rechtsnormen 25 (ohne speziellen Bezug auf Hart).

5 1

Bydlinski , Methodenlehre 250.

5 2

Siehe Meyer -Cording, Rechtsnormen 25. - Koller , Meilensteine 156 verkennt die Position Harts , wenn er schreibt: "Und warum spricht Hart immer nur von Kriterien zur Bestimmung der Geltung von Regeln und nicht auch von individuellen Rechtsnormen bzw von individuellen Vollzugsakten? Besteht nicht der Zweck des Rechts darin, daß seine vielen Regeln schließlich im konkreten Handeln der Menschen Gestalt annehmen?" Auf die letztere Frage ist zu antworten, daß jedenfalls nach Hart der primäre Zweck des Rechts in genereller Verhaltenslenkung und gerade nicht in seiner Umsetzung in Form von Einzelakten besteht. 5 3

Dies nimmt Tur , Positivism 61 zum Ausgangspunkt seiner Kritik an der Hart'sehen Konzeption.

Α. Der Stufenbau der Rechtsordnung

2. Derogationsfähigkeit

113

als maßgebliches Stufungskriterium

a) Die Ausführungen Harts In der Frage nach dem maßgeblichen Stufungskriterium betrachtet Hart die derogatorische Kraft einer Rechtsvorschrift als entscheidend für ihre rangmäßige Stellung innerhalb einer Rechtsordnung: We may say that a criterion of legal validity or source of law is supreme if rules identified by reference to it are still recognized as rules of the system, even if they conflict with rules identified by reference to other criteria, whereas rules identified by reference to the latter are not so recognized if they conflict with the rules identified by reference to the supreme criterion. A similar explanation in comparative terms can be given of the notions of "superior" and "subordinate" criteria... .

Die Frage nach dem Umfang der derogatorischen Kraft, die einer rechtlichen Regel zukommt, beantwortet sich nach Harts Auffassung aus der Erkenntnisregel: Aus ihr ergebe sich nicht nur, welche Rechtsquellen in einer Rechtsordnung gälten, sondern auch, in welchem Verhältiiis diese Regeln des Gewohnheits- und des Präjudizienrechts den Parlamentsgesetzen deshalb rangmäßig untergeordnet, weil nach der vom Rechtsstab, vor allem den Gerichten im Vereinigten Königreich anerkannten und tatsächlich ihren Rechtsstatus zu nehmen 5 5 . b) Vergleich mit der Auffassung der Reinen Rechtslehre Diese Konzeption Harts unterscheidet sich von dem Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit, wie er der Reinen Rechtslehre Kelsens zugrundeliegt. Bei Kelsen bewirkt das rechtliche Bedingungsverhältnis zwischen zwei Normen die derogatorische Kraft der höherstehenden Norm. Hart dagegen geht von der derogatorischen Kraft einer Rechtsvorschrift aus und bestimmt auf ihrer Grundlage das Bedingungs- und Stufungsverhältnis zwischen mehreren rechtlichen Bestimmungen. Bei Hart ist die Derogationsfähigkeit also Grundlage, bei Kelsen dagegen lediglich Folge des Stufenbaus der Rechtsnormen. Die Stufung selbst richtet sich deshalb bei Kelsen notwendigerweise nach einem anderen Kriterium als dem der derogatorischen Kraft. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt 56 , ist dieses "andere Kriterium" bei Kelsen der Allgemeinheitsgrad der Normen einer bestimmten Rechtsform : Die inhaltlich allgemeinere, das heißt voraussetzungsärmere Rechtsform - etwa die Verfassung im materiellen Sinne steht über der spezielleren, also voraussetzungsreicheren Rechtsform - etwa der Stufe der einfachen Gesetze, die die in der Verfassung enthaltenen Vorgaben zu berücksichtigen haben. Dieses Stufungskriterium spiegelt Kelsens Verständnis 5 4

CL 103.

5 5

CL98.

5 6

Siehe oben.

8 Pawlik

114

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

der Rechtsordnung als eines Konkretisierungs- und Individualisierungsprozesses wider 5 7 : Der Prozeß der Rechtserzeugung erfolgt von den höchsten, allgemeinsten Rechtsstufen bis hinab zum hochspeziellen "letzten Vollzugsakt". Der Unterschied zwischen Kelsens Kriterium der rechtlichen Bedingtheit und Harts Maßstab der derogatorischen Kraft stellt keineswegs eine bloße Formulierungsfrage dar; ihm liegen vielmehr beträchtliche sachliche Differenzen zugrunde. Ein erster Unterschied betrifft den rechtslogischen Status der beiden Stufungskriterien: Während Merkl und Kelsen mit dem Bedingungszusammenhang zwischen über- und untergeordneter Norm ein rechtsbegrifflich notwendiges oder, wie Merkl 5 8 auch formuliert: ein der Idealstruktur des Rechts angehörendes Stufungskriterium aufgefunden zu haben meinen, ist der Anspruch, den Hart erhebt, erheblich bescheidener: Eine bestimmte Vorschrift steht bei ihm nicht deshalb rangmäßig höher als eine andere, weil sich dies zwingend aus dem Begriff von "Rechtsordnung" ergebe, sondern nur deshalb, weil die Gerichte ihr die Fähigkeit zuerkennen , der anderen Bestimmung im Falle eines Widerspruchs zu derogieren. Bei Hart ergibt sich also der Stufenbau allein aus der kontingenten Struktur einer positiven Rechtsordnung , der tatsächlichen Entscheidungspraxis eines konkreten Rechtsstabes59. Aber auch von ihren Ergebnissen her sind Kelsens und Harts Stufenbaupyramiden nicht notwendig identisch. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst auf Leistungsfähigkeit und Grenzen der Kelsen'schen Konzeption einzugehen. Kelsens Lehre vom Stufenbau der Rechtsformen mit den Hauptstufen Verfassung - Gesetz - Rechtsverordnung - Einzelakt erfaßt den Normalfall der Normenhierarchie innerhalb einer Rechtsordnung. Der Erklärungsfähigkeit dieser Theorie sind jedoch Grenzen gesetzt: Beziehungsverhältnisse innerhalb ein und derselben Rechtsform kann sie ebensowenig erklären wie die Situation, daß mehrere in sich abgeschlossene rechtliche Teilsysteme wiederum ein Gesamtsystem bilden. Probleme im Sinne der ersten Fallgruppe stellen sich vor allem auf der Ebene der obersten positivrechtlichen Rechtsstufe. Dort, im Rahmen der Verfassung im materiellen Sinne, bedingen mitunter auch Rechtsvorschriften der gleichen Form

5 7

Auch dazu siehe oben 11 b.

5 8

Siehe oben A. 12.

5 9

Daß die Frage, ob überhaupt, bejahendenfalls in welcher Weise eine bestehende Rechtsvorschrift außer Geltung gesetzt, ihr also derogiert werden kann, nur aufgrund der Bestimmungen des positiven Rechts beantwortbar ist, hat bereits Merkl erkannt (Unveränderlichkeit 1088; Rechtskraft 234); es wird auch von zahlreichen anderen Autoren betont (etwa Walter , Aufbau 57).

Α. Der Stufenbau der Rechtsordnung

115

einander. Ais Beispiel dafür führt Walter 60 den Fall an, daß nach österreichischem Recht das Gesetz, wonach alle Gesetze im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen sind und das im Sinne der Stufenbaulehre Kelsens einen Teil der Verfassung im materiellen Sinne bildet 61 , seinerseits bedingend für alle anderen Gesetze, also auch für sonstige Verfassungsgese\ze> ist. Exemplarisch für die zweite Fallgruppe ist das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzen in einem Bundesstaat. Daß etwa im Rechtssystem der Bundesrepublik eine kompetenzmäßig und inhaltlich ordnungsgemäße Bundes-Rechtsverordnung einer Landesverfassung vorgeht, läßt sich mit dem Allgemeinheitsverhältnis zwischen diesen beiden Rechtsformen nicht erklären; es ergibt sich vielmehr daraus, daß im Konkurrenzverhältnis der beiden Rechissysteme "Bundesrecht" und "Landesrecht" ersterem durch Bestimmungen des positiven Rechts selbst in einem bestimmten Umfang der Vorrang eingeräumt wird. Der Umstand, daß sich derartige Fälle innerhalb von Kelsens Stufenbautheorie nicht überzeugend erklären lassen, widerlegt diese Lehre zwar nicht insgesamt, führt aber dazu, daß ihr Erklärungsanspruch beträchtlich zurückgenommen werden muß: Sie erfaßt zwar die Regelfälle innerhalb eines in sich geschlossenen Systems; der komplexen Beziehungs- und Verweisungsstruktur moderner Rechtsordnungen wird sie jedoch nicht voll gerecht 62 . Besser geeignet ist insofern Harts Ansatz. Hart ersetzt, wie gesehen, Kelsens Stufenbau der durch unterschiedliche Allgemeinheitsgrade gekennzeichneten RzchXsformen durch einen Stufenbau der Rechtsrege/w, deren Verhältnis zueinander sich nach ihrer Durchsetzungsfähigkeit im Konfliktfalle bemißt. Im Normalfall stimmen freilich die Regeln einer bestimmten Rechtsform auch im H i n blick auf die ihnen kraft positiven Rechts zukommende derogatorische Kraft überein; so können in der Regel etwa alle Regeln der Verfassung den einfachen Parlamentsgesetzen derogieren. Doch die vorstehenden Ausführungen zu den Problemen und Grenzen von Kelsens Stufenbaulehre haben gezeigt, daß in modernen Rechtsordnungen nicht nur "Normalfälle" auftreten. Auch die Grenzfälle zu erfassen, bereitet Hart im Unterschied zu Kelsen keine besonderen Schwierigkeiten. So läßt sich etwa das Verhältnis von Bundes- und Landesgesetzen in der Bundesrepublik auf der Grundlage ihrer derogatorischen Kraft umfassend und präzise beschreiben. Das dadurch ermöglichte, im Einklang mit der allgemeinen deskriptivistischen Zielsetzung von Harts "Concept of Law" stehende Plus an Genauigkeit der Beschreibung hat freilich seinen Preis: Eine Konzeption, die Ernst macht mit der

6 0

Aufbau 60-63; zustimmend Öhlinger, Stufenbau 17.

6 1

Dazu oben 11 b.

6 2

So auch Walter, Aufbau 60-63; Öhlinger» Stufenbau 16 f.

116

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Darstellung der mannigfaltigen Über- und Unterlegenheitsbeziehungen, die zwischen rechtlichen Vorschriften tatsächlich bestehen, hebt sich letztlich als Lehre vom "Stufenbau der Rechtsordnung" selber auf. So müßte etwa eine wirklich umfassende Darstellung des Verhältnisses von Bundes- und Landesrecht in Deutschland eine solche Fülle von Voraussetzungen, Ausnahmen und Gegenausnahmen formulieren, daß von dem ursprünglichen einfachen Bild eines Stufenbaus am Ende nicht mehr viel übrig bliebe. Die auf dieser Grundlage allenfalls noch erstellbaren "Stufenbaupyramiden" beziehen sich zuletzt immer nur noch auf bestimmte Situationen, eng umrissene Sachverhalte: auf den Konflikt dieser Gesetzgebungskompetenzen, jener Gesetzesformulierungen. Die von Merkl und Kelsen intendierte modellhaft-allgemeine Rekonstruktion der hierarchischen Struktur einer jeden Rechtsordnung löst sich dadurch auf in die Beschreibung prozessual anstehender Einzelsituationen im Rahmen einer konkreten Rechtsordnung. Daß derartige Beschreibungen in der Praxis unverzichtbar und von daher sinnvoll sind, ist nicht zu bestreiten. Dem vor allem von Kelsen betonten Allgemeinheitsanspruch der Rechtstheorie genügen sie jedoch nicht mehr 63 . Insgesamt läßt sich damit zum einen feststellen, daß Hart, indem er die derogatorische Kraft einer Rechtsregel zum Eckpfeiler seiner Stufenbaulehre macht, der deskriptivistischen Ausrichtung seiner Theorie ebenso treu bleibt wie Kelsen durch die Zugrundelegung der Lehre vom Bedingungszusammenhang der Rechtsformen seinem in besonderem Maße der Herausarbeitung allgemeiner Strukturen verpflichteten Rekonstruktivismus. Beide Ansätze haben, wie vorstehend ferner herausgearbeitet wurde, spezifische Stärken und Schwächen; keiner wird durch den anderen als überflüssig erwiesen. Vielmehr bestätigt sich hier erneut die Berechtigung der in der Einleitung zu dieser Arbeit formulierte Forderung, Kelsens und Harts Werke nicht gegeneinander, sondern nebeneinander zu lesen, sie nicht als miteinander rivalisierend, sondern als einander ergänzend zu verstehen. So ermöglichen sie Einblicke in die Struktur des Rechts, aber auch in die Möglichkeiten und Grenzen analytischer Rechtstheorie überhaupt, die durch das isolierte Abstellen auf eine der beiden Lehren nur schwerlich zu erzielen gewesen wären.

Daß zwischen dem Typus einer Stufenbaulehre, der es auf der Grundlage einer schematisierenden Darstellung auf die Herausarbeitung allgemeiner allgemeiner Zusammenhänge und rechtswesentlicher Umstände geht, und dem einer solchen, die durch genaue Betrachtung des positiven Rechts eine Abbildung einer konkreten positiven Rechtsordnung geben will, streng zu unterscheiden ist, betont auch Stoitzner, Stufenbau 54.

Β. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte

117

B. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte In jeder Rechtsordnung gibt es Rechtsakte, die - in herkömmlicher Terminologie gesprochen - zwar von ihrem Inhalt her rechtswidrig, also unter Überschreitung des durch die übergeordnete Vorschrift gezogenen "Rahmens" zustande gekommen sind, denen aber dennoch Rechtsgeltung zukommt. M u sterbeispiel dafür ist das inhaltlich rechtswidrige, aber rechtskräftig gewordene Gerichtsurteil. Die Existenz derartiger Fälle stellt für den normativistischen Rechtsbegriff Kelsens und Harts, wonach das Recht ein in der Sollensebene angesiedelter Selbsterzeugungsmechanismus ist, eine doppelte Herausforderung dar: Zunächst müssen sie die Geltungsbeziehungen zwischen den verschiedenstufigen Rechtsakten in einer Weise bestimmen, die es ihnen ermöglicht, auch die Rechtsgeltung inhaltlich unrichtiger Rechtsakte zu erklären. Sodann muß angesichts der Möglichkeit, daß Gerichte unter Umständen auch dann geltendes Recht produzieren, wenn sie die Vorgaben der für ihre Entscheidung maßgeblichen Rechtsbestimmungen mißachten, der normative Charakter des Rechts gegen den regelskeptizistischen Einwand verteidigt werden, "daß es vor der gerichtlichen Entscheidung überhaupt kein Recht gebe" 64 und daß der Satz gelte: "The law (or the constitution) is what the courts say it is" 6 5 . Kelsen und Hart setzen sich jeweils mit beiden Aspekten des Problems auseinander; bei Kelsen steht allerdings die erst-, bei Hart dagegen die zweitgenannte Fragestellung im Vordergrund. I. Die Position Kelsens

1. Die Lehre von der Alternativermächtigung Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, liegt der Stufenbautheorie Kelsens die Vorstellung zugrunde, daß die Rechtsdynamik in der Konkretisierung und Individualisierung relativ allgemeiner Normen im Zuge eines Anwendungs- und Erzeugungszusammenhanges bestehe. Die übergeordnete Norm werde bei der Setzung des untergeordneten Rechtsakts insofern angewendet, als sie dessen Erzeugungsbedingungen festlege; daneben sei aber ein - mehr oder weniger großes Maß von Ermessen an der Normsetzung beteiligt, die aus diesem Grunde stets auch genuine Rcchtserzeugung darstelle. Die bei der Schaffung einer untergeordneten zur Anwendung kommende übergeordnete Norm hat nach Kelsens Ansicht eine doppelte Funktion: Zum 6 4

Siehe RR 274.

6 5

Siehe CL 138,250.

118

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

einen begründet sie die Rechtsgeltung der auf ihrer Grundlage erzeugten Rechtsakte; und zum anderen verknüpft sie diese mit den Normen der oberen Hierarchieebenen bis hin zum Knotenpunkt des gesamten Erzeugungszusammenhanges, der Grundnorm, die erst die Deutung dieses komplexen Beziehungsgeflechts als einheitliche Rechtsordnung ermöglicht 66 . Rechtsgeltung beruht nach dieser Konzeption also darauf, daß ein Rechtsakt den für ihn in einer höheren Rechtsvorschrift niedergelegten Erzeugungsbedingungen entspricht. Fehlt es an dieser Entsprechung, so ist der betreffende Akt nicht "nur" rechtswidrig, sondern er ist, da ihm jegliche systematische Verankerung in der Rechtsordnung fehlt, ein rechtliches nullum; er ist nichtig 67 . Eine "normwidrige Norm" stellt daher für Kelsen im Rahmen seiner Geltungsanalyse von Rechtsnormen einen Selbstwiderspruch dar: Entweder ist die (vermeintliche) Norm im Widerspruch zu den in der übergeordneten Norm enthaltenen Erzeugungsbedingungen zustandegekommen: dann ist sie nichtig, also überhaupt keine Rechtsnorm; oder sie entspricht diesen Vorgaben: dann ist sie eine rechtmäßige und deshalb auch rechtsgültige Norm 6 8 . Für die Formulierung der Erzeugungsbedingungen einer Rechtsnorm bedeutet dies nach Kelsens Ansicht - sie läßt sich als "Lehre von der Alternativermächtigung" bezeichnen - , daß dem zu autoritativer Entscheidungstätigkeit befugten Rechtsorgan eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird: Es habe die Rechtsmacht, entweder eine Rechtsnorm zu erzeugen, die inhaltlich den Vorgaben der übergeordneten Norm entspreche, oder aber eine Norm zu setzen, deren Inhalt nicht so vorausbestimmt, sondern durch die autoritativ entscheidende Instanz selbst zu bestimmen sei 69 . Anders gesagt, ist die Rechtsetzungsmacht autoritativ entscheidender Rechtsorgane, ihre Befugnis zu "authentischer Interpretation" nach dieser Lehre nicht auf den Bereich "kognitiver", auf die Ermittlung des Bedeutungsrahmens genereller Rechtsnormen ausgerichteter Interpretation beschränkt 70 , sondern gestattet sie die Setzung prinzipiell beliebiger Rechtsinhalte. Allerdings besitzen Rechtsordnungen, wie Kelsen ergänzend bemerkt, eine Präferenz für materiell rechtmäßige Rechtsakte : Getroffene Entscheidungen 6 6

Siehe RR 228. - Zur Grundnormproblematik ausführlich im 4. Kap. A I .

6 7

RR 271. - Dazu Nino, Confusions 364 f.

6 8

RR 271 f.

6 9

GT 155 f.; RR 273 f.; 277 f.; ATN 200. - Die ATN-Stelle zeigt, daß Kelsen trotz der sein Spätwerk durchziehenden Ablehnung der Möglichkeit einer Normenlogik (dazu unten D I I 2 und in bezug auf die hier behandelte Problematik Harris , Kelsen's Concept of Authority 357; ders. y Normative Consistency 214 f.) in der Frage der Behandlung materiell rechtswidriger, aber dennoch rechtsgültiger Rechtsakte zumindest im Ergebnis an seiner früheren Position festhielt. 7 0

Siehe Varga , Rechtsanwendungslehre 360.

Β. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte

119

können in der Regel nur mit der Begründung angefochten werden, daß sie nicht der einschlägigen allgemeinen Norm entsprächen 71; und teilweise statuiert das Recht darüber hinaus eine Rechtspflicht der Amtsträger zu inhaltlich rechtmäßiger Entscheidung72. Nach Kelsens Rechtspflichtbegriff trifft eine solche Pflicht den autoritativ Entscheidenden indes nur, wenn sein gegenteiliges Verhalten zur Bedingung einer rechtlichen Sanktion, also eines als Sanktion fungierenden Zwangsaktes, gemacht wird 7 3 . Zwangsbewehrte Sanktionen gegen falsch entscheidende Rechtsorgane sind in modernen Rechtsordnungen zwar vereinzelt enthalten, werden aber in der Regel an enge Voraussetzungen geknüpft 74 . Von daher bildet nach der Reinen Rechtslehre das Bestehen einer rechtlichen Pflicht der Amtsträger zu materiell rechtmäßiger Entscheidung weitaus eher die Ausnahme als die Regel 75 . Keiner dieser beiden Gesichtspunkte führt im übrigen dazu, die prinzipiell unbeschränkte Entscheidungsmacht autoritativ entscheidender Rechtsinstanzen unmittelbar an die Leine inhaltlicher Beschränkungen zu nehmen: Daß ein Rechtsorgan behauptet, seine eigene Entscheidung sei rechtmäßig und die von ihm aufgehobene Entscheidung rechtswidrig, bedeutet keineswegs zwingend, daß diese Behauptung auch zutrifft: Ein inhaltlich "richtiges" Urteil kann durchaus kassiert und durch ein "Fehlurteil" ersetzt werden, sofern nur dem zuletzt entscheidenden Gericht innerhalb des Instanzenzuges die höhere Stellung zukommt 76 ; und der Umstand, daß ein Rechtsorgan die RechXspflicht hat, rechtswidrige Entscheidungen zu unterlassen, läßt seine Rechtswac/if, derartige Entscheidungen treffen zu können, unberührt 77 . Die Überlegungen zum Begründungserfordernis zeigen indes, daß die Rechtsmacht zu einer von den inhaltlichen Vorgaben des materiellen Rechts abgekoppelten Normsetzung nach der Reinen Rechtslehre nicht allen 7 1

RR 274.

7 2

Siehe RR 278 f.

Zu Kelsens Lehre von der Rechtspflicht sowie zu seinem Begriff des Zwangsaktes siehe oben 2. Kap. A I 1. Zu den Voraussetzungen einer Rechtspflicht des Richters RR 124; zu denjenigen einer Rechtspflicht von Regierungs- und Verwaltungsorganen RR 278 f. 7 4 Exemplarisch ist insofern der Rechtsbeugungstatbestand im deutschen Strafgesetzbuch; siehe auch die von Kelsen selber gegebenen Beispiele (RR 278 f.). 7 5

Unter diesem Aspekt kritisch zu Kelsens Lehre Harris, Kelsen's Concept of Authority 363.

7 6

Siehe RR 274: "Wenn es irgendeinen Sinn hätte, von einer 'an sich' rechtmäßigen oder rechtswidrigen Gerichtsentscheidung zu sprechen, müßte man zugeben, daß auch eine rechtmäßige Entscheidung durch eine rechtskräftige Entscheidung aufgehoben werden kann". 77 Siehe RR 278: Das Verfahren zur Bestrafung verfassungswidrig handelnder Verfassungsorgane "kann, muß aber nicht mit einem auf die Aufhebung des Gesetzes zielenden Verfahren verbunden werden".

120

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Rechtserzeugungsorganen in gleichem Umfang zusteht. Eine Differenzierung die einzige, die für den Umfang der den Entscheidungsinstanzen zukommenden Rechtsmacht unmittelbar beachtlich ist - ergibt sich vielmehr nach dem Maß der rechtlichen Kontrolle, der die jeweilige Rechtsetzungsinstitution unterliegt. So ist die (nicht rechtskräftige) Entscheidung eines Instanzgerichts nur provisorisch gültig, weil sie noch vom letztinstanzlichen Gericht aufgehoben werden kann 7 8 . In ähnlicher Weise besitzen auch verfassungswidrige Gesetze in einer Rechtsordnung mit Verfassungsgerichtsbarkeit nur vorläufige Gültigkeit: sie gelten zwar zunächst, sind aber in einem besonderen Verfahren aufhebbar 79. Dagegen ist ein letztinstanzliches oder rechtskräftig gewordenes Gerichtsurteil oder ein formelles Gesetz in Rechtssystemen, die den Gerichten die rechtliche Prüfung legislativer Akte verwehren, in seiner rechtlichen Gültigkeit von niemandem mehr zu erschüttern: Wie auch immer entschieden wurde, es ist und bleibt geltendes Recht 80 . 2. Die zwei Rechtmäßigkeitsbegriffe

Kelsens

Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß Kelsen in seiner "Reinen Rechtslehre" nebeneinander zwei unterschiedliche Begriffe von Rechtmäßigkeit und damit auch von Recht verwendet. Seiner Ermessens- und Interpretationslehre sowie seinen Ausführungen zur formellen Gerechtigkeit legt er - insoweit durchaus im Einklang mit der von ihm an anderer Stelle nachdrücklich zurückgewiesenen "traditionellen Jurisprudenz" 81 - einen inhaltlich orientierten Rechtmäßigkeitsbegriff zugrunde: Ein Rechtsakt ist danach dann rechtmäßig, wenn er sich innerhalb des durch die übergeordnete Norm vorgegebenen inhaltlichen Rahmens hält 82 . Diesem Rechtmäßigkeitsbegriff entspricht das rechtsdogmatische Verständnis von Recht: Die Feststellung des Rechts wird als ein interpretatorisches Problem gesehen - als Recht gilt der durch die kognitiv hermeneutische Vorgehensweise der Rechtsdogmatik bestimmbare inhaltliche Bedeutungsgehalt der Vorschriften einer Rechtsordnung. In der Lehre von der Alternativermächtigung macht Kelsen dagegen Gebrauch von einem geltungsbezogenen Rechtmäßigkeitsbegriff : Rechtmäßigkeit und Rechtsgeltung decken sich, ebenso Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit. 7 8

RR 273.

7 9

RR 278.

Of)

w

Zu einem verbleibenden Minimum an den untergeordneten Rechtsinstanzen zustehenden Prüfungsbefugnissen siehe allerdings unten C11. oi RR 271. - Die "traditionelle Rechtswissenschaft" gegen Kelsen verteidigend Bydlinski y Gesetzeslücke 116. 09 Zur Darstellung und Kritik der Lehre Kelsens von der Norm als einem inhaltlichen Rahmen und seiner Interpretationstheorie siehe oben 1. Kap. Β 1 2 - 4.

Β. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte

121

Tertium non datur. Recht ist hier gleichbedeutend mit "geltendem Recht". Und um zu ermitteln, was geltendes Recht ist, ist nicht der sprachliche Bedeutungsgehalt einer Norm maßgebend, sondern ihre Setzung durch eine mit entsprechender Rechtsmacht ausgestattete autoritative Instanz. Diese Rechtsmacht verdanken die Rechtsorgane der Verfassung, die wiederum auf die Grundnorm zurückgeht. Die Grundnorm aber ermächtigt denjenigen zur Verfassungsgebung, dessen Gesetzgebung in einer Gesellschaft im großen und ganzen wirksam ist, der sich also als sozial durchsetzungsfähig erwiesen hat 83 . In den Normalfällen, in denen die autoritativ erzeugten Entscheidungen auch inhaltlich rechtmäßig sind, kommt die vorgenannte Differenzierung nicht zum Tragen; relevant wird sie erst, wenn erklärt werden muß, warum einem Rechtsakt ungeachtet seiner inhaltlichen Rechtswidrigkeit Rechtsgeltung zukommen kann. Die besondere systematische Bedeutung der im vorliegenden Abschnitt behandelten Fälle gründet sich auf diesen Umstand. Nur vor dem Hintergrund der vorstehend entwickelten Unterscheidung wird es verständlich, warum Kelsen sich in seiner Lehre von der Alternativermächtigung mit Nachdruck gegen die herkömmliche Kennzeichnung dieser Fälle als rechtswidrig, aber dennoch rechtsgültig wehrt 84 : Seine Analyse zeigt nämlich, daß derartige Rechtsakte nicht gültig sind, obwohl sie inhaltlich rechtswidrig sind, sondern daß Rechtsakte, gleichgültig ob inhaltlich rechtmäßig oder rechtswidrig, ihre Rechtsgeltung aus dem Umstand beziehen, daß sie von einer dazu ermächtigten Autorität gesetzt wurden 85 . Die Analyse der Geltungsbeziehungen im Recht, die Feststellung des "geltenden Rechts", ist somit nach Kelsen in keinem Fall unmittelbar von inhaltlichen Richtigkeitserwägungen abhängig 86 . Die Divergenz zwischen dem inhaltsbezogenen Rechtsbegriff der Rechtswissenschaft und der auf autoritative Setzung abstellenden Konzeption vom "geltenden Recht" hat, wie Kelsen feststellt, zur Folge,

8 3

Siehe RR 280 und im einzelnen 4. Kap. Β II.

8 4

Siehe RR 271 f., 274.

Varga, Rechtsanwendungslehre 363 spricht aus diesem Grunde von einer "der ganzen Kelsen'schen Theorie innewohnende(n) Tendenz zu einer prozeduralen Auffassung des Rechts". Q i

Paulson , Material and Formal Authorisation 172 bezeichnet die Befugnis autoritativ entscheidender Rechtsorgane, entweder materiell rechtmäßige oder materiell rechtswidrige Rechtsnormen zu setzen, als "material authorisation" bzw. "formal authorisation" und betrachtet materielle Rechtmäßigkeit und autoritative Setzung als zwei unterschiedliche Wege, auf denen Rechtsnormen Rechtsgeltung erlangen könnten (aaO 188). Dies ist jedoch mißverständlich. Für Kelsen gibt es, wie soeben im Text dargelegt, nur einen Weg zur rechtlichen Geltung einer Norm, und das ist ihre Erzeugung durch ein zur Normsetzung befugtes Organ im Wege authentischer Interpretation. Für die Frage der Geltung einer Norm ist mit anderen Worten ihre materielle Rechtmäßigkeit entgegen der von Paulson suggerierten Alternativität der Geltungsgründe stets irrelevant. Kritisch zu Paulson auch Harris, Normative Consistency 216.

122

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

daß die Möglichkeit, die von den Gerichten zu erzeugenden individuellen Normen durch im Wege der Gesetzgebung oder Gewohnheit erzeugte generelle Normen vorauszubestimmen, erheblich eingeschränkt ist 8 7 .

Merkl bringt die "Entwaffnung" 88 der mit der Analyse des inhaltlichen Bedeutungsgehalts von Rechtsnormen befaßten Rechtsdogmatik gegenüber der geltungsbegründenden Entscheidungstätigkeit autoritativer Rechtsinstanzen noch drastischer zum Ausdruck, indem er über die Erkenntnismöglichkeiten der Rechtswissenschaft bemerkt: Will sie erkunden, was im einzelnen Rechtens sei, dann frage sie - beim Richter an! Sein Teil ist CQ

das Besserwissen, ihres die Unwissenheit07.

Die Auffassung, daß geltendes Recht das sei, was die Rechtsautoritäten, voran die Gerichte, entschieden, weist, was auch Kelsen selber nicht verborgen bleibt, erhebliche Parallelen zur regelskeptischen Ansicht der Amerikanischen Realisten auf, daß es vor der gerichtlichen Entscheidung überhaupt kein Recht gebe, daß alles Recht Gerichtsrecht sei, daß es überhaupt keine generellen, sondern nur individuelle Rechtsnormen gebe 90 .

Diese Nachbarschaft ist für die Reine Rechtslehre deshalb besonders unbehaglich, weil der Rechtsrealismus in Anbetracht der zentralen Bedeutung, die gerichtliche Urteile für die Etablierung des "geltenden Rechts" haben, aus der vorgenannten Einsicht die Konsequenz gezogen hat, den Sollenscharakter des Rechts überhaupt zu leugnen 91 . Dagegen stellt die Überzeugung von der Gesolltheit des Rechts einen der Eckpfeiler von Kelsens Rechtsbegriff dar 9 2 . Es ist daher nicht überraschend, daß Kelsen der soeben zitierten Feststellung ausdrücklich die Versicherung hinzufügt, seine zur Frage der Geltungsbegründung erzielten Ergebnisse rechtfertigten die vorgenannte regelskeptische Ansicht nicht 9 3 . Indes versäumt Kelsen es an dieser Stelle nicht nur, seine letztgenannte Behauptung zu begründen; vielmehr geht die "Entnormativierung" des Rechts, die sein formal-geltungsbezogener Rechtmäßigkeitsbegriff zur Folge hat, sogar noch weiter als von ihm realisiert: Denn nicht nur die Bestimmungen des materiellen Rechts , sondern auch die Kompetenzvorschriften geraten in den 8 7

RR 274.

8 8

H. Dreier , Hans Kelsen 151.

8 9

Recht im Lichte seiner Anwendung 1178.

9 0

RR 274.

9 1

Siehe oben 1. Kap. Β 11 b (1).

9 2

Siehe oben 1. Kap. Β 11 a.

9 3

RR 274.

Β. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte

123

Strudel des in der Konsequenz der Reinen Rechtslehre liegenden Dezisionismus: Richter in einem bestimmten Fall ist, wer die von ihm beanspruchte Kompetenz tatsächlich durchzusetzen vermag, wessen Entscheidungen also tatsächlich gehorcht wird. In einem solchen "Recht des Stärkeren" kommt dem Element des Sollens, der Normativität, weder ordnende noch sonstwie limitierende mehr zu. Der durch die Stufenbaukonzeption bezweckte Rationalitätsgewinn wird hinfällig; Kelsens "reiner" Normativismus hebt sich selber auf. In seinem Spätwerk, der "Allgemeinen Theorie der Normen", ergänzt Kelsen seine Ausführungen zur vorliegenden Problematik. Dort argumentiert er, daß wenn generelle Rechtsnormen gelten, deren Sinn ist, daß sie von den Gerichten angewendet werden sollen, die Gerichte diese Rechtsnormen tatsächlich in der Regel anwenden, und daß richterliche Entscheidungen, die diesen generellen Normen nicht entsprechen, nur ausnahmsweise in Geltung treten 94 .

Kelsen beruft sich also auf zweierlei: Die Funktion, der "Sinn" genereller Rechtsnormen bestehe darin, den Gerichten als Maßstäbe "richtigen" Entscheidens zu dienen; und das tatsächliche - normkonforme - Urteilsverhalten der Gerichte beweise, daß die generellen Normen diese verhaltenslenkende Funktion im großen und ganzen erfolgreich ausübten. Er hat diesen Gedanken - Recht als "Standard" - allerdings nicht weiter vertieft; für eine Sichtweise, die das Recht als Komplex inhaltlicher Bedeutungsgehalte auffaßt, ist in seiner Lehre angesichts des sie kennzeichnenden exzessiven methodischen Formalismus auch überhaupt kein Raum. Die soeben erwähnten Ausführungen in der "Allgemeinen Theorie der Normen" sind insofern mit den übrigen Teilen der Reinen Rechtslehre konstruktiv unverbunden. Daran bestätigt sich, was schon bei der Erörterung der Interpretations- und Auslegungslehre Kelsens herausgestellt wurde 95 : Innerhalb des von ihm gesetzten methodischen Rahmens ist eine Begründung der normativen Struktur des Rechts nicht zu leisten. Will sie ihre rechtsbegrifflichen Grundannahmen begründen, muß die Reine Rechtslehre auf inhaltlich-bedeutungsbezogene Rechtstheorien Rückgriff nehmen, was bedeutet, daß sie sich zu bestimmten inhaltlichen Wertungen, einem bestimmten "Vorverständnis" bekennen muß. Um als Rechtstheorie begründbar zu werden, muß sie also opfern oder zumindest modifizieren, was sie als ihr Eigenstes ansieht: ihr Verständnis von Methodenreinheit.

9 4

ATN 200.

9 5

Dazu oben 1. Kap. Β 14 a.

Wirkung

124

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

II. Die Position Harts Hart knüpft dort an, wo Kelsen endet: Das von diesem nur skizzenhaft ausgeführte Argument - daß nämlich der Regelskeptizismus den auf Verhaltenslenkung gerichteten Sinn von Rechtsvorschriften nicht erfasse - bildet den Mittelpunkt von Harts Darlegungen. Hart unterstreicht zum einen, daß die Endgültigkeit (finality) einer gerichtlichen Entscheidung strikt von ihrer Unfehlbarkeit (infallibility) zu unterscheiden sei; zum anderen nimmt er, anders als Kelsen, an, daß dem Anspruch des materiellen Rechts, einen verbindlichen Standard für das Verhalten der Rechtsgenossen und insbesondere die Entscheidungstätigkeit der Gerichte darzustellen, eine generelle Rechtspflicht der Richter zu materiell rechtmäßigen Entscheidungen entspreche. Er erläutert die Problematik zunächst anhand einer Spielanalogie: Solange es bei einem Spiel keinen Schiedsrichter gebe 96 , wendeten die Spieler selbst die Spielregeln an, und sofern sie sich ehrlich verhielten, stimmten sie für gewöhnlich in ihren Urteilen überein. Für diese Urteile könnten sie mangels entsprechender (Sekundär-)Regeln freilich keinerlei Verbindlichkeit in Anspruch nehmen. Dies werde jedoch anders, sobald sie sich eines Schiedsrichters bedienten. Der bisherige, allein aus Primärregeln bestehende Regelkorpus werde dann durch die Sekundärregel ergänzt, daß innerhalb des Spiels ausschließlich den schiedsrichterlichen Entscheidungen autoritative Kraft zukomme. Diese Sekundärregel ändere indes an den Spielregeln als solchen nichts: Sie blieben, wie sie vorher gewesen wären, und die Pflicht des Schiedsrichters bestehe darin, sie so gut anzuwenden, wie er könne. Diese Situation unterscheide sich grundlegend von einem Spiel, bei dem die Spielregel "Schiedsrichters Belieben" heiße, bei dem der Schiedsrichter also, ohne durch irgendwelche ihm vorgegebenen V o r schriften gebunden zu sein, so entscheiden dürfe, wie es ihm in den Sinn komme 97 . Daß der Schiedsrichter regelwidrig entscheiden kann, heißt also - dies ist die Quintessenz von Harts Argument - keineswegs, daß er so handeln darf. Im Falle einer Rechtsordnung sind nach Harts Lehre die Kriterien, die bestimmen, welche Regeln als geltende Rechtsvorschriften anzusehen sind, in der Erkenntnisregel enthalten98. Diese Regel legt den materiellen Rechtmäßigkeitsmaßstab für gerichtliche Entscheidungen fest 99 und begründet eine Pflicht der Richter, Rechtsstreitigkeiten dem materiellen Recht gemäß zu 9 6

Dies ist vergleichbar dem Zustand einer Gesellschaft vor der Einführung von Sekundärregeln (zu diesen siehe oben 2. Kap. CI). 9 7

CL 138 f.

QO y o 9 9

Siehe oben 2. Kap. Β II 1 und nachfolgend 4. Kap. A II. CL 112,141 f.

Β. Die Behandlung inhaltlich rechtswidriger, aber rechtsgültiger Rechtsakte

125

entscheiden 100 . Daß - ebenso wie beim Vorhandensein der Institution eines Schiedsrichters - eine weitere Sekundärregel, die Entscheidungsregel, den Richtern die RechXsmacht verleiht, auch Fehlurteile mit autoritativer Wirkung fällen zu können 1 0 1 , läßt nach Harts Verständnis ihre Rech\spflicht f solche Urteile zu unterlassen, unberührt. Die regelskeptizistische These, daß Recht dasjenige sei, was die Richter entschieden, verwischt nach Harts Ansicht diesen wesentlichen Unterschied zwischen Können und Dürfen, zwischen Rtch\smacht und Rechtspflicht 1(y 2. Indem Hart nicht, wie Kelsen, das Recht primär unter dem Blickwinkel geltungsbegründender autoritativer Entscheidungstätigkeit analysiert, sondern stattdessen den Anspruch des Rechts herausstellt, einen indispensiblen Maßstab für jedwede rechtlich relevante Entscheidung zu verkörpern, bringt er seine von der hier sogenannten "Normalitätsperspektive des Rechts" 103 ausgehende Theorie zu einem konsequenten Abschluß: Weil das Recht von seinem Inhalt her für gewöhnliche Rechtsgenossen und Rechtsanwender grundsätzlich gleichermaßen verbindlich ist, vermag es jene umfassende Lenkungs- und Kontrollfunktion auszuüben, deren Betonung für die "Normalitätsperspektive" kennzeichnend und die in Kelsens Geltungsanalyse zu kurz gekommen ist. Auch in diesem Punkt ist es somit ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, in dem die beiden Theorien von ihrer Anlage und Zielrichtung her zueinander stehen. I I I . Rechtspflicht der Amtsträger zu rechtmäßiger Entscheidung?

Noch in einer weiteren Hinsicht besteht zwischen den Darlegungen Kelsens und Harts ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung; gemeint ist die Frage, i n wiefern eine Rechtspflicht der Amtsträger besteht, die ihnen vorgelegten Fälle inhaltlich rechtmäßig zu entscheiden. In dieser Frage besteht zwischen den beiden Autoren auf den ersten Blick ein erheblicher Meinungsunterschied: Während Hart generell eine derartige Pflicht annimmt, erkennt Kelsen ihr Bestehen nur in Ausnahmefällen an - nämlich wenn für den Fall eines bestimmten Verhaltens des Amtsträgers die Verhängung einer Sanktion durch eine andere Rechtsinstanz rechtlich gesollt ist. Daß indes die Unterschiede zwischen den Positionen Kelsens und Harts in dieser Frage tatsächlich weitaus geringer sind, als es der erste Eindruck vermuten läßt, wird deutlich, wenn man sich fragt, woraus sich nach Hart der Rechtspflichtcharakter der Erkenntnisregel ergibt. Entscheidend sind seiner Ansicht 1 0 0

Siehe oben 2. Kap. Β II 1.

1 0 1

Siehe CL 139: "It is impossible to provide by rule for the correction of the breach of every rule".

1 0 2

Siehe CL 139 f.; 142.

1 0 3

Dazu siehe oben 1. Kap. C II; 2. Kap. A II 2 b.

126

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

nach drei Faktoren: Die Amtsträger müssen die Erkenntnisrege] äußerlich anwenden, sie innerlich als gesollt anerkennen und mit starkem Konformitätsdruck auf Abweichungen reagieren 104 . Die Überzeugung der (Mehrzahl der) Amtsträger, durch die Erkenntnisregel gebunden zu sein - Ingram 1 0 5 spricht von "shared commitments ... regulated by internalized norms of behaviour" - ist indes weniger ein spezifisch rechtliches als vielmehr ein sozialpsychologisches Phänomen, das einen gelungenen Sozialisationsprozeß signalisiert. Auch die kritischen Reaktionen, denen "Abweichler" unter den Amtsträgern ausgesetzt sind, sind nur zu einem geringen Teil rechtlich institutionalisiert - nur in bezug auf diesen Teil würde Kelsen von einer Rechtspflicht sprechen; größtenteils äußert sich die Kritik in außerrechtlichen Formen und vielfältigen Arten sozialen Anpassungsdrucks. Allgemein läßt sich somit sagen, daß die Faktoren, die es nach Hart ermöglichen, vom Pflichtcharakter der Erkenntnisregel zu sprechen, ihre Wurzeln nicht in der - nach Hart ebenso wie nach Kelsen durch Institutionalisierung gekennzeichneten - inneren Struktur der Rechtsordnung 106 , sondern in einem bestimmten Berufsverständnis - pointierter gesagt: in der Wirksamkeit einer bestimmten Standesideologie - innerhalb der Amtsträgerschaft haben 107 . Der Aussage, daß zumindest innerhalb einer "gesunden" Rechtsordnung auch dort, wo rechtliche Sanktionsmechanismen nicht zur Verfügung stehen, ein psychologischer, sozialer und politischer Druck auf die Amtsträger besteht, die ihnen vorgelegten Fälle inhaltlich rechtmäßig zu entscheiden, steht freilich auch in Kelsens Ausführungen nicht das Geringste entgegen 108 . Wenn Kelsen außerrechtlichen, "sozialen" Befolgungsdruck nicht als taugliche Sanktion zur Begründung einer Rechtspflicht ansieht, so kommt darin seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Analyse rechtlicher Begriffe nicht mit Elementen einer 1 0 4

Dazu oben 2. Kap. Β II 1.

1 0 5

Practices 198.

1 0 6

Dazu siehe oben 2. Kap. A I 3; III 1 (für Kelsen)·, C 1 2 c (für Hart).

1 0 7

Siehe Ingram , Practices 178: "... what judges do is not just a collection of individual actions but imbued with the quality of a social practice that is constrained as other social practices are".

10R Siehe Harris , Normative Consistency 216 sowie dens., Law and Legal Science 104: "Even if a provision has no bearing on the law's coercive function, it might well be relevant to its social function of enunciating standards". - In diesem Zusammenhang ist etwa auf die Ministerverantwortlichkeit in der deutschen konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts hinzuweisen: Die Minister waren rechtlich zwar vom Monarchen und nicht von der Volksvertretung abhängig, aber sie waren letzterer verantwortlich. Trotz des Fehlens effektiver rechtlicher Sanktionen hat, wie Böckenförde, Monarchie 287 darlegt, allein diese Verantwortlichkeit "im Ergebnis doch der parlamentarischen Kontrolle und Mitsprache ein weites Feld eröffnet". Verallgemeinernd stellt Carl Schmitt, Staatsgefüge 28 fest: "Die verfassungsmäßige Feststellung der Verantwortlichkeit ist entscheidend und als bloßer Grundsatz auf die Dauer auch politisch stark genug, um sich irgendwie das Verfahren ihrer Verantwortung zu schaffen".

C. Die Kontinuität einer Rechtsordnung

127

"descriptive sociology" vermischt werden solle. Daß für die von ihm geforderte Methodenreinheit eine Reihe guter Gründe sprechen, ist bereits gezeigt worden 1 0 9 und wird im nächsten Kapitel noch weiter vertieft werden 1 1 0 . Ganz unabhängig von dieser methodischen Frage läßt sich aber feststellen, daß die terminologischen Differenzen zwischen den beiden Autoren im vorliegenden Punkt ihre wesentliche Ursache darin haben, daß sie unterschiedliche Arten der Bindung und Einbindung der Amtsträger thematisieren: Kelsen macht deutlich, daß die innerrechtlichen Reaktions- und Sanktionsmöglichkeiten umfangmäßig beschränkt sind und daß deshalb häufig Rechtsorgane mit rechtlichen Mitteln nicht mehr zur Ordnung gerufen werden können. Davon unberührt bleibt der von Hart in den Vordergrund gestellte Umstand, daß Organwalter Menschen sind, die vielfältige Sozialisationsprozesse durchlaufen haben und die in soziale Gruppen eingebunden sind, die Erwartungen und Anforderungen an sie stellen und diese mit einer Reihe von Druckmitteln durchzusetzen versuchen. Kelsens und Harts Ausführungen sind also thematisch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Macht man sich dies bewußt, so wird deutlich, daß die Antworten, die die beiden Autoren auf die Frage nach dem Bestehen einer Rechtspflicht der Amtsträger zu rechtmäßiger Entscheidung geben, nicht, wie durch den terminologischen Unterschied indiziert wird, miteinander unvereinbar sind, sondern daß sie einander ergänzen. C. Die Kontinuität einer Rechtsordnung Sowohl Kelsen als auch Hart begreifen eine Rechtsordnung als ein in sich geschlossenes normatives System, in dem verschiedenartige Rechtsakte zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefaßt werden. Vorstehend wurde gezeigt, wie der Gedanke von der Einheit der Rechtsordnung sich in Kelsens und Harts V o r stellungen vom rechtlichen Stufenbau niederschlägt. Eine arbeitsteilig organisierte, hierarchisch strukturierte und in einem dauernden Prozeß der Weiterentwicklung befindliche positive Rechtsordnung verdankt danach ihre Einheit als Normensystem dem erfolgreichen Wirken ihrer Selbsterzeugungsmechanismen: Die dem Recht immanente Dynamik wird kanalisiert und institutionalisiert zu einem Prozeß der Selbstentfaltung, der, wie Kelsen es nennt 1 1 1 : "Konkretisierung und Individualisierung" vorgegebenen Rechtsmaterials. Die Existenz einer Vielzahl von aufeinander bezogenen Normsetzungsinstanzen innerhalb einer Rechtsordnung stellt jedoch nur eine der Problemebenen dar, mit denen die normativistische Vorstellung, daß ein Rechtssystem eine in

1 0 9

Siehe oben 2. Kap. A III 2 b; C I I 3.

1 1 0

Siehe unten 4. Kap. C I - III.

1 1 1

Siehe Kelsen, AS 234 sowie oben A 1 1 b.

128

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

sich geschlossene Einheit bilde, sich konfrontiert sieht. Angesichts der Wandlungen, denen das in einer Gesellschaft gültige Recht im Laufe der Zeit unterliegen kann - beispielhaft seien insofern Revolutionen oder Ereignisse wie der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik genannt - , stellt es eine weitere A u f gabe für die normativistisch-positivistischen Konzeptionen in der Rechtstheorie dar, die Bedingungen zu formulieren, die erfüllt sein müssen, damit von der Fortexistenz einer einheitlichen Rechtsordnung gesprochen werden kann, und Kriterien für die Bestimmung des Zeitpunkts zu entwickeln, an dem die bisherige Rechtsordnung endet und eine neue an ihre Stelle tritt. Kelsens und Harts Antworten auf diese Frage stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Darstellung. I. Die Position Kelsens und ihre Problematik

1. Geltungskontinuität

als Einheitskriterium

Kelsen vertritt die Ansicht, daß ungeachtet aller inhaltlichen Veränderungen solange ein und dieselbe Rechtsordnung vorliegt, wie diese Veränderungen im Einklang mit den bisherigen Normen der Rechtsordnung erfolgen, wie also ein durchgehender Strang von Geltungsbeziehungen zwischen alten und neuen Normen existiert. Als "Revolution im weiteren, auch den Staatsstreich umfassenden Sinn des Wortes" bezeichnet er daher jede nicht legitime, das heißt: nicht gemäß den Bestimmungen der Verfassung erfolgte Änderung dieser Verfassung oder ihre Ersetzung durch eine andere 112 .

Kelsen baut diese Ausführungen in seine Grundnormtheorie ein. So wie die Grundnorm in Kelsens Stufenbaulehre den obersten Geltungsgrund der gesamten Normenpyramide darstellt und auf diese Weise deren systematische Einheit gewährleistet, ist sie auch bei einer Betrachtung über die Zeit hinweg Schlußpunkt und Einheitskonstituante sämtlicher durch Geltungs- und Ableitungsbeziehungen miteinander verbundenen Verfassungsnormen; sie ist die erste und ursprüngliche Ermächtigungsnorm, bis zu der alle Geltungsstränge zurückverfolgt werden können. Entsprechend formuliert Kelsen als Inhalt der Grundnorm: Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historisch erste Staatsverfassung und die ihr gemäß gesetzten Normen statuieren 113 ,

wobei er unter der "historisch ersten Staatsverfassung" eine Verfassung versteht,

1 1 2

RR 213.

1 1 3

RR 203 f.

C. Die Kontinuität einer Rechtsordnung

129

die nicht im Wege einer verfassungsmäßigen Änderung einer vorangegangenen Staatsverfassung zustande gekommen i s t 1 1 4 ,

die also einen Bruch mit den vorhergehenden Geltungs- und Ableitungsbeziehungen darstellt. Sobald eine solche Verfassung wirksam wird, ändert sich das Bezugsobjekt der Grundnorm 115 : Nicht mehr die "Urverfassung" des bisherigen Geltungsstranges, sondern die neu etablierte Verfassung stellt von nun an den positiv-rechtlichen Ausgangs- und Bemessungspunkt aller normsetzenden Tätigkeit innerhalb einer Rechtsordnung dar. Um festzustellen, wann nach Kelsen eine Änderung der Verfassung ihren Bestimmungen gemäß erfolgte und wann nicht, muß seine bereits oben 1 1 6 behandelte Lehre von der Alternativermächtigung in die Überlegungen einbezogen werden. Bewogen durch das in seiner Konzeption angelegte Zusammenfallen von Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit suchte Kelsen die Problematik (herkömmlich so genannter) rechtswidriger, aber dennoch rechtsgültiger Staatsakte dadurch zu lösen, daß er annahm, die Ermächtigungsnorm lasse den zur Normerzeugung befugten Organen die Wahl, Rechtsakte entweder auf die von der Ermächtigungsnorm direkt bestimmte Weise und mit einem von ihr vorgesehenen Inhalt oder sie auf eine andere, vom Normerzeugungsorgan selbst zu bestimmenden Weise und mit einem abweichenden Inhalt zu erzeugen, wobei diese Wahlmöglichkeit entweder eine unbedingte sei - nämlich dann, wenn es innerhalb der Rechtsordnung keine Kontrollorgane mehr gebe - oder aber eine bedingte - bedingt durch die Nachprüfungs- und Aufhebungskompetenz eines anderen Organs. Diesen Gedanken wendet Kelsen über den bislang in erster Linie behandelten Bereich gerichtlicher Entscheidungen auch auf das Verhältnis zwischen der bestehenden Verfassung und dem neu zu schaffenden (einfachen oder Verfassungs)Gesetz an: Die Verfassung enthält eine direkte und eine indirekte Regelung der Gesetzgebung; und das Gesetzgebungsorgan hat die Wahl zwischen beiden 1 1 7 .

1 1 4

RR 203.

1 1 5

Nicht dagegen die Grundnorm selbst, wie dies einige Formulierungen Kelsens suggerieren (insbesondere RR 214: "Die Änderung der Grundnorm folgt der Änderung der als die Erzeugung und Anwendung gültiger Rechtsnormen zu deutenden Tatbestände"; mißverständlich auch Kühne, Grundnorm 198 f., der die Grundnorm als "inhaltliche(n) Geltungsgrund der Rechtsordnung" charakterisiert). Aufgrund ihrer formalen Allgemeinheit begründet die Grundnorm die Geltung der jeweils wirksamen Verfassung (so auch Bydlinski, Methodenlehre 203; Harris, Law and Legal Science 203). - Zum Status der Grundnorm in einzelnen siehe unten 4. Kap. A I . 1 1 6

Siehe Β I.

1 1 7

RR 277.

9 Pawlik

130

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Wenn die Verfassung somit den Erlaß sowohl "rechtmäßiger" wie auch "rechtswidriger" Gesetze ermächtigt - bei Fehlen einer zur Kontrolle befugten Verfassungsgerichtsbarkeit sogar im Sinne gleichberechtigter Alternativen - , so stellt sich die Frage, ob und wann es dann überhaupt noch eine illegitime, nicht durch die Verfassung ermächtigte Verfassungsänderung geben kann. Kelsen bejaht dies und nennt als Hauptfall einer "revolutionäre(n) Totaländerung ... der Verfassung" 118 den nicht von der alten Verfassung gedeckten Austausch eines obersten Legislativorgans gegen ein anderes 119 : Auch wenn in manchen Rechtssystemen die übrigen staatlichen Instanzen nicht zur Prüfung von Parlamentsgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit befugt seien, bedeute dies doch nicht, daß sie gänzlich ohne Prüfungsbefugnisse seien. Sie könnten nicht verpflichtet sein, alles zu vollziehen, was sich subjektiv als Gesetz ausgebe, sondern müßten stets untersuchen, ob das vermeintliche Gesetz überhaupt von dem durch die Verfassung zur Gesetzgebung berufenen Organ beschlossen worden sei 1 2 0 . Werde ein "Gesetz" nicht von dem nach der bisherigen Verfassung dafür zuständigen Organ, sondern von einem Usurpator erlassen, so komme es darauf an, ob die Amtsträger es ihrem amtlichen Verhalten zugrundelegten, es durchsetzten und ihm auf diese Weise zu Wirksamkeit verhülfen oder nicht 1 2 1 . Wenn die Dekrete des Usurpators als Gesetze behandelt und durchgesetzt werden, so impliziert dies nach Kelsen einen Wechsel des obersten Gesetzgebungsorgans und damit auch der dieses Gesetzgebungsorgan einsetzenden Verfassung; denn die nunmehr wirksame und daher nach Kelsens Grundnormlehre als gültig zu deutende Verfassung 122 ist nicht mehr die alte, die die früher sozial maßgebliche Institution als oberstes Legislativorgan einsetzt, sondern eine neue, die den Usurpator als höchste Gesetzgebungsinstanz installiert. Dieser Wechsel ist nicht von der alten Verfassung ermächtigt worden; er stellt also einen revolutionären Bruch mit ihr dar. Ge/fwwgskontinuität bedeutet somit nach Kelsen wesentlich Orga/zkontinuität; ein Bruch mit der alten und die Begründung einer neuen Rechtsordnung liegt deshalb, allgemein gesprochen, dann vor, wenn die höchsten "Gesetzgebungs-, Regierungs- (Verwaltungs-), Gerichtsorgane" 123 einer Rechtsordnung durch andere in einer Weise ersetzt werden, die von der bisherigen Verfassung nicht vorgesehen war. 1 1 8

RR 280.

1 1 9

RR 279.

1 2 0

RR 276.

1 2 1

RR 277. - Zu Kelsens Wirksamkeitsbegriff siehe unten 4. Kap. Β I.

199

Zum Zusammenhang von Geltung und Wirksamkeit in der Grundnorm siehe unten 4. Kap. Β II. 1 2 3

RR 280.

C. Die Kontinuität einer Rechtsordnung

131

2. Einwände gegen die Konzeption Kelsens Diese Konzeption Kelsens, die die Kontinuität einer Rechtsordnung mit der Kontinuität einer Kette von Ableitungs- und Geltungsbeziehungen gleichsetzt und die ferner infolge ihrer Verbindung mit der Lehre von der Alternativermächtigung eine Unterbrechung des Geltungszusammenhanges im Sinne einer revolutionären Totaländerung der Verfassung nur in Fällen der Organdiskontinuität annimmt, vermag zwar einen großen Teil der anstehenden Fälle sachgemäß zu behandeln - nämlich diejenigen, die gewöhnlich mit den Begriffen "Revolution" und "Staatsstreich" umschrieben werden. Solche gewaltsamen Brüche sind jedoch nicht der einzige Weg, auf dem die bisher in einer Gesellschaft maßgebliche Rechtsordnung zu ihrem Ende kommen und eine neue an ihre Stelle treten kann. Es gibt vielmehr auch Fälle, in denen sich der Austausch einer Rechtsordnung gegen eine andere selbst in rechtlich geregelten Formen vollzieht. Ein insbesondere in der englischsprachigen Literatur wiederholt behandeltes Beispiel für diese Fallgruppe ist die Art und Weise, in der eine Reihe ehemaliger britischer Kolonien 1 2 4 ihre Unabhängigkeit erlangt haben: ihrer verfassungsgebenden Versammlung wurde oberste Legislativgewalt durch ein entsprechendes Gesetz des britischen Parlaments übertragen: "No breach or violation of law occurred" 125 , es gab keine Unterbrechung des Stranges der normativen Ableitungsbeziehungen. Dennoch kann sich etwa der britische Staatsbürger, dem nach britischem Recht eine bestimmte Rechtsposition in der früheren Kolonie zusteht, nicht mehr auf diese Rechtsgrundlage berufen, sondern seine nunmehrige Stellung richtet sich ausschließlich nach der nationalen Rechtsordnung der früheren Kolonie. Derartige Fälle vermag die Kelsen'sche Theorie nicht zu erklären 126 . Der Lösungsansatz Kelsens in der Frage nach der Kontinuität einer Rechtsordnung wird entscheidend durch seine methodischen Grundannahmen determiniert: Daß er sich auf eine Analyse der formalen Geltungsbeziehungen z w i schen Rechtsnormen verschiedener Zeit- und Hierarchiestufen beschränkt, ist Ausdruck seines spezifischen Verständnisses von Methodenreinheit, das anders geartete Informationen aus dem Instrumentarium einer positivistisch-normativistischen Rechtstheorie verbannt 127 . Die Fälle des rechtlich geordneten Übergangs von einer Rechtsordnung zu einer anderen zeigen jedoch, wie H a r t 1 2 8 herausstellt, daß Fragen wie die nach den Bedingungen der Kontinuität von 1 2 4

FinniSy Revolutions 52 nennt als Beispiel Pakistan.

1 2 5

Finnis, Revolutions 52.

1 2 6

Dias, Legal Politics 253; FinniSy Revolutions 52; Mäher, Custom 169; Raz, Basic Norm 127 f.; ders., Identity 99; aus der deutschsprachigen Literatur: Eckhoff/Sundbyy Rechtssysteme 189. 1 2 7

Dazu siehe oben 1. Kap. C I .

1 2 8

Unity of Law 313.

132

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Rechtsordnungen nicht angemessen behandelt werden können, wenn nur die formalen Strukturen, die normativen Innenbeziehungen innerhalb einer durch Ableitungszusammenhänge miteinander verknüpften Abfolge von Normen der rechtstheoretischen Analyse zugrundegelegt werden. Erforderlich ist nach H a r t 1 2 9 vielmehr auch, daneben den Inhalt der Normen sowie die Art und Weise zu berücksichtigen, wie sie von Bevölkerung und Amtsträgern verstanden und gebraucht werden. So ergab sich etwa in den soeben erwähnten Fällen des U n abhängigwerdens bisheriger Kolonien aus dem Text der vom englischen Parlament erlassenen Gesetze, daß dieses auf seine legislative Oberhoheit endgültig und uneingeschränkt verzichten und die rechtliche Eigenständigkeit der neu entstehenden Staaten respektieren wollte. In diesem Sinne wurden die Gesetze auch allgemein, insbesondere seitens der Gerichte der bisherigen Kolonie, verstanden und ausgelegt. Erst diese Informationen erlauben es, trotz der ungebrochenen normativen Ableitungsbeziehungen das Entstehen eines neuen Staates rechtstheoretisch zu begründen. Kelsens Unvermögen, mit Fällen wie den soeben geschilderten sachgemäß umzugeben, demonstriert somit, daß sein Reinheitspostulat über sein Versagen bei der Bestimmung des Rechtspflichtbegriffs hinaus 130 auch für die hiesige Problematik, die durch eine komplexe Wechselbeziehung rechtlicher Geltungszusammenhänge mit Fragen des tatsächlichen Verhaltens der Betroffenen gekennzeichnet ist, zu eng ist. II. Die Ansicht Harts und ihre Schwierigkeiten

Wie seine im vorigen Abschnitt dargestellte Kritik an Kelsens Lösungsversuch erwarten läßt, unterscheidet sich Harts Behandlung der Kontinuitätsproblematik erheblich von dessen Ansatz. Hart fragt nicht, ob die Veränderungen auf der Verfassungsebene im Einklang mit oder im Widerspruch zu der bislang gültigen Verfassung erfolgten, sondern er geht von einem Vergleich der Inhalte der zu verschiedenen Zeitpunkten in einer Rechtsgemeinschaft tatsächlich maßgeblichen Erkenntnisregeln aus. Nicht der Prozeß der Veränderung ist es also, was für Hart zählt, sondern das Resultat dieser Veränderung: die in einer Rechtsordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich anerkannten und angewendeten Rechtsgeltungskriterien 131. Mit diesem Ansatz meint Hart auch die soeben erörterten "Koloniefälle" sachgemäß lösen zu können: Die Entlassung der früheren Kolonie in die Unabhängigkeit bedeute eine Veränderung

1 2 9

Unity of Law 313; zustimmend Raz, Baisc Norm 128. - Zu dieser Frage auch Raz, Identity 100.

1 3 0

Dazu siehe oben 2. Kap. A I I I a (2).

Hl All.

X J ±

Siehe CL 116-118. - Zu Harts Lehre von der Erkenntnisregel im einzelnen siehe unten 4. Kap.

C. Die Kontinuität einer Rechtsordnung

133

der für sie maßgeblichen Erkenntnisregel und deshalb das Ende der bislang in ihr geltenden und den Beginn einer neuen Rechtsordnung: The legal system in the former colony has now a "local root" in that the rule of recognition specifying the ultimate criteria of legal validity no longer refers to enactments of a legislature of another territory. The new rule rests simply on the fact that it is accepted and used as such a rule in the judicial and other official operations of a local system whose rules are generally obeyed 1 3 2 .

Diese Antwort ist freilich noch in einem wesentlichen Punkt unvollständig: Um die Frage nach Kontinuität bzw. Diskontinuität einer Rechtsordnung beantworten zu können, ist es nicht damit getan, mehrere unterschiedliche Erkenntnisregeln einfach nebeneinanderzustellen; es bedarf vielmehr eines "tertium comparationis", eines Relevanzkriteriums, aufgrund dessen sich entscheiden läßt, ob ein Wandel in der Erkenntnisregel so erheblich ist, daß er einen Kontinuitätsbruch bedeutet, oder nicht 1 3 3 . Die Überzeugungskraft von Harts Ansatz hängt entscheidend davon ab, ob es ihm gelingt, ein entsprechendes Kriterium zu formulieren. Ausdrücklich behandelt er diese Frage nicht 1 3 4 ; seine Ausführungen 1 3 5 - insbesondere die soeben zitierten Textstelle - legen jedoch die Deutung nahe, daß er zur Feststellung eines Kontinuitätsbruchs einen Wechsel der obersten Legislativinstanz einer Rechtsgemeinschaft für entscheidend hält. Insofern würde er sich der Position Kelsens annähern, der, wie vorstehend dargelegt, der Organkontinuität bzw. -diskontinuität ebenfalls die zentrale Rolle zuspricht; allerdings bliebe auch dann der eingangs erwähnte Unterschied zwischen ihnen bestehen, daß Kelsen die Kontinuität bzw. Diskontinuität als Ergebnis einer Analyse normativer Geltungsbeziehungen betrachtet, während Hart auf eine solche Analyse verzichtet und sich darauf beschränkt, den Inhalt der zu verschiedenen Zeitpunkten für die Entscheidungspraxis des Rechtsstabes tatsächlich maßgeblichen Erkenntnisregeln empirisch festzustellen. Harts Versuch, die Kontinuitätsproblematik durch punktuelle Vergleiche zu lösen, wirft erhebliche Probleme auf. Wenn nämlich Kelsen für manche Fallgruppe den Rahmen der Kontinuität zu weit zieht - Beispiel dafür sind die oben behandelten Fälle der rechtlich geregelten Neubegründung einer Rechtsordnung (Unabhängigwerden einer Kolonie) - , greift Hart in anderen Zusammenhängen zu kurz; so ist es ohne weiteres vorstellbar, daß das bisherige oberste Gesetzgebungsorgan - etwa ein absoluter Monarch - diese Befugnis auf eine andere 1 3 2

CL 117.

I'll

So auch Finnis, Revolutions 68; Raz, Identity 98. - Wenn AIchourrón/Bulygin , Normative Systems 89 Α. 1 über Hart schreiben: "... his legal system does not appear to be a momentary one, since its identity is determined, mainly, by the identity of the rule of recognition", so übergehen sie damit das eigentliche Problem: die Frage, wonach sich Identität oder Nichtidentität bemißt. 1 3 4

Raz, Identity 98.

1 3 5

CL 117.

134

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Institution - etwa ein Parlament - überträgt, ohne daß dadurch die Kontinuität der Rechtsordnung in Frage gestellt w i r d 1 3 6 . Die Möglichkeit derartiger Fälle zeigt, daß auch Hart die Kontinuitätsproblematik nicht vollständig befriedigend gelöst hat. Sie demonstriert, daß der Austausch eines obersten Gesetzgebungsorgans gegen ein anderes in der Erkenntnisregel lediglich ein Indiz, eine widerlegliche Vermutung für den Übergang von einer Rechtsordnung zu einer anderen darstellt; ob sich im konkreten Fall die Vermutung durchsetzt oder ob ein Widerlegungsgrund eingreift, läßt sich ohne eine Analyse der normativen Innenbeziehungen nicht entscheiden. Daß sowohl Kelsens als auch Harts Erklärungsversuche partiell unbefriedigend sind, hat also ein und dieselbe Ursache: Beide Autoren setzen einen Teilaspekt - Kontinuität der Geltungsbeziehungen oder Anerkennung einer bestimmten Erkenntnisregel - mit der Lösung des Problems als Ganzem gleich und scheitern daher in den Fällen, in denen nicht der eigene Erklärungsgesichtspunkt, sondern der des anderen entscheidend ist. Diese Einsicht ist keineswegs nur negativ, sondern eröffnet zugleich die Möglichkeit einer verbesserten Sichtweise 1 3 7 . Danach ist ein Bruch innerhalb der Kette der Geltungsbeziehungen, wie ihn Kelsen thematisiert, hinreichend für die Feststellung, daß sich die Rechtsordnung geändert habe. Diese Aussage ist jedoch nicht umkehrbar: Selbst wenn es - wie in den "Koloniefällen" - einen durchgehenden Strang von Ableitungs- und Geltungsbeziehungen gibt, kann sich der Wechsel der Rechtsordnungen aus anderen Gründen ergeben: nämlich indem sich aus Inhalt und Kontext einer bestimmten Rechtsordnung ergibt, daß eine entsprechende Auslegung der Intention und dem allgemeinen, insbesondere dem richterlichen Verständnis innerhalb dieser Ordnung entspricht. In dieser Konzeption werden Kelsens und Harts Erkenntnisse miteinander verbunden und, in der von Hegel herausgestellten Doppelbedeutung des Wortes, "aufgehoben". Sie ist ein damit weiterer Beweis für die Fruchtbarkeit des Versuchs, Kelsens und Harts Rechtslehren nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie als einander ergänzende Entwürfe zu begreifen. D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander Bislang wurde in diesem Kapitel Kelsens und Harts Verständnis von einer nationalen positiven Rechtsordnung als einer sich aus sich selbst heraus erzeugenden Struktur von Ableitungsbeziehungen erörtert und wurden die sich daraus 1 ίή

l J O Siehe in diesem Zusammenhang auch den Ubergang Deutschlands von einer konstitutionellen zu einer parlamentarischen Monarchie im Oktober 1918 (dazu Huber y Verfassungsgeschichte 560-583; 588-593; Böckenförde y Zusammenbruch 315 f.): Der revolutionäre Bruch in Deutschland hat sich jedenfalls noch nicht zu diesem Zeitpunkt vollzogen. 1 3 7 Dazu auch Raz, Identity 100.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

135

ergebenden Konsequenzen und Probleme diskutiert. Neben dem positiven Recht eines einzelnen Staates existieren jedoch noch andere normative Ordnungen, die ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, soziale Verhaltensmaßstäbe darzustellen, und deren Anforderungen mit denen des innerstaatlichen positiven Rechts kollidieren können. Praktisch relevant sind insofern zum einen die internationale Rechtsordnung des Völkerrechts und zum anderen moralische Konzeptionen. In rechts- bzw. allgemein normentheoretischer Hinsicht stellt sich die Frage nach dem geltungsmäßigen Verhältnis dieser verschiedenen normativen Ordnungen zueinander. Die Positionen, die Kelsen und Hart in dieser Frage einnehmen, werden in den nachfolgenden Ausführungen dargestellt und kritisch beurteilt. Für die vorliegende Untersuchung ist dieses Problem, abgesehen von seiner allgemeinen normentheoretischen Bedeutung, auch deshalb von Interesse, weil es den einzigen Fall darstellt, in dem Kelsen seine Theorie in Übereinstimmung mit der Kritik Harts partiell revidiert hat. I. Die ursprüngliche Lehre Kelsens

In der Position, die Kelsen bis zur 2. Auflage seiner "Reinen Rechtslehre" (1960) vertreten hat, lassen sich zwei Argumentationsstufen unterscheiden: Auf eine erste, negative Stufe, auf der Kelsen die herkömmlichen Auffassungen verwirft, folgt eine zweite, positive Stufe, auf welcher er seinen eigenen Ansatz zur Problemlösung entwickelt. 1. Die "negative Stufe " in Kelsens Argumentation Den Ausführungen Kelsens zum Verhältnis von (positivem) Recht und Moral einerseits und von nationalem Recht und Völkerrecht andererseits liegt als verbindendes Element die Überzeugung zugrunde, daß man dieses Verhältnis jedenfalls nicht so beschreiben könne, wie das von der herkömmlichen Ansicht getan werde. Man kann nämlich - so Kelsen - in bezug auf unterschiedliche Normensysteme nicht einerseits die Meinung vertreten, daß es zwischen ihnen unlösbare Konflikte geben könne, die es ausschlössen, sie insgesamt als Einheit zu erfassen; andererseits aber behaupten, daß beide Normensysteme gleichzeitig in Geltung stünden 138 . Kelsen bestreitet mit anderen Worten die logische M ö g lichkeit, zwei einander (potentiell) widersprechende normative Systeme gleichzeitig als geltend anzusehen. Diese Position Kelsens ist das Ergebnis einer mehrstufigen Begründungskette: Zunächst erörtert er die Frage, ob der Satz vom Widerspruch innerhalb der Normen einer Rechtsordnung anwendbar ist. Dabei nimmt er an, es sei möglich, "daß Rechtsorgane tatsächlich Normen setzen, die miteinander in Konflikt 1 3 8

Siehe RR 329.

136

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

stehen" 139 . Normen könnten wegen ihres präskriptiven Charakters indes nur entweder gültig oder ungültig, nicht hingegen wahr oder unwahr sein. Da die Regeln der Logik aber nur auf solche Aussagen anwendbar seien, denen Wahrheitsfähigkeit zukommen könne, scheide eine unmittelbare Anwendung logischer Regeln auf Normen aus 1 4 0 . Anders sei es jedoch in bezug auf die in sogenannten Rechtssätzen erfolgende rechtswissenschaftliche Darstellung dieser Normen 1 4 1 . Rechtssätze seien aufgrund ihrer deskriptiven Natur einer Beurteilung nach den Kriterien "wahr" und "unwahr" zugänglich. Daher könnten logische Prinzipien im allgemeinen und der Satz vom Widerspruch im besonderen auf Rechtssäize Anwendung finden 1 4 2 . Unterlägen aber Rschtssätee den Regeln der Logik, so folge daraus - so Kelsen - , daß diese Regeln indirekt auch auf die von den Rechtssätzen beschriebenen Rechtsnormen angewendet werden könnten 143 . Die Befugnis der Rechtswissenschaft, auf das Instrumentarium der Logik zurückzugreifen, bildet nach Kelsen die Voraussetzung dafür, daß überhaupt rechtswissenschaftliche Erkenntnis möglich ist. Kelsen meint nämlich - insofern, wie er selber zugesteht, über den reinen Positivismus hinausgehend 144 - , daß Rechtswissenschaft sich nicht damit begnügen dürfe, die in ihrem Untersuchungsmaterial vorhandenen Widersprüche beschreibend widerzuspiegeln. A u f gabe rechtswissenschaftlicher und überhaupt jeder Form von Erkenntnis sei es vielmehr, "ihren Gegenstand als sinnvolles Ganze zu begreifen" und ihn in widerspruchslosen Sätzen zu beschreiben 145, "to find unity in the apparent multiplicity of phenomena" 146 . Mit dem Ziel der einheitlichen, widerspruchslosen Darstellung eines normativen Systems, das, wie gesehen, die gesamte Reine Rechtslehre prägt 1 4 7 , ist nach Kelsens Ansicht die Annahme der gleichzeitigen Geltung mehrerer, einander widersprechender Normen unvereinbar. Ebenso wie es logisch widersprüchlich sei, gleichzeitig zu behaupten: "a ist" und "a ist nicht", stelle auch die

1 3 9

RR 209.

1 4 0

RR 76 f.; 209 f.

1 4 1

Zu Kelsens Rechtssatz-Konzeption siehe unten 4. Kap. D II 1.

1 4 2

RR 77, 210.

1 4 3

RR 77,210.

1 4 4

Die philosophischen Grundlagen 339.

1 4 5

RR 210.

1 4 6

GT 374.

1 4 7

Zu Kelsens "Rekonstruktivismus" siehe allgemein 1. Kap. C I .

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

137

Behauptung einen logischen Widerspruch dar, daß die Norm a und die Norm non a zugleich gälten, "das heißt: daß zugleich a und non a sein soll" 1 4 8 . Den Gedanken, daß es aus logischen Gründen ausgeschlossen sei, mehrere widersprüchliche Normen gleichzeitig als geltend anzusehen, weitet Kelsen auch auf Fälle aus, in denen diese Normen unterschiedlichen Normensystemen angehören. So stellt er fest: Auch wenn es sich bei der einen der einander widersprechenden Normen um eine Rechts-, bei der anderen dagegen um eine Moralnorm handle, werde dadurch der logische Widerspruch nicht ausgeschlossen, sofern beide als Norm, also in derselben Sphäre des Sollens, das heißt aber in demselben Erkenntnissystem behauptet werden 1 4 9 .

Kelsen geht also, wie Hart formuliert, von der Vorstellung aus that there is a single "normative space" which must be describable by a consistent set of "rules in a descriptive sense"15^.

Erst auf der Grundlage dieser weiteren Annahme gelangt Kelsen zu dem von ihm angestrebten Ergebnis, daß man nur entweder die Rechtsnorm oder die mit ihr konfligierende Norm der Moral (oder eines anderen normativen Systems) als gültig, d.h. als sollensbegründend ansehen könne, nicht aber beide zugleich 151 . Um sein Beweisziel zu erreichen, führt Kelsen also zwei Prämissen ein: zum einen seine These von der indirekten Anwendbarkeit logischer Regeln auf Normen; und zum anderen die Vorstellung, daß Widerspruchslosigkeit nicht nur i n nerhalb der einzelnen normativen Subsysteme, sondern innerhalb der gesamten normativen Sphäre logisch gefordert sei. Beide Prämissen werden von Hart attackiert. Bevor seine Kritik erörtert wird, sind aber noch Kelsens eigene A n sichten vom Verhältnis des positiven Rechts zur Moral und des nationalen Rechts zum Völkerrecht darzustellen, die unmittelbar auf seiner soeben beschriebenen Position aufbauen. 2. Die "positive Stufe" in Kelsens Argumentation a) Das Verhältnis von positivem Recht und Moral Als Rechtspositiv ist geht Kelsen von der Trennungsthese aus, wonach das positive Recht und die Moral zwei unterschiedliche Normensysteme darstellen,

1 4 8

Naturrecht und positives Recht 220; sachlich übereinstimmend GT 374 f.; RR 210.

1 4 9

Naturrecht und positives Recht 220.

1 5 0

Unity of Law 322 Α. 32.

1 5 1

Naturrecht und positives Recht 221; GT 374; RR 358 Α. 1.

138

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

die begrifflich strikt voneinander zu trennen sind 1 5 2 . Das positive Recht ist also für die moralische Beurteilung eines Sachverhalts nicht konklusiv, d.h. rechtliche und moralische Anforderungen können einander widersprechen 153 . Was diese sich unmittelbar aus seinem Rechtsbegriff ergebende Möglichkeit von Widersprüchen nach Kelsens Meinung für die Frage des geltungmäßigen Verhältnisses von Recht und Moral bedeutet, ist bereits im vorigen Abschnitt herausgestellt worden: Da es ausgeschlossen ist, Recht und Moral auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zurückzuführen, kann man aus logischen Gründen nur entweder die Moral oder das positive Recht als geltend betrachten, nicht aber beide zugleich. Die Anordnungen des jeweils anderen Systems werden somit nach den Worten H. Dreiers 154 "aus dem in Betracht genommenen Normativitätsspektrum einfach ausgeblendet"155. Die Einheit eines Normensystems bedeutet insofern nach der aphoristischen Formulierung Kelsens zugleich dessen Einzigkeit 156 . Die Praxis bestätigt nach Kelsen diese Überlegung: Der Jurist abstrahiere bei der Rechtserkenntnis ebenso von der Moral wie es umgekehrt dem Moralisten nicht einfiele, die Geltung der von seinem Standpunkt erkannten Normen irgendwie durch positiv-rechtliche Erwägungen berühren zu lassen 157 . In seiner "General Theory" bekräftigt Kelsen diese Ausführungen mit dem apodiktischen Satz: "And there is no third point of view" 1 5 8 . Von dieser Position her gelangt Kelsen zu dem weiteren Ergebnis, daß schon aus begrifflichen Gründen nie zwei miteinander unvereinbare Pflichten angenommen werden können 159 . Damit scheint die Tatsache jedoch unvereinbar zu sein, daß Pflichtenkonflikte, also Situationen, in denen jemand sich zugleich als Adressat einer Rechts- und einer dieser widersprechenden Moralpflicht erlebt, tatsächlich existieren und nicht einmal selten sind. Mit diesem Problem konfrontiert, sucht Kelsen seine Konzeption dadurch aufrechtzuerhalten daß er 1 1 5 3 Zu

Kelsens Kritik am naturrechtlichen Ansatz siehe RR 358 f. Siehe RR 329.

1 5 4

Hans Kelsen 178.

1 5 5

Aus diesem Grunde stellt es eine fundamentale Fehldeutung der Kelsen'schtn Konzeption dar, wenn Detmold , Unity 32 meint, diese durchbreche die Trennung von Recht und Moral, weil sie sicherstelle "that a real answer to a legal question entails the same answer to the corresponding moral question". Wie die obigen Ausführungen zeigen, sagt ganz im Gegenteil nach Kelsen derjenige, der von der juristischen Geltung einer Norm spricht, gerade nichts über ihre moralische Geltung aus, und umgekehrt. 1 5 6

Naturrecht und positives Recht 222.

1 5 7

Naturrecht und positives Recht 221; GT 374.

158 G 1 5 9

T

3 7 4

GT 374.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

139

Pflichtenkonflikte zur Gänze auf die psychologische, die Sews-Ebene verlagert. Er definiert sie als "Konkurrenz zweier verschiedener Motive, zweier psychischer Handlungsimpulse" 160 und unterscheidet sie damit kategorial von den im Zusammenhang seiner Theorie allein relevanten Urteilen, die - in keiner Weise sich auf ein seelisches oder körperliches Geschehen, also in keiner Weise auf ein Sein beziehend - das Sollen zweier einander widersprechender Inhalte, a und non a, aussagen161.

b) Das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht Die Behauptungen, daß es ausgeschlossen sei, positives Recht und Moral auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zurückzuführen, und daß stets die logische Möglichkeit von Konflikten zwischen diesen beiden normativen Ordnungen bestehe, folgen unmittelbar aus Kelsens rechtspositivistischer Ausgangsposition. Für die Frage nach den rechtslogischen Beziehungen von nationalem Recht und Völkerrecht ist die Frage "Rechtspositivismus oder Naturrecht?" hingegen unbeachtlich, weil nach Kelsens Verständnis nationales Recht und Völkerrecht gleichermaßen positive Rechtsordnungen sind. Doch auch für ihr gegenseitiges Verhältnis ist nach Kelsen entscheidend, ob sie auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zurückgeführt werden können, was wiederum voraussetzt, daß zwischen ihnen keine unlösbaren Konflikte bestehen, die den Strang der geltungsbegründenden Ableitungsbeziehungen zwischen ihnen unterbrechen würden. Bestehen solche Konflikte, so müßte man nach Kelsens Ansicht Völkerrecht und nationales Recht - ebenso wie positives Recht und Moral - als zwei "von einander verschiedene und in ihrer Geltung von einander unabhängige Rechtsordnungen" 162 betrachten, was dann freilich zur Folge hätte, daß sie nicht zugleich als geltend angesehen werden könnten. Wolle man sie dagegen beide "als gleichzeitig geltende Ordnungen verbindlicher Normen" verstehen, so kann man dies gar nicht anders, als indem man beide ... in einem, in widerspruchslosen Rechtssätzen beschreibbaren System begreift 163 ,

indem man also die "erkenntnismäßige Einheit alles geltenden Rechts" 164 herstelle. Die Frage nach einer "monistischen" oder einer "dualistischen" Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht hängt also nach Kelsens Analyse entscheidend davon ab, ob es möglich ist, zwischen ihnen einen 16

^ Naturrecht und positives Recht 221; sachlich übereinstimmend GT 375.

1 6 1

Naturrecht und positives Recht 220 f.; in der Sache ebenso GT 375.

1 6 2

RR 330.

1 6 3

RR 332.

1 6 4

RR 341.

140

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

durchgehenden Strang von Geltungsbeziehungen aufzuweisen, oder nicht. Gegen diese Möglichkeit wird - so Kelsen - vor allem die Existenz völkerrechtswidrigen nationalen Rechts ins Feld geführt. So könne sich ein Staat durch einen völkerrechtlichen Vertrag verpflichten, den Angehörigen einer Minorität dieselben politischen Rechte einzuräumen wie den Angehörigen der Majorität, und trotzdem durch ein rechtsgültiges innerstaatliches Gesetz der Minorität sämtliche politischen Rechte entziehen 165 . Die Frage, ob innerstaatliche Rechtsakte dieser Art den Geltungszusammenhang der nationalen Rechtsordnung mit dem Völkerrecht unterbrechen, stellt eine genaue Parallele zu einem Problem dar, das bereits oben erörtert worden ist: nämlich zur Problematik des (in der herkömmlichen Terminologie so bezeichneten) "rechtswidrigen, aber rechtsgültigen Rechtsaktes". Diese Problematik löst Kelsen durch die Lehre von der Altemativermächtigung : Die Rechtsetzungsermächtigung, das rechtliche Können des zuständigen Organs ist nicht auf die herkömmlicheweise so genannten "rechtmäßigen" Entscheidungen beschränkt, sondern das Organ hat eine Wahlmöglichkeit: es kann entweder die formell und materiell "rechtmäßige" Entscheidung treffen; oder es kann nach anderen, von ihm selbst zu bestimmenden Grundsätzen entscheiden. Diese Wahl ist, je nachdem, ob noch ein weiteres Rechtsorgan vorgesehen ist, das die erste Entscheidung kontrollieren und gegebenenfalls aufheben kann, oder nicht, entweder bedingt oder unbedingt. Auf diese Weise stellt Kelsen sicher, daß auch "rechtswidrige" Entscheidungen den Geltungszusammenhang und damit die Einheit innerhalb einer Rechtsordnung nicht infrage stellen. Es besteht allenfalls eine Rechtspflicht der beteiligten Amtswalter zu "rechtmäßigen" Entscheidungen: nämlich dann, wenn die Rechtswidrigkeit zum Anknüpfungspunkt für eine von einem höheren Organ zu verhängende Sanktion gemacht w i r d 1 6 6 . Diese Überlegungen zieht Kelsen heran, um zu zeigen, daß die Möglichkeit "völkerrechtswidrigen" nationalen Rechts es keineswegs ausschließe, staatliche Rechtsordnung und Völkerrecht geltungsmäßig als Einheit zu erfassen: Die unter "Verletzung" des Völkerrechts erzeugte Norm der einzelstaatlichen Rechtsordnung bleibt gültig; und zwar auch vom Standpunkt des Völkerrechts. Denn dieses sieht kein Verfahren vor, in dem die "völkerrechtswidrige" Norm der einzelstaatlichen Rechtsordnung vernichtet werden kann167.

Der Sinn, in dem das Völkerrecht den Staat zu irgendwelchen Akten und insbesondere zur Setzung von Normen bestimmten Inhalts verpflichte, sei lediglich der:

1 6 5

RR 330.

1 6 6

Zum Ganzen siehe oben Β 1 1 .

1 6 7

RR 331.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

141

daß der entgegengesetzte Akt oder die Setzung einer Norm entgegengesetzten Inhalts die Bedingung ist, an die das Völkerrecht seine spezifische Sanktion, die Unrechtsfolgen der Repressalie oder des Krieges knüpft 1 6 8 .

Mit Hilfe der Lehre von der Alternativermächtigung ist es Kelsen also möglich, nationales Recht und Völkerrecht als ein einheitliches System mit durchgehenden Geltungsbeziehungen zu begreifen, innerhalb dessen sich scheinbar bestehende Normenkonflikte schließlich auflösen. Damit gelangt Kelsen für das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht zu einem Ergebnis, das seiner Analyse der Beziehungen von Recht und Moral genau entgegengesetzt ist: Während er, bewogen durch seinen Rechtspositivismus, letztere als zwei voneinander unabhängige normative Systeme betrachtet, von denen man zu einem gegebenen Zeitpunkt nur jeweils eines als geltend ansehen kann, sieht er nationales Recht und Völkerrecht als eine geltungsmäßige, weil in sich widerspruchslos beschreibbare Einheit an. II. Die Kritik Harts und die Modifikationen in Kelsens Spätwerk

Die vorstehend geschilderte Konzeption Kelsens ist von Hart in einer öffentlichen Diskussion, die er 1961 mit Kelsen geführt und über die er anschließend in einem Aufsatz ("Kelsen Visited") berichtet hat, sowie in einem Artikel aus dem Jahre 1968 ("Kelsen's Doctrine of the Unity of Law") scharf attackiert worden. Die Kritik Harts bezieht sich sowohl auf die (hier so bezeichnete) "negative" wie auch auf die "positive" Stufe innerhalb von Kelsens Erörterungen, und sie stellt Kelsens Ergebnisse im Hinblick auf die Beziehung zwischen Recht und Moral ebenso in Zweifel wie seine Ausführungen zum Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht. Harts Kritik blieb nicht folgenlos; in seinem Spätwerk hat Kelsen einen Teil seiner Auffassungen im Einklang mit Harts Kritik revidiert. Die Einwände Harts und die Reaktion Kelsens sind nachfolgend darzustellen. L Die Kritik Harts a) Harts Einwände gegen die "negative Stufe" von Kelsens Theorie Den ersten Argumentationsschritt auf der "negativen Stufe" von Kelsens Theorie stellen die Behauptungen dar, daß die Regeln der Logik durch die von der Rechtswissenschaft formulierten Rechtssätze mittelbar auf Rechtsnormen anwendbar seien und es deshalb aus logischen Gründen ausgeschlossen sei, zwei einander widersprechende Rechtsnormen gleichzeitig als geltend anzusehen. Diese Thesen werden von Hart zurückgewiesen.

1 6

R R 31.

142

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Er zeigt zunächst, daß jedenfalls mit Kelsens Argumentation die Anwendbarkeit logischer Regeln auf Rechtsnormen nicht gerechtfertigt werden kann, weil sie nicht hinreichend zwischen den Aussagen normsetzender Autoritäten und Aussagen der normbeschreibenden Wissenschaft unterscheidet. Den zentralen Punkt in Kelsens Darlegungen zur Anwendbarkeit von Grundsätzen der Logik in den Normwissenschaften bildet seine Behauptung, eine wissenschaftliche Aussage des Inhalts, daß gleichzeitig die Handlung a und die Handlung non-a gesollt sei, wäre sinnlos und müsse vermieden werden. Da aber die Normwissenschaften nicht vorschreiben, sondern beschreiben, können sie - so Hart entgegen der Behauptung Kelsens niemals die Aussage machen, daß gleichzeitig a und non-a getan werden solle; sie können lediglich feststellen, daß nach der Vorschrift X in einer bestimmten Situation die Handlung a, nach der Vorschrift Y dagegen in der gleichen Situation die Handlung non a geboten sei. Eine solche Feststellung sei jedoch weder in sich widersprüchlich noch logisch unmöglich, sondern allenfalls falsch - nämlich dann, wenn der Inhalt einer der beiden V o r schriften unzutreffend wiedergegeben werde 169 . Abgesehen davon sei es aber - so Hart weiter - keineswegs selbstverständlich, daß die Aussagen, a solle getan werden und a solle nicht getan werden, vom Standpunkt der Logik aus miteinander unvereinbar seien; dies gelte selbst dann, wenn sie Regeln ein und desselben normativen Systems beschrieben 170 . Angesehene Vertreter der deontischen Logik hätten die Möglichkeit konfligierenden Verpflichtungen bejaht 171 . So könne man etwa mit der Feststellung, etwas solle getan werden, lediglich meinen, es gebe gute Gründe, die betreffende Handlung durchzuführen. Im Falle des Konflikts einer Rechtsmit einer Moralnorm wäre dann die obige Aussage gleichbedeutend mit: "Es gibt gute rechtliche Gründe, a zu tun, und es gibt gute moralische Gründe, non a zu tun". Zwar sei es in einer solchen Situation für den Betroffenen unmöglich, gleichzeitig beiden Anforderungen zu genügen, aber die Feststellung selbst enthalte nichts Widersprüchliches oder logisch Unmögliches 172 . Den zweiten Schritt innerhalb von Kelsens Argumentation bildet die Behauptung, das Erfordernis widerspruchsfreier Darstellung eines gegebenen normativen Materials beziehe sich nicht nur auf die Innenstruktur eines einzelnen normativen Systems, sondern finde auch auf die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Normenordnungen Anwendung. Hart meint, diese Vorstellung sei, ganz unabhängig von den bisherigen Argumenten, "vitiated by a simple

1 6 9

Kelsen Visited 306 f.

1 7 0

Unity 331.

1 7 1

Unity 331.

1 7 2

Kelsen Visited 307 f.; siehe auch Unity 331; zustimmend Munzer y Validity 1165.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

143

error" 1 7 3 . Sie stehe nämlich nicht im Einklang mit der von Kelsen selbst herausgestellten Erkenntnis, daß wissenschaftliche Beschreibungen einer normativen Ordnung relativ zu dieser Ordnung seien, d.h. sich auf die Darstellung der nach ihr geltenden Normen beschränken müßten. Selbst wenn man Kelsen daher zugäbe, daß die Aussagen, a solle getan werden und non-a solle getan werden, als Beschreibungen eines einzelnen Systems logisch inkonsistent seien, folge daraus noch lange nicht, daß Gleiches auch für Aussagen von der Form zutreffe, daß etwa gemäß dem Völkerrecht a getan werden und gemäß dem englischen Recht a nicht getan werden solle 1 7 4 : Indeed there seems no reason at all, once the relativity of descriptive-ought statements is borne in mind, for thinking that two statements of this form cannot both be t r u e 1 7 5 .

b) Harts Kritik an Kelsens Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral Auf der Grundlage der vorstehenden allgemeinen Gegenargumente verwirft Hart sowohl die Meinung Kelsens, man könne Recht und Moral nur alternativ, nicht aber kumulativ als gültig ansehen, wie auch Kelsens Versuch, die Existenz von Pflichtenkonfliken als rein psychologisches Problem zu verstehen. Kelsens psychologisierender Ansatz sei unvereinbar mit den allgemein zugrundegelegten Vorstellungen von den Voraussetzungen eines Pflichtenkonfliktes. Ein Pflichtenkonflikt werde nicht damit begründet, daß sich jemand geneigt fühle, zwei miteinander unvereinbare Handlungen zu begehen; als maßgeblich werde vielmehr angesehen, daß zwei geltende, also - nach Kelsens Verständnis dieses Begriffs - in ihrem Sollenscharakter ernstgenommene Regeln existierten, die dem persönlichen Entscheidungskonflikt zugrundelägen 176 . Daß Aussagen über Pflichtenkonflikte vom normativen, nicht vom psychologischen Standpunkt aus gemacht würden, werde besonders deutlich, wenn man sich die Position desjenigen vergegenwärtige, der eine bestimmte Rechtsordnung aus moralischen Gründen kritisiere: Er verstehe seine Äußerungen nicht als Analyse verschiedener möglicher, einander widerstreitender Handlungsmotive für die Normunterworfenen, sondern er betrachte die einschlägigen Rechts- und Moralnormen als Sollensaussagen und stelle fest, daß sie einander widersprächen 177 .

1 7 3

Unity 331.

1 7 4

Unity 331 f.

1 7 5

Unity 332.

1 7 6

Kelsen Visited 304 f.

1 7 7

Kelsen Visited 305.

144

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Das letztere Beispiel weise noch eine weitere Unrichtigkeit in Kelsens Begründung auf. Kelsen sage zu Recht, daß weder der Rechtswissenschaftler noch der Moralist , wenn sie als solche sprächen, Aussagen über mögliche Konflikte zwischen Recht und Moral machten. Dies aber nicht deshalb, weil solche Aussagen von vornherein unsinnig und normlogisch widersprüchlich wären, sondern schlicht aus dem Grunde, daß derartige Feststellungen außerhalb ihres Aufgabenbereiches lägen. Der Fall moralisch begründeter Kritik am positiven Recht zeige aber, daß Aussagen, die Recht und Moral gleichzeitig als normative Ordnungen anerkennen, möglich seien und auch durchaus sinnvoll sein könnten. Es gebe also den "third point of view", dessen Existenz Kelsen bestrei-

c)

Einwände Harts gegen Kelsens Position zum Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht

Kelsens Stellungnahme zugunsten einer "monistischen" Theorie des Völkerrechts, nach der Völkerrecht und nationales Recht Bestandteile einer umfassenden "Weltrechtsordnung" darstellen, geht von der Annahme aus, nur auf der Grundlage einer solchen Konstruktion ließen sich nationales Recht und Völkerrecht gleichzeitig als geltende Rechtsordnungen begreifen. Zum Beweis dafür, daß eine solche monistische Konzeption trotz der Existenz "völkerrechtswidrigen" nationalen Rechts möglich ist, beruft Kelsen sich auf seine Lehre von der Alternativermächtigung. Hart kritisiert an den Ausführungen Kelsens zum einen ihre Grundannahme von der Unmöglichkeit der gleichzeitigen Geltung mehrerer normativer Ordnungen. Seine diesbezüglichen Einwände wurden bereits vorgestellt. Darüber hinaus versucht Hart zu zeigen, daß auch Kelsens eigene Darlegungen seine für das Gelingen seines "monistischen" Konstruktionsversuchs entscheidende Behauptung, nationales Recht und Völkerrecht seien als eine widerspruchsfreie Einheit darstellbar, nicht rechtfertigen könnten. Nach Harts Verständnis ist ein Normenkonflikt gekennzeichnet durch "the logical immpossibility of joint conformity": Zwei Regeln, die sich an ein und dieselbe Person richten, sind von ihrem Inhalt her so beschaffen, daß es dieser Person logisch unmöglich ist, ihnen beiden gleichzeitig zu entsprechen 179 . Normative Konflikte können nach dieser Definition in zwei Situationen auftreten: Zum einen im Verhältnis zweier einander widersprechender Gebots-bzw. Verbotsvorschriften 180 ; zum anderen - und hierin liegt eine Erweiterung der Hart'schen Begriffsbestimmung im Vergleich zur herkömmlichen Ansicht 1 8 1 1 7 8

Kelsen Visited 305.

1 7 9

Unity 325, 327.

1 8 0

Siehe Unity 325.

1 8 1

Siehe Hamner Hill Normative Conflict 231.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

145

in der Beziehung zwischen einer Gebots- bzw. Verbots- und einer Erlaubnisregel: nämlich dann, wenn das Gebrauchmachen von der Erlaubnis einen Verstoß gegen das von der anderen Vorschrift ausgesprochene Gebot bzw. Verbot beinhaltet 1 8 2 . Auf der Grundlage dieses Begriffsverständnisses wirft Hart Kelsen vor, daß es ihm zwar gelinge, normative Konflikte des ersten Typs auszuschließen, dies aber nur dadurch, daß er diese Konflikte auf die vom zweiten Typ erfaßte Ebene verschiebe 183 . Gewöhnlich werde der Konflikt zwischen Völkerrecht und "völkerrechtswidrigem" nationalen Recht als ein Widerstreit von zwei Gebots- bzw. Verbotsvorschriften verstanden: Während ein völkerrechtlicher Vertrag vorschreibt, einer Minderheit bestimmte politische Rechte einzuräumen, verbietet ein nationales Gesetz den Angehörigen dieser Minderheit jegliche politische Betätigung. Hart erkennt an, daß Kelsen auf der Grundlage seiner Lehre von der Alternativermächtigung und seines Verständnisses von Delikten nicht als von Negationen, sondern von Bedingungen des Rechts 184 diesem Versuch, die M ö g lichkeit von Konflikten zwischen nationalem Recht und Völkerrecht zu beweisen, ein in sich geschlossenes Gegenmodell entgegenstellen könne. Kelsen gelinge es jedoch nicht, die begriffliche Möglichkeit normativer Konflikte überhaupt wegzukonstruieren; seine Konzeption führe lediglich dazu, daß solche Konflikte auf eine andere Ebene verlagert würden. In seiner Lehre bestehe in den einschlägigen Fällen der Konflikt zwischen einer Gebots- oder Verbotsvorschrift des Völkerrechts und der Bestimmung des nationalen Rechts, die es dem nationalen Gesetzgeber erlaube, ein Gesetz mit völkerrechtswidrigem Inhalt zu verabschieden. So gestatte etwa das englische Recht dem Parlament, den Gesetzen jeden beliebigen, also auch einen völkerrechtswidrigen Inhalt zu geben. Der Umstand, daß das englische Parlament auch dann noch im Einklang mit dem englischen {Verfassungs-)Recht handelt, wenn es Gesetze beschließt, die Delikte im Sinne des Völkerrechts darstellen, begründet nach Harts Meinung ebenso einen normativen Konflikt wie das unmittelbare Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Gebots- oder Verbotsvorschriften: It is logically impossible to conform ... both to the permissive rule of municipal law permitting the enactment of any statute and the rule of international law relating to treaties which ... prohibits such an enactment and makes it an offence or delict 1 8 5 .

1 8 2

Siehe Unity 326 f.

1 8 3

Siehe Unity 333.

1 8 4

Dazu siehe RR 119.

1 8 5

Unity 334.

10 Pawlik

146

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

2. Kelsens Meinungsänderung im Spätwerk In seinem Spätwerk hat Kelsen seine Auffassung über die Rolle der Logik im Recht grundlegend revidiert. In diesem Zusammenhang hat sich auch seine A n sicht zum begrifflichen Verhältnis von Rechts- und Moralnormen tiefgreifend verändert. Die Tragweite dieser von Weinberger 186 unter dem Begriff "Normirrationalismus" zusammengefaßten Veränderungen für das Gesamtsystem der Reinen Rechtslehre ist ebenso umstritten wie ihre sachliche Bewertung 187 . Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist nur ein Ausschnitt aus der Problematik relevant: nämlich die Frage, inwieweit sich in Kelsens neuer Position Einflüsse von Harts Kritik nachweisen lassen. a)

Gleichzeitige Geltung widersprüchlicher Normen; Beziehung von Recht und Moral

Kelsen nimmt in seiner "Allgemeinen Theorie der Normen" die im Mittelpunkt seiner ursprünglichen Konzeption stehende These zurück, daß die Regeln der Normlogik über ihre Geltung im Rahmen wissenschaftlicher Aussagen hinaus indirekt auch auf die mit diesen Aussagen beschriebenen normativen Systeme selbst Anwendung finden könnten 188 . Daher sind die Normwissenschaften nach seiner Ansicht nicht länger zur Beseitigung bestehender Widersprüche befugt, sondern darauf beschränkt, die Widersprüche als solche darzustellen, sie "gleichsam nur abzubilden" 189 . So darf "die Rechtswissenschaft... als Wissenschaft zwar nicht zu widersprüchlichen Sätzen kommen, aber sie kann 'Widersprüche der Normen', also Widersprüche in ihrem Gegenstand als solche beschreiben" 190 . Damit beseitigt Kelsen die argumentative Vermischung rechtsautoritativer und rechtsbeschreibender Aussagen, die einen Hauptzielpunkt der zunächst von Hart, später auch von einer Reihe anderer Autoren 1 9 1 geübten Kritik an seiner früheren Konzeption dargestellt hatte. Ferner erkennt Kelsen nunmehr ausdrücklich die Möglichkeit an, daß zwei Normen miteinander konfligieren und desungeachtet beide gültig sein können. Er gibt damit also die Kernbehauptung seiner ursprünglichen Argumentation vollständig auf und betont sogar, daß man in solchen Fällen die Normen gerade deshalb beide als gültig ansehen müsse, weil andernfalls überhaupt kein

1 8 6

Normentheorie 94.

1 8 7

Ausführlich dazu die in der vorigen Fußnote genannte Schrift von Weinberger.

1 8 8

Siehe ATN 168.

1 8 9

H. Dreier, Hans Kelsen 177.

1 9 0

Walter, Recht und Logik 304.

1 9 1

Walter, Recht und Logik 303 f.; Weinberger,

Logic 193; Wiederin,

Normenkonflikt 313.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

147

Normenkonflikt vorläge 192 . In Übereinstimmung mit Hart nimmt also jetzt auch Kelsen anstelle der bisherigen psychologisierenden eine normativistische Deutung von Normenkonflikten v o r 1 9 3 . Für all dies spielt es, wie er besonders hervorhebt, keine Rolle, ob die einander widersprechenden Normen derselben Normenordnung oder ob sie verschiedenen Normenordnungen angehören, etwa dem positiven Recht einerseits und der Moral andererseits 194. Mit der These von der notwendigen Einheit (im Sinne von Widerspruchslosigkeit) eines normativen Systems fällt also - konsequenterweise - zugleich auch die These von seiner Einzigkeit 195. Widersprüche zwischen gleichzeitig als geltend vorgestellten Rechts- und Moralordnungen sind mithin möglich und dürfen nicht durch die Ausblendung einer dieser beiden Ordnungen künstlich zum Verschwinden gebracht werden 196 . Damit erkennt Kelsen die Möglichkeit der Existenz jenes "third point of view" neben dem ausschließlich juristischen und dem ausschließlich moralischen an, den er zuvor geleugnet hatte. Auch hier sind die Parallelen zu Harts Kritik offensichtlich. Sowohl in der Grundsatzfrage der geltungsmäßigen Beziehungen zweier normativer Systeme zueinander wie auch in der Anwendung dieser Prinzipien auf das Verhältnis zwischen Recht und Moral hat Kelsen sich in der "Allgemeinen Theorie der Normen" somit weitgehend den Standpunkt Harts zu eigen gemacht 1 9 7 . b) Das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht Dagegen findet sich in seinem Spätwerk keine Revision seiner früheren Überlegungen zur Beziehung von nationalem Recht und Völkerrecht. Jedoch hat seine grundsätzliche Meinungsänderung in der Geltungsproblematik in einer wichtigen Hinsicht auch Auswirkungen auf seine Position in dieser Frage. Vor seinem Meinungsumschwung hatte Kelsen behauptet, die dualistische These, man könne nationales Recht und Völkerrecht als zwei voneinander getrennte und einander eventuell auch widersprechende Normensysteme begreifen und sie dennoch gleichzeitig als

1 9 2

A T N 80,167 f., 177.

1 9 3

H. Dreier, Hans Kelsen 180 bemerkt, daß darin im Vergleich zur ursprünglichen Konzeption Kelsens im Grunde sogar eine Radikalisierung der Trennungsthese läge, "weil sich nun kontradiktorische Geltungsansprüche von Recht und Moral nicht auf in der Seinsebene sich abspielende psychologische Unverträglichkeiten reduzieren, sondern als 'echte' Normenkonflikte firmieren"; ähnlich Cohen, The Political Element 11. 1 9 4

A T N 168.

1 9 5

ATN 330 A 154.

196 A T N 169, wo Kelsen sich von seiner früheren Auffassung ausdrücklich distanziert. 1 9 7

Ohne diesen allerdings namentlich zu erwähnen.

148

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

gültig ansehen, enthalte einen logischen Widerspruch. Da Kelsen nunmehr selbst die Möglichkeit der gleichzeitigen Geltung mehrerer normativer Systeme anerkennt, kann er diese Behauptung nicht mehr aufrechterhalten. Er muß also nunmehr die logische Möglichkeit einer dualistischen Konzeption zugeben. Dies zwingt ihn freilich nicht dazu, die monistische Theorie gänzlich aufzugeben und sich der dualistischen Ansicht anzuschließen. Das positive Argument Kelsens dafür, daß (auch) die monistische Sichtweise konstruktiv möglich ist, ist nämlich von seinem - nunmehr aufgegebenen - negativen Argument gegen die logische Konsistenz der dualistischen Betrachtungsweise unabhängig und beruht in erster Linie auf der Lehre von der Alternativermächtigung. Diese Lehre erlaubt es, die Existenz "völkerrechtswidrigen" nationalen Rechts anzuerkennen, ohne daß dies die Unterbrechung der Geltungsbeziehungen zwischen Völkerrecht und nationalem Recht zur Folge hätte. An der Lehre von der Alternativermächtigung hält Kelsen auch in seiner "Allgemeinen Theorie der Normen" fest 198 . Daraus ist zu schließen, daß er Harts Kritik an dieser Lehre nicht akzeptiert. Der von Hart erhobene Vorwurf, Kelsen könne durch seine Lehre von der Alternativermächtigung das Auftreten von Normenkonflikten nicht ausschließen, sondern verlagere diese Konflikte lediglich auf eine andere Ebene, verkennt das Beweisziel, das Kelsen mit der genannten Lehre verfolgt. Der Begriff des normativen Konflikts, den Hart seiner Kritik zugrundelegt, geht von der Unmöglichkeit für den Normadressaten aus, mehreren einander inhaltlich w i dersprechenden Normen gleichzeitig zu genügen. Dies ist jedoch nicht die Frage, um deren Beantwortung es Kelsen in seiner Lehre von der Alternativermächtigung - die in dieser Beziehung strikt von seinen Ausführungen zur Normenlogik zu trennen i s t 1 9 9 - geht. Was Kelsen hier allein zeigen will und zur Stützung seiner Monismus-These auch nur zeigen muß, ist, daß die innersystematischen Geltungsbeziehungen zwischen Normen in einer Weise beschreibbar sind, die es erlaubt, auch solche Normen als geltend und damit dem System angehörend zu betrachten, die scheinbar die Grenzen der ihnen übergeordneten und ihre Geltung begründenden Norm überschreiten 200. Die Frage, ob es den einzelnen Normadressaten möglich ist oder nicht, die unterschiedlichen Verhaltensstandards gleichzeitig zu erfüllen, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Entgegen dem von ihm erhobenen Anspruch gelingt es Hart also nicht, Kelsen von seinen eigenen Prämissen her zu widerlegen. Damit zeigt sich, daß es Kelsen auch unter den Voraussetzungen seines Spätwerks und unter 1 9 8

Siehe ATN 200.

1 9 9

Zu dem Verständnis von "Normenkonflikt", das Kelsens normenlogischen Ausführungen zugrundeliegt, siehe ATN 99 f. sowie Hamner Hill , Normative Conflict 235. 2 0 0

Siehe RR 271.

D. Das Verhältnis mehrerer normativer Ordnungen zueinander

149

Berücksichtigung der von Hart geäußerten Kritik möglich bleibt, an seiner bisherigen, monistischen Konzeption von Völkerrecht und nationalem Recht festzuhalten. Die "Hart'sche Wendung" in der Spätlehre Kelsens zur Frage der Geltungsbeziehungen zwischen verschiedenen Normensystemen ist also zwar an einer Reihe von Punkten nachweisbar, aber keineswegs vollständig.

4. Kapitel

Die Normativität des Rechts; Geltung und Wirksamkeit A. Grundlage von Normativität: Rechtswissenschaftliche Deutung oder soziale Praxis? Wurde in den vorigen Kapiteln betont, daß nach Kelsens und Harts Ansicht das Recht eine normative Ordnung darstelle, so wurden mit diesem Begriff zwei Thesen zusammengefaßt, die innerhalb der Konzeptionen beider Autoren eine zentrale Stellung einnehmen: zum einen ihre im vorigen Kapitel behandelte Auffassung, daß das Recht ein System von Geltungsbeziehungen, einen hierarchisch gestuften Selbsterzeugungsmechanismus darstelle; und zum anderen ihre Ansicht, daß es ein geschlossenes normatives System sei, dessen rechtstheoretische Darstellung nicht unvermittelt in die Berufung auf Faktizität umschlagen dürfe. Von diesen beiden Positionen kann die erste auch unabhängig von der zweiten vertreten werden. So hat etwa Bryce den Gedanken einer vom einzelnen Verwaltungsakt bis zur Verfassung hinaufreichenden Normenhierarchie mit der auf Bentham und Austin zurückgehenden Ansicht verbunden, daß die Verfassung selbst ihre Geltung der Setzung durch einen mit tatsächlicher Durchsetzungsfähigkeit ausgestatteten Souverän verdanke 1. Es ist diese Art von Versuchen, den Status und die Geltung der Verfassung zu erklären, gegen die Kelsen und Hart sich mit ihrer Ansicht von der normativen Geschlossenheit der Rechtsordnung wenden: Anders als der herkömmliche Rechtspositivismus es annehme, beruhe die Rechtsqualität der Verfassung nicht auf faktischen Elementen wie Macht, Befehl und Gehorsam; die Spitze der Rechtsordnung sei vielmehr selbst normativ ausgestaltet. Bei Kelsen dient dazu die Lehre von der Grundnorm, bei Hart die Konzeption von der Erkenntnisregel. Die Annahme von der Geschlossenheit der Rechtsordnung und von der Existenz einer obersten, systemschließenden Norm ist es somit, die den Normativitätsbegriffen Kelsens und Harts im Vergleich zu den vorangehenden rechtspositivistischen Theorien ihr besonderes Gepräge gibt 2 . Über die Funktionen dieser Spitzennorm sind beide Autoren sich im Grundsatz einig: Alle Geltungsstränge innerhalb der Rechtsordnung liefen auf sie zu und kämen in ihr zum Abschluß; sie stelle daher sowohl den obersten Geltungsgrund der Rechtsordnung als auch - ähnlich wie der Schlußstein eines 1

ο

Zu Bryce siehe Raz, Concept of a Legal System 99.

^ Der Gedanke von der Erforderlichkeit einer rechtlichen Spitzenvorschrift findet sich indes bereits bei Salmond (siehe Hart, CL 245).

Α. Grundlage von Normativität

151

Gewölbes - den Bezugspunkt dar, der diese gesamte, arbeitsteilig organisierte 3 Ordnung zusammenhalte und auf diese Weise ihre Einheit konstituiere 4. Jenseits dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen bestehen jedoch erhebliche Differenzen zwischen Kelsens Grundnormlehre und Harts Ausführungen zur Erkenntnisregel. Dahinter stehen grundlegend verschiedene Vorstellungen über Grundlage und Bedeutung der Normativität des Rechts: Während sie sich für Kelsen aus einer entsprechenden rechtswissenschaftlichen Deutung des rechtlichen Materials ergibt, ist sie nach Hart Ausdruck einer sozialen Praxis. Der Herausarbeitung und dem kritischen Vergleich dieser unterschiedlichen Positionen ist dieser Abschnitt gewidmet. I. Die Meinung Kelsens: Grundnorm als rechtswissenschaftliche Erkenntnisvoraussetzung

1. Die Norm als Deutungsschema Normativität ist nach Kelsen nicht eine bestimmten Akten von vornherein immanente Qualität, sondern das Ergebnis einer Sinnzuschreibung, einer Deutung 5 . Subjektive Willensakte - etwa die Handlungen von Personen oder Institutionen, die sich als Steuerbeamter, einfacher Gesetzgeber und Verfassungsgeber gerieren - erlangen durch die Deutung anhand der sie ermächtigenden übergeordneten Normen ihre Bedeutung, ihren "objektive(n) Sinn" 6 als Rechtsakte7: Das Steuergesetz ermöglicht es, eine bestimmte Geldforderung als "Verwaltungsakt" eines "Steuerbeamten" zu verstehen. Eine Stufe höher erlaubt es die Verfassung, den in bestimmter Weise zustandegekommenen Beschluß einer nach vorgegebenen Grundsätzen zusammengesetzten Gruppe von Personen als einfaches Parlamentsgesetz zu deuten. Auch dem subjektiven Willensakt, der vorgibt, Verfassung zu sein, kommt nicht deshalb Rechtsgeltung zu, weil ihm in einer Rechtsgemeinschaft im großen und ganzen Folge geleistet wird - das wäre eine Lösung à la Austin und Bryce; er hat vielmehr nur dann α Zu diesem Gesichtspunkt Cornides, Arbeitsteilige Normensysteme 14; Weinberger, Die normenlogische Basis 183. 4 Zur Doppelfunktion der Grundnorm etwa Kelsen, RR 197, 228 sowie H. Dreier, Hans Kelsen 42 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen in A. 97, 98; zu den Funktionen der Erkenntnisregel siehe Hart, CL 102. 5 Siehe RR 3; auch in seinem Spätwerk hält er insoweit an seiner bisherigen Position fest; siehe A T N 21. 6

RR 3.

7

Siehe RR 8.

152

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

auch objektiv normativen Sinn, wenn vorausgesetzt wird, daß man sich so verhalten soll, wie der Verfassungsgeber vorschreibt 8.

Diese "Voraussetzung" nennt Kelsen : Grundnorm 9. Er erweitert mit ihr also den Stufenbau der Rechtsordnung, den Bryce mit der Verfassung abbrechen ließ, um eine weitere Ebene 10 . Dies bewirkt, daß auch die obersten positiven Normen innerhalb einer Rechtsordnung, die Vorschriften der Verfassung, ihre Qualität als Recht im Prinzip nicht anders erlangen als einfaches Gesetz und Verwaltungsakt: nämlich infolge einer entsprechenden Deutung auf der Basis einer höheren Norm 1 1 . Was also einfaches Gesetz und Verfassung innerhalb der positiven Rechtsordnung leisten, ermöglicht die Grundnorm - von Ebenstein12 als "scheme of interpretation for the legal order as a whole" bezeichnet - für die Rechtsordnung insgesamt : die Transformation - Moor 1 3 spricht polemisch aber plastisch von einer "geheimnisvollen juristischen Alchemie" - von subjektivem Willen zu objektiver Bedeutung, von Faktizität zu Normativität, von Macht zu Recht 14 . Mithilfe der vorausgesetzten Grundnorm gelingt es Kelsen somit, die positive Rechtsordnung als ein einheitlich strukturiertes System geltender Normen darzustellen, das in sich geschlossen ist, d.h. das an keiner Stelle unmittelbar auf faktische Elemente zurückgreift 15 . 2. Die Grundnorm als Annahme Als Deutungsmaßstab und "Schlußregel" 16 der positiven Rechtsordnung kann die Grundnorm selbst "nicht eine Norm positiven Rechts" sein 17 . Indem sie die Geltung des positiven Rechts von einer nichtpositiven Norm abhängig macht, überschreitet die Grundnormlehre die Grenzen des herkömmlichen Rechtspositivismus und läßt strukturelle Parallelen zur naturrechtlichen Auffassung

8

RR 8.

9

RR 8.

1 0

Dazu auch schon oben 3. Kap. A l l a .

1 1

Zu den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, die Grundnorm als "Norm" anzusehen, siehe unten A. 24. 1 2

Pure Theory 639; ähnlich Tur , Kelsenian Enterprise 153.

1 3

Reine Rechtslehre 283.

1 4

Dazu H. Dreier , Hans Kelsen 46 f. A 119.

1 5

Siehe Verdroß , Rechtsphilosophie 192.

1 6

Kulenkampffy

1 7

RR 442.

Rechtspositivismus 526.

153

Α. Grundlage von Normativität

erkennen, für die ebenfalls der Grund der Geltung des positiven Rechts außerhalb seiner selbst liegt 18 . Von ihren Funktionen her unterscheiden sich die Grundnorm der Reinen Rechtslehre und diejenige des Naturrechts indes grundlegend voneinander 19. Der Naturrechtler geht von der Vorstellung aus, daß die von ihm vorausgesetzte Grundnorm absolute Verbindlichkeit besitze, und er beantwortet deshalb die Frage nach der Geltung der positiven Rechtsordnung kategorisch, das heißt: unbedingt, entweder mit dem Urteil, daß sie gilt, weil ihr Inhalt dem Inhalt des Naturrechts entspricht und daher gerecht ist, oder daß sie nicht gilt, weil ihr Inhalt dem Inhalt des Naturrechts widerspricht 20.

Die Grundnorm des Naturrechts verwendet also einen ethisch-politischen Geltungsbegriff 21: Einer in diesem Sinne "geltenden" Rechtsordnung muß aus moralischen Gründen, infolge der Gerechtigkeit ihres Inhalts, Gehorsam geleistet werden. Davon grundsätzlich verschieden ist die Bedeutung, die der Grundnorm innerhalb der Reinen Rechtslehre zukommt: Kelsen versteht die Grundnorm nicht in einem moralisch-kategorischen, sondern in einem erkenntnispragmatisch-hypothetischen Sinne. Seiner Ansicht nach ist die Grundnorm des positiven Rechts eine Voraussetzung 22 oder, wie eine Reihe von Autoren 23 formulieren, eine Annahme24, die man notwendigerweise machen muß, wenn 1 8 Siehe Kelsen, Die philosophischen Grundlagen 294 f.; ders., RR 442 f. - Auf diese Parallelen weisen auch Alwart, Recht und Handlung 56; Ebenstein, Pure Theory of Law 639, Raz, Validity 150 sowie Tur , Kelsenian Enterprise 164 hin. 1 9

Dazu Adamovich, Reine Rechtsphilosophie 192. 2 0

Rechtslehre

24;

Bindschedler,

Grundnorm

68;

Verdross ,

RR 442.

2 1

Siehe RR 224 f. - Zur Unterscheidung von moralischem, rechtlichem und soziologischem Geltungsbegriff siehe R. Dreier, Begriff des Rechts 109. 2 2

Siehe RR 197 und passim.

2 3

Vor allem Walter,

Stand 80; H. Dreier, Hans Kelsen 44 mit zahlreichen weiteren Angaben in A.

113. 2 4 Kelsens Terminologie in diesem Punkt unterlag erheblichen Schwankungen. Lange Zeit sah er die Grundnorm als eine vom einzelnen Rechtswissenschaftler zum Zwecke der Erkenntnis einer Macht- als Rechtsordnung im Denken vorausgesetzte Norm an (siehe z.B. RR 23, 206) und bezeichnete sie als "Hypothese" (Die philosophischen Grundlagen 299; AS 104; RR 47) oder anspruchsvoller als "transzendentallogische Voraussetzung" im Sinne der neukantianischen Erkenntnistheorie (RR 204; zu Kelsens Berufung auf Kant kritisch etwa Luf, Grundnormkonzeption 575 ff.; Paulson , Reine Rechtslehre 155 ff.; Wilson, Kelsen 37 ff.; Kelsen verteidigend dagegen Leser, Reine Rechtslehre 100; Steiner, Kant's Kelsenianism 65 ff.; Tur, Kelsenian Enterprise 171). In seiner letzten Lebensphase änderte Kelsen jedoch seine Meinung; nunmehr hielt er es für ausgeschlossen, Normen als Ergebnisse von Denkakten zu begreifen; daher interpretierte er die Grundnorm jetzt - unter Berufung auf Vaihingers "Philosophie des Als-Ob" - als Annahme einer von einemfiktiven "Überverfassungsgeber" gewollten Norm (Naturrechtslehre 119 f.; Pure Theory 6; ATN 206 f.). Die Frage nach der Tragweite

154

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

man - wie der Rechtsdogmatiker 25 - ein Ensemble subjektiver Willensakte, das in einer Gesellschaft im großen und ganzen wirksam ist 2 6 , als objektive Sollensordnung erkennen wilfi 7. Allgemein gesprochen: Wer Normwissenwissenschaft betreibt, nimmt in bezug auf seinen Untersuchungsgegenstand eine Grundnorm an, gleichgültig, ob ihm dies bewußt ist oder nicht. Diesen Umstand ins Bewußtsein der Betroffenen zu heben ist das Ziel der Grundnormlehre 28. Andererseits kann niemand gezwungen werden, Normwissenschaft zu betreiben. Wer sich etwa dazu entschließt, die rechtlich in Betracht kommenden sozialen Beziehungen nicht normativistisch-rechtsdogmatisch, sondern als bloße Machtbeziehungen, "das heißt soziologisch, nicht juristisch" 29 zu deuten, der kann daran nicht gehindert werden 30 . Die Grundnorm, wie die Reine Rechtslehre sie versteht, verleiht mithin dem positiven Recht, in den Worten H. Dreiers 31 , "keine originäre Normativität im Sinne einer allgemein verbindlichen Pflichtenbegründung", sondern sie unterstellt diese Normativität nur. Sie sieht die positiven wirksamen Anordnungen der sozialen Autorität nur "hypothetisch" als geltend an 3 2 , betrachtet sie also nicht als geltendes Recht, sondern lediglich so, als ob sie geltendes Recht wären 33 .

dieser Meinungsänderung ist streitig (Übersicht bei Tur , Kelsenian Enterprise 167 ff.), jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit kaum von Bedeutung. Deswegen wird hier mit dem neutralen Begriff der Annahme operiert. - Mit der Frage nach dem Status der Grundnorm verbunden ist die Frage nach ihrem Normcharakter. Wie die soeben gegebene Übersicht zeigt, unterscheidet sich die Grundnorm auch in Kelsens eigener Darstellung tiefgreifend von allen übrigen Normen. Daraus wird von zahlreichen Autoren der Schluß gezogen, ihr die Normqualität generell abzusprechen (Hinweise bei H. Dreier , 44 f. A. 113). Da aber auch diese Autoren am Gedanken von der Normativität als einem individuellen Deutungsschema festhalten - so kennzeichnet Adamovich , Reine Rechtslehre 24 die Grundnorm als "die in der Sprache des Normativen formulierte Annahme, daß der Verfassungsgeber selbst die höchste Rechtsautorität sei" - , bedarf indes auch diese Frage im hiesigen Zusammenhang keiner weiteren Vertiefung. 2 5 Zur Bezugnahme der Reinen Rechtslehre auf den Rechtsbegriff der Rechtsdogmatik siehe oben 1. Kap. Β 11 a.

9 f> Siehe RR 219. - Zur Verbindung von Geltung und Wirksamkeit in der Grundnorm siehe unter Β II; zum Begriff der Wirksamkeit bei Kelsen siehe unter Β I. 2 7 Siehe RR 205, 208. 2 8

Siehe RR 209 (bezogen auf die juristische Grundnorm).

2 9

RR 224.

3 0

Siehe RR 224.

3 1

Hans Kelsen 49.

3 2

Siehe RR 443.

«

Siehe Walter, Stand 73; Eckmann , Rechtspositivismus 32 f.; Meyer - Hesemann, Rekonstruktion 76; Verdroß , Rechtsphilosophie 285. - Zu Ähnlichkeiten der Position Webers zur Ansicht Kelsens siehe Loos, Wert- und Rechtslehre 110.

Α. Grundlage von Normativität

155

Indem er die rechtliche Grundnorm voraussetzt, konstituiert der einzelne als Erkenntnissubjekt somit seinen Untersuchungsgegenstand - die positive Rechtsordnung - als normative Sinneinheit. Eine affirmative Funktion kommt dieser Grundnorm dagegen nicht zu 3 4 : Sie macht lediglich die logischen Bedingungen offenbar, unter denen eine bestimmte - nämlich normativistische - Art von RechXserkenntfiis nur stattfinden kann 35 . II. Die Position Harts: Erkenntnisrcgel als Umschlagpunkt von Recht in soziale Praxis

Ebenso wie Kelsen gelangt auch Hart über seine Analyse der Rechtsquellenhierarchie zur Problematik der obersten Regel einer Rechtsordnung. Er illustriert die Sachlage an einem dem englischen Recht entnommenen Beispiel: Eine kommunale Satzung (by-law) ist danach deshalb rechtsgültig, weil sie auf eine Rechtsverordnung des zuständigen Ministers zurückgeht, der sich seinerseits dabei auf ein entsprechendes Parlamentsgesetz stützen kann. Dieses Parlamentsgesetz wiederum verdankt seine Rechtsgeltung der Regel, wonach alle V o r schriften, die die Königin mit Zustimmung des Parlaments erläßt, Gesetz sind 3 6 . Diese Regel stellt die höchste abhängig ist 3 7 ; sie bildet den Kern der ungeschriebenen Verfassung des Vereinigten Königreichs. Wie soeben gesehen, führt Kelsen zur Begründung des Rechtscharakters der Verfassung die Grundnorm ein. Sie, die selbst nicht dem positiven Recht angehört, bildet den "Geltungsgrund der Verfassung" und vermittelt über die Verfassung der gesamten Rechtsordnung normative Qualität. Dabei hat sie, wie Hart 3 8 bemerkt, "in a sense always the same content"; denn sie nimmt nicht die in einer Rechtsgemeinschaft jeweils konkret maßgeblichen Rechtsgeltungskriterien in ihren Inhalt auf, sondern bezieht sich ohne nähere Spezifizierung oder Konkretisierung auf die in einer Gesellschaft jeweils wirksame Verfassung 39. Anders die Hart'sche Erkenntnisregel: Sie bezieht sich auf eine konkrete Rechtsordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Existenz. Die Erkenntnisregel enthält die in dieser Rechtsordnung maßgeblichen Rechtsgeltungskriterien 3 4 Wenn Priester , Grundnorm 229 und Hughes , Validity 705 die Grundnorm im Sinne einer moralischen Verpflichtung zu interpretieren suchen, so geht dies an der Intention Kelsens vorbei.

-3C

Es greift daher zu kurz, wenn R. Dreier , Rechtserkenntnistheorie 96 (ähnlich ders. , Sein und Sollen 223) davon spricht, daß die Grundnorm (nur) den "semantischen Gehalt" des Ausdrucks Sollen ins Bewußtsein hebe. 3 6

Siehe CL 103 f.

3 7

Siehe CL 104.

3 8

CL 245.

3 9

Siehe oben 3. Kap. C11.

156

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

in hierarchischer Anordnung 40 . So steht etwa an der Spitze der Erkenntnisregel für das Vereinigte Königreich die bereits erwähnte Bestimmung, daß alles, was die Königin mit Zustimmung des Parlaments beschließe, Gesetzesrang habe 41 . Danach folgen die übrigen in der ihrer derogatorischen Kraft 42 . Ferner ist die Erkenntnisregel, anderes als die Grundnorm, keine außerpositive Vorschrift 43 ; ihre Existenz und ihr konkreter Inhalt stellen nach Hart vielmehr reine Tatsachenfragen dar 4 4 , die sich durch "reference to actual practice" 4 5 beantworten lassen: Entscheidend sei zum einen, enthaltenen Rechtsgeltungskriterien tatsächlich anwendeten 46. Außerdem und Sanktionsmittel durchzusetzen47. Da auf diese Weise bereits eine hinreichende Begründung der normativen Basis einer Rechtsordnung gegeben werden könne, laufe die Ansicht Kelsens, darüber hinaus müsse eine Grundnorm als Geltungsgrund der Verfassung angenommen werden, auf eine "unnötige Verdoppelung" (needless reduplication) hinaus 48 . Die Existenzvoraussetzungen der Erkenntnisregel entsprechen also denjenigen einer sozialen Regel 49 . Obgleich sie die Kriterien für die Rechtsgeltung der übrigen Rechtsvorschriften enthält, kommt ihr selbst keine Rechtsgeltung zu. Nach Harts Verständnis besitzt nämlich der Begriff der Rechtsgeltung Relevanz ausschließlich im intrasystematischen Bereich: Er beziehe sich lediglich auf den Umstand, daß eine Regel eines der in der Erkenntnisregel 4 0 CL 98 und oben 3. Kap. A II 2 a. - Coleman , Positivism 30 bringt dies in der Bemerkung zum Ausdruck, die Erkenntnisregel formuliere "the truth conditions for singular propositions of law of the form 'it is the law in C that p', when C is a particular community and ρ a putative statement of law". An der Vorstellung Harts , in der Erkenntnisregel ließen sich alle Rechtsgeltungskriterien der Rechtsordnung zusammenfassen, wurde vielfach Kritik geübt. So bildet der Versuch, die Unerfüllbarkeit dieses Anspruchs nachzuweisen, einen der Hauptpunkte von Dworkins Attacke auf Hart (Model of Rules I 48 ff.; dazu Bittner , Recht als interpretative Praxis 138 ff.). Eine nähere Diskussion der damit verbundenen Fragen würde jedoch den thematischen Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. 4 1 Siehe C1104. - Kritisch zu dieser Formulierung der Erkenntnisregel unter dem Gesichtspunkt des Einflusses des EG-Rechts auf das nationale englische Recht Campbell Career 13; Starr , Rule of Recognition 263 f. 4 2

Dazu siehe oben 3. Kap. A II 2.

4 3

Zu diesem Unterschied siehe Hart, CL 105 f.; 245.

4 4

CL 106, 245.

4 5

CL 105.

4 6

Siehe CL 98, 99,105.

4 7

Im einzelnen dazu siehe oben 2. Kap. Β I I 1.

4 8

CL 246. - Auch Engisch , Literaturbericht 602 bezeichnet die Grundnormkonzeption als "überflüssige gedankliche Zutat". 4 9

Siehe oben 2. Kap. Β I I 1.

Α. Grundlage von Normativität

157

enthaltenen Rechtsgeltungskriterien erfülle und daher der durch die Erkenntnisregel konstituierten und zusammengehaltenen Rechtsordnung angehöre 50. Auch darin, daß sie, obgleich Rechtsregei, nicht gilt, unterscheidet sich die Erkenntnisregel von der Konzeption Kelsens 51 : Dieser betrachtet Geltung als die einzige Existenzform einer Norm 5 2 und ist daher gezwungen, auch die Grundnorm als geltende Norm vorauszusetzen 53. Indem Hart die Erkenntnisregel sowohl von ihrem Inhalt wie von ihren Existenzvoraussetzungen her in die empirischer Nachprüfung zugängliche Realität einer jeweils konkreten Rechtsordnung hineinstellt, vermeidet er die Parallele zur Naturrechtsdoktrin, die die Grundnorm dadurch aufweist, daß sie den Bereich des positiven Rechts überschreitet - eine Parallele, die freilich, wie bereits oben unterstrichen 54, rein formaler Natur ist und keinesfalls die inhaltliche Legitimierung der durch sie als geltend gedeuteten Rechtsordnung bezweckt. Daß Hart - anders als Kelsen und ebenso wie etwa Bryce - den rechtlichen Stufenbau auf der Ebene der Verfassung enden läßt, bedeutet, daß er insofern dem herkömmlichen Positivismus deutlich näher steht, als dies bei Kelsen der Fall ist 5 5 . Was ihn von der Theorie Austins unterscheidet, ist also letztlich nur, daß dort der Umschlag von Normativität zu Faktizität unvermittelt erfolgt, während bei Hart der Übergang vom Sollen des Rechts zum Sein sozialer Konformitätsmechanismen selbst durch eine Regel geleistet wird - nämlich durch die Erkenntnisregel. Sie markiert den Punkt, an dem die formalisierte Verhaltensordnung Recht in die Offenheit unorganisierter sozialer Verhaltenspraktiken umschlägt 56 . Kelsen versteht in seiner Grundnormlehre wie auch in seinem Rechtspflichtbegriff das Recht als einen gleichsam selbstgenügsamen, in sich

5 0

Siehe CL 100,105.

5 1

Dazu Hart selber in CL 245 sowie Harris, Law and Legal Science 115-117.

5 2

Siehe GT 30; RR 9.

ΜJ

~ Siehe GT 401. - Nach Harris, Law and Legal Science 117 "gilt" die Grundnorm in dem Sinne, daß sie einen "consistent part of a legal normative field of meaning" darstellt. Auch Hart, CL 245 sowie Raz, Concept of a Legal System 64 gehen davon aus, daß Kelsen die Grundnorm als geltende Norm betrachtet. Wenn Priester, Grundnorm 220 der Grundnorm Rechtsgeltung abspricht, so findet dies in Kelsens Ausführungen keine Stütze. - Eine andere Frage ist es freilich, ob der Ansicht Kelsens vom Normcharakter der Grundnorm zugestimmt werden kann (zur Problematik siehe oben A. 24.). 5 4

Oben I 2.

5 5

Die im Vergleich zu Kelsen stärkeren "positivistischen" Elemente der Konzeption Harts betonen insbesondere Tur , Kelsenian Enterprise 166 sowie Bydlinski, Methodenlehre 205-207. 5 6 Dies wird vor allem von Simmonds, Practice 361 herausgestellt. Allgemein bemerkt Simmonds aaO über Harts Theorie, sie könne "profitably be read as a study of the connection between the characteristic forms of legal discourse and the existence of social practices".

158

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

geschlossenen Erzeugungszusammenhang. Da die positivrechtlich vorgesehenen Kontroll- und Erzeugungsmechanismen irgendwann an ihr Ende kommen, hat diese Ansicht zur Folge, daß er Rechtspflichten der "Grenzorgane" überhaupt nicht annehmen kann 5 7 und für die Frage der rechtlichen Geltungsbegründung auf den Ausweg der Apriorisierung einer Grundnorm zurückgreifen muß. Dagegen geht Hart von der Einsicht aus, daß eine auf die Ermittlung der sozial maßgeblichen Rechtsgeltungskriterien abstellende Rechtstheorie auf der obersten Ebene der Hierarchie der positiven Rechtsvorschriften, also auf der Ebene der Erkenntnisregel, von der Untersuchung der Innenstruktur des Rechts abgehen und auf eine Analyse der Faktoren "äußerliche Konformität" und "innerliche Loyalität" umschwenken muß. III. Die NormativitätsbegrifTe Harts und Kelsens

Hinter Harts Konzeption der Erkenntnisregel steht ein Verständnis von der Normativität des Rechts, das sich tiefgreifend von demjenigen Kelsens unterscheidet. Bei Kelsen stellt das rechtliche Sollen eine bestimmte Art des (rechts)wissenschaftlichen Verstehens dar: Das Seinsphänomen einer bestimmten, faktisch wirksamen Struktur von Machtbeziehungen wird infolge der von der normativistischen Rechtswissenschaft vorgenommenen Deutung zu einer normativen Ordnung, zu Recht transformiert. Hart dagegen leitet rechtliches Sollen unmittelbar aus der in einer konkreten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit tatsächlich "wirklichkeitsmächtigen" Erkenntnisregel ab. Er begreift mithin Sollen als, wenn man so will, eine spezifische Seinsform - nämlich als subjektiv, d.h. durch bestimmte Subjekte vollzogene Akzeptanz 58 .

Es liegt in der Konsequenz dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte, daß Hart mit Kelsens Vorstellung von einer nur hypothetischen Geltung des Rechts bricht 59 : Die Existenz und der Inhalt einer bestimmten Erkenntnisregel sind ihm etwas höchst Reales, eine mit empirischen Mitteln beantwortbare "question of fact" 60 ; und da die gesamte übrige Rechtsordnung ihre Geltung letztlich ihrer Rückführbarkeit auf die Kriterien der Erkenntnisregel verdankt, ist die Frage, ob eine bestimmte Rechtsregei rechtlich gilt, stets mit einem eindeutigen, durch die

5 7

Dazu siehe oben 2. Kap. A l l a (1); 3. Kap. Β III.

5 8

Hoerster , Vergleich 17. - In der Terminologie Raz', Basic Norm 134-136, 139, 144 f. entwickelt Hart seine Lehre von der herkömmlichen rechtspositivistischen Konzeption der "social normativity" her, während Kelsen von der erkenntnistheoretisch umgedeuteten, strukturell naturrechtlichen Vorstellung einer "justified normativity" ausgehe. 5 9

Siehe CL 105 f., 245.

6 0

CL 245.

Α. Grundlage von Normativität

159

Untersuchung der tatsächlichen Gerichtspraktiken verifizierbaren "Ja" oder "Nein" zu beantworten 61. IV. Das Verhältnis der beiden Normativitätskonzeptionen zueinander; Beurteilung von Harts Kritik

Die Ausführungen Harts zur Erkenntnisregel sind also auf einer anderen Problemebene angesiedelt als Kelsens Grundnorm- und Geltungslehre: Die sozial maßgebliche organisierte Verhaltensordnung, die das "Recht" im Sinne Harts ausmacht, stellt bei Kelsen nur das "Bauzeug" 62 für die rechtswissenschaftliche Tätigkeit dar: das Rohmaterial, das für die Deutung als geltende Sollensordnung in Betracht kommt. Recht ist mit anderen Worten für Hart nicht, wie für Kelsen, das Produkt der rechtswissenschaftlichen Deutung sozialer Faktizität, sondern es ist selbst ein in besonderer Weise organisierter und verfestigter, gleichsam auskristallisierter Ausschnitt sozialer Praxis: ein als Selbsterzeugungsmechanismus strukturiertes Geflecht allgemeiner Verhaltensstandards, dessen Existenz als Recht letztlich auf der Akzeptanz seiner grundlegenden Bestimmungskriterien durch die zu autoritativer Streitentscheidung berufenen Amtsträger - vor allem die Gerichte - beruht 63 . Kann man somit Kelsens Grundnormlehre als "Metatheorie der Rechtswissenschaft" klassifizieren, so stellt demgegenüber Harts Konzeption der Erkenntnisregel eine "Metatheorie der Rechtspraxis" dar. Den beiden Normativitätskonzeptionen liegen unterschiedliche Fragen und Zielvorstellungen zugrunde 64 . Als Krönung seines rekonstruktivistischen Bemühens, hinter der Komplexität und Unübersichtlichkeit positiver Rechtsordnungen ein Höchstmaß an gemeinsamen Strukturen aufzuweisen 65, identifiziert Kelsen mit der Grundnorm diejenige formale Denkvoraussetzung, die man notwendigerweise machen muß, wenn man überhaupt Normwissenschaft betreiben, eine bestimmte vorgegebene Struktur von Machtbeziehungen als eine Rechtsordnung erkennen will. Kelsen geht es also um die Voraussetzungen jeder möglichen Rechts- (verstanden als 6 1

Siehe CL 105.

6 2

Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft Β 735.

Siehe Alwart, Recht und Handlung 143 f., der formuliert, daß für Hart die Objektivität des Rechts eine solche sozialer Realität sei, während Kelsen das Recht in der Idealität eines Sollens zu verankern suche. 6 4 Dazu Beyleveld/Brownswordy Normative Positivism 500-502; J. Cohen, Myth of Neutrality 110; Detmold, Unity 158; R. Dreier, Reine Rechtslehre 250; ders., Sein und Sollen 223; Kulenkampff, Rechtspositivismus 530 f.; MacCormick/Bankowski y Speech Acts 123 f.; Orr, Rechtspositivismus 216; Summers, Rejoinder 79; Weinreb, Law as Order 934 f. 6 5

Dazu siehe oben 1. Kap. C I .

160

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

Norm-ierkenntnis 66; zur Feststellung der Geltungskriterien konkreter Rechtsordnungen kann und soll seine Grundnormtheorie dagegen nicht dienen. Hart befaßt sich nicht mit der von Kelsen erörterten Grundsatzfrage. Der deskriptivistisch- empiristischen Ausrichtung seiner Rechtslehre entsprechend 67 thematisiert er in seinen Ausführungen zur Erkenntnisregel den Zusammenhang von Rechtsgeltungsbegründung und sozialer Praxis. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht daher ein Problem, auf welches die Grundnormlehre infolge ihres höheren Abstraktionsniveaus von vornherein nicht bezogen ist: die Frage nach der Identifizierung der vom Rechtsstab einer konkreten Rechtsordnung tatsächlich zugrundegelegten Rechtsgeltungskriterien 68. Diese unterschiedlichen Fragestellungen müssen auch bei der Würdigung von Harts Kritik an der Grundnormlehre berücksichtigt werden. Neben dem bereits erwähnten Vorwurf, sie stelle eine "unnötige Verdoppelung" dar, kritisiert Hart des weiteren, die Grundnorm sei, für sich genommen, nicht dazu in der Lage, die ihr von Kelsen zugeschriebene Funktion als Einheitskonstituante wahrzunehmen: Kelsen's view is that laws form one system because their validity is ... to be traced back and derived from one basic norm. If, however,... we can only trace back the validity of laws to other laws ..., if we already know by the test of recognition to what system the laws belong, it cannot be traceability back to the basic norm that tells us to what system laws belong or accounts for their unity in a single system 69 .

Daraus folgt nach Harts Schüler Raz 70 die Zirkularität der Grundnormlehre: He (Kelsen, M.P.) can only identify the legal system with the help of the basic norm whereas the basic norm can be identified only after the identity of the legal system has been established71.

6 6

Siehe Tur , Kelsenian Enterprise 154.

6 7

Dazu siehe oben 1. Kap. C II.

6 8

Summers , Rejoinder 79 (ganz ähnlich Detmold , Unity 158) formuliert den Unterschied zwischen Kelsens und Harts Ausgangsfragen wie folgt: "Really there are two questions here, and Kelsen addresses himself to one and Hart to the other. The first question is: What is logically presupposed in talk about legal rules? To this Kelsen would say, a 'basic norm'. A second and different question is this: What is the rule of recognition in a given legal system? We may, with reservations, agree with Hart that this is an 'empirical, though complex, question of fact". 6 9

Unity 339.

7 0

Basic Norm 129.

7 1

Ebenso Duncanson, English Jurisprudence 221; Finnis, Revolutions 67, Valdés y Geltung 66. Auch Leiminger , Problematik 44 (ganz ähnlich Stone , Mystery and Mystique 42; Moór t Rechtspositivismus 77) wirft Kelsen vor, er bezeichne die Grundnorm das eine Mal als Voraussetzung der Rechtsordnung, das andere Mal die Rechtsordnung als Voraussetzung der Grundnorm, und verstricke sich auf diese Weise in logische Widersprüche.

Α. Grundlage von Normativität

161

Diese Vorwürfe gehen jedoch fehl, weil sie das vorstehend herausgearbeitete spezifische Anliegen Kelsens verkennen: Diesem geht es, wie T u r 7 2 bemerkt, nicht um M a new method of acquiring knowledge of the legal order", sondern "(he) offers a new theory of what it is which legitimates such knowledge claims". Die Grundnorm ist ein allgemeines rechtswissenschaftliches Deutungsschema, das es ermöglicht, einer faktisch vorgegebenen sozialen Verhaltensoder Machtstruktur normative Qualität und Einheit zu verleihen 73 ; sie hat insofern, wie Losano 74 formuliert, "eine rein theoretische Funktion". Im Unterschied zur Erkenntnisregel Harts ist sie weder dazu geeignet noch dazu gedacht, als Maßstab zur Identifizierung der Mitgliedsnormen einer konkreten Rechtsordnung zu dienen. Entgegen Harts Vorwurf, die Grundnorm stelle eine "unnötige Verdoppelung" dar, machen daher seine Ausführungen Kelsens Analyse ebensowenig überflüssig, wie diese der von Hart angestrebten detaillierten Untersuchung der in einem bestimmten Rechtssystem tatsächlich unter gerichtlichen Erzwingungsdruck gestellten und vom Rechtsstab anerkannten Rechtsgeltungskriterien entgegensteht75. Im Gegenteil: Eine oben gebrauchte Metapher wiederaufnehmend, kann man sagen: Der Baumeister bedarf des Bauzeugs. Ohne empirische Ausfüllung bliebe Kelsens logisch-formale Analyse abstrakt und "leer", ebenso wie ein Empirismus ohne Klärung seiner erkenntnistheoretischen Grundlagen "blind" bliebe 76 . Daraus ergibt sich zugleich, daß Kelsen mit der Grundnorm keineswegs in einen logischen Zirkel gerät. Wenn Hart ihr ein Versagen als Einheitskonstituante und Raz ihr Zirkularität vorwirft, so beruhen diese Vorwürfe wiederum darauf, daß sie die Funktionen von Grundnorm und Erkenntnisregel in unkritischer Weise gleichsetzen und dadurch die spezifische Fragestellung der Grundnormlehre verkennen: Dieser geht es nicht darum, die in einer Gesellschaft anerkannten Rechtsgeltungskriterien aneinanderzureihen, sondern darum, das Recht das Ergebnis einer gegebene Machtstrukturen transzendierenden Deutung begreifen zu können 77 .

7 2

Kelsenian Enterprise 154.

Siehe Kelsen, RR 204; ders., Problematik 154 ff. (dort Auseinandersetzung mit den Vorwürfen Leimingers). 7 4

Geltung und Wirksamkeit 89.

7 5

So nachdrücklich auch Beyleveld/Brownsword, Normative 500, die (aaO 502) aus diesem Grunde Harts Vorwurf, die Grundnorm stelle eine unnötige Verdoppelung dar, mit den Worten zurückweisen: "This begs the question by directly presupposing Hart's Concept of Law", sowie Eckmann , Rechtspositivismus 124 f. 7 6

Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft Β 75.

7 7

Aus diesem Grunde weisen auch Moore, Legal Norm 99-103 und Wilson, Basic Norm 63 Raz' Einwand zurück. 11 Pawlik

162

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

Entgegen der Auffassung Harts behandeln Kelsen und er somit unterschiedliche, aber gleichermaßen bedeutsame und sinnvolle Fragen, die erst gemeinsam ein vollständiges Bild einer Rechtsordnung vermitteln und einen zugleich tatsachenbezogenen und selbstkritisch reflektierten Umgang mit dem positiven Recht ermöglichen 78 . V. Kritik an Harts Auffassung

Während somit der Zirkularitätsvorwurf gegenüber der Grundnorm zurückzuweisen ist, bestehen gegenüber dem Versuch Harts, die Normativität des Rechts aus der Rechtsanwendungspraxis des Rechtsstabes heraus zu entwickeln, erhebliche Bedenken. Hart gerät, wie gesehen79, in einen infiniten Regreß: Zur Bestimmung der Amtsträgereigenschaft bedarf es stets eines Gesetzgebers, zur Begründung von dessen Gesetzgebungsbefugnis stets des Vorhandenseins von Amtsträgern. Es gelingt ihm also nicht, sein Normativitätsverständnis mit der von ihm mit Kelsen geteilten Überzeugung zu vereinbaren, daß das Recht ein in sich geschlossenes - und das bedeutet auch: ein an einem bestimmten Punkt abgeschlossenes - normatives System darstelle 80. Will Hart die Kette stets weitergehender Rückverweisungen abbrechen, so stehen ihm dafür begründungsmäßig zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder er stützt die rechtliche Autorität der Gerichte und des Rechtsstabes insgesamt auf das Faktum ihrer Anerkennung durch den "staatstragenden" Teil einer Gesellschaft 81; damit würde er jedoch einen Schluß von einem Sein auf ein Sollen vornehmen, dessen Zulässigkeit er in seiner Auseinandersetzung mit Austins Lehre ausdrücklich verneint hat; er hätte nämlich nicht erklärt, warum die Anerkennung des Rechts durch die führende, tonangebende Schicht 82 normativ relevant . d.h. zur Begründung nicht nur der tatsächlichen Macht, sondern auch der rechtlichen Autorität der Gerichte hinreichend sein soll 8 3 . Hält er an seiner

7 8 Auch Weinreb , Law as Order 935 bemerkt ausdrücklich: "The two answers are not inconsistent, nor is one complete without the other"; und./. Cohen, Myth of Neutrality 110 spricht von Grundnorm und Erkenntnisregel als von "two inseparable, but different sides of the coin". 7 9

Siehe oben 2. Kap. C II 3.

8 0

Zu dieser gemeinsamen Grundüberzeugung Kelsens und Harts siehe oben 1. Kap. Β II.

8 1

Dies wird der Sache nach von MacCormick , Legal Reasoning 55 vorgeschlagen. MacCormick argumentiert, die Gerichte, wie sie von der Hart'sehen Erkenntnisregel vorausgesetzt würden, seien "institutions established by a wider community from which they derive their legitimacy and authority as determiners of controversies", wobei diese "wider community" mindestens soviele Personen umfassen müsse, wie zur tatsächlichen Aufrechterhaltung einer bestimmten Rechtsordnung erforderlich seien.

QO

Zu weiteren Versionen dieser Variante der Anerkennungstheorie siehe Beling , Vom Positivismus zum Naturrecht 10 ff.; Nawiasky , Rechtslehre 18.

Β. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit

163

Ablehnung einer Problemlösung à la Austin fest, so bleibt ihm nur noch ein Weg, um die Ausgangsprämissen seiner Theorie - seine Überzeugung, daß das Recht ein zugleich positives und normativ geschlossenes System sei - miteinander in Einklang zu bringen: Er muß die Normativität der von ihm als Recht gedeuteten Tatbestände voraussetzen und damit diejenige Annahme machen, die Kelsen als "Grundnorm" bezeichnet84. Er müßte mit anderen Worten seine ursprüngliche Vorstellung, wonach die Normativität des Rechts aus einer Praxis hervorgeht, durch die Kelsen'sche Konzeption vom Recht als dem Ergebnis einer Deutung ersetzen, müßte also die Transzendierungsleistung vollziehen, die er als "unnötige Verdoppelung" abtun zu können meinte. Insgesamt ergibt sich somit, daß Harts Theorie von der Erkenntnisregel zwar zur inhaltlichen Ausfüllung der Grundnormlehre nützlich ist, anders als diese aber keinen für sich selbst stehen könnenden, in sich geschlossenen rechtstheoretischen Entwurf darstellt. Fern davon, Kelsens Überlegungen widerlegt zu haben, bietet Harts Theorie von der Erkenntnisregel also gerade eine Bestätigung der Unverzichtbarkeit des Kelsen'schen Ansatzes. B. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit bei Kelsen; Harts Stellungnahmen I. Kelsens Begriff der Wirksamkeit

Kelsen schreibt nur solchen sozialen Verhaltensordnungen und - in seinen späteren Werken - Einzelbestimmungen Rechtsgeltung zu, die im wesentlichen wirksam sind 85 . Seine Versuche, Geltung und Wirksamkeit miteinander in Beziehung zu setzen, sollen in diesem Abschnitt erörtert werden. Vorab ist aber der Wirksamkeitsbegriff zu klären, den Kelsen seinen Ausführungen zugrundelegt.

8 3 Kritisch zu MacCormick auch Duncanson, English Jurisprudence 221 Α. 60; Kramer , Rule of Misrecognition 413 f.

&d

Auch Cameron , Observations 113 betont, es gebe kein anderes Mittel als die Grundnorm, um den Abgrund zwischen Normativität und Faktizität zu überwinden. oc

Köchler, Struktur 514 kritisiert, indem Kelsen von "in großen und ganzen" wirksamen Normen spreche, setze er sich in einen Widerspruch zu seiner eigenen Wissenschaftsauffassung, wonach vage, Undefinierte Begriffe im Kontext einer rationalen wissenschaftlichen Systematik nicht verwendet werden dürften. Dieser Einwand vermag jedoch nicht zu überzeugen: Kelsen Bezugnahme auf die Wirksamkeit stellt nur einen - im Text sogenannten - "Merkposten" dar: Er sagt über die Wirksamkeit gerade nur soviel, wie er zur Bestimmung seines positivistischen Rechtsbegriffs benötigt, und überläßt alle weiteren Fragen der Soziologie. (Ctegen Köchler auch Walter, Einwände 610.)

164

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

In seinem auf der Unterscheidung zwischen Norm- und Kausalwissenschaften beruhenden Wissenschaftsverständnis 86 stellt die Frage, welche Faktoren die Wirksamkeit einer Rechtsordnung ausmachen, ein soziologisches, also kausalwissenschaftliches Problem dar, für dessen Beantwortung die normativistisch-formalistisch orientierte Reine Rechtslehre nicht zuständig ist 8 7 . Kelsen betrachtet zwar faktische Wirksamkeit als Voraussetzung der Rechtsgeltung, um auf diese Weise den Realitätsbezug seiner Rechtstheorie zu sichern; im übrigen behandelt er das Wirksamkeitserfordernis aber nur als eine Art Merkposten, dessen nähere Behandlung er der (Rechts-)Soziologie überläßt 88 . Im Hinblick auf die Rechtsordnung insgesamt begnügt er sich mit der Feststellung, eine Rechtsordnung sei im großen und ganzen wirksam, wenn sie in der Regel (von den Rechtsunterworfenen) befolgt, und, wenn nicht befolgt, (vom Rechtsstab) angewendet werde 89 . Daß zwischen dem rechtlich gesollten und dem tatsächlich erfolgenden Verhalten eine gewisse "Spannung" bestehe, werde durch den Begriff der Sollensordnung mit Notwendigkeit impliziert. Sinke sie nämlich unter ein gewisses Minimum, dann wäre jede Möglichkeit genommen, sich des Systems Recht als eines brauchbaren Deutungsoder Bewertungsschemas für das tatsächliche Verhalten der Menschen, die Inhalte des Systems Natur, zu bedienen90.

Allerdings dürfe die Spannung ein bestimmtes Maximum nicht überschreiten, denn dann verlöre die Annahme eines eigengesetzlichen Systems "Recht" jeden Sinn 9 1 .

Etwas ausführlicher sind Kelsens Ausführungen zu den Wirksamkeitsbedingungen einer einzelnen Rechtsnorm. Hier steht seiner Ansicht nach von den beiden Faktoren des Befolgt- und Angewendetwerdens der letztere, die Anwendung der Rechtsnorm durch die Amtsträger, im Vordergrund: Es ist wohl anzunehmen, daß eine Rechtsnorm, auch wenn sie niemals befolgt wurde, aber doch in 09

der Regel von den Gerichten angewendet wird, als geltend angesehen wird

.

o/r Siehe RR 78 f.; dazu Pohlmann, Zurechnung und Kausalität 86-111. Siehe auch Balog, Kelsens Kritik 515-521.

R7 Siehe Ix>sano, Geltung und Wirksamkeit 91.

CO

Siehe Achterberg , Hans Kelsens Bedeutung 453; Lübbe, Legitimität 51. - Zu der vom hier behandelten Begriff der Wirksamkeit bei Kelsen zu unterscheidenden Frage, warum dieser die Grundnorm ausgerechnet auf solche Ordnungen bezieht, die in einer bestimmten Gesellschaft im wesentlichen wirksam sind, siehe unter II. OQ 9 0

Juristischer Positivismus 949; siehe auch RR 219. AS 18.

9 1 AS 18. - Zur Zweckmäßigkeit als dem diese Begriffsbestimmung leitenden Gedanken siehe unten A. 109.

09

Juristischer Positivismus 949; siehe auch RR 11.

Β. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit

165

Dies sei, wie er hinzufügt, eine Konsequenz daraus, daß die Reine Rechtslehre das Recht als eine normative Ordnung begreife, die Zwangsakte als Sanktionen statuiere 93. Er führt also die auf die Tätigkeit der Rechtsanwendungsinstitutionen abstellende "prozessualistische" Betrachtungsweise, die bereits seine Rechtsstrukturanalyse prägte 94 , insoweit auch auf der Wirksamkeitsebene weiter fort. Dadurch unterstreicht er erneut, daß es für eine soziale Verhaltensordnung wie das Recht, die durch Institutionalisierung, insbesondere das Vorhandensein eines Rechtsstabes gekennzeichnet ist 9 5 , unverzichtbar ist, daß jedenfalls die Amtswalter ihr die Treue halten und daß deren Macht groß genug ist, um getroffene Entscheidungen tatsächlich durchzusetzen. Mit dieser Erörterung der Wirksamkeitsproblematik spart Kelsen freilich eine Fülle von Problemen aus. Insbesondere behandelt er nicht die im Zentrum von Harts Überlegungen stehende Frage, welche Bedeutung die Motive, aus denen Normbefolgung bzw. -anwendung erfolgen, für die Wirksamkeit und Stabilität einer Rechtsordnung haben 96 . Nicht dafür, was gedacht, sondern allein dafür, was gesagt und getan wird, interessiert sich Kelsen. Er thematisiert also unter den vielfältigen sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die erst gemeinsam die Wirksamkeit einer Rechtsordnung ermöglichen, nur sozusagen die oberste Problemschicht, die Ebene des Sprechens und Handelns, auf der die komplexen sozialen Prozesse, die das Recht hervorbringen und tragen, sich gleichsam veräußerlichen und ihren unmittelbar feststellbaren Niederschlag finden. Diese Beschränkung auf eine "Minimalanalyse" der Wirksamkeitsproblematik läßt sich mit dem Gedanken rechtfertigen, daß eine Zwangsordnung, solange sie faktisch im wesentlichen befolgt und angewendet wird - aus welchen Gründen auch immer - , ein solches Maß an "Wirklichkeitsmächtigkeit" besitzt, daß der Rechtswissenschaftler zweckmäßig handelt, wenn er sie als Rechtsordnung deutet 97 . Kelsens Vorgehen stellt somit eine Anwendung des Gebotes der Methodenökonomie dar: Er benennt nur diejenigen Faktoren, die der Rechtswissenschaftler verhältnismäßig leicht feststellen und mit deren Feststellung er sich begnügen kann, um sein eigentliches Programm, die normative Deutung einer positiven Ordnung, in sinnvoller, zweckmäßiger Weise durchführen zu können.

Q'J

Juristischer Positivismus 949 (Hervorhebung von mir). 9 4

Dazu siehe oben 2. Kap. A I 3.

9 5

Dazu siehe oben 2. Kap. A I I I 1.

Q fi ™ Dazu ausführlich nachfolgend unter C

III.

97 Zur zweckmäßigen Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes der Rechtstheorie siehe unten I I 2 (insbesondere A. 109).

166

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

II. Verbindung von Geltung und Wirksamkeit durch die Grundnorm

1. Die Position Kelsens und der Einwand Harts Die nach Kelsen von der Rechtswissenschaft vorausgesetzte Grundnorm bezieht sich, wie gesehen, nicht auf ein beliebiges normatives System, sondern auf das in einer bestimmten Gesellschaft jeweils tatsächlich wirksame Gefüge von Machtbeziehungen; nur dieses läßt sich anhand der Grundnorm als Rechtsordnung deuten. Wie Kelsen 98 formuliert, ist (neben der Setzung) die Wirksamkeit einer Rechtsordnung "in der Grundnorm zur Bedingung der Geltung gemacht". Auch Hart erkennt an, daß the efficacy of the system is the normal context for making statements of validity 99 .

Sich demgegenüber auf eine andere, nicht mehr oder noch nicht wirksame Rechtsordnung zu berufen, ist zwar nicht falsch, aber unbeachtlich bzw., wie H a r t 1 0 0 formuliert, sinnlos (pointless). Wer in seinen Äußerungen eine andere als die sozial wirksame Erkenntnisregel voraussetzte, würde damit seinen Anspruch zum Ausdruck bringen, nach anderen Regeln zu leben und behandelt zu werden als der Rest der Gesellschaft. Diesen Anspruch zu erheben kann er freilich nicht gehindert werden; als gültige Verhaltensalternative wird das von ihm zugrundegelegte Regelwerk von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern allerdings gewöhnlich nicht anerkannt werden 101 . To insist on applying a system of rules which had either never actually been effective or had been discarded

sei daher, wie Hart zusammenfassend bemerkt, as futile as to assess the progress of a game by reference to a scoring rule which had never been accepted or had been discarded 102 .

Bis zu diesem Punkt bestehen zwischen den Grundpositionen Kelsens und Harts deutliche Parallelen, auf die Hart auch ausdrücklich hinweist 103 . Im 9 8

RR 219; Hervorhebungen von mir.

9 9

CL 247; ebenso CL 100. - Hart spricht in diesem Zusammenhang von "internal statements" (CL 100 f.). Zur Kritik an Harts intern/extern-Unterscheidung siehe unter C I . 1 0 0

CL 100.

1 0 1

Austin , Province 185 bringt diesen Gedanken in besonders prägnanter Form zum Ausdruck: "Suppose an act innocuous, or positively beneficial, be prohibited by the sovereign under the penalty of death; if I commit this act, I shall be tried and condemned, and if I object to the sentence, that it is contrary to the law of God ... the court of justice will demonstrate the inconclusiveness of my reasoning by hanging me up, in pursuance of the law of which I have inpugned the validity". 1 0 2

CL 100 f.

Β. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit

167

Fortgang seiner Argumentation meint dieser indes einen Unterschied seiner Auffassung zu derjenigen der Reinen Rechtslehre ausmachen zu können. Neben den bislang behandelten, von Kelsen bei seiner Grundnormformulierung allein in Betracht gezogenen Normalfällen gebe es nämlich auch "special circumstances", in denen "statements of validity" sinnvoll seien, selbst wenn das von ihnen in Bezug genommene Rechtssystem nicht mehr wirksam oder niemals wirksam geworden sei 1 0 4 . Solche Umstände könnten sich sowohl aus wissenschaftlich-theoretischen wie aus praktisch-politischen Interessen und Fragestellungen ergeben; der Rechtsgeschichtler, der aus pädogogischen Gründen das Römische Recht so lehrt, als sei es nach wie vor eine geltende Rechtsordnung, exemplifiziert bei Hart den erstgenannten Typus; der russissche Aristokrat, der noch immer auf seine Rechte unter der zaristischen Rechtsordnung pocht und auf diese Weise implizit dem derzeitigen Regime den Rechtscharakter abspricht, ist ein Beispiel für die zweite Fallgruppe 105 . Der Vorwurf gegen die Grundnormtheorie, der sich diesen Ausführungen Harts entnehmen läßt, geht also dahin, daß Kelsens Bezugnahme auf das W i r k samkeitserfordernis zu einer unangemessenen Verengung möglicher und sinnvoller Rechtsgeltungsaussagen führe. Diese Kritik ist jedoch nicht gerechtfertigt. 2. Argumentationsstufen

innerhalb der Grundnormtheorie

Innerhalb der Grundnormtheorie müssen mehrere Argumentationsstufen unterschieden werden. In einem ersten Schritt grenzt Kelsen seine Grundnormkonzeption gegenüber den ethisch-politischen "Grundnormen" und Geltungsbegriffen des Naturrechts ab, indem er sie als erkenntnispragmatische Annahme konzipiert 106 . Die den Kern der Grundnormlehre ausmachende Einsicht, daß die Geltung der Normen auf der obersten Normenebene vom Erkenntnissubjekt vorausgesetzt werden müsse, ist indes nicht auf das (positive) Recht beschränkt, sondern gilt für sämtliche normativen Ordnungen 107 . Sie alle haben ihre Grundnorm. A u f dieser Ebene ist mit anderen Worten die Grundnorm eine V o r aussetzung, die jeder machen muß, der überhaupt Normwissenschaft (verstanden als Normer£e/w//n'swissenschaft) betreiben w i l l 1 0 8 . Um dieses 1 0 3

CL 247.

1 0 4

CL 101, 247.

1 0 5

Siehe CL 101.

1 0 6

Dazu siehe oben A 1 2 .

1 0 7

Siehe RR 197.

1 0 8

Siehe Lippold, Reine Rechtslehre 58.

168

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

allgemeine normativistische Deutungsschema - es läßt sich als "Grundform" der Grundnorm bezeichnen - zu einem Instrument weiterzuentwickeln, das die Deutung einzelner spezieller Normensysteme gestattet, muß es in einem zweiten Schritt spezifiziert, müssen ihm weitere Voraussetzungen hinzugefügt werden. Es muß von einer (einzigen) "Grundnorm im weiteren Sinne" zu (einer Vielzahl von) "Grundnormen im engeren Sinne" übergegangen werden. Welche Zusatzvoraussetzungen dabei in die jeweiligen Grundnormbegriffe zu integrieren sind, richtet sich nach der Fragestellung, von der der einzelne Normwissenschaftler ausgeht. Sie kann nicht nach den Kriterien "richtig" und "falsch", sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit beurteilt werden 109 . Untersuchungsgegenstand der Reinen Rechtslehre ist die Struktur der normativen Ordnung "positives Recht" 110 . Diese spezifische Fragestellung - deren theoretische wie praktische Bedeutung von Hart in seinen soeben dargestellten Überlegungen eindringlich betont wurde - ist es, die Kelsen dazu veranlaßt, "Setzung" und "Wirksamkeit", also die Merkmale der Rechtspositivität 111 , als Voraussetzungen in seine Ausfüllung des allgemeinen Grundnormschemas aufzunehmen 112 . Ausgehend vom allgemeinen Strukturschema "Grundnorm" gelangt er so zur Formulierung einer speziellen Grundnorm - der Grundnorm des positiven Rechts 113.

1 0 9 Dazu siehe oben 1. Kap. Β I 1 a. - Das Argument, die Grundnorm sei Kelsens Mittel für eine zweckmäßige Festlegung seines Untersuchungsgegenstandes, wurde erstmals von Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen 303 f. unter Berufung auf Mach in die Diskussion eingeführt. Es fand bei Kelsen (Das Problem der Souveränität 99 A. 1; siehe auch Verdross , Völkerrecht 2033: "... schließt sich Kelsen der von Pitamic entwickelten Auffassung an") und bei weiteren Mitgliedern von dessen Wiener Kreis Zustimmung (siehe etwa Kraft-Fuchs, Kelsens Staatstheorie 205 f.; Ebenstein, Pure Theory 642). (Später distanzierte Pitamic sich allerdings ausdrücklich von diesem Ansatz, siehe ders.y Grundnorm 210-213.) In neuerer Zeit wurde der Zweckmäßigkeitsgedanke vor allem durch Walter in einer Reihe von Veröffentlichungen (dazu siehe unten) wiederaufgegriffen; zustimmend etwa Behrend, Stufenbaulehre 72-78; Bucher, Kritik 52; Leser, Wertrelativismus 152; Thiemel , Geltung und Wirksamkeit 28 f. 1 1 0

Siehe oben 1. Kap. A pr.; Β 11 a.

1 1 1

Zu Kelsens Wirksamkeitsbegriff siehe oben unter I.

1 1 2

Siehe Lübbe, Legitimität 49.

1 1 3 Die vorstehenden Ausführungen zeigen auch, daß die Kritik fehlgeht, wonach Kelsen durch die Verknüpfung von Geltung und Wirksamkeit in der Grundnorm die von ihm propagierte strikte Trennung von Sein und Sollen mißachtet und im Ergebnis dasselbe getan habe wie seine rechtspositivistischen Vorgänger: die Geltung der Rechtsordnung letztlich auf nichts anderes als das bare Faktum ihrer Wirksamkeit zu stützen (so bereits Erich Kaufmann, Kritik 79/80; ferner etwa Bucher, Kritik 53; Köchler, Philosophie-Recht-Politik 6; Larenz, Methodenlehre 74; Schreiber, Rechtspflicht 143 f., der davon spricht, bei der Reinen Rechtslehre handle es sich "in Wahrheit um eine faktische Geltungslehre"; kritisch auch Böhm, Interpretationstheorie 5; Koller, Meilensteine 161). Man muß indes strikt unterscheiden zwischen solchen Aussagen, die eine bestimmte Begrifflichkeit bereits als maßgeblich voraussetzen, und solchen, die diese Begrifflichkeit erst begründen. Bezogen auf die Reine Rechtslehre heißt das: Man kann entweder darüber sprechen, was sich unter der Voraussetzung

Β. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit

169

Die konkrete Grundnorm-Formulierung, zu der Kelsen schließlich kommt, bedeutet also keineswegs, daß er die Annahme anderer Grundnormen für sinnlos oder unzulässig hielte. Wie soeben gezeigt, zeichnet sich das Instrument der Grundnorm gerade durch seine Flexibilität aus: der von Hart erwähnte russische Adlige spricht bestimmten tatsächlich wirksamen Rechtsordnungen aus moralisch-politischen Gründen die Rechtsgeltung ab, bedient sich also eines wertenden, "naturrechtlichen" Grundnormtypus und eines entsprechenden Geltungsbegriffs 1 1 4 . Sein Weg zweigt von der Begründungskette, die zum Grundnormbegriff der Reinen Rechtslehre führt, bereits auf der ersten der beiden oben unterschiedenen Argumentationsstufen Kelsens ab: der Entscheidung zwischen einem moralisch und einem erkenntnispragmatisch ausgerichteten Grundnormtypus. Dagegen geht es dem Rechtshistoriker ebenso wie dem Rechtsdogmatiker um die Erkenntnis des positiven Rechts; anders als dieser bezieht er sich dabei j e doch nicht auf die gegenwärtig maßgebliche, sondern auf eine zu einem früheren Zeitpunkt wirksam gewesene Rechtsordnung; er setzt daher nicht die Grundnorm des gegenwärtig positiven, sondern (zum Beispiel) die Grundnorm des Römischen Rechts (einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung) voraus. Betrachtet man somit Kelsens Grundnormlehre insgesamt und nicht nur ihren letzten Schritt, in dem Kelsen mit der Verbindung von Geltung und Wirksamkeit seinen spezifischen Untersuchungsgegenstand festlegt, so wird zum einen deutlich, daß diese Lehre die von Hart erwähnten Geltungsaussagen tatsächlich ohne weiteres ermöglicht. Indem sie darauf hinwirkt, die Voraussetzungen und Implikationen der verschiedenen möglichen und sinnvollen Geltungsbegriffe begrifflich zu erfassen und voneinander abzugrenzen, gewährleistet die Lehre Kelsens der Geltung und Wirksamkeit miteinander verbindenden Grundnorm ergibt, oder darüber, warum gerade der durch diese Grundnorm konstituierte Rechtsbegriff für die nachfolgende Problembehandlung maßgebend sein soll; man darf beide Fragen aber nicht miteinander vermischen (so auch Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen 303 f.; Kraft-Fuchs, Kelsens Staatstheorie 205 f.; Walter, Wirksamkeit und Geltung 532; ders., Aufbau der Rechtsordnung 13; ders., Buchbesprechung 670; ders., Kelsens Rechtslehre 337, ders., Stand 75 f.; ders., Einwände 607; ders., Versuch einer Kritik 142; Weinberger, Die normenlogische Basis 187 f.; Thiemel, Geltung und Wirksamkeit 31 f. Auch Kelsen selbst - Staatsbegriff 150 f. - betont, das normative System der Rechtsordnung beginne "erst mit der Grund- oder Ursprungsnorm; ist diese, deren Normcharakter unzweifelhaft ist, einmal - gleichgültig wie und woher - vorausgesetzt, dann ist die reine Geltungssphäre gewonnen und jeder Einbruch der Faktizität ausgeschaltet; kritisch dazu Lübbe, Legitimität 57.). Die letztere Frage beantwortet sich bei Kelsen aus seiner Entscheidung, das positive Recht zum Untersuchungsgegenstand zu machen; innerhalb des durch die entsprechend formulierte Grundnorm konstituierten normativen Feldes, d.h. auf einer Argumentationsebene, auf der die Grundnorm bereits vorausgesetzt ist, spielt dagegen die Frage der Wirksamkeit keine Rolle: Gesollt ist - nach der Formulierung Thiemels (Geltung und Wirksamkeit 32) "die Norm nicht, weil sie wirksam ist, sondern weil dies die (vorausgesetzte) Grundnorm anordnet". Von einem Methodensynkretismus oder der Ableitung eines Sollens aus einem Sein kann insofern nicht die Rede sein. 1 1 4 Zu der von R. Dreier vorgenommenen Unterscheidung unterschiedlicher Geltungsbegriffe siehe oben A. 21.

170

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

zudem auch ein hohes Maß an begrifflicher Klarheit und methodischer Kontrolliertheit. Damit hebt sie sich vorteilhaft von der Kritik Harts ab; wie aus den Erörterungen des vorigen Absatzes hervorgeht, stellt dieser in seinen Beispielen Geltungsbegriffe ganz unterschiedlicher Provenienz und Bedeutung - einerseits politisch-moralisch, andererseits erkenntnismäßig motiviert - undifferenziert nebeneinander 115. Harts Einwand gegen Kelsen vermag daher nicht nur nicht zu überzeugen, sondern ist seinerseits in erheblichem Maße kritikanfällig. III. Geltung und Wirksamkeit bei der Einzelnorm

Die Frage nach der Beziehung zwischen Geltung und Wirksamkeit stellt sich nicht nur in bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes, sondern auch im Hinblick auf die einzelne Rechtsnorm. 7. Die ursprüngliche Position Kelsens und die Meinung Harts In der 1. Auflage der "Reinen Rechtslehre" vertritt Kelsen die Auffassung, daß es auf der Ebene der einzelnen Rechtsnorm einen notwendigen Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit nicht gebe. Eine Rechtsordnung könne zw ar die Geltung einer Rechtsnorm von ihrer Wirksamkeit abhängig machen 116 ; im Grundsatz, d.h. jenseits der kontingenten und insofern für eine auf Allgemeinheit gerichtete Rechtstheorie unbeachtlichen Bestimmungen des positiven Rechts bleibe jedoch auch eine unwirksame Einzelnorm gültig, weil und sofern sie in dem Erzeugungszusammenhang einer gültigen Ordnung steht 1 1 7 .

Mit der ursprünglichen Position Kelsens deckt sich die Ansicht Harts 1 1 8 . Auch dieser betont, daß es keine notwendige Verbindung zwischen der Geltung einer einzelnen Rechtsregel und ihrer Wirksamkeit gebe, daß jedoch die Erkenntnisregel einer konkreten Rechtsordnung eine gegenteilige Bestimmung enthalten könne 1 1 9 . Diese Auffassung unterstreicht die weitgehende Autonomie der als Selbstregelungsmechanismus ausgestalteten Rechtsordnung gegenüber Schwankungen der gesellschaftlichen Wertvorstellungen; letztere bleiben unbeachtlich, solange sie nicht die Voraussetzungen eines von der Rechtsordnung anerkannten 1 1 5 Eine ähnliche Verwirrung durchzieht auch Harts Lehre von den unterschiedlichen Standpunkten gegenüber dem Recht; dazu ausführlich unten C I, II. 1 1 6

RR (1. Aufl.) 73.

1 1 7

RR (1. Aufl.) 72.

1 1 8

Siehe Thiemel , Geltung und Wirksamkeit 48 A. 81.

1 1 9

CL 100.

Β. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit

171

Rechtsvernichtungstatbestandes erfüllen oder zur Abschaffung der Rechtsordnung als ganzer führen. 2. Die spätere Meinungsänderung Kelsens In der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" modifiziert Kelsen seine frühere Ansicht. Nunmehr vertritt er die Meinung, daß auch eine einzelne Rechtsnorm ihre Geltung verliere, wenn sie aufhöre, wirksam zu sein 1 2 0 . Diese Äußerung kann auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden 1 2 1 , die jedoch beide erheblicher Kritik ausgestzt sind: Zunächst kann man sie als Aussage über den Inhalt positiver Rechtsordnungen interpretieren. Dafür, sie in diesem Sinne zu deuten, spricht, daß Kelsen die Problematik unter dem Begriff der desuetudo diskutiert. Diese kennzeichnet er als "eine gleichsam negative Gewohnheit", deren wesentliche Funktion darin besteht, die Geltung einer bestehenden Norm aufzuheben 122 .

Sei Gewohnheit überhaupt ein rechtserzeugender Tatbestand, dann könne auch gesatztem Recht durch Gewohnheitsrecht derogiert werden. Wenn aber die Geltung einer Rechtsnorm ihre Wirksamkeit voraussetze, so sei es dem positiven Recht zumindest insoweit unmöglich, die rechtserzeugende Funktion der Gewohnheit auszuschließen, als die "negative Funktion der desuetudo" in Betracht komme 1 2 3 . Als Aussage über den Rechtsinhalt wäre Kelsens neue Position jedoch nicht mit den methodischen Vorgaben der Reinen Rechtslehre zu vereinbaren: Die Forderung an die Rechtstheorie, sich auf die Untersuchung der allgemeinen und begriffsnotwendigen formalen Grundstrukturen positiver Rechtsordnungen zu beschränken, bildet den Mittelpunkt des Kelsen'schen Reinheitspostulats124. Doch die desuetudo ist keineswegs in allen Rechtsordnungen ein anerkannter Rechtsvernichtungstatbestand. Vor allem im Bereich des common law gilt die desuetudo-Lehre nicht 125. Selbst wenn diese Lehre indes allgemein anerkannt 1 2 0

RR 216.- Im Ergebnis zustimmend R. Dreier, Recht und Moral 196; Henkel, Rechtsgeltung 81

1 2 1

Dazu Walter, Einwände 608-610.

1 2 2

RR 220.

f.

1 2 3

RR 220.

1 2 4

Siehe oben 1. Kap. C I .

IOC

Unter diesem Gesichtspunkt kritisieren auch Harris, Law and Legal Science 123; Lippold, Reine Rechtslehre 88 i.\Losano, Geltung und Wirksamkeit 92 f. sowie Thiemel , Geltung und Wirksamkeit 34 die Auffassung Kelsens.

172

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

wäre, würde dies allein noch nichl ausreichen, um sie über den Rang einer letztlich beliebigen Ausgestaltung Eine alternative Interpretationsmöglichkeit besteht darin, in den Äußerungen Kelsens lediglich eine - unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu beurteilende Betrachtungsgegenstandes126

Abgrenzung des

zu erblicken. Für ein solches Verständnis spricht die Bemerkung Kelsens, daß Wirksamkeit Bedingung der Geltung nicht nur der Rechtsordnung als eines Ganzen, sondern auch der einzelnen Rechtsnorm 127

sei. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt worden ist, bezieht sich im Hinblick auf die Rechtsordnung insgesamt die Formulierung "Bedingung der Geltung" auf die Konstituierung des Untersuchungsgegenstandes; es liegt nahe, die parallele Formulierung in bezug auf die einzelne Rechtsnorm nicht anders zu deuten. Eine solche Interpretation entginge zwar dem Einwand, den Bereich rein formaler Strukturanalyse überschritten zu haben; denn das entsprechende Erfordernis gilt nur innerhalb des einmal konstituierten Rechtsbegriffs, nicht dagegen bereits bezüglich der KonsiiUiierungsvoraussetzungen. Es verbleibt allerdings der entscheidende Einwand, daß eine solche Gegenstandsfestlegung wenig zweckmäßig wäre: Da, wie soeben erwähnt, keineswegs alle Rechtsordnungen die desuetudo als Rechtsvernichtungstatbestand anerkennen, würde die A u f nahme dieser Doktrin in den rechtstheoretisch zugrundegelegten Rechtsbegriff dessen Allgemeinheitsanspruch unnötig beschränken. Vorzugswürdig erscheint demnach die von Hart geteilte ursprüngliche Ansicht Kelsens, wonach nur die Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen, nicht jedoch die der einzelnen Rechtsnorm von ihrer Wirksamkeit abhängt 128 .

1 2 6

Walter , Einwände 609.

1 2 7

RR 220; siehe auch Juristischer Positivismus 949.

190

Ablehnend zu Kelsens neuerer Auffassung neben den bereits genannten Autoren auch Guest, Problems 108; Kubes, Rechtsnorm 413.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

173

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken: Standpunkte gegenüber dem Recht; die Existenzbedingungen einer Rechtsordnung nach Hart I. Die Unterscheidung im " Concept of Law": Interner und externer Standpunkt

In den Darlegungen zur Struktur sozialer Regeln sowie der Erkenntnisregel, die Hart im "Concept of Law" gibt, spielen die Begriffe des "internal aspect" 129 , den "internal point of v i e w " 1 3 0 sowie der "internal statements" 131 eine zentrale Rolle. Die drei Begriffe hängen unmittelbar miteinander zusammen: Der "internal aspect" bezeichnet die spezifische normative Qualität einer sozialen Regel, die sich daraus ergibt, daß eine hinreichende Anzahl von Gruppenmitgliedern den "internal point of view" einnimmt 132 ; und "internal statements" sind die Äußerungen, die von diesen Gruppenmitgliedern in bezug auf die Regel gemacht werden. Dem "internal point of view" (internen Standpunkt) kommt somit innerhalb der genannten Begriffstrias eine Klammerfunktion zu; die beiden anderen Begriffe sind unmittelbar mit ihm und, vermittelt durch ihn, auch untereinander verknüpft. Bislang konnte auf eine detaillierte Bedeutungsanalyse des internen Standpunkts und seines Gegenbegriffs, des externen Standpunkts, verzichtet werden 1 3 3 . Um aber ein genaueres Verständnis dafür zu erlangen, wie Hart die Zusammenhänge zwischen Regel und Praxis, zwischen äußerlichem Sprechen und innerer Überzeugung sowie zwischen dem Sprechen innerhalb einer und dem Sprechen über eine Praxis sieht, ist das bislang Versäumte nunmehr nachzuholen. Dabei werden in Harts Ausführungen weitere Ungereimtheiten zum Vorschein kommen. 1. Der interne Aspekt von Regeln und der interne Standpunkt a) Die Position Harts Nach Harts Ansicht sind es zwei Faktoren - gleichsam ein äußerer und ein innerer Tatbestand - , die für den internen Standpunkt konstitutiv sind: Zum einen muß der interne Teilnehmer an einer Praxis in seiner Sprechweise die Normativität seines Bezugsobjekts zum Ausdruck bringen. Er spricht von ihm 1 2 9

Siehe CL55.

1 3 0

Zuerst CL 86.

1 3 1

Etwa CL 100 f.

1 3 2

Siehe CL56.

1 3 3

Zu ihnen allgemein siehe oben 1. Kap. Β 1 1 b (2); 2. Kap. Β 1 1 .

174

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

nicht in Form von Kausal- oder Wahrscheinlichkeitsbeziehungen, sondern von Zurechnungs- und Sollenszusammenhängen: So würde er nicht sagen, daß in einer konkreten Situation - rote Ampel - ein bestimmtes Verhalten - Anhalten wahrscheinlich erfolgen werde , sondern davon, daß es erfolgen solle , da eine entsprechende Rechtspflicht bestehe 134 . Die Regeln (etwa) des Rechts nimmt ein solcher Teilnehmer somit zur Grundlage für criticism (including self-criticism), demands for conformity, and ... acknowledgements that such criticism and demands are justified 135 .

Zum zweiten setzt der interne Standpunkt nach Harts Auffassung eine bestimmte innere Einstellung des Sprechenden zum Inhalt seiner Äußerung voraus; Hart spricht von ihr als von einer 1

critical reflective attitude to certain patterns of behaviour as a common standard 1*50.

Wer den inneren Standpunkt zu einer Rechtsordnung einnimmt, billigt sie innerlich in dem Sinne, daß er sie aus freien Stücken aJs das für die Gesellschaft, in der er lebt, maßgebliche Regelsystem akzeptiert 137 . Derjenige, der zwar in seinem äußerlichen Verhalten das Recht als maßgebliche Verhaltensordnung zugrundelegt, dazu aber nicht durch innere Billigung, sondern durch die Furcht vor Bestrafung oder sonstigen Sanktionen motiviert wird, nimmt daher nach Hart nicht den internen, sondern den externen Standpunkt ein 1 3 8 . Derjenige, der den internen Standpunkt vertritt, steht somit nach Harts Verständnis einer Regel bzw. einem Regelsystem nicht neutral und distanziert, also als Außenstehender gegenüber, sondern er erlebt es aus der Innenperspektive des aktiven Teilnehmers und Mitspielers heraus. Der interne Standpunkt zielt mit anderen Worten auf die Anleitung und Rechtfertigung des persönlichen Verhaltens dessen, der diesen Standpunkt einnimmt 139 , und dessen "gelebte" billigende Zustimmung wiederum zur Aufrechterhaltung des Systems beiträgt. b) Vermischung unterschiedlicher Fragen bei Hart Hart führt die obigen Bestimmungskriterien des internen Standpunkts im Zusammenhang mit der Abgrenzung sozialer Regeln gegenüber bloßen Gewohnheiten (habits) ein. Um festzustellen, wann eine Regel und wann eine bloße

1 3 4

Siehe CL56.

1 3 5

CL 56.

1 3 6

CL 56.

1 3 7

Siehe Duff

1 3 8

Siehe CL 88,112.

1 3 9

Siehe Menchaca, Hart 77.

y

Legal Obligation 70.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

175

Gewohnheit vorliegt, ist es aber - entgegen Hart - überflüssig, auf die innere Einstellung der Gruppenmitglieder abzustellen. Hier handelt es sich vielmehr um eine Abgrenzung, die sich ausschließlich auf der Sprechaktebene bewegt 1 4 0 : Nicht innere Überzeugungen, sondern äußerliche Verhaltensweisen, nicht das Denken von Personen, sondern das Sprechen von Rollenträgern ist maßgebend. Auch wer sich nur aus Furcht vor den bei Abweichung drohenden Sanktionen an einer sozialen Praxis beteiligt, die er innerlich ablehnt, will... recognize violations when he, and others, are guilty of them and will... make the appropriate kinds of criticisms 141 .

Zwar wird sich eine Praxis, der ein erheblicher Teil der Gruppenmitglieder nur gezwungenermaßen folgt, in kritischen Situationen vermutlich als wenig haltbar erweisen. Die Frage nach den Bedingungen der tatsächlichen Stabilität einer Praxis, die zu ihrer Beantwortung umfangreiche soziologische Untersuchungen voraussetzt, unterscheidet sich aber grundlegend von der Aufgabe, verschiedene Sprechakttypen voneinander abzugrenzen. Der letztgenannten Aufgabe hat Hart sich im Zusammenhang mit den vorliegend erörterten Textstellen unterzogen, und zu ihrer Beantwortung ist die Einbeziehung des Erfordernisses innerer Billigung nicht, wie er behauptet, "necessary" 142 , sondern - in den Worten von Harris 1 4 3 - "a fifth wheel on the coach,... a concept redundant to the analysis". Das Vorliegen innerer Akzeptanz erlangt dagegen tragende Bedeutung im zweiten Bereich, in dem Hart die intern/extern-Differenzierung zur Erklärung heranzieht: Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen innerer Regelakzeptanz und bloß äußerlichem Regelgehorsam y welche die Grundlage seiner Analyse der Existenzbedingungen einer Rechtsordnung darstellt 144 . Daß es für Hart dort unumgänglich ist, auf die innere Einstellung der Praxisteilnehmer zu rekurrieren, Harris' Behauptung von der Überflüssigkeit dieses Teils der Hart'schen Begriffsbestimmung hier also nicht mehr zutrifft, hat seine Ursache darin, daß die Unterscheidung, die dieser nunmehr macht, sich von ihrem Charakter her grundlegend von der soeben erörterten unterscheidet: Anders als diese ist sie nämlich "pragmatic, not semantic" 145 . Statt mit der Analyse von Sprechakten befaßt Hart sich nun mit der Frage nach den tatsächlichen Existenz- und Stabilitätsbedingungen einer Praxis. Um diese Frage zu beantworten, kommt es 1 4 0

Siehe Harris, Legal Philosophies 108 sowie Baker, Defeasibility 42.

1 4 1

Morris, Book Review 1459; siehe auch Duff, Legal Obligation 69.

142

CL56.

1 4 3

Law and Legal Science 56.

1 4 4

Zu dieser siehe unten C III.

1 4 5

Diese Terminologie stammt von Baker, Defeasibility 41.

176

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

- um die oben verwendeten Begriffspaare wieder aufzunehmen - nicht allein auf das Sprechen, sondern auch auf das Denken, nicht bloß auf die äußerliche Erfüllung von Rollenerwartungen, sondern auch auf die persönlichen Überzeugungen an. Unter Verwendung der Terminologie Bakers läßt sich somit sagen: Von einem semantischen Praxisbegriff im Rahmen der ersten Fragestellung ist Hart im zweiten von ihm behandelten Problemfeld zu einem pragmatischen Praxisbegriff übergegangen. Bedenklich ist nicht diese Verschiebung der Fragestellung als solche, sondern der Umstand, daß dieser Übergang sich in Harts Begriffsbildung in keiner Weise niedergeschlagen hat. Vielmehr verschmelzen beide Bereiche in der alles überwölbenden intern/extern-Dichotomie; die Folge ist eine Konfundierung von Rolle und Person, Sprechen und Denken, die ein erhebliches Maß an Unklarheit innerhalb von Harts Theorie bewirkt und durch die, wie Krygier 1 4 6 bemerkt, "little of use for social theory, or conceptual analysis, is gained ..." 1 4 7 . 2. Der externe Standpunkt und seine Problematik Den internen kontrastiert Hart im "Concept of Law" mit dem externen Standpunkt . Auch dieser weist indes in der Darstellung Harts ein erhebliches Maß an Ambivalenz auf. Ist, wie soeben gesehen, der interne Standpunkt durch die billigende Zustimmung des Teilnehmers an einer Praxis zu dieser Praxis gekennzeichnet, so stellt es keine Überraschung dar, auf Äußerungen Harts zu stoßen, wonach der externe Standpunkt durch das Fehlen dieser inneren Akzeptanz gekennzeichnet ist. Gesellschaftsmitglieder, die den externen Standpunkt einnehmen, betrachten sich danach durch das Recht nicht als verpflichtet, sondern als gezwungen, sie sehen es nicht unter dem Aspekt seines Gesolltseins, sondern unter demjenigen der Wahrscheinlichkeit von Sanktionsverhängungen 148. Das Problem liegt indes darin, daß keineswegs alle Äußerungen Harts zum externen Standpunkt sich diesem Begriffsverständnis subsumieren lassen. Bei der Einführung dieses Begriffs verweist Hart nämlich nicht auf den Teilnehmer , sondern auf den - selbst außenstehenden - Beobachter (observer) einer 1 4 6

Social Theory 170; siehe auch Hodson , Internal Aspect 385.

1 4 7

Insofern ist Fukawa , Hart's Legal Theory 5 zu widersprechen. Fukawa erkennt zwar das Problem, daß der interne Standpunkt im Sinne Harts "sometimes implies the obligation to obey the law and sometimes doesn't"; er gibt diese "plurality of the internal points of view" allerdings als "merit of Hart's theory" aus. Worin das Verdienst inkonsistenter Begriffsbildung liegen soll, ist jedoch nicht ersichtlich. 1 4 8

Siehe CL 88; in der Sache auch CL 197.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

177

Praxis 149 . Die Rechtfertigung dafür, die Sichtweise des Beobachters einer Praxis mit der Einstellung eines Teilnehmers an ihr, der sie aber innerlich ablehnt, unter dem Begriff des externen Standpunkts zusammenzufassen, sieht er darin, daß es in beiden Fällen an der Akzeptanz der Praxis fehle. So bemerkt er über den Beobachter: ible to be concerned with the rules ... merely as an observer who does not himself accept

und über den innerlich ablehnenden Teilnehmer an einer Praxis heißt es kurz darauf: The externa] point of view may very nearly reproduce the way in which the rules function in the lives of certain members of the group, namely those who reject its rules ...151.

Damit übergeht Hart indes den Umstand, daß die "Nicht-Akzeptanz" seitens des Beobachters sich von ihrer Bedeutung her von der "Nicht-Akzeptanz" des innerlich ablehnenden Praxisteilnehmers grundlegend unterscheidet. Mag letzterer sich auch äußerlich angepaßt haben und seine Rolle ordnungsgemäß spielen - persönlich lehnt er die Praxis ab, und die Anforderungen, die sie an ihn stellt, bewertet er als bloßen Zwang, nicht als Verpflichtung. Seine Nicht-Akzeptanz berührt daher die tatsächliche Stabilität und die Überlebensfähigkeit der in Frage stehenden Praxis: Wenn sich Gelegenheit dazu böte, würde er gegebenenfalls auch aktiv gegen sie Front machen. Ganz anders dagegen der externe Beobachter: Seine Distanz ergibt sich allein aus seiner Rolle als Beobachter und ist auf die Anforderungen dieser Rolle - erkennen, nicht werten - beschränkt; seine tatächliche - persönliche - Einstellung steht nicht zur Debatte. Auf der Erkenntnisebene vermag auch der Anarchist eine Praxis als Regelsystem und nicht als Komplex von Kausal- und Wahrscheinlichkeitsbeziehungen aufzufassen. Erst auf einer nachgelagerten Ebene kommen Fragen persönlicher Bewertung ins Spiel. Es ist hier, wo sich opponierender und staatstreuer Rechtswissenschaftler unterscheiden: Während der eine ßr seine Person die in Frage stehende Praxis als Gefüge bloßer Machtbeziehungen bewertet, billigt der andere sie innerlich als gesollte und verpflichtende Ordnung. Ebenso wie im Falle des internen Standpunktes verbergen sich also auch unter dem einen Begriff des externen Standpunkts tatsächlich zwei unterschiedliche Bestimmungskriterien, die sich schlagwortartig als Beobachter- und als Teilnehmerperspektive kennzeichnen lassen. In der ersteren geht es um das Sprechen 1 4 9 Dazu Geddert, Recht und Moral 62. Er übersieht allerdings, daß die von ihm herausgestellte Bedeutung eben nur eine von zwei Bedeutungen darstellt, die Hart dem externen Standpunkt zuschreibt. 1 5 0

CL 86 (Hervorhebung von mir).

1 5 1

CL 88 (Hervorhebung von mir).

12 Pawlik

178

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

über eine Praxis, in der zweiten um verschiedene Einstellungen innerhalb einer Praxis. Wiederum faßt Hart also - in der Terminologie Bakers 1 5 2 - eine semantische und eine pragmatische Begriffsbestimmung undifferenziert zusammen und verwischt dadurch Beschreibung und Bewertung, Rolle und Person. II. Modifikation von Harts Ansicht in späteren Werken: "Committed legal statements" und "detached legal statements'1

1. Zwei Gruppen von " external statements" im "Concept of Law"; Lückenhaftigkeit dieser Klassifizierung Im "Concept of Law" führt Hart aus, daß der externe Beobachter auf zweierlei Weise mit Regeln befaßt sein könne. Sie lassen sich als "eingeschränkter" bzw. "extremer" externer Standpunkt bezeichnen1^3. Derjenige, der den eingeschränkten externen Beobachterstandpunkt

vertritt,

may, without accepting the rules himself, assert that the group accepts the rules, and thus may from outside refer to the way in which they are concerned with them from the internal point of v i e w 1 5 4 .

Dagegen bekommt derjenige Beobachter, welcher gegenüber der Rechtsordnung den extremen externen Standpunkt einnimmt, die Normativität, die Gesolltheit des Rechts überhaupt nicht in den B l i c k 1 5 5 . Seine Position gleicht insofern der Haltung desjenigen, der bei Kelsen die Grundnorm nicht voraussetzt. Wer sich auf den extremen externen Standpunkt stellt, beschränkt sich darauf, Kausalbeziehungen innerhalb von Handlungsabläufen aufzuweisen sowie Verhaltensregelmäßigkeiten und -Wahrscheinlichkeiten zu konstatieren. Beobachtet er etwa die Vorgänge an einer Ampelkreuzung, so stellt er lediglich die Tatsachen fest, daß die Autofahrer in aller Regel bei Rot stehenbleiben und bei Grün weiterfahren und daß ein abweichendes Verhalten häufig durch die Verhängung von Zwangsakten geahndet w i r d 1 5 6 . Vom extremen externen Beobachterstandpunkt aus, der seinen rechtstheoretischen Ausdruck in erster Linie im Rechtsrealismus findet 1 5 7 , spricht man also nur von Verhaltenszwang und Verhaltenswahrscheinlichkeit, nicht dagegen von Verpflichtung und Regelbefolgung 158 .

1 5 2

1

Defeasibility 41. Die letztere Bezeichnung stammt von Hart selber, CL 87.

1 5 4

CL 87.

1 5 5

Siehe CL244.

1 5 6

Zu diesem Beispiel CL 87 f.

1 5 7

Siehe CL 86.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

179

Diese Ausführungen Harts weisen eine Lücke auf: Sie sehen nämlich keine Begriffskategorie vor, mit der die Position des rechtsdogmatisch tätigen Rechtswissenschaftlers erfaßt werden könnte. Dieser begreift und diskutiert eine bestimmte Rechtsordnung zwar als normatives System - und zwar, anders als der eingeschränkt externe Beobachter, sozusagen im eigenen Namen, nicht als Wiedergabe der normativen Praktiken anderer; er beabsichtigt aber nicht, dadurch seine - moralisch oder anderweitig begründete - persönliche Billigung dieser Ordnung zum Ausdruck zu bringen. Er expliziert lediglich das nach ihr gesollte Verhalten in Form einer wissenschaftlich-beschreibenden Darstellung. 2. Ausfüllung der Lücke durch Hart Die Kommentatoren von Harts Werk haben ihm die Unvollständigkeit seiner Klassifizierung wiederholt vorgehalten 159 und darauf gedrängt, sie um eine dritte Betrachtungsweise - von MacCormick 160 als "hermeneutic point of view" bezeichnet - zu erweitern 161 . In seinen neueren Werken hat Hart diese Kritik ausdrücklich als berechtigt anerkannt und seine frühere Zweiteilung durch eine dritte Kategorie von Aussagen ergänzt, die er im Anschluß an Raz 1 6 2 als "detached normative statements" bezeichnet 163 und die er charakterisiert als Äußerungen made from the point of view of those who accept the law by those who in fact do not accept i t 1 6 4 .

Nach Harts Ansicht umfaßt die Kategorie der "detached statements" zwei Gruppen von Aussagen: Zum einen würden Aussagen über die Rechtsordnung erfaßt, die von solchen Rechtsgenossen stammten who do not accept its laws even though they purport to apply to t h e m 1 6 5 .

1 5 8

Siehe CL 87.

1 5 9

Zeitlich am frühesten ist eine entsprechende Feststellung von Ross, Book Review 1189; umfassende Erörterungen des Problems finden sich in der englischsprachigen Literatur vor allem bei Raz, Practical Reason 170-177, 189; dems., Purity 91-93; MacCormick , Legal Reasoning 289; dems., Hart 37-40, Morigiwa , Semantic Sting 26-30 und im deutschsprachigen Schrifttum bei Geddert, Recht und Moral 68-73. Siehe zu diesem Thema auch Simmonds, Propositions of Law 98 f. sowie Hodson. Internal Aspect 386. 1 6 0

Hart 39.

1 6 1

Geddert, Recht und Moral 73 spricht, sachlich mit MacCormick übereinstimmend, vom "internen Standpunkt im Erkennungssinne". Zur Terminologie von Raz siehe sogleich im Text. 1 6 2

Practical Reason 172; ders., Purity 91-93.

1 6 3

Legal Duty and Obligation 154 f.; Introduction 14.

1 6 4

Legal Duty and Obligation 155.

180

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

Als Beispiel für diese Fallgruppe nennt Hart Urteile eines versehentlich zum Richter ernannten Anarchisten 166 . Die zweite Gruppe von "detached statements" bilden nach Hart die Äußerungen, die ein Rechtswissenschaftler abgibt, wenn er den Inhalt eines Rechtssystems beschreibt. Auch dieser mache sich bei derartigen Äußerungen den I n halt der von ihnen beschriebenen Rechtsordnung nicht zu eigen 167 .Den "detached statements" stellen Raz und Harts sogenannte "committed statements" entgegen, die durch innere Akzeptanz des Sprechenden gekennzeichnet sind und dem Aussagentyp entsprechen, den Hart im "Concept of Law" als "internal statements" bezeichnet hat 1 6 8 . 3. Keine Lösung der Hauptproblematik

in Harts neuer Lehre

Auch mit seiner modifizierten Ansicht gelingt es Hart nicht, die oben herausgearbeiteten Ambivalenzen zu überwinden; im Gegenteil: diese treten nur noch schärfer hervor. Es ist nämlich nicht möglich, einen einheitlichen Begriff der Billigung zu entwickeln, von dem aus sich begründen ließe, daß die Äußerungen sowohl des anarchistischen Richters als auch des Rechtsgelehrten "noncommitted" seien: Die Nicht-Akzeptanz des ersteren ergibt sich aus seiner inneren, "persönlichen" Einstellung zur Rechtsordnung, ist also, um die oben gebrauchte Terminologie wiederaufzunehmen, auf der pragmatischen Ebene angesiedelt. Die Distanz des Rechtsgelehrten dagegen ergibt sich aus den Anforderungen, die seine spezifische Rolle an ihn stellt; hier bewegt sich die Abgrenzung auf der Sprechaktebene, also im semantischen Bereich. Wiederum vermischt Hart also Person und Rolle, Sprechen und Denken, pragmatischen und semantischen Praxisbegriff. Harts Ausführungen zu den verschiedenen Standpunkten gegenüber dem Recht enthalten somit durchgängig nicht ein Abgrenzungskriterium, sondern deren zwei: Die eine Abgrenzung ist zentriert um einen wirksamkeitsbezogenen Billigungsbegriff und bezieht sich auf die innere Z u stimmung, die eine Rechtsordnung bei den ihr Unterworfenen findet. Die zweite Abgrenzung geht dagegen von einem sprachanalytischen Billigungsbegriff aus und unterscheidet verschiedene Gruppen von Sprechakten nach ihrem Bezug zum sprachlichen Phänomen Recht. Darin, daß Hart die Unterschiedlichkeit dieser Fragen nicht gesehen, sondern versucht hat, sie unter ein einheitliches Be1 6 5

Legal Duty and Obligation 154. - Zu dieser Fallgruppe auch MacCormick,

289. 1 6 6

Siehe Legal Duly and Obligation 154.

1 6 7

Introduction 14; Legal Duty and Obligation 154.

1 6 8

Siehe Hart, Legal Duty and Obligation 154.

Legal Reasoning

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

181

griffspaar zu subsumieren, schlägt sich erneut die Tatsache nieder, daß es der Rechtstheorie Harts an einem hinreichend durchgebildeten methodischen Instrumentarium fehlt. Ebensowenig wie bei seinem Versuch, Primär- und Sekundärregeln voneinander abzugrenzen, gelingt es Hart somit bei der Errichtung des hier zu behandelnden zweiten "Eckpfeilers" seiner Rechtslehre, seinen Anspruch einzulösen, "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" miteinander zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. An beiden Stellen erkauft er den Anschein terminologischer Stringenz um den Preis inhaltlicher Mehrdeutigkeit: Statt einer einheitlichen, analytisch und soziologisch brauchbaren Theorie entwickelt er unter der Hand voneinander unabhängige analytische und soziologische Theorieteile. So begrüßenswert im Prinzip sein Versuch ist, der Rechtstheorie eine im Vergleich zur Reinen Rechtslehre erweiterte methodische Basis zu geben, so wenig vermag daher doch seine konkrete Durchführung dieses Programms zu befriedigen. III. Die Minimalbedingungen für die Existenz einer Rechtsordnung 1. Die Darlegungen Harts Im sechsten Kapitel des "Concept of Law", das sich mit den "foundations of a legalsystem" befaßt 169 , behandelt Hart im Anschluß an seine Rechtsgeltungslehre und die in diesem Zusammenhang zentrale Konzeption der Erkenntnisregel die Frage nach den Mindestexistenzbedingungen einer Rechtsordnung. Dabei erklärt er zwei Faktoren für ausschlaggebend: Die Rechtsgenossen müssen den primären Pflichtregeln der Rechtsordnung im wesentlichen gehorchen; und die Amtsträger müssen bei ihrer Entscheidungstätigkeit die in der Erkenntnisregel enthaltenen Rechtsgeltungsgeltungskriterien anwenden 170. Daß er auf diese beide "äußerlichen" Verhaltenstatbestände abstellt, entspricht der Auffassung Kelsens. Im Gegensatz zu dessen "Minimalanalyse" der Wirksamkeit bleibt i n dessen Hart an diesem Punkt nicht stehen, sondern bezieht auch die 'VerhaltenswofrVe der Rechtsgenossen und der Amtsträger in seine Analyse ein171

Auf die Motive, aus denen die Rechtsgenossen den primären Pflichtregeln einer Rechtsordnung gehorchten, komme es nicht an: 1 7 2 : Derjenige, der lediglich gehorche, brauche sein Verhalten nicht als die Erfüllung eines in seiner sozialen 1 6 9

CL 97-120.

1 7 0

Siehe CL 111-113.

1 7 1

Höffe, Politische Gerechtigkeit 162 (ähnlich Soper, Theory of Law 30) sieht darin sogar Harts hauptsächlichen Beitrag zur systematischen Weiterentwicklung des rechtstheoretischen Positivismus. 1 7 2

Siehe CL112 f.

182

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

Gruppe maßgeblichen allgemeinen Verhaltensstandards zu betrachten. Seine Einstellung need not have any of that critical character which is involved whenever social rules are accepted and types of conduct are treated as general standards 173.

Wer nur äußerlich gehorche, könne dies vielmehr aus unterschiedlichsten Motiven heraus tun: ... he may obey out of fear of the consequences, or from inertia, without thinking of himself or others as having an obligation to do so and without being disposed to criticize either himself or others for deviations 174 .

In einer "healthy society" befolge zwar die Mehrzahl der Rechtsgenossen die rechtlichen Regeln nicht aus Trägheit oder gar Furcht, sondern erkenne sie als allgemeine soziale Verhaltensstandards, als "the right thing ... to do" a n 1 7 5 . Eine notwendige Existenzbedingung für eine Rechtsordnung stelle diese innere B i l l i gung durch die Rechtsgenossen aber nicht dar. Eine Gesellschaft, in der sie fehle might be deplorably sheeplike; the sheep might end in the slaughter-house. But there is little reason for thinking that it could not exist or for denying it the title of a legal system 176 .

Eine andere Beurteilung sei jeoch geboten, um die Beziehung der Amtsträger zu den Sekundärregeln der Rechtsordnung, vor allem zur Erkenntnisregel, zu beschreiben. Um die Aussage treffen zu können, daß eine bestimmte Erkenntnisregel in einer Rechtsgemeinschaft existiere, also die für diese maßgebenden Rechtsgeltungskriterien enthalte, sei es nicht ausreichend lediglich festzustellen, daß die Amtsträger in ihrer Entscheidungstätigkeit rem äußerlich den Kriterien der Erkenntnisregel im großen und ganzen Folge leisteten. Es genüge nicht, daß die Gerichte die Erkenntnisregel lediglich als eine Art von Orientierungshilfe betrachteten "which each judge merely obeys for his part only" 1 7 7 . Die Existenz der Erkenntnisregel hängt nach Hart vielmehr davon ab, daß die Amtsträger in ihrer Mehrheit sie als öffentlichen und 1 7 3

CL 112.

1 7 4

CL 112.

1 7 5

CL 112,113.

1 7 6

CL 114. - Höffe, Politische Gerechtigkeit 163 schreibt: "Indem Hart die Wirksamkeit mittels der Zustimmung einer Mehrheit der Rechtsunterworfenen definiert, bleibt das Recht nur bei wenigen, nämlich bei denjenigen, die nur aus Angst vor Strafen gehorchen, ein Müssen. Bei der großen Mehrheit wird es hingegen zu einemfreiwilligen Anerkennen". Die Ausführungen im obigen Text zeigen, daß diese Deutung Horts Position verzerrt wiedergibt: Hart betont zwar, daß weitgehende Zustimmung Zeichen einer gesunden Gesellschaft ist, aber er erkennt auch, daß, wenn die Führungsschicht nur hinreichende Machtmittel in Händen hat, sie auch eine distanzierte oder gar ablehnende Bevölkerungsmehrheit zum Gehorsam zwingen kann (siehe CL 110 f., 196 f.). Er vertritt mit anderen Worten nur eine sozusagen minimalistische Anerkennungstheorie: Nur so viele Gesellschaftsmitglieder müssen die Rechtsordnung anerkennen, wie erforderlich sind, um eine funktionierende Zwangsmaschinerie aufzubauen und aufrechtzuerhalten. 1 7 7

CL 112.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

183

allgemeinen Sta?idard korrekten richterlichen Entscheidungsverhaltens begrei Abweichungen als rechtsfehlerhaft kritisieren 178 - kurzum: ihr gegenüber einen 179 internen Standpunkt einnehmen, der im Gegensatz zum rein äußerlichen Gehorsam durch innere Billigung gekennzeichnet ist. Die Erfüllung dieser Voraussetzung ist nach Hart eine notweiidige Bedingung dafür, daß die Erkenntnisregel ihre zentrale Funktion zu erfüllen vermag: die obersten für die autoritative Entscheidungstätigkeit innerhalb einer Rechtsordnung maßgeblichen Rechtsgeltungsmaßstäbe zu identifizieren und auf diese Weise die Einheit der Rechtsordnung zu konstituieren 180. 2. Kritik

an Harts Ausßhrungen

a) Vermischung von semantischem und pragmatischem Praxisbegriff Zwischen der Weise, wie Hart hier die Differenzierung zwischen Gehorsam und Anerkennung einführt - nämlich als Unterscheidung verschiedener innerer Einstellungen - und dieser Begründung besteht indes eine Argumentationslücke. Damit die Erkenntnisregel die Normativität der Rechtsordnung begründen und die Funktion als Einheitskonstituante erfüllen kann, ist es nicht erforderlich, den Begriff der Akzeptanz im Sinne innerer Billigung zu verstehen und bloß äußerliche Regelbefolgung für nicht ausreichend zu erklären. Daß in einer Rechtsordnung gewisse Rechtsgeltungskriterien maßgeblich sind, bedeutet nichts anderes, als daß von den Amtsträgern nur bestimmte Arten von Argumenten als rechtlich zulässig und beachtlich anerkannt werden. Dafür ist es völlig ausreichend, wenn die Amtsträger in ihren Entscheidungen ein normatives Vokabular gebrauchen und auf Abweichungen mit Kritik reagieren. Ebenso wie im Falle einer sozialen Regel 1 8 1 kommt es somit auch bei der Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Erkenntnisregel existiert oder nicht, letztlich allein auf das Sprechen und Handeln der Amtsträger, auf ihr äußerliches Rollenverhalten, und nicht auf ihre persönliche Billigung oder Mißbilligung der Rechtsordnung an. Anders als sich dies aus Harts Darstellung ergibt, ist also nicht ein im pragmatischen, sondern allein ein im semantischen Sinne verstandener interner Standpunkt 182 a necessary condition of our ability to speak of the existence of a single legal system 183 .

1 7 8

CL 112.

1 7 9

CL 112.

1 8 0

CL 112 f.

1 8 1

Dazu siehe oben 11 b.

IS?

x o c

Zu dieser terminologischen Unterscheidung siehe oben 11 b.

184

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

Daß Hart dies nicht erkennt, resultiert aus der grundsätzlichen Schwäche der von ihm unternommenen Abgrenzung von internem und externem Standpunkt: dem Umstand, daß er die bedeutsamen Unterschiede zwischen Rolle und Person, Sprechen und Denken, Erkennen und Werten, semantischem und pragmatischem Praxisbegriff übersieht und infolgedessen ganz unterschiedliche Sachverhalte in das Korsett eines einzigen Begriffspaares zu zwängen versucht. b) Lehre von den Existenzbedingungen als unzureichende Wirksamkeitsanalyse Die Behauptung Harts, daß zumindest die Amtsträger die Erkenntnisregel innerlich akzeptieren müßten, damit man dieser Existenz zubilligen könne, läßt sich somit nicht in einem streng auf die notwendigen Bedingungen rechtlicher Geltungsbegründung abstellenden, sondern allenfalls in einem erweiterten Sinne verstehen: als These, daß eine Erkenntnisregel und die von ihr zusammengehaltene Rechtsordnung, der selbst die Amtsträger in ihrer Mehrheit nichts anderes entgegenbringen als Indifferenz oder gar Furcht, faktisch keinen dauerhaften Bestand haben werde. Es ist ein alter und weitverbreiteter Gedanke, daß eine Rechtsordnung, um sich sozial durchsetzen und behaupten zu können, zwar nicht der Zustimmung durch alle, aber doch jedenfalls der Billigung durch einige Gesellschaftsmitglieder bedürfe. Lucas 1 8 4 spricht in diesem Zusammenhang von einem "Mameluke argument": It shows that although some people may be coerced, not all can be. There must be in any community larger than a family more than one person doing the coercing, and those who are doing the coercing are themselves uncoerced.

Daraus folgert Lucas 185 : At least for the officials ... the obligation to obey the law must be construed as an internal, partly rational ground for obedience, not a purely external, opaque fear of sanction for disobedience.

Ganz ähnlich argumentiert Hart im Rahmen seiner Lehre vom "naturrechtlichen Mindestgehalt". Dort betont er, daß die von ihm entwickelten rechtlichen Minimalgewährleistungen zwar nicht notwendigerweise allen, aber auf jeden Fall einigen Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen müßten: Ohne ihre freiwillige Mitwirkung - "thus creating authority " - könne nämlich die Zwangsgewalt von Recht und Regierung nicht etabliert werden 186 . Auf den

183 1 0 J 1 8 4

CL 112 f.; of Hervorhebung Principles Politics 76. von mir. - Der Sache nach ebenso Krygier , Social Theory 178.

1 8 5

Principles of Politics 328 f; ähnlich Böckenförde , Staat und Gesellschaft 223 A. 31.

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

185

vorliegenden Zusammenhang übertragen, bedeuten diese Überlegungen, daß die innere Akzeptanz der Erkenntnisregel durch die Amtsträger deswegen unverzichtbar sei, weil erst dadurch die notwendige tatsächliche Unterstützungsbasis für die Anwendung und Durchsetzung der Rechtsordnung hergestellt werde. Daß die Amtsträger in einer bestimmten Weise sprechen, würde demnach also die normative Einheit und Geschlossenheit einer Rechtsordnung ausmachen; und daß die Amtsträger tatsächlich so denken, wie sie sprechen, wäre notwendige Voraussetzung ihrer Wirksamkeit. Versteht man die Überlegungen Harts in diesem Sinne, so muß ihm zunächst der Vorwurf gemacht werden, in seiner Darstellung unterschiedliche Problemebenen - nämlich Fragen der Rechtsgeltung einerseits und der Rechts-wirksamkeit andererseits - unkritisch miteinander vermengt und dadurch seine Thesen von der Sein-Sollens-Trennung und der normativen Geschlossenheit der Rechtsordnung in bedenklicher Weise aufgeweicht zu haben. Darüber hinaus bestehen gegen Harts Ausführungen auch inhaltlich erhebliche Bedenken. Die Frage, welche sozialen Gruppen in welchem Umfang und über welchen Zeitraum eine Rechtsordnung innerlich billigen müssen, damit die Wirksamkeit dieser Ordnung gewährleistet ist, ist sehr schwierig und setzt komplexe soziologische Untersuchungen voraus. Mit dem simplen Begriffspaar "Akzeptanz der Amtsträger und Gehorsam der gewöhnlichen Rechtsunterworfenen" kann sie auch nicht annähernd zutreffend beantwortet werden 187 . Dies zeigen bereits einige allgemeine Überlegungen: Selbst wenn man Hart darin zustimmte, daß jedenfalls eine bestimmte Gruppe von Personen die Rechtsordnung innerlich akzeptieren, damit sie bestehen 188 , so ist doch jedenfalls die von Hart vorgenommene schematische Abgrenzung zwischen Amtsträgern und Sonstigen wenig überzeugend. Sie beruht auf der zusätzlichen Annahme, im Rechtsstab sei so viel Macht konzentriert, daß allein seine Billigung und Unterstützung ausreiche, um eine bestimmte Verhaltensordnung auch gegen den Willen der Rechtsunterworfenen sozial durchzusetzen. Die Wirklichkeit in modernen Gesellschaften widerspricht jedoch einer derartigen Annahme. Aufgrund der Komplexität derartiger Gesellschaften erfordert ihre erfolgreiche Verwaltung ein hohes Maß von Dezentralisation: Der Staat muß zum einen seine Macht mit den verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen teilen, die, zwischen dem einzelnen Bürger und der organisierten Staatsmacht stehend, sozial und politisch erheblichen Einfluß nehmen, ohne jedoch im

1 8 6

CL 196 (Hervorhebung im Original).

1 8 7

So auch Krygier,

IO ο

Social Theory 178.

Zur Kritik an dieser Prämisse sogleich im Text.

186

4. Kapitel: Die Normativität des Rechts

juristisch-formalen Sinne in die Staatslenkung eingebunden zu sein 1 8 9 . Zum anderen kommt aber auch den zahllosen Einzelpersonen, die aufgrund ihrer speziellen Fertigkeiten oder Kenntnisse für das ordnungsgemäße Funktionieren einer Gesellschaft unverzichtbar und zumindest kurzfristig auch nicht ersetzbar sind, zumindest potentiell ein erhebliches Maß an sozialer Macht zu. Die weite Streuung sozialer Macht ist es also, was moderne Gesellschaften kennzeichnet. Das Bild von einer Gruppe von "Mamelucken", die den Rest der Bevölkerung in Furcht und Schrecken zu halten und ihn als Rechtsstab zu beherrschen vermag, stellt eine Verzerrung dieser Situation dar. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob überhaupt Harts Annahme zutrifft, wonach zum Bestand einer Rechtsordnung eine über letztlich gleichgültiges Mitmachen hinausgehende Akzeptanz zumindest durch einen gewissen Teil der Bevölkerung erforderlich ist. Dagegen spricht zunächst die Erfahrung, daß eine Praxis auch dann noch geraume Zeit fortbestehen kann, wenn die innere Z u stimmung seitens der Praxisteilnehmer sich in Indifferenz verwandelt hat. Der Grund dafür ist, daß niemand gern die Verantwortung für das Scheitern einer gemeinsamen Unternehmung auf sich nimmt. Gemäß der Einsicht, daß man zwar möglicherweise die Tat liebt, aber nur selten den Täter, wird in solchen Situationen das Gros der Betroffenen eher für stillschweigendes weiteres Mitmachen als für Auflehnung optieren. Im Falle von Gesellschafts- und Rechtsordnungen wird diese allgemeine Kontinuitätstendenz noch verstärkt durch den Wert, der einem funktionierenden Staat in den Augen der Mehrzahl seiner Bürger allein aufgrund der Tatsache zukommt, daß er funktioniert. Jedenfalls solange der Staat ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit und Wohlstand gewährleistet, schrecken sie in der Regel vor einer Rebellion zurück. Dies nicht unbedingt, weil sie das bestehende System inhaltlich akzeptieren; auch wenn ihnen die in Gesellschafts- und Rechtsordnung verkörperten Werte gleichgültig sind, ja selbst wenn sie innerlich ablehnen, wird nur eine Minderheit gewillt sein, den einmal erreichten materiellen und rechtlichen Standard zugunsten einer ungewissen Zukunft aufs Spiel zu setzen 190 . Pointiert läßt sich formulieren: Daß sie inhaltlich gebilligt wird, ist für den Fortbestand einer Staatsordnung weniger wichtig als pünktliche Gehaltszahlung. Anders ausgedrückt: Daß ein Staat funktioniert, bietet, sozialpsychologisch gesprochen, die beste Gewähr dafür, daß er auch in Zukunft funktionieren wird. Das System treibt sich selber an. Auch dieser bedeutsame Aspekt kommt in

1 OQ

In Anlehnung an die von Carl Schmitt, Leviathan 117 geprägte Terminologie (dazu Böckenförde, Begriff des Politischen 361 f.) lassen sich solche Institutionen als "indirekte Gewalten" bezeichnen. 1 9 0

Schon Locke, Second Treatise XIX.223 spricht von "(dem) Zögern und (der) Abneigung des Volkes, die alten Einrichtungen aufzugeben".

C. Der normative Aspekt tatsächlicher Praktiken

187

Harts Dualismus von Akzeptanz und Gehorsam nicht hinreichend zum Ausdruck. Doch auch, wenn der größte Teil der Amtsträger nicht aus Indifferenz, sondern nur aus Furcht bei der Stange bleibt, ist es denkbar, daß eine Rechtsordnung fortexistiert. In Diktaturen, auf die sich das Bild von den Mamelucken in erster Linie bezieht, bringt nämlich das Wissen um die Existenz eines umfassenden, aber in seiner Struktur und Arbeitsweise im einzelnen undurchschaubaren Überwachungsapparates ein erhebliches Maß an gegenseitigem Mißtrauen und an Vorsicht in die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern hinein. Da es zudem geradezu das Organisationsprinzip eines solchen Kontrollapparates ist, daß in ihm häufig ein und dieselbe Person, gleichgültig ob Amtsträger oder nicht, gleichzeitig Täter und Opfer, Überwacher und Überwachter ist, wird hier die Unterscheidung zwischen Amtsträgern und Rechtsunterworfenen weitgehend hinfällig. Daß man der Aufrichtigkeit der anderen nicht trauen kann, führt dazu, daß die allermeisten Mitglieder einer solchen Gesellschaft schon aus Gründen persönlicher Sicherheit sich davor hüten werden, "aus der Rolle zu fallen" und die Frage, ob sie wirklich glaubten, was sie sagten oder täten, als gefährlichen Affront betrachten und zurückweisen werden. Dieses bloß rollenkonforme Verhalten aller, insbesondere der Amtsträger, vermag auch bei minimaler innerer Akzeptanz der einzelnen Gesellschaftsmitglieder das System, unter dem es erfolgt, für geraume Zeit am Leben zu erhalten 191 . Insgesamt vermag somit die Harts Ausführungen zu den Mindestexistenzbedingungen einer Rechtsordnung zugrundeliegende Annahme nicht zu überzeugen that there is a necessary connection between voluntariness and the analytically central constituents of official legal behaviour 192 .

191

1

Insoweit ist Krygier , Social Theory 178 zuzustimmen, wenn er meint: "I see no reason to believe ... that official acceptance of the rules need be any more 'voluntary' than masses 'mere obendience'". Finnis , Comment 70 wendet ein, eine Rechtsordnung, in der auch die Amtsträger nur aus Furcht handelten, "would have to be founded on a vast series of factually mistaken beliefs (about the attitudes of everyone else)". Dies seien "grossly pathological social conditions", aus denen "no illumination about law " gewonnen werden könne (aaO 67; Hervorhebung im Original). Nicht sie seien der Analyse zugrundezulegen, sondern "the characteristic, the culturally significant, the intelligible and meaningful" (aaO). Gegen den Versuch, Harts Ausführungen zu den Mindestexistenzbedingungen als Einlösung dieser Forderung zu betrachten und sie auf diese Weise zu "retten", spricht jedoch, daß die von ihm beschriebene Situation keineswegs den idealtypischen Fall einer innerlich stabilen Rechtsordnung erfaßt - Benditi, Law as Rule 106 meint, die von Hart beschriebene Situation "involves something that is at best a limiting case of a legal system, and perhaps ought not to be counted a legal system at all" - und dies nach Harts eigener Aussage auch gar nicht bezweckt: Ausdrücklich unterscheidet er nämlich zwischen einer Rechtsordnung, in der lediglich die Mindestbedingungen erfüllt seien, und einer "healthy society", in der auch die Rechtsunterworfenen die Rechtsordnung akzeptierten (CL 113). 1 9 2

Krygier,

Social Theory 178.

188

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

Sein Versuch, "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" zu einer einheitlichen Rechtslehre zu verbinden, ist damit endgültig als gescheitert erwiesen. D. Kritischer Rechtspositivismus oder Begriffsrealismus? I. Die Position Kelsens

Wie soeben gesehen, beruht nach Kelsen die Normativität des Rechts allein auf der jeweils individuellen Deutungsentscheidung des einzelnen Erkenntnissubjekts. In Anlehnung an ein Wort Goethes 193 läßt sich formulieren: Die Welt des Rechts ist nicht, ehe das rechtswissenschaftliche Erkenntnisinteresse des einzelnen sie erschafft. Insofern trifft auf die Grundnormlehre in besonderem Maße die Bezeichnung vom "individualistischen Extrem" zu, die Evers 1 9 4 mit Bezug auf die Reine Rechtslehre geprägt hat. Die Grundnorm ist für Kelsen gleichzeitig Erkenntnisvoraussetzung und Geltungsgrund der Rechtsordnung. Sie ermöglicht der Rechtswissenschaft die juristisch-normative Deutung eines gegebenen Rechtsmaterials. Indem sie die Vornahme dieser Deutung als Ergebnis eines Wahlakts begreift, erweist sie aber zugleich den letztlich nur axiomatischen Charakter des mit dieser Deutung eingeführten Rechtsbegriffs 195 : Er ist einer innerhalb einer Reihe gleichermaßen möglicher und sinnvoller Rechtsbegriffe. Die Grundnormlehre ist von daher "das Musterbeispiel einer Theorie, die sich selbstkritisch reflektiert" 196 . Mit ihr überwindet Kelsen den von Leser 197 "naiver Rechtspositivismus" genannten Begriffs- und Normenrealismus, der den (Rechts-)Positivismus vor der Reinen Rechtslehre geprägt hat. Im Gegensatz zu diesem ist für Kelsen das Recht "von vornherein überhaupt nichts Wirkliches" 198 , sondern es ist, mit H. Dreier 1 9 9 zu sprechen, "etwas höchst Abstraktes, Unwirkliches, Fragwürdiges und erst noch zu Dechiffrierendes". Durch diese erkenntniskritische Einsicht, die, wie Alwart200 bemerkt, dem Sprechen über Recht "überhaupt erst

1 9 3

Faust I I V. 6794.

1 9 4

Reine Rechtslehre 62.

1 9 5

Siehe Ott, Rechtspositivismus 202.

1 9 6

Ott , Rechtspositivismus 202.

1 9 7

Wertrelativsmus 140.

1 9 8

Kelsen, Fiktionen 1238.

1 9 9

Hans Kelsen 27 f.

2 0 0

Recht und Handlung 74.

D. Kritischer Rechtspositivismus oder Begriffsrealismus?

189

rechtsphilosophische(n) Gehalt" verleiht, begründet die Reine Rechtslehre eine Position, die man als kritischen Rechtspositivismus bezeichnen kann 2 0 1 . II. Rechtsnorm und Rechtssatz

1.

Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis bei Kelsen und die Interpretation Harts

Vor diesem Hintergrund ist auch Kelsens Versuch zu sehen, Rechtsnormen und Rechtssätze voneinander abzugrenzen. Die grundsätzliche Differenz z w i schen ihnen besteht nach Kelsen darin, daß Rechtsnormen den objektiven Sinn von Willensakten darstellen, indem sie diesen autoritative Wirkung verleihen, wohingegen Rechtssätze sich auf Rechtsnormen beziehende Aussagen der Rechtswissenschaft sind 2 0 2 . Letztere kann für ihre Ergebnisse keinerlei rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen, sondern ist darauf beschränkt, das autoritativ erzeugte Rechtsmaterial in eine einheitliche Struktur einzupassen203 und es, so geordnet, beschreibend abzubilden 204 . Rechtsnormen sind also nach Kelsen normativ-präskriptiv, Rechtssätze dagegen normativ-deskriptiv^. In seinem Aufsatz "Kelsen Visited" befaßt Hart sich mit dieser Unterscheidung. Mithilfe eines Beispiels versucht er zu zeigen, daß sie sich, entgegen einer von Golding 2 0 6 im Anschluß an die Terminologie der sprachanalytischen Philosophie geäußerten und von Kelsen 207 ausdrücklich abgelehnten Anregung, nicht auf den Unterschied "between using and mentioning legal utterances" reduzieren lasse. Im Mittelpunkt von Harts Beispiel steht der (deutsche) Kommandant eines Gefangenenlagers: Dieser spricht nicht englisch und muß sich daher eines D o l metschers bedienen, um sich mit seinen englischsprachigen Gefangenen zu verständigen. Darüber hinaus ist er auch ein sehr ängstlicher Mensch; insbesondere hat er große Furcht vor Feuer. Deshalb ruft er, wenn immer er im Lager entflammbare Gegenstände herumliegen sieht, man solle sie unverzüglich 2 0 1

Leser, Wertrelativismus 140; Walter, Rechtslehre 334; ders., Stand 74.

2 0 2

Siehe RR 73 f.

2 0 3

Zum "vollständigen Rechtssatz" siehe oben 2. Kap. A 1 2 .

2 0 4

Siehe RR 73-76.

90S ^ In

seiner "General Theory of Law and State" (45 und passim) bezeichnet Kelsen die in der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" als "Rechtssätze" firmierenden Äußerungen als "rules of law in a descriptive sense". 2 0 6

Kelsen 78.

2 0 7

Nach dem Bericht Harts in "Kelsen Visited" 292.

190

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

entfernen. Da er aber auch ziemlich dumm ist, kommt er nie über die Fülle von Einzelanweisungen hinaus zu einer generellen Verhaltensanweisung. Der D o l metscher ist jedoch klüger als er, und eines Tages fügt er den Anweisungen des Kommandanten aus eigenem Antrieb hinzu: "Und hebt auch alle anderen Gegenstände auf, die ein Feuer verursachen könnten!" Der Kommandant ist mit dieser "Übersetzung" höchst zufrieden und sagt: "Das ist genau, was ich sagen wollte, ich kam nur nicht auf die richtigen Worte" 2 0 8 . Die Aufgabe des Rechtswissenschaftlers nach Kelsen ist, so Hart, mit dem Verhalten dieses klugen Dolmetschers vergleichbar: Der Rechtswissenschaftler beschränke sich nicht darauf, das ihm vorgegebene Rechtsmaterial lediglich in Form einer "Erwähnung" wiederzugeben, sondern er reorganisiere und rekonstruiere es. Daher gelte entgegen dem Vorschlag Goldings für Kelsen'sche Rechtswissenschaftler: Theirs is a special use of language, not a mention of i t 2 0 9 .

2. Kritik

an Harts Interpretation

Harts Beispiel zeigt zwar, daß die Position Goldings dem Anliegen Kelsens nicht gerecht wird; es bringt die Meinung Kelsens indes ebenfalls nicht zutreffend zum Ausdruck. Bei Hart verdeutlicht der Dolmetscher die Bedeutung der Anordnungen des Kommandanten dadurch, daß er dessen Einzelanweisungen auf ihren gemeinsamen Kern zurückführt; dieses "eigentliche Anliegen" des Kommandanten bringt er dann in seiner "Übersetzung" zum Ausdruck. Er schafft also keinen neuen, originären Bedeutungsgehalt der von ihm in Bezug genommenen Äußerungen, sondern er bringt lediglich zum Vorschein, was verborgen "stets schon da war". Wenn Hart daher den Rechtswissenschaftler einem intelligenten Dolmetscher gleichsetzt, so unterstellt er damit das Bild einer Rechtswissenschaft, deren Funktion sich ebenfalls darauf beschränkt, einen Bedeutungsgehalt zum Ausdruck zu bringen, der - zumindest virtuell - bereits vor ihrer rekonstruierenden Tätigkeit in gleicher Weise vorhanden w a r 2 1 0 . Mit dieser Interpretation wird Hart indes der Vorstellung Kelsens vom Recht als einem Deutungsschema nicht gerecht; ja, er stellt in seinem Interpretationsversuch das von Kelsen tatsächlich intendierte Verhältnis der in erster Linie der Rechtswissenschaft obliegenden Tcchtserkennenden Tätigkeit und der xecii\serzeuge?iden Praxis der Rechtsautoritäten geradezu auf den Kopf. Das Recht als normative Ordnung ist bei Kelsen nichts vom Erkenntnissubjekt V o r gefundenes, das dieses lediglich verdeutlichend darzustellen hätte, sondern es ist 2 0 8

Kelsen Visited 293-295.

2 0 9

Kelsen Visited 294.

91Π

Ebenso auch die /fori-Deutung bei Moore, Legal Norms 77.

D. Kritischer Rechtspositivismus oder Begriffsrealismus?

191

in seiner Sollensqualität selbst eine Schöpfung von dessen theoretischer Deutungstätigkeit 211 . Äußerungen der Rechtsautoritäten und Aussagen der Rechtswissenschaft, Rechtsnormen und Rechtssätze stehen also bei Kelsen nicht in der Weise nebeneinander, daß sie lediglich zwei unterschiedliche Sprachformen innerhalb ein und desselben Gegenstandsbereichs darstellten. Außerhalb der auf Rechtserkenntnis gerichteten Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers gibt es vielmehr nichts, das Recht in einem normativen Sinne genannt werden könnte 2 1 2 . Erst indem dieser durch die Annahme der Grundnorm eine ihm i n haltlich vorgegebene soziale Herrschafts- als Rechtsordnung deutet, werden für ihn - Herrschaftsinstitutionen zu Rechtsautoritäten und Machtsprüche zu Rechtsnormen. Mit seiner Interpretation übersetzt der Rechtswissenschaftler also, entgegen dem von Hart angeführten Beispiel, nicht ein im Prinzip bereits vorhandenes Recht in die Sprache der Wissenschaft, sondern schafft er erst dieses Recht in seiner Qualität als Recht 213 . Ebenso wie mit seiner oben behandelten Kritik, die Grundnorm könne die ihr von Kelsen zugeschriebene Funktion als Einheitskonstituante nicht erfolgreich wahrnehmen, wird Hart somit auch in seinem hiesigen Interpretationsversuch der spezifischen Fragestellung Kelsens nicht gerecht. I I I . Verhältnis von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft bei Hart

Sowohl Raz 2 1 4 als auch Hart berufen sich bei der Einführung der Unterscheidung von "committed statements" und "detached statements" auf Kelsens Differenzierung zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen; Hart geht sogar so weit, über die von ihm eingeführte Unterscheidung zu behaupten "that it was this distinction which Kelsen in effect was making" 2 1 5 . Diese Einschätzung trifft

911

Dazu bereits oben A I sowie etwa Kunz, Formulierung 392; Schild, Rechtslehren 21; Meyer Hesernann, Rekonstruktion 74-79; Vernengo, Rechtssätze 104 f. 919

Es ist daher zumindest unglücklich ausgedrückt, wenn Raz, Basic Norm 139 davon spricht, der wichtigste Begriff innerhalb von Kelsens Normativitätskonzeption sei derjenige "of a point of view". Auch wenn Raz (aaO 141; ähnlich ders., Purity 90) Kelsen dafür kritisiert, daß er nicht unterscheide "between the science of law dealt with by jurists talking about the law, and the activities of lawyers and judges using the law", geht sein Einwand an Kelsens spezifischem Anliegen vorbei: Kelsen will nicht einen oder mehrere Standpunkte "dem Recht" gegenüber beschreiben, sondern er thematisiert die Möglichkeit spezifisch normativer rechtswissenschaftlicher Rechtserkenntnis überhaupt. (Ablehnend zu Raz auch Vernengo, Rechtssätze 104 f.). ^ Aus diesem Grund kritisiert auch Moore, Legal Norms 77 die ÄWsen-Interpretation Harts. - In erkenntnistheoretischer Terminologie entspricht der Unterschied zwischen der Lehre Kelsens und ihrer Interpretation durch Hart der Differenz zwischen einer Deutungs- und einer Abbildtheorie der Erkenntnis (siehe dazu Prauss, Erkenntnistheorie 28-37, 66-75). 2 1 4

Practical Reason 189.

2 1 5

Introduction 15.

192

3. Kapitel: Das Recht als Selbsterzeugungsmechanismus

indes nicht zu, sondern in ihr setzt sich das vorstehend herausgearbeitete Mißverständnis Harts fort. In Harts Ausführungen kehrt sich das von Kelsen angenommene begriffliche Verhältnis von rechtswissenschaftlichen und rechtsautoritativen Aussagen um: Es ist der interne Standpunkt einer hinreichenden Zahl von Amtsträgern, insbesondere von Richtern, der für das Bestehen und den Inhalt einer konkreten Erkenntnisregel und der auf ihr beruhenden Rechtsordnung konstitutiv ist. Aus der tatsächlichen Verfahrensweise des Rechtsstabes, nicht erst aus der Deutung dieser Praxis durch die Rechtswissenschaft erwächst das Recht. Die "detached statements" der Rechtswissenschaft sind daher bei Hart, wie Simmonds 216 formuliert, "entirely parasitic in nature" gegenüber den "committed statements": Ihr Anspruch, eine bestimmte Praxis zu beschreiben, ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß diese Praxis tatsächlich existiert. Indem Hart den Unterschied zwischen Rechtspraxis und Rechtswissenschaft lediglich auf der semantischen Ebene festzumachen sucht, verfehlt er die "erkenntniskritische Spitze", die den "naiven Rechtspositivismus" herkömmlicher Art bei Kelsen in einen "kritischen Rechtspositivismus" verwandelt 217 . Dies legt die Frage nahe, ob Hart in seinem eigenen Regelverständnis nicht in jenen naiven Begriffsrealismus zurückfällt, dessen Überwindung eine der großen Leistungen der Reinen Rechtslehre darstellt. Zu verneinen ist dies für den Fall der sozialen Regeln und der ihnen strukturell entsprechenden Erkenntnisregel: Indem Hart hier die Existenz einer Regel aus dem Vorliegen einer entsprechenden Praxis ableitet, vermeidet er den begriffsrealistischen Kurzschluß, der die Existenz "ideeller Gegenstände" wie eine Selbstverständlichkeit behandelt 218 . Anders sieht es indes mit den Rechtsregeln unterhalb der Erkenntnisregel aus, die ihre Existenz nicht einer sozialen Praxis, sondern ihrer Geltung verdanken 219 und die immerhin die überwältigende Mehrheit aller Rechtsvorschriften darstellen. Über sie bemerkt Hart lediglich, daß man sie von verschiedenen Perspektiven aus betrachten könne. Über ihren ontologischen Status sagt er dagegen nichts. Sie sind in seiner Lehre vielmehr "einfach da", "things like tables or chairs" 220 . Dies ist genau die Position eines vorkelsenianischen Begriffsrealismus. 2 1 6

Propositions of Law 99; ebenso MacCormick , Legal Reasoning 289; ders. , Hart 40.

917

Dazu oben unter I. 918

Seine Analyse sozialer Regeln leidet indes an den erheblichen Ambivalenzen innerhalb seines Praxisbegriffs; dazu siehe oben C I, II. 919

Zur Unterscheidung dieser beiden Typen von Rechtsregeln bei Hart siehe oben 2. Kap. Β II pr. 99Π

Harris, Law and Legal Science 122. - Auch Harts Schüler Raz, Legal Validity 148 bezeichnet Rechtsregeln ohne weitere Umstände als "things".

D. Kritischer Rechtspositivismus oder Begriffsrealismus?

193

Wenn Jörgensen 221 meint, die Hart'sche Variante von Kelsens Grundnormtheorie stelle "keine Verbesserung" dar, so ist dies somit noch zu schwach formuliert. Die vorstehenden Überlegungen zeigen vielmehr, daß Kelsens Geltungs- und Grundnormlehre nicht nur von ihrer inneren Geschlossenheit, sondern auch von ihrer erkenntnistheoretischen Fundierung her der Konzeption Harts deutlich überlegen ist 2 2 2 .

2 2 1

Grundnorm 180.

2 2 2

Die gegenteiligen Einschätzungen von Hoerster, Vergleich 1 und passim, Geddert, Moral 68 A. 108 sowie Koller, Meilensteine 166 sind daher zurückzuweisen. 13 Pawlik

Recht und

Ergebnis Die vorstehenden Untersuchungen haben gezeigt, daß Harts Kritik an Kelsen in einer Reihe von Einzelfragen berechtigt ist: Kelsen vermag von seinen methodischen Vorgaben her keinen angemessenen Rechtspflichtbegriff zu entwickeln; seine Ausführungen zur Kontinuitätsproblematik erfassen nicht alle einschlägigen Fallkonstellationen; die von ihm in der 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" aufgestellte Behauptung, daß die Geltung nicht nur der Rechtsordnung insgesamt, sondern auch der einzelnen Rechtsnorm das Faktum ihrer Wirksamkeit zur Voraussetzung habe, erscheint schließlich ebenso unzutreffend wie seine an gleicher Stelle vertretene Ansicht von der indirekten Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen. Dagegen bleiben die Kernpunkte der Reinen Rechtslehre - Rechtssatzkonzeption, Stufenbaulehre und Grundnormtheorie - im wesentlichen bestehen. Daß man, wie von Hart demonstriert wird, die betreffenden Probleme auch anders behandeln kann als Kelsen dies tut, bedeutet nicht, daß man sie anders lösen muß; die von Kelsen angebotenen Antworten sind vielmehr sowohl analytisch fruchtbar als auch argumentativ und begrifflich in sich schlüssig. Wenn Hart meint, mit seinen Ausführungen Kelsen widerlegt zu haben, so beruht diese Einschätzung darauf, daß er dessen Überlegungen von vornherein ausschließlich am Maßstab seiner eigenen rechtstheoretischen Zielvorstellungen mißt. Dies hat zur Folge, daß er Ausrichtung und Fragestellung der Reinen Rechtslehre entweder nicht mit der notwendigen Klarheit erkennt - so vor allem im Bereich der Grundnormlehre - oder sie jedenfalls nicht hinreichend ernst nimmt - so in seiner Befassung mit Kelsens Version der Zwangstheorie. In seiner Analyse von Harts Austin-Kritik gelangt Moles 1 zu dem Ergebnis: Hart did not understand the problem with which Austin was dealing, nor did he appreciate the need for such an understanding as a necessary precondition for the proper understanding of Austin's work.

Man braucht hier lediglich den Namen "Austin" durch "Kelsen" zu ersetzen, um diese Bewertung auch auf Harts Befassung mit Kelsen anwenden zu können. Kelsen selbst hat übrigens in der Diskussion, die er mit Hart geführt und über die dieser nachfolgend in dem Aufsatz "Kelsen Visited" berichtet hat, bemerkt, die Auseinandersetzung zwischen ihnen sei von ganz neuer Art: Obgleich er, Kelsen, mit Hart übereinstimme, stimme dieser nicht mit ihm überein 2. In 1

Definition and Rule 114.

2

Hart, Kelsen Visited 287.

Ergebnis

195

ironisch zugespitzter Form weist damit auch Kelsen auf den Fehler hin, der Harts Behandlung der Reinen Rechtslehre durchzieht: den Irrtum, die tatsächlich vorliegende weitgehende Kompatibilität zwischen ihren beiden Konzeptionen als Exklusivitätsverhältnis zu mißdeuten. Was schließlich Harts eigene Lehre angeht, so geben ihre drei Hauptstücke der Begriff des Rechts als Verbindung von Primär- und Sekundärregeln, die Ausführungen zur Erkenntnisregel und die Darstellung der verschiedenen Standpunkte, die dem Recht gegenüber eingenommen werden können - allesamt zu erheblichen Bedenken Anlaß. In seinen Ausführungen zur Erkenntnisregel versäumt es Hart, den eigentlichen normativen "Grundbegriff" seiner Rechtslehre, den Begriff des Amtsträgers, zu erläutern. Entgegen seinem in der Auseinandersetzung mit Austin erhobenen zentralen rechtsbegrifflichen Anspruch löst er damit letztlich nicht das Problem, die Normativität des Rechts mit seiner Positivität, seiner Einbindung in faktische Machtverhältnisse, in Einklang zu bringen, ohne dabei in einen methodisch unkontrollierten Rückschluß von einem Sollen auf ein Sein zu verfallen. Ebenso scheitert er mit seinem Versuch, methodisch über die Reine Rechtslehre hinauszugehen und "analytical jurisprudence" und "descriptive sociology" miteinander zu verbinden. Die Ambivalenzen, die seine Ausführungen zur Abgrenzung der verschiedenen Typen von Rechtsregeln sowie der unterschiedlichen Standpunkte gegenüber dem Recht durchziehen, geben davon hinreichend Zeugnis. Die Bedeutung der Rechtstheorie Harts liegt somit eher in in den Fragen, die sie aufgeworfen, der Diskussion, die sie provoziert, als in den Antworten, die sie gegeben hat. Daher kann sie zwar von ihrem tatsächlichen Einfluß, nicht jedoch von ihrer rechtstheoretischen Substanz her als vollwertiges Pendant zur Reinen Rechtslehre anerkannt werden.

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