Die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation: Analyse und Vergleich zweier zeitgenössischer Filmströmungen 9783839441589

An intercultural and transcultural comparison between two current movie trends from China and Germany - that also refers

207 109 9MB

German Pages 232 Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation: Analyse und Vergleich zweier zeitgenössischer Filmströmungen
 9783839441589

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Hintergründe beider Filmströmungen
3. Thematische Filmanalyse
4. Theoretische Grundlage der ästhetischen Filmanalyse
5. Ästhetische Filmanalyse
6. Fazit
Filmographie
Bibliographie
Abbildungen

Citation preview

Yuanyuan Tang Die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation

Film

Yuanyuan Tang (Dr. phil.), geb. 1985, studierte an der Chang’an-Universität und Northeast Normal University (VR China). Sie promovierte an der FriedrichSchiller-Universität Jena unter der Betreuung von Prof. Dr. Karl Sierek. Sie arbeitet als Dozentin für Medienwissenschaft an der Xi’an International Studies University.

Yuanyuan Tang

Die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation Analyse und Vergleich zweier zeitgenössischer Filmströmungen

Publiziert mit Unterstützung des Forschungsfonds der Xi’an International Studies University

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena im Juni 2015 auf Antrag von Prof. Dr. Karl Sierek und Prof. Dr. Peter Matussek als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4158-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4158-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 1

Einleitung | 9 1.1 Themenauswahl und Fragestellung | 9 1.2 Begriffsdefinition und Abgrenzung des Forschungsgegenstandes | 12 1.3 Methode und Forschungsstand | 17

2. Hintergründe beider Filmströmungen | 23 2.1 Hintergrund der Neuen Berliner Schule | 23 2.2 Hintergrund der chinesischen Sechsten Generation | 32 2.3 Fazit | 41

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

3

Thematische Filmanalyse | 43 Leben in der Gegenwart | 43 Die Auffällige Unauffälligkeit des Alltags | 45 Darstellung des Individuums als Ablehnung des Kollektivs | 49 Adoleszenz | 54 Urbanität | 61

4

Theoretische Grundlage der ästhetischen Filmanalyse | 69

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Die ästhetischen Merkmale der Werke beider Strömungen | 69 Realität und Wirklichkeit | 71 Verfremdung | 80 Die Einbindung von Wirklichkeit und Verfremdung | 85 Die Ästhetik der Leere. Ein Vergleich aus kunstgeschichtlicher Perspektive | 87 4.6 Minimalismus | 96 5 Ästhetische Filmanalyse | 101 5.1 Raumkonzept der beiden Filmschulen | 101 5.2 Zeitkonzept der beiden Filmschulen | 141 6

Fazit | 181

Filmographie | 191 Bibliographie | 193 Abbildungen | 209

Danksagung

Mein größter Dank gilt zunächst Prof. Dr. Karl Sierek. Ich konnte mich stets auf seinen kompetenten Rat und seine unschätzbare Hilfe – von der Themenfindung bis zur finalen Fassung – verlassen. Seine wertvollen Vorschläge haben maßgeblich zum guten Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ich danke ihm darüber hinaus für die hilfreiche und anregende Diskussion im Kolloquium. Auch meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Peter Matussek, möchte ich hier ausdrücklich für seine verantwortungsvolle Betreuung danken und für die vielseitige Unterstützung bei der Bearbeitung dieses interessanten Forschungsthemas. Ein besonderer Dank gilt China Scholarship Council (CSC), ohne deren finanzielle Unterstützung meine Arbeit in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen wäre. Außerdem danke ich allen meinen Kollegen für ihre freundliche Hilfe. Ich bedanke mich an dieser Stelle auch bei Anne und Jens für ihre liebe Unterstützung. Schließlich möchte ich meinem Großvater danken und wünsche ihm viel Glück im Jenseits!

1

Einleitung

1.1

T HEMENAUSWAHL UND F RAGESTELLUNG

Die Neue Berliner Schule, die Mitte der 1990er Jahre auf dem deutschen Kinomarkt erscheint und sich aus einer losen Gruppe von Filmemachern zusammensetzt, von denen die meisten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) studieren, ist im chinesischen Filmgeschäft der Gegenwart wenig bekannt. Spricht man in China von deutschen Filmen, so ist damit zumeist der „deutsche Expressionismus“ der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gemeint oder der „Neue Deutsche Film“, der den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entstammt und bis Mitte der 80er Jahre die Kinolandschaft bestimmt. Wie wohl jedes Land so wird auch der deutsche Kinomarkt von Hollywood-Filmen überschwemmt.1 Unter dem Konkurrenzdruck dieser Filme ziehen jene der Neuen Berliner Schule – aufgrund ihrer weniger spannenden Dramaturgie, ihres langsameren Rhythmus und ihrer wortkargen Dialoge – wenig Aufmerksamkeit auf sich. Allerdings erregen sie beim Fachpublikum in Frankreich großes Aufsehen, weshalb sich der Begriff der „Nouvelle Vague Allemande“2 herausbildet.

1

Z.B. kommen von den Top-10-Filmen Deutschlands 2014 sieben Filme aus den USA. Vgl. die Information der Filmförderungsanstalt (FFA) [2015]: Die wichtigsten Kinoergebnisse in Deutschland 2014. In: Webseite der Filmförderungsanstalt. URL: http:// www.ffa.de/downloads/publikationen/ffa_intern/FFA_info_compact_150209.pdf [14. 03.2015]. Im chinesischen Kino steht der Hollywoodfilm mit seinem Umsatz 2014 ebenfalls an erster Stelle. Vgl. Ji, Zhengpeng [2015]: Filmischer Markt 2014 (Shudu 2014 dianying shichang). In: China Film News (zhongguo dianying bao). 9. Januar 2015.

2

Rohnke, Cathy [2006]: Die Schule, die keine ist – Reflektionen über die ‚Berliner Schule‘. URL: http://www.goethe.de/kue/flm/fmg/de1932607.htm [17.02.2015].

10 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Bei den Regisseuren der Sechsten Generation in China – die Zeitgenossen der Regisseure der Berliner Schule sind – handelt es sich um eine derzeit lose Gruppe von Filmschaffenden, von denen die meisten Absolventen der Pekinger Filmakademie sind. Die Filmströmungen weisen viele Ähnlichkeiten auf. Die Regisseure der Sechsten Generation haben Gleiches erlebt: Zu Beginn unbekannt, geraten sie mehr und mehr ins Blickfeld des inländischen Publikums, wobei sie sich zuerst einen Ruf auf internationalen Filmfestivals erwerben. Da ihre frühen Werke nicht in inländischen Kinos vorgeführt werden dürfen, werden sie von den ausländischen Medien auch als „chinesischer Untergrundfilm“ bezeichnet. Das heißt, dass die beiden filmischen Strömungen ihre Reputation durch den Reimport ihrer Werke ins Inland verstärken. Außer diesen ähnlichen Erfahrungswerten gibt es noch weitere vergleichbare Punkte: Man denkt in diesen Filmen gern über das Leben nach. Die Regisseure schenken dem realen Zustand der gewöhnlichen oder „peripheren“ Leute im Alltag besondere Aufmerksamkeit und interessieren sich weniger für Sensationen. Bezüglich des Filmverfahrens bevorzugen sie beispielsweise einen langsamen Rhythmus und relativ lange Einstellungen. Auf die Bildkomposition bezogen tendieren sie zu einer künstlerischen Eigentümlichkeit. Einerseits aktualisieren die Regisseure beider Schule auf ihre je eigene Weise die realistische Filmästhetik in ihren Werken, andererseits lassen die extrem stilisierten Filmverfahren zugleich einen Verfremdungseffekt auf formaler Ebene entstehen, so dass diese Werke sowohl real als auch verfremdend zugleich wirken. Wenn man genauer über diese Dialektik nachdenkt, zeigt sich, dass sich dieses Phänomen eigentlich auf einen paradoxen Zusammenhang zwischen der Realität und dem Verfremdungseffekt bezieht. Die beiden Konzepte repräsentieren nämlich jeweils die realistische Ästhetik und den formalen Diskurs in der Geschichte der Filmtheorie – Konzepte, die seit der Entstehung des Films für Gegensätze gehalten werden.3 Tatsache ist vielmehr – wie noch auszuführen ist –, dass beide Konzepte in den Werken der zwei Schulen nicht mehr als Gegensätze existieren, sondern miteinander verbunden werden können. Die realistische Filmästhetik entwickelt sich heutzutage in verschiedene

3

Z.B. teilt der Filmtheoretiker J. Dudley Andrew in seinem Buch The Major Film Theories den Diskurs über die Filmtheorie in drei Kategorien ein, nämlich the formative tradition, realist film theory und contemporary french film theory. Darunter werden die formale Tradition und die realistische Filmtheorie nach der Ansicht von Andrew als zwei einander entgegengesetzte Strömungen verstanden. Vgl. Andrew, J. Dudley [1976]: The Major Film Theories. An Introduction. London u.a.: Oxford University Press, S. 103 ff.

E INLEITUNG

| 11

Richtungen weiter, 4 als Gemeinsamkeit kann aber in den Werken der beiden Schulen das Verfremdungsverfahren gesehen werden, das in gewissem Maße der Darstellung der aktualisierten realistischen Ästhetik dient. So steht der Diskurs über den Zusammenhang von Realität und Verfremdungseffekt im Mittelpunkt der ästhetischen Analyse. In dieser Arbeit wird ein Vergleich zwischen den zeitgenössischen Regisseuren beider Länder in einem interkulturellen Kontext durchgeführt, denn: „Einfacher und nicht minder ergiebig ist die Analyse von Filmen, die zur gleichen Zeit herauskamen und gleich erfolgreich waren, das heißt, denen zeitspezifisch eine sozialpsychologische Relevanz zugesprochen werden muss.“5 Darüber hinaus kann ein solcher interkultureller Vergleich den Rahmen für die gegenseitige Entwicklung ausweiten, weil die Filmströmung nicht nur eine neue Art von Thema oder Stil, sondern auch eine Tendenz des kollektiven Bewusstseins der Schaffenden bedeutet, die von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur bedingt werden. Von den angeführten Standpunkten ausgehend lassen sich die Fragestellungen in dieser Arbeit wie folgt formulieren: •





Ist es möglich, durch den Vergleich zwischen zwei kontemporären Filmströmungen unterschiedlicher kultureller Provenienz neue Aspekte in Bezug auf das Wesen von Ästhetik sowie in Bezug auf gewisse soziokulturelle Phänomene des Zeitgeistes zu erkennen? Wie äußern sich die Realität und der Verfremdungseffekt als unverwechselbare ästhetische Konzepte in den jeweiligen Werken? Mit welchen Mitteln bringen die Regisseure ihr Verständnis in Bezug auf die beiden Konzepte in ihren Werken zum Ausdruck? Wie treten der Verfremdungseffekt und die realistische Ästhetik, die bisher in der Forschung als zwei gegensätzliche Konzepte behandelt werden, in den Werken beider Schulen zueinander in Verbindung? Dient der Verfremdungseffekt der Darstellung von Realität und wenn ja, in welchem Maße?

4

Vgl. Kirsten, Guido [2013]: Filmischer Realismus. Marburg: Schüren Verlag, S. 15.

5

Faulstich, Werner [3 2013]: Grundkurs Filmanalyse. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 198.

12 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

1.2

B EGRIFFSDEFINITION UND ABGRENZUNG DES F ORSCHUNGSGEGENSTANDES

1.2.1

Die Begriffsdefinition

Die Bezeichnungen „Neue Berliner Schule“ und „chinesische Sechste Generation“ sind in Fachkreisen umstritten. So gilt es zuerst das Problem der Begriffsdefinition zu lösen. In Bezug auf die „Berliner Schule“ gibt es keine einheitliche Bezeichnung: Manche Filmkritiker nennen sie „Berliner Schule“ und andere „Neue Berliner Schule“. Ursprünglich gibt es eigentlich schon die bestimmende Bezeichnung „Berliner Schule“, die Volker Baer zum ersten Mal verwendet und die sich auf die Arbeiterfilme der 70er Jahre bezieht. Zugleich haben deren Regisseure auch ein enges Verhältnis zur DFFB: „Als die DFFB 1976 ihr zehnjähriges Bestehen feiert, wird auf die ersten Erfolge hingewiesen: 1974 erhält Wolfgang Petersen das Filmband in Gold für Nachwuchsregie für seinen Film Einer von uns beiden, Max Willutzki das Filmband in Silber für seinen Dokumentarfilm Der lange Jammer. Der Begriff der ‚Berliner Schule‘ wird geprägt.“6

Um die Filme der Berliner Schule in den 90er Jahren von den Arbeiterfilmen der 70er Jahren zu unterscheiden, pflegen viele Kritiker die erstgenannte „Neue Berliner Schule“ zu nennen. Der Kinokritiker Lukas Foerster erklärt in einem Artikel den Namen folgendermaßen: „Es gab schon mal eine Berliner Schule und zwar in den 70ern. Deren Filme spielten vorzugsweise im Arbeitermilieu, die Regisseure entstammten, wie beispielsweise Harun Farocki, der DFFB-Ausbildung.“7 Auf eine entsprechende Nachfrage bei Foerster erläutert dieser, dass der Begriff „Neue Berliner Schule“ aufgrund der Abgrenzung zur „Berliner Schule des Arbeiterfilms“ der frühen siebziger Jahre entsteht. Heutzutage wird das Wort „Neu“ jedoch fast immer weggelassen. Es kann festgehalten werden, dass der Begriff zum ersten Mal vom Kinokritiker Rainer Gansera 2001 in der Süddeutschen Zeitung verwendet wird: „Immer deutlicher zeichnet sich so etwas

6

Vgl. Baer, Volker: „Vom Werden der ‚Berliner Schule‘. Zehn Jahre Deutsche Filmund Fernsehakademie.“ In: Der Tagesspiegel vom 12. September 1976, zitiert nach: Peter C. Slansky [2011]: Filmhochschulen in Deutschland. Geschichte – Typologie – Architektur. München: edition text + kritik, S. 421.

7

Foerster, Lukas [2006]: Neue Berliner Schule. URL: http://www.critic.de/special/ neue-berliner- schule-1503/ [28.10.2014].

E INLEITUNG

| 13

wie eine Berliner Schule ab, der Thomas Arslan, Angela Schanelec und Christian Petzold zugehören. Gerade jetzt, wo die drei dabei sind, ihre Eigenheiten auszuformulieren, werden auch ihre Gemeinsamkeiten deutlicher sichtbar.“8 Am 29. September 2006 findet ein Symposium mit dem Titel „Neue Berliner Schule“ anlässlich des 40. Geburtstages der DFFB im Filmmuseum statt.9 Bei dieser Zusammenkunft wird die Frage, was die Neue Berliner Schule auszeichnet, ausführlich diskutiert.10 Manche Fachleute erachten den Begriff als eine mediale Erfindung. So führt beispielsweise Martin Moszkowicz, Vorstandsvorsitzender der Constantin Film AG, in einem Interview an: „Ich glaube nicht, dass die Berliner Schule jemals existiert hat. Auch einige Regisseure, die von außen dazugerechnet werden, würden da widersprechen. Aber es gibt in der Tat eine recht prominente Gruppe deutscher Mittelklasse-Filmemacher, deren Anliegen es ist, trostlose, unemotionale und undramatische Filme zu drehen.“11 Viele Regisseure der Neuen Berliner Schule sind auch nicht mit der Bezeichnung einverstanden, die für sie gebräuchlich ist, da die Etikettierung „Berliner Schule“ einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Werke im Wege stehen könne. Mit denselben Problemen hat die „Sechste Generation“ zu kämpfen, die in den folgenden Abschnitten erörtert wird. So lässt sich das bisher Gesagte wie folgt zusammenfassen: Der Begriff der „Neuen Berliner Schule“ bezeichnet eine Gruppe von Regisseuren, von denen die meisten an der DFFB studieren und die seit Anfang der 90er Jahre vom Publikum als eine Stilrichtung gewürdigt wird, die sich von der damals dominanten Tendenz auf dem deutschen Kinomarkt absetzt. In der vorliegenden Dissertation wird der Begriff der „Neuen Berliner

8

Vgl. Gansera, Rainer: „Glücks-Pickpocket.“ In: Süddeutsche Zeitung, 3. November 2001. Nach allgemeiner Ansicht prägt Gansera den Begriff „Berliner Schule“. Tatsache ist jedoch, dass Merten Worthmann schon einige Wochen zuvor den Begriff benutzt. Siehe: Worthmann, Merten: „Mit Vorsicht genießen.“ In: Die Zeit. 27. September 2001.

9

Vgl. Slansky, Peter C. [2011]: S. 727.

10 Vgl. Decker, Kerstin: „Die Schneewittchenfilmer. Arslan, Petzold, Schanelec: ein Symposium die Neue Beliner Schule.“ In: Der Tagesspiegel, 2. Oktober 2006. Mehr dazu siehe: Kammerer, Dietmar: Laufenlassen. „Die Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) lud zu ihrem 40. Geburtstag zu einer Tagung über die ‚Berliner Schule‘“. In: Die Tageszeitung. 2. Oktober 2006. 11 O.V.: „Trostlose Mittelklasse.“ In: Süddeutsche Zeitung, 13./14. September 2014.

14 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Schule“ in einem kontrastierenden Verhältnis zu der ihr vorausgehenden Berliner Schule der 70er Jahre benutzt. Was die chinesische Sechste Generation angeht, so tritt der Begriff der „Generation“ erst seit der chinesischen Fünften Generation auf, weil diese für den chinesischen Film einen internationalen Ruf erwirbt. Von da an teilt man chinesische Filme nach dem Jahrgang in verschiedene Stilrichtungen ein.12 Über die Bezeichnung der chinesischen Sechsten Generation gibt es schon in den frühen 90er Jahren zahlreiche Aussagen. Im Ausland werden die Filme als „chinesische Untergrundfilme“ bezeichnet oder als Filme gesehen, die kontroverse politische Ansichten behandeln. In Festland-China nennt man sie „Unabhängige Filme“ und in Taiwan „Festländische Untergrundfilme“.13 Allerdings wollen manche Filmkritiker seit Anfang der Entstehung der Sechsten Generation weder deren Bezeichnung noch deren Existenz anerkennen: In der vierten Ausgabe der Zeitschrift Shanghaier Künstler von 1993 gibt es ein Gesprächsprotokoll der Absolventen der Fächer Regie, Kamera, Malerei, Tonaufnahme und Literatur der Pekinger Filmakademie im Jahrgang 1985. Darin sprechen sich die Absolventen gegen das Vorgehen aus, die Regisseure nach dem Jahrgang einzuordnen und fordern eine individuellere Einteilung.14 Am 15. Juni 1995, d.h. zehn Jahre vor der entsprechenden Berliner Veranstaltung, findet bereits ein Symposium über die Sechste Generation an der Pekinger Filmakademie statt, auf dem die Regisseure und die Dozenten der Akademie eine heftige Debatte über die Bezeichnung der Sechsten Generation führen.15 Ein solches Generationen-Schema ist nach Karl Sierek und Guido Kirsten problematisch, denn „die Ästhetik einer bestimmten Generation [ist] deutlich heterogener, als die holzschnittartigen Zuschreibungen

12 Vgl. Shanghaier Künstler (Shanghai yishujia). 4/1993; zitiert nach: Li, Meng: The Sixth Generation Films Studies, Univ. Diss. Ji Lin University 2009, S. 162. 13 Vgl. Dai, Jinhua [2000]: Die Landschaft im Nebel: chinesische Filmkultur 1978–1998. Peking: Peking-Universität Verlag, S. 385 (übersetzt von Tang, Yuanyuan). Das Buch ist teilweise auch ins Englische übersetzt worden. Siehe: Wang, Jing, Barlow/Tani E. [Hrsg.] [2002]: Cinema and Desire. Feminist Marxism and Cultural Politics in the Work of Dai Jinhua. London. New York: VERSO. 14 Vgl. Lu, Shaoyang [2004]: Die chinesische gegenwärtige Filmgeschichte seit 1977 (Zhongguo dangdai dianyingshi. 1977 nian yilai.) Peking: Peking Universität Verlag, S. 128. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 15 Vgl. Li, Meng: S. 8.

E INLEITUNG

| 15

erkennen lassen“.16 Obwohl diese Abgrenzung anfangs Kritik und Zweifel in unterschiedlichem Ausmaß hervorruft, wird sie allmählich doch noch von der Öffentlichkeit anerkannt. Denn „es handelt sich allenfalls um Tendenzen, die sowohl bedeutende Differenzen innerhalb einer Generation als auch generationenübergreifende Gemeinsamkeiten verdecken können.“17 Bis heute hat sich also ein akademischer Streit zwischen zwei Gruppen entwickelt: Die Vertreter der einen Gruppe sind Huang Shixian, Zheng Dongtian, Dai Jinhua und Lin Shaoxiong. Sie bezeichnen diese Regisseure als „Sechste Generation“. Die Vertreter der anderen sind u.a. Ni Zhen, Yi Hong und Jia Leilei, welche die neue Strömung als die „Neue Generation“ bezeichnen.18 Nach der Ansicht Dai Jinhuas würden die verschiedenen Aussagen tatsächlich auf dasselbe Kulturphänomen hindeuten, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im chinesischen Kino entsteht.19 Es lässt sich also konstatieren: Bei der chinesischen Sechsten Generation handelt es sich um eine Gruppe von Regisseuren, von denen die meisten 1989 die Pekinger Filmakademie absolvieren und seit Mitte der 90er Jahre Filme drehen. In der vorliegenden Arbeit wird die Bezeichnung „Sechste Generation“ verwendet, weil sie damit in einem Verweisungszusammenhang mit der Bezeichnung des Vorgängers (der Fünften Generation) steht, die bereits internationalen Ruhm erlangt hat. 1.2.2

Der Forschungsgegenstand

Es ist schwierig, das Profil der Angehörigen beider Schulen genau zu umreißen. Einerseits weil beide zeitgenössische Filmströmungen sind und sich im Laufe der Zeit entwickeln und verändern und ihnen ständig neue Mitglieder zugeordnet werden können. Außerdem handelt es sich um zwei große, komplexe Strömungen mit zahlreichen Mitgliedern. Sie sind dynamisch und in Fachkreisen umstritten. Der Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit wird daher wie folgt eingeschränkt:

16 Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution: Theorien und Analysen. Marburg: Schüren, S. 12. 17 Ebenda, S. 13. 18 Vgl. Zou, Jian [2006]: Comparative research on french new wave and new generation of Chinese film (Faguo dianying xinlangchao yu zhongguo dianying xinshengdai de bijiao yanjiu). Univ. Diss. East China Normal University, S. 43. 19 Vgl. Dai, Jinhua [2000]: S. 385. Siehe die englische Version: Wang Jing, Tani E. Barlow [Hrsg.] [2002]: S. 75.

16 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Rainer Gansera ordnet 2001 in seinem Aufsatz erstmalig Thomas Arslan, Angela Schanelec und Christian Petzold der Neuen Berliner Schule zu, weshalb sie auch als die erste Generation der Berliner Schule bezeichnet werden. Im Jahr 2007 zählt der Filmkritiker Georg Seeßlen weitere Regisseure der Neuen Berliner Schule auf: Neben den drei oben erwähnten Regisseuren gibt es noch Christoph Hochhäusler, Henner Winckler, Jan Krüger, Benjamin Heisenberg, Ulrich Köhler, Valeska Grisebach, Maren Ade, Sylke Enders und Maria Speth.20 Darunter sind jedoch nur wenige, die ihre Ausbildung an der DFFB abschließen; die anderen kommen von verschiedenen Filmhochschulen und ziehen erst nach ihrem Studium nach Berlin. So studiert Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg und Maren Ade an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF[M]), Valeska Grisebach absolviert die Filmakademie in Wien. Da die Familie der Neuen Berliner Schule vielköpfig ist, beschränkt sich die vorliegende Untersuchung hauptsächlich auf die drei Regisseure der Anfangszeit, nämlich Thomas Arslan, Angela Schanelec und Christian Petzold. Ihre Erfolge beim internationalen Filmfestival bringen ihnen große Anerkennung: Ihre Werke werden von einem breiten Publikum in oder aus Deutschland anerkannt und sind ein Verweis auf die allgemeine ästhetische Bestrebung der Neuen Berliner Schule. 1994 veröffentlicht die in Nanjing erscheinende Zeitschrift Zhong Shan einen Artikel von Hu Xueyang, einem Regisseur des Shanghaier Filmstudios. Dort heißt es erstmals: „Die Studenten des Jahrgangs 1985 der Pekinger Filmakademie sind die Arbeiter der Sechsten Generation des chinesischen Films.“ Diese Aussage wird von den späteren Forschern als Manifest der Regisseure der Sechsten Generation angesehen.21 Jedoch ist die Gruppe der Sechsten Generation, wie auch die Neue Berliner Schule, vielköpfig, und zugleich treten immerfort neue Regisseure ein. „Er [der Begriff der Sechsten Generation] ist eine Collage, die für den Signifikant die Signifikate sucht.“22 Nach Dai Jinhua bezieht sich die Sechste Generation auf folgende drei korrelative kulturelle Phänomene: Zunächst nennt sie die unabhängigen Filmemacher, die in den 90er Jahren auftreten und die Filme außerhalb des offiziellen Filmsystems mithilfe der Finanzierung durch Privatorganisationen oder europäische Filmstiftungen produziert haben. Als Beispiele

20 Vgl. Seeßlen, Georg [2007]: „Die Anti- Erzählmaschine.“ In: Der Freitag. 14. September 2007. URL: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-anti-erzahlmaschine [05.11.2014]. 21 Vgl. Lu, Shaoyang [2004]: S. 128. 22 Dai, Jinhua [2000]: S. 385. Siehe englische Version: Jing, Wang/Barlow, Tani E. [Hrsg.] [2002]: S. 74.

E INLEITUNG

| 17

führt sie Beijing Bastards (Beijing Zazhong, 1993) von Zhang Yuan und The Days (Dongchun de Rizi, 1993) von Wang Xiaoshuai an. Das zweite Phänomen bezieht sie auf eine Gruppe von Regisseuren, die ungefähr zwischen 1989–1991 die Pekinger Filmakademie absolviert haben und Filme innerhalb des offiziellen Filmsystems machen. Hier nennt sie Those Left Behind (Liushou Nüshi, 1993) von Hu Xueyang und Weekend Lover (Zhoumo Qingren, 1995) von Lou Ye. Schließlich gibt es die Dokumentarfilmemacher, die auch zwischen dem Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre in die Öffentlichkeit treten und eine enge Beziehung mit einer Künstlergruppe im Umland Pekings (Yuanmingyuan-Malerdorf) haben, wie beispielsweise Bumming in Beijing – The last Dreamers (Beijing Liulang – Zuihou de Mengxiangzhe, 1990) von Wu Wenguang oder Wir absolvieren (Women biye la; Jahr unbekannt) von Shi Jian.23 Sie werden auch Neue Dokumentarfilmbewegung genannt. Die vorliegende Arbeit wird sich hauptsächlich auf die ersten beiden Gruppen konzentrieren, nämlich die Regisseure der Spielfilme, weil die dritte Art viele heterogene Phänomene betrifft. Innerhalb der zwei Gruppen werde ich den Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit weiter eingrenzen und mich auf einige besonders repräsentative Regisseure konzentrieren wie Zhang Yuan, Jia Zhangke oder Wang Xiaoshuai.

1.3

M ETHODE

1.3.1

Methode und Aufbau

UND

F ORSCHUNGSSTAND

Die Analyse der beiden Filmströmungen aus China und Deutschland betrifft sowohl die filmische Geschichte als auch den sozio-kulturellen Kontext der beiden Länder, weswegen eine interdisziplinäre Vorgehensweise gewählt wird. Einerseits bezieht sich die Arbeit auf die filmisch-ontologischen und ästhetischen Kenntnisse hinsichtlich der Analyse der Einstellungen, der Bildkomposition, des Rhythmus usw., andererseits hängt sie auch von Theorien aus den soziokulturellen Bereichen ab. Aufgrund des Mangels an einschlägigen Arbeiten, die einen komparatistischen Ansatz verfolgen, wird zwischen den Strömungen zuerst ein syntagmatischer Vergleich auf der thematischen Ebene durchgeführt. In dem Zusammenhang werden die zahlreichen Artikel, Interviews und diesbezüglichen schriftlichen und audiovisuellen Materialien zu sammeln und zu ordnen sein. Davon

23 Vgl. ebenda, S. 386.

18 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

ausgehend wird der ästhetische Stellenwert beider Strömungen deduktiv herausgearbeitet. In der Einleitung wird hauptsächlich die Problematik im Hinblick auf die Bezeichnung und die Feststellung des Forschungsgegenstands dargelegt. Daneben wird der Forschungsstand zu diesem Thema vorgestellt. Da beide Schulen zeitgenössisch sind, lassen sich Definition und Eingrenzung nicht endgültig bestimmen. Im 2. Kapitel werden die Hintergründe beider Schulen diskutiert, die sowohl die filmgeschichtlichen als auch die politischen und soziokulturellen Kontexte betreffen. Auf dieser Basis wird im 3. Kapitel eine transkulturelle Vergleichsanalyse zwischen beiden Schulen vorgenommen, weswegen sich die Analyse vor allem auf die Themen konzentriert, die in den Werken der Filmschaffenden häufig auftauchen und die die kulturellen Phänomene in einer bestimmten Epoche widerspiegeln. Im 4. Kapitel wird eine ästhetische Filmanalyse im ontologischen Sinne vorgenommen. So werden zuerst die Theoriegrundlagen eingeführt: die zwei ästhetischen Hauptstile, Realismus und Verfremdung. Da allerdings beide relativ große und komplexe Themen sind, liegt der Schwerpunkt hier auf den folgenden Konzepten: der äußeren Wirklichkeit von Kracauer; der Mehrdeutigkeit der Realität von Bazin; dem Wirklichkeitseffekt von Guido Kirsten auf der realistischen Ebene; dem Verfremdungsverfahren von Sklovskij; schließlich auf dem Verfremdungseffekt von Brecht hinsichtlich der formalen Ebene. In Bezug auf das Verfremdungsverfahren wird unter Anlehnung an die Vorgehensweise des Neoformalismus in den vorliegenden Studien versucht, das Spannungsverhältnis zwischen der Realität und dem formalen Verfremdungseffekt in den Werken beider Schulen zu ermitteln. 1.3.2

Forschungsstand

1.3.2.1 Forschungsstand zur Neuen Berliner Schule Es sind kaum Monographien oder systematische Abhandlungen zur Neuen Berliner Schule im deutschsprachigen Raum zu finden. Es lassen sich dennoch zahlreiche Artikel über die Neue Berliner Schule in verschiedenen Zeitschriften oder Zeitungen ermitteln, wobei es sich bei vielen um deskriptive Darstellungen handelt. Im Buch Geschichte des deutschen Films, das von Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes et al. 2004 herausgegebenen wird, stellt die Autorin Katja Nicodemus mit knapp zwei Seiten im Kapitel Film der neunziger Jahre. Neues Sein und altes Bewusstsein die Neue Berliner Schule (die im Buch als Berliner Schule bezeichnet

E INLEITUNG

| 19

wird) vor. Dabei wird die Neue Berliner Schule als ein selbständiges filmisches Phänomen in der deutschen Filmgeschichte dargestellt.24 In der Deutschen Kinemathek (Museum für Film und Fernsehen in Berlin) befinden sich zwei unveröffentlichte Bücher: zum einen Die Kulturelle Relevanz der Berliner Schule.25 Diese bei Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle und Prof. Dr. Vincent Meyer eingereichte Arbeit aus der Feder einer diplomierten Kulturwissenschaftlerin lässt sich als eine grenzüberschreitende deutsch-französische Studie begreifen. Da die Autorin Marte Kräher die Neue Berliner Schule als ein kulturelles Phänomen im deutsch-französischen Gesellschaftskontext darstellt, berücksichtigt sie kaum die Stilanalyse oder ästhetische Kritik. Als systematisches Hintergrundmaterial ist diese Arbeit jedoch hilfreich. Das andere Buch Ein Gespräch via e-mail über die Neue Berliner Schule ist eine Zusammenstellung von E-Mails, die Dominik Graf, Christoph Hochhäusler und Christian Petzold miteinander austauschen.26 Daneben sind mittlerweile einige Studien zu einzelnen Regisseurinnen und Regisseuren erschienen wie beispielsweise die Masterarbeit Die Neue Berliner Schule. Zwischen Verflachung und Tiefe: Ein ästhetisches Spannungsfeld in den Filmen von Angela Schanelec27 von Jena Heberlein sowie das Buch Leerstellen – Resonanzräume. Zur Ästhetik der Auslassung im Werk des Filmregisseurs Christian Petzold28 von Johanna Schwenk. Im Dezember 2013 widmet das New Yorker MoMA 16 ausgewählten Filmen der Neuen Berliner Schule eine Retrospektive. Dabei wird die Neue Berliner Schule einem großen Publikum nahegebracht. Anschließend werden drei englischsprachige Monographien veröffentlicht: Rajendra Roy und Anke Lewekes

24 Vgl. Jacobsen, Wolfgang u.a. [22004]: Geschichte des deutschen Films. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 353. 25 Kräher, Marte [2007]: Die Kulturelle Relevanz der Berliner Schule. Diplomarbeit an der Universität des Saarlandes und Université de Metz. 26 Graf, Dominik u.a. [2006]: Ein Gespräch via e-mail über die Neue Berliner Schule. Berlin: Deutsche Film- und Fernsehakademie. 27 Heberlein, Jana [2011]: Die Neue Berliner Schule zwischen Verflachung und Tiefe: Ein ästhetisches Spannungsfeld in den Filmen von Angela Schanelec. Masterarbeit Uni Zürich. 28 Schwenk, Johanna [2012]: Leerstellen – Resonanzräume. Zur Ästhetik der Auslassung im Werk des Filmregisseurs Christian Petzold. Baden-Baden: Nomos.

20 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

The Berlin School. Films from the Berliner Schule29; Marco Abels The Counter – Cinema of the Berlin School30; Berlin School Glossary. An ABC of the New Wave in German Cinema31 von Roger F. Cool et al. Im Reich der Mitte ist der Name der Neuen Berliner Schule weder den Fachleuten noch dem normalen Publikum bekannt. Relevante Materialien finden sich nur verstreut im Internet. 1.3.2.2 Forschungsstand zur chinesischen Sechsten Generation Da die Sechste Generation vor der Neuen Berliner Schule internationalen Ruf erlangt, sind die Forschungen zu ihr relativ umfangreich. Insbesondere in China finden sich unzählige Materialien darüber. Die meisten wissenschaftlichen Aufsätze werden in der chinesischen akademischen Datenbank „China National Knowledge Infrastructure (CNKI)“ gesammelt. Allerdings legen die frühen Kritiken zur Sechsten Generation ihren Schwerpunkt weniger auf die ästhetische Filmanalyse als vielmehr auf Werkvorstellung oder Inhaltsbeschreibung. Die Monographien über die Sechste Generation sind ebenso zahlreich. Eines der umfangreichsten Bücher über die Sechste Generation ist die von Chen Xihe und Shi Chuan herausgegebene Anthologie Filme der Neuen Generation im multidimensionalen Kontext, 32 die bedeutende Artikel von einigen Filmwissenschaftlern, die sich früh mit der Sechsten Generation auseinandersetzen, versammelt. Unter diesen Filmwissenschaftlern befinden sich beispielsweise Dai Jinhua, Han Xiaolei, Jia Leilei oder Yi Hong, die überwiegend den kulturellen und sozialen Aspekt der Regisseure mitsamt ihren Werken erörtern. Eine weitere Annäherung an die Sechste Generation und ihre Werke sind Interviews mit den Regisseuren. Meine Kamera lügt nie. Archiv der zwischen

29 Roy, Rajendra/Leweke, Anke [2013]: The Berlin School. Films from the Berliner Schule. New York: The Museum of Modern Art. 30 Abel, Marco [2013]: The Counter – Cinema of the Berlin School. Rochester, New York: Camden House. 31 Cook, Roger F. u.a. [2013]: Berlin School Glossary. An ABC of the New Wave in German Cinema. Bristol, UK/Chicago, USA: intellect. 32 Chen, Xihe/Shi, Chuan [Hrsg.] [2003]: Filme der Neuen Generation im multidimensionalen Kontext (Duoyuan yujing xia de xinshengdai dianying). Shanghai: Xuelin Press.

E INLEITUNG

| 21

1960 und 1970 geborenen Filmschaffenden33 von Cheng Qingsong und Huang Ou ist eine Sammlung von Interviews mit Regisseuren der Sechsten Generation. Außerdem werden viele Dissertationen und andere Bücher über die Sechste Generation veröffentlicht, die ich hier nicht erschöpfend aufzählen kann: Die Autoren betrachten die Sechste Generation und ihre Werke unter verschiedenen Aspekten: In der Dissertation Comparative Research on French new Wave and new Generation of Chinese film (2006)34 zieht der Autor Zou Jian einen Vergleich zwischen der französischen Neuen Welle und der Sechsten Generation. Daneben vergleichen manche Forscher wie Yang Haiyan die Sechste Generation auch mit dem italienischen Neorealismus.35 Was die Forschung zur Sechsten Generation im deutschsprachigen Raum betrifft, so wird die Sechste Generation als eine bestimmte Strömung unter dem Titel „Urbaner Realismus: die Sechste Generation“ im Buch Geschichte des chinesischen Films von Stefan Kramer beschrieben.36 In einem Kapitel des von Sierek und Kirsten herausgegebenen Buchs Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution: Theorien und Analysen37 werden die Werke von einigen Regisseuren der Sechsten Generation unter filmästhetischen Gesichtspunkten analysiert. Daneben existieren auch Interviews mit den Regisseuren der Filme Peking Express: das junge Kino aus China38, Made in China: das aktuelle chinesische Kino im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche 39 , Bilder aus dem Reich des Drachen. Chinesische Filmregisseure im Gespräch40. Außerdem ist die Sechste Generation

33 Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: Meine Kamera lügt nie. Archiv der zwischen 1960 und 1970 geborenen Filmschaffenden. (wo de sheyingji bu sahuang. Shengzai 1960-1970 xianfeng dianyingren dangan). Shandong: shandong huabao Verlag. 34 Zou, Jian [2006]. 35 Vgl. Yang, Haiyan [2013]: An International Comparative Study of the New Generation of Chinese Film Directors (Cong bianyuan zouxiang zhongxin. Guoji bijiao shiyu xia de zhongguo dianying xinshengdai yanjiu). Univ. Diss. East China Normal Universtity. 36 Vgl. Kramer, Stefan [1997]: Geschichte des chinesischen Films. Stuttgart: Metzler, S. 221ff. 37 Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 224 ff. 38 Vgl. Platzen, Maik [2009]: Peking Express: das junge Kino aus China. Marburg: Schüren. 39 Vgl. Frölich, Margrit [Hrsg.] [2009]: Made in China: das aktuelle chinesische Kino im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche. Marburg: Schüren. 40 Vgl. Kramer, Hu-Chong/Stefan [Hrsg.] [2002]: Bilder aus dem Reich des Drachen. Chinesische Filmregisseure im Gespräch. Bad Honnef: Horlemann.

22 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

längst ein neuer Beobachtungsgegenstand auf dem englischsprachigen Filmgebiet geworden. Die hier zu nennenden repräsentativen Filmwissenschaftler sind Michael Berry, Jason McGrath, Zhang Yingjin und Zhang Zhen.

2

Hintergründe beider Filmströmungen

2.1

H INTERGRUND DER N EUEN B ERLINER S CHULE

2.1.1

Die deutsche Filmgeschichte der 80er und 90er Jahre

Der weltberühmte „Neue Deutsche Film“ erlebt in den 1980er Jahren seine letzten Erfolge. Eine Ursache hierfür ist politischer Natur: Mit seiner Kommerzfilmpolitik sagt der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann dem Autorenfilm den Kampf an. Er ist der Meinung: „der Steuerzahler habe schließlich ein wohlbezahltes Recht auf Unterhaltungskino.“1 Für Hans C. Blumenberg, dem damals einflussreichsten Kritiker der Zeit, ist das jedoch nicht die einzige Ursache. Weitere Gründe sind beispielsweise Amateurhaftigkeit, Opportunismus und Überproduktion. 2 Die gemeinsame Filmrichtung in Deutschland in den 80er Jahren zielt auf Unterhaltung. Ab Mitte der 80er wird der deutsche Kinomarkt von amerikanischen Filmen überschwemmt. Während die US-Filme einen übermächtigen Marktanteil in den deutschen Kinos erringen (80,2%, 1991), halten Filme aus Deutschland nur einen geringen (13,6%, 1991) Anteil.3 Bei diesen inländischen Produktionen handelt es sich vor allem um Komödien. Diese ist in der gesellschaftlichen Mittelschicht angesiedelt und Mitte der 90er Jahre eine typische Erscheinung in deutschen Filmen. Im von Hollywood beeinflussten Unterhaltungsmilieu ist Wirklichkeitsferne die zentrale Eigenschaft damaliger Filme. Angesichts des Mauerfalls, des Zusammenbruchs der DDR und der Auflösung der Sowjetunion scheinen die Deutschen keinen Mut mehr zu haben, sich den Tatsachen direkt zu stellen, sondern ein anderes Mittel der Bewältigung zu wählen –

1

Rentschler, Eric [2004]: Film der achtziger Jahre. In: Wolfgang Jacobsen u.a. [2 2004]:

2

Ebenda.

3

Ebenda, S. 288.

S. 284.

24 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

die Komödie. Nur Wenige reflektieren die Realität der Gesellschaft. So scheint das deutsche Kino Mitte der Neunziger in einer Sackgasse angelangt zu sein.4 Erst ab Mitte der 90er Jahre und Anfang des zweiten Jahrtausends treten eine Handvoll deutscher Regisseure mit ihren Filmen in das Bewusstsein des internationalen Publikums. Sie revitalisieren die deutsche Filmindustrie, wobei Tom Tykwer mit Lola rennt! (1998) den Anfang macht. Anschließend gewinnen Caroline Links Nirgendwo in Afrika (2001) und Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006) den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Außerdem wurden Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) und Marc Rothemunds Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005) nominiert. Bei näherer Betrachtung der oben genannten Filme offenbart sich, dass diese Filme in den meisten Fällen gleiche Themen behandeln wie beispielsweise Nationalsozialismus, Stasi und Wiedervereinigung oder die DDR. Nach der Meinung von Marco Abel leisten sie nur einen geringen Beitrag zur Entwicklung der Filmkunst in Deutschland, wenngleich sie Auszeichnungen erhalten haben: „The politics of the image which they perpetuate is remarkably conservative.“5 Auf der Auffassung Abels beruhend teilen u.a. Roger F. Cooke, Lutz Koepnick und Brad Prager die deutschen Filme in dieser Phase in zwei Tendenzen ein: „Arguably, it is in reaction to these two tendencies – the fast-paced editing of Tykwer’s Run Lola, Run and the traditional storytelling arcs of Germany’s historical films – that the Berlin School carves out its own style.“6 Davon ausgehend siedeln die Regisseure der Neuen Berliner Schule ihre Geschichten in der gegenwärtigen Zeit an, anstatt die Vergangenheit nostalgisch zu verklären. Als einer der wichtigen Regisseure der Neuen Berliner Schule verfasst Christoph Hochhäusler seinen Artikel Kino muss gefährlich sein, der im ersten Heft von Revolver erscheint, worin er Stellung zum damaligen deutschen Kinomarkt nimmt: „Natürlich spiegelt dieses Kino die Welt seiner Macher wider, aber große Filme gedeihen nicht im lauwarmen Milieu. Kino muss geheimnisvoll,

4

Ebenda, S. 327.

5

Vgl. Abel, Marco [2008]: Intensifying Life: The Cinema of the „Berlin School“. In: CINEASTE. Vol. 33 No. 4 (2008). URL: http://www.cineaste.com/articles/the-berlinschool.htm [19.11.2014].

6

Cook, Roger F. u.a. [2013]: S. 8. Cooks Ansicht beruht auf dem Ansatz von Abel, der die Themen der deutschen Filme in dieser Epoche in zwei Richtungen kategorisiert; siehe: Ebenda.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 25

verführerisch, verwegen – Kino muss gefährlich sein.“7 Was er unter „gefährlichem Kino“ versteht, führt er nicht weiter aus. Es lässt sich jedoch vermuten, dass die Filme von ungewöhnlicher Art sein sollen, wodurch sie sich von der früheren Filmtradition abheben wollen. 2.1.2

Die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin

Es ist bekannt, dass die drei wichtigen Regisseure der Neuen Berliner Schule fast gleichzeitig an der DFFB studieren und sich nach dem Studium weiterhin oft treffen, um Erfahrungen und Meinungen auszutauschen. Außer diesen Dreien verknüpfen noch weitere Studenten der DFFB ihre Arbeiten auf diverse Weise mit der Neuen Berliner Schule: „Beispielsweise studierten hier auch Bettina Böhler, inzwischen Cutterin der meisten Filme der Neuen Berliner Schule, und Reinhold Vorschneider, der später als Kameramann unter anderem bei Filmen von Angela Schanelec arbeitete.“8 Außerdem studieren hier noch Florian Koerner von Gustorf und Michael Weber, die ab 1991 mit der Gründung ihrer Firma Schramm Film die meisten Neuen Berliner Schule-Filme produzierten.9 2.1.2.1 Übersicht Die DFFB wird 1966 als erste akademische Film-Fernseh-Ausbildungsstätte der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Wegen des „Doppelspitzenanspruches“ werden gleich zwei Direktoren ernannt: Heinz Rathsack als organisatorischer und Erwin Leiser als künstlerischer Direktor. Die Anfangszeit der Akademie gestaltet sich problematisch: Nur durch die Unterstützung des Senders „Freies Berlin“ kann sie überhaupt entstehen und bekommt einen festen Sitz im fünften Stock des „Deutschlandhauses“. Am 17. September 1966 findet die Eröffnungsfeier im „Haus des Rundfunks“, unmittelbar neben dem Deutschlandhaus und dem Funkturm, statt.10 Über das Aufnahmeverfahren im Frühsommer 1966 melden sich 825 Interessenten, von denen 245 die geforderte Bewerbungsmappe einreichen, 74 zur Aufnahmeprüfung zugelassen und letztendlich 35 zum ersten Studienjahrgang im Wintersemester 1966

7

Hochhäusler, Christoph [1998]: „Fast forwand: Kino muss gefährlich sein.“ In: Seibert, Marcus [Hrsg.] [2006]: Revolver: Kino muss gefährlich sein. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, S. 47.

8

Kräher, Marte [2007]: S. 33.

9

Vgl. ebenda.

10 Vgl. Slansky, Peter C. [2011]: S. 362.

26 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

aufgenommen werden.11 Dem Medienwissenschaftler zufolge gehören „zu dem ersten DFFB-Jahrgang […] außer Holger Meins und Minow auch einige Studenten, die später als deutsche Autorenfilmer bekannt wurden: Wolfgang Petersen, Wolf Gremm, Hartmut Bitomsky, Harun Farocki, Christian Zwiewer und Helke Sander.“12 2.1.2.2 Politik In der Zeit von 1968 bis 1989 zieht die DFFB wegen des Vorwurfs, eine linke Kaderschmiede zu beherbergen, die Aufmerksamkeit Hollywoods auf sich. Um sich abzugrenzen gegen die Position der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF[M]) strebt die DFFB einen eigenständigen Ausdruck nicht nur im Bereich Filmverfahren, sondern auch in der Politik an. So spielt die DFFB eine wichtige Rolle bei der Studentenbewegung der 60er Jahre; viele politische Aktivisten kommen aus der DFFB. Einer der radikalsten ist Holger Meins, der heimlich den Agitationsfilm Herstellung eines Molotow-Cocktails (1968) dreht. Aufgrund seines radikalen Vorgehens wird Meins am 1. Juni in Frankfurt festgenommen und stirbt 1974 an den Folgen seines dritten Hungerstreiks. Neben ihm begeistern sich noch viele Studenten der DFFB für das Drehen politisch motivierter Filme und wollen damit die Studentenbewegung fördern. Zu nennen sind Harun Farockis Kurzfilme Die Worte des Vorsitzenden (1967) und Ihre Zeitung (1967); Thomas Giefer und Hans Rüdiger Minows Dokumentarfilm 2. Juni 1967 (1967). Wegen dieses politischen Kampfes wurden 18 Studenten der DFFB am 27. November 1968 von der Akademie relegiert. Darunter waren auch Hartmut Bitomsky und Harun Farocki, die, insbesondere Farocki, später die Neue Berliner Schule tief beeinflusst haben. In Christian Petzolds Die innere Sicherheit (2000) erkennt man die die Epoche prägende politische Motivation im Untergrundleben der Familie des Protagonisten mit linksterroristischer Vergangenheit.

11 Vgl. ebenda. 12 Baumgärtel, Tilman [1996]: „Die Rolle der DFFB-Studenten bei der Revolte von 1967/68.“ In: Junge Welt. 27. & 30. September sowie 2. Oktober 1996. URL: http:// www.thing.de/tilman/filmakademie.html [14.03.2013].

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 27

2.1.2.3 Professionalisierung und Erfolg Nach Heinz Rathsack hatte die DFFB zwei Direktoren, die allerdings nur kurze Zeit im Amt waren; erst ab 1993 erhielt sie mit Reinhard Hauff ihren zweiten einflussreichen Direktor, der weiterhin wichtige Beiträge zur Professionalisierung der DFFB leistet. Er richtet spezielle Kolloquien aus und wirbt viele namhafte Gastdozenten für Seminare an der DFFB an, um die Spezialisierung der Ausbildung zu fördern, z.B. unterrichteten die ehemaligen Kritiker der renommierten und bis 1984 erscheinenden Zeitschrift Filmkritik wie Peter Nau, Manfred Blank und Helmut Färber hier.13 Hartmund Bitomsky studiert im ersten Jahrgang und ist seit 2006 Leiter der DFFB. Petzold arbeitet in dessen Film Kino Flächen Bunker (1991) mit, „von Der VW-Komplex (Bitomsky, 1988/1989) führt ein direkter Weg nach Wolfsburg (Petzold, 2002)“14 Nun soll einer der einflussreichsten Dozenten an der DFFB hervorgehoben werden: Harun Farocki, der ebenfalls unter den Absolventen des ersten Jahrgangs ist und seit den 1980er Jahren auch an der DFFB unterrichtet. Unter seinen Studierenden befinden sich u.a. Thomas Arslan, Angela Schanelec und Christian Petzold. Bis zu seinem Tod arbeitet er an vielen Filmen von Petzold als Koautor mit.15 Er dreht während seines Studiums Filme, wobei unter ihnen insbesondere die Dokumentarfilme ein spezifisches Filmverständnis aufweisen, welches auch seine Schüler tief prägt. Marie Krämer fasst in einem Artikel zwei Ansätze von Farockis Filmverständnis zusammen: Ein Aspekt ist die offene Konstruktion in Verbindung mit ästhetischen Strategien des filmischen Realismus. Der andere ist sein spezifisches Verständnis des Filmes als „Bild-Denk-Molekül“16, worunter Marie Krämer eine filmisch umgesetzte Reflexion über das Thema Risiko-Kapital versteht. Beide Konzepte, insbesondere das erste spiegeln sich stark in den Werken der ersten Generation der Neuen Berliner Schule wider. Die Analyse dieser Konzepte wird im 4. und 5. Kapitel entfaltet werden. Die an der DFFB entstandenen Abschlussfilme bieten den Absolventen eine gute Chance für einen erfolgreichen Wechsel von der Akademie in den Beruf. Viele Studierende der DFFB werden mit ihren Abschlussarbeiten auf verschiedenen inländischen Kurzfilmfestivals ausgezeichnet. 1987 dreht der DFFB-Student Wolfgang Becker seinen Diplomfilm Schmetterlinge und erhält damit den

13 Vgl. Kräher, Marte [2007]: S. 33. 14 Baute, Michael u.a.: In: Kolik. Film. Sonderheft 6, Oktober 2006. 15 Farocki starb am 30. Juli 2014. 16 Vgl. Krämer, Marie: „Lehrer und Mentor der Neuen Berliner Schule.“ In: Augenblick Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Heft 47, September 2010, S. 36 ff.

28 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Preis auf dem Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken und danach den „Goldenen Leoparden“ auf dem Festival in Locarno. Die Tradition des Abschlussfilms ist für jeden Studenten an der DFFB zur Pflicht geworden. 2.1.3

Die Zeitschrift Revolver – theoretisches Forum der Neuen Berliner Schule

Analog zu den Cahiers du Cinéma für die Nouvelle Vague bietet die Filmzeitschrift Revolver eine maßgebende Plattform für den Diskurs der Neuen Berliner Schule. Sie wurde 1998 von Christoph Hochhäusler mit Benjamin Heisenberg und Sebastian Kutzli, die an der HFFM studieren, in München gegründet. Eine wichtige Motivation dafür war die Unzufriedenheit über den Mangel an Lehrangeboten an der HFFM. Hochhäusler beschreibt die Akademie als Wüste und erklärt: „Die Filmzeitschrift Revolver ist daraus entstanden, weil wir das Gefühl hatten, das Lernen selbst organisieren zu müssen; das, was passierte, erbrachte nicht den Widerstand, den wir brauchten.“17 In Bezug auf den Anspruch in puncto Innovation ist sich die Zeitschrift trotz ihrer Ursprünge an der HFFM mit der Neuen Berliner Schule einig: Anhand des Vorworts des ersten Hefts lässt sich die Funktion der Zeitschrift verdeutlichen: „Sie versammelt Gedanken, Ansichten und Träume filmschaffender und filmschauender Leute. Sie will direkt, präzise und ehrlich über den Film der Zukunft sprechen. Revolver versteht sich als Meinungsforum. Gefragt ist die Meinung der Leser. Die Herausgeber, selbst Filmemacher, wollen mit ihrer Auswahl Diskussionen anregen, dokumentieren und ergänzen.“

18

Im Vorwort des zwölften Hefts schreiben die Herausgeber: „Von Anfang an fühlen wir uns der Vorstellung verpflichtet, einen neuen deutschen Film zu inspirieren, ein Kino der persönlichen Perspektive und des erzählerischen Risikos.“19 Allerdings setzt nach Marcus Seibert Revolver, im Unterschied zu Cahiers du Cinéma, einen anderen Schwerpunkt: „Im Vergleich zu dem stark theoretischen Diskurs über Film in Frankreich hat sich Revolver immer mehr um Handwerk und

17 Seibert, Marcus: „Nicht bündig. Ein Werkstattgespräch mit Christoph Hochhäusler.“ in: Film-Dienst, 10/2006, S. 58. 18 Heisenberg, Benjamin u.a. [1998]: Vorwort. In: Revolver. Heft 1. Juni 1998. 19 Heisenberg, Benjamin u.a. [2005]: Vorwort. In: Revolver. Heft 12. März 2005.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 29

Tradition gekümmert“ 20 , sagt Nicolas Wackerbarth. Trotzdem zählt Revolver noch zu den aktivsten Theorielagern für Filmschaffende, in dem sowohl die Filmemacher selbst als auch die Rezipienten eine Gelegenheit bekommen, ihre Meinungen direkt in die Öffentlichkeit zu tragen, statt nur interpretiert zu werden. 2.1.4

Neue Publikumserfolge

Trotz zahlreicher Festivalpreise und ihres internationalen Rufes erzielen die Filme der Neuen Berliner Schule weiterhin nur geringe Besucherzahlen im Inland. Der Statistik in Marte Krähers Diplomarbeit zufolge schwanken die Kinobesucherzahlen der Neuen Berliner Schule in der Regel zwischen 1.000 und 15.000. Die innere Sicherheit (2000) von Christian Petzold mit etwa 120.000 Kinozuschauern war der größte Publikumserfolg.21 Ihr Beharren auf einem hohen künstlerischen Anspruch hat in vielen Fällen den Verlust von Zuschauern zur Folge, außerdem wird sie mit Problemen beim Verleihen ihrer Filme konfrontiert. Viele Regisseure der Neuen Berliner Schule äußern in Interviews, dass das Finanzierungsproblem stets aktuell sei. Während die Filmförderungsanstalt (FFA) durch das Referenzprogramm die Filme, die schon Erfolge errungen haben, unterstützt, können die Regisseure der Neuen Berliner Schule in der Anfangszeit ihre Werke nur mit Schwierigkeit vor das Publikum bringen.22 „Die innere Sicherheit fand nur einen kleinen Verleih, und der ging pleite. Für Toter Mann bestand er [Petzold] auf Dionne Warwicks What the World Needs now als musikalischem Leitmotiv, und weil die Kinorechte dafür zu teuer waren, landete der Film auf der Mattscheibe. Wolfsburg entstand auf billigerem 16-Millimeter-Material, was dem Fernsehen

20 Seibert, Marcus [Hrsg.] [2006]: S.14. 21 Vgl. Kräher, Marte [2007]: S. 24. 22 Der Hersteller kann die Fördermittel erwerben, wenn er einen inländischen Film hergestellt hat, der im Geltungsbereich des FFG innerhalb eines Jahres nach dem Start 100.000 Besucher erzielt hat. Bei Filmen, die ein Prädikat der FBW oder einen A-Festivalpreis erhalten haben, werden nur 50.000 Besucher vorausgesetzt, bei Dokumentar-, Kinder- und Jugendfilmen nur 25.000 Besucher in vier Jahren. Siehe: KPMG [Hrsg.] [62003]: Filmförderung in Deutschland und der EU 2003 – Aktualisierte Übersicht. Berlin: Verlag für Wirtschaftskommunikation, S. 24. Kaum ein Film der Neuen Berliner Schule kann einen der drei Kriterien erfüllen.

30 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

genügt.“23 Heutzutage hat sich die Situation in gewissem Maße verbessert. Nach einer Statistik der FFA von 2013 liegen die Besucherzahlen des Films Barbara von Petzold bei 369.415.24 In der Liste der besucherstärksten deutschen Filme stehen jedoch kaum Filme der Neuen Berliner Schule. Für den Weg ihrer Filme in die Öffentlichkeit spielt der Fernsehsender ZDF, genauer gesagt Das kleine Fernsehspiel, eine wichtige Rolle, das bereits 1962 seine Arbeit beginnt und auch die Filme von Fassbinder und Tykwer ausstrahlt. Da sich eine Handvoll aufgeschlossener Redakteure die Förderung des filmkünstlerischen Nachwuchses zum Ziel setzt, haben junge Regisseure die Gelegenheit, ihre Abschlussarbeit, einen Experimentalfilm oder ihr Debüt über diesen Kanal in die Öffentlichkeit zu bringen. Dieter Stolte, der ehemalige Intendant des ZDF, beschreibt Das kleine Fernsehspiel so: „Das kleine Fernsehspiel im ZDF ist eine Werkstatt für Themen und Macher, für neue Programmkategorien, Produktionsweisen und administrative Methoden. Wenn von Erfolgsdruck des Marktes, Schnelllebigkeit der Moden und von der Macht der Einschaltquoten die Rede ist – hier trifft dies nicht zu.“25 Davon profitieren auch viele Regisseure der Neuen Berliner Schule wie Angela Schanelecs Das Glück meiner Schwester (1995), Thomas Arslans Der schöne Tag (2001), Dealer (1999) oder Henner Wincklers Klassenfahrt (2002). Außerdem produziert die von Florian Koerner von Gustorf und Michael Weber 1991 gegründete Firma „Schramm Film“ trotz der geringen Zuschauerzahlen ungebrochen optimistisch viele Werke der Neuen Berliner Schule. Zu den Filmen, die von „Schramm Film“ produziert werden, gehören Barbara (2012), Jerichow (2008), Yella (2006), Marseille (2004), Mein langsames Leben (2002) und Lucy (2006).

23 Rodek, Hanns-Georg [2003]: „Mit der Kamera die Gesellschaft unter die Lupe nehmen: Der Berliner Filmemacher Christian Petzold.“ In: Berliner Morgenpost. 24. September 2003. 24 Die Zahl stammt aus o.V. [2013]: FFA info. 1/2013, S. 16. 25 Schreitmüller, Andreas u.a. [Hrsg.] [1986]: Freispiele. Das kleine Fernsehspiel – Freiraum im Programm. München: TR-Verlagsunion, S. 8.

H INTERGRÜNDE

2.1.5

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 31

Das wiedervereinigte Deutschland der 90er Jahre als sozialer Hintergrund

Die Wiedervereinigung bringt viele Vorteile mit sich: eine Verbesserung des Lebensstandards und die Freiheit von staatlicher Überwachung im Osten, einen neuen großen Absatzmarkt für den Westen sowie weitere vielfältige Vorteile. Dennoch verursacht die Wende auch verschiedene soziale Probleme: „‚Blühende Landschaften‘ wurden vorschnell versprochen, die Arbeitslosigkeit explodierte, die Treuhand übernahm die in vielen Fällen höchst problematische ‚Abwicklung‘, Minderwertigkeitskomplexe und Neid- und Hassgefühle kamen auf ˗ waren die DDR-Bewohner ‚Bürger zweiter Klasse‘?“26 Außerdem führt die Konsumkultur zu einer Reihe von psychologischen Phänomenen wie Enttäuschung, innerer Unsicherheit, Ungewissheit oder Schwierigkeiten bei zwischenmenschlicher Kommunikation. „Dem entsprach ein relativ niedriges Niveau von ‚Ängsten und Sorgen‘ und Orientierungslosigkeit […] Sie machen sich häufiger Sorgen, leiden häufiger unter Ängsten und haben öfter das Gefühl, sich nicht zurechtfinden können.“27 Dabei wandelt sich die Sozialstruktur in diesem Jahrzehnt sehr stark, was vor allem an Veränderungen der Familienstrukturen bemerkbar ist. Solche Themen wollen die Regisseure der Neuen Berliner Schule bevorzugt in ihren Werken darstellen. Sie erbauen sich nicht am Spektakel, stattdessen wollen sie eher in der ‚Tiefe der Wirklichkeit‘ graben: Die „Situation des zeitgenössischen Menschen, dessen Vorstellungen vom Recht auf Glück kollidieren mit den unausweichlichen Beschränkungen dessen, was man nicht oder nicht mehr selbst bestimmen kann“28, wird von vielen Regisseuren der Neuen Berliner Schule verfilmt. Obwohl der Neuen Berliner Schule bislang noch nicht so hohe Relevanz wie dem deutschen expressionistischen Film oder dem Neuen Deutschen Film in der Filmgeschichte zugesprochen wird, zieht sie immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Mehrere ihrer stilisierenden Werke werden auf Filmfestivals gezeigt und mit Preisen ausgezeichnet. Noch wichtiger ist allerdings, dass diese Gruppe von Re-

26 Faulstich, Werner: Einleitung: „Zu den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konturen.“ In: Faulstich, Werner [Hrsg.] [2010]: Die Kultur der 90er Jahre. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 9. 27 Hradil, Stefan: „Zur Sozialstrukturentwicklung der neunziger Jahre.“ In: Werner Süß [Hrsg.][2002]: Deutschland in den neunziger Jahren. Opladen: Leske+Budrich, S. 243. 28 Marz, Eva [2007]: „Neue Deutsche Welle.“ In: Süddeutsche Zeitung. 10. September 2007.

32 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

gisseuren der Neuen Berliner Schule ohne einheitliches Manifest doch stets auf ihrer eigentümlichen ästhetischen Stilistik beharrt. Interessant ist nun, dass sich in China auch eine Gruppe von Regisseuren findet, die einen neuen Stil abseits der ästhetischen Positionen der frühen chinesischen Filme verkörpert.

2.2

H INTERGRUND DER CHINESISCHEN S ECHSTEN G ENERATION

2.2.1

Die chinesische Filmlandschaft in den 80er und 90er Jahren

Nach dem dritten Plenum des XI. Zentralkomitees im Jahre 1978 legt Deng Xiaoping durch seine Reform- und Öffnungspolitik den Schwerpunkt auf die Ankurbelung der Wirtschaft, wodurch der Kultur- und Kunstbereich in China nach „zehn Jahren des Chaos“ aufblüht. Seit den 90er Jahren gibt es in China einen Markt für Güter multipler Kulturen und zugleich einen anderen für Konsumgüter. In der Filmlandschaft eröffnet dies der neu in Erscheinung getretenen Sechsten Generation Chancen, stellt sie aber auch vor neue Herausforderungen. Zunächst hatten die Regisseure der Vierten Generation, die die Pekinger Filmakademie vor oder während der Kulturrevolution absolvieren, nach der Kulturrevolution das Filmschaffen wieder in Gang gebracht. Die Regisseure dieser Generation sprechen sich dafür aus, dass die chinesischen Filme den Gehstock des Dramas wegwerfen sollten; weswegen sie die realistische Theorie von Bazin und Kracauer nach China bringen.29 Da die meisten Regisseure der Vierten Generation nach dem Studienabschluss lange Zeit als Assistenten der Dritten Generation arbeiten, ist in ihren Werken der sozialistische Realismus spürbar. Dieser wurde früher von der Sowjetunion aufgegriffen und später als eine maoistische Marke des revolutionären Realismus ausgearbeitet: „[Socialist realism] claims to depict not merely the raw, visible surface of reality but, more importantly, an underlying ideologial truth composed of class struggle and the inexorable historical movement toward Communist utopia.“30 Die Kulturrevolution beeinflusst die Vierte Generation fast 10 Jahre lang, weswegen man sich veran-

29 Vgl. Ni, Jun [2004]: Chinesische Filmgeschichte (Zhongguo dianyingshi). Peking: China-Film Press, S. 172 . Übersetzt von Tang Yuanyuan. 30 Vgl. Zhang, Zhen [Hrsg.] [2007]: The urban generation. Chinese Cinema and Society at the Turn of the Twenty- First Century. London: Duke University Press, S. 83.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 33

lasst sieht, in den eigenen Werken die Melancholie des Verlusts der Jugend und jener chaotischen Zeit zum Ausdruck zu bringen: „Im Kern geht es ihnen um den Verlust der Jugend und der Liebe im Strudel namenloser historischer Gewalt: Liebe, die unerfüllt blieb, Verlangen, das nicht gestillt wurde.“31 Zu den einflussreichsten Regisseuren und populärsten Werken zählt man z.B. Nächtlicher Regen am Berg der Hoffnung (Bashan Yeyu, 1980) und Erinnerung an das alte Peking (Chengnan Jiushi, 1983) von Wu Yigong, Sport ist ihr Leben (Sha Ou,1981) und Geopferte Jugend (Qingchun Ji, 1985) von Zhang Nuanxin sowie Blank snow (Benming Nian, 1990) von Xie Fei. Trotz des bedeutenden Einflusses, den die Vierte Generation auf die chinesische Filmgeschichte ausübt, sind die Schwächen ihrer Filme für Lu Shaoyang offensichtlich: Viele Regisseure der Vierten Generation drehten propagandistische „Hauptmelodie-Filme“32 nach der Kulturrevolution, was dazu führte, dass die politische Funktion ihrer Filme die ästhetische Bedeutung übertrifft; zudem sind die Figuren in den meisten Fällen zu flach gestaltet; die Reflexion über die Gesellschaft oder das Leben im weiteren Sinne ist noch nicht tiefgreifend genug; und hinsichtlich der filmischen Verfahren fehlt es noch an mutiger Innovation.33 Mitte der 80er Jahre trat die Fünfte Generation in der Filmgeschichte auf den Plan und zieht erstmals die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich. Im Vergleich zur Vierten Generation entwickeln die Schaffenden der Fünften Generation ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen und machen damit den Mangel an Realismus der Vierten Generation wett. Sie betonen den parabolischen Ausdruck der chinesischen traditionellen Kultur und machen damit ihren eigenen Stil weltweit bekannt. „Ihre kritische Sicht auf die Gesellschaft können sie angesichts der strengen Zensur allerdings nur in Metaphorik und einer subtilen Symbolsprache zum Ausdruck bringen. Diese künstlerische Stilisierung ist zum Markenzeichen ihres Schaffens geworden.“34 Vertreter sind beispielsweise die Filme Rotes Kornfeld (Hong Gaoliang, 1988), Ju Dou (1990) und Rote Laterne (Dahong Denglong Gaogaogua, 1991) von Zhang Yimou, Gelbe Erde (Huang Tudi, 1984), König der Kinder (Haizi Wang, 1987) von Chen Kaige sowie Eine und achte (Yige he Bage, 1984) von Zhang Junzhao. Die Blütezeit der Fünften Generation dauert mehr als ein Jahrzehnt. Sie löst aber auch Kritik aus: Ihre übermäßige Betonung der

31 Dai, Jinhua: Verdrängungs- und Erinnerungspolitik der Vierten Generation. In: Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hg.] [2011]: S. 75. 32 So die wörtliche Übersetzung des chinesischen Ausdrucks Zhu xüanlü dianying. 33 Vgl. Lu, Shaoyang [2004]: S. 46 ff. 34 Kramer, Stefan [1977]: S. 151.

34 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Bildkomposition, der Farben sowie der allegorischen Erzählung führt unausweichlich dazu, dass sie sich von der Realität immer weiter entfernt. „Da die Fünfte Generation seit den 90er Jahren bekannter wurde und von der Unterschicht der Gesellschaft zur Elite avancierte, verlieren die Regisseure nicht nur die avantgardistischen Ideen und die künstlerische Innovationskraft, sondern auch die gehaltvollen Lebenserfahrungen.“35 Vor solchem Hintergrund taucht die Sechste Generation auf, die in der Marktwirtschaft der 90er Jahre mit der Vierten und Fünften Generation koexistiert. Der chinesische Filmwissenschaftler Yin Hong nennt die Regisseure der Sechsten Generation eine „Generation im Spalt“, weil sie einerseits hinter der Glorie ihrer Vorgänger zurücksteht, andererseits ihre Weltanschauung sich von der ihrer Nachfolger unterscheidet, die im digitalen Zeitalter aufwachsen. Zum einen haben sie nicht mehr die politische Leidenschaft ihrer Vorgänger, zum anderen wollen sie sich auch nicht der gegenwärtigen Konsumkultur unterwerfen. Stattdessen präsentieren sie eine im Zwiespalt begriffene Weltanschauung mit dem Impuls, die Realität wiederzugeben.36 In den 90er Jahren gab es einen aktiven Diskurs zur Sechsten Generation, viele Filmwissenschaftler setzen große Hoffnungen auf sie. Huang Shixian, Professor an der Pekinger Filmakademie, bezeichnet die Sechste Generation als die „Neue Welle aus der Peripherie“ 37. Im Unterschied zur Fünften Generation, die ethnische oder historische Allegorien in ihre Filme einfügen, richtet sich das Interesse der Sechsten Generation eher auf die individuelle Befindlichkeit und die Gegenwart. Da die meisten Geschichten in den Werken der Sechsten Generation in Städten angesiedelt sind und vom wirklichen Leben der durchschnittlichen Bürger im gegenwärtigen China handeln, nennen manche Wissenschaftler sie Urbanrealismus. Dieser unterscheidet sich vom sozialistischen Realismus der Vierten Generation und der lyrischen traditionellen Narration der Fünften Generation. In diesem Zeitalter der Massenunterhaltung bringen die Regisseure der Sechsten Generation mit ihrer künstlerischen Authentizität und ihrem Gewissen eine andere Stimme des chinesischen

35 Vgl. Yin, Hong [2003]: „Erwachsen im Spalt. Die Filme der Chinesischen Neuen Generation (Zai jiafeng zhong zhangda. Zhongguo xinshengdai dianying).“ In: Chen, Xihe/ Shi, Chuan [Hrsg.] [2003]: S. 95. 36 Vgl. Yin, Hong [2003]: S. 96 ff. 37 Huang, Shixian [2003]: „Die Neue Welle aus der Peripherie (Laizi bianyuan de chaoxun).“ In: Chen, Xihe/Shi, Chuan [Hrsg.] [2003]: S. 23 ff.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 35

Films zum Ausdruck. 38 Sie erfrischen den chinesischen Film zum damaligen Zeitpunkt mit ihrem realistischen Stil. Abgesehen von den oben genannten Generationen gibt es noch Regisseure, die sich außerhalb des Generationsschemas befinden. Zu ihnen gehören etwa Jiang Wen und Fen Xiaogang. Sie bilden mit den drei Filmgenerationen zusammen die Diversifikation des gegenwärtigen chinesischen Filmmarkts ab. Manche von ihnen haben große kommerzielle Beiträge zum chinesischen Filmmarkt geleistet, was für die Sechste Generation, die stets den künstlerischen Wert voranstellt, eine Herausforderung ist. Ferner hält der Umsatz der Hollywood-Filme seit langem einen entscheidenden Anteil am chinesischen Kinomarkt – eine weitere Schwierigkeit. 2.2.2

Die Pekinger Filmakademie

Es ist bekannt, dass viele ausgezeichnete chinesische Regisseure an der Pekinger Filmakademie studierten. Als Alma Mater der meisten Regisseure der Sechsten Generation hat die Akademie auch viele Regisseure der Dritten, Vierten und Fünften Generation ausgebildet. In diesem Sinne fällt der Pekinger Filmakademie eine wichtige Rolle in der chinesischen Filmgeschichte zu, wenn man berühmte chinesische Regisseure erwähnt. Die Geschichte der Pekinger Filmakademie beginnt ungefähr zeitgleich mit der Gründung des neuen China. Im Juli 1950 wird das „Institut für filmische Darstellungskunst“ unter der Leitung des Filmkünstlers Chen Boer organisiert, 1951 wurde das Institut zur Pekinger Filmhochschule umgebaut. Erst 1956 benannte sich die Pekinger Filmhochschule in Pekinger Filmakademie um und beginnt Studenten aufzunehmen. Wang Lanxi wird zum Direktor der Akademie ernannt. In diesem Jahr werden die Fächer Filmregie, Darstellen und Kinematographie für Bachelorstudenten eingerichtet, außerdem bietet die Akademie noch kurzfristige Kurse für das Personal an, das in verschiedenen Filmstudios arbeitet. Bis 1966 studieren insgesamt 2.500 Studenten an der Akademie. 39 Während der Kulturrevolution wird die Ausbildung an der

38 Li, Zhengguang [2009]: „Retropektive: die Regisseure der Sechsten Generation und zwei Begebenheiten der 7 Gentlemen (Huigu: diliudai daoyan he liangci qijunzi shijian)“, S. 158. In: Journal of Nanjing Art Institute (Music & Performance). 03/2009, S. 156 ff. 39 Vgl. Liu, Weihan [1985]: „Überblick über die Pekinger Filmakademie (Beijing dianyiang xueyuan jiankuang).“ In: China Film Association [1985]: 35 Jahre Filmanstalten in der Volksrepublik China. 1949-1984 (Zhonghua renming gongheguo dianying

36 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Akademie unterbrochen. Mao Zedongs Gattin Jiang Qing und ihre Verbündeten haben Ende der 60er Jahre die „Siebter Mai-Kunstuniversität“ etabliert, die aus der Pekinger Filmakademie und weiteren künstlerischen Schulen besteht und darauf abzielt, die Studenten für die Propaganda der Kulturrevolution auszubilden.40 Die Modelloper41 ist ein typisches Kunstgenre, das unter diesen Vorzeichen entsteht. Die meisten Kunstwerke in diesem Zeitalter haben politische Funktionen. Die Regisseure der Dritten Generation werden zu diesem Zeitpunkt gerade Absolventen. Nach zehnjährigem Chaos beginnt die Akademie allmählich ihre Arbeit in Ordnung zu bringen: die Regisseure der Fünften Generation sind die Studenten des ersten Jahrgangs nach der Kulturrevolution. Sie haben stark von der Rekonstitution der Akademie profitiert: Sie werden professionell und systematisch unterrichtet, die Aufgeschlossenheit in der Politik in jener Phase gibt den Studenten Gelegenheit, viele importierte ausländische Filme zu sehen, zudem nutzen sie zahlreiche neue Übersetzungen westlicher Filmtheorien ins Chinesische.42 Seit den 80er Jahren bildet die Akademie vermehrt Studenten aus, die später zu berühmten Regisseuren der chinesischen Filmgeschichte werden. Viele erfolgreiche Regisseure kehren zur Alma Mater zurück, sind hier als Lehrer tätig und bringen den Studenten ihre praktischen Erfahrungen näher. Während des Studiums der Regisseure der Sechsten Generation spielt Tian Zhuangzhuang eine große Rolle, der als Vertreter der Fünften Generation neben der Vermittlung seiner Erfahrungen auch aktiv als Lehrer an der Pekinger Filmakademie die Sechste Generation beim Filmschaffen unterstützt. Er tauscht viele seiner Ideen mit der jungen Generation aus. Nach seiner Meinung sei die Narration der Werke der Sechsten Generation die Verbindung rationaler und irrationaler Gedanken, was er selbst nicht erreichen könne. „In den Filmen der Sechsten Generation sprechen die Regisseure direkt mit dem Bild, nicht wie wir [die Fünfte Generation]: wir drehen den Film noch aufgrund der Literatur, näm-

shiye sanshiwu nian. 1949-1984). Peking: China- Film Press, S. 378. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 40 Vgl. Clark, Paul J. A. [2005]: Reinventing China: a generation and its films. Hongkong: Chinese Univ. Press, S. 56. 41 Die Modellopern beziehen sich hier auf eine bestimmte Art von Oper, deren Form und Inhalt von Jiang Qing exakt festgelegt wurden. Solche Modellopern dienten der damaligen Regierung als eine Propagandamethode und besaßen eine vorherrschende Stellung im damaligen filmischen Rahmen. 42 Vgl. Clark, Paul J. A. [2005]: S. 59 ff.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 37

lich entlang der Schrift. So nähern sie sich mehr der Essenz des Films“43, sagt Tian in einem Interview. Lange Zeit beschafft er die Mittel für die Regisseure der Sechsten Generation, damit diese ihre ersten Werke drehen können. Bei ihm profilierten sich junge Regisseure wie Wang Xiaoshuai, Jia Zhangke, Zhang Ming mit ihren Werken wie Zhangda Chengren (The making of steel, 1997) und Wushan Yunyu (In Expectation rainclouds over Wushan, 1996).44 2.2.3

Der Weg an die Öffentlichkeit

Der Weg der Sechsten Generation an die Öffentlichkeit ist weniger Glück beschieden gewesen als der der Fünften Generation, die von Anfang an mit Unterstützung der Zentralverwaltungswirtschaft in der Öffentlichkeit arbeitet. Während die Regisseure in der Planwirtschaft der Parteilinie unterstellt sind und ihre Untersuchungen über Filme ungeachtet der Kasseneinnahme mutig vornehmen können, müssen sie sich in der Marktwirtschaft selbst um die Finanzierung kümmern. „Es wurden nur sieben Kopien des Films The Horse Thief (Daoma Zei, 1986) von Tian Zhuangzhuang verkauft, der Regisseur Wu Ziniu hat nur sechs Kopien von seinem Film Evening Bell (Wan Zhong,1988) im Inland verkauft.“45 Da die staatlichen Filmstudios die übrigen Kopien zum gleichen Preis kaufen konnten, mussten die Regisseure nicht den (Kassen-)Erfolg ihrer Werke berücksichtigen. Die meisten Regisseure der Sechsten Generation werden hingegen nach Abschluss des Studiums direkt in die verschiedenen Filmstudios ferner Provinzen geschickt, wo ihnen lange Zeit keine Gelegenheit geboten wird, Filme zu drehen. Manche Regisseure, die als Assistenten im Filmstudio arbeiten, wurden zum Drehen von Filmen, die sie eigentlich ablehnten, gezwungen. Lou Ye ging nie zur Arbeit, als er zum Shanghaier Fernsehsender befohlen wurde. He Jianjun hatte keinen Job und Zhangyuan wurde aus dem Bayi Filmstudio entlassen. Themen, die die Realität der Gesellschaft direkt, sogar grausam enthüllen, sind weitere Hindernisse, da sie für die sich im wirtschaftlichen und politischen Wandel befindliche Sechste Generation Repressionen seitens der chinesischen Regierung bedeuten. So werden viele frühe Werke der Sechsten Generation von der staatlichen Zensur indiziert. Selbst wenn wenige von ihnen die Chance zum

43 Wan, Jingbo [2002]: „Tian Zhuangzhuang: Arbeite für das, was Du liebst (Tian Zhuangzhuang: Yaowei ni reai de dongxi gongzuo).“ In: Southern Weekly. 01. August 2002. 44 Ebenda. 45 Lu, Shaoyang [2004]: S. 71.

38 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Filmdrehen hatten, musste doch sehr viel Zeit vergehen, bis das komplizierte Zensurverfahren durchlaufen war. Der Film So close to Paradise (Biandan, Guniang, 1999) von Wang Xiaoshuai benötigte beispielsweise 3 Jahre für das Verfahren, hatte aber letztendlich keinen Erfolg.46 Lu Xuechang investiert drei Jahre, um nach der offiziellen Weisung seinen Film The making of Steel (Zhangda Chengren, 1997) zu schneiden und zur Zensur einzureichen. Angesichts des strikten und komplizierten Zensursystems wendeten sich viele Regisseure der Sechsten Generation der unabhängigen Produktion zu, indem sie ihre Filme ohne staatliche Zensur im Ausland oder mittels illegaler DVDs veröffentlichten. So hat beispielsweise Jia Zhangke seinen Film Unknown Pleasures (Ren Xiaoyao, 2002) direkt bei ausländischen Filmfestivals eingereicht, ohne ihn im Inland zensieren zu lassen. Für die Regisseure der Sechsten Generation dauert es somit eine vergleichsweise lange Zeit, um vom Untergrund oder dem Ausland in die Öffentlichkeit des Inlands zu gelangen. 1994 kündigt die „State Administration of Radio, Film, and Television“ (SARFT) ein Verbot an, „Zhang Yuan und anderen Regisseuren beim Drehen von Filmen und der Post-Produktion zu helfen“. Dadurch werden einige Regisseure bestraft, die ohne Erlaubnis der zuständigen Behörde insgeheim an einer thematischen Ausstellung über chinesische Filme, die auf dem internationalen Filmfestival in Rotterdam veranstaltet wird, teilnehmen. Auf der Liste stehen die Regisseure Tian Zhuangzhuang, Zhang Yuan, Wang Xiaoshuai, Wu Wenhuang, He Jianjun, Ning Dai und Wang Guangli. Dies ging als sogenannte „Begebenheit der 7 Gentlemen“47 in die Filmgeschichte ein. Außer Tian Zhuangzhuang gehören alle zur Sechsten Generation. Der Vorfall spitzt den Konflikt zwischen den staatlichen Behörden und der Sechsten Generation weiter zu. Der schwierige und lange Weg ist abhängig von der sich schier unaufhörlich verändernden Filmpolitik der 90er Jahre. Ein Überblick über diese Politik verdeutlicht dies: 1993 verleiht die SARFT mit der Ankündigung des „Übergangsgesetzes zur Filmzensur“ der politischen Abteilung für Radio, Film und Fernsehen die Kompetenz, Filme zu zensieren. Zwei Jahre später erlässt die SARFT eine „Bestimmung, um die Verwaltung für Spielfilme zu reformieren“. Der Bestimmung zufolge dürfen neben den bisher 16 erlaubten staatlichen Filmstudios nun auch 13 weitere staatliche Filmstudios Spielfilme produzieren. Trotzdem bleiben unabhängige Filme weiter illegal. Im Juni 1996 erlässt der Staatsrat die „Verwal-

46 Vgl. Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2002]: S. 280. 47 Vgl. Li, Zhengguang [2009]: S. 156 ff.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 39

tungsverordnung der Filme“. In dieser ist festgelegt, dass die Teilnahme an ausländischen Filmveranstaltungen der Erlaubnis der übergeordneten zuständigen Abteilung bedarf. Außerdem dürfen Filme erst nach der Zensur zu ausländischen Filmfestivals geschickt werden, anderenfalls würden hohe Strafen verhängt. Fünf Jahre nach der 1996 erlassenen Verwaltungsverordnung beschließt der Staatsrat erneut eine „Verwaltungsverordnung der Filme“. Angesichts der Zwänge der internationalen Marktökonomie erlaubt der SARFT den privaten Filmproduzenten mehr Freiraum. Erst von da an wurden unabhängige Filme als Produktionsform legalisiert.48 Außerdem verringert die zuständige Behörde die negativen Einflüsse der Filmzensur dadurch, dass sie die Kompetenzen den Ortsbehörden überträgt, um die Zulassungsschwelle im Rahmen des Erlaubten so niedrig wie möglich zu halten.49 Angesichts des Anreizes des inländischen Filmmarktes und der Aufgeschlossenheit der einschlägigen Politik versuchen die Regisseure der Sechsten Generation schrittweise ins staatliche Filmsystem zurückzukehren. Im Zuge dessen haben einige Regisseure auch bestimmte Erfolge erzielt. So betragen beispielsweise die Kasseneinnahmen des Films The World (Shi Jie, 2004) – des ersten Films, den Jia Zhangke innerhalb des staatlichen Systems gedreht hat – 200 Millionen Yuan und stehen damit an 65. Stelle der ersten 200 Filme mit den höchsten Einnahmen. Wang Xiaoshuais Shanghai Dreams (Qing Hong, 2005) kommt mit Gesamteinnahmen von 400 Millionen Yuan auf Platz 57.50 2.2.4

China in den 90er Jahren unter sozialen Gesichtspunkten

Zwischen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre entwickelt sich in China in rasantem Tempo ein beispielloser multi-kultureller Markt:

48 Die Zusammenfassung des Überblicks über die Filmpolitik stützt sich auf Li, Meng [2009], S. 49. 49 Vgl. Hua, Linglei [2007]: The Transformation of Chinese Movie Policy: from the Perspective of the Developing History of Movie Function (Shi cong dianying gongneng fazhan jiaodu lun zhongguo dianying zhengce de biandong). Univ. Masterarbeit, Shanghai Jiaotong University, S. 31. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 50 Die Zahlen stammen aus der Statistik der Filme im chinesischen Filmmarkt. URL: http://tbzs.sinaapp.com/box.php?type=0&film=&year=2005 [01.12.2015]. Da man auf der Webseite die Quelle der Statistik nicht ermitteln kann, ist ihre Zuverlässigkeit nicht garantiert.

40 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION „The relationship between a new market environment and an old nation-form is also, or perhaps mainly, being redefined in terms of the post-modern. The integration of the Chinese economy with global markets has had multiple effects on Chinese social life. On the one hand, it exposes the Chinese market and the realm of daily life to global capital and to international fashions and ideologies. […] On the other hand, the world market’s spread into China, and Chinaʼs willing entry into it, enables Chinese consumers to encounter a world of difference, unevenness, inequality, and hierarchy, often delineated in terms of nation- state borders.“51

Populäre Kulturelemente sowie andere sogenannte kapitalistische Vorstellungen sind mittlerweile weder für die Regierung noch für die gängige öffentliche Meinung ein Tabu. Die traditionellen staatlichen und kollektiven Ideologien lösen sich in einem sich schnell ausdehnenden Individualitätsgedanken auf. Die Reformen der 80er Jahre mindern die Rolle der Danweis (Einheit), welche die Grundform der sozialen Organisation, die Grundeinheit, der eine Person arbeitsoder wohnmäßig zugehört, beschreibt.52 Man kümmert sich nun eher um sich selbst als um das Kollektiv. Dieses Phänomen wird von Jia Zhangke in seinem Mockumentary 24 City (24 Cheng, 2008) porträtiert. (Siehe hierzu Kap. 3.5.1): „The rapid marketization of the economy, bolstered by the enormous absorption of foreign investment and China’s linking with the capitalist word-system, has significantly transformed Chinese social life. Its effect can be felt mostly at the level of everyday life, as Western consumer culture, or popular culture, has infiltrated the world’s largest marketplace.“53

In Jia Zhangkes Filmen erscheinen zahlreiche für die damalige Periode repräsentative Elemente: Ihm zufolge gebe es im Film Plattform (Zhan Tai, 2000) zwei Rollen: die eine ist der Prozess des Aufwachsens der vier Jungen, die andere ist die Kultur.54 Populäre Musik, die sich Anfang der 90er Jahre von Hongkong oder

51 Dirlik, Arif/Zhang, Xudong [Hrsg.][2000]: Postmodernism & China. Durham: Duke University Press, S. 6. 52 Vgl. Heberer, Thomas/Weigelin, Rüdiger [Hrsg.] [1990]: Xiandaihua, Versuch einer Modernisierung: Entwicklungsproblem der VR China. Unkel/Rhen u.a.: Horlemann, S.167 ff. 53 Liu, Kang: „Popular Culture and the Culture of the Masses in Contemporary China.“ In: Arif Dirlik, Xudong Zhang [Hrsg.] [2000]: S. 127 54 Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2002] S.305.

H INTERGRÜNDE

BEIDER

F ILMSTRÖMUNGEN

| 41

Taiwan aus heimlich nach Festland-China verbreitet, ist in diesen Filmen stets auf den Straßen zu hören. Hier fungiert die Musik als kulturelles Symbol für die damalige Gesellschaft. „There are also several specific songs that really represent what the Chinese people were going through during a given historical time frame.“55 Gleichzeitig zeigen sie nach McGrath „in welchem Ausmaß die Fortschrittserfahrung der jungen Leute auf der kommerziellen Massenkultur basierte.“56 Damals bekannte Sänger sind beispielsweise Deng Lijun (Teresa Deng), Zhang Di und Liu Zhengwei. Sie waren in Hong Kong oder Taiwan populär, und ihre Musik wurde von Heranwachsenden privat gehört und gesungen, was auch als kulturelles Zeichen in Jias Filmen gezeigt wird. Jia Zhangke hat selbst gesagt: „Sie [die Musik] ist nicht so einfach, sie ist weniger Lied als vielmehr ein neues Leben!“ 57 Diese Konsumkultur führt dazu, dass Jugendliche einerseits immer häufiger dem Kult der westlichen Lebensweise und Freiheit nachgehen, anderseits aber wieder in Zustände der Verwirrung und Ambivalenz geraten. Der chinesische Filmwissenschaftler Yi Hong hat den geistigen Zustand in den Werken der Sechsten Generation in zwei Aspekte gegliedert: einer ist die Wiedergabe des Lebenszustands und der andere ist die der Lebenserfahrung.58 Sie kümmern sich also einerseits um die Realität der Gesellschaft, andererseits bringen sie mittels eines anti-erzählerischen Verfahrens – verzerrte Farbe und Image, Rock-Rhyth– mus – ihre eigenen orientierungslosen geistigen Erfahrungen zum Ausdruck.

2.3

F AZIT

Bei den zeitgenössischen Filmströmungen Neue Berliner Schule und Sechste Generation haben die Regisseure einen akademischen Ausbildungshintergrund und auch eine unruhige Zeit des sozialen Wandels erfahren. Die Bezeichnung beider Strömungen bleibt umstritten, da die Namen von außen gegeben wurden. Sie haben zwar kein eigenes Manifest, weisen aber Gemeinsamkeiten bezüglich des Themas und der Ästhetik ihrer Werke auf. Beide Strömungen haben durch den

55 Berry, Michael [2005]: Speaking in images: interviews with contemporary Chinese filmmakers. NY: Columbia Univ. Press, S. 190. 56 Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 301. 57 Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: S. 308. 58 Yin, Hong [2001]: „Wende des Jahrhunderts. Memorandum der Filme der 90er Jahre (shiji zhijiao: 90niandai zhongguo dianying beiwang).“ In: Contemporary Cinema (dangdai dianying). 01/2001, S. 23-31.

42 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Reimport ihrer Werke in ihre eigenen Länder ihre Reputation gestärkt. Außerdem ist ihr Status quo ähnlich: Sie haben zwar nur relativ geringe Zuschauerzahlen, beharren aber dennoch auf ihren eigenen Ansprüchen hinsichtlich filmischer Kunst. Die Finanzierung ist hierbei stets problematisch. Gleichzeitig stehen beide stets hinter dem Ruhm ihrer Vorgänger, die in der Filmgeschichte erfolgreich waren und internationale Anerkennung bekommen haben, zurück: Die Sechste Generation hinter der Fünften und die Neue Berliner Schule hinter dem Neuen Deutschen Film. Jede bekannte Strömung in der Filmgeschichte bezieht ihre Inspiration sowohl aus der Gesellschaft als auch aus früheren bekannten Strömungen der Filmgeschichte. In den Werken der Sechsten Generation machen sich Spuren europäischer Kunstfilme wie des italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague sowie anderer Einflüsse bemerkbar. Nach der Aufzählung Jia Leileis, der stellvertretender Direktor der chinesischen nationalen Kunstakademie ist, haben außer der klassischen Filmströmung noch viele weltberühmte Regisseure die Sechste Generation beeinflusst, beispielsweise Coppola, Leone, Kieślowski oder Almodóvar.59 Jia Zhangke gibt öffentlich zu, dass er von dem Film Fahrraddiebe von Vittorio De Sica und Pickpocket von Robert Bresson inspiriert wurde.60 Die Konstruktion des Films Suzhou River (Suzhou He, 2000) von Lou Ye erinnert ebenfalls stark an den Film Die zwei Leben der Veronika (1991) von Kieślowski. Bei der Neuen Berliner Schule ist es in ähnlicher Weise der Fall, dass die Regisseure nicht nur die Haltung der französischen Nouvelle Vague adaptiert haben, sondern auch von klassischer Literatur zehren. Angela Schanelecs Film Nachmittag (2007) basiert auf Anton Tschechovs Theaterstück Die Möwe. Ulrich Köhler ließ sich bei seinem Film Montag kommen die Fenster (2006) von Ingeborg Bachmann und Gustave Flaubert inspirieren.61 Heutzutage beginnen manche Regisseure wie Christian Petzold und Jia Zhangke aus beiden Strömungen heraus, neben dem künstlerischen Wert ihrer Filme auch den kommerziellen Wert zu berücksichtigen und versuchen somit, mehr Zuschauer anzuziehen.

59 Vgl. Han, Xiaolei: „Kultureller Ausbruch aus der Fünften Generation. Das individuelle Filmphänomen der Post-Fünften-Generation. (dui diwudai de wenhua tu wei. Hou wudai de geren dianying xianxiang.).“ In: Film Art (Dianyiang yishu). 02/1995, S. 59. 60 Lin, Xudong u.a. [Hrsg.] [2003]: Jia Zhangke Film – Xiao Wu (Jia Zhangke dianying – Xiao Wu). Peking: Zhongguo Mangwen Verlag, S.107. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 61 Vgl. Kräher, Marte [2007]: S. 31.

3

Thematische Filmanalyse

In diesem Kapitel werden Themen, die in Werken beider Schulen häufig vorkommen, aus einem soziokulturellen Blickwinkel analysiert, um zunächst zu veranschaulichen, welche Eindrücke in diesem Zusammenhang bei der Rezeption auf den Zuschauer wirken. Den zeitgenössischen gesellschaftlichen Hintergründen geschuldet, zeigen sich große Gemeinsamkeiten in den Themen beider Schulen. Je nach Thema weisen beide Schulen, etwa aus kulturellen Gründen, auch gewisse Unterschiede auf. So versuche ich zuerst die thematischen Gemeinsamkeiten beider Schulen herauszustellen und gleichzeitig zu analysieren, wie die Regisseure beider Schulen dasselbe Thema in unterschiedlichen Variationen präsentieren.

3.1

L EBEN IN DER G EGENWART

Es lässt sich leicht feststellen, dass die Handlungszeit ein unübersehbares gemeinsames Merkmal der Werke beider Strömungen ist. Die meisten Geschichten in ihren Filmen finden in der Gegenwart statt. Anscheinend lehnen es die meisten Regisseure beider Schule einhellig ab, Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen. Stattdessen handeln ihre Filme meistens von zeitgenössischen Problemstellungen und/oder Personen. Sie beschreiben aus einem subtilen, unvoreingenommenen Blickwinkel die Befindlichkeit der Menschen in der Gegenwart. Der Grund liegt vielleicht darin, dass zeitgenössische Themen die Gegenwart direkter kritisieren können als historische. In diesem Punkt unterscheiden sich beide Strömungen von ihren jeweiligen Vorgängern: Vor der Sechsten Generation bevorzugten die Regisseure der Fünften Generation historische Themen, z.B. Zhang Yimou mit seinen Filmen Hong Gaoliang (Rotes Kornfeld, 1987) oder Ying Xiong (Hero, 2002) und Chen Kaige mit seinen Filmen wie Hong Tudi (Gelbe Erde, 1984) und Bawang Bieji (Lebewohl, meine Konkubine, 1993).

44 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Ebenso stehen Regisseure wie Caroline Link und Florian Henckel von Donnersmarck mit ihren Filmen Nirgendwo in Afrika (2001) und Das Leben der Anderen (2006) zeitlich vor der Neuen Berliner Schule. Hierzu schreibt Thomas Schick: „Gemeinsam ist diesen Filmen, dass sie sich weniger mit der Gegenwart Deutschlands auseinandersetzen, als vielmehr mit Themen aus der deutschen Geschichte und dies auf eine Art und Weise, die auch für ein internationales Publikum attraktiv ist.“1 Im Unterschied dazu setzen sich die Regisseure sowohl der Neuen Berliner Schule als auch der Sechsten Generation lieber mit der Gegenwart auseinander. „Wenn man nach zehn oder hundert Jahren die chinesischen Filme schaut, kann man nicht das reale Gesicht der damaligen Zeit sehen [...] ich hoffe, dass ich von meinem Schaffen an zur Situation des richtigen ‚Moments (der Jetzt-Zeit)‘ zurückkehren kann. Das Wort ‚Moment (Gegenwart)‘ gibt mir ein gewisses Gefühl der Anwesenheit, ich mag das“2, sagt Jia Zhangke in einem Interview. Eine solche Äußerung kann auf den Existentialismus zurückgeführt werden, der die individuelle Erfahrung und Subjektivität des Einzelnen betont: „Der Begriff der Existenz bezeichnet das, was wirklich ist, (das Dasein, das Seiende, das Existierende)“.3 Dieser Aspekt spielt eine wichtige Rolle in den Filmen beider Schulen. Die Gegenwart ist als Zeithintergrund des Geschehens im Film zu einem gemeinsamen Merkmal geworden, unabhängig davon, ob dem eine bewusste Entscheidung der Regisseure zugrunde liegt. Vor diesem Zeithintergrund lassen sich die Filme beider Strömungen allgemein in mehrere Themen unterteilen, worin sich sowohl Überschneidungen als auch Abweichungen finden lassen. Diese Themen sollen in den folgenden Abschnitten näher behandelt werden.

1

Schick, Thomas: Stillstand in Bewegung. Raum, Zeit und die Freiheit des Zuschauers in Thomas Arslans Der schöne Tag und Angela Schanelecs Mein langsames Leben. In: Schick,Thomas/ Ebbrecht, Tobias [Hrsg.] [2011]: Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms. Wiesbaden: VS Verlag, S. 79.

2

Interview mit Jia, Zhangke, geführt von Zhang Yaxuan, Jian Ning. URL: http://www. xici.net/d17887558.htm [02.03.2015].

3

Seibert, Thomas [2000]: Existentialismus. Hamburg: Rotbuch Verlag, S. 8.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

3.2

D IE

AUFFÄLLIGE

U NAUFFÄLLIGKEIT

DES

| 45

ALLTAGS

Die „Bühne des Kulturprozesses ist der Alltag“4. Schon 1895, als der Film die Bühne der Geschichte betrat, haben die Brüder Lumière Alltagsszenen im Film eingesetzt: der in den Bahnhof einfahrende Zug, die Arbeiter, die die Lumière-Werke verlassen, oder der Gärtner, der Blumen gießt. In der postmodernen Gesellschaft, in der Heterogenität und Dekonstruktion betont werden, kann gerade der Alltag laut Rey Chow eine Diversität der Realität präsentieren:„the everyday – insofar as it allows critics to fill it with different critical agendas, claiming it alternately as the bedrock of reality, the ground zero of cultural representation, or a misleading set of appearances concealing ideological exploitation – stands in essence as an open and empty category (therein, perhaps, lies its attraction).“5 Alltag ist zwar normal, impliziert aber vielfältige Möglichkeiten. Ebenso ist in den Werken beider Strömungen kaum Spektakel zu sehen. Beide zeigen eine Neigung zum normalen Alltagsgeschehen. Was die Sechste Generation betrifft, so lehnen ihre Regisseure die epische Allegorie ab, die häufig noch von der Fünften Generation verwendet wird. Während die Regisseure der Fünften Generation, von denen die meisten nationale oder historische Verantwortung übernehmen wollen, mittels des Films die Zuschauer über die sogenannte Volksideologie aufzuklären versuchen, richten die Regisseure der Sechsten Generation ihr Interesse lieber auf das gewöhnliche Alltagsgeschehen und werfen einen kritischen Blick darauf. Während der Fünfte-Generation-Regisseur Chen Kaige bezüglich seines Films Gelbe Erde (1984) feststellt: „was ich dem Zuschauer immer wieder in diesem Film vermitteln will, ist, dass unser Volk nicht mehr leben soll wie früher!“6, ist es dem Sechsten-Generation-Regisseur Jia Zhangke zufolge längst ein großes Problem, dass es den Filmen an Alltagsleben fehle, weil viele Zuschauer heutzutage

4

Seifert, Manfred [1997]: „Globalisierung der Lebenswelten. Exkurse in die Alltagskultur der Moderne.“ In: Schimany, Peter/ Seifer, Manfred [Hrsg.]: Globale Gesellschaft? Perspektiven der Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Lang, S. 196.

5

Chow, Rey [2007]: Sentimental fabulations, contemporary Chinese films. New York: Columbia Univ. Press, S. 65.

6

Yan, Tingkun: „Der Weg der chinesischen Filme – Vergleich zwischen den Regisseuren der Fünften Generation und der Sechsten Generation (Zhongguo dianying zhilu – diwudai daoyan yu diliudai danyan zhi bijiao).“ In: Guangming Daily (Guangming ribao). 13. April 2008. URL: http://guancha.gmw.cn/2008-04/13/content_760855.htm [08.05.2015].

46 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

spannende Dramaturgie oder Wunder erwarten würden. Angesichts dieser Situation scheint es für die Filmemacher allerdings eine große Aufgabe zu sein, in ihren Filmen das reale Alltagsgeschehen weiterhin zu präsentieren.7 Ebenfalls erzählen laut Michael Baute auch die Regisseure der Neuen Berliner Schule lieber Geschichten des Alltags: „In der Beschreibung des Realismus der ‚Berliner Schule‘ ist von Langsamkeit die Rede, von Genauigkeit, von Alltag. Diese Filme spielen im Hier und Jetzt und handeln von Menschen und Geschichten, denen im Alltag zu begegnen einen nicht erstaunen müsste.“8 3.2.1

Der prekäre Alltag

In der chinesischen Sechsten Generation wollen die Regisseure durch den Alltag eine soziale Realität präsentieren. Sie geben einen Lebenszustand der Figuren im Alltag wieder. „Ich will mich mit dem wahren Alltag in China auf die einfachste Weise konfrontieren, sowie der Tristesse, die sich hin und wieder natürlich auch offenbaren kann“9, sagt der Regisseur Wang Chao. Wie es scheint, haben die Regisseure der Sechsten Generation interessanterweise und übereinstimmend keine Lust, die Geborgenheit des gewöhnlichen Lebens in ihren Filmen darzustellen. Stattdessen enthüllen sie auf nahezu gnadenlose Weise die andere, d.h. die dunkle Seite der Gesellschaft. In Wang Chaos Film The Orphan of Anyang (2001) kann man durch die zahlreichen langen Einstellungen in den Anfangsszenen die Banalität und Irrelevanz des Alltags erleben. Das dunkle und primitive Apartment Datongs und ein kleines schmutziges, karg möbliertes Restaurant porträtieren eine grausame Realität im gewöhnlichen Alltag (Abb. 3-01 und 3-02). In seiner Drehhandschrift hat der Regisseur über seine Absicht im Film geschrieben, es gehe ihm darum, „einen ‚starren‘ Film zu drehen, um das sogenannte ‚Schicksal‘ im Alltag zu präsentieren.“10 Solche Szenen sind auch in Jia Zhangkes Still Life überall zu sehen. Jia schildert uns den harten Alltag der Bevölkerung aus der Unterschicht: Nach der anstrengenden Arbeit sitzen die Männer in ihrem schlicht eingerichteten Schiff

7

Vgl: Luo, Linghao [2013]: Jia Zhangke: Der Film soll das originale Gesicht des Lebens wiedergeben (Jia Zhangke: Dianying yinggai huanyuan shenghuode benlai mianmu.). In: Beijing Youth Daily. 19. August 2013.

8

Baute, Michael u.a.: In: Kolik Film. Sonderheft 6, Oktober 2006.

9

Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: S. 143.

10 Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: S. 148.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 47

einigermaßen unzivilisiert auf der Bettkante und essen schmatzend eine große Portion Nudeln (Abb. 3-03); der junge Abrissarbeiter, der trotz seiner Armut noch leidenschaftlich für einen Hongkonger Filmstar schwärmt; irgendein Nachmittag, an dem die unbeschäftigten Leute sich draußen treffen, um Ma-Jong oder Kate zu spielen; oder die schlichten und ehrlichen Leute, die am Abend fröhlich dem geschäftigen Treiben auf dem Marktplatz zuschauen (Abb. 3-04). Allerdings lösen diese Szenen verschiedene Debatten über das Thema Alltag aus. Manche Kritiker werfen ihnen vor, dass das Image Chinas in derartigen Filmen diffamiert werde. Dai Jinhua ist auch der Meinung, dass es Missverständnisse bei der westlichen Interpretation der Sechsten Generation gibt: „What the Western promoters stressed was neither the reality expressed in the film nor the reality of the film, but the ‚reality‘ outside the film. In my view, this is a cultural fact in the post-Cold War period.“11Diese Ansicht von Dai Jinhua erscheint eindimensional. Dem Filmwissenschaftler Yin Hong zufolge sollte das Problem vielmehr zweiseitig betrachtet werden: Auf der einen Seite ist der Alltag, den die Regisseure in ihren Werken darstellen, zweifellos in der chinesischen Gesellschaft angesiedelt. Indes werden in den meisten Fällen solche Themen – dem gesellschaftlichen Gewissen geschuldet – nur aus humanistischem Mitleid gewählt, anstatt absichtlich zu verzerren oder zu manipulieren. Doch lässt sich nicht leugnen, dass manche Regisseure willentlich Themen in einer Weise beleuchten, die nahelegt, dass sie dem westlichen Blick gefallen wollen. Yin Hong empfiehlt außerdem, dass man zwischen dem Bild von China und dem seiner Regierung bzw. der Regierungspartei unterscheiden sollte. Gewisse Szenen lassen vielleicht die Regierung oder Partei negativ erscheinen, sind aber nicht unbedingt schlecht für die Konstruktion des Bildes von Staat oder Volk.12 3.2.2

Der wortkarge Alltag

Im Vergleich zur Sechsten Generation sieht der Alltag in den Werken der Neuen Berliner Schule deutlich ruhiger aus: „Langsam, wortkarg, wie in Watte gepackt – das deutsche Kino ist wie Deutschland selbst.“13 Die Regisseure reduzieren die

11 Wang, Jing/Barlow, Tani E. [Hrsg.] [2002]: S. 90. 12 Vgl. Yin, Hong [2007]: Ein Jahrhundert. Der Chinesische Film vor dem Hintergrund der Globalisierung (Kuayue bainian. Quanqiuhua beijing xia de zhongguo dianying). Peking: Tsinghua University Press, S. 205 ff. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 13 Richter, Peter: Popcorn verboten. Das MoMA zeigt die Filme der „Berliner Schule“. In: Süddeutsche Zeitung. 26. November 2013.

48 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Dialoge auf ein Minimum. In vielen Fällen hüllen sich die Figuren in Schweigen. Das ruhige Milieu im Alltag resultiert aus Kommunikationsproblemen in der Gegenwart. Bezüglich des Motivs der Filme nimmt Schanelec wie folgt Stellung: „All meine Filme beruhen auf dem Gedanken, dass ein Großteil des Lebens undurchschaubar, voller Missverständnisse und dem Zufall überlassen ist. Die Figuren leben im Widerspruch zwischen diesem Ausgeliefertsein und dem mehr oder weniger ständigen Versuch, sich dagegen aufzulehnen. Auch in Marseille geht es um diesen letztendlich unlösbaren Konflikt“.14

Ebenso stellt Thomas Arslan im Film Der schöne Tag den Kontrast zwischen der ruhigen alltäglichen Umgebung und starker innerer Unruhe dar, indem er die Protagonistin Deniz häufig draußen unterwegs sein lässt, anstatt mittels Sprache ihren psychologischen Zustand zu präsentieren. In einem Interview merkt der Regisseur an, dass sein Film von Ruhe geprägt sei.15 So schreibt Harald Fricke: „Dieser souveräne Umgang mit dem Alltag wird von Arslan keineswegs stilisiert, sondern einfach mit unendlich großer Ruhe festgehalten.“16 Die relative Abwesenheit der Sprache hat Claudia Breger unter zwei Aspekten erklärt: Auf der thematischen Ebene führe sie zu einer direkten Kritik an der Kommunikation in der Gesellschaft, insbesondere in Familien. Auf der ästhetischen Ebene ist die Abwesenheit der linguistischen Motivation ein Teil der phänomenologischen Methode der Neuen Berliner Schule, die sozial und psychologisch erklärende Erzählung einzuklammern. 17 „These bracketing techniques have the effect of producing ‚extremely ambiguous texts‘“18, beschreibt Breger. Sie bezeichnet dies als antilinguistische moderne Filmästhetik. Weitergehend weist Breger zu dieser phänomenologischen Methode auf einen frühen Vertreter der Filmgeschichte hin: Siegfried Kracauer. Ihm zufolge gehört das materielle Kontinuum dem filmischen Gebiet an, hingegen das seelisch-geistige Kontinuum dem Roman: „Das heißt, dass filmische Filme sich die suggestive Kraft dieser Phänomene zunutze machen,

14 Siehe Presseheft. URL: http://www.peripherfilm.de/marseille/Presseheft%20Marseille %2019.04.04.pdf [28.10.2014] 15 Ebenda. 16 Fricke, Harald [2013]: Liebe in der Zeit der Flexibilisierung. In: Tageszeitung. URL: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2001/02/13/a0195 [28.10.2014] 17 Vgl. Cook, Roger F. u.a. [2013]: S. 187 ff. 18 Ebenda.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 49

um all das zu vermitteln, was nicht sichtbar und materiell ist.“19 Selbstverständlich ist die Sprache hier das seelisch-geistige Kontinuum. Dass die Regisseure die Sprache in ihren Werken möglichst reduzieren, bedeutet nicht, dass der Gehalt der Filme gemindert wird. Ganz im Gegenteil können sie mittels der körperlichen Sprache oder des Gestus Bedeutungen ausdrücken; deshalb sind auch relativ viele Nah- und Großaufnahmen in diesen Filmen zu sehen, beispielsweise die Großaufnahme des Gesichts von Deniz im Film Der schöne Tag. Unterwegs bleibt Deniz ständig in Schweigen gehüllt, man kann sich aber durch ihr gelassenes Gesicht vorstellen, dass sie stets über etwas nachdenkt (Abb. 3-05 – 3-07). Christian Petzold äußert zum Dreh des Films Gespenster (2005), dass das physische Spiel dem Text immer überlegen ist.20 Im Film Yella vermittelt die Körperlichkeit anstatt der Sprache an vielen Stellen die Filmbedeutung (Abb. 3-08, 3-09).

3.3

D ARSTELLUNG DES I NDIVIDUUMS ABLEHNUNG DES K OLLEKTIVS

ALS

Die Figuren in den meisten Werken beider Schulen sind Individuen, sie stehen für sich allein und nicht für irgendeine gesellschaftliche Gruppe oder ein Volk. Viele Protagonisten in den Filmen der Sechsten Generation werden von Kritikern als periphere Figuren bezeichnet. Beim Vergleich der Sechsten und Fünften Generation hat der Filmwissenschaftler Lin Shaoxiong 18 Schlüsselwörter zu Paaren zusammengefasst. So bezeichnet „normal-peripher“ nach Ansicht von Lin die reale Präsentation des peripheren Lebenszustands sowie die Versuche, den Diskurs über eine sozial schwache Gruppe zu führen. Des Weiteren beinhaltet es den Mut und die Macht der Sechsten Generation, mit dem Bestreben, sich um das Leben und die Realität zu kümmern. Sobald diese Perspektive mit einem realistischen Stil verbunden ist, kann sie erschütternde Kraft haben.21 Daher sehen wir

19 Kracauer, Siegfried [2009]: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 313. 20 Interview mit Christian Petzold. URL: http://www.gespenster-der-film.de/html/intervie w.html [02.03.2013]. 21 Vgl. Lin, Shaoxiong [2003]: „18 Schlüsselwörter über die Filme der letzten 20 Jahre. Vergleich zwischen den Regisseuren der Fünften Generation und Sechsten Generation.“ In: Chen, Xihe/Shi, Chuan [Hrsg.] [2003]: S. 218 f. Übersetzt von Tang, Yuanyuan.

50 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

in ihren Filmen häufig Armut, soziale Kälte und die Hilflosigkeit der „kleinen Leute“: „Doch die meisten Leute lassen sich mit Geld und materiellem Wohlstand allzu leicht zum Schweigen bringen. Damit akzeptieren sie auch die gewaltigen Nachteile, die schon bald unvermeidlich auf sie zukommen werden, wenn sie nicht endlich handeln. Denn die Probleme, die sich schon heute herauskristallisieren, soziale Kälte, die Zunahme der gesellschaftlichen Widersprüche, das Gefälle zwischen Arm und Reich, Korruption und Bürokratismus, Umweltverschmutzung etc., die noch erheblich größer werden. In ‚Dem Paradies so nahe‘ habe ich das zum Thema gemacht.“22

Die Figuren in den Filmen der Neuen Berliner Schule können meist auch als ungewöhnlich angesehen werden. „The focus is often on characters who stand at the periphery of events – seldom is the character a figure who ‚makes history‘.“23 Aber im Unterschied zur Sechsten Generation deuten die peripheren Eigenschaften der Figuren in den Filmen der Neuen Berliner Schule weniger auf die Gesellschaftsschicht oder eine materielle Orientierung hin. Vielmehr verdeutlichen sie den inneren Zustand der gegenwärtigen Stadtbewohner, der gewissermaßen ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. So kann man feststellen, dass die Regisseure anhand der psychologischen Charakterzeichnung ihrer Figuren die gegenwärtige Gesellschaft kritisieren wollen. Christian Petzold behauptet beispielsweise, dass er in seinem Film Yella die Probleme des Kapitalismus oder der Kapitalisten in der modernen Zeit diskutieren wolle.24

22 Kramer,Hu-Chong/Kramer, Stefan [Hrsg.] [2002]: S.179 f. 23 MoMA to Kick Off THE BERLIN SCHOOL: FILMS FROM THE BERLINER SCHULE Seiries, 11/20. URL: http://www.broadwayworld.com/bwwmovies/article/ MoMA-to-Kick-Off-THE-BERLIN-SCHOOL-FILMS-FROM-THE-BERLINER-SC HULE-Series-1120-20130921# [27.04.2015]. 24 Vgl: Beier, Lars-Olav u.a: „Man will sich nicht verlieben.“ In: Der Spiegel. 10. September 2007.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

3.3.1

| 51

Die gewöhnlichen Leute: periphere oder zentrale Gruppe der Gesellschaft?

Das Wort „Peripherie“ wird von vielen Forschern wie Lin Shaoxiong, Huang Shixian usw. mit den Werken der Sechsten Generation verbunden. Die Figuren, die die Regisseure dem Zuschauer präsentieren wollen, sind entweder Kleinkriminelle, Prostituierte, Arbeitslose oder auch unbekannte Künstler: „the subjects that populate the new urban cinema are a motley crew of plebeian but nonetheless troubled people on the margins of the age of transformation – ranging from aimless bohemians, petty thieves, ktv bar hostesses, prostitutes, and postmen to neighborhood police officers, taxi drivers, alcoholics, homosexuals, the disabled, migrant workers, and others.“25

So handelt Zhang Yuans Film MaMa (1990), welcher als erstes Werk der Sechsten Generation gilt, beispielsweise von der Mutter eines intelligenzschwachen Kindes. Im darauffolgenden Film Beijing Bastards (Beijing Zazhong, 1993) erzählt Zhang von einer Gruppe Rocksänger in Peking Anfang der 80er Jahre, obwohl die Rockkultur damals der gängigen Ideologie widersprach und verboten wurde. Dieses Thema wird bei Jia Zhangke in einer realistischen Gesellschaftsund Historienumgebung fortgesetzt: Der Film The World (Shi Jie, 2004) spielt in den Jahren der Urbanisierung Chinas. Ein paar Jungen vom Land kommen in der großen Stadt an, um mehr Geld zu verdienen und ihre Träume zu verwirklichen. Sie kommen zwar vom Land und hoffen in den Städten ihr Glück zu finden, aber diese Figuren können nicht zur peripheren Gruppe gezählt werden, da sie im gegenwärtigen China keine Minderheit mehr darstellen. 2010 leben noch mehr als 50% der Bevölkerung auf dem Land.26 Sie sind zwar in der Mehrheit, werden aber zur peripheren Gruppe gezählt, weil sie mehr oder weniger nicht befähigt sind, ideologische Werte zu erkennen, zu vermitteln und auszustrahlen. So deutet das Wort „peripher“ hier vielmehr auf den Ideologiebezug bzw. den Rand der gängigen Sozialideologie hin. Genauer gesagt gehören sie eher der Unterschicht der Gesellschaft als der Randzone an. Aus wirtschaftlichen Gründen sowie aufgrund struktureller Gesellschaftsunterschiede gibt es in den Industrieländern keine so scharfen Schichtenunter-

25 Ebenda, S. 3. 26 Vgl. Die Statistik aus National Bureau statistics of China. URL: http://www.stats.gov .cn [28.10.2014]

52 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

schiede wie in China. So finden sich Figuren der Unterschicht selten in den Werken der Neuen Berliner Schule, die Hauptpersonen kommen meist aus der Mittelschicht. Trotzdem werden sie auch als „peripher“ bezeichnet. Denn in diesen Filmen der Neuen Berliner Schule bezieht sich die Periphere auf die geistige Welt: Die Regisseure sind gewillt, die Befindlichkeit derjenigen zeitgenössischen Menschen zu schildern, die der Mittelschicht angehören. 3.3.2

Die orientierungslose Mittelschicht

Im Unterschied zu China hat Deutschland eine ziemlich große Mittelschicht, in der nicht die materiellen, sondern die inneren Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Die Regisseure der Neuen Berliner Schule legen ihr Hauptaugenmerk auf die Mittelschicht und beobachten deren Inneres, um dadurch die den gesellschaftlichen Zustand begleitende Befindlichkeit der zeitgenössischen Menschen zu porträtieren. „Die meisten Filme sind im deutschen Mittelklassenmilieu angesiedelt und zeichnen ein subtiles Stimmungsbild des Bürgertums mit seinen Grenzen und Begrenzungen.“27 Die Auflösung der traditionellen Bindungen setzt den modernen Menschen in einen weiten Kreis der mentalen Krise, in dem man sich zunehmend einsam und verwirrt fühlt. Ebenso kommt „die Frage nach dem Sinn dieses Daseins“28 auf. So können in den Werken der Neuen Berliner Schule viele Protagonisten beobachtet werden, die scheinbar ständig auf der Suche nach innerer Sicherheit sind. Die Suche ist ein zentrales Thema in vielen Werken der Neuen Berliner Schule.29 Beispiele hierfür ist Christian Petzolds Gespenster-Trilogie (Die innere Sicherheit, 2000,Gespenster,2005 und Yella,2007) oder auch Marseille von Angela Schanelec, die die Befindlichkeit der Protagonisten auf radikalste Weise stilisiert hat. Sie alle versuchen in ihren Filmen die potentiell gespannten Beziehungen in der Familie, der Liebe oder zwischen den Generationen zu darzustellen.

27 Hochhäusler, Christoph: Auf dem Weg zu einem neuen Kino. Vortrag am Goethe-Institut. Berlin, 18. Juli 2006. Zitiert nach: Kräher, Marte [2007]: S. 16. 28 Beck, Ulrich/ Beck-Gernsheim, Elisabeth [2005]: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S.68. 29 Vgl. Losso, Katharina: „DIE NEUE BERLINER SCHULE – DAS LEBEN VERDICHTEN.“ In: Film-Zeit. 07. April 2009. URL: http://www.film-zeit.de/Themen-und-Listen/Thema/26/DIE-NEUE-BERLINER-SCH ULE-DAS-LEBEN-VERDICHTEN/Details/LUCY-Auf-der-Suche-nach-der-Wirklich keit/118#page118 [24. 12. 2014].

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 53

Zum Beispiel handelt Schanelecs Film Nachmittag (2007) und Thomas Arslans Ferien (2007) von Familien aus der Mittelschicht. Auch hier stehen sowohl verschiedene Spannungsbeziehungen zwischen Familienangehörigen als auch die individuelle innere Unruhe im Zentrum des Geschehens. Nach Julian Hanich geht es „um Lob und Leid der Familienbande. Es geht ums Aufkeimen und Verwelken von Beziehungen. Es geht um emotionalen Frost zwischen Menschen, die sich nur deshalb nahestehen, weil ihr Geburts- oder Trauschein es so will.“30 In Arslans anderem Film Der schöne Tag sehen wir die Protagonistin Deniz stets unterwegs. „Deniz sucht nicht nur jemanden, mit dem sie leben kann, sondern sie versucht auch, ihre Vorstellungen, die sie von der Liebe hat und die Erwartungen, die sie daran knüpft, zu formulieren.“31 Scheinbar ist das ein typisches psychologisches Merkmal der gegenwärtigen Mittelschicht. Zwar findet man bei der Sechsten Generation in diesem Kontext nicht so häufig ähnliche Themen wie bei der Neuen Berliner Schule, aber in der Anfangsperiode des Auftretens der Sechsten Generation waren solche Themen durchaus beliebt. In Wang Xiaoshuais erstem Film The Days porträtiert er mit radikalen künstlerischen Verfahren die Krise eines Künstlerehepaars in der mit Konsumgütern überfluteten Welt. In seinem zweiten Film Frozen (Jidu hanleng, 1996) experimentiert der Protagonist mittels unterschiedlicher extremer Performancekunst mit dem Sterben in den vier Jahreszeiten. Durch solche Themen bringt Wang die innere Unsicherheit der modernen Stadtbewohner sowie die Verwirrung der Adoleszenz gegenüber dem Leben zum Ausdruck. Zwar konzentrieren sich beide Schulen auf die gewöhnlichen Leute, aber tatsächlich erscheinen sie jeweils unterschiedlich. Während die Sechste Generation ihren Blick meist auf die Unterschicht der Gesellschaft wirft, sind die Hauptfiguren in den Werken der Neuen Berliner Schule eher mittelständisch. Das könnte aus verschiedenen Sozialhintergründen resultieren. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass die Regisseure beider Strömungen durch ihre Filme die gegenwärtig wirklich existierenden gesellschaftlichen Phänomene erörtern wollen.

30 Hanich, Julian: „Sommergäste. Thomas Arslans ‚Ferien‘ beobachtet kühle Menschen und feiert die Natur.“ In: Der Tagesspiegel. 14. Juni 2007. 31 Siehe Presseheft.

54 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

3.4

ADOLESZENZ

Jugendlichkeit ist ein weiteres gemeinsames Thema in beiden Schulen. Alle Regisseure beider Schulen sind in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren. Ihre eigenen Jugend-Erfahrungen spiegeln sich in ihren späteren Werken natürlich wider. Wie wir wissen, waren die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in den westlichen Ländern die Zeit der Jugendkultur: „In den sechziger Jahren war es der politische und kulturelle Radikalismus. Beide waren durch den gemeinsamen Impuls zur Rebellion verklammert.“32 Ursprünglich ist diese Jugendkultur auf die USA zurückzuführen. Amerika setzte man damals mit Freiheit, Ekstase, Ungebundenheit und einem Aufbruch zu neuen Ufern gleich.33 Beginnend in Amerika breitet sich diese Bewegung über Europa hinweg nahezu in der ganzen Welt aus. Ihre Einflüsse äußern sich nicht nur im Wirken der Jugend, sondern in der ganzen Gesellschaft und führen letztendlich auch zu verschiedenen politischen Ereignissen. In Deutschland entwickelt sich die 68er-Generation und im damaligen China entsteht eine andere radikale politische Jugendbewegung. 3.4.1

Die rebellische Jugend

Im Vergleich mit der schwungvollen Jugendbewegung im Europa der 60er Jahre erlebt China in derselben Zeit eine andere leidenschaftliche Bewegung, die das gesamte Volk betrifft: die Kulturrevolution. Sie war als bedeutende Massenkampagne geplant, die zwar ursprünglich nur ein halbes Jahr dauern sollte, sich dann aber über zehn Jahre hinzog. Mittlerweile hat eine Gruppe junger Menschen den Blick der Welt auf sich gezogen: die Rote Garde. Auch wenn manche Soziologen diese Gruppe der weltweiten Jugendbewegung der 1960er Jahre zuschreiben, ist diese Einschätzung jedoch kritisch zu betrachten. Denn die Rote Garde war eine enthusiastische Gruppe junger Menschen, die von gewissen Machthabern manipuliert wurde. Auf der anderen Seite kann die Rote Garde dennoch in gewissem Maße als rebellische Kraft gesehen werden, weil sie mit Leidenschaft für die Beseitigung der sogenannten Vier Alten34 sowie gegen den

32 Bell, Daniel [1991]: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt/Main; New York: Reihe Campus, S.148. 33 Vgl. Baacke, Dieter [42004]: Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Weinheim und München: Juventa Verlag, S. 50. 34 Ein Kampfbegriff in der chinesischen Kulturrevolution. Auf Chinesisch heißt es Sijiu, darunter versteht man die vier Arten alter Klischees im damaligen China: die alten

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 55

Revisionismus und Kapitalismus kämpfte. An diesen Punkt kann von einem rebellischen Charakter gesprochen werden. Selbstverständlich bleibt, dass die Rote Garde nichts mit Freiheit, Demokratie oder Individualität zu tun hat. In diesem Sinne hat diese Jugendbewegung kaum positive historische Eindrücke hinterlassen. Die westliche Jugendkultur verbreitet sich in China erst ab Beginn der 80er Jahre. Die jungen Leute wachsen in einer beispiellos offenen Umgebung auf. Angesichts der zahlreichen hineinströmenden westlichen Ideologien, Kulturen, Politiken, Werte und Normen entwickeln die jungen Erwachsenen in dieser Periode neue Gedanken sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht. „For Chinese youth, the 1980s was a period that saw education flourishing and economy booming. It was a time of new concepts, new styles and new values, a time when the market economy partially replaced the planned economy, and the growth of mass media made trans-national communication possible. The decade also saw the importation of popular culture from the West. Imported films, TV programs, popular literary writings as well as concepts and ideas offered Chinese youth alternative ways of thinking and living that had never been heard of in this ancient country.“35

Davon ausgehend kann man feststellen, dass die Jugendkultur im China der 80er mit der westlichen Jugendkultur in den 60er Jahren vergleichbar ist. Sie erreicht infolge der Kulturrevolution jedoch erst ungefähr 20 Jahre später ihren Höhepunkt, also im Jahre 1989. Der Filmwissenschaftler Zhou Xuelin hat in seinem Buch Young Rebels in contemporary Chinese Cinema die chinesischen youth rebel-Filme der 80er Jahre als Hauptforschungsgegenstand hervorgehoben.36 Ihm zufolge sind die 80er Jahre die lebhafteste Periode, in der verschiedene Kulturen, Gedanken sowie Wahrheiten aufeinander treffen. Zwar findet man hier eine Phase vor, in der sich die Jugendkultur schnell ausdehnt, aber die in den 80er Jahren produzierten Filme spiegeln nicht unbedingt diese Kulturlandschaft der 80er Jahre wider. Die von Zhou in seinem Buch angeführten Filmbeispiele sind fraglich: Die

Denkweisen, die alten Kulturen, die alte Gewohnheit und die alten Sitten. Sie wurden von Mao Zedong und Lin Biao zu Beginn der Kulturrevolution mit dem optimistischen Wunsch zum Begriff erhoben, China vom Alten zu befreien. Aber letztendlich führen sie die Rote Garde mehr und mehr zu einer extremistischen politischen Bewegung. 35 Zhou, Xuelin [2007]: Young Rebels in contemporary Chinese Cinema. Hong Kong: Hongkong University Press, S. 4. 36 Vgl. ebenda, Introduction, S. 1 ff.

56 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

meisten Filme, die er ausgewählt hat, sind Werke der Vierten oder Fünften Generation. Eigentlich äußert sich die rebellische Stimmung kaum in den Werken der Vierten und Fünften Generation vollständig, insbesondere nicht bei den Regisseuren der Vierten Generation. Im Zuge der Kulturrevolution drehen viele Vierte-Generation-Regisseure Filme, die entweder eine gewisse Trauer um ihre verlorene Jugend und Liebe zeigen, oder solche, die die Erfolge des neuen China oder die progressiven Ideen der jungen Leute im neuen Zeitalter loben. Zum Beispiel vertreten die Protagonisten in den Filmen Life (Ren Sheng, Wu Tianming, 1984) und Old Well (Lao Jing, Wu Tianming, 1987) nichts anderes als die junge Generation, die in das Wertesystem des neuen China passt. Ihre Ideologie entspricht der gängigen, von der Regierung propagierten Ideologie. Der Hintergrund der Geschichten in diesen Filmen sind nicht die 80er Jahre, sondern die 60er und 70er und meist spielen die Geschichten nicht in der Stadt, sondern auf dem Land. Der Protest der Figuren in diesen Filmen kann nur als Widerstand gegen den Feudalismus interpretiert werden. So scheint es treffender, das Verhalten der Jungen als eine gewisse Emanzipation oder als Aufklärungsbestreben zu verstehen denn als Rebellion. In der nachfolgenden Sechsten Generation hingegen können die jungen Figuren gerade jenen rebellischen Charakter treffender verkörpern, weil in diesen Werken die Gesellschaft als sozialer Hintergrund gezeigt wird. Man kann somit spüren, dass das Verhalten der Jugend viele Gemeinsamkeiten mit dem in den 60er Jahren im Westen hat. Die damalige Jugend träumt enthusiastisch von der Freiheit in der Ferne: Rebellion ist eine Gemeinsamkeit. Guan Hu hat schon bei seinem ersten Film Dirt (Toufa Luanle, 1994) verkündet, dass dies ein rebellischer Film sei. Er erzählt eine melancholische Geschichte der Adoleszenz, in der man den Konflikt zwischen Realität und Traum sieht. Wegen der staatlicherseits inakzeptablen Rockmusik gerät Sänger Peng Wei mit Wei Dong, seinem ehemaligen Mitschüler, der nun Polizist geworden ist, in Konflikt. Hier stellt der Regisseur Rockmusik als Vertreterin der Rebellion dar. Dai Jinhua schreibt, „The core of Sixth Generation films was rock and roll, the lives of rock stars. Their age at initiation into cinema and their experiences as a cohort decided their common interest in the archetype of the Bildungsroman. Or, more precisely, their common scripting of ‚the story of ruthless youth‘ was written in different, yet similar styles.“37 Die Erscheinung des Rock’n’Roll in den Werken der Sechsten Generation ist kein Zufall, da viele ihrer Regisseure näheren

37 Dai, Jinhua: A Scene in the Fog: Reading the Sixth Generation Films. In: Wang, Jing/ Barlow, Tani E. [Hrsg.] [2002]: S. 93 f.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 57

Kontakt zum Rock’n’Roll-Kreis des damaligen Peking hatten. Manche von ihnen, beispielsweise Lu Xuechang und Zhang Yang, gründeten sogar selbst eine Rock’n’Roll-Band. Als 1986 die erste chinesische Rock’n’Roll-Band „ADO“ gegründet wurde, wurde ihr Begründer Cui Jian als Vater des chinesischen Rock’n’Roll gefeiert. So kam es, dass er in Zhang Yuans Beijing Bastards selbst die Hauptrolle spielt. Im Unterschied zu Dirt, in dem Guan die Geschichte noch auf konservative Weise erzählt, scheint die Erzählung im Film Beijing Bastards fragiler und zugleich radikaler. Der rebellische Geist lässt sich hier nicht nur in den Protagonisten, sondern auch im Film selbst finden. Über den Titel des Films gibt es folgende Erklärung: „The Chinese title is a term of abuse and means something like ‚the marginal‘ or ‚the gang‘, according to Zhang. The term belongs to the idiom of the suppressed culture and just by choosing this title, Zhang broke with traditional and dominant culture.“38 2011 hat Zhang Yuan einen weiteren Spielfilm gedreht: Beijing Flickers (You Zhong, 2011). Dieser kann als Fortsetzung von Beijing Bastards angesehen werden. Zhang Yuan zufolge geht es in diesem Film um den geistigen Zustand der gegenwärtigen jungen Erwachsenen und den unveränderlichen Rock-Geist.39 Abgesehen von der rebellischen Rockmusik wird in den Werken der Sechsten Generation oft auch Gewalt thematisiert. Als Attribute der Adoleszenz werden somit „aggressive, oppositionelle, delinquente und kriminelle Verhaltensweisen zusammenfassend auch als ‚diasoziale Verhaltensweisen‘ bezeichnet.“ 40 Da Gewalt oft als einziges Mittel der Problembeseitigung angewendet wird, wird hiermit die Unvollkommenheit der Jugend ausgedrückt. In vielen Werken der Sechsten Generation wie in Lou Yes Weekend Lover, The making of the steal (Zhangda Chengren, Lu Xuechang, 1997), Wang Xiaoshuais Beijing Bicycle (Shiqisui de Danche, 2000) und Jia Zhangkes Unknowns Pleasures (Ren Xiaoyao, 2002) tauchen Gewaltszenen auf. Durch die Gewalt wollen die Regisseure den primitiven inneren Impuls der Jugend zum Ausdruck bringen. Zudem spiegeln solche Verhaltensweisen die innere rebellische Haltung der Regisseure selbst wieder, da sie die Filme von Beginn an mit kritischem Blick auf die Gesellschaft

38 Vgl. o.V.: Beijing bastards CF-1994. URL: http://www.filmfestivalrotterdam.com/en/ films/beijing-bastards/ [28.10.2014]. 39 Vgl. o.V.: Zhang, Yuan: Beijing Bastards. Die fünfte Schauspielerin von Zhang Yuan taucht auf. URL: http://yule.sohu.com/20110320/n304598821.shtml [28.10.2014]. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 40 Deegener, Günther/Körner, Wilhelm [2011]: Gewalt und Aggression im Kindes- und Jugendalter. Ursachen, Formen, Intervention. Weinheim: Beltz Verlag. S. 20.

58 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

drehen. Bemerkenswert ist, dass jugendliche Gewalt bei der Neuen Berliner Schule selten zum Vorschein kommt. Die Jugend wird hier gelassener dargestellt. 3.4.2

Die Einsamkeit in der Adoleszenz

Obwohl Jugendliche auch in den Werken der Neuen Berliner Schule häufig thematisiert werden, zeigt sich ihr Zustand anders als in den Werken der Sechsten Generation. Er ist von einer gewissen tiefer liegenden Einsamkeit und Desinteresse geprägt. Die aggressive Stimmung der Jugendbewegung der 60er Jahre ist in ihren Werken nicht mehr so leicht zu finden. Als Gemeinsamkeit der Figuren in den Filmen der Neuen Berliner Schule fällt ihr zurückhaltender Habitus auf. Selbst wenn es eine Neigung zur Rebellion oder Grausamkeit gibt, wird diese in einer oberflächlichen ruhigen Stimmung erstickt. Im Unterschied zur Jugend in den Werken der Sechsten Generation ist der radikale oder gewaltbereite Widerspruchsgeist der Jugend der 60er Jahre heutzutage allmählich geschwächt und wird nur noch selten nach außen gezeigt. „Die Erzählungen vom Krieg ‚der‘ Jugend gegen die Gesellschaft sind verblasst, die Geschichte der RAF zum Beispiel ist in Filmen wie Die Stille nach dem Schuss längst historisiert“41, so schreibt der Filmkritiker Georg Seeßlen. Offenbar verschwindet die aggressive Ideologie allmählich, die Mehrzahl der Jugendlichen bevorzugt Pluralismus, Offenheit und Vorurteilslosigkeit. Die Haltung der Jugend tendiert zur Gelassenheit. 42 Anscheinend macht der Rationalismus der technischen Moderne die Menschen duldsamer. In seinem soziologischen Essay „Dialektik der Rationalisierung“ versucht Jürgen Habermas den Effekt des technischen Fortschritts auf die soziale Lebenswelt zu veranschaulichen, der trotz der Erhöhung des wirtschaftlichen Wohlstands die Menschen negativ beeinflusst: „Konnte das industrielle Wachstum zwar beschleunigt zur Beseitigung jenes ökonomischen Elends beitragen, das für die Lage der Industriearbeiterschaft des 19. Jahrhunderts typisch war, so ist in demselben Zeitraum doch auch eine neue Form des Pauperismus herange-

41 Seeßlen, Georg: „Jugend ist Leiden. In deutschen Filmen haben es junge Menschen auffallend schwer.“ In: Zeit-Online. 11. Mai 2005. URL: http://www.zeit.de/2005/20/ Filme_20 [28.10.2014] 42 Vgl. Blücher, Viggo [1966]: Die Generation der Unbefangenen. Zur Soziologie der jungen Menschen heute. Düsseldorf-Köln: Eugen Diederichs Verlag, S. 14.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 59

wachsen, die nicht in objektiven Daten über die Einkommenshöhe, sondern in Gestalt von subtilen Entfremdungserscheinungen zum Ausdruck gelangt.“43

Dass diese Rationalisierung Habermas zufolge zu zwischenmenschlichen Schwierigkeiten in der Kommunikation führt, kann man besonders bei den Jugendlichen in den Werken der Neuen Berliner Schule sehen. Weiterhin ist auffällig, dass zwar häufig die gewöhnlichen Leute im Mittelpunkt der Werke der Neuen Berliner Schule stehen, aber niemals gewöhnliche Jugendliche. Es wird immer nur die Problemjugend behandelt: Heimkinder (Gespenster), eine junge alleinerziehende Mutter (Lucy, Henner Winckler, 2006 oder Madonnen, Maria Speth, 2007), ein junger Bundeswehr-Deserteur (Bungalow, Ulrich Köhler, 2002) und Scheidungskinder (Milchwald, Christoph Hochhäusler, 2003). Die Jugendlichen in den Werken der Neuen Berliner Schule verhalten sich anders als in den meisten Mainstreamfilmen, in denen sie als optimistische und positive Gruppe in glücklichen Familien dargestellt werden. In den Werken der Neuen Berliner Schule hingegen sieht die Jugend stets schweigend, unsicher und sogar ungesellig aus. Georg Seeßlen fasst die Darstellung der Jugend im deutschen Film wie folgt zusammen: „Dem deutschen Kino der siebziger Jahre gaben die Außenseiter und Verweigerer die jugendlichen Helden ab. Komische Opportunisten und ewige Kindsköpfe waren es in den Achtzigern; in den Neunzigern teilen sich tragische Ghetto-Helden die Leinwand mit Bürgerkindern, deren larmoyantes Gebrabbel sogar ihnen selbst auf die Nerven geht. […um 2000] gibt es den Bruch zwischen dem einzelnen Jugendlichen und der Gesellschaft[…].“44

Was von Seeßlen beschrieben wird, gilt auch für die Neue Berliner Schule. Die zwischenmenschliche Vernachlässigung und Zurückhaltung wirkt sich auf die Haltung der Jugend aus: Im Film Gespenster ist das Waisenmädchen Nina am liebsten immer allein, bis sie der Streunerin Toni begegnet. „Was sich vielmehr einprägt von Gespenster, sind einzelne Szenen von besonderer Atmosphäre und Schauspielgabe. Immer sind es Bilder der Einsamkeit, des Einbruchs von Ein-

43 Käsler, Dirk [Hrsg.] [1999]: Klassik der Soziologie. München: Beck, S. 269. 44 Seeßlen, Georg: „Jugend ist Leiden.“ In: Zeit-Online. 11. Mai 2005. URL:http://www. zeit.de/2005/20/Filme_20 [28.10.2014].

60 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

samkeit oder des Ausbruchsversuchs aus der Einsamkeit heraus“,45 so schreibt Sascha Keilholz. Es wird deutlich, dass die meisten jungen Protagonisten in den Werken der Neuen Berliner Schule Einzelgänger sind und damit unzugänglich und isoliert erscheinen. Beide Filme von Henner Winckler, die die Jugend thematisieren (Klassenfahrt und Lucy), verdeutlichen diese sozialen Probleme. Im Film Klassenfahrt ist der Protagonist der ungesellige 16-jährige Schüler Ronny. Bei einer Klassenfahrt nach Polen ist er immer allein zu sehen: er spielt alleine Tischtennis, er frühstückt allein und er spaziert allein am Strand. Im Interview erklärt Winckler die Rolle folgendermaßen: „Ronny ist nicht der klassische Außenseitertyp, auf dem alle herumhacken, sondern jemand, der sein Einzelgängertum selbst gewählt hat und es in aller Konsequenz durchziehen will.“46 Für den Schauspieler Steven Sperling ist Ronny hingegen der klassische Außenseiter. „Er distanziert sich allmählich von der Klasse.“47 Egal ob Ronny Einzelgänger oder Außenseiter ist, diese Rolle spiegelt jedenfalls ein typisches Problem der Pubertät wider. Mithilfe von Jugendlichen als Protagonisten können die Regisseure die Gesellschaft aus einem anderen Blickwinkel darstellen und damit vielschichtige Sozialprobleme dokumentieren. Auch Lucy ist ein Film, der am Beispiel junger Erwachsener soziale Probleme porträtiert. Der Film erzählt von der 18-jährigen alleinerziehenden Mutter Maggy, die mit ihrer Tochter noch bei ihrer Mutter wohnt. Nach einem Streit mit ihrer Mutter zieht Maggy mit ihrer Tochter zu ihrem neuen Geliebten Gordon, weil sie hofft, dort ihr Glück zu finden. Aber Gordon ist auch jung und weiß eigentlich nicht genau, ob er schon bereit für eine Familie ist. Es scheint, als warte Maggy auf ein Wunder, dass sie aus der hoffnungslosen Situation befreit. „Darin seziert er [Henner Winckler] den von verstockter Hilflosigkeit geprägten Alltag einer jungen Kleinfamilie. […] Maggy ist allein auch unter Menschen. Einsamkeit ist im Kino auch eine Frage der Kadrage.“48 Es ist klar, dass der Regisseur im Film keine moralische Beurteilung vornehmen will. Dennoch spiegelt das Thema gewissermaßen soziale Probleme wider. Obwohl die moderne Welt von materiellem Reichtum und hochgradiger Zi-

45 Keilholz, Sascha: „Gespenster Kritik.“ In: Critic.de. 23. August. 2005 URL: http://www. critic.de/film/gespenster-295/ [28.10.2014] 46 Lünstedt, Claudius u.a.: Interview mit Henner Winckler. 4. Januar 2002. URL: http://www.peripherfilm.de/klassenfahrt/interview.htm [26.12.2014] 47 Ebenda. 48 Knörer, Ekkehard: „Kleine Leben in der großen Stadt.“ In: Die Tageszeitung. 14. Februar 2006.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 61

vilisation geprägt ist, fühlen sich die Menschen zunehmend einsam und orientierungslos. Ist das die von Nietzsche vor mehr als hundert Jahren vorhergesagte Heraufkunft des Nihilismus? „Der klassische Marxismus hatte zur Problematik der relativen Gerechtigkeit in der Gesellschaft eine gänzlich andere Antwort parat. Er nahm an, dass Wettbewerb, Neid, überhaupt alles Übel vom Gütermangel herrühre und dass Güterfülle solche Konflikte unnötig mache. Wir müssen aber, wenn wir die Frage nach den Ressourcen einmal beiseitelassen, heute feststellen, dass wir den Mangel niemals beseitigen werden.“49

Dieser Mangel, der auch heute nicht beseitigt werden kann, kann in den Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation, der Einsamkeit und der Hilflosigkeit gefunden werden. Keine Altersgruppe kann diese Probleme besser verkörpern als die Jugend: In diesem spezifischen Entwicklungszustand ist der Mensch sensibel und moralisch labil. Weltanschauungen und Wertvorstellungen werden gebildet und hinterfragt. Deswegen erscheint es eindringlicher, diese Altersgruppe zu porträtieren.

3.5

U RBANITÄT

3.5.1

Zerstörte Städte

Ende der 1970er Jahre bis Anfang der 1990er Jahr erlebt China eine wichtige Sozialwende: „Mao’s mandate that the countryside encircle the cities has been irrevocably reversed during the past three decades in China.“50 Insbesondere in den 1990er Jahren hat Dengs Reform- und Öffnungspolitik ihren unvermeidlichen Einfluss auf fast jede staatliche Abteilung ausgeübt und auch die Urbanisierung beschleunigt. In den großen Städten waren überall Baustellen zu sehen: Alle alten Gebäude wurden abgerissen und eine Menge neuer Hochhäuser wurden mit rasender Geschwindigkeit gebaut. Zerstörung und Umzug (Chaiqian) sind die Stichwörter dieses Urbanisierungsprozesses in China: „The modern urban-rural dichotomy, a legacy of nineteenth century imperialism, is being rapidly reconfigured in a postsocialist, global environment. The capitalist city-denounced as

49 Ebenda, S. 35. 50 Visser, Robin [2010]: Cities surround the Countryside. Urban Aesthetics in Postsocialist China. London: Duke University Press. S. 1.

62 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

parasitical under Mao and devalued by the norms of traditional Chinese ethics-now functions in China as a site of individual and collective identity.“51 Zur Urbanisierung gesellt sich also nicht nur die Zerstörung der alten Städte, sondern auch die der Normen traditioneller chinesischer Ethik. Als positiver Effekt wurden die guten Arbeitsmöglichkeiten für die Leute aus abgelegenen, bedürftigen Gebieten propagiert. Denn für den Aufbau der neuen Städte wurden zahlreiche Arbeitskräfte benötigt, weswegen Tausende junge Männer aus den heimischen Dörfern in die großen Städte schwärmten. Auch viele Frauen wanderten in Städte, um ihren Lebensunterhalt als Prostituierte zu verdienen. Aber sowohl die Männer als auch die Frauen konnten sich nur in der Unterschicht der modernen Gesellschaft bewegen und werden stets als Außenseiter gesehen, da es ihnen an Qualifikation für ‚ehrenvolle‘ Arbeit fehlt. Die Regisseure der Sechsten Generation haben viele solche Menschen in ihren Filmen porträtiert, z.B. Jia Zhangke in seinem Film Xiao Wu (1998). Dieser handelt von einem Taschendieb und der Prostituierten Meimei, die beide über keine fachliche Qualifikation verfügen, aber trotzdem ihre ländliche Heimat verlassen und in der Stadt auf größere Karrierechancen hoffen. Viele Menschen mit ähnlichem Schicksal werden von den Stadtbewohnern nicht akzeptiert, deshalb hat Robin Visser diese Gruppe so beschrieben: „Stereotypes in the media and popular discourse tend to portray migrants as lowering the quality of life in the city by making it less safe, less sanitary, and less cultured, characterizing them as a vast and unkempt horde of ignorant outsiders who pour ‚blindly‘ into the cities, bringing dirt, disorder, and crime.“52 Im Gegensatz zu den vielen neu aufgebauten, sich entwickelnden Städten steht die Stadt Fengjie: Im Zuge des Drei-Schluchten-Talsperre-Projekts musste diese Stadt, die mehr als zweitausend Jahre alt ist, innerhalb von zwei Jahren komplett abgerissen werden. Die Trümmer der Gebäude, die bald den Fluten weichen müssen, werden in Jias Film Still Life (Sanxiao haoren, 2006) gezeigt (vgl. Abb. 5-21, 5-22). Durch zwei normale Geschichten weist er auf die verschiedenen Probleme dieser weitreichenden Modernisierungsmaßnahme hin. Die nostalgische Atmosphäre hüllt den ganzen Film ein. Eine ausführliche ästhetische Analyse dieses Films wird in Kapitel 5 vorgenommen. Das urbane Motiv taucht in vielen Filmen von Jia Zhangke auf. Sein Film The World (2004) ist ebenfalls ein gutes Beispiel dafür. In diesem Film geht es wieder um eine Gruppe junger Erwachsener, die aus kleinen Dörfern kommen und in Peking ihre Träume verwirklichen wollen. Sie arbeiten im Peking-World-Park, in

51 Ebenda. 52 Ebenda, S. 46.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 63

dem die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt als Miniatur für Touristen nachgebaut wurden. Die Protagonistin Xiaotao arbeitet dort als Tänzerin, ihr Freund Taisheng als Sicherheitsbediensteter. Wie der Slogan aus dem Lautsprecher verspricht – „man kann die ganze Welt sehen, ohne Peking zu verlassen“ – ist der Peking-World-Park eine Miniatur der Welt. Die aus dem abgelegenen Land kommenden jungen Leute sind stolz darauf, dort zu arbeiten. Als Taishengs Freund aus Shanxi (seiner Heimat) ihn besucht, stellt Taisheng seinem Freund eine Miniatur vor: „Das sind die ‚zwei Türme des World Trade Centers‘, die wahren sind zerstört, aber unsere sind noch da!“ Die Thematisierung des Peking-World-Parks ist eine Anspielung auf den unrealistischen Traum vom erfolgreichen Leben in der Stadt, den viele junge Leute träumen. Sie sehnen sich nach modernen, entwickelten Ländern und versinken in diesem sogenannten World-Park in ihrer Urbanillusion. Außerhalb dieser fiktiven Welt liegt jedoch noch die wahre harte Realität, die durch die unausgewogene Entwicklung klar abgetrennt wurde. Schon das allererste Bild des Films deutet dies an: Der kleine „Eiffelturm“ steht im Hintergrund, während im Vordergrund ein alter Straßenkehrer mit einer mit leeren Flaschen gefüllten Tasche auf dem gebeugten Rücken vorbeitaumelt. Dadurch entsteht ein bildlicher Kontrast zwischen Moderne und Armut (Abb. 3-10). Dass die Urbanisierung durchaus Probleme hervorruft, macht Jia auch in seinem Mockumentary 24 City deutlich. Durch die Beschreibung des Schicksals einer großen staatlichen Fabrik samt ihrer Arbeiter deutet der Regisseur die unterschiedlichen Phasen der chinesischen Geschichte an. Wegen der Urbanisierung muss sie jetzt (2008) Platz für einen neuen Apartmentkomplex machen. Für die Angestellten ist die Fabrik wie eine große Familie, ihre Schicksale sind eng miteinander verbunden. Hier wird wieder der gesellschaftliche Wandel im postmodernen China sichtbar. „Die sozialistische Fabrik heißt auch Einheit (Danwei), im Unterschied zur heutigen Fabrik leben dort alle Angestellten in dieser Einheit zusammen, sie haben alle dasselbe Gefühl zur Einheit, in der es eine bestimmte Würde und Glauben gibt,“ so sagte Jia Zhangke.53 Aber wegen der Urbanisierung droht der Fabrik, abgerissen zu werden. Durch Fake-Interviews mit angeblichen Arbeitern stellt Jia die melancholischen Sehnsüchte nach der verlorenen Vergangenheit dar.

53 Li, Hongyu/Jia, Zhangke: „Unsicherer“ Film – Jia Zhangke spricht über 24 City(„Bu anquan“ de dianying – Jia Zhangke tan . In: Southern Weekly. 04. Mai 2009.

64 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Mit der Thematisierung der Urbanisierung im China der Post-Mao-Epoche ist Jia Zhangke mit seinem Werken keineswegs ein Ausnahmefall der Sechsten Generation. In Zhangyuans Film Seventeen Years (Guonian huijia, 1999) erhält die seit 17 Jahren gefangene Taolan die Erlaubnis für eine dreitägige Neujahrsfest-Heimreise. Aber aufgrund der Urbanisierung bzw. der Modernisierung kann Taolan nicht einmal ihr eigenes Haus wiederfinden. Die Urbanisierung bringt riesige fortschrittliche Veränderungen für die Moderne, aber gleichzeitig ist sie auch eine Katastrophe für jene, die lange Zeit isoliert lebten. Durch die Modernisierung und Urbanisierung verliert man nicht nur die alten Häuser, sondern mit ihnen auch die Erinnerungen an die alte Tradition und Kultur. Während Jia Zhangke und Zhang Yuan den Traum armer junger Leute oder gewöhnlicher Familien im urbanen Raum ansiedeln, will Lou Ye romantische Stadtliebesgeschichten erzählen. In seinen Filmen Weekend Lover und Suzhou River (Suzhou He, 2000) werden die schmutzigen, verwirrenden Straßen und die baufälligen Gebäude einerseits als Kennzeichen der Urbanisierung, aber andererseits auch als Hintergrund für die melancholisch-traurigen Romanzen gesehen. „The film resembles a contemporary film noir set in the seediest neighbourhoods of present day Shanghai, along the dirty, post-industrial Suzhou River that seems to wind through nothing but decaying warehouses and dusty factories on its way to Shanghai's waterfront“ 54 , so beschreibt der Filmkritiker Shelly Kraicer die Szenen in diesem Film (Abb. 3-11 und 3-12). Das Phänomen, dass erhaltenswerte Lebensweisen und Traditionen in den Städten aufgrund des Bedürfnisses nach Modernisierung zerstört und die großen Städte dadurch entcharakterisiert werden, hat zu einer kulturellen Folge geführt, die von Ackbar Abbas (entlehnt von Paul Virilio) als Ästhetik des Verschwindens bezeichnet wird: „The detached, raw aesthetic in much contemporary urban literature, film, and art displays what Abbas calls ‚achronicities‘, where past and present disappear in each other. Many examples of postsocialist urban art critique the highly contingent, culturally destructive features of China’s urban development not by displaying wistful longings for the past, but by demonstrating that the past, as human sentiment, is nonexistent.“55

54 Kraicer, Shelly [2000]: Suzhou River. URL: http://www.chinesecinemas.org/suzhou. html [28.10.2014] 55 Visser, Robin [2010]: S. 38.

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 65

Als Motiv ist der urbane Raum in den Werken der Sechsten Generation daher sowohl realistisch und kühl als auch zerstört, polarisiert und melancholisch. Er deckt eine gewisse Wehmut gegenüber dem Verlorenen auf. Das bezieht sich nicht nur auf das Thema, sondern auch auf die Ästhetik, die die unterschiedlichen Regisseure auf ihre je eigene Weise in ihren Werken zum Ausdruck gebracht haben. 3.5.2

Flucht aus der Stadt

Es ist selbstverständlich, dass auch die meisten Regisseure der Neuen Berliner Schule ihre Geschichten lieber in großen Städten oder deren Umland ansiedeln. Im Unterschied zur chinesischen Urbanisierung, die sich erst in den 20er/30erJahren des 20. Jahrhunderts vollzieht, beginnt sie in Deutschland schon Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da die Urbanisierung in Deutschland auf hohem Niveau stattfindet, ist die große Kluft zwischen Stadt und Land, die in China üblich ist, im gegenwärtigen Deutschland kaum vorhanden. Szenen des Umbaus, der Zerstörung oder des wirtschaftlichen Chaos, die in den Werken der Sechsten Generation häufig zu sehen sind, werden in den Filmen der Neuen Berliner Schule weitaus seltener dargestellt. Stattdessen zeichnet sich der urbane Raum hier eher als Hintergrund ab, durch den verschiedene soziale und zwischenmenschliche Probleme ausgelöst werden. Obwohl die meisten Figuren in den Werken der Neuen Berliner Schule in den Städten wohnen, scheinen die Städte keinen besonderen Reiz zu haben. In Schanelecs Filmen wollen mehrere Figuren sogar die Städte oder das gegenwärtige Leben verlassen. Im Film Mein langsames Leben (2001) will Sophie Berlin verlassen, um ein halbes Jahr nach Rom zu gehen. Der Grund dafür wird nicht thematisiert. Die Geschichte im Film spielt bei ihrer Freundin Valerie, die zwar noch in Berlin lebt, aber mit nichts zufrieden ist. Als Einzige hat sie weder Familie noch Arbeit. Auch das ist eine Art Lebensführung, die auf die Modernisierung zurückgehen kann. Harald Fricke bemerkt auch die große Banalität in diesem Film und schreibt: „Auch in ihrem neuen Film ‚Mein langsames Leben‘ zeigt Angela Schanelec die großartige Banalität oder banale Großartigkeit des Lebens.“56 In Schanelecs anderem Film Marseille (2004) ist dieses Problem radikaler verkörpert: Die Photographin Sophie hat genug von ihrem jetzigen Leben und will die Stadt verlassen, um für eine Weile in Marseille zu wohnen. Sie bummelt in dieser Hafenstadt herum, um die schönen Bilder zu greifen und auch um sich

56 Fricke, Harald: Das Kino im Ist- Zustand. In: Tageszeitung. 20/09/2001.

66 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

selbst zu finden. Sie begegnet einem Automechaniker und scheint mit ihm glücklich zu werden. Als sie aber wieder nach Berlin zurückkommt, gerät sie erneut in ein Gefühlschaos. Die Flucht aus der Stadt oder dem Alltag ist somit ein häufiges Motiv bei der Neuen Berliner Schule. Im Film Montag kommen die Fenster von Ulrich Köhler geht es beispielsweise um „eine moderne deutsche Kleinfamilie, eine neue Form von Bürgerlichkeit“57. Ohne sich zu verabschieden, verlässt Nina mit ihren Kindern ihren Mann und kommt in ein Waldhotel, in dem sie einen fremden Mann kennenlernt. Wieder handelt die Geschichte von dem „Aussteiger (der Aussteigerin)“58, wobei jedoch nichts über den Grund der Flucht bekannt ist. Vielleicht ist gerade das die geeignetste Methode, um ihre innere Ungewissheit und Unruhe auszudrücken. Daher fasst der Filmkritiker Jean Lüdeke wie folgt zusammen: „Regisseur Ulrich Köhler, für sein Spielfilmdebüt Bungalow mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet, setzt hier wieder mehr auf Gesehenes, als Geredetes: In seinem zweiten Film ist Ninas wortlose Flucht aus dem Alltag als surrealer Traum zu deuten.“59 Die Postmoderne wirkt sich auch auf die Familienstruktur aus. In den Werken der Neuen Berliner Schule kann man kaum traditionelle Vater-Mut– ter-Kind-Familien finden, vielmehr sehen wir kinderlose Ehen oder Liebespaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Alleinerziehende. Diese fragmentierten sozialen Beziehungen sind eine der wichtigsten Ursachen des Zugehörigkeitsverlusts oder der inneren Isolation. So sehen wir in Petzolds Film Gespenster (2005) das Heimkind Nina, die sich nach Familie sehnt; auch Frau Yella in Petzolds gleichnamigen Film Yella (2007) flieht aus ihrer zerbrechenden Ehe. Im Film Milchwald (2003) zeigt uns Christoph Hochhäusler die Angst vor dem Verlust oder der Isolation der Familienmitglieder in einer kleinen, neu zusammengefügten Familie in der deutschen Mittelschicht. Thomas Arslan inszeniert in seinem Film Ferien (2007) eine komplexe Familienbeziehung in einem sommerlichen Vorstadt-Garten. Letztendlich spielt nahezu jede Geschichte in den Filmen beider Strömungen im städtischen Raum. Das ist eine interessante Gemeinsamkeit und könnte vielleicht auf ihre ästhetische Neigung zur Realität zurückzuführen sein. Allerdings setzen die Regisseure beider Schulen innerhalb dieser Gemeinsamkeit unter-

57 Interview: Köhler,Ulrich/ Orth, Patrick. Heft in DVD. 58 Vgl: Foerster, Lukas [2006]: Montag kommen die Fenster. URL: http://www.critic.de/ film/montag-kommen-die-fenster-664/ [28.10.2014]. 59 Lüdeke, Jean [2006]: Montag kommen die Fenster. URL: http://www.kino-zeit.de/fil me/montag-kommen-die-fenster[28.10.2014].

T HEMATISCHE FILMANALYSE

| 67

schiedliche Schwerpunkte. Während das Stadtmotiv bei der Sechsten Generation ein bestimmtes Zeitalter symbolisiert, ist es bei der Neuen Berliner Schule eher als Hintergrund zu verstehen, in dem verschiedene zwischenmenschliche oder innere Probleme auftauchen. Natürlich kann man nicht behaupten, dass solche Probleme bei der Sechsten Generation keine Rolle spielen. Gerade als Folge der Urbanisierung und Modernisierung sind solche zwischenmenschlichen Probleme auch in ihren Filmen präsent, aber im Vergleich zur Neuen Berliner Schule steht die Modernität und/oder die Urbanisierung selbst eher als Kennzeichen einer Entwicklungsphase im Vordergrund. Daher ist in den Werken der Sechsten Generation vorwiegend der Prozess der Urbanisierung dargestellt, während bei der Neuen Berliner Schule eher die verschiedenen Probleme, die von der Posturbanisierung ausgelöst werden, porträtiert werden. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Haltung der Figuren im Film bezüglich der Stadt: Während bei der Sechsten Generation häufig das Bestreben nach einem besseren Leben in den Städten, die Einsamkeit oder Schwierigkeiten der Außenseiter in den Städten thematisiert werden, tauchen solche Probleme in den Filmen der Neuen Berliner Schule eher selten auf. Stattdessen schimmert wohl aufgrund der Ungewissheit und Unsicherheit eine gewisse innere Flucht aus dem städtischen Alltag durch. Außerdem bleibt der Grund für diese Ungewissheit und Unsicherheit ständig unklar und die Regisseure der Neuen Berliner Schule zielen vielmehr darauf ab, eine Stimmung zu schaffen, statt ein Ereignis zu konstruieren.

4

Theoretische Grundlage der ästhetischen Filmanalyse

4.1

D IE

ÄSTHETISCHEN M ERKMALE DER W ERKE BEIDER S TRÖMUNGEN

Als gemeinsames ästhetisches Merkmal beider Schulen kann der Realismus angesehen werden. Die Regisseure werfen ihren Blick gern auf die Wirklichkeit der Gesellschaft, sie drehen Filme in den Peripherien der Städte oder der Gesellschaft, gewöhnliche Leute werden zu Hauptfiguren. Das ästhetische Streben nach Realität setzen die Regisseure auf drei Ebenen um: Die Themenanalyse der letzten Kapitel verdeutlicht, dass oft intensive Momentaufnahmen der Gegenwart sowie das wirkliche Alltagsgeschehen behandelt werden. Deswegen kann die thematische Realität als die erste Ebene angesehen werden. Viele Regisseure der chinesischen Sechsten Generation wollen ihre Filme zu bildlichen Dokumenten werden lassen, die die chinesische Gesellschaft, vor allem deren Unterschicht, porträtieren. Jia Zhangke sagt in einem Interview, er präsentiere so objektiv wie möglich das originale Antlitz der Dinge. Er will dem Zuschauer nicht seine subjektive Ansicht aufzwingen.1 Bei der Neuen Berliner Schule ist ebenso die Rede von der Realität. „Das oberste Gebot der [Neuen] Berliner Schule wäre das Verbot der Manipulation – der Wirklichkeit, aber auch des Betrachters. [...] Die Welt ist es, die erscheinen soll: Originalwelt.“2 Die zweite Ebene, auf der das Streben nach Realität umgesetzt wird, ist die innere Ebene. Die Regisseure thematisieren die Befindlichkeit der gewöhnlichen

1

Vgl. Wang, Guangming [2009]: Jia Zhangke: ich drehe Filme, weil ich etwas sagen will. (Jia Zhangke: pai dianying shi yinwei youhua yaoshuo.) URL: http://ent.sina.com. cn/m/c/2009-03-24/09202435358.shtml [28.10.2014]

2

Baute, Michael u.a.: In: Koliok. Film. Sonderheft 6, Oktober 2006.

70 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Menschen. In der vorliegenden Themenanalyse wurde schon erwähnt, dass in ihren Filmen häufig die Seelenlagen und die Verwirrung von Menschen dargestellt werden. Rüdiger Suchsland beschreibt die Filme der Neuen Berliner Schule so: „Entscheidender aber hier die Haltung: Tastend und offen nähert sie sich der Jetztzeit in Deutschland und dem Lebensgefühl einer uneingestandenen Angst vor der Nähe und der Wirklichkeit. Krise und Tristesse, Zukunftsangst und Kälte stehen der Glückssehnsucht der Menschen gegenüber.“3 Das Geschehen bewegt sich stets auf einer ruhigen Ebene, es gibt keine großartigen dramatischen Schwankungen, der Rhythmus ist langsam, es handelt sich um das ganz banale und tägliche Leben. Nicht nur die Regisseure verzichten auf komplizierte Filmverfahren, sondern auch die Schauspieler agieren eher zurückhaltend. Damit wollen sie innerliche zwischenmenschliche Spannungen unter einer ruhig aussehenden Oberfläche verdecken. Außerdem scheint das Gefühl der Figuren von selbst ganz natürlich auszufließen, ohne dabei affektiert zu wirken. Das entspricht auch der Ansicht Bazins: „Doch geht die These gut gewappnet daraus hervor, umso weniger zu widerlegen, als da sie quasi nur nebenbei geliefert wird. Unser Geist ist es, der sie entwickelt und formuliert, nicht der Film.“4 Die dritte Ebene sind die Details. Sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zur realistischen Ästhetik des ganzen Films. In den Filmen beider Schulen sehen wir also die vergrößerten Ausschnitte der Funktionslosigkeit oder Banalität im Alltag. Solche Ausschnitte langweilen uns zwar stellenweise, sind jedoch genau die Reize der Authentizität im Alltag. Dinge, die tagtäglich passieren, sind in der Regel gewöhnlich und somit eher uninteressant. Allerdings beschreiben genau diese die wirkliche Existenz. Dennoch ist eine solche Ausdrucksweise der Realität im Film nicht besonders anschaulich, es setzt das Nachdenken oder die Reflexion des Zuschauers voraus und bewirkt in ihm meistens ein unbehagliches Gefühl. Dies wird als Verfremdung bezeichnet. Wahrscheinlich können die Regisseure nur durch die verschiedenen Filmverfahren unsere Aufmerksamkeit wecken, damit wir die übersehenen, doch immer existierenden Sachen erneut erkennen. Gerade das ist das Charisma der Kunst, das aus der Verfremdung hervorgeht. Mit dem Wort Verfremdung wird hier das andere offensichtliche gemeinsame Merkmal der Filme beider Schulen bezeichnet. Wie gesagt bevorzugen die Regisseure die Ästhetik der Reduktion, weswegen beim Zuschauer leicht ein Verfremdungsgefühl entsteht. Die lockere kausale

3

Suchsland, Rüdiger: „Langsames Leben, schöne Tage. Annäherungen an die „ Berliner

4

Bazin, André [2004]: Was ist Film? Berlin: Alexander-Verl. S. 341.

Schule“.“ In: Film-Dienst, 13/2005, S. 9.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 71

Kette, die langen Einstellungen, die statische Kamerastellung usw. – anscheinend versuchen alle diese Verfahren das Einfühlungsvermögen zu hemmen. Immerzu erinnern sie den Rezipienten daran, dass er beobachtet wird und reflektieren soll. So zeigt beispielsweise der Film Der schöne Tag von Thomas Arslan in vielen Szenen die Protagonistin Deniz auf ihrem Weg durch die Stadt und den Park, aber ohne sie dabei zu begleiten. Die Position der Kamera bestimmt die Rolle als Beobachter und erzeugt damit eine Distanz zwischen dem Zuschauer und der diegetischen Welt im Film. „Their [der Neuen Berliner Schule] aesthetics are predicated on negation insofar as their critical potential comes from denying the spectator what it is that they want or expect to see.“5 Der Effekt der Verfremdung kann hinsichtlich zweier Gesichtspunkte erörtert werden. Meines Erachtens schlägt sich die Verfremdung in den Werken beider filmischer Strömungen sowohl auf zeitlicher als auch auf räumlicher Ebene nieder: Die Regisseure verlängern die Zeitwahrnehmung des Zuschauers zum Beispiel mittels langer Einstellungen und durch den langsamen Rhythmus. Die nur mühsam verstreichende Zeit steht im Gegensatz zur üblichen filmischen Zeit und ruft damit beim Zuschauer ein ungewöhnliches Gefühl hervor. So erscheinen diese Art Filme manchmal langweilig und banal. Die räumlichen Hindernisse, die die Empathie des Zuschauers verhindern, sind die ungewöhnliche Kadrierung, Mise-en-scène, spezifische Bildkomposition oder Kameraposition. Wie die Regisseure diese Filmverfahren verwenden, um die oben erwähnten ästhetischen Merkmale umzusetzen, ist einer der Schwerpunkte der ästhetischen Analyse. Zur weiteren Unterstützung der Analyse wird zunächst die entsprechende Theorie als Grundlage eingeführt.

4.2

R EALITÄT

UND

W IRKLICHKEIT

Angesichts beider ästhetischer Merkmale – Realität und Verfremdung – wird zunächst auf die Filmtheorie über die Realität eingegangen, die seit ihren Anfängen sehr komplex ist. Die offensichtlichste der drei vorhergehenden Ebenen der Realität ist die äußere Wirklichkeit, die mit Siegfried Kracauers Ausführungen gestützt werden kann. Besonderes Augenmerk liegt somit auf der physischen Realität. Des Weiteren wird bezüglich der inneren Realität die Mehrdeutigkeit und die psychologische Realität André Bazins vorgestellt. Diese beiden Konzepte werden zur klassischen Filmtheorie der 50er Jahre gezählt. Bezüglich des Wirk-

5

Cook, Roger F. u.a. [2013]: S. 8.

72 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

lichkeitseffekts wird auf die entsprechende gegenwärtige Filmtheorie von Guido Kirsten eingegangen. Indem dieser von den vorhandenen Realismustheorien und semiologischen Kenntnissen ausgeht, hat er die rezeptionsseitige Bedeutungsproduktion hinzugefügt und die Untersuchung des Realismus im Film aktualisierend erweitert. 4.2.1

Siegfried Kracauer: die äußere Wirklichkeit

Bei Kracauer ist die Realität nicht nur „real“ oder „wahrnehmbar“ wie zum Beispiel „eine Theateraufführung oder ein Gemälde.“6 Vielmehr ist sie eine „wirklich existierende, physische Realität – die vergängliche Welt, in der wir leben.“7 Den Begriff Physische Realität erklärt er anschließend wie folgt: „Physische Realität wird im Folgenden auch ‚materielle Realität‘ oder ‚physische Existenz‘ oder einfach ‚Natur‘ werden. Eine andere passende Bezeichnung mag ‚Kamera-Realität‘ sein. Schließlich empfiehlt sich noch der Ausdruck ‚Leben‘ […].“8 Davon ausgehend verweist er auf die zwei Hauptfunktionen eines Films: die Registrierende Funktion und die Enthüllende Funktion. In seinem Artikel Die zwei Haupttendenzen werden die realistische Tendenz und die formgebende Tendenz in der Filmgeschichte hervorgehoben.9 Nach seiner Meinung soll vor allem die realistische Tendenz zur „Mindestforderung für die Photographie“ 10 werden. Gleichzeitig stellt er fest, dass „das formgebende Streben [er meint das Eingreifen des Menschen] also mit der realistischen Tendenz nicht in Konflikt zu geraten braucht. Im Gegenteil, es mag sie verwirklichen und erfüllen – eine Wechselwirkung […].“11 Anders ausgedrückt weist Kracauer der Realität eine herausragende Stelle zu, „alle diese gestalterischen Bemühungen (die formgebende Fähigkeit) stimmen mit der filmischen Einstellung (der wirklichen filmischen Ästhetik) überein, solange sie irgendwie der eigentlichen, auf die sichtbare Welt gerichteten Intention des Mediums zugutekommen.“ 12 In den Filmen beider Schulen kann die Realität ihres Themas auf diese Stellungnahme bezogen werden. Die Realität wird zuerst in einer äußeren Form abgebildet. Durch das Getümmel

6

Vgl. Kracauer, Siegfried [2009]: S. 55.

7

Ebenda.

8

Ebenda.

9

Ebenda, S. 57.

10 Tudor, Andrew [1977]: Film-Theorie. Frankfurt am Main: Kommunales Kino, S. 63. 11 Ebenda. 12 Kracauer, Siegfried [2009]: S. 67.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 73

auf der Straße und die von den jungen Leuten verherrlichte Popkultur erkennen wir die Kleinstadt Fen Yang in Jia Zhangkes Filmen (Abb. 4-01, 4-02). Solche Szenen zeigen uns nicht nur eine reale Stadt, sondern auch ein reales Zeitalter. Michael Berry beschreibt den Film folgendermaßen: „through Jia’s films – and sometimes the films of his collaborators Yu Lik Wai and Han Jie – Fenyang county (or more broadly Shanxi province) has emerged a key site for imagining, representing and imagining small-town China and the Chinese ‚everyman‘.“13 Im Film Der schöne Tag nimmt uns Arslan mittels zahlreicher Außendrehorte in ein alltägliches Berlin mit: Zu den zahlreichen Außendrehorten zählen die verschiedenen U-Bahnhöfe, die langen unterirdischen Gänge mit niedrigen Decken und farbigen Kacheln, die schattigen Uferhänge in Grunewald sowie beliebige Berliner Fußgängerzonen (Abb. 4-03 – 4-05). „Die wenigsten Berlin-Filme scheren sich um die Topographie der Stadt, die entweder unkenntlich bleibt oder in pittoreske Kulissen zerlegt wird.“14 Nur durch eine äußere physische Realität können wir die darin angesiedelten Themen richtig erkennen. Aber wie sollen die Filmemacher diese äußere physische Realität gekonnt aufzeigen? Nach Kracauers Ansicht basiert die Enthüllende Funktion auf der Registrierenden Funktion: „Sicherlich schließt jede Enthüllung der Kamera registrierende Wiedergabe in sich ein; diese ihrerseits aber braucht nicht enthüllend zu sein.“15 Zur Registrierenden Funktion führte er zweierlei Erscheinungen an, die für die Leinwand geeignet sind: die Bewegung, wozu Verfolgungsjagden, Tanz sowie die Bewegung im Entstehen zählen und die leblosen Gegenstände. Bei der Enthüllenden Funktion teilt er die enthüllten Gegenstände in drei große Kategorien ein: gewöhnlich unsichtbare Dinge; Phänomene, die das Bewusstsein überwältigen; Sonderformen der Realität.16 Zu den gewöhnlichen unsichtbaren Dingen gehören das Kleine und das Große, die Flucht der Erscheinungen und die Ausfallerscheinungen. Er stellt fest, dass nur der Film die spezielle Fähigkeit besitzt, dem Zuschauer die obigen drei Arten gewöhnlicher unsichtbarer Dinge erneut bewusst zu machen. In Hinsicht auf das Kleine und das Große können Filmverfahren wie Großaufnahme und Gesamtansicht dazu führen, dass ein neuer Aspekt der physischen Realität entdeckt wird. Das ist die sogenannte „Realität

13 Berry, Michael [2009]: Xiaowu, Plattform, Unknown Pleasures. Jia Zhangke’s

‚ Hometown trilogy‘. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 17. 14 Siehe

Presseheft.

URL:

http://www.peripherfilm.de/derschoenetag/dst2.htm#ps

[17.01.2015]. 15 Kracauer, Siegfried [2009]: S. 71. 16 Vgl. Kracauer, Siegfried [2009]: S. 77 ff.

74 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

einer anderen Dimension“ oder „künstlich verwandelte Realität.“ 17 Im Film Nachmittag von Angela Schanelec gibt es eine solche Szene, in der eine Familie mit dem Aufräumen nach dem Essen beschäftigt ist. Die Regisseurin hat hier mehrere Großaufnahmen von Körperteilen (Abb. 5-86, 5-92) eingesetzt. Diese Aufnahmen registrieren vor unseren Augen nicht nur die wirklich existierende Umgebung, sondern enthüllen gleichzeitig, wie sich das Gezeigte selbst verhält. Es kann als physische Realität angesehen werden, die uns wegen ihrer Gewöhnlichkeit nicht zu Bewusstsein kommt. Diese Ausdrucksform der Großaufnahmen bezieht sich gleichzeitig noch auf die dritte Art der gewöhnlichen unsichtbaren Dinge: Ausfallerscheinungen. Kracauer definiert Ausfallerscheinungen als die Dinge, die normalerweise unbemerkt bleiben. „Gewohnheiten und Vorurteile hindern uns daran, sie zu beachten.“18 Es ist nicht schwer zu bemerken, dass Kracauer die materielle Realität, also die physische Existenz bevorzugt. Zwar verweist er in seinem frühen Buch Von Caligari bis Hitler. Eine psychologische Geschichte der deutschen Filme auf eine sozialpsychologische Entwicklung vom filmischen Expressionismus bis zu Hitlers Zeit, wobei die psychologische Disposition eine bedeutende Rolle spielt. Aber nach Jan Ulrich Hasecke lässt sich feststellen: „Kracauer wollte die psychischen Dispositionen seiner Zeit verändern, weil er sie hasste. […] Daher hat sich die Kunst vor der Macht der psychischen Disposition zu hüten und sich stattdessen an die einzig verbleibende andere Macht, die physische Realität, zu halten. Und hier kommt der Film ins Spiel[…]“19. Allgemein gesagt ist der Realismus bei Kracauer physisch, materiell und „der Film eine Erweiterung der Fotografie und [hat] daher mit diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her gemeinsam.“20 4.2.2

André Bazin: mehrdeutige Realität

Wie Kracauer betont Bazin vor allem auch die direkte Beziehung zwischen Film und Realität und hebt eine Grundeigenschaft des Films hervor: die dauernde Wirklichkeit wiederzugeben. Bazin betont vor allem die Dauer eines Films, damit

17 Ebenda, S. 81. 18 Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd.Ⅲ, S. 39. Zitiert nach: Ebenda, S. 86. 19 Hasecke, Jan Ulrich [2013]: Die Wahrheit des Sehens. Der Dekalog von Krzysztof Kieslowski. Charleston: CreateSpace, S. 17. 20 Kracauer, Siegfried [2009]: S. 11.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 75

unterscheide sich der Film von anderen Arten der Kunst. In seinem berühmten Essay Ontologie des photographischen Bildes erklärt er die Entstehungsbedeutung des Films und das riesige Potential der Wirklichkeit (Natur): „In dieser Perspektive erscheint der Film wie die Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit. Der Film hält den Gegenstand nicht mehr nur in einem Augenblick fest, wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten aus einer fernen Zeit; er befreit die Barockkunst von ihrem Starrkrampf. Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung.“21

Der Begriff „Dauer“ in Bazins Werk kann auf Henri Bergsons philosophische Gedanken über die Dauer zurückgeführt werden. Nach Bergson wird die Dauer nicht als messbar oder zählbar begriffen, sondern durch die Intuition bestimmt.22 Dabei ist die lange Einstellung oder die Plansequenz ein wichtiges Verfahren, um zeitliche Kontinuität zu bewahren. Die konkrete Analyse der langen Einstellung in den Werken beider Schulen wird in Kapitel 5.2.1 vorgenommen. Darüber hinaus konstatiert Bazin die psychologischen Wurzeln in der Realität: „Ist also die Geschichte der bildenden Kunst nicht nur die Geschichte ihrer Ästhetik, sondern zuerst die Geschichte ihrer Psychologie, dann ist sie wesentlich eine Geschichte der Ähnlichkeit oder, wenn man so will, des Realismus.“23 Seine humanistisch-katholische Herkunft bestimmt seine Perspektive von außen nach innen, so erscheint der Realismus bei Bazin nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch und politisch.24 Aufgrund dieser Stellungnahme lässt sich feststellen, dass Bazin neben der äußeren Wirklichkeit Kracauers zu der Ansicht tendiert, dass die äußere Wirklichkeit eigentlich der inneren geistigen Ewigkeit dient. Nur wenn die psychologische Wirklichkeit erfasst wird, kann auch die wirkliche Wirklichkeit erreicht werden. Er tritt somit engagiert für den italienischen Neorealismus ein. In seinem Essay Plädoyer für Rossellini schreibt er: „dass der Neorealismus sich von realistischer Ästhetik, die ihm vorausgegangen ist, insbesondere vom Naturalismus und vom Verismus, dadurch unterscheidet, dass sein Realismus sich nicht so sehr auf die Themenwahl bezieht als vielmehr auf die

21 Bazin, André [2004]: S. 39. 22 Bazin, André [2004]: S. 42. 23 Ebenda. 24 Vgl. Elsaesser,Thomas/Hagener, Malte [2007]: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, S. 40.

76 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

geistige Haltung.“25 Solche ästhetischen Eigenschaften sind sowohl in den Werken der Neuen Berliner Schule also auch der Sechsten Generation offensichtlich spürbar. Sie betreffen die oben als zweite Ebene der Realität angeführte innere Realität. So wird beispielsweise die komplexe zwischenmenschliche Beziehung oder die Befindlichkeit der Figuren im Film Mein langsames Leben durch die geometrische Bildkomposition zum Ausdruck gebracht (vgl. Abb. 5-42). Außerdem bietet der Film nach Bazins Meinung eher ein Fenster als einen Bildrahmen: Im Unterschied zum Rahmen, der eine solide konstruierte Welt gestaltet, deren Ordnung unabhängig vom Beobachter ist, lässt sich das Fenster zentrifugal erkennen; durch das Fenster erschließt sich dem Zuschauer eine dynamische Welt. Die Ordnung der präsentierten Welt ist durch den Beobachtungsakt des Zuschauers erzeugt und erscheint deshalb mehrdeutig und vielfältig. Das ist auch die andere wichtige Funktion der langen Einstellung oder Plansequenz. Das Fenster vermittelt uns einen offenen Filmraum und erlaubt gleichermaßen mehrere Ereignisse in derselben Einstellung zu erleben. In Bezug auf dieses Filmverfahren lobt Bazin die Verwendung der Bildtiefe (Tiefenschärfe) im Film Citizen Kane: „Nicht mehr der Schnitt wählt für uns die Sache aus, die wir sehen sollen, und verleiht dieser dadurch a priori Bedeutung, sondern der Zuschauer selbst wird gezwungen, in dieser Art Parallelepiped kontinuierlicher Realität, dessen Schnittfläche die Leinwand bildet, das besondere dramatische Spektrum der Szene zu erkennen.“26 Außerdem betont Bazin die wichtige Rolle der Zufälligkeit (Beiläufigkeit) für die filmische Realität: „Doch das Ergebnis dieser Kunst, in der nichts notwendig ist, nichts den willkürlichen Charakter des Zufalls verloren hat, ist, dass sie gerade deshalb doppelt überzeugend und beweiskräftig ist.“27 Eigentlich verursacht die Zufälligkeit (Beiläufigkeit) die Mehrdeutigkeit, man kann auch sagen, dass sie eine andere Ausdrucksform der Mehrdeutigkeit ist. In seinem Text Vittorio De Sica, Regisseur erörtert Bazin die Zufälligkeit eigentlich auf der narrativen Ebene. Das erinnert an die narrative Konzeption in den Werken beider Schulen. Der Antidramaturgie-Stil, die Lücken in der Narration ermöglichen Mehrdeutigkeit, die der Realität nähersteht (Vgl. Kap. 5.2.5.2). Allerdings ist, wie Guido Kirsten feststellt, der Diskurs um die Realität in Bazins Werk doch nicht so klar. Er hat in seinen Analysen realistischer Filme auch nicht immer klar zwischen den Ebenen der profilmischen Realität und der diege-

25 Bazin, André [2004]: S. 395. 26 Ebenda, S. 310. 27 Ebenda, S. 361.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 77

tischen Realität unterschieden.28 Erstere betrifft den indexikalischen Realitätseindruck auf der film-ontologischen Ebene. Und die letztere bezieht sich auf eine spezielle Ästhetik als Filmverfahren. In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Diskurs über die Realität auf diese zweite Ebene, nämlich das ästhetische Verfahren. 4.2.3

Von der Realität zum Wirklichkeitseffekt im Film

Bevor auf den Schwerpunkt dieses Teils – den Wirklichkeitseffekt – eingegangen wird, will ich zunächst zwei Begriffe, nämlich den der Realität und den der Wirklichkeit, aus etymologischer Sicht unterscheiden. Beim Diskurs über filmischen Realismus sind beide Begriffe nicht eindeutig abgegrenzt. Anstatt tiefer auf die philosophische Bedeutung einzugehen, wird hier auf den Grundbegriff eingegangen, um daraus die Eigenschaften im Bereich der Filmtheorie abzuleiten. Die folgenden Definitionen der beiden Wörter im Philosophischen Wörterbuch lassen uns ihre ursprüngliche Bedeutungen erkennen: „R. (Realität) (lat. realitas) meint also ursprünglich entweder das Wesen, das Sosein, die ‚Washeit‘ (quidditas), Beschaffenheit oder die Sachhaltigkeit, Sachheit, den Gehalt von etwas […] Bei Kant treffen wir aber auch auf die heutige Bedeutung von R., die gleichbedeutend mit Wirklichkeit ist. Dies hängt damit zusammen, dass alles Wirkliche auch einen Sachgehalt besitzen muss, während das, was keinerlei Gehalt besitzt, leer und nichtig ist und kein Sein hat, also unwirklich ist.[…] Ferner wird ‚real‘ oft als Gegenbegriff zu ‚ideal‘ gebraucht. In diesem Fall wird unter real das tatsächlich Existierende verstanden, während ideal das meint, was gedacht wird oder dem Bereich dessen angehört, was nicht sinnlich wahrnehmbar ist[…]“29

Im Vergleich dazu: „Wirklichkeit (gr. enérgeia, lat. actus, actualitas) ist ursprünglich die von Meister Eckhart geprägte Übersetzung des aristotelischen Gegenbegriffs zu Möglichkeit (gr. dynamis, lat. potentia) und hängt mit Wirken zusammen, da das Wirkliche tätig und an seinem Wirken erkennbar ist.[…] für Hegel ist die W. im Gegensatz zur Realität die Einheit von Wesen und Existenz, von innen und außen. […] Heute ist W. meistens der Gegenbegriff zum bloß

28 Kirsten, Guido [2013]: S. 93 ff. 29 Brugger, Walter/Schöndorf, Harald [2010]: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber, S. 389 ff.

78 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION Gedachten, zum Schein oder zum Irrtum. Wirklich ist das, was unabhängig von unserem Denken existiert.[…] Dies übersehen diejenigen Formen des Idealismus, die alle Erkenntnis nur vom Subjekt her ableiten und erklären wollen.“30

Auf der Basis dieser Grunddefinitionen ist die Bedeutung der Begriffe sowohl bei Bazin als auch bei Kracauer nunmehr deutlicher. Infolge der etymologischen Bedeutung des Wortes Realität sowie der eingangs vorgestellten filmischen Konzeption Kracauers spielt seine „äußere Wirklichkeit“ auf den Bedeutungskreis der Realität an, denn er hebt die physische Realität als eine bleibende Macht der Kunst hervor. Bazins Verständnis von Realismus hingegen liegt eher dem Begriff der Wirklichkeit nahe, weil er über die materielle Wirklichkeit des Films hinaus in das immanente Wirkliche hineinreicht, welches seiner Meinung nach erst das Wesen bzw. die Essenz des Films ausmacht. Der Diskurs über die zwei Typen, nämlich die Realität und die Wirklichkeit des Films, wird häufiger geführt, insbesondere im französischsprachigen Raum. Dort haben beide ihre ursprüngliche Form: l’ effect de realité und effect de réel. Das erste wird mit Realitätseffekt und das letzte mit Wirklichkeitseffekt übersetzt.31 Der deutsche Filmwissenschaftler Guido Kirsten ist wieder auf den Begriff Wirklichkeitseffekt von Roland Barthes zurückgegangen und hat ihn in die Filmwissenschaft transportiert. Der Begriff wurde zuvor auch von Jean-Pierre Oudart bei Barthes entliehen und auf die Malerei übertragen.32 „Barthes’ Kernthese besagt, dass diese narrativ funktionslosen Details in einer Erzählung zu einem globalen Wirklichkeitseindruck beitragen. Sie seien Signifikanten, die nicht mehr auf einzelne Signifikate verweisen, sondern eine allgemeine ‚illusion referentielle‘ erzeugen. Die Details bezeichnen eigentlich gar nicht mehr die kontingenten Bestandteile der Realität, sondern sagen vielmehr bloß: ‚Wir sind das Wirkliche‘.“33 Das erinnert uns an die dritte Ebene der Realität in den Filmen beider Schulen. Im Film Der schöne Tag gibt es solche überschüssigen Szenen, in denen die Protagonistin Deniz immer draußen unterwegs ist. Diese Szenen tragen

30 Ebenda, S. 580 f. 31 Nach der Aussage von Guido Kirsten hat Dieter Hornig ‚effect de réel‘ bei Roland Barthes als ‚Wirklichkeitseffekt‘ ins Deutsche übersetzt und demzufolge ‚l’ effect de realité‘ als ‚Realitätseffekt‘. Das entspricht auch der Grundbedeutung beider Wörter, die zuvor vorgestellt worden sind. Vgl. Kirsten, Guido: „Die Liebe zum Detail. Bazin und der ‚Wirklichkeitseffekt‘ im Film.“ In: montage AV. 18/1/2009. S. 141 ff. 32 Vgl. ebenda. 33 Ebenda, S. 147.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 79

zwar nicht zur Dramaturgie des Films bei, aber sie laden die Abbildung mit einem besonderen Status, nämlich dem der Realitätsähnlichkeit auf.34 Im Unterschied zur westlichen Filmtheorie, die direkt von der Ontologie ausgeht und sich mit dem Film selbst auseinandersetzt, betrifft der Diskurs um den Realismus der anfänglichen chinesischen Filmtheorie nicht nur die ästhetische Einstellung, sondern auch die gesellschaftliche Einstellung. Die gesellschaftliche Funktion des Films wird dabei vorrangig betont. Während die westlichen Filmkritiker den Akzent auf die Beziehung zwischen dem Gezeigten und der Realität legen, bevorzugen die chinesischen Filmkritiker die gesellschaftliche Funktion der Realität.35 Der führende chinesische Filmkritiker Hou Yao betrachtet Authentizität als einen der wichtigsten Werte des Films.36 Aufgrund dieser ästhetischen Konzeption kommt der sozialistische Realismus im chinesischen Filmbereich der 50er Jahre auf, der andererseits aus politischen Gründen auch vom stalinistischen Sowjetfilm beeinflusst wird.37 Deswegen trägt der Realismus in dieser Phase auch zur Propaganda der sozialistischen Ideologie bei. Erst nachdem die realistischen Filmtheorien von Bazin und Kracauer usw. in den 80er Jahren in China eingeführt werden, beginnen die chinesischen Filmkritiker auf einer ästhetischen Ebene den Realismus zu diskutieren.38 Allerdings wurde der Realismus im damaligen Diskurs noch vielmehr als Kriterium für die Themenauswahl angesehen, was auf die Wichtigkeit des chinesischen Theaters in der traditionellen Kultur zurückgehen kann. Der Realismus wird im Westen auf einer ästhetischen bzw. philosophischen Ebene erforscht. Unter Albert Michotte van den Bercks Einfluss, der den ambivalenten Status39 des filmischen Realitätseindrucks herausgearbeitet hat, konsta-

34 Ebenda, S. 148. 35 Vgl. Hu, Ke [2005]: Kritik an der Geschichte der Chinesischen Filmtheorie. (Zhongguo dianying lilun shiping) Peking: China-Film Press, S. 44-50. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 36 Hou, Yao [1926]: „Über das Filmskript.“ In: Ding Yaping [Hrsg.] [2005]: Anthologie der chinesischen Filmtheorie des Jahrhunderts. (Bainian Zhongguo Dianying Lilun Wenxuan). Peking: culture & art publishing house, S. 57. 37 Vgl. Kramer, Stefan [1997]: S. 49 ff. 38 Vgl. Yuan, Ying: „Die moderne Kulturkritik und chinesische Filmtheorie. Die Entwicklung der Filmtheorie der 80/90er Jahre.“ In: Film Art. 01/ 1999, S. 17 ff. 39 Zitiert nach einem Kommentar Kirstens: der ambivalente Status betont sowohl die Aspekte des filmischen Bildes, die es den Bedingungen der Normalwahrnehmung ähnlich machen, als auch solche, die sich von ihnen fundamental unterscheiden. Siehe: Kirsten, Guido: In: montage AV. 18/1/2009, S. 151.

80 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

tiert Kirsten die Ambivalenzen des Wirklichkeitseffekts im Film: Auf der einen Seite versuchen Filme mit realistischen Tendenzen womöglich einen Wirklichkeitseffekt zu erzielen, auf der anderen Seite wollen sie sich gleichzeitig als Artefakt darstellen und dürfen dem Realen auch nicht genau gleichen. „Das kann darauf hindeuten, dass die beschriebenen Momente auch irritieren oder langweilen können und den Zuschauer auf den Film als Artefakt aufmerksam werden lassen.“40 Obwohl Kirsten auch festlegt, dass der Wirklichkeitseffekt dadurch erreicht werden kann, dass nicht nur die „dramaturgische Desintegration“ 41 , sondern auch das „ostentative semantische Mittel (Überschuss)“42 (damit wird ein Effekt in Bezug auf die Form erzeugt) eingesetzt wird, betont er außerdem, dass er seine Arbeit bewusst auf die narrative Ebene beschränkt und die Elemente der Mise-en-scène ausklammert.43 Inspiriert von seinen Überlegungen versuche ich neben der Narration weitere Filmverfahren in Bezug auf den Wirklichkeitseffekt aufzudecken, die sich ebenfalls im Film bemerkbar machen. „Die ‚Wirklichkeitseffekte‘ in Form oder als Folge von dramaturgisch funktionslosen Details können gerade aufgrund ihrer Funktionslosigkeit auf sich aufmerksam machen und so einer ästhetischen Immersionswirkung eher entgegenwirken“ 44 , so behauptet Kirsten. Interessant ist, dass solche formalen Methoden, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder die Einfühlung des Zuschauers behindern, eigentlich die andere wichtige Theorie in meiner Arbeit betreffen – die Verfremdung.

4.3

V ERFREMDUNG

4.3.1

Verfremdung als Verfahren

In diesem Teil wird das zweite ästhetische Merkmal der Filme beider Schulen erörtert: die Verfremdung. Dieser Begriff betrifft hauptsächlich zwei Theorien: das Ostranenie-Konzept (Verfremdung) von Viktor Sklovskij, der zu den Anhängern des russischen Formalismus der zwanziger Jahre zählt, sowie die berühmte Theatertheorie Brechts, also das Konzept des V-Effekt. Ersteres wird von

40 Ebenda. 41 Ebenda, S. 152. 42 Ebenda. 43 Vgl. ebenda, S. 156. 44 Ebenda, S. 151.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 81

Viktor Sklovskij in seinem 1929 erschienenen Aufsatz Kunst als Verfahren45 geprägt, welcher allerdings erst 1969 ins Deutsche übersetzt wurde. Das zweite Konzept erschien erstmals in Brechts Schrift Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst (1937)46. Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Konzepten gibt, klärt Simon Spiegel: Brecht komme zwar mit dem Verfremdungskonzept Sklovskijs in Berührung, ein direkter Einfluss Sklovskijs auf Brecht ist aber nicht nachweisbar.47 Tatsächlich hatten sie eine kurze Begegnung in Moskau,48 und auch Frank Kessler verweist in seinem in der Zeitschrift montageAV(5/2/1996) veröffentlichten Aufsatz Ostranenie: Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus auf Sklovskijs Einfluss auf Brecht. Zugleich bieten seine weiteren Untersuchungen Folgendes dazu an: „Die genaue Beziehung zwischen den beiden Verfremdungsbegriffen ist offenbar nicht so ganz einfach zu bestimmen. Es kursiert die Annahme, dass Brecht dieses Konzept erst nach seinem Aufenthalt in der UdSSR 1935 in seine theatertheoretischen Überlegungen eingebaut hat, wobei Sergeij Tretjakov als Vermittler auftrat und vielleicht sogar Brecht diese deutsche Übersetzung vorgeschlagen hat. 49 Renate Lachmann äußert allerdings einige Skepsis, was diese Genealogie des Begriffs angeht, und stellt fest, dass im Russischen die Brecht’sche Verfremdung mit ocuzdenie übersetzt wird, ein Term, der dem philosophischen Konzept der Entfremdung (ocuzdenie) nahesteht.“50

45 Sklovskij, Viktor [1916]: Kunst als Verfahren. In: Fritz, Mierau [Hrsg.] [1987]: Die Erweckung des Wortes. Essay der russischen formalen Schule. Leipzig: Reclam. 46 Brecht, Bertolt [1937]: „Verfremdungseffekte in der Chinesischen Schauspiel kunst.“ In: Hecht, Werner/ Knopf, Jan u.a. [1993]: Bertolt Brecht Werke. Band 22. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 200. 47 Vgl. Spiegel, Simon [2007]: Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren, S. 201 ff. 48 Müller, Klaus-Detlef [2009]: Bertolt Brecht: Epoche, Werk, Wirkung. München: Beck, S. 121. 49 Vgl. hierzu die Ausführungen von Alexander Schmidt [1988]: „Viktor Sklowskij. Eine Montage aus Leben und Werk.“ In: Paffenholz, Alfred [Hrsg.]: Spurensicherung. 1. Kunsttheoretische Nachforschungen über Max Raphael, Raoul Hausmann, Sergej Eisenstein, Viktor Sklowskij. Hamburg: Junius. S.111-152. Zitiert nach: Kessler, Frank [1996]: „Ostranenie: Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus.“ In: Montage/AV 5/2/1996, S.52. 50 Kessler, Frank [1996]: S. 52.

82 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Trotz eines unklaren Verweisungszusammenhangs kann man aber doch feststellen, dass die Essenzen beider Theorien korrespondieren: Sklovskij hat erstmals den Begriff eingeführt und ihn als ein Unterscheidungskriterium zwischen Kunst und Nicht-Kunst gesehen. „Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.“51 So soll sie als ein spezifisch stilistisches Mittel und zugleich als ein allgemeines Gesetz gesehen werden, um echte Kunst zu schaffen. Seiner Meinung nach kann die Verfremdung beim Kunstschaffen dadurch realisiert werden, dass hauptsächlich gewisse spezifische formale Mittel, aber daneben auch beispielsweise eine ungewohnte Erzählstrategie eingesetzt werden. „Unsere Wahrnehmung dieses Gegenstandes ist eine ‚automatisierte‘, Aufgabe der Kunst hingegen ist es, uns die Dinge wieder wirklich sehen zu lassen und dazu muss sie sie fremd machen“.52 Zentral verwendet Sklovskij die Verfremdung zur Analyse der Literatur Anfang der 20er Jahre im 20. Jahrhundert und konzentriert sich vorwiegend auf die Erzählstrategie. Die Komplizierung der Form sowie die Verfremdung der Dinge spielen die zentrale Rolle in Sklovskijs Theorie, was als eine ästhetische Theoriegrundlage auch wichtig für die Filmanalyse in der vorliegenden Arbeit ist. Deswegen wird versucht, im 5. Kapitel auf der zeitlichen und räumlichen Ebene zu ermitteln, wie die Regisseure die Form der Werke erschweren und ihre Dauer verlängern. Auf der Basis des Verfremdungskonzepts Sklovskijs, das anhand der „Hinderung und Verzögerung als allgemeines Gesetz der Kunst“53 betrachtet wird, konzentriert sich Brechts Definition von Verfremdung auf das epische Theater und die Schauspielerei sowie den Einfluss der Verfremdung auf den Rezeptionsprozess, nämlich den Verfremdungseffekt (V-Effekt). Nach Brecht verhindert der Verfremdungseffekt die aus der aristotelischen Dramatik stammende Einfühlung des Publikums und entautomatisiert die geläufige Wahrnehmung der Zuschauer. Brecht lehnt das traditionelle Drama von Aristoteles ab und befürwortet die anti-dramatische Erzählung. Deswegen nennt er sein Theater episch, um es vom dramatischen Theater zu unterschieden. In Bezug auf die Konstruktion des Dramas auf der Bühne setzt Brecht verschiedene Verfremdungsmittel, wie locker

51 Sklovskij, Viktor [1984]: Theorie der Prosa. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 13. 52 Kessler, Frank [1996]: S. 53. 53 Sklovskij, Viktor [1916]: „Kunst als Verfahren.“ In: Fritz, Mierau [Hrsg.] [1987]: S. 31.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 83

aneinander gereihte Szenen oder Bilder, den Prolog, Epilog oder Zwischenspielen usw. ein. Das erinnert an den zurückgenommenen Erzählstil beider Schulen (insbesondere der Neuen Berliner Schule). Vielleicht spielt die Innovation Brechts im Theaterdrama dabei eine wichtige Rolle bei der Entwicklung. Unter anderem prägt Brecht den Verfremdungseffekt im Rahmen der Spielweise. In seiner Schrift Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst (1937) weist er zuerst auf die Anwendung des Verfremdungseffekts in der alten chinesischen Schauspielkunst hin.54 „Das Sich-selber-Zusehen55 des Artisten, ein künstlicher und kunstvoller Akt der Selbstentfremdung, verhindert die vollständige, d.h. die bis zur Selbstaufgabe gehende Einfühlung des Zuschauers und schafft eine großartige Distanz zu den Vorgängen. Auf die Einfühlung des Zuschauers wird trotzdem nicht verzichtet. Der Zuschauer fühlt sich in den Schauspieler als in einen Betrachtenden ein: so wird seine betrachtende, zuschauende Haltung kultiviert.“

56

Davon ausgehend verwendet er den Begriff in seiner Theorie des epischen Theaters. Beim V-Effekt „identifiziert sich der Schauspieler hingegen nicht mit seiner Rolle und verhindert somit die Identifikation des Zuschauers mit seinem Rollen-Ich. Er zitiert seinen Text und zugleich seine eigene Verhaltensgestik in der dramatischen Aktion, nimmt in seinem Spiel Stellung zu den gezeigten Vorgängen und lädt den Zuschauer zu deren kritischer Beurteilung ein.“57 Und nur die Verfremdung kann die Aufgabe der emotionalen Ansteckung erfüllen. Außerdem soll der V-Effekt seiner Meinung nach beim epischen Theater „nicht

54 Vgl. Brecht, Bertolt [1937]: „Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst.“ In: Hecht, Werner/ Knopf, Jan u.a. [1993]: S. 200. 55 Der Begriff wurde von Brecht in dem Text Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst über die Schauspielweise des chinesischen Artisten geprägt. Nach Brecht spielt der chinesische Artist durch das Sich-selber-Zusehen so, als existiere keine vierte Wand, die zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer steht. Dadurch kann die Einfühlung des Zuschauers wirksam vermieden werden. Der Artist kann das Sich-selber-Zusehen realisieren, indem er die Mimik von der Gestik trennt. „Der Artist hat sein Gesicht als jenes leere Blatt verwendet, das durch den Gestus des Körpers beschrieben werden kann“ (Brecht, Bertolt [1937]: S. 201.). 56 Ebenda, S. 202. 57 Müller, Klaus-Detlef [2009]: S. 122.

84 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

nur durch das Schauspiel, sondern auch durch die Musik (Chöre, Lieder) und die Dekoration (Zeigetafeln, Filme usw.) erzeugt werden“.58 Es wird deutlich, dass die Verfremdung sowohl von Sklovskij als auch von Brecht als Verfahren angesehen wird, durch das innerhalb eines Kunstwerkes alles anders zu sehen ist als in der Realität. Allerdings soll zugleich bemerkt werden, dass Sklovskij und Brecht die Verfremdung stets in der Literatur und dem Theater erforschen. Was die Verfremdung im Film angeht, so soll vor der entsprechenden Analyse zunächst auf den Neoformalismus eingegangen werden. 4.3.2

Film als Kunst: der neoformalistische Ansatz

Der auf dem russischen Formalismus der zwanziger Jahre und der kognitivistischen Wahrnehmungstheorie basierende Neoformalismus befasst sich mit bestimmten Regeln, nach denen ein Film aufgebaut wird und nach denen der Zuschauer den Film verstehen soll. Anstatt eine mögliche Theorie oder Methode, mittels deren der Film analysiert wird, zu untersuchen, ist beim Neoformalismus der Film als Forschungsgegenstand auf sich selbst gestellt.59 Wie schon der russische Formalismus, nach dem die Verfremdung einem Werk überhaupt erst ermöglicht, zur Kunst zu werden, hält auch Thompson die Verfremdung für ein wichtiges Verfahren im Film. Der Film wird insofern zur Kunst, als „er sich durch das künstlerische Verfahren der Verfremdung von der Alltageserfahrung abhebt, und zwar sowohl von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung als auch von nichtkünstlerischen Filmen wie dokumentarischen Berichten und Lehrfilmen.“60 Wie die Realität61 soll auch die Verfremdung hier auf zwei Ebenen betrachtet werden: Auf der ontologischen Ebene (im weitesten Sinne) reißt der Film mittels der Aufnahmetechniken die Beziehung zwischen Auge und Außenwelt raumzeitlich auseinander und verändert den Eindruck von Wirklichkeit. Auf der ästhetischen Ebene (im engeren Sinne) werden die bereits etablierten filmischen Wahrnehmungsgewohnheiten durch die verschiedenen Filmverfahren unterbrochen. In dieser Arbeit setze ich mich vorwiegend mit der Verfremdung auf der zweiten Ebene auseinander.

58 Brecht, Bertolt [1937]: S. 207. 59 Vgl. Thompson, Kristin [1995]: „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ In: montage AV. 4/1/1995, S. 23-27. 60 Vgl. Hesse, Christoph [2006]: Filmform und Fetisch. Bielefeld: Aisthesis, S. 77. 61 Siehe diese Dissertation Kap. 4. 2. 2

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 85

Wie bekannt ist, stellen die Formalisten die Funktion der Form über die des Inhalts. Im Filmbereich gibt es ebenfalls Debatten über das Verhältnis von Form und Inhalt: aus seinem Blickwinkel – dem der äußeren Wirklichkeit – hält Kracauer den Film lediglich für materiell62; Béla Balázs hat sogar gesagt: „Ein guter Film hat überhaupt keinen Inhalt“63. Die Ansicht Arnheims ist relativ eklektisch, ihm zufolge ist die Perspektive entscheidend: „man kann dieselbe Sache einmal Form, einmal Inhalt nennen, je nachdem von wo aus man sie betrachtet“.64 Eine der wichtigsten Aufgaben der Neoformalisten ist die Erforschung der formalen Struktur des Films. Dabei spielt die Verfremdung eine wichtige Rolle: „Dank der Begriffe der Verfremdung und der Automatisierung ist der Neoformalismus in der Lage, ein zentrales Problem der meisten ästhetischen Theorien auszuschalten: die Trennung von Form und Inhalt. Bedeutung ist nicht das Endresultat eines Kunstwerks, sondern eine seiner formalen Komponenten.“65 Deswegen wird die Verfremdung in der vorliegenden Arbeit auch auf der formalen Ebene erörtert. Die formale Verfremdung äußert sich in dem räumlichen und zeitlichen Aspekt, durch die verschiedenen Filmverfahren werden die räumliche Distanz sowie die zeitliche Empfindung des Zuschauers verändert. Zugleich kann der Zuschauer der Automatisierung entkommen und das Werk erneut wahrnehmen.

4.4

D IE E INBINDUNG VON W IRKLICHKEIT UND V ERFREMDUNG

„Traditionally, critics have linked realism to ‚lift‘, formalism with ‚pattern‘. Realism is defined as an absence of style, whereas style is a preeminent concern among formalist. Realists reject artifice to portray the material world ‚transparently‘, without distortion or even mediation. Conversely, formalists are concerned with fantasy materials or throwaway subject matter to emphasize the word of the imagination, of beauty for its own sake.“66

62 Kracauer, Siegfried [2009]: S. 11. 63 Balázs, Béla [2001]: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 27. 64 Rudolf Arnheim [1974]: Film als Kunst. München: Hanser Verlag, S. 159. 65 Thompson, Kristin: In: montage AV. 4/1/1995, S. 32. 66 Giannetti, Louis [81999]: Understanding Movies. Upper Saddle River, NJ u.a.: Prentice Hall, S. 337.

86 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Realismus und Formalismus sind seit jeher zwei unterschiedliche Theorieansätze, die jeweils unterschiedliche, teilweise sogar gegensätzliche Ansichten vertreten. Allerdings bieten die Verfremdung und der Wirklichkeitseffekt (Vgl. Kap. 4.2.3) tatsächlich einen Berührungspunkt beider widersprüchlicher Richtungen an. Wie gesagt, bezieht sich der Wirklichkeitseffekt auf die Realität der Details. Um das Gewöhnliche hervorzuheben, bemüht sich die Filmkamera, so Kracauer, vertraute Gegenstände aufzulösen und vorher unsichtbare Wechselbeziehungen zwischen ihren Teilen zum Vorschein zu bringen.67 Das ist der wesentliche Prozess der Verfremdung. Auch einige von Bazins Konzeptionen haben eine verfremdende Wirkung, z.B. durchbrechen Plansequenz oder lange Einstellungen die Wahrnehmungsgewohnheit der Zuschauer. Diese Diskurse können der Kategorie Form zugeordnet werden, denn die Bedeutung muss sich in der Form realisieren. Obwohl ihre Betrachtungen teilweise sehr einseitig sind, kann man den Formalisten also in diesem Punkt Recht geben. Mittels verschiedener formaler Verfahren kann man Verfremdung erreichen, die gleichzeitig dem Wirklichkeitseffekt dient. Außerdem weist die Ambivalenz des Wirklichkeitseffektes auf einen paradoxen Zusammenhang zwischen der Realität und dem Verfremdungseffekt hin. Einerseits wird der Wirklichkeitseffekt als Signifikant des realistischen Charakters der Diegese angesehen, andererseits nehmen die Zuschauer den Film wegen des Überschusses als unvertrautes Artefakt wahr. Somit repräsentieren realistische Filme nicht nur die Realität in der Gesellschaft, sondern zeigen sich zugleich als Kunstwerk. Dieses interessante Phänomen, das sowohl als wirklich als auch als verfremdend empfunden wird, schlägt sich offensichtlich in den Werken der beiden Strömungen nieder. In ihren Filmen werden stets gewöhnliche Geschichten erzählt, gleichzeitig werden sie aber auf ungewöhnliche Weise gezeigt, sodass sie nur nach einigem Nachdenken vielleicht erneut wiedererkannt werden können. Dank der Verfremdung kann die verborgene Realität wieder auf sich aufmerksam machen. Verfremdung und Wirklichkeit sind demzufolge nicht widersprüchlich, sondern stehen miteinander in Wechselwirkung.

67 Vgl. Kracauer, Siegfried [2009]: S. 87.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

4.5

| 87

D IE ÄSTHETIK DER L EERE . E IN V ERGLEICH AUS KUNSTGESCHICHTLICHER P ERSPEKTIVE

In diesem Teil wird zunächst auf den kunstgeschichtlichen Hintergrund der Leerstellenkonzeption eingegangen, um dann deren Rolle im Filmbereich zu erörtern. Dazu werden vor allem die traditionellen chinesischen Kunstkonzeptionen mit den westlichen verglichen. Diese beiden spielen als ästhetische Basis eine wichtige Rolle im Filmbereich. „Filmmakers often use paintings to shape or enrich the meaning of their works“68, betont auch Angela Dalle Vacche. So kommt nach der Filmkritikerin Chen Xiaowei auch die Ästhetik der traditionellen chinesischen Malerei, welche auch die Essenz der chinesischen Philosophie verkörpert, unausweichlich in den Filmen vor. „Die chinesische Malerei bietet dem chinesischen Film nicht nur die ästhetische Nahrung, sondern sie beeinflusst auch die visuelle Darstellung des chinesischen Films.“69 4.5.1

Die Bedeutung der Leere in der chinesischen Malerei

In der chinesischen Malerei ist die Leere, insbesondere bei der Wasser-Berg-Malerei, die aus der Südlichen und Nördlichen Dynastie stammt, von großer Bedeutung. Die Leere weist mal auf den Fluss, mal auf den Berg oder mal auf den Kosmos hin. „Den europäischen Betrachter überrascht am chinesischen und allgemein am fernöstlichen Bild, wie sparsam der Maler mit seinem Material umgeht. Zahlreiche, manchmal recht bedeutende Teile der Bildfläche, der Himmel oder ein neutraler Hintergrund, bleiben leer.“70 Solches Konzept soll auf die traditionelle chinesische Weltanschauung zurückgehen: Da der Kosmos oder die Welt in der traditionellen daoistischen Vorstellung mystisch und unergründlich ist, man aber zugleich bestrebt ist, sie zu erkennen, könnte die Leere die optimale Ausdrucksform sein, um das potentielle Ganze darzustellen. Den Kosmos oder die Welt zu erkennen, ist nach Wolfgang Kubin eigentlich die Frage nach dem Ur-

68 Delle Vacche, Angela [1996]: Cinema and Painting. How Art is used in Film. Austin: University of Texas Press, S. 1. 69 Chen, Xiaowei: „Filmische Transformation der Ästhetik und Ausdruckweise der traditionellen chinesischen Malerei (Zhongguo chuantong huihua meixue sixiang yu biaoxian xingshi de dianyinghua zhuanhuan).“ In: Film Art. 02/2006, S. 103-104. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 70 Miklós, Pál [1982]: Chinesische Malerei. Geschichte, Technik, Theorie. Köln, Wien: Böhlau Verlag, S. 203

88 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

anfänglichen. „Das Uranfängliche ist das Ungestaltete und Ungestaltbare. Es ist der Beginn und der Garant allen Lebens.“71 Und „seine ganze Erfassung hätte daher entweder in einem vollkommenen Schweigen oder in einer absoluten Leere stattzufinden gehabt.“72 Deswegen kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass der Ursprung der chinesischen Philosophie die Leere ist. In dem berühmten Werk Fischerdorf nach dem Herbstregen (Yuzhuang qiujitu, Ni Zan, Yuan Dynastie,Abb. 4-06) wird eine schöne Landschaft am See thematisiert. Indes ist im Bild gar kein See zu sehen. Im Vordergrund sind nur ein paar Äste auf einem Hügel und im Hintergrund einige Gipfel zu sehen. Im Mittelpunkt des Bildes liegt die Leere, die allerdings auf die spiegelnde Seeoberfläche anspielt. In der chinesischen Malerei steht die Leere über dem Konkreten und kann Fülle und noch mehr andeuten. Xu-Shi Xiangsheng (wörtlich: „die Interaktion zwischen Leere und Fülle“) ist ein wichtiges ästhetisches Kriterium der chinesischen traditionellen Malerei. Ihre dialektische Beziehung geht auf die chinesische Philosophie – den Daoismus – zurück. Im Daoismus gibt es eine dialektische Beziehung zwischen Monismus und Dualismus. Der mythische Gründer der daoistischen Lehre Laozi sagt, dass das Dao der Ursprung des Kosmos sei und die Welt eine unteilbare Einheit von Menschen und Natur darstelle. Allerdings birgt jede Einheit binäre Eigenschaften in sich. Das Bild des Yin-Yang-Symbols, das als das Zeichen des Daoismus schlechthin gilt, vermag diese Vorstellung zu verdeutlichen (Abb. 4-07). Der Ursprung der Welt besteht in der Einheit von Yin und Yang. Die chinesische Weltanschauung wird von dieser ursprünglichen Ansicht geprägt: Alles in diesem Kosmos entwickelt sich als binäres System, Yin und Yang, Berg und Wasser, Himmel und Erde. „Alles existiert paarweise, ein jedes steht in einer Beziehung zu einem anderen. Daher ist alle Realität eine Realität von Entsprechung“73, bestätigt auch Kubin. Zugleich existiert alles wieder in einer Einheit. Eine solche sowohl monistische als auch binäre Vorstellung spiegelt sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch im künstlerischen Bereich wider. Indes existiert die Leere keinesfalls auf Kosten der Fülle, „Es ist nun die augenscheinliche Reduktion auf das eine, welches die ästhetische Spannung eines chinesischen Kunstwerks ausmacht und das Interesse einer Leser- bzw. Zuhörer- oder Zuschauerschaft zu wecken

71 Kubin, Wolfgang: „Fragmente einer chinesischen Ästhetik der Leere.“ In: Elberfeld, Rolf/ Wohlfart, Günter [Hrsg.] [2001]: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrung zwischen Asien und Europa. Köln: edition chöra, S. 131. 72 Ebenda, S.133. 73 Ebenda, S. 131.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 89

versteht.“74 Das Gezeigte ist also immer nur ein Teil des Ganzen. Nur die Leere kann das Potential des Unendlichen vermitteln. Der wesentliche Unterschied zwischen der westlichen und der chinesischen Malerei liegt darin, dass die westliche Malerei eine Illusion verwirklicht, während die chinesische Malerei die Konstruktion eines Sinn-Bildes in den Blick fasst. Pál Miklós erklärt: „[…] Der große Traum der europäischen Malerei [war] die Verwirklichung einer Illusion: Das, was der Betrachter sah, sollte kein Bild, sondern ein Stück Wirklichkeit sein. In der klassischen westlichen Kultur (bis zum 19. Jahrhundert) strebte der Maler mit allen Mitteln danach, sein Bild zu einem Fenster, zu einem wunderbaren Zuschauerfenster werden zu lassen, durch das wir in eine wirkliche oder erträumte Welt blicken können. […] Auch die Rahmung des westlichen Tafelbildes verstärkt diese Fenster-Illusion. Die klassische westliche Malerei hält also generell an dem Bestreben fest, eine Illusion zu schaffen oder aufrechtzuerhalten.“75

Weiterhin stellt Miklós fest: „Ausgang allen künstlerischen Schaffens in China ist ein Betroffensein (gan 感), […] die Betroffenheit äußert sich in einem Empfinden, das nach der Gestalt eines zeit- und raumenthobenen Fragments verlangt. Dies ist das Sinn-Bild (yijing 意境, yixiang 意象) , welches den Menschen und die Welt, das Empfundene und das Wahrgenommene so zu bündeln sucht, dass es im Kern konkret und abstrakt zugleich ist und nur so viel gibt, als es nicht den 76

Zugang zu dem Unzugänglichen verstellt.“

Im Unterschied zur klassischen westlichen Malerei besitzen chinesische Bilder keinen Bilderrahmen, was die räumliche Vorstellung des Betrachters ausdehnt. Ein weiterer Unterschied liegt in der Plastizität und der Flächenhaftigkeit: Die westlichen Maler (speziell in der Zeit des Klassizismus) bemühen sich durch verschiedene Techniken und durch das Spiel mit Licht und Schatten eine Tiefenwirkung der Perspektive zu erschaffen. In diesem Bestreben äußert sich ein gewisser Realismus. Im Gegensatz dazu steht der Imagismus der chinesischen Malerei. Der Mangel an Perspektive lässt sie eher flächenhaft erscheinen, was aber nicht bedeutet, dass es bei chinesischer Malerei keine Perspektive gibt. In der

74 Ebenda, S. 133. 75 Miklós, Pál [1982]: S. 201 f. 76 Elberfeld, Rolf/Wohlfart, Günter [Hrsg.] [2001]: S. 135.

90 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

chinesischen nördlichen Song-Dynastie hebt Guo Xi, ein berühmter Landschaftsmaler und Kunsttheoretiker, in seinem Traktat Die erhabene Schönheit von Wald und Strom (Linquan gaozhi) die drei Grundsätze der Landschaftsmalerei hervor: Höhenferne, Tiefenferne und Weitenferne. Alle drei können nach seiner Ansicht eine multiple Perspektive auslösen.77 Die Höhenferne ist wesentlich in Bezug auf den Berg zu finden. Das heißt, der Berg soll Guo Xi zufolge so aussehen, als würde er von unten betrachtet, sodass er erhaben und groß wirkt. Heutzutage bezeichnet man diese Perspektive im Film als Untersicht. Tiefenferne bezieht sich auf die Tiefe des Raums, mit Guo Xis Worten: „man steht vor dem Berg und kann sich mit Hilfe seiner Tiefe seine Gewundenheit, nämlich seine Rückseite einbilden.“78 Die Weitenferne schafft eine Panoramaperspektive, wobei ihr Vorteil darin besteht, dass sie die angedeutete, zumeist in Südchina angesiedelte Landschaft im Bild darstellen kann. Das Bild Fischerdorf nach dem Herbstregen (Abb. 4-06) ist dafür das perfekte Beispiel. Diese drei Grundprinzipien werden in der chinesischen Malerei angewendet und bedürfen der Einbildungskraft des Betrachters. „Trotzdem bedeutet das aber nicht, dass dem chinesischen Bild die Raumanschauung fehlt, es besagt nur, dass die Raumanschauung nicht im Dienste der Illusion steht und somit nicht optisch wirksam wird.“79 Die Raumanschauung des chinesischen Bildes erfüllt vielmehr eine künstlerische Funktion. Durch das implizite Verfahren kommen beispielsweise Suggestionen oder Assoziationen viel stärker zur Geltung. Bereits wenige monochrome Pinselstriche können die Essenz der Gestaltung sein. „Die klassische chinesische Malerei zielte also nicht auf realistische Darstellung im westlichen Sinn. Außerdem erzeugte sie Universalität eher durch Abstraktion als durch archetypische Formen. Ein effektives Mittel, dies zu erreichen, war die Reduktion der Konkretheit des Bildes.“80 Spuren dieser ursprünglich fernöstlichen Ausdrucksmethode findet man interessanterweise auch in den Werken der Neuen Berliner Schule. Die impliziten und zurückgenommenen Filmverfahren verstärken die künstlerische Wirkung der

77 Yuan, Sitao [2007]: Guo Xi spricht über die erhabene Schönheit von Wald und Strom. Drei Arten der ‘Ferne’ in der traditionellen Berg-Wasser-Malerei (Guoxi lunzhu Lin quan gao zhi. Chuantong shanshuihua de sanyuan). URL: http://news.xinhuanet.com/ shuhua/2007-05/21/content_6128431.htm [27.01.2015] 78 Ebenda. 79 Miklós, Pál [1982]: S. 209. 80 Hao, Dazheng: „Über Malerei und Film. Die visuelle Tradition Chinas.“ In: Sierek, Karl/ Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 33.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 91

Leere. Letztendlich ist auch die Auslassung in der Narration, die ebenfalls in beiden Filmströmungen zu finden ist, eine Form der Ästhetik der Leere. 4.5.2

Leerstelle in der westlichen Malerei des 19. Jahrhunderts

Der Begriff der Leerstelle ist eigentlich schon in der Literaturwissenschaft erfolgreich eingeführt und dann vom Kunsthistoriker Wolfgang Kemp in die Kritik der Malerei des 19. Jahrhunderts übertragen worden.81 Lessing hat im Laokoon den Begriff fruchtbarer Augenblick angeführt, was bedeutet, dass die Malerei Platz für die ergänzende Aktivität des Betrachters lassen soll. „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt.“82 Denn die Malerei kann nicht jeden einzelnen Augenblick im Bild aufnehmen, sondern muss eine Auswahl treffen. Dieser fruchtbare Augenblick kann sogar noch mehr Informationen enthalten als der Höhepunkt der dargestellten Geschichte. Nach Lessing soll der Künstler den Ausdruck des Höhepunktes einer Handlung vermeiden, weil über ihm nichts weiter ist.83 Diese Ansicht steht auch der chinesischen Philosophie, die im vorigen Teil erwähnt wurde, nahe. Der Augenblick soll so fruchtbar sein, dass er das Vorausgegangene und das Folgende enthält. Denn alle Gegenstände existieren nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. „Sie dauern fort. […] Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“84 Das erinnert an das Zeitkonzept von Deleuze, auf welches ich in der Filmanalyse näher eingehen werde. Kemp hat das Bild „Der Tod des Marschall Ney“ (1868) von Léon Gérôme angeführt (Abb. 4-08), um die Funktion der Leerstelle (W. Iser) oder der Unbestimmtheitsstelle (R. Ingarden)85 zu verdeutlichen. In diesem Bild liegt ein toter Mann bäuchlings auf dem Boden. Im Hintergrund ist eine vorbeiziehende Gruppe

81 Vgl. Kemp, Wolfgang [1992]: „Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts.“ In: Kemp, Wolfgang [Hrsg.] [1992]: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S.307 ff. 82 Lessing, Gotthold Ephraim [1964]: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart: Reclam, S. 23. 83 Ebenda, S. 22 ff. 84 Lessing, Gotthold Ephraim [1964]: S. 114 f. 85 Kemp, Wolfgang [1992]: S. 313.

92 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

zu erkennen, wobei der letzte aus der Gruppe zu dem Toten zurückblickt. Als Leerstelle fungiert hier eine Mauer, die einen Großteil des Bildes ausfüllt. Auf ihr sind gewisse Spuren auszumachen, die auf ein Vorgeschehen verweisen: Durch die bereits einige Meter vom Tatort entfernten Soldaten sowie die Schussspuren an der Mauer kann der Rezipient die Vorgeschichte erahnen. Außerdem weist der zurückschauende Blick der schwarz Gekleideten auf einen Raum vor dem Bild hin. Nach Kemp hat Gérôme in diesem Bild somit drei Leerstellen verwendet: die Mauer, den Raum vor dem Bild und den Abstand zwischen den Uniformierten und dem toten Zivilisten. 86 Die Filmwissenschaftlerin Fabienne Liptay übernimmt den Begriff der Leerstellen in ihr wissenschaftliches Werk und erklärt, sie gälten „als die gedachten Scharniere der Darstellungsperspektiven und erweisen sich damit als Bedingungen der jeweiligen Anschließbarkeit der Textsegmente aneinander.“87 So verweisen die Leerstellen hier nicht nur auf einen nicht gezeigten Raum im Bild, sondern auch auf das nicht gezeigte Geschehen. Das gegenwärtig Gezeigte fungiert als Bezugspunkt, von dem aus sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft geschlossen werden kann. Das raum-zeitliche Vorfeld des dargestellten Geschehens ist zwar nicht sichtbar, aber entscheidend für die Handlung. Der Maler lässt die Narration des Bildes dadurch entstehen, dass er das räumliche Nebeneinander der Elemente in ein zeitliches Nacheinander verwandelt. „Geleitet durch das kompositorische Arrangement der Elemente, das die Richtung des Spurenlesens in weiten Teilen vorgibt, verwandelt der Betrachter das Bild in einen Vorgang, mitunter in eine Bilderzählung mit Vorund Nachgeschichte“88, stellt Liptay fest. In der Malerei dieses Zeitalters spielen viele bildliche Verweise auf die funktionale Leerstelle an; mal ist es die menschliche Abwesenheit im Bild, mal eine offene Tür oder einfach nur ein Schatten im Bild. Sie alle können als Leerstelle die Einbildungskraft der Betrachter anregen. Es veranlasst den Betrachter, die potentiellen Ereignisse außerhalb des Bildes (in-Off) mit diesen hinterlassenen Spuren im Bild (in-On) zu kombinieren. Allerdings handelt es nach Pál Miklós bei der chinesischen Malerei nicht um einen fruchtbaren Augenblick. Er stellt fest: „Das chinesische Bild hält nicht den ‚fruchtbaren Augenblick‘ fest, es nimmt die Zeit einfach nicht zur Kenntnis, selbst

86 Vgl. ebenda, S. 319 ff. 87 Ebenda, S. 315. 88 Liptay, Fabienne [2006]: „Leerstellen im Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung.“ In: Thomas Koebner u.a.[Hrsg.]: Bildtheorie und Film. München: Edition text+kritik, S. 119.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 93

bei der Darstellung der Bewegung nicht“. 89 Während die Leerstellen in der westlichen Malerei des 19. Jahrhunderts der Bilderzählung eine raum-zeitliche Kontinuität anbieten, wird die Leerkonzeption bei der chinesischen Wasser-Berg-Malerei eher verwendet, um eine unbeschreibbare Empfindung, den Geist oder das Sinn-Bild (Yijing) hervorzurufen.90 Trotzdem haben die chinesischen Wasser-Berg-Malerei und die westliche Malerei des 19. Jahrhunderts gewisse Gemeinsamkeiten: Die Leere ist aussagekräftiger als die Fülle und kann das Vorstellungsvermögen des Betrachters inspirieren. Nach Kemp ist die Leerstelle abhängig von den grundlegenden Verhältnissen zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem, Geschlossenem und Offenem.91 Interessanterweise entspricht eine solche Auffassung gerade dem dualistischen Konzept des Daoismus (vgl. Kap. 4.5.1). Nicht zuletzt kann die Leerstelle oder die Leere meines Erachtens auch als Mittel der Verfremdung gesehen werden, weil sie den Rezeptionsprozess des Betrachters erschwert. Aufgrund der Anwesenheit einer Leerstelle wird die direkte Vermittlung vom Bild zum Betrachter verlängert oder verhindert, wohingegen die Einbildungskraft des Betrachters angeregt werden kann. 4.5.3

Das Konzept der Leerstelle im Film

Leerstellen befinden sich tatsächlich in jedem Film, in dem Montage und Cadrage verwendet werden. Der Zuschauer gewöhnt sich daran, dass das, was nicht zu sehen ist, auch unwichtig ist. „Er darf sich zumeist darauf verlassen, dass ihm nichts vorenthalten wird, dass alles, was wichtig ist, irgendwann innerhalb des Bildes erscheint.“92 Der Zuschauer hat die Fähigkeit, die Bildausschnitte in seiner Vorstellung zu vervollständigen, obwohl er nur Teile des Ganzen wahrgenommen hat. Der Filmwissenschaftler Edward Branigan entwickelt eine ähnliche Auffassung im Rahmen der Filmnarration: Auf der Basis der literarischen Theorie über die Leerstelle, die von Meir Sternberg und Wolfgang Iser eingeführt worden ist, vertritt Branigan die Meinung, dass der Zuschauer die Fähigkeit besitzt, die im Text fehlenden Daten automatisch zu ergänzen.93

89 Miklós, Pál [1982]: S. 91 90 Vgl. Kap. 4.5.1 91 Vgl. Kemp, Wolfgang [1992]: S. 313 ff. 92 Liptay, Fabienne [2006]: S. 111. 93 Branigan, Edward [1992]: Narrative Comprehension and Film. London: Routledge. S. 16 und 223.

94 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Diese Datenergänzung geschieht beim Zuschauer unbewusst und beruht auf seiner alltäglichen Lebens- und Filmerfahrung. Das wahrnehmungspsychologische Verhalten, die vereinzelten Ausschnitte automatisch zu einer gesamten Geschichte zusammenzufügen, bezeichnet Ernst Hans Gombrich als „Etcetera-Prinzip“94, bei dem es um die Illusion geht, „dass wir, wenn wir einige Glieder einer Reihe wahrgenommen haben, annehmen, wir sähen die Ganze.“95 Diese ästhetische Norm gilt vorwiegend im klassischen Hollywood-Kino, in dem nur das Relevante gezeigt wird. Der Zuschauer soll das Gezeigte dann zu einer vollständigen Geschichte ergänzen. Auch hier ist die Rede vom Konzept der Kontinuität. Was den Begriff continuity in der Bedeutung einer „visuell ungebrochenen, filmisch kohärenten Erzählweise“ betrifft, so ist dieser in der Sprache der angelsächsischen Filmemacher etwa ab 1910 erstmalig aufgetreten.96 Als ein grundlegendes Prinzip des Films bezieht Kontinuität sich nicht nur auf den Handlungsverlauf, sondern auch auf die verschiedenen technischen Verfahren, die die raum-zeitliche Orientierung des Zuschauers bestimmen. Dabei spielt die Montage zweifellos eine entscheidende Rolle. Vom Anfang der Erfindung der Montage bis zum klassischen Hollywoodkino entwickelt sich die Montagetechnik zu einer festen Größe. Das heißt, alles dient vor allem dem Fluss des Films, damit Schnitte oder abrupte Sprünge in filmischen Raumanordnungen und Zeitverläufen möglichst unbemerkt bleiben. So ist es selbstverständlich, dass beim klassischen Hollywoodkino nahezu keine funktionslosen Informationen in der Einstellung erscheinen dürfen. „Für die Montagepraxis heißt das: alles, was nicht ‚nötig‘ ist, kann herausgeschnitten werden.“97 Die Erzählung ist so flüssig, dass sich der Zuschauer der Einschränkung des Blicks – des Weglassens funktionsloser Informationen – fast nicht bewusst ist. Im Gegensatz hierzu wird die Blickbegrenzung dem Zuschauer im künstlerischen Kino in den meisten Fällen bewusst gemacht. Noel Burch hat in seinem Artikel Nana, or the two kinds of space98 den Begriff „Offscreen“ geprägt und auch die dialektische filmische Form in Bezug auf den Offscreen- und Onscreen-Raum hervorgehoben. Der virtuelle Raum im Offscreen kann als räumli-

94 Gombrich, E. H. [6 2002]: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der Bildlichen Darstellung. Berlin: Phaidon Verlag, S. 184. 95 Ebenda, S. 184. 96 Beller, Hans [Hrsg.] [1999]: Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München: durchges. und erw. Aufl, S. 18. 97 Ebenda, S. 25 98 Burch, Noel [1981]: Theory of film practice. Princeton: Princeton Univ. Press, S. 17 ff.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 95

che Leerstelle gesehen werden, die die Potentialität des Raums dehnen kann. Liptay führt die Leerstellenkonzeption in den Bereich des Films ein und analysiert die Leerstelle im Film in den zwei Dimensionen räumlich und zeitlich. Die räumliche Leerstelle äußert sich in einer anwesenden Abwesenheit im Raum: Es ist also die Rede vom Raum außerhalb des Rahmens (Off-Screen), der durch Auftritte und Abgänge der Figuren ausgeformt werden kann.99 Außerdem hat Liptay beobachtet, dass durch eine Kamerabewegung das Wechselspiel zwischen dem Offscreen-Raum und dem Onscreen-Raum vollzogen werden kann.100 Im Film Ferien telefoniert die Darstellerin beispielsweise im Off, wodurch ein unsichtbarer Raum in der Vorstellung des Zuschauers hergestellt wird (Abb. 4-09, 4-10). Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei der zeitlichen Leerstelle um die filmische Leerstelle in ihrer zeitlichen Dauer.101 Die Dauer einer Einstellung, in der nichts passiert, veranlasst den Zuschauer zur Kontemplation. Dabei darf er nur zum Zeugen werden und nicht eingreifen; die bewegungslose Kamera reflektiert damit unsere Handlungsunfähigkeit.102 In den Werken der Neuen Berliner Schule und der chinesischen Sechsten Generation gibt es auch solche Leerstellen: In manchen Szenen zeigt uns die statische Kamera ein Bild ohne Menschen, also eine leere Einstellung, deren Hauptfunktion mentale bzw. emotionale Bezüge sind. Durch die leere Einstellung kann nicht nur eine Atmosphäre geschaffen, sondern dem Zuschauer auch ein Moment zum Nachdenken gegeben werden. Ein repräsentatives Beispiel sind die leeren Einstellungen bei Hou Hsiao-Hsien, deren Wirkung von dem taiwanischen Filmkritiker Meng Hongfeng als „ruhig, entfernt und leer“ zusammengefasst wird. 103 Hous leere Einstellungen beruhen hauptsächlich auf der Betonung der Umgebung, weil nach Zhu Zhenxian die Umgebung ein guter Träger der Stimmung ist.104 In den frühen chinesischen Filmen tauchen solche Leerstellen häufig auf, was hauptsächlich an der traditionellen

99

Vgl. Liptay, Fabienne [2006]: S. 113.

100 Vgl. ebenda, S. 113. 101 Ebenda, S. 121. 102 Ebenda. 103 Meng, Hongfeng: Der Stil von Hou Xiaoxian (Hou Xiaoxian fengge lun). In: Contemporary Cinema, 01/1993, S. 72. 104 Vgl. Zhu, Zhengxian: „Die Aussagekraft der filmischen Einstellung (dianying jingtou de biaoxianli).“ In: Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: Ästhetik des Films. Das Überholen der Vorstellung und des Gedanken (dianying meixue. Guannian yu siwei de chaoyue). Peking: China-Film Press, S. 337.

96 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Konzeption der chinesischen Kunst liegt. Weiterhin soll noch darauf hingewiesen werden, dass die zeitliche und die räumliche Leerstelle in den meisten Fällen verbunden genutzt werden. Wenn die Figuren in Arslans Film Ferien das Bild verlassen, während die Kamera still an ihrem Ort verharrt, ist das der Fall. Die leere Einstellung verweist nicht nur auf die räumliche Abwesenheit, sondern auch auf die ereignislose Leerstelle in der zeitlichen Dimension (vgl. Abb. 4-09, 4-10). Nun werden wir interessanterweise finden, dass mit der Leerstelle im Film auch eine Verfremdungsfunktion erfüllt werden kann, denn die Leerstelle hat nach Zhu Zhengxian in gewissem Maße mit der „gedehnten Erwartung zu tun, bei der die Leerstelle als Retardierungsmoment, ihre Füllung analog als verzögerte Pointe fungiert.“105 Wenn zum Beispiel die Erwartungen des Zuschauers an eine leere Einstellung nicht erfüllt werden, steigt ihre Neugierde auf die nächste Einstellung. Dies kann dann entweder eine Überraschung oder noch größere Erwartungen mit sich bringen, sodass sie die Vorstellung, die sich vorher in ihrem Bewusstsein etabliert hatte, wiederholt revidieren müssen, um sie der neuen diegetischen Situation anzupassen. Dadurch entsteht ein dynamischer Prozess bei dem ausgehend von Bekanntem eine Verfremdung herbeigeführt wird, welche wiederum aufgelöst wird, wodurch das Bekannte erneut erfahren wird.

4.6

M INIMALISMUS

„Die Filme zeichnen sich durch eine Ästhetik der Reduktion aus, durch visuelle Disziplin, Nüchternheit, Kühle, dabei überaus sorgfältige Beobachtung. Es sind oft lange Einstellungen, die ihren Figuren Raum geben, Aufmerksamkeit schärfen, wie von selbst für Spannung sorgen“106, so beschreibt Rüdiger Suchsland die Werke der Neuen Berliner Schule. Auch bei der Sechsten Generation gibt es weder prunkhafte Szenen noch eine fesselnde Dramaturgie. Der Grund dafür findet sich einerseits in der ästhetischen Konzeption, anderseits auch in den geringen Mitteln, die zur Verfügung stehen.107 Angesichts der Ästhetik der Reduktion in beiden Filmströmungen wird in diesem Teil der Minimalismus-Begriff erörtert. Der Minimalismus kann als Erbe der Jugendkultur der 60er Jahre gesehen werden, da er in den frühen 1960ern in den USA als Gegenbewegung zur gestischen Malerei des Abstrakten Expressionismus entstanden ist. Minimalismus

105 Ebenda, S. 127. 106 Suchsland, Rüdiger: In: Film-Dienst, 13/2005, S. 8. 107 Vgl. Yin, Hong [2007]: S. 169 ff.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 97

strebt nach Klarheit und einem einfachen und übersichtlichen Stil, weswegen er auch als ästhetische Ökonomie bezeichnet wird.108 Also „mit wenig Mitteln und dem geringsten, d.h. aufs ‚Notwendigste‘ beschränkten äußeren Aufwand, um aus Überzeugung mit Bedacht reduzierender Gestaltung individuelle Vielfalt in Zwischenräumen der Auseinandersetzung optimal anzuregen und zu fördern.“109 Aus dem Namen des Projekts „LEEREN. Wahrnehmbare Abwesenheit“ von Margarita Albrecht und Felicitas Franck110 kann auf die Bedeutung geschlossen werden: „In meinen Arbeiten geht es um ‚nichts‘, sie illustrieren im buchstäblichsten Sinn Leere und Abwesenheit von Inhalt“ 111 , sagt Larry Bell, ein US-amerikanischer Künstler des Minimalismus. Dies weist Parallelen zur chinesischen Malerei auf: Sowohl die Reduzierung der Farben auf Schwarz in der Tuschemalerei als auch die Konzeption der Leere in der Bildkomposition könnten als eine Variante des Minimalismus verstanden werden. Hieraus ist ersichtlich, dass dieselbe ästhetische Konzeption in unterschiedlichen Kulturen entstehen und sich jeweils in eigenen spezifischen Ausdrucksformen entwickeln kann. So gibt es auch in der westlichen Kunst Techniken, bei denen ausschließlich Schwarz als Gestaltungsmittel verwendet wird, z.B. im Holzschnitt. Die vielen Interieurs in den Werken der Neuen Berliner Schule erinnern uns ebenfalls an den Minimalismus (Abb. 4-11, 4-12). Angela Schanelec erklärt den uncharakterischen Raum in ihren Filmen folgendermaßen: „Ich finde, ein Raum ist erstmal einfach ein Raum und ich denke, der Begriff Neutralität ist wichtig, damit man die Figuren auch von ihrem sozialen Umfeld befreit.“112 In den 1980er Jahren findet der Begriff Minimalismus auf die Literatur Anwendung, „als im Dirty Realism neuere Short Stories als literarischer Minima-

108 Vgl. Schneegass, Christian: „Ästhetische Ökonomie – Situative Kreativität mit begrenzten Möglichkeiten.“ In: Schneegass, Christian [2001]: minimal – concept. Zeichenhafte Sprachen im Raum. Amsterdam: Verlag der Kunst, S. 271 ff. 109 Schneegass, Christian: „Ästhetische Ökonomie – Situative Kreativität mit begrenzten Möglichkeiten.“ In: Schneegass, Christian [2001]: S. 273. 110 Vgl. ebenda, S. 279. 111 Marzona, Daniel/Grosenick, Uta [Hrsg.] [2006]: Minimal Art. Hong Kong u.a.: Taschen, S. 38. 112 Seiber, Marcus [Hrsg.] [2006]: S. 407.

98 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

lismus bezeichnet wurden“113. Dabei ist die Ästhetik der Reduktion eigentlich schon in den Arbeiten von Wolfgang Iser in den 1970er Jahren erwähnt wurden. „In Texten [werden] Leerstellen und Unbestimmtheitsstellen als ausgesparte Anschlussmöglichkeiten für die Vorstellungskraft der Leser verstanden. Wenn also ‚less‘ zugleich ‚more‘ ist, so zielt das ‚less‘ eher auf formale Darstellungen, während das ‚more‘ die Wirkung auf den Zuschauer meint. […] In diesem Sinne ist ästhetischer Minimalismus immer auch intendierte Maximalisierung der möglichen ästhetischen Erfahrung, im Film wie in den anderen Künsten.“114

Diese dialektische Beziehung zwischen „less“ und „more“ ähnelt der binären Konzeption von „Leere“ und „Fülle“ der chinesischen Malerei. Trotz der unterschiedlichen Zeit und Kultur ist die ästhetische Essenz also identisch. In Bezug auf den Film bezeichnet David Bordwell jene Filme als minimalistisch, die außerhalb Hollywoods die Schönheit innerhalb eines Filmbilds präsentieren: Die Bilder werden meist von einer normalen Kamera eingefangen, befänden sich in einer „kontemplativen Ruhe“ (in einem kontemplativen Bild) und vermittelten somit den Eindruck eines Naturschauspiels.115 Jenseits des klassischen Hollywoodkinos, bei dem andere Standards des Erzählens, wie Suspense, Parallelmontage oder die Betonung einer Katharsis über die Musik auffallen, geht es den Filmemachern des Minimalismus darum, das Alltäglichste intensiv sichtbar und ästhetisch erfahrbar werden zu lassen.116 „‚Less is More‘, das heißt vor allem: das Allereinfachste in seiner bloßen Existenz zu würdigen und dabei/dazwischen das Lebendige darin nachklingen zu lassen. Es heißt: im vermeintlich Nebensächlichen das Wichtige, im Kleinen das Große, im Belanglosen das Bedeutsame zu entdecken und es, so es in andere Zusammenhänge gebracht ist, mit immer neuen Nuancen, in immer anderen Facetten glänzen zu lassen.“117

113 Grob, Norbert u.a.: „ ‚Less is More ‘ Das Minimalistische als ästhetisches Prinzip.“ In: Grob, Norbert u.a. [Hrsg.] [2009]: Kino des Minimalismus. Mainz: Bender Verlag, S. 14. 114 Ebenda. 115 Vgl. Bordwell, David [2001]: Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt am Main: Verl. Der Autoren, S. 194 ff. 116 Vgl. Grob, Norbert u.a. [Hrsg.] [2009]: S. 10. 117 Ebenda.

T HEORETISCHE G RUNDLAGE

| 99

Hier können auch Argumente für Bazins Konzeption der funktionslosen Details oder den Wirklichkeitseffekt von Guido Kirsten im Film gefunden werden. Wieder einmal wird die formale Verfremdung mit der Realität verbunden, sodass der formale Minimalismus auch als Verfahren der Verfremdung gesehen werden kann.

5

Ästhetische Filmanalyse

Unter Filmanalyse wird hier die ontologische Analyse der Filmästhetik im engeren Sinne verstanden. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf den filmischen Verfahren, die sowohl realistisch als auch verfremdend wirken können. Ursächlich dafür ist die besondere Umgangsweise des Regisseurs mit der räumlichen und zeitlichen Dimension.

5.1

R AUMKONZEPT

DER BEIDEN

F ILMSCHULEN

Im Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms1 wird der Raum in drei Ebenen unterteilt: die Ebene der Geschichte (Handlungsraum und Handlungsort), die des Diskurses und die der Wahrnehmung durch den Zuschauer. Die erste Ebene bezieht sich auf den sozialen und historischen Hintergrund, der in der Themenanalyse schon diskutiert wurde. Deswegen erfolgt hier die Analyse der beiden anderen Ebenen. Diese zwei Arten räumlicher Effekte werden meistens durch unterschiedliche Filmverfahren, wie beispielsweise Kamerabewegung, Kameraposition, Veränderung der Brennweite, Bildkomposition oder Mise-en-scène erreicht. Im Theorieteil wurde bereits festgestellt, dass die meisten Filme beider Schulen trotz der Betonung des realistischen Themas einen gewissen verfremdenden Effekt herbeiführen, was sich vor allem auf der formalen Ebene niederschlägt. So steht nun die Frage im Mittelpunkt, wie die verschiedenen filmischen Ausdrucksweisen in Bezug auf den Raum in den Filmen beider Schulen verwendet werden.

1

Vgl. Beil, Benjamin u.a.[2012]: Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms. München: Wilhelm Fink, S. 270 f.

102 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

5.1.1

Kameraposition: das Sehen und das Gesehen-Werden

In der Regel vertritt die Erzählperspektive im Film die Beobachterposition des Zuschauers. Nach feministischer Ansicht bedient der Film mittels Kamera den Voyeurismus des Zuschauers, weswegen die Beobachterperspektive des Zuschauers die entsprechende Kameraposition voraussetzt. Durch eine Veränderung der Kameraposition bzw. die spezifische Kamerabewegung kann man die Erzählung im Film erneut perspektivieren, wodurch dem Zuschauer bewusst gemacht wird, dass sich seine Beobachterperspektive ebenfalls verändert. Zugleich führt eine solche Veränderung auch zu einem Verfremdungseffekt oder einer Reflexion bezüglich der Raumkonzeption. 5.1.1.1 Die auf den Anderen verweisende Scham Sartre unterscheidet zwei Perspektiven: „Vom-Anderen-gesehen-werden“ und „Den Anderen-sehen“.2 Er definiert „den Anderen“ wie folgt: Der Andere werde nicht als die Abwesenheit eines Bewusstseins in Bezug auf den Körper, den ich sehe, definiert, sondern durch die Abwesenheit der Welt, die ich gerade innerhalb meiner Wahrnehmung dieser Welt wahrnehme. 3 Für die Verbindung meines Objekt-seins und des Subjekt-seins des Anderen vertritt er folgende Ansicht: „In der Enthüllung meines Objekt-seins für den Andern und durch sie muss ich die Anwesenheit seines Subjekt-seins erfassen können.“4 Allerdings kann „die Enthüllung sich nicht aus der Tatsache ergeben, dass mein Universum für den Objekt-Andern Objekt ist, […] ich [kann] nicht Objekt für ein Objekt sein: es bedarf einer radikalen Verwandlung des Andern, die ihn der Gegenständlichkeit entkommen ließe.“5 Hier spielt der Blick für die Anderen eine entscheidende Rolle. Aufgrund von Blicken wird einem bewusst, dass man für die Subjekt-Anderen als Objekt existiert. Zudem sei der Blick „wahrscheinlich“, das heißt, man kann in gewisser Weise die Existenz eines heimlichen Blickes spüren, der sich auf die Anwesenheit der Anderen bezieht. Hierdurch kann der Wechsel zwischen dem Objekt-sein und dem Subjekt-sein verwirklicht werden. Dementsprechend stellt

2

Vgl. Sartre, Jean-Paul [1943]: „Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie.“ In: König, Traugott [Hrsg.] [1991]: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 3. Reinbek: Rowohlt, S. 464.

3

Vgl. ebenda, S. 463.

4

Ebenda, S. 463 f.

5

Ebenda, S. 464.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 103

Sartre fest: „Wie der Andere für mich-als-Subjekt ein wahrscheinliches Objekt ist, kann ich mich nur für ein gewisses Subjekt als wahrscheinliches Objekt werdend entdecken.“6 Er führt weiter aus, dass der Blick des Anderen auf mich eigentlich auf mein Bewusstsein hindeutet: „Wahrnehmen ist nämlich anblicken, und einen Blick erfassen ist nicht ein Blick-Objekt in der Welt erfassen (außer, wenn dieser Blick nicht auf uns gerichtet ist), sondern Bewusstsein davon erlangen, angeblickt zu werden. Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.“7 Ich existiere nur „für mein unreflektiertes Bewusstsein“, ich kann mich sehen, wie Sartre sagt, „weil man mich sieht“. 8 Als Beispiel führt Sartre das Durchs-Schlüsselloch-Gucken an, um zu erklären, dass sich mein Gefühl der Scham auf den Blick des Anderen bezieht: „Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.“9 Im Film lässt sich das Verhältnis zwischen dem „Vom-Anderen-gesehen-Werden“ und dem „Den Anderen-sehen“ ebenfalls finden. Man kann beispielsweise mittels Kamerabewegung oder Veränderung der Kameraposition das räumliche Verhältnis zwischen den Darstellern oder den Darstellern und den Zuschauern rekonstruieren. Dabei wird eine neue Blickrichtung konstruiert und ein plötzliches Bewusstsein von sich selbst, nämlich dem Ego evoziert. Ein gutes Beispiel dafür findet sich in der letzten, mehr als zwei Minuten andauernden Einstellung des Films Xiao Wu. Der Dieb Xiaowu wird auf der Straße von einem Polizisten an einen Mast gefesselt, was großes Aufsehen erregt. Hier zeigt die Kamera in Nahaufnahme zuerst Xiaowu, wobei sie zu diesem Zeitpunkt die Position der Schaulustigen vertritt, die nicht im Bild zu sehen sind, sondern bei Xiaowu stehen und ihn beobachten, wie er schamvoll im Vordergrund des Bildes vor dem Mast hockt (Abb. 5-01). Im Hintergrund des Bildes sieht man andere Leute in der Ferne, die ebenfalls neugierige Blicke in Xiaowus Richtung werfen. Als Xiaowu aufsteht, sich aber vor Scham sofort wieder hinhockt, steigt die Kamera mit ihm und schwenkt um 180°, bis an die Stelle des Protagonisten Xiaowu, was bedeutet, dass die Kamera nun Xiaowus Perspektive einnimmt und die neugierigen, abgestumpften Umstehenden zeigt (Abb. 5-02). In dieser langen Einstellung ändert die Kamera ihren Blickwinkel, von dem der Schaulustigen

6

Ebenda.

7

Ebenda, S. 467.

8

Ebenda, S. 470.

9

Ebenda, S. 471.

104 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

direkt zu dem des Protagonisten. Auf einen Schlag wird die normalerweise ‚versteckte‘ Position des Zuschauers exponiert: Das Sehen wandelt sich zu einem Gesehenwerden, womit ein reflexives Verfremdungsgefühl hervorgerufen wird. Gleichzeitig wird dabei ein Bewusstsein von mir (der eigenen Person) im Sinne von Sartre hervorgerufen: „ich [habe] mit einem Schlag Bewusstsein von mir [...], insofern ich mir entgehe, [...] insofern ich meinen Grund außerhalb von mir habe.“10 Aufgrund der Kamerabewegung wird hier die Perspektive der Zuschauer verändert, wodurch der Blick des Anderen in ihr Bewusstsein kommt und damit ein Bewusstsein ihrer selbst hervorruft: „Das reflexive Bewusstsein hat direkt das Ich zum Objekt “11. Der Regisseur enthüllt Xiaowus Scham durch die Blicke der Anderen – ein Prozess, der in einem gewissen Sinn auch zum Verfremdungsverfahren zählt. Dadurch kommt dem Protagonisten seine Scham zu Bewusstsein. „Meine durch den Blick eines Andern hervorgerufene Erfahrung der Scham enthüllt mir das nichtsetzende Bewusstsein eines ich, das ich bin, die Existenz des Andern, die mich zu einem Objekt macht, das ich nicht erkennen kann, und die Erfahrung meiner Selbst als ein Für-Andere.“12 Denn vor dem 180°-Schwenk verbergen sich die Zuschauer hinter der Kamera und sind keineswegs setzendes Bewusstsein von sich selbst.13 Erst der Schwenk lässt sie ein solches gewinnen und reflektieren. Im vorliegenden Fall des 180°-Schwenks müssen zwei Verhältnisse berücksichtigt werden: Das eine ist das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und den Passanten. Das andere ist das Verhältnis zwischen der Kamera und den Rezipienten. Xiaowu fühlt sich durch die Blicke der Anderen als Objekt, wobei die Blicke von den Umstehenden und den Zuschauern gemeint sind. Seine Scham und sein peinliches Empfinden beziehen sich auf die Blicke der Schaulustigen, weil sie für Xiaowu anwesend sind. Gleichzeitig versetzt der 180°-Schwenk auch die neugierigen Umstehenden in eine unangenehme Situation, weil sie jetzt auch als Objekt des Sehens gegenüber dem Blick der Kamera entblößt werden. Die diegetische Welt des Films wird zu diesem Zeitpunkt aufgebrochen, weil durch die Kamera normale Passanten zu Schauspielern werden. Sie bemerken die Anwesenheit der Kamera und so kommt ihnen zu Bewusstsein, dass sie das Objekt sind,

10 Ebenda, S. 470. 11 Ebenda, S. 470. 12 Schumacher, Bernard N.: „Philosophie der Freiheit: Einführung in Das Sein und das Nichts.“ In: Schumacher, Bernard N. [Hrsg.] [2010]: Jean- Paul Sartre. Das Sein und das Nichts. München: Oldenbourg Akademieverlag, S. 15. 13 König, Traugott [Hrsg.] [1991]: S. 469.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 105

das die Kamera anblickt. „Ich kann mich nur meiner Freiheit schämen (ungemütlich), insofern sie mir entgeht und gegebenes Objekt wird.“14 Denn diese normalen Passanten auf der Straße werden als vorläufige Darsteller vor die Kamera gestellt und verlieren ihre Freiheit. Natürlich kann man den Blick der Kamera als Blick Xiaowus verstehen, aber egal ob es sich um den Blick der Kamera oder den des Protagonisten handelt, beide vertreten jetzt den Blick des Andern auf die Umstehenden. In diesem Fall verkörpern die Umstehenden das Sartre’sche „Für-Andere-Sein“. Interessanterweise sticht wegen des Schwenks eine aufeinanderfolgende Veränderung des Verhältnisses wie ein Dominoeffekt hervor: Die stilisierte Kamerabewegung ermöglicht, dass nicht nur die „Für-Andere-Existenz“ der Figuren in der Diegese präsentiert, sondern auch die Rolle der Kamera selbst und die der eigentlichen Zuschauer enthüllt wird. Eingangs steht die Kamera mit den Zuschauern an derselben Stelle, somit bemerken die Zuschauer die Existenz der Kamera nicht. Durch den Schwenk lässt der Regisseur den Rezipienten ihre Existenz gewahr werden. Allerdings beruht diese Art Existenz der Kamera auf dem „Als-Andere-Blick“, was bedeutet, dass unser Blick sich gleichzeitig in dieser Situation befinden musste, und dies deutet wiederum auf die Existenz der Zuschauer hin. Laut Sartre ist mein Ego nicht für mich, es existiert grundsätzlich für den Andern.15 Die Kamera porträtiert also in dieser Einstellung zuerst die peinliche Lage des Protagonisten Xiaowu, dreht sich dann um 180° und fokussiert somit die auf den enthüllten Xiaowu gerichteten Blicke der Passanten. Dieser Schwenk bringt gleichzeitig den Beziehungswandel zwischen der Kamera selbst und den echten Zuschauern zum Vorschein. Die Kamera lässt die anfangs mit ihr verbundenen Zuschauer stehen und stellt sich dann auf deren Gegenposition, was eine Distanz herstellt und zugleich zu einem Verfremdungseffekt führt. Man kann konstatieren, dass der Schwenk die Einfühlung der Zuschauer verhindert. Dem Filmkritiker Jason McGrath zufolge erzielt der Schwenk jedoch auch den Effekt des Realismus.16 Die Existenz der Kamera ist den Umstehenden bewusst: Ihre neugierigen Blicke, die sich sowohl auf die enthüllende Kamera als auch auf den gefesselten Xiaowu richten, werden vom Regisseur geschickt genutzt, um eine narrative Motivation in die filmische Diegese zu bringen. Man kann hier die Wirkung der Cinema Vérité spüren: Mittels des Eingriffs der Ka-

14 Ebenda, S. 471. 15 Vgl. ebenda, S. 470. 16 Vgl. McGrath, Jason [2007]: „the independent cinema of jia zhangke. From Postsocialist Realism to a Transnational Aesthetic.“ In: Zhang, Zhen [Hrsg.] [2007]: S. 83.

106 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

mera wird das Reagieren der Gefilmten (die anonymen Passanten in der wirklichen Welt) direkt präsentiert. Damit versucht der Regisseur eine Interaktion zwischen dem Filmemacher und den Gefilmten herbeizuführen und auf die dahinterliegende Wahrheit zu verweisen. Auf diese Weise führt der Regisseur einen dokumentarischen Realismus in den vorherigen fiktionalen Realismus ein. 17 Außerdem bewirken die instabile Handkamera sowie die low-budget-Ins– zenierung einen groben Realitätseffekt. Alle realistischen Charaktere, die in dieser Szene auftauchen, verweisen wieder auf den dokumentarfilmischen Realismus. Diesen spezifischen Realismus bezeichnet der Filmkritiker Jason McGrath als den „postsozialen kritischen Realismus“18, der nach seiner Aussage eigentlich vom Filmkritiker Chris Berry entlehnt wurde. „This aesthetic is postsocialist both in the sense of being the successor and a contrast to the previously dominant aesthetic of socialist realism and in the sense that it is a realism of the postsocialist condition.“ 19 Im Gegensatz zum sozialistischen Realismus in den Filmen der 50er- und 60er-Jahre thematisiert die neue filmische Generation bevorzugt psychologische Realität, die unter der alltäglichen Oberfläche versteckt ist, sowie den gesellschaftlichen Konflikt, den vorherige Regisseure nicht enthüllen wollten. „the postsocialist realist films of the 1990s are thus imbued with the faith that just going out into public with a camera and capturing the unvarnished street life found there serves to unmask ideology while documenting the realities20 of contemporary China.“ In diesem Zusammenhang ist die letzte Einstellung bemerkenswert: Auf der einen Seite unterwandert der Regisseur die vorher entstandene Illusion wiederholt und bringt dem Zuschauer seine Existenz zu Bewusstsein, womit die Einfühlung des Zuschauers so unterbrochen wird, dass er sich von der filmischen Diegese distanziert und ein verfremdendes Gefühl entsteht. Auf der anderen Seite vermitteln solche groben Bilder, instabile Kamerafahrten sowie der Eingriff der Kamera auch einen dokumentarischen Realismus. Deswegen übt diese Einstellung meines Erachtens eine dialektische Wirkung aus, sowohl verfremdend als auch real.

17 Vgl. ebenda, S. 95. 18 Ebenda, S. 83. 19 Ebenda. 20 Ebenda, S. 85.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 107

5.1.1.2 Ungewöhnliche Kameraposition: Wo steht der Zuschauer? Einstellungen wie in Xiao Wu tauchen auch in Schanelecs Film auf: In der Anfangsszene des Films Nachmittag ist eine Theaterprobe zu sehen. Es gibt in dieser 2 Minuten 10 Sekunden langen Einstellung keine Veränderung der Kamera, weswegen sich ihre spezifische Position bemerkbar macht: Die Kamera steht hinter der Bühne statt davor und ist den Zuschauerplätzen zugewandt (Abb. 5-03 und 5-04). Aus dieser Perspektive nimmt die Kamera einen Blickwinkel aus der Hinterbühne ein, von einer versteckten Stelle hinter der Kulisse, wo die Kamera steht und ruhig beobachtet, wie die Schauspielerin probt und was im Zuschauerraum passiert. Dieser Akt des Spähens erinnert Laura Mulvey an Voyeurismus: „Nicht zuletzt trägt der extreme Kontrast zwischen der Dunkelheit des Zuschauerraums (die auch die Zuschauer voneinander trennt) und der Helligkeit der wechselnden Licht- und Schattenmuster dazu bei, die Illusion voyeuristischer Distanziertheit zu befördern.“21 Daraus ergibt sich, dass der isolierte Raum des Zuschauers die Voraussetzung für Voyeurismus ist. Die hinter der Kulisse befindliche Kameraposition weist auf den dunklen Zuschauerraum hin und bietet einen sonst unberücksichtigten Blickwinkel an. Daher erfüllt sie „den ursprünglichen Wunsch nach lustvollem Betrachten“22. Vielleicht verwendet die Regisseurin die Theaterszene aufgrund ihrer Theaterherkunft, so z.B. auch im Film Marseille (2004). Allerdings spielt nach ihrer Meinung das Theater im Film Nachmittag keine Rolle. Bezüglich der ungewöhnlichen Kameraposition äußert sie: „Ich wollte, dass der Film mit dem Theater anfängt, mit der Person, die Theater spielt, und mit dem, was sie tut – und nicht mit dem Blick auf eine Bühne. Ich wollte die Person einfach nur bei ihrer Arbeit zeigen – und die Blickrichtung der Leute einnehmen, die Theater spielen und auf der Bühne stehen. Dann hatte dieses Theater, in dem wir gedreht haben, diese Merkwürdigkeit, dass es im Zuschauerraum Fenster gab. So wurde dieser Tageslichteindruck möglich. Ich fand es schön, dass das Nachmittagslicht so schon in dem Theaterraum eine Rolle spielen kann.“23

21 Mulvey, Laura [1973]: „Visuelle Lust und narratives Kino.“ In: Albersmeier, FranzJosef [Hrsg.] [5 2003]: Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Philipp Reclam jun, S. 394. 22 Ebenda, S. 394. 23 Knörer, Ekkehard: „Ich will den Personen näher sein: Gespräch mit Angela Schanelec.“ In: Tagzeitung. 13, Februar 2007.

108 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Die Regisseurin setzt hier eine ungewöhnliche Kameraposition ein, um den Blick des Zuschauers umzukehren. Das Wichtigste liegt nicht auf der Bühne, so die Regisseurin, sondern im Zustand oder dem Vorgehen, wie die Figuren arbeiten oder leben. Hier hat die Regisseurin durch eine ungewöhnliche Kameraposition einen Verfremdungseffekt erzielt, um mit der Beobachtungsgewohnheit zu brechen und einen neuen Aspekt zu bieten. Dieses Verfahren, den Rezeptionsprozess zu erschweren, führt zu zwei Konsequenzen: Einerseits kann man das Leben indes unter einem neuen Aspekt beobachten und damit unterschiedliche Wirklichkeiten des Lebens entdecken, andererseits wirkt der Film wegen des Verfahrens artifiziell. Das ist die Ambivalenz des Wirklichkeitseffekts, so Guido Kirsten, der auch von Albert Michotte van den Berck beeinflusst wird.24 Mittels Sklovisjs Konzeption lässt sich der artifizielle Charakter besser rechtfertigen. Daher taucht das interessante Phänomen auf, sowohl den Wirklichkeitseffekt zu erreichen, als auch wie ein Artefakt auszusehen oder dem wirklichen Leben nicht ganz zu gleichen, also sowohl wirklich als auch fremd zu wirken. Dafür gibt es meines Erachtens noch einen weiteren Grund: Die Theaterszene ist schon von Bedeutung, obwohl die Regisseurin selbst sagt, dass das Theater im Film keine Rolle spiele. In Bezug auf die visuelle Dimension bringt die Theaterszene als klassische Kunst eine mehr oder weniger künstlerische Stimmung in den Film. Der Begriff Theatralität taucht erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, mit welchem „insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten völlig neue Sichtweisen auf Fragen der Wahrnehmung der Körperlichkeit, der kulturellen und politischen Entwicklung im Zeichen neuer Medien sowie auf Interferenzen von Wissenschaft und Kunst in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht“ werden.25 „Eine weitere Bedeutungsdimension gewinnt ‚Theatralität‘ als ‚Paradigma‘ der Geistesund Sozialwissenschaften, welches deren ‚neues Selbstverständnis als Kulturwissenschaften bekräftigt‘ [...].Wenn man der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung zu Recht vorwerfen konnte, sie reduziere Kulturelles auf Artefakte, die den Sprung in die literarische, d.h. hochkulturelle Existenzform geschafft haben, so tendiert eine ‚Ästhetik des Performa-

24 Siehe die Erklärung des Begriffs in dieser Dissertation in Kapitel 4. 2. 3. 25 Barck, Karlheinz u.a. [Hrsg] [2000]: Ästhetische Grundbegriffe. [(ÄGB) Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6 Tanz- Zeitalter/ Epoche. Stuttgart u.a.: Metzler, S. 48.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 109

tiven‘ [...] dazu, alles zu ‚Kunst‘ zu machen und Wirklichkeit allein unter dem Aspekt ästhetischer Vermittlung zur Kenntnis zu nehmen.“26

Daher lässt sich verdeutlichen, dass die Inszenierung der Theatralität im Film mehr oder weniger die Ästhetisierung des Alltags in der filmischen Diegese, selbst des ganzen Werkes bekräftigt hat. Außerdem können Metz’ Ansichten zum Realitätseindruck im Kino dieses Phänomen verdeutlichen. Nach seiner Meinung könne das Theater auf keinen Fall einen so starken Realitätseindruck wie der Film hervorrufen, es sei die Realität des Materials: „Ihr [Theaterschauspieler] fleischliches Gewicht ‚widersetzt‘ sich der Versuchung, die die Zuschauer bei jeder Vorstellung empfinden, die Schauspieler als Protagonisten eines fiktiven Universums zu betrachten.“27 So erzeugt der Gegensatz – die Realität des Materials vom Theater und die Realitätswirkung vom Film – eine Doppelwirkung: Einerseits ruft ein solcher Konflikt den Verfremdungseffekt hervor, andererseits bringt die Überlagerung dieser zwei Arten bezüglich der Ausdruckweisen der Realität eine andere Realitätswirkung mit sich: eine Realität sowohl in Bezug auf die Diegese als auch auf die reale Welt. Nicht zuletzt schlägt sich Sartres Einfluss auch in dieser Szene nieder. Von diesem Film spricht Schanelec wie folgt: „Ich glaube, in unserer Gesellschaft entsteht der Mensch erst durch sein Gegenüber. Er entsteht im Spiegel des Anderen, und je nachdem, wer dieser Andere ist, wird er schön oder hässlich. Wir sind angewiesen auf diesen Anderen, wir hängen ab von seinem Blick, von seiner Hand.“28 Hier ist eigentlich ein Wechsel zwischen dem Sehen und dem Gesehenwerden gemeint, der Zuschauer entfernt sich vom „alten Ich“, steht auf der Bühne und blickt in den Zuschauerraum, dem er eigentlich angehört. Nun beobachtet er aus umgekehrter Perspektive das ehemalige „Ich“. Das „Für-Andere-Sein“ mitsamt dem „An-Sich-Sein“ und dem „Für-Sich-Sein“ ist in Sartres Existentialismus eine fundamentale Kategorie: „Ist der Eintritt des Anderen in mein Leben aber einmal gegeben, kommt eine neue Dimension meiner Existenz zum Vorschein, und es eröffnet sich ein Raum für ein völlig neues Netz

26 Fischer- Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. FfM 2004. Zitiert nach: Trebeß, Achim [Hrsg] [2006]: S. 384. 27 Metz, Christian [1972]: Semiologie des Films. München: Fink, S. 29. 28 Siehe Directors Statement. URL: http://www.peripherfilm.de/nachmittag/film.html [28.10.2014].

110 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

von Beziehungen.“29 Diese Einstellung dauert 2 Minuten 10 Sekunden ohne jegliche Kamerabewegung. Gerade wegen der langen Einstellung bleibt dem Zuschauer eine relativ lange Zeit, um einen Blick über die auf der Bühne probenden Schauspieler hinweg in den leeren Zuschauerraum zu werfen. Normalerweise sollte der Zuschauer in diesem Raum sitzen und von dort auf die Bühne schauen, aber hier bietet die Regisseurin dem Zuschauer eine umgekehrte Beobachterperspektive, damit kann der Zuschauer als ehemals Anderer das ehemalige Selbst beobachten. Gleichzeitig ist es auch ein Verfremdungsprozess: „Indem der Andere den dynamischen, relationalen Charakter des Für-sich-seins übernimmt – den Sartre als nichtende Flucht vor diesem partikularen An-sich und als eine Bewegung in Richtung auf das Ideal des An-sich- für-sich beschreibt –, objektiviert, entfremdet und fixiert er meine Flucht auf die Kategorie des An-sich, wenn auch von außen.“30 Daher ist die Verfremdung ein wirksames Mittel, um die Stelle des Objektes und des Anderen zu tauschen. Der Zuschauer nimmt die Stelle des Anderen ein und reflektiert über die Existenz des Objektes, obwohl es zu diesem Zeitpunkt abwesend ist. Denn die Wahrnehmung der Existenz der Anderen ist die Bedingung der Existenz des Subjekts. 5.1.2

Die Bühne im Film: eine Reflexion über den Raum

Vom letzten Teil ausgehend können wir behaupten, dass mittels der Bühne nicht nur ein neuer, anderer Aspekt angeboten wird, sondern dem Zuschauer der ungewöhnliche Blickwinkel auch zu Bewusstsein gebracht werden kann. (Dies bezieht sich auf die oben erwähnte Situation, in der die Kamera auf der Bühne gegenüber dem Schauplatz steht.) Das kommt daher, dass es zwei Ebenen des Geschehens vor der Kamera gibt: Eine ist ihr zugewandt, nämlich der Zuschauer im Film oder der leere Zuschauerplatz im Film. Die andere ist der Kamera abgewandt, und zwar das Spiel oder die Probe auf der Bühne. Hier steht nämlich immer irgendein Hindernis zwischen der Kamera und ihrem Gegenüber. Das unterscheidet sich vom Over-the-shoulder-shot, der dem Zuschauer hilft, die Orientierung und Beziehung im Schauplatz zu ermitteln. Diese Konstruktion der Blicke geht über die Funktion des Over-the-shoulder-shot hinaus und weist auf eine betont distanzierte Außenseite hin. Diese Stelle hilft dem Zuschauer, reflektierend zu beobachten.

29 Flynn, Thomas: „Die konkreten Beziehungen zu Anderen.“ In: Schumacher, Bernard N. [Hrsg.] [2010]: S. 177. 30 Ebenda, 178.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 111

Mittels der Bühne und der bühnenartigen Perspektive verwirklicht der Film die Funktion der Reflexion zwischen Realität und Fiktion. In Wenn das Kino über sich selbst staunt hält Stefan Reinecke fest, dass sich der Film im postmodernen Film als Artefakt zu erkennen gebe.31 Im Unterschied dazu erscheinen die Neue Berliner Schule und die Sechste Generation „raffgieriger“, denn anscheinend versuchten beide ständig, die zwei Effekte, nämlich die Realität und das pure Spiel, wie ein Artefakt gleichzeitig in ihren Filmen einzusetzen. Von den Anfängen mit Lumieres Filmen, die beanspruchen, die Wirklichkeit zeigen zu können, über die postmodernen Filme von Tarantino, die Reineck zufolge die Glaubwürdigkeit gegenüber der Authentizität der Bilder erschütterten,32 bis hin zur Neuen Berliner Schule oder der Sechsten Generation, die versuchen, einen Ausgleich dazwischen zu finden, erfüllt der Film stets eine Reflexionsfunktion. Die Bühne oder das Theater, selbst schon bühnenartige Perspektiven, samt der verwandelten Kameraposition durchbrechen die Illusion des Films und erzeugen eine Reflexion sowohl in Bezug auf den Zuschauer als auch auf den Film selbst. Dies ist auch in Jia Zhangkes Film Plattform (2000) der Fall. Dort wird die Geschichte einer Gruppe jüngerer Leute erzählt, die in den 80er Jahren in einer kleinen Künstlertruppe arbeiten. In der zweiten Einstellung des Intros sieht man eine Bühne, auf der ein Propagandastück aufgeführt wird. Durch diese Einstellung wird der Hintergrund der Geschichte vorgegeben, weitere Hinweise gibt z.B. auch der Gestus der Moderatorin, die dem heutigen Zuschauer komisch erscheint. In dieser Einstellung steht die Kamera hinter der Moderatorin auf der Bühne und filmt aus der Distanz das Panorama sowie die gegenüber sitzenden Zuschauer. Das führt dazu, dass von den unter der Bühne sitzenden Zuschauern nur die Köpfe in der Einstellung aufgenommen werden (Abb. 5-05). Die horizontale Randlinie der Bühne verläuft etwa auf Schulterhöhe der Zuschauer und trennt den Zuschauerraum vom Theaterraum ab. Die Rückenansicht der Moderatorin scheint größer im Vergleich zu den nur mit ihren Köpfen auftauchenden Zuschauern. Durch die Darstellungsweise deutet der Regisseur eine gewisse Ironie an. Ähnliche Einstellungen lassen sich auch in den Filmen der Berliner Schule nachweisen. Nach Ansicht von Brigitta Wagner repräsentieren derartige Einstellungen eine räumliche Position (hinter dem Protagonisten), wo Wissen und Kapazität des Zuschauers die des Protagonisten übertreffen. Dabei wird die Position eines

31 Vgl. Reinecke, Stefan: „Wenn das Kino über sich staunt.“ In: Karpf, Ernst u.a.[Hrsg] [1996]: Im Spiegelkabinett der Illusionen. Arnoldshainer Filmgespräche Band 13, S. 12 f. 32 Vgl. ebenda, S.13 ff.

112 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Beurteilers konstruiert. Wagner bezeichnet die Konstellation als „judgmental frame“: „The judgmental frame eschews alignment with the psychology of single character and ultimately invests the image with layered and dynamic possibilities for interpretation of character behavior“. 33 Ein Beispiel dafür bietet eine Einstellung aus dem Film Schläfer (Benjamin Heisenberg, 2005, Abb. 5-06). In der folgenden Einstellung im Film Plattform (an die Einstellung Abb. 5-05 anschließend) steht die Kamera wieder im Zuschauerraum und blickt auf die Bühne. Hier gibt es keinen Schwenk, die Kamera wirft einen statischen Blick über die Zuschauer hinweg zum Geschehen auf der Bühne. Wegen des kleinen Konfliktes zwischen den zwei Einstellungen fällt der Rezipient kurzzeitig in Verwirrung in Bezug auf den Orientierungspunkt, es entsteht eine Verwechslung des realen und fiktionalen Raums (Abb. 5-07). Die Theaterszenen – Auftritte und Proben inklusive – tauchen häufig in diesem Film auf, was vor allem daran liegt, dass der Film von einer kleinen Künstlertruppe in einer Kreisstadt handelt. Außerdem gibt es auf dieser Ebene eine Gemeinsamkeit mit Schanelec, die in ihren Filmen ebenfalls Theaterszenen bevorzugt, selbst wenn sie für die Handlung nicht notwendig sind. Dazu leisten die persönlichen Erlebnisse der beiden Filmemacher einen wesentlichen Beitrag. Aber gleichzeitig müssen wir auch feststellen, dass in Plattform die Verwendung der Theaterszene zwar etwas mit dem Erzählungsbedarf zu tun hat, der Film aber damit auch seine künstlerische Aura verdichtet. Schanelec geht in dieser Richtung sogar noch weiter. Nicht zuletzt hat das Verfahren, die Theaterszenen in den Erzählfluss zu integrieren, den filmischen Raum komplizierter gemacht. Damit wird der imaginäre Raum, auf den das Theater hindeutet, mit dem realen diegetischen Raum, wo sich die Figur im Film befindet, verbunden. So hat zum Beispiel die extrovertierte Tänzerin Zhongping für ihren Geliebten ihr Haar wellen lassen. Hier ist anzumerken, dass Haarwellen im damaligen China als radikal einzelgängerisch gelten. Dabei konstruiert der Regisseur durch zwei Szenen den filmischen Raum. In der ersten Szene kommt Zhongping zu spät zur Sitzung der Künstlertruppe. Bestraft von den neugierigen Blicken und dem Spott ihrer Kollegen ärgert sich Zhongping, ihr Leiter jedoch lobt sie für ihren Mut und ihre Originalität und sagt, dass sie mit einer solchen Frisur mehr wie eine spanische Frau aussehe, was aber nur schallendes Gelächter der anderen auslöst (Abb. 5-08). In der anschließenden Szene hat Zhongping allerdings eine Rose im Mund und probt in einem hellen roten Kleid

33 Vgl. Wagner, Brigitta [2013]: Framings. In: Cook, Roger F. u.a. [Hrsg.] [2013]: S. 144 ff.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 113

fröhlich Flamenco. Hier inszeniert der Regisseur auf humorvolle Weise eine Überraschung. Nur bei einem gesellschaftlichen Wandel kann sich der ferne Traum, der für die meisten illusionär ist, verwirklichen. Hier ist Flamenco als Traum im Realen angesiedelt (Abb. 5-09). Dafür gibt es ein noch radikaleres Beispiel, das sich in Jias Film Still Life finden lässt. In einer Restaurantszene setzt der Regisseur direkt drei Sichuanesische Operndarsteller an den Tisch, die Opernkostüme und Masken tragen (Abb. 5-28). Diese Szene dient nicht der Erzählung, der Regisseur will auch hier das Irreale in das Reale integrieren oder nur eine Ostentation 34 herstellen, wodurch ein Verfremdungseffekt hervorgerufen wird. In den oben aufgeführten Filmen haben Schanelec und Jia jeweils auf ihre eigene Weise das Sehen, das Gesehenwerden, die Reflexion sowie den imaginären und realen Raum konstruiert. Solche Vorgehensweisen sind bei Jia meistens durch die Narration bedingt, aber bei Schanelec scheinen sie in keiner notwendigen Beziehung zur Handlung zu stehen. Der Rezipient kann hier lediglich wissen, dass die Protagonistin eine Theaterschauspielerin ist. Es ist jedoch nicht sofort ersichtlich, ob es einen bestimmten Zusammenhang zwischen der Probenszene im Theater und der Filmhandlung gibt, da die formale visuelle und akustische Funktion im Vordergrund steht. Das erinnert an die stillen Bilder bei Ozu; Deleuze zufolge lasse das Alltagsleben nur schwache sensomotorische Bindungen zu und ersetze das Aktionsbild durch rein optische und akustische Bilder, durch Opto- und Sono-Zeichen.35 5.1.3

Theater im Film: von der Reflexion zur Integration

Während Angela Schanelec und Jia Zhangke mittels Theaterszene oder Kamerafahrt die Sichtwende verwirklichen und dabei auch eine Reflexionswirkung anregen, soll hier ein weiterer Regisseur der Sechsten Generation erwähnt werden: Zhang Yuan. In seinen frühen Werken wie East Palace, West Palace (Donggong, Xigong, 1996) und Jiang Jie (2002) hat Zhang sein Gespür für die Beziehung der chinesischen Oper zum Film unter Beweis gestellt. In East Palace, West Palace

34 Den Begriff habe ich von Guido Kirsten entlehnt, ich werde im Kap. 5. 1. 5. 1 konkret darauf eingehen. 35 Vgl. Deleuze, Gilles [1997]: Das Zeit- Bild. Kino 2. Übersetzt von Klaus Englert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 29.

114 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

ist die seufzende und Bitterkeit bergende Melodie der Kunqu-Oper 36 im Off immer wieder hörbar. Als Hintergrundmusik trägt sie dazu bei, dass in diesem Film die Identifikationsschwierigkeiten während der Geschlechtsumwandlung thematisiert werden. Es ist somit ein mutiger Film über Homosexualität, der für eine lange Zeit zensiert war. Insbesondere in den letzten Jahren hat Zhang Yuan die Modelloper Jiang Jie37, die ebenfalls die wirkliche Geschichte der revolutionären Phase adaptiert, fast direkt von der Bühne auf die Leinwand gebracht. So schreibt Bérénice Reynaud: „Zhang’s specific zeitgeist is his ability to make use of such tensions – which, throughout his work, is also translated as a contradiction between what critics have called a ‚realistic rendering of urban spaces‘ and a more theatrical/operatic form of Mise-en-scène.“38 Im Unterschied zum Film, der einen „realen“ diegetischen Raum hat, wird der Raum im Theater oder in der Oper eher abstrakt inszeniert. Insbesondere bei der traditionellen chinesischen Oper gibt es nur wenig Requisiten und Bühnenbilder, alles ist nur spärlich angedeutet. Die hintere Wand der Bühne ist mit einem reich dekorierten Vorhang geschmückt, auf der Bühne steht meistens nur ein Tisch mit zwei Stühlen. Die schematischen Bewegungen der Darsteller weisen auf vielfältige Informationen hin, weswegen solche Opern in höchstem Maße von der Vorstellungskraft der Zuschauer abhängig sind. Im Film East Palace, West Palace erzielt Zhang Yuan das Verfremdungsgefühl nicht dadurch, dass der Blickwinkel ungewöhnlich eingesetzt wird, sondern dadurch, dass er mit den Räumen auf verschiedener Ebene die räumliche Konzeption der Zuschauer verwirrt. Das drückt sich bei Zhang Yuan in diesem Film radikaler aus als bei Jia Zhangke und Angela Schanelec, weil der imaginäre Raum (durch den Flashback erreicht) in der

36 Kunqu wird zu den ältesten chinesischen Opern gezählt, sie stammt aus der Kun-Melodie, die eine der vier Melodien chinesischer Opern ist. Nach der Stellungnahme der Gelehrten ist sie nicht nur älter als die Peking-Oper, sondern auch wertvoller und geschmackvoller in Hinsicht auf Literatur, Ästhetik, Musik, Choreographie usw. 37 Die Modelloper Jiang Jie wurde 1976 unter der Kontrolle Jia Qings als Vorbild der Modellopern geschaffen. Darin gibt es Dialoge und Monologe, die sowohl zur traditionellen chinesischen Oper gehören als auch westliche musikalische Elemente beinhalten. Deswegen hat sie trotz der propagandistischen Absicht ihren eigenen Kunstwert. Der gleichnamige Film von Zhang Yuan wird zum Pekingopernfilm gerechnet.

Vgl.

URL:

http://yule.sohu.com/2004/04/26/90/article219959061.shtml

[28.10.2014] 38 Reynaud, Bérénice: „Zhang yuan’s imaginary cities and the Theatricalization of the Chinese ‚Bastards‘.“ In: Zhang, Zhen[Hrsg.] [2007]: S. 277.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 115

Schlüsselsequenz eine äquivalente Rolle wie der diegetische Raum spielt, sodass es den Zuschauern schwer fällt, sich in den Räumlichkeiten zu orientieren. A Lan wird wegen seiner Identität als Homosexueller vom Polizisten Xiao Shi verhaftet und auf die Polizeistelle gebracht. 39 Als A Lan den Polizisten seine sexuellen Begegnungen und seine schlimmen Erlebnisse aus der Kindheit und Pubertät erzählt, tauchen dabei immer wieder die Erinnerungsbilder von A Lan auf: Verlassene Gebäude, Fabriken und auch eine alte Mietskaserne versetzen die Zuschauer anscheinend in einen anderen Raum außerhalb der Diegese. Außer diesen Erinnerungsszenen, die als Rückblende A Lans Vergangenheit repräsentieren, gibt es noch weitere Szenen, die keine erzählerische Rolle spielen, das heißt, sie existieren nur als reine Aufführung. Solche Szenen erscheinen in vielen Fällen, wenn A Lan seine Empfindung ausdrückt: Als A Lan erzählt, dass er von seinem Leiter beleidigt wird, sieht man den jungen A Lan verzweifelt auf dem großen Balkon eines unfertigen Gebäudes stehen (Abb. 5-10). Hier könnte der Zuschauer zeitweilig in Verwirrung geraten und die reale Geschichte mit der erzählten Geschichte verwechseln und dabei auch den realen und den imaginären Raum. Hier kann A Lan als ein auf einer Bühne agierender Schauspieler gesehen werden, der seine eigene Geschichte spielt. Der Zuschauer kann aber nicht unterscheiden, welche die wirkliche Geschichte ist. In einer anderen Szene, als A Lan von einer weiteren sexuellen Begegnung erzählt, die von ihm als überaus schön und glücklich geschildert wird, taucht im Bild dagegen ein dreckiges Zimmer auf, in dem sich nur zerbrochene Flaschen und eine fleckige Badewanne befinden (Abb. 5-11 und 5-12). Mit Absicht präsentiert hier der Regisseur A Lans schöne Liebesgeschichte durch die widerlichen Bilder, um einen starken Kontrast hervorzurufen. Allerdings gibt sich der Regisseur noch nicht damit zufrieden, er stilisiert das weitergehend dadurch, dass er Ausschnitte aus der richtigen traditionellen Kunqu-Oper inszeniert. Als A Lan seine Vergangenheit erzählt, treten solche Kunqu-Szenen diskontinuierlich insgesamt vier Mal auf. Bei den ersten beiden Malen werden die Opernszenen abrupt inszeniert, ohne dass es vorher einen Hinweis auf der narrativen Ebene gibt: Mit einem direkten Cut beginnt die Opernszene, in der sich zwei Figuren in traditionellen Opernkostümen schminken. Einer verkleidet sich als Bewacher und der andere als Gefangener, wobei der Bewacher eine gefesselte Frau mit einer Lanze schlägt (Abb. 5-13). Anschließend lässt der Regisseur A Lan durch eine tiefe dunkle Gasse gehen (Abb. 5-14) und unmittelbar vor der Opernszene ankommen, d.h. er lässt den Protagonisten auf die imaginäre Welt

39 Homosexualität ist zu der Zeit in China illegal.

116 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

stoßen (Abb. 5-15). Begleitet wird dies von der schwermütigen Melodie der Kunqu. Selbst in den Erinnerungsszenen und den realen Geschichten ist die Melodie der Kunqu noch zu hören. Bis hierher hat der Regisseur schon den undiegetischen Ton in die Diegese eingebracht und damit sogar drei Räume verbunden, nämlich die reale Geschichte, die Erinnerung aus der Vergangenheit von A Lan und die Opernszenen. Erst kurz vor der dritten Opernszene beginnt A Lan dem Polizisten Xiao Shi eine alte Liebegeschichte zwischen einem Bewacher und einer Diebin zu erzählen, wodurch die Zuschauer erst die vorher schon gezeigten Opernszenen verstehen. Die Melodie der Kunqu-Oper und der Rhythmus der spezifischen Instrumente der chinesischen Oper (Becken und Bangu40) verflechten die drei Räume, was gleichzeitig die räumliche Orientierung des Rezipienten verwirrt. In diesem Zusammenhang dürfte ein Filmprotokoll dieses Ausschnittes die Korrelation besser verdeutlichen: Filmprotokoll zum Film East Palace, West Palace Nr. Handlung

1

2

Rückblende: Gepeinigter A Lan liegt schmerzvoll auf dem Boden

Opernszene: Mit einer Lanze schlägt der Bewacher die Diebin





Nahaufnahme A Lans

Halbnahaufnahme: Der Bewacher und die Diebin

Kunqu-Melodie: Klang von Becken und Bangschlag

s. 1

6s

11s

Dialog Kamera

Geräusch

Zeit in s

40 Ein Art von Trommel, ein typisches musikalisches Instrument in der traditionellen chinesischen Oper.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

Nr.

| 117

3

4

Rückblende: Das verzweifelte Gesicht A Lans

Opernszene: Der Bewacher zieht die gefesselte Diebin





Großaufnahme: Gesicht A Lans

Halbtotale: Der Bewacher und die Diebe

Geräusch

s. 1

Liedtext des Kunqu-Stückes

Zeit in s

11s

25s

5

6

Handlung

Rückblende: A Lan kommt deprimiert auf den Balkon

Rückblende: A Lan läuft langsam auf den Balkon

Dialog

A Lan (off): I couldn’t believe I had been beaten. My whole body ached…

(off)…but it was true…

Halbnahaufnahme: A Lan Parallelfahrt rückwärts mit ihm. Untersicht

Halbnahaufnahme: A Lan Vogelperspektive

Wie 1 Liedtext der Kunqu



21s

7s

Handlung

Dialog Kamera

Nr.

Kamera

Geräusch Zeit in s

118 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Nr.

7

8

Handlung

Rückblende: A Lan steht an der Mauer des Balkons

Reale Geschichte in der Polizeistelle (Diegese): A Lan erzählt sitzend dem Polizisten Xio Shi

Dialog

(off): …My shoes were soaked and my feet were cold. Suddenly I was aware of how much I had suffered in my life. It would have been better if I had never been born.

A Lan: But this kind of experience makes life worth living.

Kamera

Großaufnahme: Gesicht A Lans

Großaufnahme: Gesicht A Lans

Geräusch



Liedtext des Kunqu-Stückes

Zeit in s

25s

25s

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

Nr.

| 119

9

10

Handlung

Reale Geschichte in der Polizeistelle (Diegese): Xiao Shi lehnt vorne am Türrahmen und gibt A Lan eine Zigarette. Nachdem A Lan nur kurz gezogen hat, nimmt Xiaoshi ihm die Zigarette wieder weg und wirft sie weg.

Rückblende: A Lan geht an einer hohen dunklen Mauer entlang, hinter ihm folgt ein Mann im Schatten. A Lan kommt vor einer Bühne an, auf der die Kunqu-Oper (die Geschichte des Bewachers und der Diebin) aufgeführt wird. Durch einen durchsichtigen Vorhang schaut A Lan die Oper (Abb. 5-13 und 5-14)

Dialog

A Lan (Am Ende der Einstellung): in ancient times…

(off):..in ancient times, there was a guard with a great big beard, thick eyebrows and a penetrating stare. He was huge, over nine feet tall. While patrolling the City walls, he caught a thief, he locked chains around her neck. This women was as slender and delicate as the Dragon King’s daughter. Total: Schwenk nach unten bis Halbnahaufnahme. Parallelfahrt folgt A Lan

Kamera

Geräusch

Zeit in s

Geräusche der Insekten.

Dumpfer Unterton. Liedtext der Kunqu. Klang von Becken und Banguschlag

65s

78s

120 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Dieses Protokoll ergibt, so Reynaud, dass Zhangs découpage der Räume eine subtile Dialektik zwischen der Entwicklung der Diegese und dem von den Protagonisten erlebten Gefühl des Gefangenseins erzeugt.41 Dabei spielen die Klänge der Kunqu eine dominierende Rolle, insbesondere in der Diegese zieht sie ständig die Szenen in der Rückblende oder in der Kunqu-Oper in unsere Wahrnehmung, sie dürfen nicht vergessen werden. Der Einsatz der Theaterelemente erlangt hier schon über die Reflexion hinaus eine gewisse integrierende Funktion (Abb. 5-15 verdeutlicht dies). Dies verwirrt uns zwar, aber gleichzeitig bringt sie uns eine neue fremde räumliche Wahrnehmung, was auch als Verfremdungsverfahren gesehen werden kann. Gerade wegen der Integration der Räume, die uns die spezifische räumliche Ausdruckweise zu Bewusstsein bringt, beginnen wir, über den Raum in diesem Film zu reflektieren. Dadurch wird die subtile Dialektik zwischen der Reflexion und der Integration bezüglich des Raums in diesem Film ausgedrückt. 5.1.4

Der verfremdete Raum im Film

Durch die Theaterszene oder die gezeigte Bühne haben die Regisseure die Transformation zwischen der Realität und der Imagination sowie dem Objekt und Subjekt verwirklicht. Des Weiteren bietet der öffentliche Raum ebenfalls eine Übergangszone vom Vertrauten zum Fremden. Die öffentlichen Räume mit ihren vielfältigen Varianten tauchen in den Werken beider Strömungen auf. In den Filmen der Neuen Berliner Schule sind es menschenüberfüllte Flughäfen und Einkaufsläden. Bei der Sechsten Generation ist es der öffentliche Platz, auf dem geschäftiges Treiben herrscht, aber auch das Siheyuan – ein Vierseitenhof, der von Häusern umgeben ist und zur bekannten traditionellen Peking-Hong– tong-Kultur (enge Gassen) zählt. Alles in allem wird der Zuschauer angeregt, über die Identifikation der Menschen mit ihren Umgebungen zu reflektieren. 5.1.4.1 Verloren im öffentlichen Raum Schon seit seinen frühen Werken hat Michel Foucault den Raumkonzepten besondere Bedeutung zugewiesen. Foucault zufolge wird der Raum (Krankenhaus, Gefängnis oder Schule) als Ort der Unterdrückung und der Macht gesehen. Der Raum ist eines der zentralen Probleme im Rahmen seiner Theorie des Diskurses

41 Reynaud, Bérénice: „Zhang Yuans frühe Filme. Der periphere Blick und die Geburt der Sechsten Generation.“ In: Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 256.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 121

und der Analytik der Macht. In seinem Essay Andere Räume42 hat er den Begriff der Raum des Außen eingeführt, der auch ein heterogener Raum ist. In einem solchen Raum befindet sich neben den Utopien, einem unwirklichen Raum, noch eine Heterotopie: „Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“43

Die Heterotopien sind Foucault zufolge imstande, „an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.“ Zu den Heterotopien zählt er außerdem noch das Theater, das Kino und den Garten, die die genannten Eigenschaften haben. Des Weiteren stellt Foucault den vierten Grundsatz der Heterotopie auf: „Die Hererotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d.h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte.“44 Foucaults Raumkonzepten liegt die Theorie von Marc Augé über Orte und Nicht-Orte zugrunde. Im Vordergrund seiner Theorie der Orte und Nicht-Orte steht der Begriff der Übermoderne, „die als eine Spätphase und Steigerungsstufe der Moderne verstanden werden kann.“45 Als ein wichtiges Merkmal der Übermoderne lässt sich das Übermaß Augé zufolge in drei Ebenen unterteilen: das Übermaß an Zeit, an Raum und die Individualisierung von Referenzen. „Das Übermaß an Ereignissen und die Auflösung von Raumbezügen führen zur Krise der individuellen und kollektiven Identität.“46 Die Übermoderne

42 Foucault, Michel: „Andere Räume.“ In: Barck, Karlheinz u.a. [Hrsg.][1992]: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, S. 34 ff. 43 Ebenda, S. 39. 44 Ebenda, S. 43. 45 Augé, M.: Orte und Nicht – Orte, 1994, Kapitel „Das Nahe und das Ferne“, S. 13 – 15 sowie W. Nitsch: Paris ohne Gesicht, 1999, S. 306. Zitiert nach: Weiß, Stephanie [2005]: „Orte und Nicht – Orte“. Kulturanthropologische Anmerkungen zu Marc Augé. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland – Pfalz e. V., S. 24. 46 Weiß, Stephanie [2005]: S. 26.

122 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

bringe im Sinne Augés Nicht-Orte hervor, die keine Identität besitzen und keine anthropologischen Orte darstellen. Einige Räume erscheinen in vielen Werken der Neuen Berliner Schule identitätslos. Weder die öffentlichen Orte noch die Innenausstattung können auf den Charakter der Figur oder eine Stimmung mit Handlungsbezug hinweisen. Dafür ist Schanelecs Orly (2010) ein gutes Beispiel. In diesem Film werden vier unterschiedliche Geschichten erzählt, die während des Wartens auf dem Flughafen Paris-Orly passieren. Demnach fungiert der Flughafen als wichtigster Schauplatz. Die Hauptfiguren in den vier Geschichten sind jeweils ein Paar mit unterschiedlichen Problemen: einer Ehekrise, dem Generationsproblem, Einsamkeit sowie Spannungen in der Beziehung. Im Sinne Augés ist der Flughafen als Transitraum ein typischer Nicht-Ort, der provisorisch und ephemer ist und keine Identität besitze.47 „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“48 An den Nicht-Orten löst sich sowohl der Raum als auch die Zeit auf.49 Die Regisseurin entdeckt die Spezialität des Flughafens auch in Bezug auf den Raum, deswegen siedelt sie ihre Geschichte im Flughafen an: „So einen Flughafen kann man aus zwei Blickwinkeln sehen. Zunächst einmal ist es natürlich ein Ort der Hektik und des Stresses. Aber darum ging es mir nicht. Mir ging es um die Ruhe, die hier genauso entstehen kann. Die Ruhe beim Warten. Das ist interessant, dass gerade an einem Ort, in dem es um Bewegung geht, um das Funktionieren von Abläufen, um Schnelligkeit, so etwas wie Ruhe entstehen kann. Ich meine eine andere Ruhe als bei entspannten Leuten auf dem Sofa zu Hause.“50

Wie in Kapitel 3 analysiert wurde, ist der Alltag der Figuren in den Filmen der Neuen Berliner Schule wortkarg. Selbst in dem lärmenden Flughafen, in dem die echten Geräusche der Menschenmassen als Atmosphären-Ambiente aufgenommen worden sind, kann man in diesem Film noch Ruhe empfinden. Die Regisseurin erzeugt hier paradoxerweise gerade durch den Lärm eine gewisse Ruhe.

47 Vgl. Augé, Marc [1994]: Orte und Nicht – Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 119 f. 48 Ebenda, S.121. 49 Vgl. Weiß, Stephanie [2005]: S. 36. 50 „Ich hab’ noch nie etwas gebaut“ .Interview von Felix von Boehm, Julian von Lucius mit Angela Schalenec. 13. 02. 2010. URL: http://www.critic.de/interview/ich-habnoch-nie-etwas-gebaut-3002/

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 123

Als rhetorisches Mittel befindet sich das Oxymoron auf akustischer Ebene auch in der chinesischen Literaturästhetik. Ein berühmter Vers der Poetik von Wang Ji, einem Lyriker aus der chinesischen südlichen Dynastie (420–581), lautet: chan zao lin yu jing, niao ming shan geng you. In der von Xu Yuanchong51 stammenden englischen Version bedeutet es: The forest is more peaceful while cicadas are chirping, the mountain is more secluded while the birds are singing.52 Innere Zustände wie die eben beschriebene Ruhe und Einsamkeit werden allerdings nicht nur auf der akustischen Ebene dargestellt. Auch durch weitere Verfahren in Bezug auf den Raum lassen sich verborgene Gefühle und Gedanken zum Ausdruck bringen. In einem Interview stellt Schanelec fest, dass sie die Figur mit Hilfe des Raums erzählen will. Die häufig auftauchenden Bilder der Menschenmassen, die mit dem Teleobjektiv aufgenommen wurden, wirken im Sinne Augés orientierungslos (Abb. 5-16): „Die Kamera entnimmt der Menschenmasse einzelne Körper und Gesichter, fokussiert sie im kleinen Schärfenbereich des Teleobjektivs, während um sie herum, in der Unschärfe, das Leben weiter geht. Das wirkt manchmal tatsächlich wie eine fast willkürliche Identifizierung, ein zufälliger Griff in eine erst einmal undifferenzierte Masse.“53 Außerdem erinnern uns ihre mit einer hohen Kameraposition gedrehten Bilder an die Bilder einer Überwachungskamera. Obwohl der Monitor normalerweise als Kontrolle fungiert, darf er auf der anderen Seite niemals eingreifen. Paradoxerweise fungiert er als Kontrolle und hat zugleich jedoch keine richtige Fähigkeit zu kontrollieren. Die Regisseurin und der Kameramann Reinhold Vorschneider verzichten auch auf Kontrolle.54 Sie wollten nicht selbst entscheiden, was aufgenommen werden soll und was nicht, sondern gewähren der wirklichen Welt Einlass in den Film, selbst wenn zwei auf der Bank sitzende und sich unterhaltende Protagonisten von anderen Passanten verdeckt werden. Anscheinend will uns die Regisseurin damit einen wirklichen Lebenszustand präsentieren: Es ist keine Show, in der man nicht stören darf, sondern das reale Leben. Dieser Wirklichkeitseffekt tritt dabei auch tatsächlich ein. (Abb. 5-17)

51 Xu Yuanchong, geb. 18. 04. 1921, Professor an der Peking Universität, Übersetzer alter chinesischer Gedichte. 52 Vgl. Yin, Chuan [2009]: Translator’s Subjectivity in Xu Yuanchong’s Peotry Translation. Masterarbeit. Shanghai International Studies University, S. 35. 53 Foerster, Lukas: Eine weitere Möglichkeitsdimension. Angela Schanelecs Orly. 13.02.2010. URL: http://www.perlentaucher.de/berlinale-blog/89_eine_weitere_ moeglichkeitsdimension%3A_angela_schanelecs_orl [27.04.2015]. 54 Ebenda.

124 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Solche Bilder tauchen auch oft im Film auf: Die Kamera wird immer in einiger Entfernung vom Protagonisten positioniert. Manchmal laufen Passanten eilig vorbei, manchmal setzt die Regisseurin absichtlich ein Hindernis zwischen den Protagonisten und die Kamera. Die Distanz zwischen den Protagonisten und der Kamera, die von der Regisseurin absichtlich erweitert wird, führt zur Entstehung einer gewissen psychologischen Position als Beobachter. In der Nähe kann man kaum beobachten, sondern nur eingreifen. Damit drückt die Regisseurin ihre Haltung aus: Sie will nicht in das Leben der Protagonisten eingreifen, sie will nur ihren originalen Zustand dokumentieren. Solche Kamerapositionen werden keineswegs nur in Schanelecs Filmen verwendet, auch Thomas Arslan setzt in seinem Film Der schöne Tag häufig distanzierte Kamerapositionen ein, um, wie schon im Theorieteil erörtert, die Beobachteridentität des Zuschauers zu erzeugen. Immer wieder wartet die Kamera ruhig an einem festen Ort auf die Protagonistin, dann schwenkt sie mit ihr und dann sieht sie sie weggehen(Abb. 5-18, 5-19 und 5-20 gehören zur selben Einstellung). Durch die beiden oben erwähnten Verfahren – Teleobjektiv und die distanzierte Kameraposition – wird auch ein Verfremdungseffekt bewirkt (orientierungslos, entfernt usw.)55. Während Schanelec öffentliche Orte in eine fiktive Welt setzt, in der der Ort mehr oder weniger die Erzählfunktion trägt, haben zwei Regisseure der Sechsten Generation eine radikalere Vorgehensweise gewählt. Sie verzichten auf die Erzählung und interpretieren durch Dokumentarfilme den öffentlichen Raum. Die Rede ist von Zhang Yuans The Square (Guang Chang, 1994) und Jia Zhangkes In Public (Gong Gong Chang Suo, 2001). Im Film The Square dokumentiert Zhang das Alltagsleben auf dem Tiananmen-Platz. Auf diesem Platz gibt es sowohl normale Touristen, die den Tiananmen-Platz Photographieren, als auch Schulklassen, die das Hissen der Nationalflagge besichtigen, normale Spaziergänger und Streifenpolizisten. Interessanterweise wird der Tiananmen-Platz in diesem Film nicht als Nicht-Ort im Sinne Augés verstanden, der „keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt“56, sondern als symbolischer Ort der Macht und Politik, der zwar „provisorisch und ephemer“ im Sinne der Topologie ist, aber zugleich spezifisch anthropologischen Charakter besitzt, so stellt Da Jinhua wie folgt fest:

55 Durch das letztere Verfahren wird meines Erachtens eine Doppelwirkung ausgeübt: sowohl ein fremder als auch ein wirklicher Effekt, weil die distanzierte Beobachtungweise vermeidet, in das originale Leben einzugreifen. 56 Augé, Marc [1994]: S. 92.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 125

„ […] It’s most salient use is in Tiananmen Square – in Chinese, Tiananmen Guangchang – where the May Fourth Movement began in 1919, making the beginning of modern China an modern Chinese culture and inaugurating that open area of the city as a place of special meaning. Since then, Tiananmen Guangchang has been an important political stage associated with modern student movements and demonstrations. In the popular mind, it signifies revolution, progress, reform, passion, youth, blood, and more particularly the role and historical mission of Chinese intellectuals.“57

Darüber hinaus behaupt Dai: „As an item in the memory inventory of Chinese intellectuals, gugangchang not only refers to modern space, it is also closely linked to the remembrance of modernity and revolution, leading ideas in the great political and cultural movements of the twentieth century.“58 Auf den ersten Blick dokumentiert der Regisseur Zhang Yuan einen gewöhnlichen Tag auf dem Tiananmen-Platz. Auf den zweiten Blick kann man jedoch die unsichtbare Macht oder Autorität, die unter dem gewöhnlichen Alltag verdeckt ist, spüren. „As a special signifier in the Chinese political context, the guangchang is thus firmly associated with the memory of revolution and the politics of various historical eras.“59 Daher ergibt sich aus diesem Film von Zhang Yuan, dass der Tiananmen-Platz stets markanten Charakter besitzt, obwohl er auch den öffentlichen Orten zuzurechnen ist. Im Gegensatz dazu hat Jia Zhangke in seinem Film In Public viele öffentliche Orte im Sinne Augés oder Foucaults eingesetzt. So wird beispielsweise ein alter Bus zu einem Restaurant umgebaut (Abb. 5-21). Die Vorhalle eines Buswarteraums wurde früher als Kartenverkaufshalle genutzt, in der man nun Tischtennis spielt, ein Vorhang teilt diesen Raum in zwei Hälften, hinter der Vorhalle befindet sich noch eine Tanzbar. So ist der Warteraum in drei Orte geteilt und erfüllt drei Funktionen (Abb. 5-22). Auch der Regisseur selbst bringt zum Ausdruck, dass es hauptsächlich um die Raumbezüge in diesem Film geht:

„Die räumliche Stimmung ist selbst schon eine wichtige Dimension, das andere Wichtige sind die Beziehungen im Raum. Einen solchen Raum empfinde ich als interessant, der

57 Dai, Jinhua [2000]: S. 214. 58 Ebenda. 59 Ebenda, S. 215.

126 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION vergangene Raum und der gegenwärtige Raum überlagern sich. […] Die Vervielfachung der Räume lässt mich an die Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Realität denken.“60

Hier lässt sich die räumliche Konzeption Jia Zhangkes auf Foucaults Beschreibung des dritten Grundsatzes der Heterotopien beziehen: „Die Heterotopie vermag an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.“61 An dem Ort bleiben einerseits die Spuren der Vergangenheit, andererseits entwickelt sich die Gegenwart dort gleichzeitig mit ihr selbst. Daher kann man in solchen Räumen eine Hybridität62 der Kulturen wahrnehmen. 5.1.4.2 Charakterisieren durch Entcharakterisierung In der Themenanalyse habe ich bereits erwähnt, dass die Urbanisierung ein Kennzeichen des gegenwärtigen China geworden ist. Dafür wesentlich ist der Abriss alter Gebäude, was viele Probleme zur Folge hat. Viele Regisseure der Sechsten Generation thematisieren das in ihren Filmen. Jia Zhangke ist einer davon. Eigentlich gibt es viel über den Raum in Jia Zhangkes Filmen zu sagen, aber hier werde ich nur auf den heterogenen Charakter des Raums in seinem Film Still Life eingehen. Allgemein gesagt geht es in diesem Film um die Suche nach der Vergangenheit, die mit der ganzen Stadt in der Flut verschwunden ist. Die großen Trümmerfelder und die ausgeräumten Gebäude, die im Film häufig auftauchen, verweisen nicht nur auf das Verschwinden der alten Architektur, sondern auch auf das Verschwinden der entsprechenden traditionellen Lebensweise und Kultur. Die Stadt hat viele originale Charakteristika verloren, daher entsteht in

60 Jia, Zhangke: qu yige chuanshuozhong de chengshii (Gehe in eine Traumwelt). URL: http://ent.sina.com.cn/r/m/2005-03-21/1513682226.html [23.04.2015], übersetzt von Tang, Yuanyuan. 61 Barck, Karlheinz u.a. [Hrsg.][1992]: S. 42. 62 Der Begriff wurde von dem postkolonialistischen Theoretiker Homi K. Bhabha geprägt und bezieht sich auf die Mischform der Kulturen in den postkolonialistischen Ländern. Hier entlehne ich den Begriff, um die Mischform kultureller Phänomene verschiedener Zeitalter (die Mischform der Vergangenheit und der Gegenwart) in einem Land zu beschreiben. Vgl. auch Bhabha, Homi K. [2000]: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, S. 30 ff., 138 ff.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 127

diesem Zeitalter ein Phänomen, das von Ackbar Abbas bei der Erforschung der Hongkong-Kultur als Ästhetik des Verschwindens63 charakterisiert wird. Im Film kommt der Protagonist Sanming in die kleine Stadt Fengjie, um seine Ex-Frau zu suchen, die aber wegen des Drei-Schluchten-Projekts in einen anderen Ort umsiedeln musste. Die alte Wohnstädte seiner Ex-Frau ist schon in der ersten Phase des Projekts überflutet worden, die anderen Gebäude, die noch nicht überflutet sind, müssen abgerissen und dann in der zweiten oder dritten Phase überflutet werden. Während er auf seine Ex-Frau wartet, hält er sich als Bauarbeiter über Wasser. So können wir sehen, wie sich Han Sanming in vielen Szenen des Films im Trümmerfeld befindet (Abb. 5-23, 5-24 oder 5-116). Die verworrenen Trümmerfelder deuten bezeichnenderweise das Zerstören und Verschwinden an. So beschreibt Robin Visser die postsocialist urban in China: „Many examples of postsocialist urban art critique the highly contingent, culturally destructive features of China’s urban development not by displaying wistful longings for the past, but by demonstrating that the past, as human sentiment, is nonexistent.“64 In einer Szene pausieren die Arbeiter in einem verlassenen Gebäude, in dem Türen und Fenster schon abgerissen wurden: Manche essen, mache spielen Mahjong oder Karten (Abb. 5-25). In dieser Szene wird das Mahjongspielen als charakteristische Art der Unterhaltung in China, als kulturelle Landschaft andeutungsweise in der ausgeräumten Wohnung gezeigt, was eine Illusion bewirkt – die Tradition wird in der bald verschwindenden Wohnung fortgesetzt und zugleich mit ihr verbunden. In diesem Sinne gibt Jia seinem Film eine surreale Stimmung. Dass das Gebäude mit einer sonderbaren Gestalt (ein Monument für die Umsiedler) wie eine Rakete in den Himmel abhebt, bringt das treffend zum Ausdruck (Abb. 5-26). Gleichzeitig äußert sich in solchen Räumen die Heterotopie im Sinne Foucaults: Wir leben in einem Raum, der von vielen Umbrüchen oder Gegensätzen geprägt ist. Das sind „Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.“65 Daher gibt es auch ein solches Bild in diesem Film: Im Zimmer eines hohen Gebäudes, in dessen Wände schon ein riesiges Loch gebrochen ist, hockt Sanming vor seiner Ex-Frau im Vordergrund, durch das riesige Loch kann man die hohen Gebäude in

63 Vgl. Abbas, Ackbar [3 2002]: Hong Kong. Culture and the Politics of Disappearance. Minneapolis, Minn. u.a.: University of Minnesota Press, S. 1 ff. 64 Visser, Robin [2010]: S. 38. 65 Dortzler, Bernhard J. [2013]: Michel Foucault. Schriften zur Medientheorie. Berlin: Suhrkamp, S. 119.

128 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

der Ferne (im Hintergrund) sehen (Abb. 5-27). Obwohl es noch einige alte mürbe Gebäude gibt, entsteht doch ein Kontrast zwischen den hohen Gebäuden in der Ferne, die für das Neue oder die Moderne stehen, und dem zerbrochenen schmutzigen Zimmer, das für das Alte, die Vergangenheit steht. Nach Foucault bringen Heterotopien in aller Regel an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind.66 Hier setzt Jia Zhangke auch die unterschiedlichen raumzeitlichen Dimensionen, nämlich die raumzeitliche Inkohärenz, gleichzeitig im selben Raum ein. Die Urbanisierung wird von Augé als Merkmal der Übermoderne identifiziert.67 „Im Zuge der Ausdehnung der Städte entstehen neue urbane Geflechte, die sich in der Entstehung von peripheren Wohngebieten und den damit verbundenen Veränderungen für die Menschen ausdrücken.“68 Während der Entcharakterisierung der Stadt infolge des Abrisses wird sie in gewissem Sinne als eine neue Gestalt erneut charakterisiert. Die Menge der Trümmer in diesem Film symbolisiert den Charakter eines Zeitalters. Nebenbei soll bemerkt werden, dass der häufig elaborierte Einsatz von Trümmern im Film eine formale Ästhetik erzeugt (Vgl. Abb. 5-22, 5-23), sodass es zu einem abstrakten Effekt kommt: „Im Film Still Life lässt sich die Abstraktion der Realität besser verkörpern. Eine solche Abstraktion hat eine gewisse Verfremdung erzeugt, damit können der Regisseur und die Zuschauer die Form dekonstruieren und in eine weitere externe Richtung gehen und schließlich die ‚Tiefe der Oberfläche‘ (la profondeur du superficiel) erreichen.“69 Darüber hinaus trage die digitale Technik, die in diesem Film eingesetzt und als eine optimale Darstellungsweise der Authentizität und Unmittelbarkeit betrachtet wird, nach Ansicht des Autors zu einem „poetischen Effekt“ bei.70 Das heißt, mittels dieser Technik lässt sich der Film als Artefakt sehen. Dieses poetische Element samt Mise-en-scène erzeuge den Verfremdungseffekt. Nicht zuletzt sind die surrealen Elemente zu nennen, wie etwa das raketenförmige Monument, welches oben erwähnt wird, oder die in einem Restaurant sitzenden Sichuaner Operndarsteller,71

66 Vgl. ebenda, S.122. 67 Vgl. Weiß, Stephanie [2005]: S. 34. 68 Ebenda, S. 35. 69 Lagasse, Cécile [2008]: Jia Zhangkes Still Life. Der Realismus in der digitalen Zeit. Original in: cahiers du cinema. 640/2008. Übersetzt ins Chinesische von Yang Beizhen. URL: http://cinephilia.net/archives/704 [23.04.2015], übersetzt von Tang, Yuanyuan. 70 Vgl. ebenda. 71 Hierbei handelt es sich um eine der chinesischen traditionellen Opern, die ursprünglich aus der Provinz Sichuan kommen.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 129

die Opernkostüme und Masken tragen– zwei davon spielen mit ihren Handys (Abb. 5-28), was auch ein wichtiger Beitrag zum Verfremdungseffekt ist, weil sie auf der Handlungsebene gar keine Rolle spielen. Jia fügt surreale sowie radikale formale Elemente in die realistischen Bilder ein, um zum Nachdenken anzuregen und auf das Gezeigte aufmerksam zu machen. Hier ist der Verfremdungseffekt der Realität jedoch gegensätzlich, und von diesem Gegensatz profitieren beide. So behauptet Lagasse: „Nur der Kontrast zwischen dem Realismus und dem Irrealismus kann Bedeutung erzeugen. In der Tat, dass solche fremden Elemente verwendet werden, zielt nur darauf ab, dass die Normalität der von der Kamera aufgenommenen Geschehnisse in Zweifel gezogen werden kann. Damit kann die irreale Seite der aufgenommenen „Realität“ entdeckt werden. […] Die Bedeutung der surrealen und poetischen Elemente besteht nicht darin, eine Beifügung zur Realität herzustellen, sondern darin, das Verfremdungsgefühl und Schönheit wieder darzustellen.“72

Im Vergleich zu seinen frühen Werken hat Jia Zhangke in diesem Film vor allem Wert auf die Form gelegt, sodass manche Kritiker der Meinung sind, seine Filme hätten sich mehr und mehr von der Realität entfernt. Allerdings erweist sich der Film meines Erachtens gerade wegen der Formalisierung als Artefakt, indem er wieder Reflexionen über die Realität enthält. 5.1.5

Raumtiefe

In diesem Teil werde ich mich eher dem einzelnen Bild zuwenden. Die Tiefe des Bildes, seine Flächenhaftigkeit sowie die Bildkomposition, die zu verschiedenen räumlichen Effekten führt, werden hier diskutiert. Auf welche Weise gehen die Regisseure mit der Raumtiefe um, mit der sie eine frappierende, die Sinne irritierende Räumlichkeit erzeugen wollen? Diese Frage soll in den folgenden Analysen beantwortet werden.

72 Lagasse, Cécile [2008].

130 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

5.1.5.1 Flächigkeit Beim Vergleich der klassischen chinesischen und der westlichen Malerei im 4. Kapitel wurde schon verdeutlicht, dass die Plastizität einerseits und die Flächenhaftigkeit andererseits im Allgemeinen einen offensichtlichen Unterschied darstellen. Allerdings entwickelten sich die jeweiligen Kunstanschauungen weiter und in der Moderne oder Postmoderne tendieren sie zu einer Synthese. David Bordwell betrachtet das Kino der siebziger und achtziger Jahre als ein „postmodernes“ Phänomen, das ein paar allgemeine Merkmale zeigt: Reflexivität, Pastiche, Parodie, Fragmentierung oder die Auflösung „des Subjekts“.73 Unter diesen Merkmalen konstatiert Bordwell eine allgemeine Tendenz: „Wir neigen dazu, diese Inszenierungs- und Aufnahmetechnik als ‚flach‘(flat) oder flächig, mit geringer Tiefe (shallow) zu bezeichnen: Sie erzeugt nicht diese spitzwinklige Perspektive, […] Die Figuren erscheinen weniger voluminös, eher wie einfache Scherenschnitte oder – bildnerisch gesprochen – Figuren auf einem Grund. “74 Fredric Jameson bezeichnet die Flächigkeit in seinem Buch Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism ebenfalls als ein herausragendes Merkmal der Postmoderne: „The first and most evident is the emergence of a new kind of flatness or depthlessness, a new kind of superficiality in the most literal sense, perhaps the supreme formal feature of all the postmodernisms [...].“75 Bordewell benutzt für diese Bildgestaltung den Begriff „planimetrisches Bild“76, den er von Heinrich Wölfflin entlehnt hat. Die Beliebtheit dieses Bildertyps liegt einerseits darin, dass „große Schärfentiefe [...] mit Farbfilmmaterial – aufgrund seiner geringeren Lichtempfindlichkeit – schwierig herzustellen [ist], selbst heute noch.“77 Andererseits dient er auch als ästhetisches Mittel, mittels dessen die Authentizität einer Nachrichtensendung zu erzeugen ist. So wurde das Teleobjektiv mit langen Brennweiten in den späten fünfziger Jahren mehr und mehr verwendet.78

73 Vgl. Bordwell, David [1997]: „Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino.“ In: Rost, Andreas [Hrsg.] [1997]: Zeit, Schnitt, Raum. Frankfurt am Main.: Verlag der Autoren, S.18 ff. 74 Ebenda, S. 20. 75 Vgl. Jameson, Fredric [31992]: Postmodernism, or, the cultural logic of late capitalism. Durham, NC: Duke Univ. Press, S. 9. 76 Bordwell, David [1997]: S. 20. 77 Ebenda, S. 26. 78 Ebenda, S. 26-27.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 131

Die übliche Technik – das Teleobjektiv, das einen scharfen Vordergrund mit einem verschwommenen Hintergrund erzeugt – wird häufig von den Regisseuren der Neuen Berliner Schule eingesetzt. In den Werken der Sechsten Generation hingegen ist diese Technik seltener zu sehen. Hier kommt es auf die filmische ästhetische Anschauung im China der achtziger Jahre bezüglich des Realismus an: Von 1980 bis 1983 erlebt die chinesische Kinematographie eine revolutionäre Phase. In dieser Zeit hat sich die Anschauung der chinesischen Kinematographie bezüglich der Realität stark von europäischen Filmtheoretikern wie Bazin und Kracauer beeinflussen lassen und noch eine lange Zeit danach ist die Filmontologie im chinesischen Filmrahmen stets die vorherrschende ästhetische Intention geblieben.79 Daher bevorzugen chinesische Regisseure seit den achtziger Jahren die von Bazin gepriesenen Verfahren wie z.B. Schärfentiefe, Außenaufnahme und natürliche Beleuchtung, um einen naturalistischen Effekt zu erzielen. 80 Dafür waren sie sowohl in Bezug auf die Themen als auch auf die ästhetischen Formen sehr streng. Darauf aufbauend wurden die ästhetischen Ansichten von Regisseuren der Sechsten Generation weiter entwickelt. Sie haben ihren Filmen fremde Elemente hinzugefügt, sodass in ihren Filmen etwa formale Schönheit erscheint und sie real und zugleich fremd wirken. Natürlich bedeutet das nicht, dass sich die von Bazin gepriesene Schärfentiefe in den Werken der Neuen Berliner Schule gar nicht mehr wiederfindet. Ganz im Gegenteil versuchen die Regisseure an manchen Stellen durch verschiedene Verfahren Raumtiefe herzustellen. Die Filme der Gegenwart tendieren zur Synthese. Bordwell behauptet auch, dass das bipolare Extrem der Brennweiten eine der wichtigen Strategien der Kameraarbeit ist, die im Zentrum des neuen Stils gegenwärtiger Filme stehen. 81 Auf das Thema der Raumtiefe werde ich im nächsten Teil genauer eingehen. Um den Ursprung und den Effekt der Flächigkeit zu ermitteln, müssen wir nun wieder auf das planimetrische Bild zurückkommen. Angesichts der weiteren Verbreitung des Teleobjektivs in Hollywood in den fünfziger Jahren versuchten einige europäische Filmemacher, eine Alternative zu Hollywood zu bieten. Neben der offenen Narration und der Zweideutigkeit verwenden sie nun auch den Kunstbezug und die Konstruktion des Bildes. Anscheinend wollten die europäi-

79 Vgl. Zheng, Guoen/ Gong, Rumei [2006] [Hrsg.]: Fachgeschichte chinesischer Filme. Kinematographie (zhongguo dianying zhuanyeshi yanjiu. Dianying sheyingjuan). Band 2. Peking: China – Film Press, S. 28 ff. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. 80 Vgl. ebenda, S. 34 ff. 81 Vgl. Bordwell, David [2006]: S. 121.

132 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

schen Filmmacher bei der Bilderkomposition eher auf ihre eigene traditionelle Kultur zurückgreifen und sich an der Malerei oder dem Theater orientieren. Bordwell zufolge nutzen sie die vielfältigen künstlerischen Bezüge, um das Kino zu einer statischen oder sich allmählich entfaltenden bildhaften Schönheit zurückzuführen, sodass die Bilder nun nur als Bilder in Gordards Sinne82 wahrgenommen werden können. Dementsprechend kann man den im Theorieteil erwähnten Begriff Artefakt wieder heranziehen, weil er zum einen auf den Wirklichkeitseffekt hinweist und zum anderen auf die Verfremdung. Mittels dieses Stilmittels realisieren manche Regisseure in ihren Filmen die Brecht’sche Verfremdung und die Betonung der Horizontalen, andere analysieren die im planimetrischen Bild latenten Unbeständigkeiten oder isolieren die Figuren und heben sie vom Hintergrund ab und wieder andere greifen auf das Stilmittel zurück, um die Organisation des Raumes neu zu überdenken oder um die Ruhe und Trägheit des Bildes zu evozieren.83 Solche Bilder tauchen oft in den Werken der Neuen Berliner Schule auf: In den ersten beiden Einstellungen (die letzte dauert sogar mehr als 4 Minuten) in Schanelecs Film Mein langsames Leben verwendet die Regisseurin die frontale Porträtaufnahme. In der ersten Einstellung spricht die Protagonistin Valerie mit einer anderen Person aus dem Off. Sie ist in einer Großaufnahme zu sehen, während die Bäume im Hintergrund unscharf sind (Abb. 5-29). In der darauffolgenden Einstellung sieht man Valerie und Sophie, die gerade im Off geblieben ist, nebeneinander sitzen und reden (Abb. 5-30). In der sehr langen Einstellung wird die Kamera im rechten Winkel zu den Figuren aufgebaut und ihr langsames Reden somit statisch dokumentiert. Diese Eigenschaft der frontalen Herangehensweise, so Bordwell, besteht in ihrer Stabilität und ihrer Ausgewogenheit und zugleich evoziert sie Ruhe und Trägheit. Darin liegt die Verbindung zu Malerei und Grafik.84 Anscheinend gestaltet die Regisseurin ihre Bilder dadurch künstlerisch, d.h. ungewöhnlich. Allerdings möchte sie wohl kein zu ausgewogenes Bild präsentieren, weswegen sie der Bildkomposition unsymmetrische Elemente hinzufügt. Im Fall dieses Bildes können die Seitenwand auf der rechten Seite und der Tischrand auf der linken Seite als Unbeständigkeiten gesehen werden. Auch in Petzolds Filmen wird die frontale Herangehensweise deutlich, wie beispielsweise bei dem Interview der beiden Mädchen in Gespenster (Abb. 5-31) oder bei Yella und Phillip in der Verhandlung in Yella (Abb. 5-32).

82 Vgl. Bordwell, David [1997]: S. 28. 83 Zur Zusammenfassung über den Effekt der Bilderstilgeschichte europäischer Filme siehe: Bordwell, David [1997]: S. 28 ff. 84 Vgl. Bordwell, David [1997]: S. 31.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 133

Das Verfahren, auf Schärfentiefe zu verzichten, isoliert die Figuren von ihrer Umgebung, schränkt das Blickfeld des Zuschauers ein und verhindert zugleich seine Einfühlung. Nicht zuletzt kann man auch den Ursprung für die Flächigkeit in der traditionellen chinesischen Malerei finden. Darin orientiert man sich nicht an einem Hologramm oder der realen Dimension: „die Mise-en-scène [ist] flach und deutet die Bildtiefe des Raums lediglich an, so dass die Zuschauer ihre Imagination walten lassen konnten“85. Obwohl in den Filmen der Sechsten Generation wenige Teleobjektive mit unscharfem Hintergrund auftauchen, verwenden die Regisseure andere Stilmethoden wie die Horizontalfahrt der Kamera und/oder Mise-en-scène, um diesen Effekt zu erzeugen. Darüber hinaus möchte ich einen markanten Bildtyp anführen, der als Variante des planimetrischen Bildes in einigen Filmen der Sechsten Generation zu finden ist: Ein Beispiel sind die ersten beiden Einstellungen im Film Still Life von Jia Zhangke. Mit einer langsamen Horizontalfahrt der Kamera präsentiert Jia in drei langen Einstellungen (insgesamt 3 Minuten 20 Sekunden) das Panorama auf einem Passagierschiff. In diesen drei Einstellungen verzichtet der Regisseur auf die distanzierte Aufnahme und die Schärfentiefe und porträtiert stattdessen die Passagiere und die Gegenstände auf dem Schiff: Es gibt eine Karten spielende Kleingruppe, sich unterhaltende Männer oder Frauen, Alte und Kinder. Mit dem Schiff ziehen sie in eine andere Stadt. Obwohl das Schiff ziemlich langsam fährt, scheinen sie keineswegs ungeduldig zu sein. Sie vergnügen sich bei verschiedenen kleinen Beschäftigungen und genießen den Moment (Abb. 5-33 und 5-34). Augenfällig ist das Verfahren, wie ein Bild präsentiert wird. Es erinnert an das traditionelle chinesische Malereiformat – die Bildrolle. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die Qingming-Rolle, die in der nördlichen Song Dynastie vom Maler Zhang Zeduan geschaffen wurde und 24,8 cm hoch und 528,7 cm lang ist. Die Bildrolle zeigt das Alltagsleben der Hauptstadt der nördlichen Song Dynastie Bian Jing (das heutige Kai Feng der Provinz He Nan) während des chinesischen Totengedenktages Qingming (Abb. 5-35)86. Da es eine sehr lange Rolle ist, die eine kontinuierliche Bildkomposition präsentiert, gilt es das Werk von rechts nach links zu entrollen und den sich schrittweise zeigenden Inhalt zu erfassen. In gewissem Maße könnte man sagen, dass das Verfahren der schrittweisen Entdeckung der Handlung ein Vorbild der Darstellungsweise mo-

85 Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 34. 86 Vgl. Yang, Xin: Qingming Shanghe Tu (Qingming – Rolle). URL: http://www.dpm.org.cn/www_oldweb/Big5/phoweb/Relicpage/2/R945.htm [08.03.2015]

134 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

derner Filme ist (die lange Bildrolle gleicht einem Filmband). Oder es „entspricht dies im Prinzip einer langen, lateralen Kamerafahrt. Bei einem solchen Wahrnehmungsmodus wird der Sinn von multiplen Perspektiven ersichtlich.“87 Eine ähnliche Einstellung gibt es auch in der Anfangsszene des Films Suzhou River: Zwar wird hier keine lange Einstellung eingesetzt, sondern mehrere kurze Einstellungen aneinandergeknüpft, dennoch erzielen sie denselben Effekt. Interessanterweise taucht dieses Verfahren auch in den Werken der Neuen Berliner Schule auf: In Angela Schanelecs Film Mein langsames Leben gibt es ebenfalls eine solche Einstellung. Nach Marias Trauung gehen Valerie, Thomas, Marie und ihre Tochter auf einer Promenade spazieren. Die Kamera hält hier stets einen festen Abstand zu den Figuren und fährt parallel (mithilfe von Dolly) zu ihrer Bewegung (Abb. 5-36–5-41). Bemerkenswert ist hier, dass die Kamerafahrt ständig lateral bleibt, obwohl die Figuren zeitweise kurz anhalten und sich unterhalten, so dass die Einstellung kurz leer bleibt (Abb. 5-39), anschließend ist die entgegenkommende Valerie im Bild zu sehen (Abb. 5-40), wonach alle Figuren aus dem Bild hinausgehen (Abb. 5-41). Diese Kamera präsentiert uns eine lange Bild-Rolle, in der horizontalen Richtung kann der Zuschauer schrittweise die unterschiedlichen Figuren und Geschehen beobachten. Im Unterschied zur allgemeinen westlichen Malerei, in der sich meist ein einziger fester Fluchtpunkt befindet, kann es in der chinesischen Malerei keinen festen Fluchtpunkt geben, weil hier die multiple Perspektive verwendet wird und man das Bild aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann. Die Qingming-Rolle ist auch ein solcher Fall. Die Rollen-Form erlaubt eine räumliche Kontinuität und setzt mit einer Reihe von Großaufnahmen oder Nahaufnahmen ein ganzes Panorama zusammen. Über den Zusammenhang zwischen einer derartigen Einstellung mit der traditionellen Malerei vertritt der chinesische Filmkritiker Wang Zhimin die folgende Auffassung: „Im Unterschied zur Ikone in der Renaissance oder dem buddhistischen Bild greifen die chinesischen Berg-Wasser-Bilder, die in einer Rollen-Form gestaltet werden, noch die außerhalb des Blickfeldes der Beobachter befindlichen Gegenstände auf. Während sich der Blick der Beobachter bewegt und die Zeit vergeht, entfalten sie schrittweise einen weiteren Raum. Mittels der Kontinuität des bildlichen Raums präsentiert die Rollen-Form chinesischer Malerei eine zeitliche Fließfähigkeit und erzeugt zugleich einen Rhythmus.“88

87 Sierek, Karl/ Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 37. 88 Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: S. 344.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 135

Ebenso lässt Jia Zhangke im Vorspann dieses Films die Kamera einmal auf jeder Figur von links nach rechts wandern, um ein Gruppenporträt herzustellen, in dem es keinen Haupthelden gibt. Er will nur eine Atmosphäre schaffen.89 Erst am Ende des Vorspanns lässt der Regisseur den Protagonisten auftreten, der auf dem Bug sitzt und in die Ferne schaut. Hier schafft Jia mithilfe der filmischen Materialien eine Art Film-Bildrolle. Diesen Effekt kann man auf die Dauer der Einstellung und die Bewegungsweise der Kamera zurückführen: Die lange Zeit reicht aus, um die einzelnen Gegenstände bzw. Personen nacheinander zu zeigen. Die horizontale Kamerafahrt erlaubt in der Regel keine tiefe Raumkomposition. Nicht zuletzt verstärkt die Reihe von kleinen Einstellungsgrößen den Effekt der Flächigkeit. Gleichzeitig erinnert die der Malerei ähnliche Flächigkeit der Bilder an den Begriff der „realistischen Ostentation“90 bei Kirsten. Nach dessen Interpretation seien gewisse ästhetische Verfahren und Themen im realistischen Film als Einladung zu einer realistischen Lesart zu verstehen.91 Hierbei sei wichtiger, dass etwas gezeigt wird, als was genau gezeigt wird. „Eben diese Sicht gibt sich im realistischen Film als realistische zu verstehen und kann in der Rezeption als solche erkannt werden.“92 Dadurch, dass der Film ein spezifisches Medium ist, besitzt die Zeigensweise die Eigenschaft der Realität und könne „als textuelle Anweisung zur Aktivierung einer ‚realistischen Lektüre‘“93 verstanden werden. Davon ausgehend kann man einen solchen Bilderstil, nämlich die „ostensive Qualität“94, als den Realitätseindruck im Sinne Kirstens spüren.95 Nicht zuletzt entspricht dieser Stil auch der von Kracauer festgehaltenen registrierenden Funktion des Films. 5.1.5.2 Rahmen im Bild Wie oben erörtert wurde, trägt die Flächigkeit in den Werken beider Schulen zu einem sowohl realistischen als auch ungewöhnlichen Effekt bei. Darüber hinaus entwickeln sich die filmisch-realistischen Mittel im Laufe der Zeit auch dazu, die traditionelle realistische Ästhetik zu aktualisieren. Das langfristige Ziel beider

89 Vgl. Jia, Zhangke/ Rao, Shuguang u.a.: „Still Life. Dialog zwischen Jia Zhangke und Rao Shuguang, Zhou Yong usw.“ In: Contemporary Cinema. 02/2007, S.19 – 27. 90 Kirsten, Guido [2013]: S. 28. 91 Ebenda. 92 Ebenda, S.86. 93 Ebenda. 94 Ebenda, S. 87. 95 Kirstens Aussage über den Realitätseindruck siehe Kap. 4. 2. 3.

136 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Schulen liegt gleichsam darin, im Rahmen eines ästhetischen Realismus die Darstellungsverfahren so vielfältig und neu wie möglich anzuwenden. Beide wollen ihre eigene Interpretation des Realismus im Film zum Ausdruck bringen. Nach der klassischen realistischen Konzeption von Bazin, die auf der langen, tiefenscharfen Einstellung beruht, versuchen die Regisseure beider Filmströmungen die Tiefen des Raums auszuloten. Im Theorieteil habe ich schon dargestellt, dass Bazin die Mehrdeutigkeit bzw. Zufälligkeit für die wichtigsten Eigenschaften der Realität hält. 96 Die Ungewissheit und Kontingenz sind Bestandteile des normalen Alltagslebens. Auf der Basis von Bazins klassischer Realismuskonzeption aktualisieren die Regisseure beider Schulen ihre jeweiligen ästhetischen Konzeptionen bezüglich des Realismus auf der Ebene der Bilderkomposition. An vielen Stellen bevorzugen sie auffällige Rahmungen oder geometrische Gegenstände wie Wände, Innenausstattung oder Licht und Schatten, um eine gewisse psychologische Wirkung zu erzielen. Sie setzen einen Tür- oder Fensterrahmen ein, um so eine Raumtiefe oder Mehrschichtigkeit des Bildes zu inszenieren, wodurch zwischen dem Zuschauer und der diegetischen Welt eine Distanz erzeugt wird. Schanelec verwendet diese Technik häufig in ihrem Film Mein langsames Leben. So werden beispielsweise die sich auf dem Balkon unterhaltenden Protagonisten in einer Einstellung (Abb. 5-42) durch vier Schichten von der Kamera getrennt: Im Vordergrund ist ein türähnlicher Rahmen mit Scheibe zu sehen (als erste Schicht steht er so nah an der Kamera, dass er unscharf ist); hinter diesem Rahmen sitzt Marie an einem Schreibtisch, allerdings mit dem Rücken zu uns (die zweite Schicht); gegenüber dem Tisch steht ein Sofa, auf dem Maries neunjährige Tochter Clara liegt und ein Buch liest (die dritte Schicht); hinter dem Sofa ist die Glastür des Balkons (diese kann als vierte Schicht gesehen werden, weil ihre durch senkrechte Verstrebungen auffallenden Rahmen ihr Dasein beweisen); draußen ist der Balkon, auf dem sich Valerie und Maries Bruder Thomas unterhalten. Die Regisseurin setzt viele geometrische Formen ein: vertikale Linien wie beim Türrahmen, der sitzenden und der stehenden Körperhaltung sowie horizontale Linien wie beim Schreibtisch, dem Sofa, dem liegenden Körper Claras und dem Geländer des Balkons. Der Rezipient weiß, dass Valerie bei Marie und ihrer Tochter wohnt. Marie ist zwar sehr nett, aber Valerie empfindet dennoch eine Distanz. In Kapitel 3 (Themenanalyse) wurde erörtert, dass die inneren zwischenmenschlichen Probleme stets ein Leitmotiv in den Filmen der Neuen Berliner Schule sind. Diese innere Spannung bringt Schanelec mit diesem Bild

96 Vgl. Bazin, André [2004]: S. 361f.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 137

zum Ausdruck. Bemerkbar ist ein auffälliger Rahmen, der zwischen Valerie und Thomas aufgespannt ist. Er deutet hier auf die psychologische Distanz zwischen den beiden hin. „Der Film ist der Versuch, das Leben von außen zu betrachten, Distanz zu gewinnen, nicht einzugreifen, sondern zuzusehen.“97 Und genau das ist auch die Vorgehensweise der Regisseurin, das Leben realistisch zu präsentieren.98 Solche Bildkompositionsweisen werden häufig von Regisseuren der Neuen Berliner Schule verwendet. So taucht auch in Petzolds Film Barbara (2012) ein weiteres bedeutungsvolles Bild auf, das uns mittels Weitwinkelobjektiv und hintereinander gestaffelter Türrahmen Bildtiefe präsentiert (Abb. 5-43): Im Vordergrund ist das Profil Andrés in einer Nahaufnahme zu sehen, vor einer Tür stehend schaut er aus dem Bild heraus und erwartet unruhig Barbara, die eigentlich geplant hatte, am selben Abend über die Ostsee nach Dänemark zu flüchten; hinter der Tür ist ein OP-Raum, in dem eine Krankenschwester etwas für den auf dem Operationstisch liegenden Patienten Mario vorbereitet; durch eine andere geöffnete Tür im Hintergrund sehen wir in einem fernen Zimmer den auswärtigen Arzt, der mit einer anderen Krankenschwester ebenfalls die Operation vorbereitet. Durch diese Einstellung thematisiert der Regisseur deutlich die inneren Komplexe und die Unruhe Andrés: Im Laufe der Geschichte erfahren wir, dass André (als Barbaras Vorgesetzter) von einem Stasi-Offizier auf sie angesetzt wird. Da sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, wurde sie zunächst in ein Provinzkrankenhaus an der Ostseeküste strafversetzt. Unterdessen verliebt sich André in Barbara. Deshalb – obwohl er genau weiß, dass Barbara ihn irgendwann verlassen muss – hegt er noch leise Hoffnung, dass sie doch noch bleiben kann. Im Film Barbara ist die Distanz sowohl physisch als auch psychisch wahrnehmbar. In einem Interview sagt Petzold: „Das Paranoide, das Misstrauen in der DDR fand ja zwischen den Menschen statt. Um das transportieren zu können, muss man ganz nah ran. Da darf die Kamera nicht auf Distanz bleiben.“99 Obwohl André in dieser Einstellung in einer Nahaufnahme zu sehen ist, erzeugen die gestaffelten Türrahmen hinter ihm dennoch eine Distanz.

97 Rother, Rainer [2001]: „Besser nicht in die Zukunft schauen.“ In: Die Welt. URL: http://www.welt.de/print-welt/article476777/Besser-nicht-in-die-Zukunft-schauen.htm l [28.10.2014]. 98 Vgl. ebenda. 99 Siehe Interview mit Christian Petzold. URL: http://archiv.interview.de/Dt-Filmpreis2012-Christian-Petzold [23.09.2014].

138 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Unter den Werken der chinesischen Sechsten Generation gibt es ebenfalls solche Ausdrucksweisen, zum Beispiel in Wang Xiaoshuais Film Shanghai Dreams. Dieser handelt von einem Mädchen mit ihrer Familie, die wegen der Kulturrevolution vor Jahren aus Shanghai in eine abgelegene Provinz umgesiedelt wurde und stets in die Metropole zurückkehren will.100 In dieser Familie ist der Vater sehr stur und erzieht seine Kinder auf besonders repressive Weise, vor allem seine Tochter Qinghong. Der Regisseur setzt zweimal Türrahmen als grenzziehende Elemente beim Streit zwischen Vater und Tochter ein: Im Vordergrund bewegt sich der Vater vor der Tür hin und her und überhäuft Qinghong mit Vorwürfen; schweigend sitzt Qinghong hinter der Tür immer auf einem Bett im Hinterzimmer. Die Tür (mit der Wand) weist auf die unüberschreitbare Grenze zwischen Vater und Tochter hin, bei dem Streit geht der Vater hin und her, tritt jedoch nie in das Zimmer der Tochter ein, welche wiederum niemals aus dem Zimmer kommt. Sie bleiben beide in ihrer eigenen Welt und versuchen nie, die Standpunkte des jeweils anderen nachzuvollziehen (Abb. 5-44, 5-45). Die physische Distanz spielt erneut auf die psychische an. Jason McGrath beschreibt die Funktion des Einsatzes der Distanz (Ferne) in Jia Zhangkes Film Plattform wie folgt: „Die Ferne, die der Film [Plattform] auslotet, umfasst zum einen die räumliche Distanz einer geografischen Randregion weitab von den Zentren sozialen Wandels, zum andern die zeitliche Distanz der Charaktere zu ihrer erhofften Zukunft und schließlich die Distanz des Filmmachers (und der Zuschauer) zu einer erinnerten Vergangenheit. “101 Darüber hinaus ist die Distanz auch für den Realitätseindruck entscheidend. Nach Michottes Meinung enthält der Realitätseffekt eine Ambivalenz, nämlich zwei widersprüchliche Charaktere:

100 Wegen des Aufrufs von Mao zur „Umerziehung durch Leben und Arbeit bei den bäuerlichen Massen“ verlassen zehn Millionen Jugendliche der damaligen Zeit ihre Städte und kommen in die abgelegenen ländlichen Regionen – die dritte Linie der Abwehr, um dieses Land aufzubauen. Als sich die Kulturrevolution ihrem Ende nähert, wollen die meisten Jugendlichen in ihre Heimat – die große Stadt – zurückkehren, obwohl die meisten von ihnen schon in den sogenannten Dritte-Linie-Regionen eigene Familien hatten. Der Vater der Protagonistin Qinghong im Film Shanghai Dreams ist ein typischer Vertreter. 101 McGrath, Jason [2011]: „Die strukturierende Absenz des Anderswo Jia Zhangkes ZHANTAI (Plattform)“. In: Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 306.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 139

„die kinematografische Erfahrung erscheint nunmehr als einzigartige Zusammenführung des ‚Realen‘ mit dem ‚Künstlichen‘. Einerseits drängt sich die Wahrnehmungsrealität der Dinge und der Handlungen mit einer gleichsam ‚sinnlichen‘ Wahrheit auf, und andererseits weist die filmische Projektion eine Anzahl von abnormen Merkmalen auf, die unserer alltäglichen Erfahrung widersprechen.“102

Diese Ambivalenz führt zum Eindruck psychischer Distanz. „[…] wir glauben, das sich die kinematografische Situation beschreiben lässt, in dem man festhält, dass sie uns den Eindruck gibt, wir nehmen reale Wesen und Ereignisse in unserer Gegenwart wahr, dass es sich dabei aber um eine mehr oder weniger deformierte Realität handelt, die einer Welt angehört, die – psychologisch gesprochen – nicht ganz die unsere ist, und von der wir uns trotz allem ein wenig distanziert fühlen.“103

Daher können wir behaupten, dass die Rahmen in den Filmbildern sowohl physische als auch psychische Distanz erzeugt, die den Zuschauer gleichzeitig sowohl einem realistischen als auch fremden Eindruck ausliefert. Nicht zuletzt scheinen die Rahmen und die geometrischen Formen dazu zu führen, dass die Form selbst schon von selbständiger Bedeutung im formalistischen Sinne ist. Nach Donald Richie spricht die Komposition, anhand derer er die Filme von Ozu analysiert, für sich selbst als ästhetisches Mittel.104 Der formale Bilderstil beider Filmströmungen, der sich in den Filmen beider Schulen äußert, ist mit dem Bilderstil des Ozu-Films vergleichbar: „Diese Szenen haben einen anderen Sinn und Zweck: Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich selbst. Sie sind nicht erzählerisch, sondern ästhetisch motiviert.“ 105 (Vgl. Akibiyori, Yasujiro Ozu, 1960, Abb. 5-46) Wenn Liptay die Konzeption der Leerstellen im Film diskutiert, führt sie die Filme von Yasujiro Ozu und Hou Hsiao-hsien an, in denen menschenleere Räume

102 Van den Berck, Albert Michotte [2003]: Der Realitätscharakter der filmischen Projektion. In: montage AV. 01/12, S. 123. 103 Ebenda, S.125. 104 Vgl. Richie, Donald: Raum, Zeit, und Tofu in den Filmen von Yasujiro Ozu. In: Rost, Andreas [Hrsg.] [1997]: S. 150 f. 105 Ebenda, S. 152.

140 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

als Leerstellen betrachtet werden. 106 „Sichtblockaden im Dekor betonen die Eingeschränktheit der Sicht. Auf diese Weise gelingt es Hou, die Schicksalsschläge seiner Figuren zu entdramatisieren, ihnen ein Beiläufigkeit zu verleihen, die versöhnlich und verstörend zugleich wirkt.“ 107 Regisseure erzeugen Leerstellen also mittels Rahmung und Mise-en-scène. In Jia Zhangkes Film Plattform gibt es eine solche Szene: Mingliang und Ruijuan unterhalten sich auf der alten Stadtmauer einander gegenüber stehend, wobei fast die Hälfte des Bildes von einer Backsteinwand im linken Vordergrund verdeckt wird. Als Mingliang an der rechten Wand lehnend nach links spricht, steht und antwortet Ruijuan hinter der im linken Vordergrund stehenden Wand (Abb. 5-47). Anschließend geht Mingliang nach links zu Ruijuan, wodurch das Bild ein paar Sekunden leer bleibt (Abb. 5-48). Als Ruijuan hinter der linken Wand hervorkommt, lehnt sie sich an die rechte Wand, gerade dort, wo Mingliang eben noch stand (Abb. 5-49). Durch die häufigen Platzwechsel in dieser statischen Einstellung entstehen zwischenzeitlich immer wieder ein paar leere Sekunden. Die Sichtblockaden animieren die Rezipienten, ihre Fantasie spielen zu lassen, oder beunruhigen sie, da sie nicht wissen, was sich hinter der Blockade abspielt: „Wenn die Wand beide Figuren den Blicken entzieht, mag es die Zuschauer beunruhigen, dass sie etwas verpassen könnten – einen Augenblick der Intimität, einen Kuss vielleicht?“108 Gerade diese Mehrdeutigkeit ist das, was Bazin lobt. Interessanterweise sind die Sichtblockaden zugleich ein wichtiges Verfahren der Verfremdung im Sinne von Sklovskij, um dem Werk künstlerische Qualität zu verleihen.109 Außerdem wenden die Regisseure beider Schulen versuchsweise noch weitere Verfahren an, um die Raumkonzeption in ihren Filmen weiterzuentwickeln. So bevorzugt beispielsweise Thomas Arslan die statische Kameraposition, die außer der Beobachterposition noch einen Rahmen-Effekt erzeugt. In einer Abendszene des Films Ferien stellt der Regisseur die Kamera so auf, dass man von außen in ein helles Zimmer schauen und das dortige Geschehen verfolgen kann. Da die Kamera außerhalb und orthogonal zu dem erhellten Fenster steht, bleibt die Wand um das Fenster herum schwarz (Abb. 5-50). Außerdem blockiert ein schwarzer senkrechter Rahmen des Fensters auffallend unseren Blick: Er deutet hier auf die zerbrochene Beziehung zwischen dem Ehepaar hin. Die breiten schwarzen

106 Liptay, Fabienne [2006]: Leerstellen im Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung. In: Koebner, Thomas u.a. [Hrsg.]: S. 127 f. 107 Ebenda, S. 130. 108 McGrath, Jason [2011]: S. 308. 109 Siehe den Theorieteil in dieser Diss. Kap. 4. 3. 1.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 141

Wandbereiche um das Fenster herum vergrößern die Distanz zwischen dem Zuschauer und dem Geschehen in der Diegese. Nicht zuletzt erweitern die Regisseure den diegetischen Raum dadurch, dass sie eine Akustik im Off gestalten. Dabei verhält sich die Kamera wie immer statisch. Bei einer Szene im Film Ferien ist dies der Fall. In diesem Film sieht man eine reine Naturaufnahme – einen vom Wind bewegten Baum – aber zugleich hören wir das Klingeln des Telefons im Off (Abb. 5-51). Mittels des Geräusches im Off weist der Regisseur auf diesen möglichen Raum sowie das mögliche Geschehen außerhalb des sichtbaren Raums hin. Ähnliche Verfahren werden nicht nur von Arslan, sondern auch von anderen Regisseuren der Neuen Berliner Schule angewendet, beispielsweise in Schanelecs Film Nachmittag. Brigitta Wagner fasst die Ästhetik dieses Verfahrens wie folgt zusammen: „This cinematographic evocation of a lack of curiosity (i.e., a camera that does not want to look) once again inverts a classical trope at the site of its dramatic necessity. Schanelec’s resistance to showing it all enriches the function of off-screen space while also suggesting a cinematographic evocation of boredom.“110 Es ist keinesfalls widersprüchlich, im selben Film sowohl die Flächigkeit als auch die Tiefe des Raums darzustellen. In der Tat dienen beide dem ästhetischen Realismus im Film. Wenn die Realismuskonzeption, wie Kirsten festhält, von historischem Kontext zu historischem Kontext und von Zuschauer zu Zuschauer unterschiedlich sein kann,111 dann können sich die Realismuskonzepte auch von Regisseur zu Regisseur unterscheiden.

5.2

Z EITKONZEPT

DER BEIDEN

F ILMSCHULEN

Die Zeit im Film wird in zwei Ebenen unterschieden: die Erzählzeit und die erzählte Zeit. In diesem Teil werde ich zuerst auf die Erzählzeit eingehen, um einen externen Aspekt des Effekts, den die Zeit auf den Zuschauer ausübt, zu analysieren. Anschließend werde ich mittels der Zeit-Theorie Deleuzes die Zeitlichkeit, die als reine und selbständige Dimension innerhalb der Bilder hervorgerufen wird, erörtern. Da sich die Zeit im Film kategorial vom Raum im Film unterscheidet, welcher physische Realität in Kracauers Sinne erlangen kann, schlägt sich die Zeit-Realität unter dem Aspekt der Zeitinszenierung nieder:

110 Wagner, Brigitta [2013]: Framings. In: Cook, Roger F. u.a. [Hrsg.] [2013]: S. 141 f. 111 Vgl. Kirsten, Guido [2013]: S. 25 f.

142 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION „So handelt es sich beim Film nicht um ein zeit-mimetisches, sondern um ein zeit-schöpferisches Medium. Als solches ist es nicht länger der Dynamik der physischen Realität verpflichtet. [...] Vielmehr kann das Medium durch solche Abweichung neue temporale Horizonte neben der physischen Dimension der Zeit – den sichtbaren Bewegungen der Materie – erschließen, wie z.B. die psychische Dimension subjektiver Zeiterfahrung.“112

In diesem Zusammenhang möchte ich in diesem Teil ermitteln, wie die Regisseure beider Schulen ihre zeitliche Vorstellung auf die formale Ebene im Film übertragen. Eine Gemeinsamkeit der meisten Werke beider Schulen – insbesondere der Neuen Berliner Schule (außer einigen Kriminalfilmen) – ist, dass sie den Eindruck der Langsamkeit erwecken. In den meisten Fällen beabsichtigen sie gar keine spannende Dramatik, sondern bevorzugen stattdessen die geduldige Beobachtung des realen, nahezu langweiligen Lebens. „Die kleinen unspektakulären und deshalb vielleicht sogar tatsächlich spektakulären Details des Lebens und des Alltags [in den Werken der neuen Berliner Schule] sind das, was wirklich interessiert.“113 Auch bei den Regisseuren der Sechsten Generation steht die Präsentation des realen Lebenszustands im Mittelpunkt. Allerdings ist Zeit eine abstraktere Form als der Raum. Dank des technischen Fortschritts entwickelte sich trotzdem die Vermittlung der Zeit: von ausschließlich sprachlichen Mitteln bis hin zu audiovisuellen Zeichen. „[Entsprechend] besitzt auch die Zeit keine außersemiotische Realität: der Zugang zu ihr führt stets durch sprachliche Deskription. Die Form der Beschreibungssysteme wiederum prägt unsere Vorstellungen und Empfindungen von Temporalität. […] Im Hinblick auf die Untersuchung filmischer Zeitinszenierungen ist es angebracht, den Fokus zu weiten und statt sprachlicher Beschreibungssysteme mediale Vermittlungen im allgemeinen ins Auge zu fassen.“114

Der langsame Rhythmus in Bezug auf die Zeit ist in den Werken beider Schule auf den ersten Blick deutlich. Der Grund dafür liegt meines Erachtens vor allem in der

112 Volland, Kerstin [2009]: Zeitspieler. Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch. Wiesbaden: VS Verlag, S. 14. 113 Kaiser, Tina Hedwig [2010]: Arbeit mit Fragmenten. Bild und Raum in den Filmen der Berliner Schule. URL: http://www.schett.arch.ethz.ch/film_raum_architektur_ vortragKaiser01.html [10.03.2015]. 114 Volland, Kerstin [2009]: S. 14.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 143

durchschnittlichen Dauer der einzelnen Einstellungen. Offenbar wollen die Regisseure beider Schulen mit Absicht vom klassischen Hollywoodstil abweichen: Während die Hollywoodkinos immer kürzer werdende Einstellungen bevorzugen, benutzen die beiden Schulen bevorzugt lange Einstellungen. 5.2.1

Lange Einstellung

Die Länge der Einstellung hat eine unmittelbare zeitliche Wirkung. Was ist die Mindestdauer einer Einstellung, um als „lange Einstellung“ zu gelten? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Hier möchte ich auf den statistischen Ansatz, der von Barry Salt eingeführt und auch von Bordwell bei der Filmanalyse angewandt wurde, nämlich ASL (average shot length), Bezug nehmen. Es ist die durchschnittliche Einstellungsdauer eines Films, anhand derer man einen genauen Vergleich von Filmen mit unterschiedlicher Länge illustrieren kann. Beispielsweise hat Sally auf diese Weise den Stilunterschied bezüglich der Einstellung zwischen Amerika und Europa in der Zeit von 1912 bis 1917 sowie von 1918 bis 1923 analysiert und daraus folgende Schlussfolgerung gezogen: In beiden Perioden ist die durchschnittliche Einstellungslänge in amerikanischen Filmen 2 Sekunden kürzer als die in europäischen Filmen. Und dieser Unterschied dauerte bis in die späten 20er Jahre an.115 Mittels dieses Ansatzes fasst Bordwell den Stil der Hollywood-Filme zusammen: Die Filme werden seit den 1960er Jahren zunehmend schneller geschnitten. Die ASL beträgt Mitte der 1960er Jahre 6 bis 8 Sekunden; bis in die 1980er Jahre verkürzt sie sich auf 5 bis 7 Sekunden. Am Ende des 20. Jahrhunderts beträgt die ASL der typischen Hollywoodfilme nur 3 bis 6 Sekunden.116 Man kann auch behaupten, dass die ASL in gewissem Maße einen allgemeinen Stil eines Regisseurs, einer Schule oder einer bestimmten Phase widerspiegelt. Deswegen hat Bordwell nach der statistischen Analyse der Filme von Roman Polanski und Mike Nichols festgestellt: „Directors like Roman Polanski and Mike Nichols, who once favored exceptionally long takes, have joined the trend (i. e. rapid editing)“.117 Obwohl Bordwell feststellt, dass sogar Kunstfilme mittlerweile zu einer kürzeren Einstellungsdauer tendieren, beschäftigt er sich dennoch meist mit Main-

115 Vgl. Salt, Barry [1992]: Film style and Technology: History and Analysis. London: Starword, S. 146. 116 Vgl. Bordwell, David [2006]: The Way Hollywood tells it. Berkeley: University of California Press, S. 121-123. 117 Bordwell, David [2006]: S.123.

144 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

stream-Filmen bzw. Massen-Unterhaltungsfilmen. Angesichts dieser allgemeinen Tendenz sind die Längen der Einstellungen der Neuen Berliner Schule und der chinesischen Sechsten Generation eine Ausnahme. Das kann man auf eine andere Tendenz in der Filmgeschichte zurückführen, nämlich das Kino des Minimalismus.118 Die meisten Kunstfilme folgen diesem Prinzip. Im scharfen Gegensatz zu den großen Erzählern des Kinos – Dramatikern und Epikern wie David Wark Griffith, Alfred Hitchcock usw. – bevorzugen Regisseure einer anderen Gruppe wie Robert Bresson, Yasujiro Ozu und Hou Hisao-hsien eine Ästhetik der Reduktion.119 Die lange Einstellung ist ein wirksames Mittel dieses ästhetischen Prinzips. Mittels des Software-Programms auf der Webseite CineMetric120 habe ich die Statistiken der ASL ausgewählter Filme beider Schulen gesammelt. Dafür habe ich jeweils sieben Filme von Regisseuren, deren Filmstile repräsentativ sind, ausgewählt, um einen besseren Vergleich anstellen zu können. Das Ergebnis der Analyse ist im folgenden Säulendiagramm zu sehen: Abb. 1

Durchschnitt=29.9

Standardabweichung=18.4

118 Bordwell, David [2001]: S. 197. Oder siehe: Kapitel 4. 6. 119 Vgl. Grob, Norbert u.a.: „Less is More. Das Minimalistische als ästhetisches Prinzip.“ In: Grob, Norbert u.a. [Hrsg.] [2009]: S. 8-9. 120 Vgl. URL: http://www.cinemetrics.lv/index.php [08.05.2015].

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 145

Abb. 2

Durchschnitt=33.5

Standardabweichung=12.8

Aus den zwei Grafiken (Abb. 1 und 2) kann man schlussfolgern, dass die durchschnittliche Länge der Einstellungen aller ausgewählten Filme von beiden Schulen mehr als 10 Sekunden beträgt und damit länger als die durchschnittliche Länge der Hollywood- oder Mainstream-Filme ist. Man kann ebenfalls erkennen, dass die ASL der Chinesischen Sechsten Generation höher ist als die der Neuen Berliner Schule. Allerdings ist dieser Unterschied unwesentlich gering. Interessanter ist hingegen die Betrachtung der Standardabweichung: Unter den Regisseuren der Neuen Berliner Schule gibt es noch große Unterschiede in Bezug auf die Einstellungslänge, wohingegen die chinesische Sechste Generation relativ gleich verfährt. Nicht zuletzt zeigt sich noch, dass Angela Schanelec und Jia Zhangke die einzigen Regisseure der jeweiligen Schule sind, die lange Einstellungen verwenden. Dieses Verfahren kann jeweils auf den Minimalismus des europäischen Kinos in den 70er Jahren bzw. den asiatischen Minimalismus der 90er Jahre zurückgeführt werden. Bordwell fasst die Tendenz des europäischen Kinos in den 70er Jahren, die den Stil des heutigen europäischen Kinos noch stark geprägt hat, so zusammen: „[sie] liegt etwa zwischen den Tendenzen, [...], zwischen der Rückkehr zur Montage einerseits und der längeren Einstellung mit dem kunstvoll ausgearbeiteten Aufbau andererseits.“121 Dass die Neue Berliner Schule lange

121 Vgl. Bordwell, David [2001]: S. 194.

146 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Einstellungen bevorzugt, beruht auf der europäischen Tradition. Wie in Kapitel 2 bereits aufgezeigt, wählt die Neue Berliner Schule diesen Stil bewusst aus, um sich von der Komödie der 90er Jahre zu unterscheiden. In Ostasien ist diese ästhetische Tendenz (Minimalismus) in den 90er Jahren ebenfalls weit verbreitet,122 Hou Hisa-hsien aus Taiwan und Ozu Yasujirō aus Japan sind bekannte Vertreter. Unter den Regisseuren der Sechsten Generation ist Jia Zhangke derjenige, der – nach eigener Aussage – von Hou beeinflusst wurde,123 wohl u.a. durch den Einsatz langer Einstellungen. Die lange Einstellung erlaubt mehrere filmische Verfahren, z.B. die Verwendung der Plansequenz. Laut Bazin kann der Film vor allem das Medium der Dauer sein. Ihm zufolge setzt die Plansequenz „die Respektierung der Einheit des Ortes und natürlich der Dauer des Geschehens voraus.“124 Sie ist „kein passives Registrieren“125, sondern „im Gegenteil [...] die Weigerung, das Geschehen zu zerstückeln, seinen dramatischen Gehalt in der Zeit zu analysieren, dessen Wirkung der des klassischen Schnitts überlegen ist.“126 In einer Sequenz des Films Xiao Wu präsentiert der Regisseur in nur einer Einstellung eine abgeschlossene Handlung: Meimei ist krank zu Hause, Xiaowu besucht sie und hört sie singen (Abb. 5-52 und 5-53). Diese Einstellung dauert mehr als 6 Minuten und kann als eine Plansequenz angesehen werden, wobei der Zuschauer keine Langeweile empfindet, sondern den Moment mit den Figuren zusammen erlebt. Eine ähnliche Einstellung findet sich im Film Mein langsames Leben. In einer mehr als 5 Minuten dauernden Szene präsentiert uns die Regisseurin auch in einer einzigen Einstellung ein normales Treffen der Protagonisten in einer Bar (Abb. 5-54 und 5-55). Durch ihre extreme Länge wird die Zeitwahrnehmungsgewohnheit der Zuschauer herausgefordert. Im Unterschied zur Einstellung in Xiao Wu, die mit einer Handkamera aufgenommen und somit wacklig und unruhig ist, ist die Kamera hier auf einem Stativ fixiert, sodass das Bild sehr stabil ist. Man kann diese Einstellung also sowohl als eine lange als auch als eine statische Einstellung ansehen.

122 Vgl. Bordwell, David [2005]: figures traced in light. On Cinematic Staging. Berkeley u.a.: University of California Press. S. 233. 123 Jia, Zhangke: Regisseur Hou, Hsiao-Hsien (Houdao, Xiaoxian). URL: http://www. douban.com/note/182049227/ [23.04.2015], übersetzt von Tang, Yuanyuan. 124 Bazin, André[2004]: S.102. 125 Ebenda, S.102. 126 Vgl. ebenda, S. 102.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

5.2.2

| 147

Statische Einstellung

Auch die statische Einstellung ist ein Verfahren, das den Rhythmus eines Films verlangsamen kann. Die statische Kameraeinstellung repräsentiert die Stelle des distanzierten Beobachters. Von hier aus verlagert sich die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die zeitliche Ebene. 5.2.2.1 Die subjektive Dauer im Bild Henri Bergson unterscheidet zwei Zeitarten: die objektive Zeit und die subjektive Zeit. „Mit der objektiven Zeit verbindet sich die Idee gleichförmiger Gegenwartspunkte, welche sich aneinander reihen und zu einer Zeitgeraden fügen, die sich vermessen lässt. [...] Die subjektive Zeit hingegen zielt auf die innere Zeitlichkeit des Subjekts – sowohl auf die einzigartige Qualität seiner Zeiterfahrung als auch auf seine Zeitigungsstrukturen.“127 Nach Kerstin Volland bezeichnet Bergson „das objektive, qualitätslose Zeitmuster zur Strukturierung der Erfahrungswirklichkeit“ als „homogene Zeit“ und die innerliche subjektive Zeit als „Dauer“ 128. So schreibt sie: „In der subjektiven Dauer entdeckt Bergson das Wesen der Zeit. Ihre Wahrheit ist dem subjektiven Erleben vorbehalten. Allein der Blick nach innen offenbart die raum-unabhängige Form der Temporalität – die reine Dauer.“ 129 Außerdem konstruiert die Dauer „keine Abfolge, sondern ein bewegliches Zeitgewebe.“130 Sie ist „unvorhersehbar und produktiv“ und „gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Koexistenz von virtueller Vergangenheit und aktueller Gegenwart.“131 Das ist eine komplizierte zeitliche Erfahrung in der subjektiven Welt. Zwar hat Bergson die Dauer hervorgehoben, doch „hält er den Film keinesfalls für geeignet, einen authentischen Eindruck der Dauer zu vermitteln.“ 132 Allerdings hat der Film tatsächlich das Potential, das Erlebnis der Dauer aus dem Bereich des Subjektiven zu befreien und einem Publikum zu kommunizieren.133 Es war Gilles Deleuze, der dies entdeckte. Im Anschluss an die Theorie von Bergson entwickelt Deleuze die Zeittheorie im Filmbereich und erforscht die vom Raum unabhängige

127 Volland, Kerstin [2009]: S.15. 128 Ebenda, S.56. 129 Ebenda, S.56. 130 Ebenda. 131 Ebenda. 132 Ebenda, S. 58. 133 Vgl. ebenda, S. 61.

148 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Zeit, die „nicht den Sinnen zugänglich, sondern dem Denken vorbehalten ist“134: „Anstatt der Zeiterfahrung, die sich einstellt, wenn man nach außen in die Welt schaut, verhilft das Cinema direkt einer Zeitdynamik zum Ausdruck, die sich allein der nach innen gerichteten Kontemplation offenbart. Es dringt in eine Zeitlichkeit ein, die nicht den Sinnen zugänglich, sondern dem Denken vorbehalten ist.“135 Da Deleuze seine Zeittheorie hauptsächlich in Rahmen des europäischen Avantgardekinos (italienischer Neorealismus, Nouvelle Vague, auch Ozus Film als Avantgarde im damaligen Asien) diskutiert und solche Filmströmungen auch die Neue Berliner Schule und die Sechste Generation prägen, beziehe ich mich auf seine Theorie, um das Zeitkonzept in diesen beiden gegenwärtigen Filmströmungen zu verdeutlichen. Da die Theoriesysteme von Bergson und die von Deleuze zweifellos komplex und umfangreich sind, verwende ich in meiner Arbeit hier nur die Teile davon, die für die Analyse von Bedeutung sind. Nur sehr selten sieht man in den Filmen beider Strömungen schnelle Kamerafahrten. Meistens wird die Kamera ruhig und langsam geführt. Die statische Kameraposition ist ein häufig gewähltes Verfahren der Neuen Berliner Schule, beispielsweise in Filmen wie Mein langsames Leben oder Nachmittag von Angela Schanelec, Ferien von Thomas Arslan und Barbara von Christian Petzold. Bei der Sechsten Generation hingegen gibt es zwar kein so offensichtliches Stilmittel wie bei der Neuen Berliner Schule, aber auch in einigen der chinesischen Filme befinden sich statische Kamerastellen, wie z.B. in The Orphan of Anyang von Wang Chao, in dem es fast keine Kamerabewegung gibt, oder in Still Life von Jia Zhangke, bei dessen Titel man sich schon den langsamen Rhythmus vorstellen kann. Außerdem sind die meisten statischen Einstellungen tatsächlich auch lange Einstellungen. Auch in Arslans Film Ferien wird die Kamera in allen Einstellungen stets statisch positioniert. „Kamerabewegungen, die in seinen vorherigen Spielfilmen stets eine wichtige Rolle spielten, finden fast überhaupt nicht mehr statt. Die fast unbarmherzig kadrierten Bilder schreiben die Figuren in scheinbar endlosen, meist halbnahen Einstellungen ein, solange, bis sie die Flucht ergreifen und das Rechteck der Leinwand verlassen“136, wie Lukas Foerster diesen Film beschreibt. Als Beispiel werde ich zwei Einstellungen des Films vorstellen: die aufeinander

134 Ebenda, S.88. 135 Ebenda. 136 Foerster, Lukas [2007]: Kritik an Ferien. URL: http://www.critic.de/film/ferien-794/ [23.04.2015].

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 149

folgenden fünf Abbilder (5-56 – 5-60) kommen aus derselben Einstellung, in der die Kamera an einer festen Stelle bleibt und beobachtet. Am Anfang sieht man nur die Natur (Abb. 5-56), erst nach einer Weile kann man erkennen, dass sich ein Auto vom fernen Wald nähert. Statt das Auto heranzuzoomen, bleibt die Kamera stets ruhig. Das Auto wird als kleine Gestalt in der Totalen gezeigt (Abb. 5-57) und dann wie es – immer größer werdend – auf die Kamera zukommt (Abb. 5-58) und sie gleich wieder verlässt (Abb. 5-59). Nicht einmal in diesem Moment schwenkt die Kamera mit dem vorbeifahrenden Auto mit, sondern nimmt weiterhin still die Natur und den vom Auto aufgewirbelten Staub auf (Abb. 5-60). In der anschließenden Einstellung (ab Abb. 5-61) verwendet Arslan dasselbe Verfahren, um von einer festen Stelle aus das weiterfahrende Auto zu zeigen, bis es zu einem kleinen Punkt in der Ferne wird (Abb. 5-62) und wieder im Wald verschwindet (Abb. 5-63). Am Ende dauert die leere Einstellung noch ein paar Sekunden, wodurch der Zuschauer noch eine Weile mit einem rein visuellen und akustischen Bild konfrontiert ist. Abgesehen davon tauchen solche statischen Einstellungen noch vielmals im Film auf, meistens in einer Naturaufnahme. „Arslan strukturiert den Film durch Naturaufnahmen, die die Handlung zwar unter-, nicht aber aufbrechen. Die Bäume und Sträucher, die das Anwesen umgeben, stellen keine Ausbruchsmöglichkeit, sondern lediglich einen zusätzlichen Rahmen für die einzelnen Figuren und Handlungsstränge dar.“137 In der statischen Naturaufnahme kann der Zuschauer durch die eine besondere Zeitform wahrnehmen. Außer den oben erläuterten und abgebildeten Naturaufnahmen im Film von Arslan gibt es noch zahlreiche weitere solche Einstellungen in den Werken der Neuen Berliner Schule, wie zum Beispiel in Nachmittag von Schanelec (Abb. 5-64) und in Wolfsburg von Christian Petzold (Abb. 5-65). Hier könnte die Naturaufnahme ihre Quelle auch in der traditionellen chinesischen Kultur finden. Schon im Theorieteil habe ich beim Vergleich der westlichen und der chinesischen Malerei dargestellt, dass die chinesische Malerei ein Sinn-Bild zu schaffen versucht. Das Sinn-Bild deutet auf ein subjektives Betroffensein und Empfinden hin. Vor traditionellem Hintergrund stellt der chinesische Filmkritiker Wang Zhimin fest, dass es ein relativ selbständiges Sinn-Bild in jeder Naturaufnahme im Film gibt. Mittels des in der Naturaufnahme gezeigten Bildes kann nämlich ein Sinn vermittelt werden.138 Um die Andeutung der Naturauf-

137 Ebenda. 138 Vgl.Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: S. 371.

150 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

nahme zu erklären, führt Wang den Begriff „Dritte Semiotik“139 ein, der von ihm zum ersten Mal in seinem Buch Analytische Theorie der Filmästhetik (Dianying Meixue Fenxiyuanli) versuchsweise erklärt wird. Die Dritte Filmsemiotik basiert, wie der Name sagt, auf der sogenannten Ersten und Zweiten Filmsemiotik.140 Wang hält die Dritte Filmsemiotik für die höchste Phase der Filmkunst, nämlich die wahrhaft ästhetische Phase. Nach seiner Meinung enthält die Dritte Filmsemiotik zwei Ebenen: die Aura und den Stil auf der Ebene des Signifikats und das Schema und Leitmotiv auf der Ebene des Signifikanten.141 Demgemäß erklärt Wang mit Hilfe der Dritten Filmsemiotik die Naturaufnahme folgendermaßen: „Die Naturaufnahme hat die Verbindung des Sinnes und des Bildes erlangt, indem sie die materielle Ebene (Image, Schema) – die Ebene des Signifikanten und die übertragene Ebene (Empfinden und Aura) – die Ebene des Signifikats zusammenbindet.“142 „Das Sinn-Bild ist das Kristall von Natur mit Leben, auch von der ästhetischen Erfahrung. Wie die Kamera die Natur aufnimmt und sie treffend ausdrücken kann, handelt es sich sowohl um die Grundmaterialien, die die Naturaufnahme konstruieren, als auch um das unterschiedlich nationale Eigentum und das ästhetische Konzept, die umgekehrt ein solches ‚Sinn-Bild‘ bestimmen.“143

Durch solche Naturaufnahmen in den Filmen kann man auch eine eigentümlich deutsche Landschaft oder Stimmung empfinden. Die Naturaufnahmen in den Filmen – besonders die statischen – sollen eine innerliche Ruhe auslösen. Ich komme nun wieder auf die Zeitkonzepte von Deleuze zurück, um das Problem unter einem anderen Aspekt zu analysieren. Deleuze begreift die Zeit als eine Einheit von Aktualität und Virtualität. Die erste kann als ununterbrochen sich fortsetzende Gegenwart und die zweite als sich virtuell akkumulierende Vergangenheit aufgefasst werden. Beide sind untrennbar und koexistent. Das ist der

139 Wang, Zhimin [1993]: Analytische Theorie der Filmästhetik (Dianying Meixue Fenxiyuanli). Peking: China – Film Press, S. 185. 140 Die Erste und Zweite Semiotik sind gängige Ausdrucksweisen im Rahmen der chinesischen Filmtheorie. Sie beziehen sich jeweils auf die auf dem Strukturalismus basierende Filmsemiotik in den 1960er Jahren und die auf der Psychoanalyse und Ideologiekritik basierende Filmsemiotik in den 1970er Jahren. 141 Wang, Zhimin [1993]: S. 185. 142 Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: S. 371. 143 Ebenda.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 151

eigentümliche Charakter des Filmbildes, der von Deleuze als „Kristallbild“ 144 definiert wird. Er hält das Kristallbild für das rechte Zeit-Bild: „Es ist notwendig, dass sie [die Gegenwart] vergeht, damit die Ankunft einer neuen Gegenwart sich ereignen kann, und es ist gleichermaßen notwendig, dass sie im selben Augenblick vergeht, in dem sie gegenwärtig ist, im selben Augenblick, in dem sie dies ist. Folglich ist es notwendig, dass das Bild gegenwärtig und vergangen ist, noch gegenwärtig und schon vergangen, beides zur gleichen Zeit. [...] Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Die Gegenwart ist das aktuelle Bild, und seine zeitgleiche Vergangenheit ist das virtuelle Bild, das Spiegelbild.“145

In den oben angeführten Filmbildern gibt es einen ähnlichen Ansatz, nach dem solche statischen Einstellungen das sogenannte Kristallbild – ein gewisses Zeit-Denken – am besten zum Ausdruck bringen können: In solchen statischen Einstellungen wird die Gegenwart fortgesetzt, die vorübergehende Gegenwart kann man durch die Bewegung der Gegenstände im Bild (des Autos, der Figuren oder der Bäume und des Röhrichts im Wind) sowie ihre Geräusche empfinden. Gleichzeitig ist dieser Moment vergangen und – nach Deuleuzes Begrifflichkeit – auch „akkumuliert“. Meines Erachtens kann die statische Einstellung dem Zuschauer besser zur Wahrnehmung der Akkumulation der Zeit verhelfen, weil sie den Blick des Zuschauers lange Zeit auf denselben Gegenstand heftet, wohingegen die sich bewegende Kamera seinen Blick immer von einem Gegenstand zum anderen lenkt. Deswegen ist es für den Zuschauer nicht leicht, die Akkumulation der Vergangenheit (virtuelle Zeit) wahrzunehmen. Der Augenblick muss sowohl gegenwärtig als auch vergangen sein, die Gegenwart und die Vergangenheit koexistieren. „Das Aktuelle ist immer objektiv, doch das Virtuelle ist das Subjektive: es war zunächst der Affekt, den wir in der Zeit erleben; später die Zeit selbst, reine Virtualität, die sich in Affizierendes und Affiziertes aufteilt, ‚Selbstaffektion durch sich selbst‘ als Bestimmung der Zeit.“146 Das bedeutet nach Volland, dass „man notwendigerweise die interne Verdoppelung des Augenblicks annehmen [muss], um das Vergehen von Zeit erklären zu können.“147 Und daraus folgt eine innerliche Dauer beim Zuschauer – ein

144 Deleuze, Gilles [1997]: S. 96. 145 Ebenda, S. 108-109. 146 Ebenda, S. 113. 147 Volland, Kerstin [2009]: S. 100.

152 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

„Moment der innerpsychischen Dauer“ 148 . Zugleich kann die innerliche oder subjektive Dauer des Zuschauers, die als Expansion der subjektiven Zeit bezeichnet werden kann, auch als eine Verfremdung der zeitlichen Wahrnehmung des Zuschauers verstanden werden, weil sie den Zuschauer im Augenblick der Zeitwahrnehmung fesselt. Er nimmt die ungewöhnliche Zeit wahr. „Das Kristallbild war nicht die Zeit, doch man sieht sie im Kristall.“149 Allerdings sind solche Bilder auch sehr realistisch, denn gerade die virtuellen Bilder erhalten „die temporale Mehrdeutigkeit aufrecht“150, welche nach Bazin ein wesentliches Attribut der Realität ist. Kerstin Volland zufolge verschaffen die Kristallbilder dem Gezeigten eine weitere Sinndimension, „indem sie seine virtuelle Kehrseite [Kristallbilder] einblenden: Vergangenheitsaspekte, die sich nicht zugetragen haben, sowie dadurch verstellte zukünftige Entwicklungen. Diese äonische Zeitlichkeit des Virtuellen formt im Kristallbild eine eigenständige, abgekapselte Realität aus.“151 Obwohl das, was sich in den Naturaufnahmen niederschlägt, eigentlich in gewissem Maße einer chinesischen traditionellen ästhetischen Vorstellung entspricht, tauchen sie in den Werken der Sechsten Generation kaum auf. Stattdessen werden die statischen Einstellungen in den meisten Fällen mit Stadtlandschaften und Menschen gefüllt. Das könnte auch durch das Thema sowie den jeweiligen Gesellschaftshintergrund bedingt sein: Die Regisseure können damit eine soziale Umgebung gestalten, die in ihren Filmen eine wichtige Rolle spielt. Der Regisseur Wang Chao verwendet beispielsweise am Anfang seines Films The Orphan of Anyang acht statische Einstellungen, in denen keine richtige Geschichte erzählt wird. Wang stellt mit dieser Reihe von Einstellungen nur den Protagonisten Datong und seine Umgebung vor (Vgl. Abb. 5-66 und 5-67). Der Zuschauer sieht Datong auf der Straße, in der Ecke der heruntergekommenen Fabrik herumlungernd: Es wird eine „rein optische und akustische Situation“152 im Sinne Deleuzes erzeugt. Die weitere beispielhaft angeführte Szene (1 Minute 45 Sekunden) zeigt unter dem Gesichtspunkt einer akkumulierenden Zeit einen ähnlichen Ansatz wie in Ferien: Anfangs steht die Kamera an einer niedrigen Stelle und zeigt die Kohlenhalde in der Totalen (Abb. 5-68). Dann kommt Datong als kleine Gestalt von vorn rechts ins Bild hinein (Abb. 5-69) und verlässt es gleich wieder auf der

148 Ebenda, S. 16. 149 Ebenda, S. 112. 150 Ebenda, S. 102. 151 Ebenda. 152 Deleuze, Gilles [1997]: S. 13.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 153

anderen Seite (Abb. 5-70). Dann bleibt das Bild für eine kurze Weile leer wie am Anfang (Abb. 5-71). Anschließend kommt Datong von links wieder ins Bild zurück, während zeitgleich ein Traktor von rechts in den Bildhintergrund fährt (Abb. 5-72). Schließlich geht Datong in das Off des Bildes (Abb. 5-73). Anhand der danach präsentierten Handlung erfahren wir, dass Datong an diesem Tag seinen Arbeitsplatz verliert. Der Regisseur charakterisiert mit der statischen Einstellung die Stimmung der ganzen Handlung, ohne dabei auf handlungsrelevante Elemente zu verweisen. Außerdem wird in einer derartigen Einstellung ein innerer Rhythmus in Bezug auf das Bild erzeugt, was im kommenden Teil erörtert wird. Dieser Film löst im damaligen China zwei unterschiedliche Diskurse aus: Manche teilen die Meinung, dass der Film den realistischen Lebenszustand der Unterschicht oder sogar der ganzen Gesellschaft widerspiegelt. Andere hingegen werfen dem Film vor, absichtlich Dramaturgie zu konstruieren und affektiert und unreal zu wirken. Dazu Stellung nehmend erklärt der Regisseur Wang in einem Interview, er denke, der richtige Realismus solle zwei Aspekte beinhalten: Der eine sei die Registrierung im Sinne Kracauers und des Naturalismus und der andere der Scharfsinn und die Generalisierungsfähigkeit der Realität gegenüber. Der Mangel an solchem Scharfsinn und an metaphysischer Generalisierungsfähigkeit führt allerdings dazu, dass die Werke, die registrieren, für real gehalten und die Werke, die die Realität auf der formalen Ebene zu durchschauen versuchen, für unreal gehalten würden.153 Die Erklärung von Wang betrifft gerade auch das angeblich ambivalente Verhältnis zwischen Realität und Verfremdung, welches ich in dieser Arbeit zu ermitteln versuche. Die Verfremdung in Bezug auf die Form und die Wahrnehmung könnte hier als Brücke gesehen werden, durch die man von der oberflächlichen thematischen Realität zur innerlichen metaphysischen Empfindung der Realität übergehen kann. 5.2.2.2 Der Rhythmus innerhalb des Bildes Die innerliche subjektive Dauer bzw. die akkumulierende Zeit im Kristallbild, die sich in der statischen Einstellung niedergeschlagen hat, sollten der Kategorie der abstrakten inneren Zeitvorstellung zugeordnet werden. In diesem Teil wird ein anderes Element aufgegriffen, das ebenfalls in Wechselwirkung mit der Zeit steht, nämlich der Rhythmus im Bild. Obwohl uns die lange statische Einstellung in der Regel ein Langsamkeitsgefühl suggeriert, ist die Konstellation veränderbar, indem der Regisseur mit einer Mise-en-scène einen Rhythmus innerhalb einer Ein-

153 Interview mit Wang Chao, geführt von Dai Jingting. URL: http://www.jintian.net/ fangtan/daijingting.html [23.04.2015], übersetzt von Tang,Yuanyuan.

154 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

stellung schafft, ohne eine Montage zu benutzen. In den oben angeführten Szenenbeispielen aus dem Film The Orphan of Anyang (Abb. 5-68 – Abb. 5-73) kann das menschenleere Bild dieser Einstellung (Abb. 5-68 und Abb. 5-71) als Bezugspunkt gesehen werden. Die anderen sich bewegenden Figuren (menschliche oder Verkehrsmittel) in dieser Einstellung orientieren sich gleichsam stets an diesem Bild, denn das Bild wird durch die Mise-en-scène rhythmisch präsentiert. Am Anfang ist die Kohlenhalde als leere Einstellung in der Totalen zu sehen, dann sehen wir eine Figur die Kohlenhalde von rechts nach links durchqueren, anschließend ist die Kohlenhalde wieder als leere Einstellung zu sehen, und dann taucht die Figur wieder im Bild auf. Dementsprechend ist uns eine Dynamik innerhalb des Bildes vorgestellt worden. Ein weiteres anschauliches Beispiel gibt es in Schanelecs Film Nachmittag. In der im Folgenden beschriebenen statischen Einstellung, die 2 Minuten 31 Sekunden dauert, ist offensichtlich eine ähnliche Dynamik spürbar. Zu Beginn der Einstellung ist der Rumpfbereich einer Frau in Nahaufnahme zu sehen (Abb. 5-74) und man erkennt, dass die Familie nach dem Essen mit Aufräumen beschäftigt ist. Dann verlässt die Figur das Bild, welches also leer bleibt (Abb. 5-75). Nach einer kurzen Weile sieht man lediglich den Kopf einer Frau, die anscheinend Müll entsorgt (Abb. 5-76) und dann das Bild wieder verlässt, sodass es wieder leer ist (Abb. 5-77). Die Bewegung der Figuren innerhalb der statischen Einstellung setzt sich im Folgenden noch mit derselben Dynamik fort: Man sieht die Frau mit dem weißen Kleid und die Frau mit dem dunkelblauen Pullover verschwommen in einer Großaufnahme im Vordergrund an der Kamera vorbeigehen, sodass das leere Bild zweimal wiederholt wird. (Abb. 5-78 – 5-81). Bis ein Kind von hinter der Kamera ins Bild kommt – sodass sein Hinterkopf in einer Großaufnahme zu sehen ist und das Bild wieder nach rechts verlässt (Abb. 5-82), dann erscheint wieder das leere Ausgangsbild (Abb. 5-83). Nach ein paar Sekunden kommt das Kind wieder ins Bild (Abb. 5-84), nimmt sich die Kirschen vom Tisch, geht zum Fenster und lehnt sich an die Heizung. Zu diesem Zeitpunkt kann das Bild für leer im Sinne des Bezugspunktes gehalten werden (Abb. 5-85). In der restlichen Zeit der Einstellung kommen immer wieder Figuren aus verschiedenen Richtungen kurz ins Bild, Geschirr vom Tisch nehmend oder aufräumend (Abb. 5-86, 5-88, 5-89, 5-92, 5-94, 5-95, 5-96), verlassen es gleich wieder und das Bild bleibt wieder leer (Abb. 5-91 und 5-93). Inzwischen geht das Kind hinaus und steht für eine Weile auf dem Balkon (Abb. 5-90 – 5-97), kommt dann wieder herein und verlässt das Bild (Abb. 5-98). Die Einstellung endet damit, dass die Frau mit dem dunkelblauen Pullover ein kleines Bündel Kirschen an die Vase hängt und dann ruhig in Frontalaufnahme gegenüber der Kamera stehen bleibt (Abb. 5-99).

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 155

Aus den obigen Filmausschnitten ergibt sich, dass das leere Bild (Ich habe ein paar irrelevante Bilder weggelassen, damit das leere Bild möglichst in der rechten Spalte erscheint. wie eine Interpunktion fungiert. Durch die zeitweilige Pause in Form des leeren Bildes wird ein Tempo bzw. Rhythmus in der Bewegung innerhalb dieser Einstellung suggeriert. Mittels einer Bewegungskurve können wir diesen linearen Rhythmus innerhalb des Bildes wie folgt anschaulich verdeutlichen: Grafik 5-3: Nullstellen (P, P1, P2, P3...): das leere Bild

Kurve A: Rhythmus der Bewegung im Bild

Anhand dieser Grafik können wir deutlich sehen, dass die Regisseurin das leere Bild stets periodisch zwischen die Bewegungen der Figuren setzt. Aufgrund dieser leeren Bilder (P1, P2, P3...), die als eine Interpunktion fungieren, entsteht eine Dynamik innerhalb des Bildes selbst, was als formale Dynamik gesehen werden kann, obwohl sich die Kamerastelle dabei nie verändert. In Anlehnung an Tschechows Theaterstück Die Möwe will die Regisseurin in diesem Film anscheinend eine disharmonische Ruhe in einer Familie zeigen, was auch durch die wortkargen Dialoge und die statische Kameraposition erkennbar ist. Darüber hinaus kann man die Zeit in Deleuzes Sinn gerade in der Ruhe spüren. So beschreibt Rüdiger Suchsland den Film: „Man muss das so ruhig und technisch präzise erzählen, um die Ruhe dieses Films erahnen zu lassen, um eine Vorstellung von Nachmittag zu geben. Schanelecs Bilder sind wie Gemälde; sie ruhen in sich selbst, sie wollen lange angeschaut werden, und sie geben dem Betrachter

156 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

dazu die Zeit.“154 Die rhythmische Bewegung innerhalb dieser Einstellung kann paradoxerweise als eine in der Ruhe befindliche Dynamik (Unruhe) angesehen werden. Weiterhin setzt die Regisseurin auch in dieser Einstellung die Schärfentiefe als Stilmittel ein (Abb. 5-85 – 5-98). Für Bazin hat die Schärfentiefe eine Wirklichkeitsfunktion, vor allem wenn sie die Mehrdeutigkeit des Realen hervorhebt. Während des Diskurses über das Kristallbild argumentiert Deleuze weitergehend für diese Ansicht: „Die Bildtiefe hat vielmehr die Funktion, das Bild im Kristall zu konstituieren und das Reale, das gleichermaßen durch das Virtuelle wie durch das Aktuelle hindurchgeht, zu absorbieren.“155 Neben dem Rhythmus im Bild lässt sich ein weiteres Merkmal der Einstellung hervorheben: die abgeschnitten Körperteile im Bild. Bei den insgesamt vier Figuren sieht man nur das Gesicht des Kindes. Von den anderen drei Erwachsenen werden nur einzelne Körperteile gezeigt (Abb. 5-76 ist die einzige Ausnahme). Dieser Aspekt kann mit Hilfe des Begriffs des Wirklichkeitseffekts von Guido Kirsten erklärt werden: Ihm zufolge soll der gezeigte Körperteil als „überflüssiges Detail“ verstanden werden, welches ein wichtiges Merkmal des Wirklichkeitseffekts ist.156 „Die ‚Wirklichkeitseffekte‘ in Form oder als Folge von dramaturgisch funktionslosen Details können gerade aufgrund ihrer Funktionslosigkeit auf sich aufmerksam machen und so einer ästhetischen Immersionswirkung eher entgegenwirken.“157 Außerdem sind die abgeschnittenen Körper – die ohne Kopf gezeigten Großaufnahmen – eine geschickte Technik, um die Dinge, die man normalerweise leicht ignoriert, hervorzuheben. Auch bei Kracauer kann man ein Argument dafür finden: Im Diskurs um die enthüllende Funktion des Films stellt er fest, dass die Enthüllung des normalerweise Unbeachteten eine jener drei enthüllenden Funktionen des Films sei, die die physische Realität darstellen. 158 Meines Erachtens ist das eigentlich sowohl ein Akzent (wegen der Großaufnahmen und der Wiederholung) als auch eine gewisse absichtliche Eliminierung (durch die abgeschnittenen Aufnahmen bleibt das Gesicht oder der Gestus ungezeigt). Schanelec schwächt hier die Grundfunktion der Großaufnahme – die Darstellung des innerlichen Gefühls, indem sie die Gesichtsgroßaufnahme von

154 Suchsland, Rüdiger: Die Ohnmacht der Bilder. URL: http://www.artechock.de/film/ text/kritik/n/nachmi.htm [23.04.2015]. 155 Deleuze, Gilles [1997]: S. 116. 156 Kirsten, Guido: Die Liebe zum Detail. Bazin und der ‹Wirklichkeitseffekt› im Film. In: montage AV 18/1/2009, S. 141 ff. 157 Ebenda, S. 151. 158 Vgl. Kracauer, Siegfried [2009]: S.77.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 157

den Figuren abgrenzt. Hierdurch versucht sie die Realität zu betonen, den realen Lebenszustand. Nach Kracauer seien „diese großen Bilder der kleinen materiellen Phänomene“ auch „eine Entdeckung neuer Aspekte der physischen Realität“.159 So erklärt er: „Jede Großaufnahme enthüllt eine und unerwartete Formationen der Materie (sic); das Gewebe einer Haut erinnert an Luftaufnahmen, Augen verwandeln sich in Seen oder vulkanische Krater. Dergleichen Bilder erweitern unsere Umwelt in doppeltem Sinne: sie vergrößern sie buchstäblich; und eben dadurch sprengen sie das Gefängnis konventioneller Realität, Bezirke erschließend, die wir zuvor bestenfalls im Traum durchstreift haben.“

160

Aus anderer Perspektive verweisen die abgeschnittenen Großaufnahmen auch auf die Mehrdeutigkeiten – die uns verborgene Realität des Alltags. Gerade der Alltag ist ein wichtiges Thema der beiden Filmströmungen, was sich ja bereits in der Themenanalyse zeigte. Die Regisseure beider Schulen haben in Interviews häufig bekundet, dass sie Zustände und Prozesse des Alltags zeigen wollen. Bei der Definition des Neorealismus hat Deleuze die rein optische und akustische Situation als dessen Kennzeichen genannt. Sie steht der „sensomotorischen Situation“161 im Sinne des traditionellen Realismus entgegen. Ihm zufolge hat die Alltäglichkeit auch rein optische und akustische Merkmale, „weil sie sich desto mehr der Möglichkeit öffnet, ganz unvermittelt – bei der geringsten Gelegenheit, welche das Gleichgewicht zwischen Reiz und Reaktion beeinträchtigt […] – den Gesetzen dieses Schematismus zu entrinnen, um sich in einer visuellen und akustischen Nacktheit, Rohheit und Brutalität zu offenbaren, die sie unerträglich machen […].“ 162 Hier präsentiert Schanelec uns die Banalität bzw. die Nacktheit des Alltags. Es ist zwar real, aber gleichzeitig empfinden wir es als ungewöhnlich. 5.2.3

Zeitsymbole: Wasser und Mauer – Bewegung und Ruhe

5.2.3.1 Das Wasser als Zeitsymbol im Film Yella Deleuze arbeitet in Renoirs Filmen die große Bedeutung des Wassers im Kristallbild heraus. „Ihm [Renoir] zufolge gibt es zwei Zustände des Wassers: das gefrorene Wasser an der Fensterscheibe, am flachen Spiegel oder in der Tiefe des

159 Vgl. ebenda, S. 79. 160 Ebenda, S. 80. 161 Deleuze, Gilles [1997]: S. 13. 162 Ebenda, S. 14.

158 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Kristalls; und das lebhafte und fließende Wasser.“163 In diesem Teil wird das Wassersymbol in Yella interpretiert. Nach Deleuze nimmt man das Kristallbild als abgeschlossene Einheit wahr, in der die Zeit eine doppelte Bewegung vollzieht: eine, „die Gegenwarten vorübergehen zu lassen, die eine Gegenwart durch die andere zu ersetzen, um sich der Zukunft hinzuwenden;“164 und die andere, „die Gesamtheit der Vergangenheit zu bewahren.“165 Die beiden Tendenzen ersetzen in diesem Kristallbild einander und erscheinen als untrennbar, sodass „die Trennung und Differenzierung“166 kaum ihren Höhepunkt erreichen kann. Aber die Konstellation kann sich unter der folgenden Bedingung verändern: „Jetzt dagegen kann sich die Trennung vollenden, aber nur unter der Bedingung, dass eine der beiden Tendenzen aus dem Kristall durch den Fluchtpunkt entweicht. Aus der Ununterscheidbarkeit von Aktuellem und Virtuellem muss eine neue Unterscheidung als eine zuvor nicht existente Wirklichkeit entweichen.“167 In diesem Fall kann das Wasser gerade als wichtiges Symbol, das durch den Riss des Kristallbilds entweichen kann, angesehen werden. Mit dem Symbol Wasser realisiert Petzold in seinem Film Yella einen Übergang zwischen zwei Erzählwelten: Die eine ist Wittenberg, die Heimat der Protagonistin. Hier ist ihre Ehe gescheitert, weswegen sie diese Welt verlassen will. Die andere ist das kapitalistische Hannover, wo sie einen neuen Geliebten findet und einen Neuanfang versuchen will. In diesem Film tauchen insgesamt sieben Wasserszenen auf: Erstens, beim Autounfall (Fluss); zweitens, als Yella zu ihrem Vater zurückkehrt und ihn umarmt (der See in der Ferne); drittens, als das Glas auf den Boden fällt und Wasser verspritzt (Wasser); viertens, bei ihrer Suche nach Ben (Yellas Ex-Mann) außerhalb des Hotels in Hannover (See); fünftens, bei der Versöhnung zwischen Yella und Phillip (See); sechstens, beim Selbstmord des Unternehmers im See neben seinem Haus (See); siebtens, wieder beim Autounfall wie am Anfang (Fluss). Die Funktion des Wassers in Deleuzes Sinn ist dabei beim ersten und letzten Mal am offensichtlichsten. In der Anfangsszene fährt Ben Yella zum Bahnhof, da sie eine neue Arbeit in Hannover beginnt. Auf der Fahrt wird er allerdings sehr wütend, weil Yella sich sehr distanziert verhält. Aus Enttäuschung über die zu-

163 Ebenda, S. 119. 164 Ebenda. 165 Ebenda. 166 Ebenda. 167 Ebenda.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 159

kunftslose Liebe entgleitet Ben auf einer Brücke das Steuer, sodass das Auto in den Fluss stürzt und viel Wasser umherspritzt (Abb. 5-100). In der nächsten Szene retten sich beide ans Ufer. Yella rafft sich erschöpft auf (Abb. 5-102) und erreicht noch den Zug nach Hannover. Erst am Ende des Films, als Yella in Hannover in einem Taxi sitzt, knüpft der Regisseur an die Unfallszene am Anfang an (Abb. 5-101), bei der Yella in Bens Auto auf dem Weg zum Bahnhof sitzt. Im Unterschied dazu greift Yella dieses Mal aber nicht nach dem Steuer, um den Unfall zu stoppen, sondern lässt das Auto ruhig in den Fluss stürzen. Freilich kann weder der Zuschauer noch der Regisseur wissen, welche Variante die reale Welt wiedergibt. Das Wasser fungiert hier dennoch als Durchbruchspunkt: es führt die Figur samt ihrem Leben, bricht die gegenwärtige Welt auf und fließt in eine andere Welt, wie es am Anfang des Films gezeigt wird. Am Ende kehren dir Figuren mittels des Wassers wieder in die frühere Welt zurück: die Folie, die die am Ufer liegenden Körper Yellas und Bens verdeckt, weist auf ihren Tod hin. Der Film handelt von einer Geschichte zwischen Illusion und Realität. Im Interview sagt Petzold dementsprechend: „Was wir jetzt sehen, das ist der Traum einer Sterbenden.“168 Damit gesteht der Regisseur selbst, dass der Film sowohl Illusion als auch Realität behandelt.169 „Die Zeit im Kristall hat sich in zwei Bewegungen differenziert, aber eine davon bemächtigt sich der Zukunft und der Freiheit – vorausgesetzt, sie kann dem Kristall entweichen.“170 Folglich kann die Wirklichkeit insofern erschaffen werden, als sie der permanenten Parameter der Aktualität (Gegenwart) und der Virtualität (Vergangenheit) entweicht. Das Zeigen des sich bewegenden Wassers kann als wichtige Methode zur Unterbrechung des gegenwärtigen Zeitflusses betrachtet werden. Ein weiteres deutliches Beispiel dafür ist die Verhandlung, zu der Yella Phillipp begleitet. Bei der Verhandlung stößt Yella versehentlich ein Glas zu Boden, es zerspringt und das Wasser spritzt auf den Boden (Abb. 5-103). Zu diesem Zeitpunkt erklingen die Geräusche wie aus einem irrealen Traum, das fern wirkende Gespräch, das Gekrächze und Blätterrauschen. Solche Geräusche werden von spritzendem Wasser ausgelöst und erinnern an den Autounfall am Anfang. „Das auslaufende Wasser evoziert als akustische Reminiszenz die traumatische Situation des töd-

168 Suchsland, Rüdiger: Eine andere Erzählung des Kapitalismus. Interview mit Petzold. URL: http://www.artechock.de/film/text/interview/p/petzold_2007.htm [23.04.2015]. 169 Ebenda. 170 Deleuze, Gilles [1997]: S. 120.

160 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

lichen Unfalls vom Anfang des Films“171, so beschreibt es auch Petra Löffler. Man könnte sogar behaupten, dass das zersprungene Glas auf den Riss des Kristalls hinweist. Hier bestätigt das Wasser wiederum seine Funktion: durch das Wasser kann Yella augenblicklich in die andere Welt eintauchen, wobei die Akustik Hinweise gibt: „sie [Geräusche] sind nur von ihr selbst zu hören: Das Akusmatische ist in diesem Film ganz dem Raum der subjektiven Innerlichkeit zugeordnet, den allein der Filmzuschauer mit der Hauptfigur teilt. Es entspricht damit der besonderen Zeitstruktur des Films, denn die Zeit ist, das betont Deleuze (mit Bergson), ‚die Innerlichkeit in der wir sind und leben‘ (Deleuze 1997, 113)“172

Interessanterweise setzt Petzold in seinen Filmen gern den Autounfall ein. Der Autounfall kann als Variation des Wassers verstanden werden. Die Geschwindigkeit beim Unfall erinnert uns an das Fließen des Wassers; das Stoßen bzw. Zerspringen ermöglicht es, von der gegenwärtigen Konstellation abzuweichen. Weitere Bespiele für die Unterbrechung des Zeitflusses sind die Autounfallszenen am Ende des Films Die innere Sicherheit, nach dem die Protagonistin Jeanne neues Leben geschenkt bekommt, und am Anfang des Films Wolfsburg, nach dem der Protagonist Phillip zwischen Sünde und Sühne schwankt. Petzolds Vorliebe für Autounfälle dürfte von seinem Lehrer Dominik Graf geprägt sein. In einer E-Mail an Graf über seine Film der Serie Polizeiruf schreibt Petzold Folgendes: „Der Autounfall im Polizeiruf, wie der Wagen da in der Totale durch die Wiese fährt und am Ende dann ins Wasser plumpst, so unspektakulär wie der Unfall in Goodbye, south, goodbye.“173 Ebenfalls von Petzold stammt der Satz: „Wenn es Unfälle gibt, dann beginnt das Kino.“174 Das Auto, zweifelsfrei Petzolds Lieblingsrequisit, versteht dieser in seinem Film als Traumraum: „Der Fahrer sieht die Welt durch die Windschutzscheibe wie durch einen Film. Es gibt Musikanlagen von Bose, die uns beschallen, als säße man in einem Konzertraum. Es gibt

171 Löffler, Petra: Ghost Sounds und die kinematographische Imagination. Christian Petzolds Gespenster und Yella. In: Schick, Thomas/ Ebbrecht, Tobias [Hrsg.] [2011]: S.69. 172 Ebenda: S. 69. 173 Graf, Dominik u.a. [2006]: S.2. 174 Suchsland, Rüdiger: Das Glück der Todgeweihten. In: artechock. Filmmagazin. URL: http://www.artechock.de/film/text/kritik/y/yella.htm [19.03.2015].

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 161

Freisprech- und Navigationssysteme, Pollenfilter, Einbauten, die alle Außengeräusche herunterdämmen. Die reale Umgebung ist am Verschwinden, während das Fahren selbst durch eine Art Traumraum fiktionalisiert wird.“175

In seinen Filmen kommt es allerdings meist durch einen Unfall zur Kollision dieses Traumraums mit der äußeren realen Welt. Bemerkenswert ist, dass Wasser in Form eines Flusses auch im Film Still Life von Jia Zhangke vorkommt. Seine Funktion ist hier aber eine andere. Der Film handelt vom Leben derjenigen, die vom Bau des Drei-Schluchten-Staudamms betroffen sind. Jedes Mal, wenn der Regisseur den ruhigen Fluss zusammen mit den Protagonisten (oder den Zuschauern) darstellt (Abb. 5-104 – 5-107), vermittelt dies dem Zuschauer eine Totenstille und nicht wie in Yella einen Aufbruch. Hier soll der Fluss als Symbol des stillen Alltagslebens der Umsiedler im Sinne des ersten Zustands des Wassers nach Deleuze (das Wasser in Yella gehört zum zweiten Zustand) fungieren: „das gefrorene Wasser an der Fensterscheibe, am flachen Spiegel oder in der Tiefe des Kristalls“176, nämlich ein unbeweglicher Zustand. Ebenso sieht man durch den Kristall die Zeit in ihrer doppelten Bewegung: Während sich das Wasser in Yella als Bewegung, die die Gegenwart stets durch eine andere ersetzt, begreifen lässt, verkörpert das Wasser in Still Life den Stillstand, der die Gesamtheit der Vergangenheit davor bewahrt, in eine dunkle Tiefe zu fallen.177 In diesem Film steht das ruhige, bald eine Stadt überflutende Wasser für ein starres Leben. Der stille Fluss ist als „Kristall“ eine abgeschlossene Einheit ohne Riss, „Alles, was vorübergegangen ist, fällt in den Kristall zurück und verbleibt dort: es ist die Gesamtheit der eingefrorenen, erstarrten, stereotypen und allzu konformen Rollen […]“178, so charakterisiert Deleuze den abgeschlossenen Kristall. Durch die Darstellung des ruhigen Flusses setzt der Regisseur ein stilles Alltagsleben in einen stärkeren Kontrast zur gesellschaftlichen Wende.

175 Nicodemus, Katja: Kino als Auto-Analyse. Christian Petzold und sein neuer Film „Wolfsburg“.

25.09.2003.

URL:

[23.04.2015]. 176 Deleuze, Gilles [1997]: S. 119. 177 Vgl. ebenda. 178 Ebenda.

http://www.zeit.de/2003/40/Christian_Petzold

162 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

5.2.3.2 Die Mauer als Zeitsymbol im Film Xiao Wu Ebenso wie das Wasser im Film Yella erfüllt auch die häufig erscheinende Mauer in Jia Zhangkes Film Xiao Wu eine symbolische Funktion. Im Unterschied zur Verwendung von Wasser in Yella, das einen Einbruch oder eine Wende andeutet, will Jia mittels der Mauer etwas Anderes ausdrücken: Neben der narrativen Funktion an manchen Stellen bringt die Mauer auf verschiedene Weise noch das Nachdenken über Zeit zum Ausdruck. Nach Christian Metz spielt die Konnotation in der Ästhetik eine entscheidende Rolle, ihr Signifikat bezieht sich auf einen gewissen Stil oder ein gewisses Symbol im Film oder in der Literatur, und ihr Signifikant ist das semiotische Material der Denotation, die natürlich auch den Signifikanten und das Signifikat besetzt. „Bei Denotation wird die Motivation durch Analogie geliefert, und zwar durch eine perzeptive Ähnlichkeit von signifiant und signifié.“179 Was die Konnotation angeht, meint Metz: „der Begriff der motivierten Bedeutungserweiterung definiert fast alle Konnotationen im Film.“180 Bei der Untersuchung der primären Figur und der sekundären Figur stellt Metz fest, dass die symbolische Funktion gänzlich in einem dauernden Übergang beider Prozesse liegt und als ihr gemeinsamer Ursprung gilt.181 In diesem Teil versuche ich zu ermitteln, wie die Mauer als denotatives Zeichen in den verschiedenen filmischen Kontexten ihre Konnotation erhält. Außerdem wird hier die symbolische Funktion der Mauer erörtert. Auf keinen Fall verweist die Zeitkonzeption des Regisseurs nur auf die abstrakte Zeit, die absolut und unabhängig von der Gesellschaft bzw. Historie ist, sondern auf den Zeitgeist einer bestimmten Gesellschaft bzw. eines Zeitalters. Mauern tauchen im Film Xiao Wu in verschiedenen Variationen auf: Erstens, nachdem Xiaoyong am Telefon den Besuch Xiaowus auf seiner Hochzeit ablehnt, endet die Einstellung mit einer alten mürben Mauer, an der eine Messleiste angebracht ist, die ihr Größerwerden dokumentiert (Abb. 5-108). Es ist schon bekannt, dass Xiaoyong und Xiaowu früher beide Diebe und gute Freunde waren. Als Xiaoyong allerdings Unternehmer wurde, will er nichts mehr mit Xiaowu zu tun haben, da dieser noch immer ein Dieb ist. Xiaoyongs Ablehnung gegenüber Xiaowu bedeutet eigentlich, der Vergangenheit auszuweichen. Die Messwerte bleiben dennoch als Kindheitserinnerung tief in der Mauer eingezeichnet. Hier

179 Metz, Christian [1968]: Probleme der Denotation im Spielfilm. In: Albersmeier, Franz-Josef [Hrsg.][52003]: S.321. 180 Ebenda, S. 322. 181 Vgl. Metz, Christian [2000]: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster: Nodus Publikationen, S. 112 ff.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 163

akkumuliert die Zeit in der Mauer, als Signifikant der Denotation symbolisiert die Mauer mit ihrer alten Gestaltung die ferne Vergangenheit bzw. den Zeitablauf. Zweitens, Xiaowu bummelt ziellos auf den Straßen umher und steigt eine Treppe hinauf. Am Ende der Einstellung ist eine Variante der Wand zu sehen: das rote Werbeschild eines privaten Kinosaals, auf dem die Namen einst gängiger Hongkong-Filme geschrieben sind (Abb. 5-109). Hier will Jia eigentlich eine kulturelle Eigenschaft der damaligen Gesellschaft dokumentieren. Auch Michael Berry behauptet, dass eines der zentralen narrativen Themen von Jia Zhangkes Filmen die politische versus populäre Kultur ist.182 In einer solchen abgeschlossenen Stadt waren die in einem kleinen privaten, sogar illegalen Kinosaal vorgeführten Hongkong-Filme für die Jugendlichen modern. Drittens, Xiaowu begegnet seinem „Lehrling“, der gerade mit seiner Freundin auf der Straße läuft. Dabei schikaniert Xiaowu ihn absichtlich, nur um seine angebliche Macht zu demonstrieren. Wieder endet die Einstellung mit einer Mauer. Aus dem Kontext ist die Konnotation des Zeichens zwar hier nicht so offensichtlich, aber unter einem anderen Aspekt ist es die Wiederholung in Freuds Sinne. Durch die Wiederholung der verschiedenen Varianten kann die symbolische Funktion der Mauer gesteigert erscheinen (Abb. 5-110). Viertens, die nächste Einstellung, die mit dem Bild einer Wand endet, spielt in einem öffentlichen Bad. Da Xiaowu allein ist, beginnt er das Lied zu singen, das er sich vor seiner geliebten Meimei nicht vorzutragen traut. Er singt es nur laut, wenn ihm kein anderer zuhören kann. Berry zufolge scheint sich hier eine Wende für das Drama anzudeuten, „Xiaowu finally begins to take down the walls he has built up around himself.“183 Als die Kamera am Ende der Einstellung nach oben schwenkt und eine schmutzige Wand fixiert, sieht man daneben noch ein Fenster (Abb. 5-111). Die Hoffnung in Form des Fensters erweist sich allerdings als kurzlebig. Durch eine Reihe denotativer Analogien (verschiedene Varianten der Mauer: alt, mürbe, schmutzig) erweitert der Regisseur die konnotativen Bedeutungen: Xiaowu wird auch als inflexibel, altmodisch und starr charakterisiert.184 Fünftens, eine mit Postern beklebte Wand in Meimeis Zimmer (Abb. 5-112) und sechstens, eine mit einem Neujahrsbild185 beklebte Wand im Zimmer von

182 Vgl. Berry, Michael [2009]: S. 21. 183 Ebenda, S.36. 184 Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: S. 332 f. 185 Das Neujahrsbild zählt zur traditionellen Malerei in China, es wird als Dekoration während des Frühlingsfestes an die Wand in den bäuerlichen Zimmern geklebt. Auf

164 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Xiaowus Eltern (Abb. 5-113). Die Wände in den beiden Bildern erfüllen eine ähnliche Funktion. Sie weisen sowohl auf den Charakter der Figuren hin (Meimei repräsentiert die Modernität und Sehnsucht nach Berühmtheit; Xiaowus Eltern repräsentieren die Sehnsucht nach Glück und Wohlstand), als auch auf die zur jeweiligen Zeit unterschiedliche populäre Kultur (das Poster steht für Modernität und Stadt, das Neujahrsbild für Tradition und Dorf). Wenn man die anderen Filme von Jia Zhangke ansieht, offenbart sich, dass die Mauer ein häufig auftauchendes Zeichen in seinen Filmen ist. So z.B. die alte Stadtmauer in der Kreisstadt Feiyang im Film Plattform; die zerbrochenen Wände der alten Gebäude und Fabriken im Film Still life oder in 24 City. In Plattform ist die alte Mauer der Treffpunkt des Protagonisten Minliang mit seiner Freundin Ruijuan (Abb. 5-114 und 5-115). Ruijians Vater, ein parteitreuer Polizist, verabscheut die westliche Pop-Kultur, die die junge Generation – inklusive seiner Tochter – stark prägt. Da er die Liebesbeziehung seiner Tochter mit Minliang nicht erlaubt, treffen sie sich heimlich auf der Mauer. Hier wird die Mauer als patriarchalische Macht symbolisiert: „So the thick, gloomy, and self-contained city wall is a metaphorical allusion to the oppressive patriarcha authorities.“186 Auch Michael Berry schreibt: „Through these sequences, the symbolic place of the father collapses into the wall into the wall itself, wich is, after all, built to keep people out, just as he attempts to keep Cui [Mingliang] out of his daughter’s life.“187 In Plattform präsentiert uns Jia die große Wende Chinas vom Maoismus zur ökonomischen Liberalisierung sowie den Einfluss, den die Wende auf das einzelne Individuum ausübt. Die starre, feste Stadtmauer hingegen erscheint als mächtige Metapher, die das sich schnell entwickelnde Zeitalter zurückhalten möchte. Ebenso kann man in den Filmen Still Life oder 24 City durch die zerbrochenen Wände der halbabgerissenen Gebäude und der baufälligen Fabrik eine vergangene, gezwungenermaßen abgebrochene Geschichte spüren (Abb. 5-116, 5-117 und 5-118). Das an die Wand geschriebene chinesische Zeichen „拆(Chai)“ (Abreißen, Abb. 5-119) vermittelt bildlich die Zerstörung eines alten Zeitalters, weil alle alten Gebäude, auf die das Zeichen gemalt ist, abgerissen werden müssen

dem Neujahrsbild sind meistens symbolisch Wünsche des Menschen nach Glück und Wohlstand gezeichnet. 186 Lin, Xiaoping: Jia Zhangke’s Cinemativ Trilogy. A journey across the ruins of post-Mao China. In: Sheldon H. Lu and Eilie Yueh-yu Yeh [Hirg] [2005]: Chinese-Language Film. Historiography, Poetics, Politics. Honolulu: University of Hawaii Press, S. 199. 187 Berry, Michael [2009]: S. 79.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 165

und durch neue moderne ersetzt werden. Inmitten der Stagnation und Zerstörung schafft Jia eine gewisse Poetik. 5.2.4

Stillstand

Rhythmus kann als eine Art zeitliche Wahrnehmung verstanden werden. In den meisten Werken beider Filmströmungen kann man immer die Langsamkeit, Nüchternheit, sogar den Stillstand bemerken. Gerade in diesem radikal langsamen Rhythmus bzw. im Stillstand nehmen die Zuschauer mit den Figuren auch die Zeit wahr. Der Stillstand schlägt sich vor allem auf der Handlungsebene nieder, was bei beiden Filmströmungen, vornehmlich bei der Neuen Berliner Schule, leicht zu erkennen ist. Anscheinend wollen die Regisseure beider Schulen mit Absicht der klassischen Narration in Hollywood entgegenwirken, sie präsentieren ihre Vorliebe für die Ereignislosigkeit oder die lockere Dramatik. Silvia Hallensleben beschreibt in ihrem Artikel Stillstand den Stil der Filme von Angela Schanelec: Manches Publikum werfe der Regisseurin vor, dass sie es schikaniere, und die Tatwaffe sei Langsamkeit.188 Was die Sechste Generation angeht, fasst Jia Leilei einmal den ästhetischen Stil ihrer Werke wie folgt zusammen: „Auf der filmästhetischen Ebene, im Vergleich zum traditionellen Mainstreamfilm, stehen die meisten ihrer Filme näher am originalen Lebenszustand, das Schauspielen tendiert zum platten und natürlichen, selten treten Spuren von Dramaturgie auf, sondern vielmehr ästhetische Normen des Films.“189 Anstatt den Stillstand auf der narrativen Ebene zu erörtern, wird er in diesem Teil als filmisches Verfahren analysiert. Deswegen wird die Erörterung wiederum zum rein optischen und akustischen Bild bei Deleuze zurückkehren, das er in den Filmen von Ozu gefunden hat. 5.2.4.1 Die Zeit im Dao: Ferien Nach Deleuze ist das rein optische oder akustische Bild sowohl „ein rein optischer Übergang“ als auch „eine rein optische, unmittelbar wirksame Punktierung zwischen Bildern, die auf alle synthetischen Effekte verzichtet.“190 Als rein audio-

188 Vgl. Hallensleben, Silvia: Filmregisseurin Angela Schanelec: Stillstand. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/filmregisseurin-angela-schanelec-stillstand/25859 6.html [23.04.2015]. 189 Jia, Leilei [2006]: „The 6th Generation Directors and the Images of the Era in their Films.“In: Film Art. 05/2006, S.26 ff. 190 Vgl. Deleuze, Gilles [1997]: S. 27.

166 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

visuelles Bild kann die Naturaufnahme für Stillstand stehen. In Thomas Arslans Film Ferien gibt es viele Naturaufnahmen, die als rein optische und akustische Bilder und als Punktierung fungieren. Laut Deleuze bezieht sich dieses Verfahren auf die toten Zeiten, „die nicht mehr für sich selbst stehen, sondern ihre Bedeutung von etwas anderem erhalten: als setzte sich etwa eine Einstellung oder eine Replik in einem längeren Schweigen oder in einer Leere fort.“191 Wiederholt integriert der Regisseur die Naturaufnahmen in den lockeren Handlungsfluss (Abb. 5-120 und 5-121). Dabei kann der Zuschauer nur Äste und Waldwege im vollen Bild sehen und das Rauschen der Blätter hören. Das ist zugleich die filmische Realität im Sinne Bazins, der behauptet: „Dieses Raumgefühl kann uns die Leinwand nur vortäuschen, indem sie auf gewisse Sicherheiten aus der Natur zurückgreift. […] [D]as Rauschen eines Birkenzweigs im Wind, im Sonnenlicht genügt, um alle Wälder der Welt vor uns heraufzubeschwören.“192 Nach Bazin braucht man nur den ästhetischen Katalysator der Mise-en-scène in minimaler Dosierung beizugeben, um alle völlig in ‚Natur‘ zu tauchen.193 Daher treten die Naturaufnahmen in Ferien auf der einen Seite als ästhetischer Katalysator auf, um die Natürlichkeit hervorzurufen, auf der anderen Seite besitzen sie paradoxerweise die artifizielle bzw. künstlerische Eigenschaft, im Zuschauer den Verfremdungseffekt auszulösen. In einer der Anfangsszenen beobachten zwei Kinder Ameisen, die im Rasen durcheinander laufen (Abb. 5-122 und 5-123). Diese Szene erinnert an eine Szene aus dem Film Umberto D. (Vittorio De Sica, 1952), in der das Dienstmädchen Ameisen an der Wand sieht und sie wegspülen will (Abb. 5-124 und 5-125) – eine Szene, die Bazin sehr schätzt. Das Aufeinanderfolgen funktionsloser Details wird von Bazin so verstanden, dass „ihre ontologische Gleichwertigkeit schon vom Prinzip her jede dramatische Kategorie auflöst.“194 Und gerade das ist, so Bazin, die „Asymptote der Realität“195. Neben Deleuze hebt auch Bazin bei derartigen Szenen die subjektive Zeit im Film hervor: „Da die wahre Zeit der Erzählung nicht die des Dramas ist, sondern die konkrete Dauer der Figur, kann diese Objektivität nur durch absolute Subjektivität in der Inszenierung (Drehbuch und Handlung) übertragen werden.“196 Er befürwortet das Verfahren bei De Sica und Zavattini, „das Ereignis in kleinere

191 Ebenda, S. 27. 192 Bazin, André [2004]: S. 197. 193 Vgl. ebenda. 194 Ebenda, S. 377. 195 Ebenda, S. 379. 196 Ebenda, S. 371.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 167

Ereignisse zu unterteilen, diese wiederum in noch kleinere, bis wir an die Grenze unseres Gefühls für die Dauer stoßen.“197 Wie auch in Filmen von Ozu erreichen diese Naturaufnahmen im Film Ferien eine „reine Kontemplation“198: „Als reine Kontemplation rühren sie ans Absolute und gewährleisten unmittelbar die Identität von Mentalem und Physischem, Realem und Imaginärem, Subjekt und Objekt, Welt und Ich. Teilweise entsprechen sie dem, was Schrader ‚Stasen‘, Noel Buch ‚pillow shots‘ und Richie ‚Stilleben‘ nennt.“199 Donald Richie beschreibt die Filme von Ozu wie folgt: „Was wir sehen, ist so konsequent emotional, und wie es uns gezeigt wird, ist so un-emotional, dass wir selbst als Zuschauer die beiden Extreme miteinander versöhnen müssen.“200 Diese Versöhnung erinnert gleichzeitig an die Essenz des chinesischen Daoismus. Der zeitgenössische chinesische Philosoph Feng Yulan (gest. 26.11.1990) teilt den Daoismus in drei Phasen: Yang Zhus Weltsicht repräsentiert die erste Phase, Laozi und sein Buch Daodejing wird der zweiten Phase zugeordnet und Zhuangzi bzw. das Buch Zhuang Zi der dritten.201 Im klassischen Buch des Daoismus, dem Daodejing, spielen die Begriffe Dao (Weg) und De (Tugend) eine zentrale Rolle. Nach den verschiedenen Interpretationen des Wortes „Dao“ lässt es sich allgemein auf zwei Ebenen verstehen: „Es bezeichnet sowohl den richtigen Weg des Lebens, d.h. die richtige persönliche Lebensführung, als auch, in einer für den Daoismus typischen Gleichsetzung, den Weg der Natur.“202 Auch im ersten Vers des ersten Kapitels des Daodejing hat schon Laozi eine Eigenschaft des Dao herausgestellt: „dao ke dao, fei chang dao (das Wort ‚Tao‘[Dao], ist nicht das wirkliche Tao[Dao])“.203 Nach der Interpretation von Feng hat das Dao neben den obengenannten noch eine weitere Bedeutung: Es ist der Name des Namenlosen, das wesenhaft existiert. Deshalb nennt Laozi das Dao „Wu“ (Nichtsein):

197 Ebenda, S. 377. 198 Deleuze, Gilles [1997]: S. 30. 199 Ebenda, S. 30. 200 Richie, Donald: Raum, Zeit und Tofu in den Filmen von Yasujiro Ozu. In: Andreas Rost [Hrsg.][1997]: S.161. 201 Siehe: Fung, Yulan [1960]: A short history of Chinese philosophy. New York: The Macmillan Company. Kapitel 6, 9 und 10. 202 Schleichert, Hubert/ Roetz, Heiner [2009]: Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Klostermann, S. 115. 203 Zu dieser Interpretation siehe: Grimm, Günter [2010]: Das weiche Wasser bricht den Stein… Der vollständige Text des Tao Te King interpretiert von Günter Grimm. Weinheim: Verlag – Das klassische China, S. 1.

168 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Wu, ming tian di zhi shi (Nichtsein nenne ich den Anfang von Himmel und Erde).204 Darüber hinaus hat Laozi in Kapitel 42 folgende Ansicht bekundet: „Dao sheng Yi. Yi sheng Er. Er sheng San. San sheng Wanwu“ (Der Sinn205 [Dao oder Wu] erzeugt die Eins. Die Eins erzeugt die Zwei. Die Zwei erzeugt die Drei. Die Drei erzeugt alle Dinge.). Davon ausgehend kann man behaupten, dass das Dao die Identität von „Sein“ und von „Nichtsein“ ist. Als zwei Extreme können sich das Sein und das Nichtsein im Dao miteinander versöhnen, wie es der Versöhnung der des Emotionalen und des Un-Emotionalen in der obengenannten Einstellung entspricht. In der zweiten Phase betritt Zhuangzi eine höhere gedankliche Ebene: die Identität von Himmel und Mensch. Im Abschnitt Qi Wu Lun (Über die Gleichheit der Dinge206), im 2. Kapitel des Buchs Zhuang Zi, steht folgendes: „tian di yu wo bing sheng, er wan wu yu wo wei yi. (Himmel und Erde werden mit mir gemeinsam geboren, und die Myriaden Dinge sind eins mit mir).“207 Dies ist der Weg, um absolutes Glück zu erreichen. Nach Zhuangzi haben die Weisen ein ewiges Leben gewonnen: „The sage or perfect man is one with the Great One, that is, the universe. Since the universe never ceases to be, therefore the sage also never ceases to be“.208 In dieser Einheit von Universum und Mensch, d.h. in einer solchen Naturaufnahme, kann jene Zeit erfahren werden, die als ewige Dauer bewahrt bleibt. 5.2.4.2 Das Stillleben ist die Zeit: Still Life Ein offensichtliches Merkmal der Werke beider Schulen ist der Stillstand. In den Werken der Sechsten Generation gibt es einen Film, der dies belegt: Still Life von Jia Zhangke. Schon durch den Namen kann man den Stillstand im Film erahnen.

204 Zu dieser Interpretation siehe: Wilhelm, Richard [2005]: Tao Te King. Das Buch vom Sinn und Leben. München: dtv.C.H.Beck, S. 9. 205 Verschiedene Interpretationen bieten auch verschiedene Übersetzungen des Wortes Dao; Wilhelm hat das Wort Dao mit „Sinn“ übersetzt. Siehe: Wilhelm, Richard [2005]: S. 54. 206 Siehe Wohlfart, Günter [2003]: Zhuangzi. Auswahl, Einleitung und Anmerkungen von Günter Wohlfart. Übersetzung von Stephan Schuhmacher. Stuttgart: Reclam. 207 Zur chinesischen Version siehe: http://mypage.zhyww.cn/post/200405/20673.html. Zur deutschen Version siehe Wohlfart, Günter [2003]: S. 54. 208 Fung, Yulan [1960]: S. 115.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 169

Jia sagt, das Stillleben sei ein Ausgangspunkt für diesen Film gewesen.209 Der Regisseur schildert sein Gefühl des Stillstands folgendermaßen: „Wenn man in ein leeres Zimmer kommt und die Gegenstände auf dem Tisch sieht, die mit einer dicken Staubschicht überzogen sind, entdeckt man gleichsam das Geheimnis des Stilllebens: die unveränderte Einrichtung, mit Staub übergezogene Gegenstände, die auf dem Fensterbrett stehende Weinflasche sowie die Wanddekoration haben eine unerwartet melancholische Poetik. Das Stillleben steht für eine Art der Realität, die von uns ignoriert wird. Es hat zwar tiefe zeitliche Spuren in sich, aber dennoch schweigt es und bewahrt das Geheimnis des Lebens.“210

Jia hat im Stillleben die darin befindliche Zeit oder ihr Geheimnis gefunden und es in seinem Film verwendet. Das nur vorübergehend genutzte Zimmer ist spartanisch eingerichtet: Es gibt verschiedene auf dem Tisch stehende Töpfe, Schüsseln und Thermosflaschen sowie einen mit Stoff bedeckten größeren Tisch (Abb. 5-126 und 5-127). Alles erinnert an das Stillleben in der Malerei. Abgesehen davon lässt sich der Film in vier Episoden einteilen, die jeweils wie folgt benannt werden: Zigarette, Likör, Tee und Süßigkeiten. Diese vier Gegenstände sind, so Jia, die grundlegenden materiellen Objekte in China, die das einfachste Glück hervorrufen können. Sie werden in die Kommunikation des Menschen eingebunden. In einem Interview erklärt Jia dies wie folgt: „Der Filmtitel Still Life betont hauptsächlich den Begriff Materie, wie die Gegenstände auf dem Tisch. Die Umsiedler des Drei-Schluchten-Staudammprojekts erhoben früher lautstark die Stimmen, aber jetzt schweigen sie wieder. Ich denke, ich soll die gewöhnlichsten Leute in China filmen, wie man ein Stillleben wiedergibt, und die Realität, die ignoriert wird, in einer filmischen Weise präsentieren.“211 Und die Zeit spielt beim Stillleben eine wichtige Rolle. In einer anderen Einstellung (Abb. 5-128) ist die Absicht des Regisseurs, Zeit auf besondere Weise zu inszenieren, deutlicher: In Domings Zimmer betrachtet Shenhong die verschiedenen an der Wand hängenden Uhren: Armbanduhren, Wecker, Taschenuhr usw. Mit dieser

209 Mu, Lan [2006]: Interview mit Regisseur Jia Zhangke. In: The Three Gorges Probe. 18/09/2006. URL: http://www.threegorgesprobe.org/gb/index.cfm?DSP=content& ContentID=16298[28.10.2014] 210 Eigene Aussage des Regisseurs: URL: http://www.360doc.com/content/12/0622/14/ 5047113_219802297.shtml [28.10.2014] 211 Mu, Lan [2006]: Interview mit Jia Zhangke. URL: http://www.threegorgesprobe.org/ gb/index.cfm?DSP=content&ContentID=16298 [28.10.2014].

170 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Sammlung von Dongming bringt der Regisseur anscheinend seinen eigenen Wunsch zum Ausdruck: im Stillstand die Zeit zu bewahren. Das Stillleben ist auch ein rein optisches Bild in Deleuzes Sinn. In Das Zeit-Bild unterscheidet Deleuze das Stillleben vom leeren Raum und der leeren Landschaft (Naturaufnahme): „Aber ein Stillleben ist nicht mit einer Landschaft zu verwechseln. Ein leerer Raum gewinnt seine Bedeutung vor allem aus der Abwesenheit eines möglichen Inhalts, während das Stillleben sich durch die Anwesenheit und Zusammenstellung von Gegenständen definiert, die sich in sich selbst hüllen oder zu ihrem eigenen Behältnis werden […]“212 Gerade in der unwandelbaren Form kann man die Dauer der Zeit empfinden. Von diesem Punkt aus behauptet Deleuze: „Das Stillleben ist die Zeit, denn alles, was sich verändert, ist in der Zeit, nur sie selbst verändert sich nicht.“213 Nach der Ansicht Deleuzes erscheint die Zeit als selbständige Dimension, während die Bewegung zunehmend langsam und schwach wird. Beispielsweise hat Jia in 24 City eine Gruppe Bauarbeiter starr vor die Kamera gestellt, ohne dass diese Szene eigentlich zur Narration beiträgt (Abb. 5-129). Dabei bleibt die Narration hinter der rein filmischen Gestaltung zurück. Der Zuschauer wird auf eine gewisse reine Form aufmerksam gemacht und zugleich wird ein Verfremdungseffekt hervorgerufen. Ein solches Verfahren wird von Guido Kirsten als realistische „Mise en phase“214 gesehen, die von Britta Hartmann wie folgt erklärt wird: „Die Mise en phase kann euphorisierend oder dysphorisierend wirken, und sie veranlasst den Zuschauer zur Teilhabe am Rhythmus der Ereignisse. […] [Sie] kann aber auch das quälend langsame Vergehen von Zeit erfahrbar machen, kann für die körperliche Nachvollziehbarkeit von Monotonie und von temps morts sorgen, ohne dass […] solche Filme deswegen notwendig als ‚langweilig‘ empfunden würden.“215

Da der Zuschauer am diegetischen Rhythmus des Films teilnimmt, kann er eine realistische Zeitempfindung bekommen, obwohl die Zeit offenbar schon als ungewöhnlich bzw. fremd empfunden worden ist. „Die langsame (ohne Ellipsen)

212 Deleuze, Gilles [1997]: S. 30. 213 Ebenda, S. 31. 214 Zur näheren Erklärung des Begriffs Mise en phase siehe: Kirsten, Guido [2013]: S.158 ff.; Hartmann, Britta [2009]: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren, S. 268 ff. 215 Ebenda, S. 271.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 171

vergehende Zeit entspricht der Situation in der fiktionalen Welt.“216 Das kann, so Kirsten, als „ein Moment realistischer Ostentation“217 verstanden werden: Der Film zeigt nicht nur ein Ereignis (oder besser: ein Nicht-Ereignis), sondern auch die eigene Gestaltung.218 Darüber hinaus lässt sich der Realismus im Film durch die Ostentation über die Zurschaustellung seiner realistischen Merkmale fassen.219 Die realistischen Filmverfahren (Zurschaustellung) führen zu einer Auflösung der „zu engen Kopplung von Realismus und Illusion“220, und dann wird ein Verfremdungseffekt erzeugt. Hier sollte man darauf achten, dass beide, nämlich sowohl die fremde als auch die realistische Zeitempfindung, keinesfalls im Gegensatz zueinander stehen. Sie sind ein denkwürdiges Paradoxon. Wie Hartmann befürwortet auch Kirsten: „Ein ästhetisches Goutieren des Artefaktcharakters und der Artefaktqualitäten des Films steht zu ihr [realistischer Lektüre] nicht im Gegensatz, sondern kann sie ergänzen.“221 5.2.5

Leerstelle in der Zeit

Die Leerstelle bezieht sich sowohl auf die zeitliche als auch auf die räumliche Ebene, die im Abschnitt 5.1.5.2 Rahmen im Bild in dieser Dissertation erörtert worden ist. Deswegen wird im Folgenden der Schwerpunkt auf die Zeitebene gelegt. In diesem Teil werde ich neben dem Filmverfahren, das eine zeitliche Leerstelle hervorruft, die Leerstelle in der Narration noch kurz erörtern, denn die Erzählung ist seit langem mit der Zeit verbunden.

216 Kirsten, Guido [2013]: S. 178. 217 Ebenda, S. 178. 218 Vgl. ebenda, S. 178. 219 Vgl. ebenda. 220 Ebenda, S. 86. 221 Ebenda, S. 178.

172 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

5.2.5.1 Leere Einstellung222 Mit „leerer Einstellung“ sind hauptsächlich menschenleere Bilder gemeint, beispielsweise ein leerer Innenraum, Natur- oder Stadtlandschaften, die auf eine Abwesenheit verweisen. Leere Einstellungen wurden im obigen Text schon behandelt: die Naturaufnahme im Film Ferien und der Stillstand im Film Still Life sowie die Einstellung des Zeitsymbols in den Filmen Yella und Xiaowu, sie alle zählen zur leeren Einstellung. In diesem Teil möchte ich mich auf die Leere in der Zeit, die mittels der leeren Einstellung zum Ausdruck gebracht wird, konzentrieren. Im Kapitel 4.5 Die Ästhetik der Leere habe ich mich schon mit der Konzeption der Leere in China und im Westen auseinandergesetzt. Im Rahmen der traditionellen chinesischen Ästhetik kann die Leere mehr und Größeres, sogar das Ganze darstellen. So behauptet Wolfgang Kubin: „Die Leere ist Möglichkeit, das Etwas ist Aufhebung des Möglichen, und doch gewinnt die Leere nur durch dieses Etwas ihren Charakter als Möglichkeit.“223 Diese Möglichkeit ist bei Bazin die Realität und die leere Einstellung ist bei Deleuze das Zeit-Bild. Im Rahmen der westlichen Malerei kann die Leerstelle auch als fruchtbarer Augenblick, der von Lessing so benannt wurde, fungieren. Im Rahmen der chinesischen Philosophie betonen die Daoisten, für die Laozi und Zhuangzi als Wegbereiter gelten, das Wuwei (Wu: nicht, Nichts; Wei: Tun, machen). Wuwei wird als höchste Stufe des Handelns angesehen. In Kapitel 63 des Laozi (Daodejing) hat Laozi wei wuwei224 (Tun durch Nichts-Tun) angepriesen. Hierzu gab es zahlreiche Interpretationen: „Wuwei bedeutet ein Handeln ohne den Dualismus von Subjekt und Objekt, ohne ein Ego, das handelt. Wuwei ist ein absichtsloses, selbstvergessenes Handeln, das ganz selbstverständlich, wie ‚von selbst‘ (ziran) der jeweiligen Situation entspricht. Noch einmal anders

222 Die leere Einstellung ist eigentlich kein präziser Ausdruck, weil es in der Tat überhaupt keine wirklich leere Einstellung gibt. Trotzdem wird sie in der chinesischen Fachsprache üblicherweise verwendet, auf Englisch wird sie meist als Insert Short und auf Deutsch als Zwischenschnitt begriffen. Allerdings gibt es doch eine Nuance dazwischen. Im chinesischsprachigen Raum bezieht sich die leere Einstellung hauptsächlich auf die menschenleere Einstellung. Diese Definition verwende auch ich in meiner Dissertation. 223 Elberfeld, Rolf/Wohlfart, Günter [Hrsg.] [2001]: S.133. 224 Zur chinesischen Version siehe: URL: http://www.daodejing.org/63.html [23.05. 2015].

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 173

gesagt: wuwei ist ein spontanes Handeln, das sich völlig unvorbedacht dem jeweiligen Sachverhalt anpasst und auf ihn antwortet. […]“225

Davon ausgehend kann man den Ursprung der leeren Einstellung im Daoismus finden. Trotz ihrer Leere kann diese Einstellung auf mehre Denotationen hinweisen. Der chinesische Filmkritiker Gu Qizhen behauptet, dass jede perfekt verwendete leere Einstellung eine bestimmte Menge an Informationen enthält und von innerer ästhetischer Bedeutung ist. Er hat die Funktion der leeren Einstellung in zwei Arten eingeteilt, nämlich die technische und die ästhetische.226 Hier in meiner Arbeit wird hauptsächlich auf die letztere eingegangen. Die leere Einstellung kann auch auf die traditionelle chinesische Malerei zurückgeführt werden, welche ich schon im Theorieteil erörtert habe. Das Stilprinzip chinesischer Malerei lässt sich als „abstrakter Realismus“227 bezeichnen, der durch die „Darstellung von Intentionen“ (Xieyi, 写意, Xie heißt schreiben und Yi heißt Intention) erreicht wird. Die Natur ist in der chinesischen Malerei ein wichtiger Gegenstand, da der daoistischen Philosophie zufolge nur das Nichts (Leere) die unantastbare Natur verkörpern kann. Daher ist es für die chinesischen Maler üblich, im Bildbereich mehr oder weniger Leerstellen zu lassen. Diese heißt Liubai (die Leere, die vom Maler im Bild absichtlich eingesetzt wird). Die leere Einstellung ist mit dem Liubai in der chinesischen Malerei vergleichbar. Der chinesische Filmkritiker Hao Dazheng fasst den Zusammenhang zwischen der Natur und der leeren Einstellung wie folgt zusammen: „Dominanter Gegenstandsbereich der chinesischen Malerei war immer die Natur. Die Welt der Landschaftsmalerei hatte für die Intellektuellen utopischen Charakter, da sie fest davon überzeugt waren, durch Kontemplation der Natur geistige Ruhe finden zu können. Die Häufigkeit in traditionellen chinesischen Filmen von ‚leeren Einstellungen‘, die nur Objekte zeigen (kong jingtou), sollen dem Zuschauer nahelegen, dass der Mensch Teil der Natur ist.“228

225 Wohlfart, Grünter [2002]: Zhuangzi. Meister der Spiritualität. Freiburg im Breisgau: Herder, S. 98. 226 Gu, Qizhen: „Filmästhetische Analyse. Einstellung: das Medium des Gedankens und der Ästhetik (Yingshi Meixue Fenxi. Jingtou: Sixiang-Shenmei de Zaiti).“ In: Literature and Art Criticism. 6/1994, S. 88 ff. 227 Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: S. 34. 228 Ebenda.

174 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Der taiwanische Regisseur Hou Hsiao Hsien ist berühmt für seine langen und leeren Einstellungen; seine leere Einstellung verweist darauf, dass er Wert auf die Umgebung legt, denn diese ist ein guter Träger der Stimmung.229 Die deutsche Filmwissenschaftlerin Fabienne Liptay setzt sich mit der Leerstelle auf der räumlichen und zeitlichen Ebene auseinander, sie behauptet: „Durch die Leerstelle wird das Noema der Fotografie in den Film hinüber gerettet, […] Durch die Eliminierung von Figuren und Bewegungen aus dem Bild entsteht eine fotografische Pose im räumlichen, eine Pause im zeitlichen Sinn. Es kommt zu einem Stillstand in der Dauer, zu einem von Zeit erfüllten fotografischen Stil.“230 Die leere Einstellung wird von der chinesischen Fünften Generation häufiger als von der Sechsten Generation verwendet. Sie benutzen die leere Einstellung meistens zu dem Zweck, Emotionen poetisch auszudrücken. Die poetische leere Einstellung hat ihre Tradition in China. Obwohl die Neue Berliner Schule sich mehr und mehr zur Stilisierung hin entwickelt hat, ist die Zahl der leeren Einstellungen in ihren Werken noch geringer als die in den Werken der Sechsten Generation. Die leere Einstellung in den Filmen der Neuen Berliner Schule trägt weniger dazu bei, die Atmosphäre zu untermalen als vielmehr die Szenen zu überbrücken. Während die vielen Naturaufnahmen in Ferien als Übergangsszenen fungieren, bergen die Naturaufnahmen in Still Life eine gewisse Poesie in sich. So sehen wir beispielsweise in Ferien die als eine Übergangsszene fungierende leere Einstellung, während die Familienmitglieder die Reisetasche vom Auto ins Haus tragen (Abb. 5-130 und Abb. 5-131). In Still Life hingegen bringt Jia durch die Naturaufnahme eine gewisse Nostalgie zum Ausdruck: Sanming und Xiao Mage spielen sich gegenseitig ihre Klingeltöne vor, wobei Sanming zu Xiao Mage sagt, dass sein Handy das Lied „God bless good man (haoren yisheng pingan)“ spiele, und Xiao Mage spottet: „Zur Zeit gibt es gar keine guten Leute mehr!“ (Abb. 5-132) Anschließend setzt der Regisseur zwei leere Einstellungen ein: innerhalb der einen ist ein Fernseher zu sehen, der eine Dokumentation über die Migranten des Drei-Schluchten-Projektes zeigt, auf dem Bildschirm wischt sich eine Frau Tränen aus den Augen (Abb. 5-133 und 5-134). In der anderen Einstellung ist ein sich entfernender Dampfer auf einem strömenden Fluss zu sehen (Abb. 5-135). Diese leere Einstellung dient dazu, an das Vergangene zu erinnern. Nicht zuletzt ist die leere Einstellung auch eine Trägerin der Zeit. Dies ist bei den Naturaufnahmen in den Werken der Neuen Berliner Schule der Fall (Vgl.

229 Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: S. 337. 230 Koebner, Thomas u.a. [Hrsg.]:S. 122.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 175

Abb. 5-120 und 5-121.). Darin können wir die Akkumulation, den Übergang oder das Vergehen der Zeit in Deleuzes Sinn spüren. Außerdem soll hier erklärt werden, dass manche Einstellungen vielfältige Funktionen erfüllen. Manche statischen Einstellungen sind zum Beispiel sowohl lang als auch leer. In diesem Fall können sie vielfältige Bedeutungen vermitteln. Die Einstellung (Abb. 5-136) in Nachmittag ist beispielsweise zuerst als statische Einstellung auffällig, aber anschließend wird der Zuschauer bemerken, dass sie auch eine lange Einstellung (mehr als 40 Sekunden) ist. Zuletzt würde ich sie als leere Einstellung definieren, obwohl es in ihr Leute gibt, weil die in dieser Einstellung auftauchenden Leute für die Handlung gar keine Funktion haben. Ähnliche Fälle gibt es auch in den Werken der Sechsten Generation. Zum Beispiel spielt die erste Einstellung der Anfangsszene (Abb. 5-137) des Films The Orphan Anyang auch diese drei Rollen: sie ist sowohl lang als auch statisch, außerdem kann sie auch als leere Einstellung verstanden werden. Damit hat der Regisseur neben der sozialen Umgebung auch die Akkumulation der Zeit in einer kleinen Stadt präsentiert. Von diesem Punkt aus kann man behaupten, dass die leere Einstellung eigentlich von der Zeit erfüllt ist. Außer der Grundfunktion der leeren Einstellung wie der Beschreibung der Umgebung und der Überbrückung von Anschlüssen zwischen zwei verschiedenen Aufnahmen kann sie, so Deleuze, auf die Abwesenheit eines möglichen Inhalts hindeuten.231 Daher kann die leere Einstellung die Einbildungskraft evozieren. Durch diese oberflächliche oder physische Realität kann man vielleicht die tiefere Realität des Alltags empfinden. 5.2.5.2 Leerstelle in der Narration Bekanntlich betrifft die narrative Technik im Film im Vergleich zur Literatur oder zum Theater noch mehr Faktoren wie Kamerabewegung, Montage oder Mise-en-scène. Da in den früheren Kapiteln bereits reine Filmverfahren erörtert wurden, beschränkt sich dieser Teil auf die Erzählung der Geschichte, genauer gesagt auf die Narration des Kunstfilms, mit der sich David Bordwell auseinandersetzt. In Bordwells Theorie steht der aktive Zuschauer im Mittelpunkt, welcher während der Rezeptionsprozesse narrativen Schemata unterliegt, die narrative Ereignisse definieren und sie nach den Prinzipien von Kausalität, Zeit und Raum zueinander in Verbindung setzen.232 Trotzdem geht es in diesem Teil nicht um die

231 Vgl. Deleuze, Gilles [1997]: S.30. 232 Vgl. Kuhn, Markus [2011]: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Belrin: de Gruyter, S. 33.

176 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Rezeptionstheorie, denn diese betrifft ein anderes großes Theoriensystem. Stattdessen gehe ich von der Erzählerposition aus und setze mich mit der Leerstelle in der Narration auseinander. David Bordwell beschreibt den Erzählstil der Kunstfilme wie folgt: „We could say that the syuzhet here is not as redundant as in the classical film; that there are permanent und suppressed gaps; that exposition is delayed and distributed to a greater degree; that the narration tends to be less generically motivated; and several other things.“233 Thomas Schick beschreibt den Erzählstil der Neuen Berliner Schule so: „Stattdessen bevorzugen sie eine episodische, elliptische Erzählweise, die oft keine klaren Ursachen und aus ihnen folgende Wirkungen oder zielorientiert handelnde Figuren erkennen lässt.“234 Die Regisseurin Angela Schanelec sagt über die Dramaturgie in ihrer Filmen: „Die klassische Dramaturgie hat mit dem Leben überhaupt nichts zu tun.“235 Zwar wird die langsame Dramaturgie nahezu als gemeinsames Merkmal der Werke der Neuen Berliner Schule gesehen, aber es ist nicht wahr, dass alle Regisseure der Neuen Berliner Schule das ganz normale, sogar banale Leben in den Mittelpunkt stellen. Beispielsweise ist Christian Petzold bereit, die Geschichte dramatisch zu konstruieren. Er scheut sich nicht, mit seiner unkonventionellen Methode konventionelle Themen und Stoffe zu verfilmen.236 Diesen Ansatz kann man in den Filmen der Sechsten Generation leichter bemerken, denn vom traditionellen chinesischen Drama geprägt, ist die Dramaturgie in chinesischen Filmen stets ein wichtiger Bestandteil. Im Vergleich zu den meisten Filmen der Neuen Berliner Schule erscheinen die Geschichten der Sechsten Generation also dramatischer. Leerstellen befinden sich dennoch in den Werken beider Filmströmungen. Die Regisseure beider Strömung fügen absichtlich Lücken in den narrativen Fluss ein. Beispielsweise kennen wir die Protagonistin Ruijuan in Plattform von Jia Zhangke als Tänzerin in einer kleinen Künstlertruppe, aber in der letzten Einstellung sehen wir sie in der Uniform einer Briefträgerin. Was ist in der Zwischenzeit mir ihr passiert? Wieso hat sie ihre Arbeit gewechselt? Diese Fragen werden vom Regisseur unbeantwortet gelassen. Er hat diese große narrative Lü-

233 Bordwell, David [1985]: Narration in the Fiction Film. Madison: Univ. of Wisconsin Press, S. 205. 234 Schick, Thomas: Stillstand in Bewegung. Raum, Zeit und die Freiheit des Zuschauers in Thomas Arslans Der schöne Tag und Angela Schanelecs Mein langsames Leben. In: Schick, Thomas/ Ebbrecht, Tobias [Hrsg] [2011]: S. 81. 235 Suchsland, Rüdiger: In: Film-Dienst. 13/2005, S. 6-9. 236 Vgl. ebenda, S. 8.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 177

cke dem Zuschauer überlassen. In einem Interview erklärt Jia, diese Erzählweise im Film beziehe sich auf die Erfahrung des Regisseurs selbst: „Früher wohnte ich mit meinen Eltern in einem Arbeiterviertel, in der Wohnung hinter unserer gab es ein Mädchen. Eines Tag bemerkte ich plötzlich, dass sie nicht in die Schule geht und einige Tage später sah ich sie in einer Postuniform. Dann verstand ich, dass sie die Schule unterbrochen hatte, um als Postbotin zu arbeiten. Wieso ging sie nicht in die Schule und arbeitete stattdessen als Postbotin? Wieso arbeitet sie nicht als Verkäuferin? [...] Du kannst es niemals wissen, aber Du musst ein Gefühl dafür haben, dass sich das einzelne Leben so verändert, das ist der richtige Prozess des Lebens. Deswegen will ich so filmen, ich erzähle nicht, wieso sie das macht. Ich habe alle Erklärungen weggelassen, wir können niemals wissen, was und wieso denken sie etwas?“237

Auch Bazin lobt die Lücke im Film öfter, wie beispielsweise die im Film Paisa von Rossellini: „Rossellinis Technik bewahrt sicher eine gewisse Verständlichkeit in der Abfolge der Tatsachen, doch diese greifen nicht ineinander wie eine Kette auf dem Zahnrad.“238 Außerdem ist er der Ansicht, dass „die Leerstellen und Lücken, […] selbst konkreter Natur sind:[...]. Wir wissen auch im Leben nicht alles, was anderen zustößt. Im klassischen Filmschnitt ist die Ellipse ein Stileffekt; bei Rossellini ist sie eine Lücke in der Realität, vielmehr in unserem Wissen über die Realität, ein Wissen, das von Natur aus begrenzt ist.“239 Deswegen muss der Zuschauer, so Bordwell, mehr permanente kausale Gaps im Kunstfilm als im klassischen Film überbrücken.240 In Bezug auf die realistische Ästhetik im Kunstfilm stellt Bordwell fest: „The art film’s ‚reality‘ is multifaceted. The film will deal with ‚real‘ subject matter, current psychological problems such as contemporary ‚alienation‘ and ‚lack of communication.‘“241 Dieser Aspekt schlägt sich offensichtlich in den Werken beider Schulen nieder. Insbesondere bei der Neuen Berliner Schule kreisen die Themen der Filme immer wieder um die menschliche Isolation oder den Mangel an Kommunikation. In den Filmen fehlt den meisten Figuren ein bestimmtes Motiv– hier kann das abwesende Motiv als eine Variante der Leerstelle gesehen werden. Im Film Mein langsames Leben von Angela Schanelec kann man nur eine

237 Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: S. 310. 238 Bazin,André [2004]: S.318. 239 Ebenda, S.358. 240 Vgl. Bordwell, David [1985]: S. 206. 241 Ebenda.

178 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Handvoll Menschen sehen, die im Sommer in Berlin leben. Man weiß nicht, was ihr Ziel ist. Was von der Kamera aufgenommen wird, ist lediglich ihr ganz normales Leben. Sie sitzen in einem Café, zu Hause oder im Park und sprechen über nebensächliche Dinge. Am Anfang erzählt Sophie Valerie, dass sie für ein halbes Jahr nach Rom gehen wird, aber sie erzählt nicht, warum. Später kommt Sophie zurück, was jedoch dazwischen passiert ist, ist nicht ersichtlich. Selbst die Protagonistin Valerie hat kein klares Ziel im Leben. Obwohl wir auch ihre innerliche Verwirrung empfinden, wissen wir nicht einmal, was sie überhaupt will. Katja Nicodemus beschreibt den Film wie folgt: „Man weiß nie genau, wie viele Wochen oder Monate zwischen zwei Szenen vergangen sind. Zwei, die sich im Restaurant kennen gelernt haben, sind plötzlich ein Paar, ohne dass man irgendwelche Zwischenschritte mitbekommt […]. Aber die Ellipse ist bei Schanelec nicht Stilmittel, sondern sie entspricht der urbanen Wahrnehmung. So wie man in der Großstadt immer wieder alte Bekannte trifft, die auf einmal verheiratet sind oder zwei Jahre in Australien waren, ohne dass man davon etwas mitbekommen hätte.“242

In seiner Analyse zur Narration der Kunstfilme schreibt Bordwell: „Equivocating about character causality supports a construction based on a more or less episodic series of events.“243 So sehen wir im Film Der schöne Tag von Thomas Arslan die Protagonistin Deniz, mal bei einem Treffen mit ihrem Freund, mal bei einer Unterhaltung mit ihrer Mutter, mal mit ihrer Schwester am Bahnhof und mal mit dem Portugiesen Diego beim Spaziergang im Park. Diese Szenen tauchen nacheinander auf, ohne dass es zwischen ihnen eine klare kausale Verbindung gäbe. Bordwell fasst den Unterschied der Narration zwischen den Hollywood-Filmen und den Kunstfilmen zusammen: „If the Hollywood protagonist speeds toward the target, the art-film protagonist is presented as sliding passively from one situation to another.“244 Schanelec hebt auch in vielen Interviews hervor, dass sie lieber einen Zustand des Lebens, nämlich wie die Menschen leben statt was sie erleben, präsentiere. Mangels zeitlicher oder kausaler Verbindung unterbrechen die episodischen Geschehen in diesen Filmen die Flüssigkeit des Dramas und stellen das Geschehen in den Vordergrund. Diese realen Zustände sind es auch, die die Regisseure der Sechsten Generation auf die Leinwand bringen wollen. Auf den

242 Nicodemus, Katja: Distanz und Freiheit. URL: http://www.peripherfilm.de/meinlang samesleben/kritik.htm[28.10.2014] 243 Bordwell, David [1985]: S. 207. 244 Ebenda.

Ä STHETISCHE F ILMANALYSE

| 179

ersten Blick spielen sie für das Drama keine große Rolle, nach Ansicht von Guido Kirsten tragen sie jedoch zum Wirklichkeitseffekt bei.245 Auf formaler Ebene führt die Leerstelle in der Narration auch zu einem Verfremdungsgefühl. Die Lücken ziehen die Zuschauer aus dem Drama heraus und veranlassen sie zu einer Reflexion, wobei die Zuschauer die reine Form des Films bemerken werden. Bordwell behauptet auch: „The art films thematic crux, is attempt to pronounce judgements upon modern life and lacondition humaine, depends upon isformal organization“.246 In gewissem Maße kann uns die formale Verfremdung auf der narrativen Ebene auch helfen, uns der tief verborgenen Realität anzunähern.

245 Vgl. Kirsten, Guido [2013]: S. 168 ff. 246 Bordwell, David [1985]: S. 207.

6

Fazit

Die vorliegende Arbeit baut auf einer inter- und transkulturellen Vergleichsanalyse auf, die aber nicht nur auf die kulturelle Ebene bezogen ist, sondern auch die damit verbundenen weiteren Aspekte wie insbesondere sozialpolitische Phänomene oder ästhetische Konzeptionen betrifft. Infolge der Globalisierung geraten die Kulturen der Gegenwart miteinander in Berührung, sodass die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede deutlich zum Vorschein kommen. Methodisch ist meine Arbeit dem Interkulturalitätsansatz verpflichtet, der im Unterschied zu der Idee der Multikulturalität von einem Interaktionsverhältnis verschiedener Kulturen ausgeht.1 In der vorliegenden Arbeit wurden die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation als Forschungsgegenstände ausgewählt, weil sich einerseits ihre unübersehbaren Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund der Globalisierung leicht erkennen lassen, andererseits auch deshalb, weil sie aufgrund ihrer kulturellen und sozialen Besonderheiten deutliche Differenzen aufweisen, die aus einer interkulturellen Perspektive analysiert werden können. „Interkulturelle Kommunikationsforschung und interkulturelle Interventionen basieren notwendigerweise auf vermuteten, unterstellten oder explizit benannten Differenzbeziehungen zwischen einem wie auch immer gerahmten Deutungs- und Erlebnisfeld des kulturell Eigenen (Vertrauten) und Sphären des kulturell Anderen (Fremden).“2

1

Vgl. Sinner, Kathrin: Transkulturalität versus Multi- und Interkulturalität. In: Stadtkulturmagazin. Nr. 16: Zwischen den Kulturen. 02. März 2011. URL: http://www.stadt kulturmagazin.de/2011/03/transkulturalitat-versus-multi-und-interkulturalitat/ [11. 02. 2015].

2

Otten, Matthias: Was kommt nach der Differenz? Anmerkungen zur konzeptionellen und praktischen Relevanz des Theorieangebots der Transkulturalität im Kontext der

182 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Kayo Adachi-Rabe und andere haben darauf hingewiesen, dass das filmische Medium zu einer Plattform geworden ist, „auf der sich die Kulturen austauschten und einander ästhetisch begegneten. Es stellte die technischen Möglichkeiten für eine kulturelle Globalisierung bereit.“3 In jeder Filmproduktion schlagen sich die jeweiligen soziokulturellen Hintergründe, die politischen Prämissen, die historischen Entwicklungslinien sowie traditionelle ästhetische Konzeptionen nieder.4 So erscheint es sinnvoll, einen Vergleich zwischen zwei Filmströmungen der gleichen Epoche, die aber verschiedenen Kulturen angehören, anzustellen, wobei die interkulturelle Forschungsmethode angewendet wurde. Rolf Elberfeld stellt fest, dass der Blick der Europäer nach Asien und der der Asiaten nach Europa es fast zwangsläufig mit sich bringe, „dass die Wahrnehmung der jeweils anderen ästhetischen Traditionen zur Entwicklung einer komparativen Ästhetik führt.“5 Diese Ästhetik zeigt sich mithin in fast jedem Bereich der Gesellschaft: von den soziokulturellen Phänomenen über die vorherrschende Weltanschauung bis hin zu philosophischen Ansichten. So habe ich im ersten Teil dieser Arbeit einen inhaltlich-thematischen Vergleich von Filmen beider Schulen durchgeführt, der auf einer Vorstellung der Hintergründe der jeweiligen Schule (Kap.2) beruht und zugleich auf ihre je eigenen soziokulturellen und historisch-politischen Besonderheiten hinweist. Um eine exzessive Interpretation zu vermeiden, schlägt Umberto Eco vor, dass die Interpretation vom Text selbst ausgehen soll.6 Durch den Text selbst bzw. durch die Filme kann man die Kultur und die Gesellschaft der Länder, die in den Werken repräsentiert sind, kennenlernen und vergleichen. Dementsprechend hat der erste Hauptteil dieser Arbeit (Kap. 2 und 3) die Qualität eines interkulturellen Vergleichs. Bedingt durch die Globalisierung und den Fortschritt der Informationstechnologie gibt es keine klaren Grenzlinien mehr zwischen den Kulturen. So verwundert es beispielsweise nicht mehr in einem orientalischen Film auf westliche Vorstellungen zu treffen oder umgekehrt. Die Rede ist hier von Transkulturalität –

interkulturellen Kommunikation. In: Moosmüller, Alois [Hrsg.][2009]: Konzepte kultureller Differenz. Münster/ New York/ München/ Berlin: Waxmann, S. 50. 3

Adachi-Rabe, Kayo u.a. [Hrsg.][2010]: Japan – Europa. Wechselwirkung zwischen den

4

Ebenda.

5

Elberfeld, Rolf: Komparative Ästhetik – Eine Hinführung. In: Elberfeld, Rolf/Wohlfart,

6

Vgl. Eco, Umberto [1996]: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinter-

Kulturen im Film und den darstellenden Künsten. Darmstadt: Büchner-Verlag, S. 7.

Günter [Hrsg.] [2001]: S. 14. pretation. München: dtv, S. 52 ff.

F AZIT

| 183

ein Begriff, der von dem zeitgenössischen Philosophen Wolfgang Welsch Mitte der 1990er Jahre eingeführt wurde. Welsch verwendet diesen Begriff, um die Entgrenzung und die Dynamik der Kulturen zu erklären: „Die Austauschprozesse zwischen den Kulturen lassen nicht nur das alte Freund-Feind-Schema als überholt erscheinen, sondern auch die scheinbar stabilen Kategorien von Eigenheit und Fremdheit. Es gibt nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr.“7 Anhand der ästhetischen Analyse in der zweiten Hälfte der Arbeit (Kap. 4 und 5) konnte gezeigt werden, dass manche Filmverfahren in den Werken der zwei Schulen einen solchen transkulturellen Charakter aufweisen. Die Reduktionsästhetik beider Schulen, wie ich sie im Theorieteil erörtert habe, kann einerseits anhand der daoistischen Philosophie, andererseits durch den modernen Minimalismus erklärt werden. Argumente für die Ästhetik der Leerstellen in den Filmen beider Schulen kann man sowohl in der traditionellen chinesischen Ästhetik als auch bei Deleuze finden. Ferner ist bemerkenswert, dass sich Brecht von der Schauspielkunst im traditionellen chinesischen Theater inspirieren lässt und den V-Effekt in seiner Theorie zum epischen Theater aufgreift. Nicht zuletzt lässt sich die Kamerafahrt, die eine hochgradige Affinität zur Vorgehensweise der chinesischen traditionellen Malerei zeigt, nicht in den Werken der chinesischen Sechsten Generation, sondern in denen der Neuen Berliner Schule entdecken (siehe 5.2.1). In diesen Analysen bekundet sich eine kulturelle Anverwandlung bzw. Transkulturalität. Der Schritt von der inhaltlich-thematischen zur ontologisch-ästhetischen Analyse, der sich in dieser Arbeit nachverfolgen lässt, ist auch ein Übergang von der interkulturellen zur transkulturellen Analyse. Das spiegelt auch die allgemeine Kulturtendenz in der Gegenwart wider. Es gibt keine großen Unterschiede mehr, sondern vielmehr Transponierung und Globalisierung. Die zweite in meiner Arbeit diskutierte Problematik ist der dialektische Zusammenhang zwischen Realität und Verfremdung. Einerseits ist die Realität ein unverkennbares Merkmal in den Filmen beider Strömungen, anderseits wird sie jedoch auf eine ungewöhnliche Weise präsentiert, sodass die Filme weniger real erscheinen. Dies liegt vor allem daran, dass der Realismus im Laufe der Zeit in verschiedenen Varianten aktualisiert worden ist. „Die Werke der genannten Filmemacherinnen und Filmemacher aktualisieren die Tradition realistischen Erzählens, indem sie einerseits gewisse Stilmerkmale und narrative Verfahren

7

Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen.“ In: Zeitschrift für Kulturaustausch. 01/1995, S. 42.

184 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION älterer realistischer Strömungen (etwa des italienischen Neorealismus oder des kitchen sink realism der British New Wave) aufgreifen, diese andererseits aber in verschiedenen Richtungen weiterentwickeln.“8

Da die Verfremdung von den Formalisten als ein wichtiges Verfahren der Kunst angesehen wird, setzt sich diese Arbeit mit dem Zusammenhang zwischen Realität und Form auseinander. Bekanntlich gibt es viele philosophische Debatten über die Dialektik von Form und Inhalt: Für Hegel ist der Inhalt der grundlegende Wesensgehalt der Kunst, die Realität ist der Inhalt, der sowohl abstrakt als auch allgemein ist.9 Adorno hingegen behauptet, dass in der Kunst die Form den Inhalt überwiegt: „Inhaltsästhetik behält ironisch in dem Streit die Oberhand dadurch, dass der Gehalt der Werke und der Kunst insgesamt, ihr Zweck, nicht formal, sondern inhaltlich ist. Dazu jedoch wird er nur vermöge der ästhetischen Form. Hat Ästhetik zentral von der Form zu handeln, so verinhaltlicht sie sich, indem sie die Formen zum Sprechen bringt.“10 Ferner existiert Adorno zufolge eine angeborene Trennung zwischen dem Kunstwerk und der empirischen Realität (Gesellschaft). So behauptet er sogar, dass Kunst die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft sei. 11 Die hier apostrophierte Trennung ist offenbar als eine Art Verfremdung aufzufassen. Gerade wegen dieser Trennung (Verfremdung) erscheinen die Kunstwerke als nicht mit der gesellschaftlichen Realität identisch. „Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität [...] wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz.“12 Die Realität in den Filmen der Sechsten Generation wird von Michael Berry als „grobkörnige Realität“ 13 , von Jason McGrath als „postsozialer kritischer Realismus“14 und von Zhang Zhen als „hyperrealist aesthetic“15 bezeichnet. Bei der Neuen Berliner Schule wird die Realität in ihren Filmen „R-Effekt“16 ge-

8

Kirsten, Guido [2013]: S. 15.

9

Vgl. Hegel, G. W. F. [1970]: Vorlesungen über die Ästhetik. 1. Werke 13. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 132.

10 Adorno, Theodor W. [1970]: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 432. 11 Vgl. ebenda, S. 14 ff. 12 Ebenda, S. 14. 13 Berry, Michael [2009]: S. 20. 14 Zhang, Zhen [Hrsg.] [2007]: S. 83. 15 Ebenda, S. 7. 16 Suchsland, Rüdiger: In: Film-Dienst, 13/2005, S. 9.

F AZIT

| 185

nannt, der „in ansonsten hochartifiziellen Filmen funktionell integriert“ 17 ist. Durch die Darstellung von Realität in beiden Strömungen lässt sich erkennen, dass ihre Auffassung in derartigen Filmen mehr und mehr von der Realität im traditionellen Sinne abgewichen ist. Der Filmkritiker Lukas Foerster beschreibt die Filme der Neuen Berliner Schule so: „Immer jedoch sind sich die Filme ihrer Künstlichkeit bewusst und behaupteten nie einen unmittelbaren Zugriff auf die Realität“.18 Nach Rüdiger Suchsland „flanieren die Filme [der Neuen Berliner Schule] durch die Welt, die zwar normal, aber doch seltsam unvertraut scheint.“19 Dies trifft auch auf die Filme der Sechsten Generation zu. Der chinesische Filmwissenschaftler Chen Xihe stellt den Stil der Sechsten Generation folgendermaßen heraus: „Many of the young filmmakers of the 1990s draw on both the Chinese legacy of the critical realism and more recent international art cinema.“20 Vor dem Hintergrund der Globalisierung ist „die entwickelte Realität“ nämlich sowohl real als auch verfremdet. Sie ist einerseits von der Tradition, andererseits von der modernen Ästhetik geprägt und stellt eine gemeinsame Tendenz im gegenwärtigen Kino dar. Während also die „entwickelte Realität“ eine unübersehbare Gemeinsamkeit in den Werken beider Schule darstellt, existieren auch deutliche Unterschiede. Auf die Ausführungen des frühen Filmtheoretikers Hou Yao Bezug nehmend, behauptet der zeitgenössische Filmkritiker Chen Xihe, dass die chinesischen Filme auf dem traditionellen chinesischen Drama beruhen. Denn anfangs wurde der Film Schattenspiel (yingxi, 影戏) genannt. „In Chinese, shadowplay (ying xi) is a word group consisting of a modifier and the word it modifies. Its key word is play, which means a drama; shadow, which means the image on the screen, is only the modifier of play. The basic understanding of the relationship of shadowplay to film is that play is the origin of film, but shadow is its means of presentation.“

21

17 Foerster, Lukas [2006]: Neue Berliner Schule. 18 Ebenda. 19 Suchsland, Rüdiger: In: Film-Dienst 13/2005, S. 9. 20 Zhang, Zhen [Hrsg.] [2007]: S. 7, oder siehe: Berry, Michael [2009]: S. 19. 21 Chen, Xihe: Shadowplay: Chinese Film Aesthetics and their philosophical and cultural Fundamentals. In: Semsel, George S. u.a. [Hrsg,][1990]: Chinese Film Theory. A Guide to the New Era. New York u.a.: Praeger, S. 193.

186 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Die westliche Filmtheorie geht hingegen von den konkreten Bildern und Einstellungen aus und erörtert die filmische Ontologie. Sie hält den Schatten für das Entscheidende: „The Chinese take image as the means of presenting story; Westerners take story as one element of film. The Chinese pay attention to the dramatic and literary characteristics of story; Westerners pay attention to the characteristics of montage (editing) and the long take 22

(shot).“

Unter dem Einfluss der chinesischen traditionellen Schattenspielkonzeption bekundet sich in den Werken der Sechsten Generation eine Dramaturgie, die deutlicher sichtbar ist als in den Werken der Neuen Berliner Schule. Zudem scheint die Dramaturgie in der westlichen Kunst mittlerweile eher Brecht als Aristoteles zu folgen, seitdem Brecht seine Anti-Dramaturgie entwickelt hat.23 Abgesehen davon, dass die spannungslose Dramaturgie einen ungewöhnlichen Eindruck hinterlässt, äußern sich die meisten derart verfremdenden Merkmale in der Form. Deswegen wurde die ästhetische Analyse im Kapitel 5 hauptsächlich in der räumlichen und zeitlichen Dimension durchgeführt. Denn beide Dimensionen können durch die Form – sowohl äußerlich als auch innerlich (psychologisch) – vom Zuschauer wahrgenommen werden. Allerdings stehen Zeit und Raum im Film selbstverständlich nicht nebeneinander, vielmehr lässt sich in der Regel eine „filmspezifische Verschränkung von Raum und Zeit“24 feststellen. Dementsprechend ist die Rede von einer Verzeitlichung des Raumerlebnisses und einer Verräumlichung des Zeiterlebnisses – Konzepte, die von Walter Dadek entwickelt worden sind.25 Benjamin Beil und anderen zufolge entsprechen diese dem von Michael M. Bachtin in die Literaturtheorie eingeführten Begriff des Chronotopos26, der auch auf die Filmwissenschaft übertragbar sei.27 Zudem kann

22 Ebenda, S. 196. 23 Zu weiterem siehe: Brecht, Bertolt: „Kleines Organon für das Theater.“ In: Brecht, Bertolt [1957]: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 128 ff. 24 Beil, Benjamin u.a. [2012]: S. 272. 25 Vgl. Ebenda, S. 273. 26 Weiteres über den Begriff des Chronotopos siehe: Bachtin, Michail M. [1989]: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 7 ff. 27 Beil, Benjamin u.a. [2012]: S. 274 ff.

F AZIT

| 187

der Ausdruck der zeitlichen Verfremdung nicht absolut vom räumlichen Verfahren unabhängig sein und umgekehrt. Beispielsweise kann die lange Einstellung einerseits die zeitliche Sehgewohnheit und andererseits die räumliche Wahrnehmung durch die Kamerafahrt verändern. Die in dieser Arbeit gewählte Vorgehensweise, nämlich die Analyse nach zeitlichen und räumlichen Aspekten getrennt durchzuführen, dient nur dazu, die Problematik in einer deutlich konturierten Struktur zu erklären. Die ästhetische Analyse hat mich zu der Schlussfolgerung geführt, dass die formale Verfremdung auf der zeiträumlichen Ebene der inhaltlichen Realität dient. Letztendlich gibt es auch Unterschiede, die sich in der inhaltlich-thematischen Analyse als kulturelle Phänomene begreifen lassen. Man bemerkt gleichwohl, dass die ‚Demarkationslinie‘ allmählich verwischt wird und die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund treten. Diese allgemeine Tendenz scheint unausweichlich zu sein. Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Kulturbegriff zurückkommen, genauer gesagt, auf den der Inter- und Transkulturalität. In ihrer Forschung zur translinguistischen Praxis behauptet Lydia He Liu, dass die binäre Konstellation des Ostens und des Westens schon oft in Frage gestellt wurde. Ihr zufolge kann die komparative Forschung zur Transkultur nichts weiter leisten, als zu übersetzen. Indes kann die Sprachgrenze zwischen den unterschiedlichen Kulturen von den Übersetzern kaum jemals vollständig überquert werden.28 Lius Forschung setzt hauptsächlich im Bereich der sprachlichen Übersetzung im Kontext der Transkultur an. Was aber den Film angeht, so bezieht sich die Übersetzung überwiegend auf die Vermittlung durch die Bilder (die Sprache wird dabei kaum berücksichtigt), weshalb die Grenze nicht unüberquerbar erscheint. Dies erklärt in gewissem Maße auch, warum Bilder leichter zu verbreiten sind als Texte. Allerdings bedeutet dies nicht, dass immer eine kulturelle Äquivalenz zwischen unterschiedlichen Ländern existiert, dank deren man ohne größere Anstrengung die Anderen verstehen könnte. Gleichzeitig spielt die Aktivität des Rezipienten auch hierbei eine entscheidende Rolle. Dementsprechend prägen Ella Shohat und Robert Stam den Begriff Negotiating Spectatorship: „Media spectatorship forms a trialog between texts, readers and communities existing in clear discursive and social relation to one another.“29 Die Rezeptionstheorie wurde in dieser Arbeit

28 Vgl. Liu, Lydia He [1995]: Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity China, 1900-1937. Stanford: Stanford University Press, S. 1 ff. 29 Vgl. Shohat, Ella/Stam, Robert [1994]: Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the media. London and New York: Routledge, S. 347 ff.

188 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

nur kurz besprochen, obwohl ich stellenweise den neoformalistischen Ansatz verwendet habe, der von der kognitionspsychologischen Rezeptionsanalyse und dem russischen Formalismus ausgeht. Indes kann die neoformalistische Analyse auf der anderen Seite, wie Bordwell und Thompson nachweisen, teilweise auch als Grundlage für anderweitige theoretische Konstruktionen in Anspruch genommen werden.30 Homi K. Bhabha hat in der Forschung über postkolonialistische Texte den Begriff kulturelle Hybridität geprägt31, der auch verwendet wird, um den Charakter der gegenwärtigen Kultur vor dem Hintergrund der Globalisierung zu beschreiben. Im Unterschied zur allgemeinen Auffassung, dass der Multikulturalismus oder die Koexistenz vorherrschend seien, behauptet Bhabha, dass die Globalisierung bis jetzt noch eine partielle und disjunktive Realität sei, 32 was zugleich zur Ambivalenz führe: „Die Angst unserer Gegenwart macht uns schmerzlich bewusst, dass das strukturierende Prinzip unserer affektiven politischen Existenz die Ambivalenz ist – Ambivalenz als zentraler ‚Wert‘ der privaten wie der öffentlichen Erfahrung im Leben der Staatsbürger.“33 Diese Ambivalenz lässt sich nicht nur in den sogenannten postkolonialistischen Ländern, sondern auch in den westlichen Ländern feststellen – ich beziehe mich hier auf ihre ehemalige kolonialistische Hegemonie im Kontrast zur gegenwärtigen Multikulturalität. In der dynamischen Globalisierung der Gegenwart stehen Differenz und Gemeinsamkeit der Kulturen in steter Wechselwirkung. Es ist nun kaum mehr möglich, nur auf einer Seite zu stehen und den Anderen als Fremden zu betrachten. Vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen der chinesischen und der westlichen Filmtheorie teilt der Filmkritiker Chen Xihe die gegenwärtigen Filmtheorien in drei Phasen ein: die rote Theorie, die blaue Theorie und die Theorie nach der blauen.34 Dass die erste „rote Theorie“ genannt wird, ist dadurch begründet, dass die Filmtheorien dieser Phase (1949 bis

30 Vgl. Hesse, Christoph [2006]: S. 8-9; auch Thompson, Kristin [1995]: S. 23. 31 Vgl. Bhabha, Homi. K. [2000]: S. 30 ff, 138 ff. 32 Vgl. Bhabha, Homi. K. [2012]: „Globalisierung und Ambivalenz.“ In: Charim, Isolde/ Borea, Gertraud Auer [Hrsg.] [2012]: Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld: transcript Verlag, S. 53 ff. 33 Ebenda, S. 56. 34 Vgl. Chen, Xihe [2010]: Der chinesischsprachige Film: Theorie, Historie und Ästhetik (Huayu

dianying: lilun, lishi he meixue). Shanghai: Fudan University Press, S. 16 ff.

Übersetzt von Tang, Yuanyuan.

F AZIT

| 189

Mitte der 70er Jahre) vollständig von den damaligen revolutionären Gedanken und einer als proletarisch bezeichneten Politik bestimmt werden. Die „blaue Theorie“ wiederum bezieht sich auf die Phase der 80er und 90er Jahre, in der die westlichen filmischen Analyseansätze wie etwa die Filmsemiotik, der Strukturalismus, die Psychologie oder der Feminismus in China eingeführt wurden. Die blaue Theorie wird als Dekonstruktion der roten Theorie angesehen. Nach der Phase der blauen Filmtheorie geht die chinesische Filmtheorie Chen zufolge mit einer neuen Tendenz im globalisierten Kontext einher. In dieser neuen Phase bekundet sich eine Synthese, ein Verbund des Eigenen mit dem Fremden. Das ist freilich ein allgemeines Phänomen im gegenwärtigen Kino – die immer stärker internationalisierten Hollywoodfilme mögen als Beispiel dienen: Unter Einbeziehung des eigenen, einheimischen Charakters versucht man, zwischen den unterschiedlichen Kulturen Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen, um zwischen ihnen ein System des gegenseitigen Verstehens und Kommunizierens aufzubauen. Sofern diesem ehrenwerten Ziel nicht nur filmisch, sondern auch filmwissenschaftlich zu dienen ist, wäre es für mich beglückend, wenn ich mit der vorliegenden Arbeit einen bescheidenen Beitrag dazu leisten konnte.

Filmographie

F ILME

DER

N EUEN B ERLINER S CHULE

Die innere Sicherheit (Christian Petzold, DE, 2000) Wolfsburg (Christian Petzold, DE, 2003) Gespenster (Christian Petzold, DE, 2005) Yella (Christian Petzold, DE, 2007) Barbara (Christian Petzold, DE, 2012) Mein langsames Leben (Angela Schanelec, DE, 2001) Marseille (Angela Schanelec, DE, 2004) Nachmittag (Angela Schanelec, DE, 2007) Orly (Angela Schanelec, DE, 2010) Geschwister-Kardeşler (Thomas Arslan, DE, 1997) Der schöne Tag (Thomas Arslan, DE, 2001) Ferien (Thomas Arslan, DE, 2007) Bungalow (Ulrich Köhler, DE, 2002) Montag kommen die Fenster (Ulrich Köhler, DE, 2006) Lucy (Henner Winckler, DE, 2006) Klassenfahrt (Henner Winckler, DE, 2002) Milchwald (Christoph Hochhäusler, DE, 2003) Madonnen (Maria Speth, DE, 2007) Schläfer (Benjamin Heisenberg, 2005)

F ILME

DER CHINESISCHEN

S ECHSTEN G ENERATION

Dirt (Toufa Luanle, 头发乱了, Guan Hu, CN, 1994) Mama (Zhang Yuan, 妈妈, CN, 1990) Beijing Bastards (Beijing Zazhong, 北京杂种, Zhang Yuan, CN, 1993) The Square (Guang Chang, 广场, Zhang Yuan, CN, 1994)

192 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

East Palace, West Palace (Dongong, Xigong, 东宫西宫, Zhang Yuan, CN, 1997) Seventeen Years (Guonian huijia, 过年回家, Zhang Yuan, CN, 1999) Xiao Wu (Xiaowu, 小武, Jia Zhangke, CN, 1997) Plattform (Zhan Tai, 站台, Jia Zhangke, CN, 2000) In Public (Gonggong Changsuo, 公共场所, Jia Zhangke, CN, 2001) Unknown Pleasures (Ren xiaoyao, 任逍遥, Jia Zhangke, CN, 2002) The World (Shi Jie, 世界, Jia Zhangke, CN, 2004) Still Life (Sanxia haoren, 三峡好人, Jia Zhangke, CN, 2006) 24 City (Er shi si cheng, 24 城, Jia Zhangke, CN, 2008) The Days (Dongchun de Rizi, 冬春的日子, Wang Xiaoshuai, CN, 1992) Frozen (Jidu hanleng, 极度寒冷, Wang Xiaoshuai, CN, 1996) Beijing Bicycle (Shiqisui de Danche, 十七岁的单车, Wang Xiaoshuai, CN, 2000) Shanghai Dreams (Qing hong, 青红, Wang Xiaoshuai, CN, 2005) Weekend Lover (Zhoumo Qingren, 周末情人, Lou Ye, CN, 1995) Suzhou River (Suzhou He, 苏州河, Lou Ye, CN, 2000) The Orphan of Anyang (Anyang de Gu’er, 安阳的孤儿, Wang Chao, CN, 2001) The making of the steal (Zhangda Chengren, 长大成人, Lu Xuechang, CN, 1997)

S ONSTIGE F ILME Life (Ren Sheng, 人生, Wu Tianming, CN, 1984) Old Well (Lao Jing, 老井, Wu Tianming, CN, 1987) Umberto D. (Vittorio De Sica, IT, 1952) Akibiyori (Yasujiro Ozu, JP, 1960)

Bibliographie

Abbas, Ackbar [3 2002]: Hong Kong. Culture and the Politics of Disappearance. Minneapolis, Minn. u.a.: University of Minnesota Press. Abel, Marco [2013]: The Counter – Cinema of the Berlin School. Rochester, New York: Camden House. Adachi-Rabe, Kayo u.a. [Hrsg.][2010]: Japan – Europa. Wechselwirkung zwischen den Kulturen im Film und den darstellenden Künsten. Darmstadt: Büchner-Verlag. Adorno, Theodor W. [1970]: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Albersmeier, Franz- Josef [5 2003]: Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: der Philipp Reclam jun. Andrew, J. Dudley [1976]: The Major Film Theories. An Introduction. London u.a.: Oxford University Press. Arnheim, Rudolf [1974]: Film als Kunst. München: Hanser Verlag. Augé, Marc [1994]: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer. Baacke, Dieter [4 2004]: Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Weinheim und München: Juventa Verlag. Bachtin, Michail M. [1989]: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Balázs, Béla [2001]: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Barck, Karlheinz u.a. [Hrsg.] [1992]: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam. Barck, Karlheinz u.a. [Hrsg.] [2000]: Ästhetische Grundbegriffe. (ÄGB) Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6 Tanz- Zeitalter/ Epoche. Stuttgart u.a.: Metzler. Bazin, André [2004]: Was ist Film? Berlin: Alexander-Verl.

194 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Beck, Ulrich/Beck- Gernsheim, Elisabeth [2005]: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Beil, Benjamin u.a [2012]: Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms. München: Wilhelm Fink. Bell, Daniel [1991]: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt/Main; New York: Reihe Campus. Beller, Hans [Hrsg.] [1999]: Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München: durchges. und erw. Aufl. Berry, Michael [2005]: Speaking in images: interviews with contemporary Chinese filmmakers. NY: Columbia Univ. Press. Berry, Michael [2009]: Xiaowu, Plattform, Unknown Pleasures. Jia Zhangke’s Hometown trilogy. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Bhabha, Homi K. [2000]: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Blücher, Viggo [1966]: Die Generation der Unbefangenen. Zur Soziologie der jungen Menschen heute. Düsseldorf-Köln: Eugen Diederichs Verlag. Bordwell, David [1985]: Narration in the Fiction Film. Madison: Univ. of Wisconsin Press. Bordwell, David [2001]: Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt am Main: Verl. Der Autoren. Bordwell, David [2005]: figures traced in light. On Cinematic Staging. Berkeley u.a.: University of California Press. Bordwell, David [2006]: The Way Hollywood tells it. Berkeley: University of California Press. Bordwell, David/Thompson, Kristin [5 1997]: Filmart: an introduction. New York: McGraw-Hill. Branigan, Edward [1992]: Narrative Comprehension and Film. London: Routledge. Brecht, Bertolt [1957]: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Browne, Nick u.a. [1994]: New Chinese cinemas: forms, identities, politics. MA: Cambridge Univ.-Press. Brugger, Walter/Schöndorf, Harald [2010]: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber. Burch, Noel [1981]: Theory of film practice. Princeton: Princeton Univ. Press. Charim, Isolde/Auer Borea, Gertraud [Hrsg.] [2012]: Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld: transcript Verlag. Chen, Xihe [2010]: Der chinesischsprachige Film: Theorie, Historie und Ästhetik (Huayu dianying: lilun, lishi he meixue). Shanghai: Fudan University Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan.

B IBLIOGRAPHIE

| 195

Chen, Xihe/Shi, Chuan [Hrsg.] [2003]: Filme der Neuen Generation im multidimensionalen Kontext (Duoyuan yujing xia de xinshengdai dianying). Shanghai: Xuelin Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Cheng, Qingsong/Huang, Ou [2010]: Meine Kamera lügt nie. Archiv der zwischen 1960–1970 geborenen Filmschaffenden (wo de sheyingji bu sahuang. Shengzai 1960–1970 xianfeng dianyingren dangan). Shandong: shandong huabao Verlag. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. China Film Association [1985]: 35 Jahre Filmanstalten in der Volksrepublik China. 1949–1984 (Zhonghua renming gongheguo dianying shiye sanshiwu nian. 1949–1984). Peking: China- Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Chow, Rey [2007]: Sentimental fabulations, contemporary Chinese films. New York: Columbia Univ. Press. Clark, Paul J. A. [2005]: Reinventing China: a generation and its films. Hongkong: Chinese Univ. Press. Cook, Roger F. u.a. [2013]: Berlin School Glossary. An ABC of the New Wave in German Cinema. Bristol, UK/Chicago, USA: intellect. Dai, Jinhua [2000]: Die Landschaft im Nebel: chinesische Filmkultur 1978–1998. (Wuzhong fengjing: Zhongguo dianying wenhua 1978–1998). Peking: Peking Universität Verlag. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Deegener, Grünther/Körner, Wilhelm [2011]: Gewalt und Aggression im Kindesund Jugendalter. Ursachen, Formen, Intervention. Weinheim: Beltz Verlag. Deleuze, Gilles [1997]: Das Zeit- Bild. Kino 2. Übersetzt von Klaus Englert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Delle Vacche, Angela [1996]: Cinema and Painting. How Art is used in Film. Austin: University of Texas Press. Ding, Yaping [Hrsg.] [2005]: Anthologie der chinesischen Filmtheorie des Jahrhunderts. (Bainian Zhongguo Dianying Lilun Wenxuan). Peking: culture & art publishing house. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Dirlik, Arif/Zhang, Xudong [Hrsg.] [2000]: Postmodernism & China. Durham: Duke University Press. Dortzler, Bernhard J. [2013]: Michel Foucault. Schriften zur Medientheorie. Berlin: Suhrkamp. Eco, Umberto [1996]: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München: dtv. Elberfeld, Rolf/Wohlfart, Günter [Hrsg.] [2001]: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrung zwischen Asien und Europa. Köln: edition chöra. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte [2007]: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag. Faulstich, Werner [3 2013]: Grundkurs Filmanalyse. Paderborn: Wilhelm Fink.

196 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Faulstich, Werner [Hrsg.] [2010]: Die Kultur der 90er Jahre. München: Wilhelm Fink Verlag. Fritz, Mierau [Hrsg.] [1987]: Die Erweckung des Wortes. Essay der russischen formalen Schule. Leipzig: Reclam. Frölich, Margrit [Hrsg.] [2009]: Made in China: das aktuelle chinesische Kino im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche. Marburg: Schüren. Fung, Yulan [1960]: A short history of Chinese philosophy. New York: The Macmillan Company. Giannetti, Louis [8 1999]: Understanding Movies. Upper Saddle River, NJ u.a.: Prentice Hall. Gombrich, E. H. [6 2002]: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der Bildlichen Darstellung. Berlin: Phaidon Verlag. Graf, Dominik u.a. [2006]: Ein Gespräch via e-mail über die "Neue Berliner Schule. Berlin: Deutsche Film- und Fernsehakademie. Grimm, Günter [2010]: Das weiche Wasser bricht den Stein… Der vollständige Text des Tao Te King interpretiert von Günter Grimm. Weinheim: Verlag – Das klassische China. Grob, Norbert u.a. [Hrsg.] [2009]: Kino des Minimalismus. Mainz: Bender Verlag. Hartmann, Britta [2009]: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren. Hasecke, Jan Ulrich [2013]: Die Wahrheit des Sehens. Der Dekalog von Krzysztof Kieslowski. Charleston: CreateSpace. Heberer, Thomas/Weigelin, Rüdiger [Hrsg.] [1990]: Xiandaihua, Versuch einer Modernisierung: Entwicklungsproblem der VR China. Unkel/Rhen u.a.: Horlemann. Heberlein, Jana [2011]: Die Neue Berliner Schule Zwischen Verflachung und Tiefe: Ein ästhetisches Spannungsfeld in den Filmen von Angela Schanelec. Masterarbeit, Uni Zürich. Hecht, Werner/Knopf, Jan u.a. [1993]: Bertolt Brecht Werke. Band 22. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Hegel, G. W. F. [1970]: Vorlesungen über die Ästhetik 1. Werke 13. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hesse, Christoph [2006]: Filmform und Fetisch. Bielefeld: Aisthesis. Hu, Ke [2005]: Kritik an der Geschichte der chinesischen Filmtheorie. (Zhongguo dianying lilun shiping) Peking: China-Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Hua, Linglei [2007]: The Transformation of Chinese Movie Policy: from the Perspective of the Developing History of Movie Function (Shi cong dianying

B IBLIOGRAPHIE

| 197

kongneng fazhan jiaodu lun zhongguo dianying zhengce de biandong). Uni. Masterarbeit. Shanghai Jiaotong University. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Jacobsen, Wolfgang u.a. [2 2004]: Geschichte des deutschen Films. Stuttgart: J.B. Metzler. Jameson, Fredric [3 1992]: Postmodernism, or, the cultural logic of late capitalism. Durham, NC: Duke Univ. Press. Käsler, Dirk [Hrsg.] [1999]: Klassik der Soziologie. München: Beck. Kemp, Wolfgag [Hrsg.] [1992]: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. Kirsten, Guido [2013]: Filmischer Realismus. Marburg: Schüren Verlag. Koebner, Thomas u.a. [Hrsg.]: Bildtheorie und Film. München: Edition text+kritik. König, Traugott [Hrsg.] [1991]: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 3. Reinbek: Rowohlt. KPMG [Hrsg.] [6 2003]: Filmförderung in Deutschland und der EU 2003 – Aktualisierte Übersicht. Berlin: Verlag für Wirtschaftskommunikation. Kracauer, Siegfried [2009]: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Kräher, Marte [2007]: „Die Kulturelle Relevanz der Berliner Schule.“ Diplomarbeit an der Universität des Saarlandes und Université de Metz. Kramer, Hu-Chong/Kramer, Stefan [2002]: Bilder aus dem Reich des Drachen: chinesische Filmregisseure im Gespräch. Bad Honnef: Horlemann. Kramer, Stefan [1997]: Geschichte des chinesischen Films. Stuttgart: Metzler. Kuhn, Markus [2011]: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Belrin: de Gruyter. Lessing, Gotthold Ephraim [1964]: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart: Reclam. Li, Meng: The Sixth Generation Films Studies (Di liu dai dianying yanjiu). Univ. Diss. JILIN University 2009. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Lin, Xudong u.a. [Hrsg.] [2003]: Jia Zhangke Film – Xiao Wu (Jia Zhangke dianying Xiao Wu). Peking: Zhongguo Mangwen Verlag. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Liu, Lydia H. [1995]: Translingual Pravtice. Literature, National Culture, and Translated Modernity China, 1900–1937. Stanford: Stanford University Press. Lu, Shaoyang [2004]: die chinesische gegenwärtige Filmgeschichte seit 1977. (Zhongguo dangdai dianyingshi – 1977 nian yilai). Peking: Peking Universität Verlag. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Lu, Sheldon H./Yeh, Eilie Yueh-yu [Hrsg] [2005]: Chinese-Language Film. Historiography, Poetics, Politics. Honolulu: University of Hawaii Press.

198 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Marzona, Daniel/Grosenick, Uta [Hrsg.] [2006]: Minimal Art. Hong Kong u.a.: Taschen. Metz, Christian [1972]: Semiologie des Films. München: Fink. Metz, Christian [2000]: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster: Nodus Publikationen. Miklós, Pál [1982]: Chinesische Malerei. Geschichte, Technik, Theorie. Köln, Wien: Böhlau Verlag. Moosmüller, Alois [Hrsg.] [2009]: Konzepte kultureller Differenz. Münster/ New York/ München/ Berlin: Waxmann. Müller, Klaus-Detlef [2009]: Bertolt Brecht: Epoche, Werk, Wirkung. München: Beck. Ni, Jun [2004]: Chinesische Filmgeschichte (Zhongguo dianyingshi). Peking: China-Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Ouyang, Jianghe [Hrsg.] [2007]: On the Edge: Chinese Independent Cinema (Zhongguo duli dianying fangtanlu). Hongkong: OXFORD University Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Platzen, Maik [2009]: Peking Express: das junge Kino aus China. Marburg: Schüren. Rost, Andreas [Hrsg.] [1997]: Zeit, Schnitt, Raum. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Roy, Rajendra/Leweke, Anke [2013]: The Berlin School. Films from the Berliner Schule. New York: The Museum of Modern Art. Salt, Barry [1992]: Film style and Technology: History and Analysis. London: Starword. Schick, Thomas/Ebbrecht, Tobias [Hrsg.] [2011]: Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms. Wiesbaden: VS Verlag. Schimany, Peter/Seifer, Manfred [Hrsg.]: Globale Gesellschaft? Perspektiven der Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Lang. Schleichert, Hubert/ Roetz, Heiner [2009]: Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Klostermann. Schneegass, Christian [2001]: minimal – concept. Zeichenhafte Sprachen im Raum. Amsterdam: Verlag der Kunst. Schreitmüller, Andreas u.a. [Hrsg.] [1986]: Freispiele. Das kleine Fernsehspiel – Freiraum im Programm. München: TR-Verlagsunion. Schumacher, Bernard N. [Hrsg.] [2010]: Jean- Paul Sartre. Das Sein und das Nichts. München: Oldenbourg Akademieverlag. Schwenk, Johanna [2012]: Leerstellen – Resonanzräume. Zur Ästhetik der Auslassung im Werk des Filmregisseurs Christian Petzold. Baden-Baden: Nomos.

B IBLIOGRAPHIE

| 199

Seibert, Marcus [Hrsg.] [2006]: Revolver: Kino muss gefährlich sein. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Seibert, Thomas [2000]: Existentialismus. Hamburg: Rotbuch Verlag. Semsel, George S. u.a. [Hrsg.] [1990]: Chinese Film Theory. A Guide to the New Era. New York u.a: Praeger. Shohat, Ella/Stam, Robert [1994]: Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the media. London and New York: Routledge. Sierek, Karl/Kirsten, Guido [Hrsg.] [2011]: Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution: Theorien und Analysen. Marburg: Schüren. Sklovskij, Viktor [1984]: Theorie der Prosa. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Slansky, Peter C. [2011]: Filmhochschulen in Deutschland. Geschichte Typologie Architektur. München: edition text + kritik. Spiegel, Simon [2007]: Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren. Süß, Werner [Hrsg.] [2002]: Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung. Opladen: Leske+Budrich. Trebeß, Achim [Hrsg] [2006]: Metzler Lexikon. Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Stuttgart u.a.: Metzler. Tudor, Andrew [1977]: Film-Theorie. Frankfurt am Main: Kommunales Kino. Visser, Robin [2010]: Cities surround The Countryside. Urban Aesthetics in Postsocialist China. London: Duke University Press. Volland, Kerstin [2009]: Zeitspieler. Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch. Wiesbaden: VS Verlag. Wang, Jing/Barlow, Tani E. [Hrsg.] [2002]: Cinema and Desire. Feminist Marxism and Cultural Politics in the Work of Dai Jinhua. London. New York: Verso. Wang, Zhimin [1993]: Analytische Theorie der Filmästhetik (Dianying meixue fenxi yuanli). Peking: China-Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Wang, Zhimin [Hrsg.] [2002]: Ästhetik des Films. Das Überholen der Vorstellung und des Gedankes (Dianying meixue. Guannian yu siwei de chaoyue). Peking: China-Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Weiß, Stephanie [2005]: „Orte und Nicht-Orte“. Kulturanthropologische Anmerkungen zu Marc Augé. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e. V. Wilhelm, Richard [2005]: Tao te King. Das Buch vom Sinn und Leben. München: dtv. C. H. Beck.

200 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Wohlfart, Grünter [2002]: Zhuangzi. Meister der Spiritualität. Freiburg im Breisgau: Herder. Wohlfart, Grünter [2003]: Zhuangzi. Auswahl, Einleitung und Anmerkungen von Günter Wohlfart. Übersetzung von Stephan Schuhmacher. Stuttgart: Reclam. Yang, Haiyan [2013]: An International Comparative Study of the New Generation of Chinese Film Directors (Cong bianyuan zouxiang zhongxin. Guoji bijiao shiyu xia de zhongguo dianying xinshengdai yanjiu). Univ. Diss. East China Normal Universtity. Yin, Hong [2007]: Ein Jahrhundert. Der chinesische Film vor dem Hintergrund der Globalisierung (Kuayue bainian. Quanqiuhua beijing xia de zhongguo dianying). Peking: Tsinghua University Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Yin, Chuan [2009]: Translator’s Subjectivity in Xu Yuanchong’s Peotry Translation. Masterarbeit. Shanghai International Studies University. Zhang, Zhen [Hrsg.] [2007]: The urban generation. Chinese Cinema and Society at the Turn of the Twenty-First Century. London: Duke University Press. Zheng, Guoen/Gong, Rumei [2006] [Hrsg.]: Fachgeschichte der chinesichen Filme. Kinematographie Band 2. (Zhongguo dianying zhuanyeshi yanjiu. Dianying sheying juan, xia). Peking: China – Film Press. Übersetzt von Tang, Yuanyuan. Zhou, Xuelin [2007]: Young Rebels in contemporary Chinese Cinema. Hong Kong: Hongkong University Press. Zou, Jian [2006]: Comparative Research on French new Wave and new Generation of Chinese film (Faguo dianying xinlangchao yu zhongguo dianying xinshengdai de bijiao yanjiu). Univ. Diss. East China Normal University.

ARTIKEL

AUS

Z EITUNGEN UND Z EITSCHRIFTEN

Baute, Michael u.a.: „Beriner Schule-Eine Collage.“ In: Kolik. Film. Sonderheft 6, Oktober 2006. Beier, Lars-Olav u.a: „Man will sich nicht verlieben.“ In: Der Spiegel. 10. September 2007. Chen, Xiaowei: „Filmische Transformation der Ästhetik und Ausdruckweise der traditionellen chinesischen Malerei (Zhongguo chuantong huihua meixue sixiang yu biaoxian xingshi de dianyinghua zhuanhuan).“ In: Film Art. 02/2006, S.103–104. Übersetzt von Tang, Yuanyuan.

B IBLIOGRAPHIE

| 201

Decker, Kerstin: „Die Schneewittchenfilmer. Arslan, Petzold, Schanelec: ein Symposium die Neue Beliner Schule.“ In: Der Tagesspiegel, 2. Oktober. 2006. Gansera, Rainer: „Glücks-Pickpocket.“ In: Süddeutsche Zeitung, 3. November 2001. Gehört, Gelesen: „Trostlose Mittelklasse.“ In: Süddeutsche Zeitung, 13/14 September 2014. Gu, Qizhen: „Filmästhetische Analyse. Einstellung: das Medium des Gedankens und der Ästhetik (Yingshi Meixue Fenxi. Jingtou: Sixiang-Shenmei de Zaiti).“In: Literature and Art Criticism. 6/1994, S. 88–95. Han, Xiaolei: „Kultureller Ausbruch aus der Fünften Generation. Das individuelle Filmphänomen der Post-Fünften-Generation (dui diwudai de wenhua tu wei. Hou wudai de geren dianying xianxiang.).“ In: Film Art (Dianyiang yishu). 02/1995, S. 58–63. Hanich, Julian: „Sommergäste. Thomas Arslans ‚Ferien‘ beobachtet kühle Menschen und feiert die Natur.“ In: Der Tagesspiegel. 14. Juni 2007. Heisenberg, Benjamin u.a. [1998]: Vorwort. In: Revolver. Heft 1. Juni 1998. Heisenberg, Benjamin u.a. [2005]: Vorwort. In: Revolver. Heft 12. März 2005. Jia, Leilei: The 6th Generation Directors and the Images of the Era in their Films. In: Film Art. 05/2006, S. 26–31 Jia, Zhangke/ Rao, Shuguang u.a.: „Still Life. Dialog zwischen Jia Zhangke und Rao Shuguang, Zhou Yong usw.“ In: Contemporary Cinema. 02/2007, S.19– 27. Kammerer, Dietmar: „Laufenlassen. Die Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) lud zu ihrem 40. Geburtstag zu einer Tagung über die ‚Beliner Schule.‘“ In: Die Tageszeitung. 2. Oktober 2006. Kessler, Frank: „Osternenie: Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus.“ In: Montage/AV 5/2/1996, S. 51–65. Kirsten, Guido: „Die Liebe zum Detail. Bazin und der ‚Wirklichkeitseffekt‘ im Film.“ In: montage AV. 18. Januar 2009. S. 141–162. Knörer, Ekkehard: „Kleine Leben in der großen Stadt.“ In: Die Tageszeitung. 14. Februar 2006. Knörer, Ekkehard: „Ich will den Personen näher sein: Gespräch mit Angela Schanelec.“ In: Tagzeitung. 13. Februar 2007. Krämer, Marie [2010]: „Lehrer und Mentor der Neuen Berliner Schule.“ In: Augenblick Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Hefte 47, September 2010, S. 36–51.

202 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Li, Hongyu/Jia, Zhangke: „Unsicherer“ Film – Jia Zhangke spricht über 24 City („Bu anquan“ de dianying – Jia Zhangke tan ). In: Southern Weekly. 4. Mai 2009. Li, Zhengguang: „Retropektive: die Regisseure der Sechsten Generation und zwei Begebenheiten der 7 Gentlemen (Huigu: diliudai daoyan he liangci qijunzishijian).“ S. 158. In: Journal of Nanjing Art Insititute (Music & Performance). 03/2009. S. 156–161. Luo, Linghao: Jia Zhangke: „Film soll das originale Gesicht des Lebens wiedergeben (Jia Zhangke: Dianying yinggai huanyuan shenghuode benlai mianmu.).“ In: Beijing Youth Daily. 19. August 2013. Marz, Eva: „Neue Deutsche Welle.“ In: Süddeutsche Zeitung. 10. September 2007. Meng, Hongfeng: Der Stil von Hou Xiaoxian (Hou Xiaoxian fengge lun). In: Contemporary Cinema, 01/1993, S. 66–76. Prümm, Karl: „Der Geisterfotograf. Ein Porträt des Autors und Regisseurs Christian Petzold.“ In: Augenblick: Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Hefte 47, Bewegungen in neuesten deutschen Film. Reinecke, Stefan: „Wenn das Kino über sich staunt.“ In: Ernst Karpf u.a.[Hrsg] [1996]: Im Spiegelkabinett der Illusionen. Arnoldshainer Filmgespräche Band 13, S. 9–15. Richter, Peter: Popcorn verboten. Das MoMA zeigt die Filme der „Berliner Schule“. In: Süddeutsche Zeitung. 26. November 2013. Rodek, Hanns-Georg: „Mit der Kamera die Gesellschaf unter die Lupen nehmen: Der Berliner Filmemacher Christian Petzold.“ In: Berliner Morgenpost. 24. September 2003. Seibert, Marcus: „Nicht bündig. Ein Werkstattgespräch mit Christoph Hochhäusler.“ In: Film-Dienst, 10/2006, S. 58–61. Sinner, Kathrin: „Transkulturalität versus Multi- und Interkulturalität.“ In: Stadtkulturmagazine. Nr. 16 Zwischen den Kulturen. 2. März 2011. Suchsland, Rüdiger: „Langsames Leben, schöne Tage. Annäherungen an die „Berliner Schule.“ In: Film-Dienst, 13/2005, S. 6–9. Thompson, Kristin: „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ In: montage AV. 4. Januar 1995, S. 23–27. Van den Berck, Albert Michotte [2003]: „Der Realitätscharakter der filmischen Projektion.“ In: montage AV. 01/12, S. 110–125. Wan, Jingbo: „Tian Zhuangzhuang: Arbeite für das, was Du liebst (Tian Zhuangzhuang: Yaowei ni reai de dongxi gongzu).“ In: Southern Weekly. 1. August 2002.

B IBLIOGRAPHIE

| 203

Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen.“ In: Zeitschrift für Kulturaustausch. 01/1995, S. 39–44. Worthmann, Merten: „Mit Vorsicht genießen.“ In: Die Zeit. 27. September. 2001. Yan, Tingkun: „Der Weg der chinesischen Filme – Vergleich zwischen den Regisseuren der Fünften Generation und der Sechsten Generation (Zhongguodianying zhilu – diwudai daoyan yu diliudai danyan zhi bijiao).“ In: Guangming Daily (Guangming ribao). 13. April 2008. Yin, Hong: „Wende des Jahrhundes. Memorandum der Film der 90er Jahre (shiji zhijiao: 90niandai zhongguo dianying beiwang).“ In: Contemporary Cinema (dangdai dianying). 01/2001, S. 23–31. Yuan, Ying: „Die moderne Kulturkritik und chinesische Filmtheorie. Die Entwicklung der Filmtheorie der 80/90er Jahre.“ In: Film Art. 01/ 1999, S. 17–22.

I NTERNETQUELLEN Abel, Marco [2008]: Intensifying Life: The Cinema of the „Berlin School“. In: CINEASTE. Vol. 33 No. 4 (2008). URL: http://www.cineaste.com/articles/the-berlin-school.htm [08.05.2015]. Baumgärtel, Tilman [1996]: Die Rolle der DFFB-Studenten bei der Revolte von 1967/68. In: Junge Welt. 27. & 30. September sowie 2. Oktober 1996. URL: http://www.thing.de/tilman/filmakademie.html [14.03.2013]. Chinesische Version von Zhuang Zi. URL: http://www.zhlzw.com/Mind/201003/110089.html [08.05.2015]. Cinemetric. URL: http://www.cinemetrics.lv/index.php[24.04.2015] Dai, Jingting: Interview mit Wang Chao. URL: http://www.jintian.net/fangtan/daijingting.html [23.04.2015]. Die Statistik des Umsatzes im chinesischen Filmmarkt 2005. URL: http://tbzs.sinaapp.com/box.php?type=0&film=&year=2005 [08.05.2015]. Directors Statement von Film Nachmittag. URL: http://www.peripherfilm.de/nachmittag/film.html [28.10.2014]. Eigene Aussage des Regisseurs: URL: http://www.360doc.com/content/12/0622/14/5047113_219802297.shtml [28.10.2014]. FFA [2015]: Die wichtigsten Kinoergebnisse in Deutschland 2014. In: Website von Filmförderungsanstalt. URL: http://www.ffa.de/downloads/publikationen/ffa_intern/FFA_info_compact_1 50209.pdf [08.05.2015].

204 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Foerster, Lukas [2006]: Montag kommen die Fenster. URL: http://www.critic.de/film/montag-kommen-die-fenster-664/ [28.10.2014]. Foerster, Lukas [2006]: Neue Berliner Schule. In: Website Critic.de. URL: http://www.critic.de/special/neue-berliner-schule-1503/ [08.05.2014]. Foerster, Lukas [2007]: Kritik an Ferien. URL: http://www.critic.de/film/ferien-794/ [23.04.2015]. Foerster, Lukas [2010]: Eine weitere Möglichkeitsdimension. Angela Schanelecs Orly. URL: http://www.perlentaucher.de/berlinale-blog/89_eine_weitere_moeglichkeitsd imension%3A_angela_schanelecs_orl [27.04.2015]. Fricke, Harald [2013]: Liebe in der Zeit der Flexibilisierung. In: Tageszeitung. URL: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2001/02/13/a0195 [08.05.2015]. Hallensleben, Silvia: Filmregisseurin Angela Schanelec: Stillstand. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/filmregisseurin-angela-schanelec-stillstand /258596.html [23.04.2015]. Interview mit Christian Petzold. URL: http://archiv.interview.de/Dt-Filmpreis-2012-Christian-Petzold [23.09.2014]. Interview mit Christian Petzold. URL: http://www.gespenster-der-film.de/html/interview.html [08.05.2013]. Interview von Felix von Boehm, Julian von Lucius mit Angela Schalenec: „Ich hab’ noch nie etwas gebaut“ .13. 02. 2010. URL: http://www.critic.de/interview/ich-hab-noch-nie-etwas-gebaut-3002/ [24.04.2015]. Jia, Zhangke: qu zige chuanshuozhong de chengshii. (Gehe in eine Traumwelt). URL: http://ent.sina.com.cn/r/m/2005-03-21/1513682226.html [23.04.2015]. Jia, Zhangke: Regisseur Hou, Hsiao-Hsien (Houdao, Xiaoxian). URL: http://www.douban.com/note/182049227/ [23.04.2015]. Kaiser, Tina Hedwig [2010]: Arbeit mit Fragmenten. Bild und Raum in den Filmen der Berliner Schule. URL: http://www.schett.arch.ethz.ch/film_raum_architektur_vortragKaiser01.html [10.03.2015]. Keilholz, Sascha: „Gespenster Kritik.“ In: Critic.de. 23. August. 2005 URL: http://www.critic.de/film/gespenster-295/ [28.10.2014]. Kraicer, Shelly [2000]: Suzhou River. URL: http://www.chinesecinemas.org/suzhou.html [28.10.2014].

B IBLIOGRAPHIE

| 205

Lagasse, Cécile [2008]: Jia Zhangkes Still Life. Der Realismus in der digitalen Zeit. Original in: cahiers du cinema. 640/2008. Übersetzt ins Chinesische von Yang Beizhen. URL: http://cinephilia.net/archives/704 [23.04.2015]. Losso, Kathatina: „Die Neue Berliner Schule – Das Leben.“ In: Film-Zeit. 07. April 2009. URL: http://www.film-zeit.de/Themen-und-Listen/Thema/26/DIE-NEUE-BERLIN ER-SCHULE-DAS-LEBEN-VERDICHTEN/Details/LUCY-Auf-der-Suchenach-der-Wirklichkeit/118#page118 [24. 12. 2014]. Lüdeke, Jean [2006]: Montag kommen die Fenster. URL: http://www.kino-zeit.de/filme/montag-kommen-die-fenster [28.10.2014]. Lünstedt, Claudius u.a.: Interview mit Henner Wickler. 4. Januar 2002. URL: http://www.peripherfilm.de/klassenfahrt/interview.htm [26.12.2014]. Movies News Desk [2013]: MoMA to Kick Off THE BERLIN SCHOOL: FILMS FROM THE BERLINER SCHULE Series, 11/20. URL: http://www.broadwayworld.com/bwwmovies/article/MoMA-to-Kick-Off-TH E-BERLIN-SCHOOL-FILMS-FROM-THE-BERLINER-SCHULE-Series-1 120-20130921# [08.05.2015]. Mu, Lan [2006]: Interview mit Regisseur Jia Zhangke. In: The Three Gorges Probe. 18/09/2006. URL: http://www.threegorgesprobe.org/gb/index.cfm?DSP=content&ContentID=1 6298[28.10.2014]. National Bureau statistics of China. URL: http://www.stats.gov.cn/ [08.05.2015]. Nicodemus, Katja: Kino als Auto-Analyse. Christian Petzold und sein neuer Film „Wolfsburg“. 25.09.2003. URL: http://www.zeit.de/2003/40/Christian_Petzold [23.04.2015]. o.V.: Beijing bastards CF-1994. URL: http://www.filmfestivalrotterdam.com/en/films/beijing-bastards/ [28.10.2014]. o.V.: Zhang Yuan: Beijing Bastards. Die fünfte Schauspielerin von Zhang Yuan taucht auf. URL: http://yule.sohu.com/20110320/n304598821.shtml [28.10.2014]. Presseheft des Films Der schöne Tag: URL: http://www.peripherfilm.de/derschoenetag/dst2.htm#ps [17.01.2015]. Presseheft des Films Marseille: URL: http://www.peripherfilm.de/marseille/Presseheft%20Marseille%2019.04.04.p df [08.05.2015].

206 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Rohnke, Cathy [2006]: Die Schule, die keine ist – Reflektionen über die ‚Berliner Schule‘. in: Website von Goethe-Instituts. URL: http://www.goethe.de/kue/flm/fmg/de1932607.htm [08.05.2015]. Rother, Rainer [2001]: Besser nicht in die Zukunft schauen. In: Die Welt. URL: http://www.welt.de/print-welt/article476777/Besser-nicht-in-die-Zukunft-sch auen.html [28.10.2014]. Seeßlen, Georg: Jugend ist Leiden. In deutschen Filmen haben es junge Menschen auffallend schwer. In: Zeit-Online. 11. Mai 2005. URL: http://www.zeit.de/2005/20/Filme_20 [28.10.2014]. Seeßlen, Georg: „Die Anti- Erzählmaschine.“ In: Der Freitag. 14. September 2007. URL: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-anti-erzahlmaschine [08.05.2015]. Sherry [2004]: Far East Film Festival: Peking Oper, Modelloper und Jiang Jie. URL: http://yule.sohu.com/2004/04/26/90/article219959061.shtml [28.10.2014]. Suchsland, Rüdiger: Das Glück der Todgeweihten. In: Artechock. Filmmagazin. URL: http://www.artechock.de/film/text/kritik/y/yella.htm [19.03.2015]. Suchsland, Rüdiger: Die Ohnmacht der Bilder. URL: http://www.artechock.de/film/text/kritik/n/nachmi.htm [23.04.2015]. Suchsland, Rüdiger: Eine andere Erzählung des Kapitalismus. Interview mit Petzold. URL: http://www.artechock.de/film/text/interview/p/petzold_2007.htm [23.04.2015]. Wang, Guangming [2009]: Jia Zhangke: ich drehe Filme, weil ich etwas sagen will (Jia Zhangke: pai dianying shi yinwei youhua yaoshuo.). URL: http://ent.sina.com.cn/m/c/2009-03-24/09202435358.shtml [28.10.2014]. Yan, Tingkun: Der Weg der chinesischen Filme – Vergleich zwischen den Regisseuren der Fünften Generation und der Sechsten Generation (Zhongguo dianying zhilu – diwudai daoyan yu diliudai danyan zhi bijiao). In: Guangming Daily (Guangming ribao). 13. April 2008. URL: http://guancha.gmw.cn/2008-04/13/content_760855.htm [08.05.2015]. Yang, Xin: Qingming Shanghe Tu (Qingming – Rolle). URL: http://www.dpm.org.cn/www_oldweb/Big5/phoweb/Relicpage/2/R945.htm [08.03.2015]. Yuan, Sitao [2007]: Guo Xi spricht über die erhabene Schönheit von Wald und Strom. Drei Arten von ‚Ferne‘ in der traditionellen Berg-Wasser-Malerei (Guoxi lunzhu Lin quan gao zhi. Chuantong shanshuihua de sanyuan). URL:

B IBLIOGRAPHIE

http://news.xinhuanet.com/shuhua/2007-05/21/content_6128431.htm [27.01.2015]. Zhang, Yaxuan/Jian, Ning [2009]: Interview mit Jia Zhangke. URL: http://www.xici.net/d17887558.htm [02.03.2015]

| 207

Abbildungen

Abb. 3-01

Abb. 3-02

Abb. 3-03

Abb. 3-04

Abb. 3-05

Abb. 3-06

210 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 3-07

Abb. 3-08

Abb. 3-09

Abb. 3-10

Abb. 3-11

Abb. 3-12

Abb. 4-01

Abb. 4-02

A BBILDUNGEN

Abb. 4-03

Abb. 4-04

Abb. 4-05

Abb. 4-07: Das Symbol für Yin und Yang. (Taiji, 太极)

Abb. 4-06

| 211

212 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 4-08

Abb. 4-09: Die Figur verlässt das Bild, Abb. 4-10: Die Figur telefoniert im Off: um den Anruf entgegen zu nehmen. „Ja, Ah, und wie geht’s dir jetzt.....“

Abb. 4-11: Die innere Sicherheit

Abb. 4-12: Marseille

A BBILDUNGEN

| 213

Die zwei Abbildungen gehören zur selben letzten Einstellung von Xiao Wu:

Abb. 5-01: Anfangs vertritt die Kamera die Blicke der Zuschauer (sowohl die der neugierigen Passanten in der Diegese, als auch die der Rezipienten).

Abb. 5-02: Am Ende der Einstellung vertritt die Kamera mittels eines 180°-Schwenks den Blick des Protagonisten.

Beide Bilder gehören zu ein und derselben Einstellung:

Abb. 5-03

Abb. 5-04

Abb. 5-05

Abb. 5-06

214 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-07

Abb. 5-08

Abb. 5-09

Abb. 5-10

Abb. 5-11

Abb. 5-12

Abb. 5-13

Abb. 5-14

A BBILDUNGEN

Abb. 5-15

Abb. 5-16

Abb. 5-17

Abb. 5-18

Abb. 5-19

Abb. 5-20

Abb. 5-21

Abb. 5-22

| 215

216 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-23

Abb. 5-24

Abb. 5-25

Abb. 5-26

Abb. 5-27

Abb. 5-28

Abb. 5-29

Abb. 5-30

A BBILDUNGEN

Abb. 5-31

Abb. 5-32

Abb. 5-33

Abb. 5-34

Abb. 5-35: Ausschnitt von Qingming-Rolle

Abb. 5-36

Abb. 5-37

| 217

218 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-38

Abb. 5-39

Abb. 5-40

Abb. 5-41

Abb. 5-42

Abb. 5-43

Abb. 5-44

Abb. 5-45

A BBILDUNGEN

Abb. 5-46

Abb. 5-47

Abb. 5-48

Abb. 5-49

Abb. 5-50

Abb. 5-51

Abb. 5-52

Abb. 5-53

| 219

220 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-54

Abb. 5-55

Abb. 5-56

Abb. 5-57

Abb. 5-58

Abb. 5-59

Abb. 5-60

Abb. 5-61

A BBILDUNGEN

Abb. 5-62

Abb. 5-63

Abb. 5-64

Abb. 5-65

Abb. 5-66

Abb. 5-67

Abb. 5-68

Abb. 5-69

| 221

222 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-70

Abb. 5-71

Abb. 5-72

Abb. 5-73

Abb. 5-74

Abb. 5-75

Abb. 5-76

Abb. 5-77

A BBILDUNGEN

Abb. 5-78

Abb. 5-79

Abb. 5-80

Abb. 5-81

Abb. 5-82

Abb. 5-83

Abb. 5-84

Abb. 5-85

| 223

224 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-86

Abb. 5-87

Abb. 5-88

Abb. 5-89

Abb. 5-90

Abb. 5-91

Abb. 5-92

Abb. 5-93

A BBILDUNGEN

Abb. 5-94

Abb. 5-95

Abb. 5-96

Abb. 5-97

Abb. 5-98

Abb. 5-99

Abb. 5-100

Abb. 5-101

| 225

226 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-102

Abb. 5-103

Abb. 5-104: Sanming schaut zu der Abb. 5-105: Sanming vergleicht das überfluteten Stadt in der Ferne. Landschaftsbild auf dem Geldschein mit der wirklichen Landschaft.

Abb. 5-106: Sanming verabschiedet die Abb. 5-107: Am Fluss bittet ein Leiche seines Freundes, die auf dem Mädchen Shenhong um Arbeit. Boot liegt.

A BBILDUNGEN

Abb. 5-108

Abb. 5-109

Abb. 5-110

Abb. 5-111

Abb. 5-112

Abb. 5-113

Abb. 5-114

Abb. 5-115

| 227

228 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-116

Abb. 5-117

Abb. 5-118

Abb. 5-119

Abb. 5-120

Abb. 5-121

Abb. 5-122

Abb. 5-123

A BBILDUNGEN

Abb. 5-124

Abb. 5-125

Abb. 5-126

Abb. 5-127

Abb. 5-128

Abb. 5-129

Abb. 5-130

Abb. 5-131

| 229

230 | DIE N EUE B ERLINER S CHULE UND DIE CHINESISCHE S ECHSTE G ENERATION

Abb. 5-132

Abb. 5-133

Abb. 5-134

Abb. 5-135

Abb. 5-136

Abb. 5-137

Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)

Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Thilo Hagendorff

Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3

Carolin Wiedemann

Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de