Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus: Die Politik und das Politische in einer sozialen Bewegung [1. Aufl.] 978-3-658-26537-3;978-3-658-26538-0

Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon wurde bisher, im Gegensatz zum Konfessionalismus, von der Forschung kaum beach

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Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus: Die Politik und das Politische in einer sozialen Bewegung [1. Aufl.]
 978-3-658-26537-3;978-3-658-26538-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Karolin Sengebusch)....Pages 1-8
Forschungsstand (Karolin Sengebusch)....Pages 9-42
Theoretische Bezüge: Soziale Bewegungen und politische Differenz (Karolin Sengebusch)....Pages 43-83
Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten (Karolin Sengebusch)....Pages 85-95
Historischer Überblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon (Karolin Sengebusch)....Pages 97-122
Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle (Karolin Sengebusch)....Pages 123-192
Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle (Karolin Sengebusch)....Pages 193-247
Fazit (Karolin Sengebusch)....Pages 249-265
Back Matter ....Pages 267-295

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Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens

Karolin Sengebusch

Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus Die Politik und das Politische in einer sozialen Bewegung

Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens Reihe herausgegeben von Martin Beck, Odense, Dänemark Cilja Harders, Berlin, Deutschland Annette Jünemann, Hamburg, Deutschland Rachid Ouaissa, Marburg, Deutschland Stephan Stetter, Neubiberg, Deutschland

Die Reihe beschäftigt sich mit aktuellen Entwicklungen und Umbrüchen in Nord­ afrika, dem Nahen Osten, der Golfregion und darüber hinaus. Die politischen, sozialen und ökonomischen Dynamiken in der Region sind von hoher globaler Bedeutung und sie strahlen intensiv auf Europa aus. Die Reihe behandelt die gesamte Bandbreite soziopolitischer Themen in der Region: Veränderungen in Konfliktmustern und Koope­ rationsbeziehungen in Folge der Arabischen Revolten 2010/11 wie etwa Euro-Ara­ bische und Euro-Mediterrane Beziehungen oder den Nahostkonflikt. Auf nationaler Ebene geht es um Themen wie Reform, Transformation und Autoritarismus, Islam und Islamismus, soziale Bewegungen, Geschlechterverhältnisse aber auch energieund umweltpolitische Fragen, Migrationsdynamiken oder neue Entwicklungen in der Politischen Ökonomie. Der Schwerpunkt liegt auf innovativen politikwissenschaft­ lichen Werken, die die gesamte theoretische Breite des Faches abdecken. Eingang finden aber auch Beiträge aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die rele­ vante politische Zusammenhänge behandeln. This book series focuses on key developments in the Middle East and North Africa as well as the Gulf and beyond. The regions’ political, economic and social ­dynamics are of high global significance, not the least for Europe. The book series covers the whole range of the ongoing transformations in the region, such as new ­developments in regional conflict and cooperation after the uprisings of 2010/2011 including EuroArab and Euro-Mediterranean relations, or the Israeli-Palestinian conflict. On a (trans) national level, volumes in the series look at authoritarianism and reform, social move­ ments, gender dynamics, Islam and Islamism, political economy, migration, as well as energy and environmental issues. The series focuses on innovative work in all sub-di­ sciplines of political science and other social sciences disciplines that address political developments in the Middle East. Dr. Martin Beck ist Professor für gegenwartsbezogene Nahost-Studien an der Univer­ sity of Southern Denmark in Odense, Dänemark. Dr. Cilja Harders ist Professorin für Politikwissenschaft und Leiterin der „Arbeits­ stelle Politik im Maghreb, Mashreq, Golf“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissen­ schaft der Freien Universität Berlin, Deutschland. Dr. Annette Jünemann ist Professorin für Politikwissenschaft am Institut für Interna­ tionale Politik der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Universität der Bundeswehr Hamburg, Deutschland. Dr. Rachid Ouaissa ist Professor für Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg, Deutschland. Dr. Stephan Stetter ist Professor für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München, Deutschland. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12508

Karolin Sengebusch

Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus Die Politik und das Politische in einer sozialen Bewegung Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Rachid Ouaissa

Karolin Sengebusch München, Deutschland Dissertation Philipps-Universität Marburg, 2017

ISSN 2626-224X ISSN 2626-2258  (electronic) Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens ISBN 978-3-658-26537-3 ISBN 978-3-658-26538-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort Parallel zu den als Arabischer Fr¨ uhling“ bezeichneten Revolten in breiten Teilen der ” arabischen Welt intensivierten sich die politischen Aktivit¨aten und die Mobilisierung gegen das konfessionelle System im Libanon. Antikonfessionelle Aktivit¨aten im Libanon blicken zwar auf eine lange Geschichte zur¨ uck, jedoch scheint mit den von der Aktivistenkoalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı“ (dt. Sturz des konfessionalistischen Systems) mobilisierten ” 20.000 Teilnehmern im Jahr 2011 ein H¨ohepunkt erreicht worden zu sein. Mit ihrer Studie erforscht Karolin Sengebusch eine Protestbewegung, die selbst in der sonst sehr etablierten Libanonforschung kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Arbeit untersucht die Aktionsformen und Organisationsformen der Bewegung und fragt, inwiefern die gew¨ahlten Aktions- und Organisationsformen mit der Wirksamkeit und den Zielen der Bewegung zusammenhingen. Die dichte Empirie basiert auf einer ausf¨ uhrlichen Medienanalyse und Leitfadeninterviews mit vielen zentralen Organisatoren der Protestwelle. Zur Analyse verwendet Frau Sengebusch eine innovative und mutige Kombination aus Ans¨atzen aus den Theorien sozialer Bewegungen und der politischen Differenz“. Die Ar” beit kommt zum Ergebnis, dass ein Teil der Protestbewegung im Libanon nicht nur gegen die staatlichen Institutionen, sondern gegen das gesamte formale politische System agiert. Parteien und NGOs werden als Teil des Systems gesehen. Die Analyse zeigt, dass die antikonfessionelle Protestbewegung eine Bewegung ist, die in Teilen anders organisiert, mobilisiert und tickt“ als die u ¨blichen“ sozialen Bewegungen. ” ” Und hier liegt die Innovationskraft der Arbeit. Es handelt sich offensichtlich um eine Protestbewegung, deren Organisationsformen, Aktionsformen, Mobilisierungsstrategien und Akteure an manchen Stellen anders sind als bei den gewohnten sozialen Bewegungen. Diese Bewegung ist nicht hierarchisch und verf¨ ugt nicht u ¨ber ein zentrales Leitungsgremium oder eine F¨ uhrungsperson. Es ist ein kollektives Netzwerk von Aktivisten und eine mehrk¨opfige“ Organisation. Formale Mitgliedschaften und eine festverfasste Agenda ” oder eine klare Ideologie sind nicht vorhanden. Bei den Aktionen zeigen sich unkonventionelle Formen, die den Faktor Spaß und theatralische Darstellungen in den Mittelpunkt stellen. Zwar waren die Aktivisten der Proteste 2010–2012 unter dem Label Antikon” fessionalismus“ vereint, jedoch wurde dieses politische Ziel unterschiedlich u ¨bersetzt und verstanden. Es erinnert etwas an La soci´et´e du sp´ectacle” (Gesellschaft des Spektakels) ” des franz¨osischen Philosophen Guy Debord (1967) bei der Beschreibung der Konsumgesellschaft der 1960er Jahre in Frankreich und im Westen. Dar¨ uber hinaus wird die fehlende Radikalisierung der Bewegung (verglichen zu den Banlieues Protesten) dadurch erkl¨art, dass die Aktivisten im Libanon nicht so marginalisiert sind, wie sie meinen. Es handelt ˇ zek, lediglich sich um subjektive Anteillosigkeit“ und ihr Aufstand ist, anlehnend an Ziˇ ” nur risikofreie Feierabendrevolte“. ” Angesichts der politischen und akademischen Relevanz des Thema ist es f¨ ur die Herausgeber der Reihe Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens besonders erfreulich, dass wir Karolin Sengebusch mit ihren innovativen Arbeit u ¨ber die antikonfessionelle Bewegung im Libanon f¨ ur die Buchreihe gewinnen k¨onnen. Und ich m¨ochte mich abschließend Claudia Derichs anschließen, die als Zweitgutachterin die vorliegende Publikation als hoch c

VI

Geleitwort

informative und mit sehr viel Sachkenntnis, Sprachkenntnis und lokalem Kontextwissen erstellte Studie, gelobt hat. Diese Studie ist lehrreich sowohl f¨ ur die Erforschung sozialer Bewegungen als auch f¨ ur die regionalwissenschaftliche Forschung zur MENA-Region. Rachid Ouaissa Marburg, im M¨arz 2019

Danksagung Zwischen meiner ersten Begegnung mit dem libanesischen Antikonfessionalismus und dem Fertigstellen dieser Arbeit liegen u ¨ber zehn Jahre: Studentische Bekanntschaften mit antikonfessionalistischen Kommilitonen in Beirut sollten Jahre sp¨ater eine Forschungsarbeit inspirieren und weitere Jahre sp¨ater in einer Doktorarbeit m¨ unden, die nun in leicht u ¨berarbeiteter Fassung als das vorliegende Buch ver¨offentlicht wird. Dieser Prozess war nur dank der vielf¨altigen Unterst¨ utzung meiner FreundInnen und KollegInnen m¨oglich. Ich m¨ochte einigen namentlich danken, wobei diese Liste nicht vollst¨andig sein kann. Meinem Betreuer Rachid Ouaissa danke ich vor allem daf¨ ur, dass er mich u ¨berhaupt auf den Pfad der Promotion geschickt hat und immer wieder geholfen hat, die vielen Ideen und Forschungsergebnisse zu strukturieren. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Marburger Centrums f¨ ur Nah- und Mitteloststudien danke ich f¨ ur ihre Kollegialit¨at und Freundschaft. F¨ ur technische Unterst¨ utzung und inhaltliche Impulse, die f¨ ur diese Arbeit wertvoll, anregend und unverzichtbar waren, danke ich besonders Christian Neugebauer, Jens Heibach, Pierre Hecker, Ines Braune, Stefan Schulte, Friederike Pannewick, Inana Othman, Yvonne Albers, Maike Neufend, Katrin Sold, Hassan Wassouf und Nadia Aboushady. Das Herzst¨ uck der Arbeit sind die Gespr¨ache mit s¨akularen Aktivisten im Libanon. Erm¨oglicht wurde dies durch ein Forschungsstipendium des Orient-Instituts Beirut. Den Kolleginnen und Kollegen am OIB, und hier besonders Thomas Scheffler, danke ich f¨ ur angeregte und produktive Diskussionen. Allen Interviewpartnern danke ich zutiefst f¨ ur ihre Bereitschaft, ihre Gedanken mit mir zu teilen, ihre Hilfsbereitschaft und ihre Geduld. Es war eine Ehre, mit Vordenkern des libanesischen s¨akularen Aktivismus zu sprechen. Zwei von ihnen sind mittlerweile verstorben: Bassem Chit im Oktober 2014, Gr´egoire Haddad im Dezember 2015. Diese Arbeit wurde im Gedenken an sie verfasst.

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 5 7

2 Forschungsstand 2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Konfessionalistische und s¨akulare Ideengeschichte . . . . . . . . . 2.1.2 Konfessionalistische und s¨akulare Politik . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Zusammenfassung: Der Forschungsstand zu Konfessionalismus und Antikonfessionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Protestbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten . . . . . . . . 2.2.3 Protestbewegungen im Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Zusammenfassung: Der Forschungsstand zu Protestbewegungen . 2.3 Das Politische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenfazit: Forschungsstand und Forschungsl¨ ucken . . . . . . . . . . .

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18 18 18 22 29 32 33 39

3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz 3.1 Theorien sozialer Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Politische Gelegenheitsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Rahmenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Bewegungsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Aktionsformen und Repertoires . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Neue soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Protestwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Movement spillover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.8 Politische Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Konzepte des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die politische Differenz” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ” 3.2.2 Entgrenzte Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Politische Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . ” 3.3.1 Zentrale analytische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Synthese: Kombination der analytischen Konzepte . . . . . . . .

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43 43 44 46 48 53 57 60 63 64 66 66 69 73 76 76 80

4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten 4.1 Methodologische Vor¨ uberlegungen . . . . . . . . . . . . 4.2 Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Fallauswahl und Untersuchungszeitraum . . . . . . . . 4.4 Experteninterviews und weitere Quellen: Erhebung und 4.5 Auswertung des empirischen Materials . . . . . . . . .

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85 85 87 87 88 92

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation . . . . . . . . .

9 . 9 . 11 . 13

X

Inhaltsverzeichnis

¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon 5.1 L¯a-t.¯a if¯ıya, c alm¯an¯ıya, madan¯ıya: Das Ringen um Begriffe und Konzepte 5.1.1 Aspekte von S¨akularismus“ und Antikonfessionalismus“ . . . . . ” ” 5.1.2 S¨akularisierung“ als Inbegriff des Westens . . . . . . . . . . . . . ” 5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert . 5.2.1 Die nahd.a und die Debatten um die libanesische Staatsgr¨ undung . 5.2.2 Linker Aktivismus in der Ersten Republik vor dem B¨ urgerkrieg . 5.2.3 Aktivismus gegen den B¨ urgerkrieg 1975-1990 . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Zivilgesellschaftlicher Aktivismus in der Zweiten Republik . . . . 5.2.5 Antikonfessionelle Gesetze und Erlasse . . . . . . . . . . . . . . . c

6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle 6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 NGOs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Unabh¨angige Aktivisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.1 Graswurzelorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.2 Intellektuelle Pers¨onlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Transformationen der Organisationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Verschiebung von Parteien zu NGOs und zu unabh¨angigem Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Informalisierung des Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Transformationen der Organisationsformen in den Phasen der Protestwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ahrend der Protestwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Politische Gelegenheitsstrukturen im Libanon und in der Region . 6.3.2 Integration durch Rahmung: Der Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” ” 6.3.3 Movement spillover aus verwandten Bewegungen . . . . . . . . . 6.3.4 Mobilisierung einer neuen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenfazit: Programmatiken, Konflikte und Dynamiken der Organisationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle 7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Chronologie der Protestereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Repertoires und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Kontroversen um Aktionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Exkurs: Lobbyismuserfolge in der ¨offentlichen Verwaltung: Die Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister 2009 und die Zivilehe 2013 . . . . . . 7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen . . . . . . . . . . . . 7.3.1 S¨akularisierung und Staatsb¨ urgerschaft als politische Ziele der Protestwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Das Protestziel der Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Das Protestziel der Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨at antikonfessioneller Aktionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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97 97 99 102 104 104 107 111 113 120

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. 216 . 220 . 226 . 229 . 234 . 238

Inhaltsverzeichnis

8 Fazit 8.1 Bemerkungen zur Theorie-Kombination: Die Verbindung von Theorien sozialer Bewegungen mit Theorien politischer Differenz . . . . . . . . . . . 8.2 Die Struktur des antikonfessionellen Aktivismus: Organisations- und Aktionsformen der Protestwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die diachrone Perspektive: Transformationen der Organisations- und Aktionsformen vor, w¨ahrend und nach der Protestwelle . . . . . . . . . . . . 8.4 Ziele, Erfolge und politische Wirkung des antikonfessionellen Aktivismus: Die Logiken verschiedener Organisations- und Aktionsformen . . . . . . . Literatur

XI

249 . 249 . 253 . 256 . 260 267

1 Einleitung Der Widerstand gegen den libanesischen Konfessionalimus blickt auf eine Geschichte zur¨ uck, die so alt ist wie der Konfessionalismus selbst. Seit der Konfessionalismus in den staatlichen Institutionen im Libanon kodifiziert wurde, bildet er ein dominierendes Prinzip dieser Institutionen. Dabei wird die konfessionalistische Pr¨agung der Institutionen seit jeher kontrovers diskutiert und war h¨aufig Thema von Protesten. Zu den Protagonisten der verschiedenen antikonfessionellen Proteste in der Geschichte des Libanon z¨ahlten neben Politikern und zivilgesellschaftlichen Aktivisten auch Intellektuelle, so stellen Teile der kritischen wissenschaftlichen Literatur zum Konfessionalismus zugleich Artikulationen des Protests Intellektueller gegen den Konfessionalismus dar. W¨ahrend diese verschiedenen Proteste im Verlauf der libanesischen Geschichte allerdings meist marginal blieben und wenig Beachtung in der libanesischen Politik und der internationalen Libanonforschung fanden, erfuhr die antikonfessionelle Protestwelle der Jahre 2010-2012 vergleichsweise starke Beachtung. Dies ist insofern außergew¨ohnlich, als zwar der libanesische Konfessionalismus ein vieldiskutiertes Thema ist, aber der durchaus existierende Widerstand gegen den Konfessionalismus bis vor kurzem weitgehend ignoriert wurde. Ein Anliegen dieser Arbeit ist es daher, zur Sichtbarkeit libanesischer antikonfessioneller Diskurse und Aktivit¨aten beizutragen. In der Libanonforschung ist die Fokussierung auf den Konfessionalismus paradigmatisch (vgl. Longuenesse 2008: 257). Die Literatur behandelt das Prinzip des libanesischen Konfessionalismus aus verschiedenen Perspektiven, etwa einerseits als ideengeschichtliches und andererseits als politikwissenschaftliches Thema, sowie teilweise als unabh¨angige Variable und teilweise als abh¨angige Variable. Diese verschiedenen Ans¨atze eint, dass der u ¨berwiegende Teil der Literatur den Konfessionalismus sehr kritisch beurteilt und ihn beispielsweise als Herrschaftsinstrument der Eliten (vgl. Ofeish 1999) oder als Begr¨ undung f¨ ur defekte oder fragile Staatlichkeit einstuft. Zudem wird auch ein großer Teil der politikwissenschaftlichen Literatur zum Libanon, welche den Konfessionalismus nicht als zentrales Thema behandelt, dennoch durch Bez¨ uge zu den konfessionellen Gemeinschaften strukturiert. Dies ist etwa der Fall, wenn Studien zur Konfliktwahrnehmung (z.B. Economic and Social Commission for Western Asia und Heinrich Boell Foundation 2009) oder zur sozialen Sicherung (z.B. Rieger 2003) anhand von konfessionellen Gruppen gegliedert werden. Bewegungen gegen den Konfessionalismus und Bewegungen außerhalb des Konfessionalismus werden in der Literatur hingegen nur in vergleichsweise wenigen Werken thematisiert, welche vereinzelte antikonfessionelle Organisationen und Akteure behandeln. Es fehlt bislang eine systematische Darstellung des antikonfessionellen libanesischen Aktivismus. Im Nachgang der Großdemonstrationen mit bis zu 20.000 Teilnehmern, die 2011 von der Aktivistenkoalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı” (dt. Sturz des konfessionalistischen ” ” Systems”) organisiert wurden, nahm das wissenschaftliche Interesse am antikonfessionellen libanesischen Aktivismus allerdings zu, was sich in der gestiegenen Anzahl an Ver¨offentlichungen zum Thema spiegelt, die sich allerdings jeweils nur auf einzelne zentrale Akteure der Protestwelle konzentrieren. So untersucht Maya Mikdashi in ihrer Dissertation die Themen der Graswurzelorganisation La¨ıque Pride” (vgl. Mikdashi 2014a: 147ff.) ” c

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_1

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1 Einleitung

und in einem weiteren Artikel die Forderungen und politischen Rahmenbedingungen der Aktivistenkoalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı (s. Mikdashi 2013). AbiYaghi und Catusse (2014) zeichnen Einfl¨ usse des Arabischen Fr¨ uhlings” auf Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı nach, ” behandeln koalitionsinterne Spaltungen und lokalisieren die Verbindungen der Koalition zu anderen Akteuren des antikonfessionellen Aktivismus. Eine Betrachtung, welche die Protestwelle in ihrer Gesamtheit untersucht und dabei die gegenseitigen Bez¨ uge zwischen den einzelnen Segmenten der Protestwelle und den diachron beobachtbaren Dynamiken im Verlauf der Protestwelle ber¨ ucksichtigt, steht noch aus. Dies erfordert eine Analyse der Strategien der Aktivisten und ihrer Verortung innerhalb der Konstellationen der Protestwelle 2010-2012 wie auch in historischen Bez¨ ugen zur Geschichte des antikonfessionellen und s¨akularen Aktivismus. Diese Analyse soll strukturiert werden durch den R¨ uckgriff auf analytische Konzepte, welche die zu untersuchenden Akteure und Ereignisse als Aspekte einer Protestbewegung begreifen. Hierf¨ ur sollen Theorien sozialer Bewegungen, die bereits die Verwendung des Konzepts der Protestwelle” inspi” riert haben, als Grundlage dienen. c

c

Dabei ist es ein zweites Anliegen dieser Arbeit, einen Beitrag zur Analyse von Protestbewegungen in benachbarten L¨andern der Region zu leisten, indem verallgemeinerbare Thesen generiert werden und durch die ausf¨ uhrliche Diskussion der libanesischen Protestwelle M¨oglichkeiten des daran anschließenden Vergleichs geschaffen werden. Die ¨ Protestwelle rund um das Jahr 2011 u Tu¨berschnitt sich zeitlich mit den in Agypten, nesien und weiteren L¨andern der Region stattfindenden Protesten, die als Arabischer ” Fr¨ uhling” bezeichnet wurden, und war teilweise durch diese inspiriert. Ebenso wie bei den genannten Beispielen des Arabischen Fr¨ uhlings” waren die libanesischen Proteste von ” Akteuren dominiert, welche sich insofern außerhalb der in einem Großteil der Nahostforschung sichtbarsten organisatorischen bzw. ideologischen Kategorien befinden, als sie weder als Parteien noch als Islamisten verstanden werden k¨onnen. In vergleichenden Sammelb¨anden zum Arabischen Fr¨ uhling” werden die Ereignisse aus dem Libanon allerdings ” nur selten ber¨ ucksichtigt. Das politische System des Libanon, seine Bev¨olkerungsstruktur, seine Konfliktgeschichte und die Bedeutung internationaler Akteure in der Innenpolitik unterscheiden sich in der Tat deutlich von den Situationen der Nachbarl¨ander. Dennoch sind auch parallele Entwicklungen zu konstatieren, die sich unter anderem im Bereich des Aktivismus zeigen. Die Protestwelle kann daher als Beispiel einer nah¨ostlichen Protestbewegung gesehen werden, ohne libanesischen Exzeptionalismus zu postulieren. So waren bei allen deutlichen Unterschieden zwischen dem Arabischen Fr¨ uhling” und ” der antikonfessionellen Protestwelle – die Proteste im Libanon zielten nicht auf das Absetzen eines Staatsoberhaupts, waren kleiner und erbrachten weniger umfassende politische Resultate – dennoch auch Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Bewegungen sichtbar: Sowohl mit Blick auf den Arabischen Fr¨ uhling” als auch auf die antikonfessio” nelle Protestwelle wurde diskutiert, welche Bedeutung informell organisierten Akteuren zukam, inwieweit neue und unkonventionelle Protestformen praktiziert wurden und wie konkret bzw. unspezifisch die gestellten Forderungen waren. Um derartige Beobachtungen strukturiert zu analysieren, wird in dieser Arbeit auf Theorien sozialer Bewegungen zur¨ uckgegriffen. Verkn¨ upfungen zwischen der nahostbezogenen Bewegungsforschung und den haupts¨achlich im europ¨aischen und nordamerikanischen Kontext entwickelten Theorien sozialer Bewegungen werden insbesondere seit den Beitr¨agen von Vairel und Beinin (2011) und Wiktorowicz (2004) h¨aufiger vorgenommen. In

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diesem Kontext zielt diese Arbeit darauf ab, ein regionales Fallbeispiel einer Protestwelle mit Hilfe von Analyseinstrumenten aus verschiedenen Ans¨atzen der Bewegungsforschung strukturiert, detailliert und umfassend zu untersuchen. So wird etwa die Operationalisierung geleitet durch die analytische Trennung der Ebenen von Akteuren, Aktionen und Themen (vgl. Kriesi 1989; Tilly 1978), die Klassifizierung der Akteure nach ihrem Organisationsgrad folgt Rucht (1996) sowie Della Porta und Diani (2006) und das Konzept der Repertoires” (Tilly 1979, 2007, 2008) strukturiert die Analyse von Transformationen ” der Aktionsformen. Einige Br¨ uche auf den Ebenen der Organisations- und Aktionsformen wurden von interviewten Aktivisten auf Distanzierungen von Parteien und von NGOs bezogen. Auch diese Entwicklung – Verschiebungen des Aktivismus von Parteien und NGOs und teilweise weiter zu unabh¨angigem und wenig formal organisiertem Aktivismus – sollen unter R¨ uckgriff auf Theorien sozialer Bewegungen untersucht werden. Drittens besteht ein Anliegen dieser Arbeit in dem Versuch, analytische Kategorien aus Theorien sozialer Bewegungen und aus Theorien politischer Differenz zu verbinden und beides zur Analyse von Kontroversen in einer Protestbewegung fruchtbar zu verwenden. Die Protestwelle war gepr¨agt durch eine hohe Sichtbarkeit von neuen”, informellen” und ” ” unkonventionellen” Organisations- und Aktionsformen, die kontrovers diskutiert werden. ” F¨ ur die Untersuchung der verschiedene Organisations- und Aktionsformen sowie der darum gef¨ uhrten Kontroversen werden die analytischen Kategorien der Theorien sozialer Bewegungen mit Kategorien kombiniert, welche disparate Konzepte von Politik fassbar machen. Hier werden Theorien der politischen Differenz (v.a. Bedorf und R¨ottgers 2010; ˇ zek 2009b) herangezogen, welche Br¨ockling und Feustel 2010a; Ranci`ere 2002; s. auch Ziˇ eine Unterscheidung zwischen der Politik” und dem Politischen” treffen: Ersteres meint ” ” die institutionelle Ordnung, die staatliche Verwaltung” und zweiteres die Momente des ” ” Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses und der Unterbrechung” (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext). Die Verwendung dieser Kategorien soll dabei helfen, disparate Bez¨ uge verschiedener Akteure der Protestwelle einerseits zu den staatlichen Institutionen und andererseits zu bestimmten Organisations- und Aktionsformen zu erkl¨aren. Sie sollen ein analytisches Bindeglied darstellen zwischen der Untersuchung von Transformationen und Konflikten innerhalb der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 und bestimmten libanesischen, regionalen und globalen Entwicklungen, die andernorts festgestellt wurden, wie etwa die Krise der formal-politischen Institutionen, die Entfremdung vom Staat (vgl. S. Cohen 2004; Hanafi 2010; Lust-Okar und Zerhouni 2008) und die darauf folgende Forderung nach politischem Handeln außerhalb dieser Institutionen. Die soeben erl¨auterten Beobachtungen, welche wesentliche Anliegen der Arbeit darstellen, lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen: Erstens ist der libanesische Konfessionalismus ein politisch pr¨asentes und breit erforschtes Thema, aber der Widerstand gegen den Konfessionalismus wird in der Literatur vernachl¨assigt. Zweitens soll die Arbeit eine zugleich detaillierte und strukturierte Analyse eines Fallbeispiels einer nah¨ostlichen zivilgesellschaftlichen Protestbewegung, welche außerhalb von Parteipolitik und von Islamismus liegt, bieten. Zur Strukturierung dieser Analyse wird auf Theorien sozialer Bewegungen zur¨ uckgegriffen, so dass ein Beitrag zur theorieorientierten Analyse einer solchen Bewegung geleistet wird. Drittens steht die Betrachtung informeller und unkonventioneller Organisations- und Aktionsformen im Zentrum. Es wird untersucht, inwieweit diese verschiedenen Formen mit unterschiedlichen Konzepten davon, was die Aktivisten als

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Politik” begreifen, verbunden ist. Dazu werden die verwendeten Ans¨atze aus Theorien ” sozialer Bewegungen erg¨anzt um Theorien zu Politikkonzepten, insbesondere zur politi” schen Differenz”. Es wurde bereits deutlich, dass das Thema der vorliegenden Arbeit nicht der Konfessionalismus ist, sondern der Widerstand gegen den Konfessionalismus. Die Begriffe Konfessionalismus” und Antikonfessionalismus” sind allerdings umstritten, so dass ihre ” ” Verwendung in dieser Arbeit der Erl¨auterung bedarf. Der arabische Begriff .t¯ a if¯ıya hat im Deutschen keine echte Entsprechung und ist somit nur schwer u ¨bersetzbar. T . ¯a ifa (Plural: .taw¯a if ) bezeichnet kleine Einheiten, Gruppierungen oder Gemeinschaften, die – im Gegensatz zu den deutschsprachigen Konfessionen” – nicht unbedingt religi¨os definiert ” sein m¨ ussen, sondern beispielsweise auch politischen, familialen oder regionalen Charakter haben k¨onnen. In den libanesischen .taw¯a if u ¨berschneiden sich diese Konnotationen. ¨ Die Ubersetzungen als Ethnien“ oder Konfessionen“ ist also nicht ganz korrekt (vgl. ” ” Scheffler 1999b: 171). Die f¨ ur die vorliegende Arbeit getroffene Entscheidung, .t¯ a if¯ıya mit ¨ Konfessionalismus“ zu u bersetzen, ist der relativen Etabliertheit dieser Ubersetzung in ¨ ” der deutschsprachigen Literatur u ¨ber den Libanon geschuldet. Zudem ist zu ber¨ ucksichtigen, dass die Begriffsverwendung sowohl von .t¯ a if¯ıya als auch von Konfessionalismus” durch Vagheit und Ambiguit¨at gepr¨agt ist, denn wenn mit Blick ” auf den Libanon von Konfessionalismus die Rede ist, so kann sich dies auf verschiedene Aspekte des Begriffs beziehen. Konfessionalismus bezeichnet erstens die konfessionelle ¨ Quotierung im Wahlrecht und in weiteren politischen Amtern, zweitens die Autonomie der konfessionellen Gemeinschaften in Politikbereichen wie Bildung und Familienrecht und drittens die soziale und ¨okonomische Segregation nach Konfessionen sowie die konfessionelle Pr¨agung von Identit¨aten und Denkweisen. Viertens wird der Begriff im libanesischen Kontext zuweilen auch in einem erweiterten Sinn verwendet, wobei Konfessionalismus” ” als Missstand genannt wird, die damit verbundene Kritik sich aber prim¨ar gegen Korruption, Patronage und politische Spaltung richtet. Im Aktivismus der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 wurden alle diese Begriffsebenen adressiert. Auch die Bezeichnung der Protestwelle als antikonfessionell” erfordert eine Erl¨auterung. ” Einige Aktivisten im Umfeld der Protestwelle vertraten die Ansicht, die Proteste seien als antikonfessionell” (l¯a-t.¯a if¯ı) zu bezeichnen, andere bevorzugten f¨ ur ihre eigenen Aktio” nen die Bezeichnungen s¨akular” (c alm¯an¯ı) oder zivil” (madan¯ı). Der Begriff antikonfes” ” ” sionell” scheint dabei die inhaltlichen Gemeinsamkeiten der Protestwelle am pr¨azisesten zu bezeichnen, da er das, wie oben beschrieben durchaus als vieldeutig zu verstehende, ¨ zentrale Protestthema benennt1 . Eine alternative Ubersetzung des Terminus l¯ a-t.¯ a if¯ı ins ¨ Deutsche lautet antikonfessionalistisch”. Diese Ubersetzung ist pr¨aziser als antikonfes” ” sionell”, da sie verdeutlicht, dass der Aktivismus sich nicht gegen die Existenz der Konfessionen, sondern gegen das Prinzip des Konfessionalismus richtet. Dennoch wird hier der deutschsprachige Terminus antikonfessionell” verwendet, weil er zum einen weniger ” sperrig und zum anderen mit Bezug auf die zu untersuchende Protestwelle relativ etabliert ist (z.B. Wimmen 2014). c

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Der Begriff antikonfessionell” bzw. die englischsprachige Entsprechung antisectarian” ist im ” ” differenzierteren Teil der Literatur etabliert. Dort wird er u.a. in Texten von AbiYaghi, Catusse und M. Younes (2017), Wimmen (2014) und Fakhoury (2011: 7f.) verwendet (f¨ ur eine Diskussion der Begriffe s. auch Mikdashi 2014a: 140).

1.1 Fragestellung

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1.1 Fragestellung In diesem Kapitel werden aus dem oben skizzierten Forschungsinteresse die Fragestellungen entwickelt, welche in dieser Arbeit verfolgt werden. Der Untersuchungsgegenstand ist die Protestwelle, in der im Libanon zwischen 2010 und 2012 unterschiedliche Akteure mit einer Reihe von Aktivit¨aten gegen den Konfessionalismus protestierten. Das Forschungsinteresse gilt dabei den Organisations- und Aktionsformen, wobei auch der politische ¨ Kontext, in den diese eingebettet sind, ber¨ ucksichtigt wird. Ein Blick auf die Außerungen verschiedener Aktivisten und Beobachter zeigt, dass die Einsch¨atzungen der Protestwelle in hohem Maß unterschiedlich ausfallen. Diese disparaten Einsch¨atzungen der Protestwelle sind verbunden mit Kontroversen u ¨ber ihre Aktionsformen, ihre Organisationsformen und ihre Ziele. Als Beispiel f¨ ur eine kritische Einsch¨atzung zu diesen Aspekten der Protestwelle sei hier ein politikwissenschaftlicher Artikel zitiert: The protests only involved ” a small number of participants, lacking strong coordination and, conseqently, they have failed to have a major impact” (Fakhoury 2011; paraphrasiert in Di Peri 2014: 278). Andererseits a¨ußerten etwa einige der f¨ ur diese Arbeit interviewten Aktivisten positive Einsch¨atzungen gerade mit Bez¨ ugen zur Gr¨oße einiger Protestaktionen, der fehlenden Koordiniertheit bei einigen Akteuren und den erreichten Erfolgen (s. auch Interview mit Yalda Younes auf NOW Lebanon Y. Younes und Elali 04.05.2012). Um diese kontroversen Einsch¨atzungen der Protestwelle und die ihnen jeweils zugrunde liegenden Informationen, Annahmen, Erwartungen etc. zu analysieren, verfolgt diese Arbeit eine zweigeteilte Forschungsfrage. Der erste Teil der u ¨bergeordneten Forschungsfrage zielt auf die Beschreibung des Gegenstands, der zweite Teil auf die Analyse der politischen Wirkungen, Ziele und Strategien: • Wie w¨ahlten Aktivisten der libanesischen antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 ihre Organisationsformen und Aktionsformen? • Welche politische Wirkung hatten die gew¨ahlten Organisations- und Aktionsformen? Diese zweiteilige Frage deckt einen weiten Bereich von Aspekten ab. Sie spannt einen Bogen f¨ ur mehrere Teilfragen, die zum einen deskriptiv und zum anderen, darauf aufbauend, analytisch angelegt sind. Die deskriptive Teilfrage, mit der zugleich der Untersuchungszeitraum definiert wird, betrifft die Beschreibung des Forschungsgegenstands: • Welche Organisations- und Aktionsformen verwendeten Aktivisten der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012? Die Untersuchung der Organisations- und Aktionsformen f¨ ur den Zeitraum der Protestwelle 2010-2012 wird zugleich in Bezug gesetzt zu fr¨ uheren Protesten, also zu historischen Aspekten von Aktivismus und Antikonfessionalismus. Dies erm¨oglicht es herauszuarbeiten, welche Br¨ uche und Neuerungen in der antikonfessionellen Protestwelle auftraten, bzw. welche Kontinuit¨aten, Verortungen und R¨ uckbez¨ uge zu fr¨ uheren F¨allen von antikonfessionellem Aktivismus bestehen. Da der Aktivismus sich aber auch w¨ahrend des Zeitraums der Protestwelle als dynamisch zeigte und es auch w¨ahrend der Protestwelle zu Br¨ uchen und Transformationen kam, welche sich auch auf der Ebene der Organisations- und Aktionsformen manifestierten, sollen auch diese w¨ahrend des Untersuchungszeitraums geschehenen Transformationen bearbeitet werden. Zudem soll ber¨ ucksichtigt werden, welche Diskurse u uche und Transformationen unter den Aktivisten gef¨ uhrt wurden. Dabei ¨ber diese Br¨

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stellen sich Fragen im Bereich der Akteur-Struktur-Problematik und im Bereich der analytischen Trennung verschiedener Ebenen des Aktivismus: Es geht um Zusammenh¨ange zwischen Organisations- und Aktionsformen und um strategische Entscheidungen der Akteure, aber auch um Einfl¨ usse externer Ereignisse und politischer Strukturen. Diese beschriebenen Aspekte von Fragen nach Br¨ uchen und Neuerungen im antikonfessionellen Aktivismus lassen sich formulieren als eine Reihe von Fragen nach den Gr¨ unden und Ausl¨osern dieser Transformationen: • Wie kam es zu Transformationen in den Organisations- und Aktionsformen der Bewegung? • Inwieweit wurden diese Transformationen durch strukturelle Ver¨anderungen bzw. durch Entscheidungen oder Handlungen der Aktivisten ausgel¨ost? • Wie beeinflussten sich Organisations- und Aktionsformen gegenseitig? • Wie beeinflusste der politische und soziale Kontext den Verlauf, die Formen und die organisatorische Strukturierung der Protestwelle? • Wie kam es zur Formierung und Aufl¨osung von Koalitionen zwischen Bewegungsakteuren? Ein zentraler kontroverser Punkt in den Debatten um verschiedene Proteststrategien sowohl auf der Ebene der Organisationsformen als auch der Aktionsformen besteht in der Frage nach ihrer politischen Wirkung. So zeigt etwa das oben angef¨ uhrte Zitat (Di Peri 2014; Fakhoury 2011) beispielhaft, wie eine kritische Einsch¨atzung der Organisationsformen als zu wenig koordiniert und der Teilnehmerzahl als zu gering verkn¨ upft wird mit der ebenfalls kritischen Einsch¨atzung der Wirkung, welche die Proteste erzielten. Auch Debatten unter den Aktivisten u ¨ber die Wahl angemessener Organisations- und Aktionsformen waren h¨aufig verbunden mit Annahmen u ¨ber die politische Wirkung dieser Formen bzw. mit Erkl¨arungen, welches Ziel mit einer bestimmten Form erreicht werden solle. Im Vergleich der verschiedenen Positionen, welche Aktivisten und Beobachter gegen¨ uber den unterschiedlichen Aktionsformen einnehmen, wird deutlich, dass die Entscheidungen f¨ ur verschiedene Organisations- und Aktionsformen mit jeweils unterschiedlichen Zieldefinitionen verkn¨ upft sind. Diese Zieldefinitionen h¨angen wiederum zusammen mit den Politikkonzepten, welche die unterschiedlichen Akteure ihrem Aktivismus zugrunde legen. Daher sollen des Weiteren die folgenden Fragen bearbeitet werden: • Wie wirksam sind verschiedenartige Aktionsformen? • Welche Ziele werden mit ihnen jeweils verfolgt? Bei der Bearbeitung aller skizzierter Forschungsfragen muss beachtet werden, dass die empirisch beobachtbare Situation sich je nach dem betrachtetem Zeitpunkt innerhalb der Protestwelle verschieden darstellen wird. Um den Einbezug dieser diachronen Dynamiken zu gew¨ahrleisten, lautet eine weitere Teilfrage: • Wie unterscheiden sich die Antworten auf die vorangegangenen Fragen im Verlauf der Protestwelle?

1.2 Aufbau der Arbeit

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1.2 Aufbau der Arbeit Die Arbeitsschritte, in denen diese Fragestellungen behandelt werden, spiegeln sich in der Gliederung der Arbeit. Zun¨achst wird der methodische, theoretische und historische Rahmen gesteckt, innerhalb dessen anschließend die antikonfessionelle Protestwelle 20102012 untersucht werden soll. Kapitel 2 legt den Forschungsstand dar, auf den diese Arbeit aufbaut, und arbeitet die oben angedeuteten Forschungsl¨ ucken heraus. Dabei wird der Forschungsstand zu drei Gebieten behandelt: Zuerst geht es um die Forschung zum libanesischen Antikonfessionalismus (2.1). Es folgt eine Diskussion zum Stand der Forschung u ¨ber soziale Bewegungen, wobei jeweils sowohl regionalspezifische als auch dar¨ uber hinaus gehende theoretische Literatur beachtet wird (2.2). Dies wird schließlich erg¨anzt durch einem Abschnitt u ¨ber den Forschungsstand zu Konzepten des Politischen, wobei insbesondere solche Ans¨atze thematisiert werden, welche Dichotomien zwischen Formen politischen Handelns konstatieren (2.3). Daran anschließend werden Theorie und Methodik der Arbeit erl¨autert. In Kapitel 3 wird der theoretische Baukasten” entwickelt, der Perspektiven und Kategorien f¨ ur die ” Analyse bereitstellt. Der erste, gr¨oßere Teil des Kapitels (3.1) f¨ uhrt Konzepte zu Theorien sozialer Bewegungen ein, die sich sowohl auf einzelne Bewegungsdimensionen (Bewegungsorganisationen, Aktionsformen, Rahmenanalyse) als auch auf diachrone Entwicklungen und Transformationen (Protestwellen, Repertoires, neue soziale Bewegungen) beziehen. Zudem werden Konzepte zur Analyse des politischen Kontexts von Protestbewegungen vorgestellt (politische Gelegenheitsstrukturen). Der kleinere Teil des Theoriekapitels (3.2) diskutiert Konzepte des Politischen. Dabei werden theoretische Dichotomien vorgestellt, die unterschiedliche Konzepten des Politschen” gegen¨ uberstellen und somit einen Rah” men zur Analyse von gegens¨atzlichen Proteststrategien bieten. Hier wird zun¨achst auf die politische Differenz”, also die Dichotomie zwischen der Politik” und dem Politi” ” ” schen” eingegangen, gefolgt von Ans¨atzen zu entgrenzter Politik”, also zur Verschiebung ” von politischem Handeln aus den formal und kollektiv organisierten Handlungsarenen hinaus, und daran anschließend zu politischer Individualisierung”. Im Anschluss daran ” erl¨autert Kapitel 4 die in dieser Arbeit verwendeten Methoden und ordnet diese ein in grunds¨atzliche Fragen der Methodologie. Darauf folgen Erl¨auterungen zur Auswahl der interviewten Aktivisten und zum Aufbau der Experteninterviews sowie zur Methode der qualitativen Inhaltsanalyse, mit der die Interviews – gest¨ utzt auf den theoretischen Bau” kasten” – ausgewertet wurden. Im Anschluss wendet sich die Arbeit wieder ihrem Untersuchungsgegenstand zu, indem Kapitel 5 die Geschichte des libanesischen antikonfessionellen Aktivismus beschreibt. Das Kapitel beginnt in 5.1 mit einer Begriffsdiskussion, welche die verschiedenen konkurrierenden Termini, die im Libanon im Begriffsfeld des Antikonfessionalismus kursieren, reflektiert und auch ihre politischen Konnotationen erl¨autert. Im Anschluss zeichnet der historisch-deskriptive Abschnitt 5.2 die Geschichte des libanesischen antikonfessionellen Aktivismus nach. Dieser historische Abriss soll Verst¨andnis f¨ ur die historischen Bez¨ uge erm¨oglichen, die von Aktivisten der aktuellen Protestwelle hergestellt werden. Die darauf folgenden analytischen Kapitel bilden schließlich das Herzst¨ uck der Arbeit. In Kapitel 6 wird die Analyseebene der Organisationsformen behandelt, gefolgt von der komplement¨aren Untersuchung der Analyseebene der Aktionsformen in Kapitel 7. In beiden Kapiteln werden die in den vorangegangenen Teilen der Arbeit entfalteten Hintergr¨ unde

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zu Methodik, theoretischen Konzepten, Begriffsdiskussion und Geschichte verwendet, um die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 zu untersuchen. Die in den beiden Kapiteln diskutierten zentralen Akteure bzw. Protestereignisse der Protestwelle werden zudem tabellarisch aufgelistet (in 7.1.1 bzw. im Anhang), so dass die einzelnen Organisationen, Personen und Koalitionen sowie Ereignisse in u ¨bersichtlicher Weise nachgeschlagen werden k¨onnen. Kapitel 6 beschreibt zun¨achst die verschiedenen an der Protestwelle beteiligten Akteure (6.1). Diese werden entsprechend ihres Organisationsgrads geordnet, so dass zuerst Par¨ teien, dann NGOs und dann Unabh¨angige behandelt werden, gefolgt von einer Ubersicht u ¨ber die zwischen diesen Akteuren angesiedelten Koalitionen. Im Anschluss wird in 6.2 dargestellt, welchen Transformationen diese Akteure und ihre Organisationsformen unterworfen waren und sind. Dies betrifft sowohl Verschiebungen von Parteien hin zu NGOs und weiter zu unabh¨angigem Aktivismus in den Jahrzehnten vor der Protestwelle behandelt als auch Transformationen, welche w¨ahrend der Protestwelle stattfanden. Bez¨ uglich der rapiden Ver¨anderungen der Organsationsformen w¨ahrend der Protestwelle werden schließlich, unter R¨ uckgriff auf Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen, vier verschiedene Faktoren untersucht, welche diese Transformationen beeinflussten (6.3). Kapitel 7 beginnt mit der Deskription und Analyse der Protestereignisse, welche die antikonfessionelle Protestwelle 2010 und 2012 konstituieren (7.1). Dies schließt eine Analyse der Br¨ uche und Innovationen der Aktionsformen aus der theoretischen Perspektive der Repertoires sowie die Darstellung der unter Aktivisten aufgekommenen Kontroversen u ¨ber die verschiedenen Aktionsformen ein. Da Kontroversen u ¨ber Aktionsformen sich nicht auf die Ereignisse der Protestwelle beschr¨anken, sondern Aktivisten in ihre Debatten auch Aktionen aus den Zeitr¨aumen vor und nach der Protestwelle einbeziehen, wird mit Kapitel 7.2 ein Exkurs u ¨ber zwei besonders prominente antikonfessionelle Initiativen aus den Jahren 2009 (Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister) und 2013 (Anerkennung einer im Libanon geschlossenen Zivilehe) eingef¨ ugt. Der Annahme folgend, dass Aktionsformen eng verbunden sind mit Protestzielen, werden schließlich in 7.3 die Ziele und Logiken der antikonfessionellen Repertoires analysiert. Die dabei identifizierten drei zentralen Ziele des antikonfessionellen Aktivismus werden in den Unterkapiteln diskutiert. Das abschließende Kapitel 8 der Arbeit besteht in einem Fazit, welches die in den vorangegangenen Kapitel aufgestellten Thesen u ¨ber Organisations- und Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle zusammenf¨ uhrt, vergleicht und synthetisiert. Zudem gibt das Fazit einen Ausblick auf j¨ ungere Ereignisse des libanesischen s¨akularen Aktivismus, indem die entwickelten Thesen u ¨ber die Protestwelle 2010-2012 in Bezug gesetzt werden zu den zivilgesellschaftlichen Kampagnen gegen die M¨ ullkrise 2015 und zur Beiruter Kommunalwahl 2016.

2 Forschungsstand Die vorliegende Arbeit behandelt die Protestbewegung gegen den libanesischen Konfessionalismus und die den Organisations- und Aktionsformen zugrunde liegenden Politikkonzepte. Folglich baut sie auf dem Forschungsstand zu diesen drei Themen auf: Konfessionalismus, soziale Bewegungen und Politikkonzepte. Bezogen auf das Forschungsgebiet Libanon liegt viel Literatur u ¨ber Konfessionalismus vor, weniger u ¨ber soziale Bewegungen und kaum u ur die beiden letztgenannten ¨ber Politikkonzepte. Der Forschungsstand f¨ Gebiete ist daher st¨arker theorieorientiert und diskutiert vor allem europ¨aische Kontexte. Der Konfessionalismus als ein dominantes Thema der Libanonforschung formt den Hintergrund f¨ ur jegliches politische Handeln im Libanon. Da er zugleich das große Thema der antikonfessionellen Bewegung bildet, soll in 2.1 einerseits die Literatur u ¨ber den Konfessionalismus selbst diskutiert werden, andererseits die Literatur u ¨ber antikonfessionelle Ideen und politische Aktionen. Die in diesem Abschnitt diskutierte Literatur ist folglich besonders deutlich mit dem Fall der vorliegenden Arbeit verbunden. Die darauf folgenden Abschnitte sind in geringerem Maß mit dem Fall der antikonfessionellen Bewegung verkn¨ upft, sondern behandeln das f¨ ur diese Arbeit relevante Spektrum theoretischer Ans¨atze. Um den Blick auf die politischen Aktionen vertiefen zu k¨onnen, soll in 2.2 zun¨achst der Forschungsstand zu Protestbewegungen dargelegt werden. Dies ¨ umfasst zun¨achst vor allem theoretische Uberlegungen, die zu Protestbewegungen in der Region wie auch weltweit entwickelt wurden. Daran angeschlossen wird die Diskussion der vorhandenen Beschreibungen und die Analysen von Protestbewegungen im Libanon. In dieses Feld f¨allt die Literatur zu Hisbollah, die ein weiteres dominantes Thema der Libanonforschung darstellt.2 Die Hisbollah-Literatur wird daher als Beitrag zur auf den Libanon bezogenen Bewegungsforschung diskutiert, wenn auch die Thematik der vorliegenden Arbeit nicht unter das Forschungsthema Islamismus” einzuordnen ist, sondern ” sich dazu komplement¨ar verh¨alt. Im Forschungsstand zu Protestbewegungen – sowohl mit ¨ Blick auf die europ¨aische und amerikanische Theoriebildung als auch auf Uberlegungen zum Nahen und Mittleren Osten – scheinen Beobachtungen u ¨ber sich wandelnde Politikkonzepte in diesen Bewegungen auf. Um diesen Aspekt weiter verfolgen zu k¨onnen, wird im dritten Teil des Forschungsstands das Thema Politikkonzepte behandelt (2.3). Die Forschung zu Konzepten des Politischen stellt ein eher kleines Forschungsgebiet dar und bildet in der Regel einen Teilaspekt von weiterreichenden Theorien ab. Diese Einbettung der relevanten Theorieausschnitte in gr¨oßere theoretische Gebiete wird ebenfalls behandelt. 2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus Im europ¨aischen Kontext wurde die Frage nach Zuschreibung kollektiver Zugeh¨origkeit und individueller Identit¨at insbesondere im Zusammenhang mit modernisierungstheoreti2

Die Dominanz von solchen Themen wie Hisbollah und Konfessionalismus bzw. seiner stabilisierenden oder destabilisierenden Wirkung ist vermutlich auch dem sicherheitspolitischen Primat geschuldet, unter dem ein Großteil der Libanonforschung steht.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_2

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2 Forschungsstand

schen Annahmen (z.B. Norris und Inglehart 2005) oder mit der Individualisierungsthese gef¨ uhrt. Im Nahen und Mittleren Osten stehen Diskussionen um Konfessionalismus und Konfessionalismuskritik im Zusammenhang mit Fragen nach der Bedeutung kollektiver Strukturen wie Tribalismus, Familialismus und politisierten religi¨osen Zugeh¨origkeiten. Die Dimensionen u ¨berlappen sich und werden nicht immer trennscharf diskutiert. Vertreter von Primordialismustheorien nehmen an, dass prim¨are Zugeh¨origkeiten der Entwicklung rationaler Institutionen im Sinne Max Webers entgegenstehen, so Picard (2006). Dass auch primordiale Identit¨aten eine gewisse Dynamik aufweisen, hat allerdings schon Ibn Khaldun im 14. Jahrhundert n.C. in seinem Werk al-Muqaddima” (s. Ibn Khaldun, ” Giese und Heinrichs 2011) gezeigt, in der er sein Konzept von c as.ab¯ıya entwickelt. Die c durch as.ab¯ıya, also tribale Solidarit¨at, zusammengehaltenen Einheiten sind ver¨anderlich (vgl. Ibn Khaldun, Giese und Heinrichs 2011). c As.ab¯ıya gilt auch als ein Herrschaftsinstrument, das als solches mit der Urbanisierung an Bedeutung verlor. Dennoch sind tribale Zugeh¨origkeiten auch in urbanisierten Gesellschaften bedeutsam, wobei St¨amme und andere institutionelle Ausformungen von c as.ab¯ıya keineswegs automatisch in authentischer“ ” Weise historisch sind, sondern als politische und soziale Referenzsysteme durchaus gezielt (re-)konstruiert werden k¨onnen (vgl. Abdul-Jabar 2003; Abdul-Jabar und Hosham 2003; Roy 1994). Aktuell diskutiert wird der Konfessionalismus im Nahen und Mittleren Osten zudem im Zusammenhang mit dem Konflikt um regionale Vorherrschaft zwischen Iran und SaudiArabien, der zumindest in der Rhetorik Z¨ uge eines sunnitisch-schiitischen Konflikts aufweist (vgl. Abdo 2013: 53; Nasr 2007: 219; Lou¨er 2012). Die Diskussion u ¨ber Konfessionalismus im Libanon ist von einigen Unklarheiten gepr¨agt. So stellt der libanesisch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Blogger Elias Muhanna fest: As a recent survey showed, while 58 per cent of Lebanese favour abolishing confessionalism, nearly one quarter do not understand what this phrase even means; among the remaining three-quarters, definitions vary widely. (Muhanna 04.03.2010) Konfessionalismus ist auf mehreren Ebenen pr¨asent, n¨amlich erstens in der konfessionel¨ len Quotierung politischer Amter (h¨aufig bezeichnet als politischer Konfessionalismus“), ” zweitens in der weitgehenden Autonomie der Gemeinschaften und drittens in konfessionalistisch gepr¨agten Denkweisen und Mentalit¨aten. Diese Ebenen, die untereinander verflochten sind und in komplexen Bez¨ ugen zueinander stehen, werden in politischen Debatten wie auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht immer analytisch unterschieden. H¨aufig ist einfach vom Konfessionalismus“ die Rede, w¨ahrend implizit bleibt, um welche ” Ebene es jeweils geht. Eine weitere Unklarheit besteht darin, dass der Begriff Konfessionalismus” sich im ” libanesischen Kontext auch auf eine weitere Ebene beziehen kann, die nur indirekt mit der Rolle der Konfessionen verbunden ist, n¨amlich auf die Ebene der politischen Lager. Wer zum Zeitpunkt der in dieser Arbeit untersuchten Protestwelle den Konfessionalismus” ” kritisierte, meinte h¨aufig die Verh¨artung zwischen den politischen Bl¨ocken des 8. M¨arz” ” und 14. M¨arz”. Analog dazu kann auch mit der Bekenntnis zum S¨akularismus” die ” ” ¨ Forderung nach Uberwindung dieser politischen Spaltung gemeint sein. Bei der Rezeption der Literatur zum libanesischen Konfessionalismus kommt hinzu, dass dieser sowohl als erkl¨arende wie auch als zu erkl¨arende Variable behandelt wird. Im

2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus

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ersten Fall wird beispielsweise die mangelnde Stabilit¨at des Libanon durch die Pr¨asenz des Konfessionalismus erkl¨art. Im zweiten Fall wird der Konfessionalismus selbst erkl¨art, etwa durch Verweise auf primordiale Strukturen oder auf die Geschichte der konfessionalistischen Institutionen. Allerdings bildet der libanesische Konfessionalismus ein Paradigma der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion und es liegt ausf¨ uhrliche Literatur vor. Longuenesse (2008: 257) weist zu Recht darauf hin, dass es in der politik-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Libanonforschung schwierig ist, sich diesem Denkraster zu entziehen. Das Konkordanzsystem des Libanon und der Konfessionalismus bildet h¨aufig den Rahmen, durch den andere Themen behandelt werden (vgl. Longuenesse 2008: 257; Favier 2004: 20, Fußnote 46). Um einige Beispiele zu nennen: Brigitte Rieger (2003) gliedert ihre Untersuchung zur sozialen Sicherung in Kapitel zur sozialen Sicherung bei den großen und in der Debatte sichtbarsten konfessionellen Gruppen, also Schiiten, Maroniten, Sunniten, Drusen. In einer Studie u ¨ber politischen Aktivismus zwischen 2005 und 2008 (s. Di Ricco 2008) sind die verglichenen Gruppen nach Konfessionszugeh¨origkeit definiert. Eine Studie der UN-Organisation Economic and Social Commission for Western Asia und Heinrich Boell Foundation (2009) untersucht die Wahrnehmung von Spannung in verschiedenen jugendlichen Bev¨olkerungsgruppen, die unter anderem nach Konfessionszugeh¨origkeit definiert sind. Auch die Gemeinschaften selbst sind Gegenstand der Deskription und Analyse, etwa in den Beschreibungen von Bar, die w¨ahrend des B¨ urgerkriegs verfasst wurden (s. Bar 1983). Des Weiteren existiert umfangreiche Literatur u ¨ber einzelne konfessionelle Gruppen (z.B. Shanahan 2005; Weiss 2010). Arbeiten, deren Analysekategorien quer zu konfessionellen Kategorien liegen, bilden die Ausnahme. Die Rezensentinnen des Politologen Karam Karam (s. Fakhoury M¨ uhlbacher o.J. Longuenesse 2008) stellen daher zu Recht heraus, dass seine Analysen sozialer Bewegungen im Libanon die konfessionellen Identit¨aten der Aktivisten nur an untergeordneter Stelle betrachten und alternative Typologien aufmachen (s. Karam 2005, 2006a,b, 2009, 29-31.03.2000). Konfessionalismus und der Widerstand dagegen werden auf zwei Ebenen verhandelt: Es geht einerseits um Ideen, Philosophien und Utopien, andererseits um politische und soziale Institutionen, Praktiken und Projekte. Daher wird im Folgenden zun¨achst der Forschungsstand zur konfessionalistischen und s¨akularen Ideengeschichte behandelt und im Anschluss daran der Forschungsstand zu konfessionalistischer und s¨akularer Politik. 2.1.1 Konfessionalistische und s¨akulare Ideengeschichte Verbunden mit der paradigmatischen Pr¨asenz des Konfessionalismus als Erkl¨arungsmuster wie auch als Kategorisierung f¨ ur libanesische Strukturen und Institutionen, ist zugleich die Kritik am Konfessionalismus allgegenw¨artig. Ein großer Teil der Literatur diagnostiziert, wie Suad Joseph (2011: 151) treffend bemerkt, Konfessionalismus und andere Ebenen von Ordnung, die zum Staat in Konkurrenz stehen, als defekt“, r¨ uckst¨andig“, das Andere“ ” ” ” (z.B. Di Ricco 2008; UNDP 2009). Maya Mikdashi (25.03.2011) weist zu Recht darauf hin, dass der S¨akularismus-Slogan ein leerer Slogan” ist, sofern er nicht spezifiziert und ” in Zusammenhang mit weiteren Reformbereichen gesetzt wird. Differenziertere Analysen verspricht das aktuelle d¨anische Forschungsprojekt Secular Ideology in the Middle East” ” (Roskilde Universitet o.J.), dessen Titel andeutet, dass S¨akularismus hier als Ideologie

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2 Forschungsstand

konzeptionalisiert wird. Auf der Internetseite des Projekts wird zutreffend festgestellt: But secular ideology in the Middle East cannot merely be seen as a reaction to resurgent Islamism. Just as much, it has its anchoring in communism, socialism as well as long-standing debates about the place of religious minorities. It is the ambition of SIME to contribute to our understanding of secular traditions in the Middle East and the conceptualization of ideology. (Roskilde Universitet o.J.) Die dem Projekt zugeordneten Publikationen (z.B. Haugbolle 21.03.2012; M. Younes und Sing 2012) z¨ahlen zu den differenziertesten und aktuellsten Arbeiten u ¨ber libanesischen Konfessionalismus sowohl bez¨ uglich Ideengeschichte als auch bez¨ uglich s¨akularer Politik. Eine in vergleichbarer Weise differenzierte Sichtweise bieten etwa die Analysen von Maya Mikdashi (2013, 2014b, 25.03.2011, 29.03.2011), beispielsweise ihre stichwortartige Definition des libanesischen politischen Konfessionalismus (s. Mikdashi 25.03.2011). Dar¨ uber hinaus ist der Forschungsstand dadurch gepr¨agt, dass eine allgegenw¨artige Kritik am Konfessionalismus, die nicht unbedingt weiter konkretisiert oder spezifiziert wird, den normativen Hintergrund der meisten Literatur u ¨ber libanesischen Konfessionalismus und Antikonfessionalismus bildet. Dies gilt f¨ ur den Bereich der Wissenschaft (z.B. Choueiri 2007; Hanf 1990; Kiwan und Ahmad Beydoun 1994) ebenso wie f¨ ur Publizisten und Intellektuelle (z.B. Idriss 2006, 2007a,b,c; Sayegh 2007a,b,c, 2011). Viele Publikationen enthalten Bekenntnisse zum S¨akularismus oder Vorschl¨age f¨ ur s¨akulare Reformen (s. Hanf und N. Salam 2003; El-Hoss 1994; Reinkowski 1997). In den Sammelb¨anden von Kiwan und Ahmad Beydoun (1994) sowie von Hanf und N. Salam (2003) sind gleichermaßen analytische und programmatische Aufs¨atze versammelt. Bei einigen Arbeiten sind bereits die Titel programmatisch: Nawaf N. A. Salam (1993) fordert in seinem Aufsatz die Forderung ” nach Dekonfessionalisierung zu dekonfessionalisieren“, eine Ver¨offentlichung von Gr´egoire Haddad (2005) ist mit Die umfassende S¨akularit¨at“ ( al-c Alm¯an¯ıya aˇs-ˇsa¯mila”) beti” ” telt und der stellvertretende Herausgeber der Tageszeitung as-Saf¯ır Nasri Sayegh (2007b) konstatiert im Titel eines Essays, kein Libanese zu sein“ ( Lastu lubn¯an¯ıyan bac d”). ” ” Auch der Beitrag von Klerikern zur Debatte wird in der Literatur abgebildet. In den Anfangsjahren des libanesischen B¨ urgerkriegs wurde unter geistlichen und administrativen Vertretern besonders der muslimischen Gemeinschaften eine intensive Debatte um S¨akularisierung gef¨ uhrt (vgl. Donohue 1978; Grafton 2002). Der ehemalige griechischkatholische Bischof Gr´egoire Haddad zeigte in seinem Band zur umfassenden S¨akularit¨at” ” Missverst¨andnisse gegen¨ uber dem Begriff auf und entwirft eine Typologie der darauf beruhenden Vorbehalte gegen S¨akularismus (Haddad 2005). Die ausufernden Diskurse u ¨ber libanesischen Konfessionalismus umfassend zu sichten und zu ordnen, ist das Verdienst von Max Weiss, der in seiner Historiographie vier Denkschulen identifiziert: Der libanesische Konfessionalismus gilt demnach entweder als organisch-authentisch, als von externen M¨achten aufgedr¨angte, erfundene Tradition, als negativ und konflikt¨ar in seiner gesellschaftlichen Auswirkung, oder als schillerndes Konzept mit vielf¨altigen zu analysierenden Tr¨agern (vgl. Weiss 2009: 142-143; s. auch el-Solh 1994). Schließlich ist die s¨akulare Ideengeschichte Libanons Teil des s¨akularen Denkens in der Region. Daher ist hier auch die Literatur zu erw¨ahnen, in welcher die s¨akulare und liberale Ideengeschichte in der Region staaten¨ ubergreifend behandelt wird (z.B. Browers 2009; Esposito und Tamimi 2000). Solche staaten¨ ubergreifenden Betrachtungen liegen in deutlich h¨oherer Zahl vor als Betrachtungen zur s¨akularen Ideengeschichte im Libanon. Dies ist

2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus

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eine logische Folge dessen, dass das s¨akulare Denken in der Region einen H¨ohepunkt vor der libanesischen Staatsgr¨ undung hatte, n¨amlich w¨ahrend der Zeit der Nahda (vgl. Kurita 2006; Schumann 2008b; Yared 2002). Diese Zeit bildete einen Ausgangspunkt s¨akularen Denkens, auch im Zusammenhang mit Diskussionen um die Ausformung der Nachfolgestaaten des osmanischen Reichs. In den 1920er Jahren, als sich die Staaten auf dem Weg ihrer Gr¨ undung befanden und Verfassungen skizziert waren, erodierten diese Diskurse (vgl. Kurita 2006). 2.1.2 Konfessionalistische und s¨akulare Politik Wie Eyal Zisser feststellt, konstatiert ein Großteil der nach dem Ende des libanesischen B¨ urgerkriegs erschienenen Literatur u ¨ber Politik, Gesellschaft und Geschichte des Libanon eine historische Verwurzelung der konfessionalistischen Institutionen: What is visible in this new academic approach is the effort to underscore the trend of continuity as a dominant factor in Lebanese history and even as a key for the understanding of the course of this history. Indeed, according to this new-old approach, there was nothing new in the establishment of the Lebanese state by the French in 1920, since this entity had its deep roots at the autonomous district of Mt. Lebanon (the Mutasarafiyya), or even the Lebanese Emirate. (Zisser 2001: 211) Historiker haben allerdings nachgezeichnet, dass die konfessionsgebundene Vergabe von ¨ Amtern erstmals in der Zeit des Doppel-q¯a c immaq¯am¯at” im 19. Jahrhundert festgelegt ” wurde (s. u.a. Weiss 2010). Weitere Arbeiten zeigen, wie die Konfessionalisierung nach der Staatsgr¨ undung fortschritt, wobei die Institutionen der einzelnen Gemeinschaften sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten etablierten (vgl. Sengebusch 2012; Weiss 2010). Die 1926 durchgef¨ uhrte Volksz¨ahlung bekam mit dem 1943 geschlossenen Nationalpakt quasi Gesetzescharakter (vgl. Maktabi 1999: 226ff.) und bereits vor dem B¨ urgerkrieg wurden Konfessionen politisch mobilisiert (vgl. Hudson 1997: 111). Weiterhin wird gezeigt, wie sich die Tendenzen der Konfessionalisierung im B¨ urgerkrieg verst¨arkten, indem die konfessionelle Identit¨aten neu verhandelt und stabilisiert wurden (vgl. Peleikis 2001). Einen Grund hierf¨ ur sieht Shanahan (2005) in der Erosion staatlicher Institutionen, woraufhin die Libanesen sich auf ihre Gemeinschaften zur¨ uckgezogen h¨atten, deren Parallelinstitutionen die Staatsaufgaben zu gr¨oßerer Zufriedenheit u ¨bernahmen. In der Folge, so Shanahan weiter, wurden auch die Parteien konfessionell homogener (vgl. Shanahan 2005: 106). Die konfessionalistischen Institutionen des Libanon sind also insgesamt ein Produkt der Moderne (vgl. Makdisi 1996, 2000; Weiss 2010), wiewohl sie vor allem in politischer Rhetorik als vormodern bezeichnet w¨ urden, um sich durch Kritik daran als modern“ zu stilisieren ” (vgl. Makdisi 1996). ¨ Die offensichtlichen Uberschneidungen der konfessionellen Identit¨at mit anderen kommunit¨aren Identit¨aten wie St¨ammen, Clans und Familien wird in der Literatur angesprochen (s. Johnson 1977; S. Khalaf 1977; Peleikis 2001). Auch diese Akteure sind Spieler in der libanesischen Politik, so weist Suad Joseph auf die politische Relevanz großer Familien hin, die mindestens ebenso bedeutsam sei wie die konfessionellen Gemeinschaften (vgl. Joseph 2011: 157ff.). Auch wird Konfessionalismus in der Literatur in engen Bezug zu Patronage gesetzt (s. Gellner 1977; Johnson 1977, 1986). Zudem ist zu beachten, dass die

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2 Forschungsstand

verschiedenen substaatlichen Akteure eigene Allianzen mit externen Akteuren schließen und sich somit selbst als Akteure im regionalen und internationalen System positionieren (vgl. Salloukh 2008; s. auch Salam´e 1988; Salem 1994: 96). Zahlreiche Arbeiten widmen sich der aktuellen Auspr¨agung des Konfessionalismus in verschiedenen Bereichen von Politik und Gesellschaft: So untersucht Bassel Salloukh Konfessionalisierung und Klientelismus im Außenministerium (s. Salloukh 2008: 295ff.). F¨ ur den Zeitraum nach der Zedernrevolution”, also ab 2005, vergleichen Di Ricco (2008) ” und Khatib (2009) die Konfessionalisierung zivilgesellschaftlicher Aktivisten, bei Khatib verbunden mit einer Betrachtung der Konfessionalisierung der Medienlandschaft. Die Verh¨artung der konfessionellen Fronten in der libanesischen Innenpolitik im Zusammenhang mit dem Sommerkrieg 2006 untersuchen Andr´e Bank und Koautoren (s. Bank und Marischka 2007; Bank und Valbjørn 2007, 2010). Ein weiteres Forschungsthema ist die konfessionelle Mentalit¨at, die in Meinungsumfragen zu konfessioneller Zugeh¨origkeit behandelt wird. Erhoben wurden die Meinungen von Studierenden (s. Asmar, Kisirwani und Springborg 1999; Faour 2000; Khashan 1992), Jugendlichen (s. Economic and Social Commission for Western Asia und Heinrich Boell Foundation 2009), Mitarbeitern und Klienten von Wohlfahrtsorganisationen (s. Cammett und Issar 2010) und Aktivisten der Massendemonstrationen 2005 f¨ ur den Abzug der syrischen Truppen (s. Shahwan 2012). Die sichtbarsten Themen in politischen Debatten um den Konfessionalismus sind das Wahlrecht und das Personenstandsrecht. Diese sind aber selten Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Die konfessionellen Quoten in der Nationalversammlung wurden vor allem von Thinktanks diskutiert, unter anderem im Zusammenhang mit Debatten um m¨ogliche Reformen des Wahlrechts (s. Democracy Reporting International 2009; UNDP 2009). Das Personenstandsrecht als einer der Bereiche, der von den Gemeinschaften autonom verwaltet wird, wurde vor allem in feministisch inspirierten Artikeln behandelt. Joseph (1997) bemerkt dabei, dass sich im Personenstandsrecht das komplexe Verh¨altnis von Staat, Gemeinschaft und Privatleben spiegelt. Weiter behandelt wurde die großangelegte Kampagne der 1990er Jahren f¨ ur die Einf¨ uhrung einer u ¨berkonfessionellen Zivilehe (s. Joseph 1997; Zuhur 2002). Ein weiterer betroffener Bereich, die Autonomie der Gemeinschaften im Bildungswesen, ist gelegentlich ebenfalls Thema der politischen Debatten, war aber bisher h¨ochstens am Rand Thema der Forschungsliteratur. Welchen Einfluss die Dominanz konfessioneller Identit¨at, die Autonomie der Gemeinschaften und das Konkordanzsystem auf Stabilit¨at und Konflikt im Libanon haben, ist umstritten und Gegenstand ausf¨ uhrlicher Diskussionen (s. Ahmad Beydoun 2007; Choueiri 2007; Hanf 1990; Koch 2009; Scheffler 2017). Einige Autoren weisen auf die Bedeutung von Faktoren jenseits des Konfessionalismus hin: Im Konflikt von 1958 seien beide Konfliktparteien multikonfessionell zusammengesetzt gewesen (vgl. Hudson 1997: 108), der B¨ urgerkrieg 1975-1990 habe sich eher an der Pr¨asenz der Pal¨astinenser entz¨ undet (vgl. Hanf 1990; s. auch Corm 2012) und der Antagonismus zwischen den beiden politischen Lagern des 8. M¨arz und 14. M¨arz habe in erster Linie einen Regionalkonflikt gespiegelt (vgl. Bank und Valbjørn 2007). Ein großer Teil der Literatur sieht dennoch den Konfessionalismus als zumindest latenten Konfliktgrund (z.B. Abdo 2013; Asmar, Kisirwani und Springborg 1999: 36; Baroudi 2000: 82). Vertreter der Theorie der Konkordanzdemokratie nehmen an, dass die fes¨ te Zuweisung politischer Amter und Institutionen an rivalisierende Bev¨olkerungsgruppen

2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus

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solche interkommunit¨aren Konflikte regeln kann (z.B. Lijphart 1977, 2008; Bogaards 1998; f¨ ur Libanon z.B. Fakhoury M¨ uhlbacher 2009; Zein al Din 2009; Koch 2009; J. G. Jabbra und N. W. Jabbra 2002). Das konkordanzdemokratische System sei im Vergleich mit den realistischerweise zur Verf¨ ugung stehenden Alternativen zur Konkordanzdemokratie ” (wie Sezessionismus, F¨oderalismus, Kantonisierung, institutionalisierter Dominanz einer ¨ Gemeinschaft u (Scheffler 2017: 1). Das System ¨ber alle anderen) [...] das kleinere Ubel” konfessioneller Quoten verhindere die Dominanz einer Gemeinschaft (vgl. Crow 1962: ¨ 520), es gilt allerdings auch seinen Verfechtern als ein Ubergangsmodell, welches mittel¨ fristig abzul¨osen ist. Dieser Ubergangscharakter wird besonders betont in Literatur aus der Vorkriegszeit (s. Crow 1962: 491-492) sowie auch im Wortlaut des Abkommens von T.a¯ if von 1989 (vgl. Center for Democracy in Lebanon 1989: Artikel II G). c

In der konfessionalismuskritischen Literatur zum Libanon wird zuweilen die Forderungen nach S¨akulariserung mit der Forderung nach Individualisierung verkn¨ upft3 . Dabei wird Individualisierung zusammengedacht mit Modernisierung, wobei ja auch die Bewertung von Modernisierung im Nahen und Mittleren Osten, besonders im Sinne von nachholender Modernisierung, uneinheitlich ist (s. z.B. I. Harik 2001; Saghie 2001a). In einer von Hazim Saghie (2001b) herausgegebenen Essaysammlung u ¨ber The predicament of ” individualism in the Middle East“ vertritt beispielsweise der Herausgeber die modernistische Annahme: [W]ithout a strong sense of individualism, no real prograss can be made ” towards democracy and the rule of law in the Middle East” (Saghie 2001b: Klappentext). Auch N. Salam (1994) beklagt eine fehlende politische Anerkennung f¨ ur das Individuum im Libanon. Die Gleichsetzung von Individualismus und S¨akularismus erfolgt allerdings nicht durchgehend, sondern es liegt durchaus Literatur vor, in der die beiden Konzepte differenzierter verwendet werden, etwa die Untersuchung von el-Solh (1994: 237f.), in welcher die Haltung gegen¨ uber dem Individuum als Kriterium angenommen wird, nach dem sich unterschiedliche s¨akularistische Gruppen voneinander unterscheiden. Diese Debatte um die stabilisierende oder destabilisierende Wirkung des Konfessionalismus h¨angt zusammen mit der Frage nach der Staatlichkeit des Libanon. Der politische“, ” also kodifizierte Konfessionalismus bzw. der communalism, also die Strukturierung von Gesellschaft und Politik nach Gemeinschaften wie z.B. Konfessionen, garantiere zwar die Rechte der Gemeinschaften (vgl. I. Harik 2001: 124, 2003). In der Ausgestaltung des politischen Systems, die den Gemeinschaften den Status semi-autonomer politischer Subjekte in einem eigentlich souver¨anen Staat zuweist, seien allerdings bereits gewisse Spannungen angelegt, konstatiert auch el Khazen: It was in these dichotomous setting that Lebanese politics oscillated between unity in the name of the state and disunity in the name of society. Hence the built-in tension in non-crisis situations, and political paralysis in times of crisis. (el Khazen 2000: 95-96) Ein großer Teil der Literatur zum Thema verfolgt das politische Ziel, das Machtverh¨altnis zugunsten des Staats zu verschieben. Crow (1962) fordert eine st¨arkere Konsensorientierung in der libanesischen Politik, die er durch die konfessionalistischen Institutionen 3

Diese Gleichsetzung ist auch jenseits der Libanonliteratur in anderen Gebieten der Nah- und Mittelost-Forschung zu beobachten, so nennt etwa Roald (2008) die beiden Prozesse in ihrer Studie Toward Secularization and Individualization of the Muslim Brotherhood” in einem Atemzug. ”

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2 Forschungsstand

verhindert sieht. Auch Reinkowski (1997), der auf der Ebene der konfessionellen Menta¨ lit¨at ansetzt, fordert eine Uberwindung dieser Institutionen. Er fordert, ausgehend vom Fehlen einer primordialen gemeinsamen libanesischen Identit¨at und angelehnt an den Fall Deutschland, den Einsatz f¨ ur einen libanesischen Verfassungspatriotismus“. ” Dabei weist Sami Ofeish (1999) zu Recht darauf hin, dass die Gemeinschaften bzw. deren Eliten den Konfessionalismus durchaus aktiv als Herrschaftsinstrument einsetzen: Sectarianism is purposeful rather than coincidental. It is not an independent but a depen” dent variable, largely dependent on the interest of the elite in reaching and maintaining power” (Ofeish 1999: 99). Bez¨ uglich der Instrumentalit¨at des Konfessionalismus in der Nachkriegszeit identifiziert Ofeish zwei Punkte: Die Garantie einer soliden Anh¨angerschaft f¨ ur konfessionelle Anf¨ uhrer und die Spaltung der unteren und mittleren Klassen (vgl. Ofeish 1999: 100). Sowohl die Mandatsmacht Frankreich als auch der libanesische Staat f¨orderten den Konfessionalismus (vgl. Weiss 2010). Historiker argumentieren einerseits, dass die Mandatsmacht den Staat Libanon nach der Logik des divide et impera formte, indem sie die Staatsgrenzen so zog, dass keine Konfession die Mehrheit hatte (vgl. Traboulsi 2007: 75ff. Cleveland und Bunton 2009: 203ff.). Andererseits schreibt der institutionalisierte Konfessionalismus die u ¨berproportionale Repr¨asentation der Christen, vor allem der Maroniten, fest und gilt einigen Autoren insofern als ein Garant maronitischer Dominanz (vgl. Kurita 2006). Seit dem Beginn des institutionalisierten Konfessionalismus gibt es politische Organisationen, deren Mitgliedschaften u ¨ber konfessionelle Grenzen hinwegreichen oder die ¨ auf die Uberwindung des Konfessionalismus hinarbeiten (vgl. Ziadeh 2006; zitiert nach Haugbolle 2013: 483). Auch diese Initiativen werden in der Literatur punktuell behandelt. So weisen Fadia Kiwan (1993) in ihrem Aufsatz u ¨ber die Genese der libanesischen Zivilgesellschaft und Agn`es Favier (1997, 2004) in ihren Arbeiten zu Protestlogiken des Studentenaktivismus in der Vorkriegszeit daraufhin, dass s¨akulare Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen in den 1960er und 1970er Jahren eine Bl¨ utezeit erlebten. Es zeigten sich Anzeichen f¨ ur eine Zivilgesellschaft, die st¨arker als traditionelle Bande” ” war (Kiwan 1993: o.S.). Dies blieb allerdings, historisch gesehen, die Ausnahme, so dass Favier dem Aktivismus der 1960er Jahre bescheinigt, eine atypische politische Kultur” ” dargestellt zu haben (Favier 2004: 37-38). Die Verkn¨ upfung zwischen linker und s¨akularer Politik seit der Unabh¨angigkeit des Libanon untersucht Haugbolle (2013). Er zeichnet Debatten um Konfessionalismus und S¨akularismus nach, bespricht verschiedene aktuelle Akteure, die er als links und s¨akular einstuft, und vertritt die These, S¨akularismus habe sich zu einem Kernkonzept” der liba” nesischen Linken entwickelt. In ¨ahnlicher Weise wird auch von M. Younes und Sing (2012) die Bedeutung von S¨akularismus und Antikonfessionalismus f¨ ur die politische Verortung der Libanesischen Kommunistischen Partei andiskutiert. Zudem liegen einige ausf¨ uhrliche und differenzierte Studien zum Parteiensystem der Vorkriegszeit vor, anhand derer deutlich ist, dass Parteien in jener Phase nicht in erster Linie entlang konfessioneller Konfliktlinien klassifiziert waren. Stattdessen macht Salibi (1976) die Kategorien der Nasseristen, der Nationalen Bewegung”, und der Pal¨astinen” sischen Gruppen auf. Suleiman (1967) f¨ uhrt die wichtigsten Dualismen der Meinungen” ” auf, zu denen er die Dichotomien nichtkonfessionell/konfessionell”, Osten/Westen” und ” ” s¨akular/religi¨os” z¨ahlt (Suleiman 1967: 291). Auch el Khazen (2000) zeichnet die poli” tische Landschaft und die politische Stimmung im Libanon der 1960er und 1970er Jahre

2.1 Konfessionalismus und Antikonfessionalismus

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nach und zeigt, dass die libanesische Politik am Vorabend des B¨ urgerkriegs keineswegs fl¨achendeckend konfessionalisiert war: On the eve of the war, a number of unprecedented situations were recorded. First, the largest number of Lebanese from all sectarian groups joined political parties with no dominant sectarian colouring (the LCP, the Organisation of Communist Action, the Syrian Social Nationalist Party). Second, parties and movement, particularly the highly politicised student movement, labour unions and organisations active in the social domain were the least confessional since independence. It is no exaggeration to say that by 1975 the secular mood” in ” the country had reached its highest level since the state was formed in 1920. Third, the Kataeb Party, representing the hard-line position in Christianbased Lebanese politics, had reached a peak level in terms of its political identification with Arab causes. (el Khazen 2000: 238-239) Die Inhalte politischer Initiativen gegen den Konfessionalismus wurden aber in der Literatur erstaunlicherweise nur an wenigen Stellen gew¨ urdigt: Raghid el-Solh (1994: 237f.) unterscheidet zwei Klassen politischer Ans¨atze gegen¨ uber dem konfessionellen System, n¨amlich erhaltende ( durability/refinement of the confessional system”) versus radikal ” ver¨andernde Ans¨atze ( the deconfessionalist approach”). Er konzentriert sich auf die Vor” kriegszeit und macht insbesondere die SSNP und die Libanesische Kommunistische Partei als Tr¨ager des dekonfessionalistischen Ansatzes aus. Die wenigen antikonfessionellen Initiativen der B¨ urgerkriegsjahre – so wurde 1984, mitten im Krieg, die St¨andige Konferenz ” der libanesischen S¨akularen” gegr¨ undet (Haddad 2005: 76ff.) – werden nur in einem wissenschaftlichen Aufsatz erw¨ahnt, der den Widerstand gegen den B¨ urgerkrieg” behandelt ” (Slaiby 1994). Dort vertritt Slaiby (1994: 119) die These, dass dieser Widerstand in der Literatur aus ideologischen Gr¨ unde” missachtet w¨ urde. ” Die Kampagne f¨ ur eine Reform des Personenstandsgesetzes in den 1990er Jahren wird im Rahmen einer Diskussion um Frauenrechte thematisiert (s. Zuhur 2002). Die Aktionen von Talal Husseini und dem Civil Center for National Initiative” (ar. al-Markaz ” ” al-Madan¯ı Li-l-Mub¯adara al-Wat.an¯ıya”), die 2009 die Streichung der Konfession aus dem Zivilregister erm¨oglichten, werden interessanterweise in Publikationen u ¨ber die schiitische Gemeinschaft erw¨ahnt (s. Di Ricco 2011: 82; Weiss 2010: 228ff.). Da aktuell der Konfessionalismus eine paradigmatische Hintergrundfolie der Libanonforschung bildet, r¨ ucken mitunter Abweichungen von dem Paradigma als Sonderf¨alle” ins ” Interesse. Diese werden als u ubergreifend“ gerahmt ¨berkonfessionell“ oder konfessions¨ ” ” oder als Beispiel f¨ ur interkommunit¨are Beziehungen untersucht. Beispiele sind Studien u ¨ber das Alltagsleben in einem gemischtkonfessionellen Dorf (s. Peleikis 2001), gemischtkonfessionellen Ehen (s. Weber 2005) und in dem kosmopolitischen Cafehaus-Leben im Beiruter Stadtteil al-H.amr¯a (s. Seidman 2012). Zudem weist Sami Baroudi (2000) darauf hin, dass in den meisten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen des Libanon ein konfessionelles Gleichgewicht” herrsche. Dies betrifft eher nachgeordnete Insti” tutionen und Baroudi betont, dass er mit seinem Hinweis auf das konfessionelle Gleich” gewicht” nicht die Bedeutung interkonfessioneller Konflikte und Wettbewerbe negieren wolle, aber diese Facette des libanesischen Konfessionalismus w¨ urde zu oft u ¨bersehen. Auf politischer Ebene werden auch die u ¨berkonfessionelle Allianz zwischen der Freien Patriotischen Bewegung und Hisbollah (s. Ilias 2010) und die Abweichung einiger schiitischer Gruppen und Aktivisten vom politischen Block 8. M¨arz (vgl. Weiss 2010: 226; s. c

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2 Forschungsstand

auch Smyth 2011; Di Ricco 2011: 82) thematisiert. Die Existenz solcher Gruppen wie des von Weiss erw¨ahnten Drittem Wegs” zeigt, dass die vorherrschende Lesart, wonach poli” tische Vorlieben allein durch die Konfession bestimmt w¨ urden und Konfessionen politisch homogen seien, br¨ uchig ist. 2.1.3 Zusammenfassung: Der Forschungsstand zu Konfessionalismus und Antikonfessionalismus Der libanesische Konfessionalismus ist Anlass f¨ ur eine Vielzahl von Debatten und Aktionen. Er wird sowohl als erkl¨arende als auch als zu erkl¨arende Variable und sowohl aus ideengeschichtlicher als auch aus politischer Perspektive behandelt. Diese Literatur betrachtet den Konfessionalismus zumeist sehr kritisch, etwa als Hindernis f¨ ur funktionierende Staatlichkeit und als Herrschaftsinstrument der Eliten. Diese Konfessionalismuskritik stellt zugleich den diskursiven Hintergrund dar, in dem aktuelle Proteste gegen den Konfessionalismus verortet sind. Die Thematik des Konfessionalismus bildet ein Paradigma, durch das der u ¨berwiegende Teil der Libanonforschung strukturiert wird. Politisches Handeln, das jenseits konfessioneller Logiken liegt oder aber sich diesen Logiken entgegensetzt, findet deutlich weniger R¨asonanz. So werden Organisationen und Kampagnen gegen den Konfessionalismus in der ¨ Literatur vereinzelt behandelt, ein systematischer Uberblick u ¨ber antikonfessionellen Aktivismus in der Zweiten Republik steht jedoch noch aus. Somit besteht ein Desiderat, die Strategien der Aktivisten zu untersuchen, aber auch den Kontext des Aktivismus: Einerseits die politischen Konstellationen in verschiedenen Phasen des Aktivismus, andererseits die Verortung der Aktivisten und ihre Bez¨ uge zu fr¨ uheren Aktionen und Organisationen. Diese Behandlung dieser Aspekte von auf Konfessionalismus bezogenem Handeln erfordert die Verwendung analytischer Konzepte, welche Dynamiken einer Protestbewegung in den Mittelpunkt r¨ ucken. Aus diesem Grund soll der antikonfessionelle Aktivismus im Libanon als soziale Bewegung” verstanden werden, f¨ ur dessen Analyse im Folgenden mit ” dem Forschungsstand zu Protestbewegungen die Grundlage geschaffen wird. 2.2 Protestbewegungen Eine Untersuchung der antikonfessionellen Protestbewegung ist einzubetten in die vorhandene Forschung zu Protestbewegungen in der Region und zu sozialen Bewegungen im Allgemeinen. Der Forschungsstand soll hier gewissermaßen eingekreist werden: Zun¨achst werden Literatur u ¨ber soziale Bewegungen in Europa und Nordamerika sowie Literatur u ¨ber allgemeine Theorien sozialer Bewegungen besprochen, wobei vor allem die Ans¨atze ¨ ber¨ ucksichtigt werden, die f¨ ur diese Arbeit relevant sind. Darauf folgen Uberblickskapitel u ¨ber Literatur zu Protestbewegungen in Nahen und Mittleren Osten und schließlich im Libanon. 2.2.1 Soziale Bewegungen Die Forschung zu sozialen Bewegungen ist vielf¨altig, umfassend und traditionsreich. Die unz¨ahlige Literatur zu sozialen Bewegungen wird in einigen Werken f¨ uhrender Bewegungsforscher umfassend res¨ umiert, beispielsweise bei Della Porta und Diani (2006) und Snow, Soule und Kriesi (2004b). Die Eingrenzung, welche Prozesse und welche Akteure als soziale Bewegung bezeichnet werden k¨onnen, ist heterogen und wurde in der Geschichte

2.2 Protestbewegungen

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der Bewegungsforschung ausgeweitet. Snow, Soule und Kriesi versammeln in ihrem Sammelband verschiedenartige Ans¨atze und bieten zu deren Integration eine breite, inklusive Definition: [S]ocial movements can be thought of as collectivities acting with some degree of organization and continuity outside of institutional or organizational channels for the purpose of challenging or defending extant authority, whether it is institutionally or culturally based, in the group, organization, society, culture, or world order of which they are a part. (Snow, Soule und Kriesi 2004a: 11) Diese breite Definition erlaubt, Modelle aus der Bewegungsforschung auch auf diffuse Protestakteure und -aktionen anzuwenden, ohne dies durch definitorische Verengungen zu entwerten. Ebenso vielf¨altig wie die Abgrenzungen des Gegenstands soziale Bewegungen” sind ” ¨ auch die theoretischen Ans¨atze zu seiner Analyse. Uberlappungen gibt es zu verwandten Konzepten, etwa Partizipation und Staatsb¨ urgerschaft, wobei letzterer Begriff hier nicht im Sinne von Nationalit¨at und Staatsangeh¨origkeit gemeint ist, sondern im Sinne des englischsprachigen Begriffs citizenship und des franz¨osischen citoyennet´e, die auf den autonomen B¨ urger“ referieren, der sich autonom vom Staat und unter Inanspruchnahme ” seiner B¨ urgerrechte im Gemeinwesen bet¨atigt (Balibar, zitiert nach Celikates 2010a: 64). Um die zahlreichen, teils widerspr¨ uchlichen, teils komplement¨aren Ans¨atze zu Theorien sozialer Bewegungen zu ordnen, entwerfen Hellmann und Koopmans (1998) eine u ¨bersichtliche Typologie. Demnach fokussieren ¨altere Ans¨atze auf strukturelle Spannun” gen”, also auf die einer sozialen Bewegung zugrunde liegenden Missst¨ande. Bez¨ uglich der neueren Ans¨atze, die u ¨ber die Untersuchung der Missst¨ande hinausgehen und den Moment der Bewegung selbst in den Blick nehmen, unterscheiden sie die Paradigmen in zwei Dimensionen: Konstruktivistische versus strukturalistische und nach innen versus nach außen gerichtete Ans¨atze. Unter die ins Innere der Bewegungen gerichteten Ans¨atze fassen sie Kollektive Identit¨at” (konstruktivistisch) und Ressourcenmobilisierung” (struktura” ” listisch). Unter die nach außen gerichteten Ans¨atze fassen Hellmann und Koopmans das (konstruktivistische) Paradigma der Rahmung” [framing] und die (strukturalistischen) ” Politische Gelegenheitsstrukturen” (vgl. Hellmann 1998; Koopmans 1998). ” Diese Typologie der Paradigmen bezieht sich auf klassische Theorien sozialer Bewegungen und auf den Ansatz der neuen sozialen Bewegungen” (NSB), worunter typischerweise ” Umweltbewegung, Gay-Pride-Bewegung, Friedensbewegung und feministische Bewegung des 20. Jahrhunderts gefasst werden (s. Castells 2005; Kriesi 1996; Melucci 1980, 1989, 2001; Offe 1985; Polletta und Jasper 2001; Rucht 1994; Touraine 1985). Aufbauend auf Thesen von Melucci (1980), wurde das Thema unter anderem Mitte der 1980er Jahre in einer ganzen Ausgabe der Zeitschrift Social Research” theoretisiert (s. J. L. Cohen 1985; ” Melucci 1985; Offe 1985). In ihrer Geschichte sozialer Bewegungen beschreiben Tilly und Wood, wie Theoretiker der NSB diese charakterisieren: From reactions to 1968’s conflicts in the United States and elsewhere developed the idea that old” social movements on behalf of power for workers ” and other exploited categories had passed their prime. New” social move” ments oriented to autonomy, self-expression, and the critique of postindustrial society, many observers thought, were supplanting the old. (Tilly und Wood 2012: 70)

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2 Forschungsstand

Im Umfeld US-amerikanischer Autoren um Charles Tilly, Sidney Tarrow und Doug McAdam wurde seit den 1990er Jahren das Konzept contentious politics eingef¨ uhrt. Dieser Ansatz versucht, die verschiedenen beschriebenen Paradigmen der Bewegungstheorien zu integrieren. Zudem l¨ost der Ansatz die starre Abgrenzung des Bewegungsbegriffs auf: Zum einen zwischen unterschiedlichen Arten von Bewegungen, wie klassischen” und neuen” ” ” Bewegungen”, und zum anderen zwischen sozialen Bewegungen und anderen politischen Praktiken, etwa auf institutioneller Ebene (s. McAdam, McCarthy und Zald 1996a; McAdam, Tarrow und Tilly 2001; Rucht 1998; Tarrow 2005, 2011; Tilly 2008; Tilly und Wood 2012). Soziale Bewegungen sind aus dieser Perspektive eine m¨ogliche Form von contentious politics, also nicht grundlegend qualititativ anders als andere Formen (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 5). In der Literatur zu sozialen Bewegungen, NSB und contentious politics werden, mit variierender Gewichtung, mehrere Aspekte von Bewegungen diskutiert. Insbesondere Theoretiker der contentious politics betonen, dass erst die Verkn¨ upfung der Ereignisse es erlaubt, den Verlauf der Bewegung zu betrachten. Es sei notwendig, die statische Sicht auf Bewegungen zu u ¨berwinden und nicht nur den Entstehungsmoment und die charakteristischen Eigenschaften einzelner Bewegungen zu untersuchen, sondern vor allem auch ihre Dynamiken zu beachten (s. Diani 2004; Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; McAdam, McCarthy und Zald 1996a; McAdam, Tarrow und Tilly 2001; Tarrow 1998, 2011; Tilly 2008). Sidney Tarrow (1989, 1991, 1998) hat hierzu das Konzept der Protestzyklen” entwickelt. ” Dabei fasst er einzelne Ereignisse” (Tarrow 1998: 55ff.) in Zyklen zusammen und bezieht ” die Zusammenh¨ange zwischen diesen Ereignissen wie auch zwischen den Ereignissen und weitere Entwicklungen, die parallel zu den Protesten geschehen, in die Analyse ein (vgl. ¨ Tarrow 1998: 55ff.). Ahnliche Analyseinstrumente sind die Konzepte der Wellen” (vgl. ” Koopmans 2004: 21) und Episoden” (McAdam, Tarrow und Tilly 2001; s. auch Kriesi ” 2004; Tarrow 2006, 2011; Tilly 2008), Della Porta und Diani (2006) unterscheiden methodisch zwischen Zyklen, Wellen und Kampagnen. Bewegungsforscher haben mehrere Ver¨anderungsprozesse isoliert, die w¨ahrend einer Bewegung geschehen. Sie beziehen sich einerseits auf die Positionierung der Bewegungsakteure gegen¨ uber staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Institutionen (Della Porta und Tarrow 1986), und andererseits auf Transformationen innerhalb der Bewegung (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314; s. auch Tarrow 2006; Della Porta und Diani 2006: 151). Sowohl bei statischer als auch bei dynamischer Analyse von sozialen Bewegungen wurde vorgeschlagen, mehrere analytische Ebenen zu trennen. So haben Tilly (1978) und Kriesi (1989) den sinnvollen Vorschlag gemacht, zur Operationalisierung sozialer Bewegungen zwischen drei Ebenen zu unterscheiden: Akteure, Aktionen und Themen. Diese werden analytisch getrennt, aber von einigen Autoren wieder in einen urs¨achlichen Zusammenhang gesetzt, etwa dahingehend, dass Organisationsstrukturen die Wahl von Aktionsformen beeinflussten (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 275). Wie Dieter Rucht (2004: 212) beispielhaft betont, wird mit der Untersuchung von Akteuren und Akteurskonstellationen innerhalb von Bewegungen die Vorstellung einer homogenen Bewegung als black box verworfen, um den Blick freizugeben auf das komplexe Innenleben von Bewegungen. Die sichtbarsten Akteure innerhalb von sozialen Bewegungen sind Bewegungsorganisationen, also Parteien, NGOs, B¨ urgerinitiativen, Studentengruppen uvm. (vgl. Della Porta und Diani 2006; Klandermans 1989b; Kriesi 2004; McAdam,

2.2 Protestbewegungen

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McCarthy und Zald 1996b; Rucht 2004; Tarrow 2005). Bereits der Ressourcenmobilisierungs-Ansatz erhob Bewegungsorganisationen zum zentralen Forschungsgegenstand. Auch der NSB-Ansatz thematisiert die speziellen Merkmale von Organisationen (vgl. Rucht 1996: 193f.). Organisationsformen innerhalb von Bewegungen wurden in unterschiedlicher Weise klassifiziert, in der Regel nach dem Grad ihrer formalen Institutionalisierung: Rucht (1996) unterscheidet die Modelle Graswurzel, Interessengruppe und Partei. Auch Della Porta und Diani (2006) unterscheiden professionelle Organisationen”, deren Arbeit ” haupts¨achlich von bezahltem Personal geleistet wird, von partizipatorischen Organisa” tionen”, deren Aktivisten nicht bei der Organisation angestellt sind. Verglichen mit den Organisationsstrukturen von Bewegungsorganisationen hat die Beziehung dieser Organisationen untereinander weniger Aufmerksamkeit erfahren. Soziale Bewegungen werden als Netzwerke beschrieben (Neidhardt 1985: 197; zitiert nach Rucht 2004: 202; Della Porta und Diani 2006: 157ff.). Rucht untersucht die Binnenstruktur sozialer Bewegungen, einerseits mit Blick auf Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen des Bewegungsnetzwerks (Rucht 2004) und andererseits mit der Frage nach Einfl¨ ussen der bewegungsexternen Kontextstruktur” auf die Binnenstruktur (Rucht 1996: 191ff.). Auch ” die Beziehung zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen wurde thematisiert. Meyer und Whittier (1994) haben hierzu den Begriff movement spillover gepr¨agt und untersucht, inwiefern Bewegungen nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sondern dass zahlreiche Interaktionen zwischen Bewegungen und zwischen einzelnen Elementen verschiedener Bewegungen erkennbar sind. Die Aktionen sozialer Bewegungen wurden als Protest” eingeordnet und somit von ” den Aktionsformen der formalen und staatlichen Politik abgegrenzt (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 263). Im Zuge dieser Abgrenzung hat Michael Lipsky (1968) darauf hingewiesen, dass Protest eine Ressource der Machtlosen” ist. Jaques Ranci`ere (2002) f¨ uhrt ” ¨ diesen Gedanken noch weiter, wenn er die Kategorie der Anteillosen” einf¨ uhrt. Ahnlich ” ´ argumentiert Etienne Balibar, wenn er die Politik der Verfassung” von der Politik des ” ” Aufstands” unterscheidet (Balibar 1993: 113; s. auch Celikates 2010a; s. 2.3). Die Forschung zu verschiedenen Formen von Protest erfuhr in den 1960er Jahren eine Erneuerung, als vor allem Autoren der NSB Listen der von NSB verwendeten Aktionsformen erstellten. Hierzu z¨ahlen etwa Petitionen, Versammlungen, Streiks, M¨arsche und Demonstrationen, Boykotte, Besetzungen, Sit-Ins und ziviler Ungehorsam (vgl. z.B. Della Porta und Tarrow 1986; Melucci 2001). Diese wurden auch unter dem Begriff direk” te Aktionen” oder direkte Partizipation” diskutiert, womit politische Aktionen gemeint ” sind, die nicht mit dem Staat kooperieren, sondern gegen den Staat intervenieren (vgl. Graeber 2004: 203; J. L. Cohen 1985; Taylor und Van Dyke 2004). Einen ausf¨ uhrlichen Katalog gewaltfreier politischer Aktionen hat der Aktivist und Sozialforscher Gene Sharp (2012) erstellt. Sein Beitrag wurde zum Handbuch f¨ ur Aktivisten in der ganzen Welt und ist allein schon durch seinen Umfang wertvoll, wenn auch die Analyse vom Aktivismus u ¨berdeckt wird. F¨ ur Untersuchungen, bei denen die Dynamik von Aktionsformen nicht am Rand, sondern im Zentrum der Fragestellung steht, stellen Charles Tillys Konzepte der performances und repertoires of contention einen Meilenstein dar (s. Tilly 1979, 2005, 2008). Tilly betont sowohl die Standardisierung von Aktionsformen als auch die M¨oglichkeiten ihrer Neukombination und der Diffusion von Aktionsformen zwischen verschiedenen Akteuren.

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2 Forschungsstand

Dies bedeutet eine enorme Ausdifferenzierung des Blicks auf Aktionsformen sozialer Bewegungen, da Tilly verschiedenste Formen als qualitativ eigenst¨andig, aber prinzipiell vergleichbar behandelt. Fr¨ uhere Literatur, in der die Merkmale verschiedenartiger Aktionsformen diskutiert wurde, bezog sich vor allem auf die Unterscheidung von zwei Klassen von Aktionsformen: Gewaltfreie und gewaltt¨atige. Die damit verbundene Frage war die nach den Bedingungen, unter denen es zu gewaltt¨atigen Protesten kommt (s. Della Porta und Tarrow 1986; Melucci 2001). An anderen Stellen wird als Unterscheidungskategorie zwischen Protestformen die Dimension des hohen oder niedrigen Risikos herangezogen (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 270ff.). Ein weiterer Vorschlag, angewandt von den Theoretikern der NSB, ist die Unterscheidung nach Strategie-Orientierung” oder Iden” ” tit¨ats-Orientierung” (Taylor und Van Dyke 2004: 266; J. L. Cohen 1985). Ausf¨ uhrlich diskutiert werden auch Fragen danach, inwieweit die Wahl der Aktionsformen mit den Zielen der Akteure verbunden ist. Celikates und Jaeggi (2006) weisen in Anlehnung an Balibar (1993) darauf hin, dass Themen in unterschiedlichem Maß als u urlich” gelten oder in den Bereich ¨berhaupt verhandelbar gelten. Zust¨ande, die als nat¨ ” des Privaten” verwiesen werden, sind nicht Gegenstand politischer Steuerung und es ” herrscht Uneinigkeit, ob in diesen Bereichen u ¨berhaupt politische Ziele formuliert werden k¨onnen. Della Porta und Diani (2006: 170ff.) gehen auf Logiken” von Protesten ein. Auch ” die politische Effektivit¨at von Aktionsformen wird diskutiert, besonders mit Blick auf die neueren Formen. Um diese Debatte zu ordnen, schl¨agt Staggenborg die Unterscheidung in drei Klassen von Ergebnissen vor, die eine Bewegung erzielen kann: Politische Ergeb” nisse”, Mobilisierungsergebnisse” und kulturelle Ergebnisse” (Staggenborg 1995; zitiert ” ” nach Taylor und Van Dyke 2004: 278ff.). Kulturelle Ergebnisse sind nicht auf Kooperation mit dem Staat ausgerichtet und k¨onnen somit auch keine Gesetzes¨anderungen u ¨ber parlamentarische Prozesse erreichen oder ¨ahnliches.4 Die Effekte von Bewegungen best¨ unden demnach in der Schaffung von Bewusstsein f¨ ur die Problematik, von einer Gruppenidentit¨at der Aktivisten sowie wachsender Legitimit¨at alternativer politischer Kan¨ale (vgl. Gundelach 1989: 439f.), aber auch ˇ zek 2001: 310ff. s. auch Heil darin, als Akteur u ¨berhaupt erst sichtbar zu werden (vgl. Ziˇ ¨ 2010). Ahnliches wurde f¨ ur die Organisationsformen einer Bewegung konstatiert, und zwar sowohl mit Blick auf NSB (s. J. L. Cohen 1985: 670, 689) als auch auf die globalisierungskritische Bewegung (s. Graeber 2004: 212). Obwohl Theorien sozialer Bewegungen im allgemeinen differenzierte Ans¨atze zur Erforschung verschiedener Aspekte von Protestbewegungen bieten, ist allerdings festzuhalten, dass diese bisher kaum auf die Region des Nahen und Mittleren Osten bezogen wurden. 2.2.2 Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten Die skizzierten Debatten u ¨ber soziale Bewegungen, in denen die entsprechenden Theorien geformt wurden, bezogen sich vor allem auf Europa und Nordamerika. Auch L¨andervergleiche (s. Klandermans 1989a; Koopmans 2004; McAdam, Tarrow und Tilly 2001; Tarrow 2005) beziehen in der Regel keine Beispiele aus dem Nahen und Mittleren Osten mit ein. Dennoch liegt durchaus betr¨achtliche Literatur u ¨ber Protestbewegungen in der Region vor, in der allerdings nicht unbedingt explizit u ¨ber soziale Bewegungen” geforscht, sondern die ” 4

Besonders bez¨ uglich der kulturellen Ergebnisse” ist festzustellen, dass viele Autoren, die diese ” ˇ zek, Mitglieder oder Sympathisanten der jeweils Debatte f¨ uhren, etwa Gene Sharp und Slavoj Ziˇ besprochenen Bewegungen sind.

2.2 Protestbewegungen

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in der entsprechenden Literatur h¨aufiger genannten Analysekategorien lauten Partizipation, Zivilgesellschaft, Aktivismus, Protest, Opposition o.¨a. Somit zeigt sich im Bereich der Bewegungsforschung die weit verbreitete Annahme eines nah¨ostlichen Exzeptionalismus, demzufolge sozialwissenschaftliche Modelle regionenspezifisch seien. Es ist der Verdienst zweier herausragender Sammelb¨ande (s. Vairel und Beinin 2011; Wiktorowicz 2004), die systematische Verkn¨ upfung dieser beiden Welten der Bewegungsforschung anzugehen und sich um Weiterentwicklung durch gegenseitige Inspiration zu bem¨ uhen. Die Aufs¨atze in Islamic activism. A social movement theory approach” (Wikto” rowicz 2004) analysieren F¨alle von islamistischem Aktivismus in der gesamten Region als soziale Bewegungen. Dabei geht es weniger um die Anwendbarkeit der Theorien, sondern vielmehr um die Verwendung einzelner Ans¨atze als Analyseinstrumente. In Social mo” vements, mobilization, and contestation in the Middle East and North Africa” (Vairel und Beinin 2011) wird ein breiteres Bild von Aktivismus in der Region gezeichnet, indem sowohl islamistische Bewegungen als auch Arbeiterbewegungen und Aktivismus f¨ ur Menschen- und Frauenrechte diskutiert werden. Der Band hat den Vorteil, dass er mit seinem Erscheinungsdatum 2011 hochaktuell ist, aber noch nicht den verengten Blick vieler ab 2011 entstandener Publikationen aufweist, in denen jegliche soziale Bewegungen und Proteste in der Region in engem Zusammenhang mit dem Arabischen Fr¨ uhling” ” gesehen werden. Beinin und Vairel weisen in der Einleitung zu ihrem Sammelband darauf hin, dass in den Vorst¨oßen, Theorien sozialer Bewegungen zur Analyse von islamistischen Bewegungen in der Region zu verwenden, vor allem deren Anwendbarkeit” belegt wer” den sollte und es an Differenzierung und an kritischer Modifizierung mangele (vgl. Beinin und Vairel 2011: 3). In Abgrenzung davon betonen Beinin und Vairel, dass die zahlreichen Ans¨atze der Theorien sozialer Bewegungen differenziert verwendet werden m¨ ussen. Auch warnen sie vor der Einordnung von Bewegungen in der Region als einheitlich, exzeptionalistisch oder the stereotypical and contradictory images provided by al-Qa’ida on ” the one hand and the participation of civil society through NGO’ mantra on the other” ’ (Beinin und Vairel 2011: 18). Vielmehr betonen sie eine Notwendigkeit, die eigentlich als selbstverst¨andlich gelten m¨ usste, aber ihren Beobachtungen nach allzu oft vergessen wird, n¨amlich dass auch die jeweils spezifischen Kontexte der Analyse bed¨ urfen. Jenseits von der Anwendung” der im Kontext europ¨aischer oder nordamerikanischer ” Bewegungen entwickelten Theorien haben sich in der Erforschung von Protesten im Nahen und Mittleren Osten einige Debatten entwickelt, welche sich direkt auf die Region beziehen. Ein viel beachteter theoretischer Ansatz zu sozialen Bewegungen, der sich auf die Region bezieht, ist Asef Bayats Konzept der Nichtbewegungen” (Bayat 1997, 2010b; deutsche ” ¨ Ubersetzung: Bayat 2012). Die grundlegenden Annahmen und Ausgangspunkte des Konzepts sind von den oben genannten Ans¨atzen ein St¨ uck entfernt. Nichtbewegungen werden wie folgt von Bewegungen unterschieden: Sie sind spontan, angetrieben von individuellem statt kollektivem Handeln, es geht um Handlungen und nicht um Bedeutungsdiskussionen, und sie entstehen aus sich selbst heraus anstatt durch Mobilisierungsstrategien (vgl. Bayat 1997: 56f.). Das Konzept der Nichtbewegungen setzt an einem Zeitpunkt vor der Formierung einer eigentlichen sozialen Bewegung an. Beispiele sind informelle Siedlungen und informelle Straßenh¨andler, die massenhaft gegen Gesetze verstoßen, um ihren Alltag meistern zu k¨onnen, aber nicht organisiert sind. Es handelt sich also um kollektives ” Handeln nicht-kollektiver Akteure” (Bayat 2010b: 14), die nicht die Intention haben, Po”

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2 Forschungsstand

litik zu machen”, bis sie mit der Staatsmacht in Konflikt geraten. Erst im Moment des Konflikts mit den Institutionen wird den Akteuren die latent politische Qualit¨at ihres Handelns bewusst und eine soziale Bewegung kann sich entwickeln. ¨ Bayat schließt an Uberlegungen u ¨ber politische Partizipation an, bei denen explizit auch politische Beteiligung jenseits von staatlichen Institutionen bedacht werden. So unterscheidet Sari Hanafi (2010: 152ff.) drei Ebenen von politischem Handeln: Diese sind erstens die staatliche (oder formal-politische) Ebene und zweitens die Interaktion zwischen Staat und (organisierter) Zivilgesellschaft, also zwei Ebenen, f¨ ur die formale Organisationen eine zentrale Rolle spielen, und drittens die Ebene des nicht-institutionellen Protestierens”, ” das unstrukturiert” und außerhalb formaler Institutionen” stattfindet. ” Politik- und Sozialwissenschaftler weisen darauf hin, dass Politik unterhalb der staatlichen Ebene in der Forschung lange vernachl¨assigt wurde, da die Forschung auf Regime fokussierte (vgl. Harders 2009: 300; Singerman 1995: 3-6), und diese Missachtung von sub-staatlichen politischen Praktiken auch daraus resultiert, dass diese per se als unmo” dern” und somit nicht als Arena von politischem Wandel analysierbar abgetan wurden (vgl. Hanafi 2010: 159). Die Frage, welche Praktiken als politische Partizipation gelten k¨onnen, wird in dem Sammelband Political Participation in the Middle East” (Lust-Okar und Zerhouni 2008; ” s. auch S. Cohen 2004; Khalili 2009) kontrovers diskutiert. Zwei Positionen stehen sich ¨ gegen¨ uber: Die eine wird vertreten von Holger Albrecht, der, in Ubereinstimmung mit den meisten oben genannten Bewegungsforschern und in Anlehnung an Samuel Huntington, Partizipation” durch das Kriterium der Absicht, Regierungspolitik zu beeinflussen, ” definiert (vgl. Albrecht 2008: 17). Partizipation in diesem Sinne ist im Nahen und Mittleren Osten vor allem Sache der Eliten. Im Gegensatz dazu bezeichnet Alhamad (2008: 35f.) auch solche Praktiken als Partizipation”, die auf den ersten Blick unpolitisch” ” ” sind. Solche Praktiken zielen nicht darauf ab, formal-politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen, und werden auch von gew¨ohnlichen Leuten” ausge¨ ubt. Alhamad schließt ” ¨ mit ihrem Partizipations-Konzept an Uberlegungen von Asef Bayat, Diane Singerman und Cilja Harders an, wobei vor allem die beiden letztgenannten Autorinnen ihre Thesen mit Bezug auf Kairo entwickelt haben. Harders (2002: 47) versteht unter Partizipation” ” auch [u]nkonventionelle Partizipationsformen wie [...] Mitgliedschaft in Selbsthilfeorga” nisationen”. Ganz im Sinne von Asef Bayat stellt sie fest, dass marginalisierte Gruppen informelle Handlungsspielr¨aume nutzen, wenn sie etwa illegal bauen, handeln oder Leitungen anzapfen (vgl. Harders 2002: 169-170). In diesem Sinne weist auch Diane Singerman Partizipationskonzepte, die das Kriterium der Intendiertheit ins Zentrum stellen, explizit zur¨ uck, indem sie in ihrer wegweisenden Monographie Avenues of Participation” fest” stellt: The important variable in this discussion is not whether a man or woman intends” to act politically but whether his or her actions, individually and ” cumulatively, actually influence the political order, the distribution and redistribution of public goods and services. (Singerman 1995: 7) Diese politischen Praktiken, Proteste und Teilhabestrategien werden auch mit Blick auf die Frage untersucht, inwieweit Zivilgesellschaft und Partizipation unter autorit¨aren Bedingung m¨oglich sind (s. Albrecht 2010; Harders 2009; Lust-Okar und Zerhouni 2008; Singerman 1995). Bereits Scott (1990), auf den sich Harders bezieht, untersuchte mit seinem Konzept der hidden transcripts Formen von Widerstand unter Bedingungen von

2.2 Protestbewegungen

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Unterdr¨ uckung. Gerade unter autorit¨aren Bedingungen, in denen offene Proteste unterdr¨ uckt werden, seien informelle, verdeckte und symbolische Formen der Partizipation” ” (Harders 2011: 11) f¨ ur das Verst¨andnis des politischen Felds relevant. F¨ ur nicht-staatliche Gruppen – von urbanen Gemeinschaften bis zu Bewegungen – setzt der Staat die Bedingung f¨ ur jegliche Praktiken, die aber flexibel mal verwendet und mal umgangen werden (vgl. Singerman und Amar 2006: 10). Harders (2008: 1) verkn¨ upft diesen flexiblen Umgang mit staatlichen Normen mit Aussagen zu einer Ver¨anderungen in der politischen ” Kultur”. Diese resultiere auch in vielf¨altiger und neuer politischer Mobilisierung” (Har” ders 2008: 1, s. auch 4). Diese neuen Formen der politischen Teilhabe” (Harders 2008: ” 3) bzw. neuen Politikformen” (Harders 2008: 4) fanden durchweg außerhalb der forma” len Politik statt und umfassten auch soziale Gruppen, die von der Teilhabe an formaler Politik ausgeschlossen waren (vgl. Harders 2008, 2009; Singerman und Amar 2006). Protestbewegungen in der Region werden zudem auch als Artikulationen von Zivilge” sellschaft” behandelt (z.B. Ben N´efissa, Hanafi u. a. 2005; Hamzawy 1998; Hegasy 2010). Dieser Begriff ist allerdings stark normativ aufgeladen: W¨ahrend Intellektuelle und Sozialwissenschaftler, obgleich unterschiedlich akzentuiert, den Begriff der Zivilgesellschaft zunehmend thematisieren, u ¨berh¨ohen Menschenrechtler und lokale Mitarbeiter der nichtstaatlichen Organisationen diesen zur magischen Antwort auf alle Probleme und negativen Symptome der arabischen politischen Systeme. (Hamzawy 1998: 405; s. auch Beinin und Vairel 2011: 18; s. o.) ¨ Weitere f¨ ur Protestbewegungen in der Region relevante Uberlegungen finden sich in Diskussionen um u ber-ideologische Kooperation und um die Moderationsthese, derzufolge ¨ politische Akteure ihre Ansichten mit dem Eintritt in staatliche Institutionen m¨aßigen. Die Debatte darum hat Jillian Schwedler in einem 2011 erschienen Artikel u ¨bersichtlich geordnet (s. Schwedler 2011: 348). F¨ ur den Nahen und Mittleren Osten wurde die Moderationsthese fast ausschließlich mit Blick auf Islamisten diskutiert. Theoretisch inspiriert ist die Debatte durch ¨ahnlich gelagerte Forschung u ¨ber Parteipolitik (vor allem im ” Westen)”, bei denen ebenfalls die Integration radikaler Parteien ins politische System beobachtet wurde (Schwedler 2011: 348). Dabei geht es nicht immer um Demokratisierung, wie Schwedler herausstellt: Outside of the democratic transitions literature, the terms moderate and radical are used more generally to reflect an actor’s position vis-`a-vis the existing political (or economic or social) system or practices. Moderates are conventionally those who seek gradual change by working within the existing political system; radicals, by contrast, seek to overthrow that system in its entirety. (Schwedler 2011: 350) Auch die empirischen Fallbeispiele, anhand derer Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten besprochen werden, unterscheiden sich von den paradigmatischen F¨allen europ¨aischer und amerikanischer Theorien sozialer Bewegungen. Beinin und Vairel (2011) nennen die islamische Revolution in Iran von 1979, die Protestwelle 2005 und den Arabi” schen Fr¨ uhling” 2011 als Z¨asuren, anhand derer wichtige Impulse f¨ ur die nah- und mitte5 lostbezogene Bewegungsforschung gesetzt wurden. So stieg das Interesse an islamistischen 5

Auch in Literatur zu anderen Themen werden Protestbewegungen erw¨ahnt, sie sind dann aber

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2 Forschungsstand

Organisationen und Bewegungen nach 1979 an. Die umfangreiche Islamismus-Literatur soll an dieser Stelle nicht ersch¨opfend behandelt werden, da der Forschungsgegenstand Islamismus” sich mit dem Gegenstand dieser Arbeit, der antikonfessionellen Bewegung, ” ¨ kaum u zum Islamismus, die, wie die Moderationsthese, auch ¨berschneidet. Uberlegungen f¨ ur s¨akularen und antikonfessionellen Aktivismus relevant sind, wurden oben angespro¨ chen. Zu der Protestwelle des Jahrs 2005 z¨ahlen die Kefaya-Bewegung in Agypten, die Massenproteste gegen die syrische Besatzung im Libanon, die Damaskus-Erkl¨arung in Syrien sowie die in mehreren L¨andern abgehaltenen Solidarit¨atskundgebungen mit Pal¨astina und Irak (vgl. Hanafi 2010: 157). Diese Ereignisse zogen unbestreitbar einen Anstieg von Ver¨offentlichungen zu sozialen Bewegungen in der Region nach sich, aber Beinin und Vairel ¨ weisen zu Recht darauf hin, dass dabei generalisierende und vergleichende Uberlegungen, die u ¨ber einzelne Staaten und Bewegungen hinausgingen, vor allem von Journalisten angestellt wurden (vgl. Beinin und Vairel 2011: 7). In sozialwissenschaftlichen Publikationen wurden, anders als es sechs Jahre sp¨ater mit Bezug auf den Arabischen Fr¨ uhling” der ” Fall sein sollte, kaum l¨ander¨ ubergreifende verallgemeinernde Hypothesen generiert. Unter den einzelnen nationalen Bewegungen erfuhr Kefaya besondere Aufmerksamkeit und Begeisterung. Al-Sayed (2009: 49) kommt zu dem Schluss, dass das Schrumpfen von Kefaya auf bewegungsinternen Strukturen und Strategien zur¨ uckzuf¨ uhren sei. Die Entt¨auschung, mit der er die Kontraktion der Protestwelle beschreibt, ist beispielhaft: Kefaya started with the aim of becoming an all/inclusive social movement during a soft phase of an authoritarian political system but ended up becoming a social movement limited to a small group of militants, mostly middle class intellectuals. (Al-Sayed 2009: 47) Die verschiedenen Proteste von 2005 werden punktuell auch dann erw¨ahnt, wenn allgemeine Themen des Aktivismus im Nahen und Mittleren Osten besprochen werden, etwa Fragen nach Aktivismus unter autorit¨aren Bedingungen, Demokratisierungspotenziale der Region oder unkonventionelle Partizipationsformen (s. Lust-Okar und Zerhouni 2008). Stellenweise wurden mit Blick auf die Protestwelle von 2005 Entwicklungen in den Konfigurationen sozialer Bewegungen in der Region festgestellt, die wenige Jahre sp¨ater mit Blick auf den Arabischen Fr¨ uhling” breit diskutiert werden sollten (z.B. Hanafi 2010: ” 157ff. Bayat 2010a: 7, 2010a: 3; s. auch Duboc 2011). Proteste zwischen 2006 und 2011 waren dann wieder weniger sichtbar, auch wenn dennoch eine gewisse Persistenz der Proteste bestand (vgl. Harders 2008). Die große Welle an Literatur zu Protesten im Nahen und Mittleren Osten wurde dann ab 2011 von den h¨aufig als Arabischer Fr¨ uhling” bezeichneten Massenprotesten und ” Umbr¨ uchen in mehreren L¨andern der Region ausgel¨ost. W¨ahrend manche Publikationen ¨ sich auf Agypten oder, seltener, Tunesien konzentrieren, haben andere den umfassenderen Anspruch, die arabische Welt im Ganzen zu behandeln.6 Ein Teil dieser Literatur

6

h¨ aufig nicht Gegenstand der Analyse, sondern z.B. Indikator f¨ ur politische Instabilit¨at (so z.B. bei Sadiki 2000). Insbesondere letztere leiden streckenweise an der Selektivit¨ at der Empirie oder an einem Mangel an Methodik. Viele der zum Arabischen Fr¨ uhling” erschienenen Werke sind zudem eher dem ” journalistischen Bereich oder der Popul¨ arwissenschaft zuzuordnen als der Forschungsliteratur – ein Problem, dass sich durch die verschwommenen Grenzen zwischen Alltagswissen und Fachwissen u ¨ber die Themen Gesellschaft und Politik zuweilen stellt, aber durch das enorme ¨offentliche Interesse am Arabischen Fr¨ uhling” hier in besonderem Maße auftritt. Nichtsdestotrotz liegt auch ”

2.2 Protestbewegungen

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untersucht das Verh¨altnis der Aufst¨ande zu den Staaten und Regimen. Sie betrachten die aufst¨andischen Akteure als black box, blicken also nicht in ihre inneren Strukturen, sondern fragen nach sozio¨okonomischen Hintergr¨ unden der Aufst¨ande, nach ihren (zuk¨ unftigen) Wirkungen auf die Regime, oder nach transnationalen spillover -Effekten (s. Asseburg o.D.; Harders 2011). Ein weiteres Thema ist die Vorgeschichte der Aufst¨ande, wobei darauf hingewiesen wird, dass die Aufst¨ande den Klimax einer l¨angeren Geschichte von ansteigenden Protesten und sich ver¨andernden Aktionsformen, Akteuren und Protestthemen darstellen (vgl. Hanafi 2012; s. auch Artikel in Beinin und Vairel 2011). Umfangreiche Literatur befasst sich mit den neuen Kommunikationstechnologien, die 2011 zum Einsatz kamen. Hier wird der Beginn des Untersuchungszeitraums nicht unbedingt auf 2010 festgesetzt, sondern es wird auf fr¨ uhere Arbeiten verwiesen, bei denen vor allem Medienwissenschaftler bereits in den Jahren zuvor die Wirkung von Satellitenfernsehen, Mobiltelefon und SMS, Internet und Web 2.0 auf Gesellschaft und Politik untersucht haben. Kontrovers diskutierte Fragen betrafen den Einfluss der Technik auf den Aktivismus und den digital divide innerhalb von Gesellschaften, also die sozio¨okonomischen Voraussetzungen f¨ ur die Teilhabe an neuen Kommunikationstechnologien (vgl. Asseburg 2011; Braune 2008, 2011; Desrues 2012; Harders 2011; Howard und Hussain 2011; Khamis und Vaughn 2011; Lynch 2007a,b; Lynch u. a. 2010; Richter 2007, 2011). Es wird allerdings u ¨berzeugend gezeigt, dass das euphorische Bild einer Facebook-Revolution” ” ein Mythos” ist (Braune 2011: 12). Dies ist teilweise auf die verzerrte Sicht der exter” nen Berichterstatter zur¨ uckzuf¨ uhren, die Internet und Web 2.0 als haupts¨achliche Quelle verwenden und diese R¨aume in der Folge u ¨berbewerten. In einer differenzierten Analyse zur Bedeutung des Internet in den ¨agyptischen Aufst¨anden zeigen etwa Khamis und Vaughn (2011) am Beispiel der Facebook-Gruppe Jugend des 6. April”, dass diese zwar ” online u ¨beraus sichtbar war, sich aber in deutlich geringerem Maße f¨ahig dazu zeigte, auch offline Proteste zu organisieren. Die Bedeutung von Internetkommunikation f¨ ur die Aufst¨ande sehen sie somit nicht direkt in Mobilisierungseffekten, sondern in der Etablierung eines kollektiven Bewusstseins u ¨ber oppositionelle Einstellungen (vgl. Khamis und Vaughn 2011: 4). Zudem reflektiere die Struktur von Internetkommunikation die Struktur der Proteste, da beides netzwerkartig sei (vgl. Khamis und Vaughn 2011: 23). Neuen Kommunikationstechnologien sind also, so auch der Tenor der weiteren Literatur, einer von vielen Kan¨alen der Mobilisierung, deren Auswirkungen nicht einfach abzutun sind, die aber letztlich von politischen Rahmenbedingungen abh¨angen (vgl. Asseburg 2011; Braune 2011; Richter 2011). Eine weitere breit diskutierte Frage ist, inwieweit die Proteste einen Bruch darstellen, inwieweit sie also eine neuartige Qualit¨at aufweisen. Vor dem Hintergrund der obigen Diskussion von Theorien sozialer Bewegungen ist bemerkenswert, dass viele der diskutierten Neuheiten” in den Strategien der Protestierenden deutliche Parallelen zu Strategi” en der neuen sozialen Bewegungen” in Europa aufweisen. So wird festgestellt, dass im ” Arabischen Fr¨ uhling” sowohl neue Mobilisierungsformen zum Einsatz kommen, als auch ” neue Themen gesetzt werden, n¨amlich W¨ urde, Freiheit und Gerechtigkeit (vgl. Harders 2011), und dass die Organisation der Proteste sich durch mehrere Zentren sowie durch eher flache und wenig sichtbare Hierarchien auszeichnet (vgl. Asseburg 2011; Khamis und Vaughn 2011). Verbunden mit den vorherrschenden dezentralen Organisationsformen der Bewegungen werden auch die Zugeh¨origkeiten der Aktivisten zu den vorhandenen Organisationen untersucht, die zunehmend flexibilisiert seien: I’m a member... and not a ” umfangreiche seri¨ose Literatur zum Arabischen Fr¨ uhling” vor. ”

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2 Forschungsstand

member” (Duboc 2011: 74; vgl. auch Hanafi 2012: 204). Ebenfalls Gegenstand von Diskussionen und Untersuchungen ist die Rolle von Ideologien im Arabischen Fr¨ uhling”. In seinem kenntnisreichen Essay Reflections on Ideology ” ” After the Arab Uprisings” stellt Sune Haugbolle (21.03.2012) fest, dass zwar die klassischen Ideologien der Region, also arabischer Nationalismus und Islamismus, als starre und einheitliche Referenzsysteme mit formalen Organisationen tats¨achlich an Bedeutung verloren haben. Daraus schließt er aber nicht voreilig auf eine allgemeine Ideologiefreiheit des Arabischen Fr¨ uhlings”, sondern schl¨agt im Anschluss an Bayat und Philosophen wie ” ˇ zek Ziˇ (2009b) und de Certeau (1988) vor, die ideologische Orientierung der Aufst¨ande als Ideologie des Alltagslebens” zu konzipieren. Auch Reinhard Schulze (2012) geht davon ” aus, dass die Aktivisten 2011 nicht mehr die Umsetzung einer bestimmten ideologisch vorgeschriebenen Norm” fordern. Vielmehr ginge es um weniger eng definierte Werte”, ” ” die sich aber bereits durch die Form der Protestaktionen direkt ¨außern. Hier spiegelt sich die im Abschnitt 2.2.1 besprochene These, wonach f¨ ur neue Aktivisten die Protestziele bereits mit der Durchf¨ uhrung der Proteste erreicht sind. Die Literatur zu den Protesten des Arabischen Fr¨ uhlings”, die nicht durch soziale und ” politische Transformationen angestoßen wurde, sondern einzelne Akteursgruppen untersucht, fokussiert vor allem auf NGOs und Jugendliche. Mit dem Boom von NGOs in der Region in den 1990er Jahren wurden sie zum Forschungsthema. Die heterogene NGO-Landschaft wurde verschiedentlich analytisch strukturiert, wobei die Unterscheidungskriterien je nach Fragestellung verschieden ausfallen. So wurden Klassifizierungen von NGOs als charity- und advocacy-NGOs (Ben N´efissa 2005) oder als islamische, wohlfahrtsorientierte, professionelle und Geber-gelenkte Organisationen vorgeschlagen (Bayat 2002; s. auch Carapico 2000: 14). Carapico (2000: 12) bemerkte in einer Themenausgabe von MERIP zu NGOs treffend, dass das Thema trendy und kontrovers” ist, und stellte zehn Jahre sp¨ater ebenso treffend, dass im Kon” text des Zivilgesellschafts-Diskurses auch NGOs in Teilen der Literatur als sine qua non ” f¨ ur demokratische Entwicklung” gesehen werden (Carapico 2010; so z.B. bei AbuKhalil 1997). Insgesamt wird die Frage nach dem Demokratisierungspotenzials von NGOs allerdings zunehmend skeptischer beantwortet (s. Ben N´efissa 2005; Carapico 2000; King-Irani 2000). Gest¨ utzt wird diese Einsch¨atzung etwa durch die Fallstudien und Theorieartikeln zu NGOs in mehreren L¨andern der Region, die in aktuelleren Sammelb¨anden erschienen sind (Ben N´efissa und Hanafi 2002; Ben N´efissa, Abd al-Fattah u. a. 2004; englische Version: Ben N´efissa, Hanafi u. a. 2005). Auch zeigen Hanafi und Tabar (2005) an Fall der Pal¨astinensischen Autonomiegebiete, also des Landes mit der gr¨oßten NGO-Dichte, dass der Boom von NGOs mit ausl¨andischer F¨orderung zu sozialen Verschiebungen f¨ uhrt, n¨amlich zur Herausbildung einer globalisierten Elite”, die nur schwach mit der lokalen ” Bev¨olkerung verbunden und zugleich von den Gebern abh¨angig ist. Zu Beginn des Arabischen Fr¨ uhlings” f¨allt dann die Abwesenheit der NGOs unter ” den Aktivisten auf, f¨ ur die nach Erkl¨arungen gesucht wird (vgl. Challand 2011: 274; s. auch Hanafi 2012; Bottici und Challand 30.10.2012; Abu-Sada und Challand 2011). Als Erkl¨arungsans¨atze f¨ ur die Abkehr politisch aktiver junger Menschen von NGOs nennen diese Autoren die Dominanz der globalisierten Eliten” und die Fragmentierung der ” NGO-Landschaft (Hanafi 2012: 203f.), aber auch den strukturellen Aufbau der NGOs (vgl. Challand 2011: 274). Die meisten NGO-Projekte h¨atten zudem die Produktion ak” tiver Staatsb¨ urger” zum Ziel gehabt, und eben nicht die Produktion radikaloppositioneller

2.2 Protestbewegungen

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aufst¨andischer Aktivisten (Abu-Sada und Challand 2011). Die andere Akteursgruppe des Arabischen Fr¨ uhlings”, die neben NGOs bisher h¨aufiger ” Gegenstand der Diskussion war, ist die Jugend. Schon in einem Sammelband von S. Khalaf und R. S. Khalaf 2011 erschienen Artikel u ¨ber Arabische Jugend und soziale Mobilisie” rung”. Aber erst mit dem Arabischen Fr¨ uhling” wurden Jugendliche regul¨ar als politi” sche Akteure wahrgenommen und die oben diskutierten sichtbar gewordenen Neuerungen im politischen Handeln wurden diesem neuen Akteur Jugend” zugeschrieben, so dass ” Jugendliche als Akteure des Widerstands” bezeichnet werden (Gertel, Ouaissa und Gan” seforth 2014: 28; s. auch Gertel und Ouaissa 2014; Hanafi 2012). In der Themenausgabe der Zeitschrift Mediterranean Politics” zum Thema Arab Youth and Politics”, die auf ” ” eine im M¨arz 2011 abgehaltene Konferenz zur¨ uckgeht, fasst Emma Murphy (2012a,b) die Diskussionen u unf Rahmungen [frames], unter ¨berzeugend zusammen und identifiziert f¨ denen diese Debatte lief: Als demographisches Problem des youth bulge; als ¨okonomisches Problem einer schlecht ausgebildeten und daher f¨ ur den Arbeitsmarkt schwer verwendbare Generation; als Problem der wartenden Generation”, die aus sozio¨okonomischen ” Gr¨ unden kein normales Erwachsenenleben mit Familiengr¨ undung und geregelten Beruf beginnen kann; als ein Objekt politischer Planung, die sich in Jugend-Surveys und JugendProgrammen nationaler und internationaler Organisationen niederschl¨agt; und als eine glokalisierte Generation mit fluiden Patchwork-Identit¨aten” (Murphy 2012b: 12). Emma ” Murphy schl¨agt vor, diese f¨ ur sich jeweils unzureichenden Ans¨atze zu kombinieren und Jugend als ein Generationen-Narrativ” im Sinne Karl Mannheims zu denken (Murphy ” 2012b: 6f., 16f. vgl. auch Desrues 2012). 2.2.3 Protestbewegungen im Libanon ¨ Es f¨allt auf, dass in Uberblickswerken und Sammelb¨anden zu Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten der Fall Libanon oftmals fehlt (so in Angrist 2010; Ben N´efissa, Hanafi u. a. 2005; Lust-Okar und Zerhouni 2008; Norton 1995, 1996; Wiktorowicz 2004). ¨ Erw¨ahnt wird er teilweise in Uberblicksb¨ anden zum Arabischen Fr¨ uhling” (z.B. AbiYaghi ” und Catusse 2014; Mikdashi 2013). An anderer Stelle wird der Libanon im Zusammenhang mit dem Arabischen Fr¨ uhling” eher als passiv gesehen, etwa wenn die seit 2011 stattge” fundenen Aufst¨ande in den Nachbarl¨andern in der Literatur zum Libanon als durch die ” Linse der Nebeneffekte der Syrischen Aufst¨ande [und des ’Arabischen Fr¨ uhlings’]” (Meier 2015: 176) gesehen werden (so z.B. im Sammelband von Felsch und W¨ahlisch 2016). Offenbar gilt der Libanon als Sonderfall, der f¨ ur die Generierung generalisierender Thesen eher ungeeignet w¨are. Wenn in einem Artikel oder einem Sammelband u ¨ber mehrere regionale Fallbeispiele ein libanesisches Fallbeispiel genannt wird, so betrifft dies in der Regel entweder Hisbollah (z.B. Shami 2009; Vairel und Beinin 2011) oder die Massenproteste gegen die syrische Besatzung 2005 (z.B. Bayat 2010b; Hanafi 2010, 2012). Diese beiden F¨alle stellen die in der Literatur sichtbarsten libanesischen Protestbewegungen dar, auch wenn in einem kleineren Teil der Literatur punktuell weitere F¨alle von Protesten im Libanon untersucht werden (verschiedene Beispiele werden etwa behandelt von AbiYaghi 2009, 2011; Karam 2002, 2005, 2006b, 2009; Kiwan 1993; Zuhur 2002). In der umfangreichen Literatur zu Hisbollah wird die Parteigeschichte ausf¨ uhrlich behandelt und es werden die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Partei nachgezeichnet. Dabei geht es um die Positionierung der Partei gegen¨ uber dem libanesischen Staat (s. Alagha 2006, 2009; J. P. Harik 2005; Mohns 2008; Norton 2009), um die Verortung

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2 Forschungsstand

der Partei innerhalb der schiitischen Gemeinschaft (s. Rosiny 1996, 2005; Shanahan 2005) und um die von der Partei vertretenen politischen Positionen und Ideologien (s. Alagha 2006; Atrisse 2007; Diehl 2011; Rosiny 1996, 2005). In aktuelleren Publikationen werden weiterf¨ uhrend die Beziehungen von Hisbollah zu anderen libanesischen Parteien untersucht, etwa die Allianz zwischen Hisbollah und der Freien Patriotischen Bewegung (s. Ilias 2010), die Beziehung zwischen Hisbollah und der Libanesischen Kommunistischen Partei (s. Dot-Pouillard 2009) oder allgemeiner zwischen schiitischen und sunnitischen islamistischen Organisationen im Libanon (s. Gambill 2007; Khashan 2011a). Ein weiteres Thema sind Fragen nach parteiinternen Strukturen und Praktiken, etwa die Studie zur Rolle von Frauen in verschiedenen Organen von Hisbollah (s. Baylouny 2011) und die vergleichende Untersuchung der politischen Mobilisierung von Wohlfahrtsempf¨angern bei Hisbollah und Mustaqbal (s. Cammett und Issar 2010). Zum libanesische Parteiensystem u ¨ber Hisbollah hinaus gibt es keine aktuellere Litera¨ tur als den umfassenden Uberblick u ¨ber das Parteiensystem der 1960er Jahre von Suleiman (1967) und den empfehlenswerten Artikel von el Khazen (2003) zum Parteiensystem der Nachkriegszeit. Die Rolle politischer Parteien in der Vorkriegszeit wird auch bei el Khazen (2000) und Hanf (1990) in einzelnen Kapiteln behandelt. Grund f¨ ur den geringen Umfang der Literatur zum Parteiensystem seit 1990 k¨onnte einerseits die Dominanz von Hisbollah in der Forschung sein, andererseits die Schw¨ache von Parteien im Vergleich mit anderen politischen Akteuren, die sich etwa im Fehlen eines Parteiengesetzes manifestiert (vgl. Ashtiyy 1997: 445f.). Zu einzelnen Teilen der Parteienlandschaft allerdings gibt es Literatur, so die oben genannten Artikel u ¨ber Allianzen zwischen Hisbollah und anderen Parteien, Parteien des linken Spektrums (s. el Khazen 2000: 73ff.) und den Bedeutungsverlust s¨akularer Parteien seit den 1970er Jahren (Grafton 2002) sowie Forschung zu einzelnen Parteien. Auch in den Sammelb¨anden M´etamorphoses des figures du leadership au Li” ban” (Catusse, Lamloun und Karam 2011) und Leaders et partisans au Liban” (Mermier ” und Mervin 2012) werden einzelne Personen und Parteien differenziert diskutiert. Artikulationen zwischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind zudem ein Thema in der Studie zur libanesischen Zivilgesellschaft von Karam Karam (2006b). Ausl¨oser f¨ ur eine Reihe von Publikationen zu zivilgesellschaftlichem Aktivismus im Libanon ab 2005 waren die Massenproteste f¨ ur den Abzug der syrischen Truppen, die durch den Mord an dem ehemaligen Ministerpr¨asidenten Rafiq Hariri ausgel¨ost wurden. Aktivisten hatten f¨ ur mehrere Wochen ein Protestcamp errichtet und veranstalteten Massendemonstrationen. F¨ ur diese Ereignisse pr¨agte die amerikanische Politikerin Paula J. Dobriansky den Begriff Zedernrevolution”, der in Presse und Berichterstattung ” h¨aufig u ¨bernommen wurde. Die Aktivisten selbst bezeichneten die Bewegung als Un” abh¨angigkeitsintifada” (intif¯ad.at al-istiql¯al ). Da beide Begriffe ideologisch gepr¨agt und normativ aufgeladen sind (vgl. Karam 2009: 63), werden sie hier im folgenden vermieden und es wird von Massenprotesten 2005” die Rede sein. ” Einige Autoren nehmen die u ¨berkonfessionelle Rahmung der Proteste zum Ausgangspunkt, den nach 2005 fortbestehenden und sogar verh¨arteten Konfessionalismus zu beklagen (s. Knio 2005; Young 2010). Andere diskutieren Ergebnisse von Feldforschung im Protestcamp: Shahwan (2012) liefert eine Chronologie der Ereignisse und eine kleine Umfrage zu Herkunft und Einstellungen der Aktivisten, Khatib (2009) diskutiert die verwischenden Grenzen zwischen ¨offentlichem und privatem Raum im Camp, Gahre (2011) portr¨atiert die Strategien der zentralen Aktivisten und Jaafar und Stephan (2009) beschreiben einzelne strategische Schritte.

2.2 Protestbewegungen

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Ein weiterer kleiner Schub von Publikationen u ¨ber zivilgesellschaftliche Proteste wurde durch die antikonfessionellen Demonstrationen 2011 ausgel¨ost. Diese wurden zun¨achst vor allem eindeutig im Kontext des Arabischen Fr¨ uhlings” gesehen (vgl. Fakhoury 2011; ” Khashan 2011b; Rosiny 2011). Khashan (2011b) weist darauf hin, dass die Koalition des 14. M¨arz sich selbst eine Vorreiterrolle f¨ ur den Arabischen Fr¨ uhling” zuschrieb, den sie als ” von den Massenprotesten 2005 inspiriert begriff. Mehrere, vor allem j¨ ungere, Intellektuelle ¨ ver¨offentlichten Uberlegungen zu den Aussichten und Problemen der Proteste, darunter einige Selbstkritiken von beteiligten Aktivisten (s. Abou Jahjah 2011; Al Salim 06.12.2011; Chit 2012; Idriss 2011a). Diese generationellen Konflikte werden in Zusammenhang mit disparaten Politikkonzepten gesetzt (vgl. Sengebusch 2014). Kenntnisreiche Artikel er¯ ab und auf der Onlineplattform Jadaliyya, etwa schienen auch in der Zeitschrift al-Ad¯ Maya Mikdashis Analyse einer Facebook-Debatte, in der die antikonfessionellen Proteste in Zusammenhang mit Gay-Pride-Aktivismus gesetzt wurden (vgl. Mikdashi 29.03.2011), und ihre Argumentation f¨ ur die Relevanz der Proteste, welche sie in der Bildung nachhaltiger Aktivistennetzwerke verortet (vgl. Mikdashi 25.03.2011) sowie der Artikel von Sune Haugbolle (2013) u ¨ber den S¨akularismus der libanesischen Linken. Zudem untersucht Mikdashi (2014a: 143ff.) ausf¨ uhrlich die Themen und Attit¨ uden der Graswurzelorganisation La¨ıque Pride. Hervorzuheben ist die durch Theorien sozialer Bewegungen geleitete Analyse von Meier (2015), der unter anderem die Geschichte von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı analysiert. Schließlich sind die oben erw¨ahnten Artikel aus Sammelb¨anden zum Arabi” schen Fr¨ uhling” (s. AbiYaghi und Catusse 2014; Mikdashi 2013) und das Portrait u ¨ber den verstorbenen Aktivisten Bassem Chit (s. Haugbolle 2016) zu nennen. c

Weitere relativ ausf¨ uhrlich behandelte F¨alle zivilgesellschaftlicher Aktion sind die Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht aus den 1990er Jahren (s. Joseph 1997; Karam 2005, 2006b; Zuhur 2002), der Erinnerungs-Aktivismus der 1990er Jahre (s. Chrabieh 2007), die Kampagnen f¨ ur die Durchf¨ uhrung von Kommunalwahlen, die Senkung des Wahlalters und die Aufarbeitung der F¨alle von im B¨ urgerkrieg verschwundenen” Per” sonen (s. Karam 2005, 2006b). Eine aktuelle Dissertation behandelt Aktivismus f¨ ur ein s¨akulares Personenstandsrecht und konzeptionalisiert diesen als ein Beispiel f¨ ur staatsb¨ urgerschaftliche Praxis (s. Mikdashi 2014a). In der umfangreichsten und originellsten Publikation u ¨ber die libanesische Zivilgesellschaft, der Dissertation von Karam Karam (2006b), werden ausgew¨ahlte Organisationen portr¨atiert und Protestwellen beschrieben. F¨ ur die Entwicklung der libanesischen Zivilgesellschaft gilt der libanesische B¨ urgerkrieg als Z¨asur. F¨ ur die Vorkriegszeit der 1960er und 1970er Jahren werden einige wichtige Akteursgruppen beschrieben: Die politisierten Studierenden (vgl. Favier 2004; el Khazen 2000: 75ff.), vor allem von der American University of Beirut (vgl. B. S. Anderson 2008, 2011; Rabah 2009), aber auch Gewerkschaften (vgl. Kiwan 1993) und die sozialen Aktivisten um den ehemaligen griechisch-katholischen Bischof Gr´egoire Haddad (vgl. el Khazen 2000: 79f.). Zwischen den zivilgesellschaftlichen Konfigurationen des Vorkriegslibanon und der libanesischen Zivilgesellschaft der Nachkriegszeit bestehen Br¨ uche, die Karam Karam mehrfach beschrieben hat (s. Karam 2002, 2005, 2006b, 29-31.03.2000). Er zeigt auf, dass nach 1990 ein neuer Assoziationstyp” entstand. Die Parallelen zu der in einem anderen empiri” schen Kontext entstandenen Theorie der neuen sozialen Bewegungen” werden dabei nicht ” explizit erw¨ahnt, sind aber augenf¨allig: Der neue Assoziationstyp zeichne sich aus durch Mobilisierung f¨ ur einzelne Aktivit¨aten (anstelle von Mobilisierung u ¨ber reine Loyalit¨at der

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2 Forschungsstand

Organisation gegen¨ uber), durch flache Hierarchien und durch seine Sozialstruktur, die vor allem von j¨ ungeren Angeh¨origen der Mittelschicht gepr¨agt sei (vgl. Karam 29-31.03.2000: 5ff.), sowie durch neuartige, globalisierte” Themen wie Menschenrechte, B¨ urgerrechte ” und Umweltschutz (Karam 2005: 316ff.). Auch f¨ ur die Zeit nach 1990 identifiziert Karam (2009) mehrere Phasen des zivilgesellschaftlichen Aktivismus: Die Mobilisierungszyklen” ” der Zivilit¨at 1990-2000 (v.a. die Kampagne um die Zivilehe), der Souver¨anit¨at 2000-2005 (v.a. die Kampagne f¨ ur den Abzug der Syrer) und der Parteien (nach 2005, v.a. die Spaltung zwischen den Koalitionen 8. M¨arz und 14. M¨arz.). Des weiteren wird in der Literatur untersucht, vor welchen Problemen die libanesische Zivilgesellschaft steht. H¨aufig wird auch hier eine L¨ahmung durch das Primat des Konfessionalismus angenommen (so z.B. UNDP 2009). Karam (2006b) stellt hier die Weichen in eine andere Richtung, indem er die konfessionalistische Perspektive vermeidet. Wohl aber stellt Karam fest, dass die Entkonfessionalisierung ein latentes Anliegen” der libanesi” schen Zivilgesellschaft ist (Karam 2006b: 185). Als weiteres Problem wird die Spaltung der Zivilgesellschaft identifiziert, welche nach 2005 in Zusammenhang mit dem Konfessionalismus und der politischen Spaltung zwischen 8. M¨arz und 14. M¨arz gesetzt wurde (vgl. AbiYaghi 2009; Dot-Pouillard 2009). Im Kontext der NGO-Forschung wird auch f¨ ur den Libanon festgestellt, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Kampagnen durchaus von internationalen Gebern oder vom Staat gef¨ordert sein k¨onnen (vgl. AbiYaghi 2009; Sukarieh 08.01.2007), wobei, so AbiYaghi (2009), das Verh¨altnis von Aktivisten zur Frage der Organisation ambivalent sei. Als weiteres Problem der libanesischen Zivilgesellschaft nennen einige Autoren auch die regionalen Ungleichheiten, bei denen das eindeutige Zentrum des Aktivismus in der Hauptstadt Beirut und darin wiederum im Stadtteil al-H.amr¯a liegt (vgl. Douaihi 1994; Gahre 2011; Seidman 2012; s. auch Sengebusch 2014: 290). c

2.2.4 Zusammenfassung: Der Forschungsstand zu Protestbewegungen Die Forschung zu Protestbewegungen weltweit ist umfangreich und vielf¨altig. Die verschiedenen Theorieans¨atze fokussieren auf jeweils unterschiedliche Aspekte der Bewegungen. Die Ebenen einer Bewegung wurden operationalisiert als Akteure, Aktionen und Themen. Daher ist festzustellen, dass einerseits stets deutlich sein muss, auf welche dieser Ebenen eine Analyse bezogen ist, und andererseits, dass f¨ ur Forschung, die auf die umfassende Analyse eines Falls abzielt, verschiedene komplement¨are Ans¨atze aus den verf¨ ugbaren Theorien sozialer Bewegungen kombinierbar sind. Neuere Ans¨atze von Theorien sozialer Bewegung tragen zudem der Beobachtung Rechnung, dass Protestbewegungen stets Transformationen unterworfen sind und somit diachron betrachtet werden m¨ ussen: So hat der Ansatz der neuen sozialen Bewegungen” ” fluide Organisations- und Aktionsformen untersucht, contentious politics l¨ost die Dichotomien zwischen sozialer Bewegung und staatlicher Institution auf, die Moderationsthese diskutiert Fragen nach der Integration oder Abgrenzung von staatlicher Politik, das Konzept der Protestwellen ¨offnet den Blick f¨ ur Verl¨aufe vor und nach dem Mobilisierungsh¨ohepunkt, das Konzept von Repertoires erkl¨art Br¨ uche in Aktionsformen. Die Literatur zu Protestbewegungen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens bildet innerhalb der Bewegungsforschung einen eigenen Bereich, der mit dem gr¨oßeren Bereich der Theorien sozialer Bewegungen nur punktuell verbunden ist, wiewohl diese Verbindungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Es sind einige spezifische auf die Region bezogene Debatten erkennbar: Zu den wiederkehrenden Themen z¨ahlen

2.3 Das Politische

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Islamismus, Partizipation unter autorit¨aren Bedingungen, Nichtbewegungen und unkonventionelle Partizipation, NGOs und Zivilgesellschaft sowie der Arabische Fr¨ uhling”. ” Insgesamt gilt somit das Interesse h¨aufig den Akteuren der Proteste, also islamistischen Organisationen, NGOs oder auch der Jugend”. In vielen dieser F¨alle ist die Forschung ” durch einen deutlichen normativen Hintergrund gepr¨agt. Diese Beobachtungen spiegeln sich auch in der Literatur zum Libanon: Dort liegt ein thematischer Fokus der Bewegungsforschung auf Hisbollah, ein weiterer auf den Massenprotesten von 2005 (der sogenannten Zedernrevolution”), ein weiterer Fokus auf den ” Protesten rund um das Jahr 2011. Insbesondere in Arbeiten u uhlings” sind ¨ber Proteste im Kontext des Arabischen Fr¨ ” einige Themen identifizierbar, die besonders intensiv diskutiert werden. Hierzu z¨ahlen das Auftreten neuer und unkonventioneller Aktionsformen, die Abwesenheit formal organisierter Bewegungsorganisationen und das Auftreten eher abstrakter Forderungen. Dies h¨angt zusammen mit Fragen danach, welche Formen politischer Aktion erprobt werden, nachdem Parteien und NGOs an Legitimit¨at eingeb¨ ußt haben; wie in diesen Organisationsstrukturen Ziele und Strategien entwickelt werden; und mit welchen Dynamiken sich formale und informelle Spielarten des Aktivismus gegenseitig beeinflussen. Diese Themen werden nur selten mit Analysekategorien aus den verf¨ ugbaren Theorien sozialer Bewegungen verkn¨ upft. Auch eine weitere nur selten vorgenommene theoretische Verkn¨ upfung f¨allt auf: Diese verschiedenartigen Organisations- und Aktionsformen basieren auf unterschiedlichen Vorstellungen der Aktivisten davon, welche Strukturen und Praktiken als sinnvolle und zielf¨ uhrende Politik erachtet werden. Um diese Verkn¨ upfung zwischen strategischen Entscheidungen in Protestbewegungen mit Politikkonzepten analytisch fassbar zu machen, soll im Folgenden der Forschungsstand zum Politischen” dar” gelegt werden. 2.3 Das Politische Die Analyse der Organisations- und Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle wird auch die Politikkonzepte thematisieren, welche die Akteure der Protestwelle ihren strategischen Entscheidungen zugrunde legen. Aus diesem Grund soll im Folgenden der Forschungsstand zum Begriff des Politischen” dargestellt werden. Dabei ist eingangs ” festzustellen, dass die Frage, was Politik” ist, sehr h¨aufig Gegenstand der Diskussion ist, ” wann immer Politik analysiert wird. Es geht um die Frage, welche Praktiken, Handlungen oder Ereignisse als Politik” zu klassifizieren sind. ” Theorien zu der Frage, welche Praktiken politische Qualit¨at haben, gehen h¨aufig mit der Entwicklung von dichotomen Politikbegriffen einher. Besonders ausgearbeitet ist dies in Theorien der politischen Differenz. Dabei wird unterschieden zwischen der Politik”, also ” der formal-politischen institutionellen Ordnung, und dem Politischen”, also Ereignissen ” und Praktiken, die außerhalb der vorgesehenen formal-politischen Kan¨ale stattfinden und diese Kan¨ale somit in Frage stellen. Innerhalb der Forschungsfelder, welche sich mit Politikkonzepten besch¨aftigen, ist f¨ ur diese Arbeit solche Forschung zur Dichotomie zwischen dem Politischen” und der Politik” von besonderem Interesse. Daher soll im Folgenden ” ” prim¨ar der Forschungsstand in diesem Bereich dargestellt werden. Zwei deutschsprachige Sammelb¨ande (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a) fassen den Forschungsstand und die aktuellen Debatten zum Thema zusammen. Bedorf und R¨ottgers (2010) erl¨autern, dass die Begrifflichkeit, welche die Politik” dem ”

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2 Forschungsstand

Politischen” gegen¨ uberstellt, insbesondere in der franz¨osischsprachigen politischen Phi” losophie als la politique” und le politique” etabliert ist. Dabei verortet Bedorf (2010: ” ” 15) die Er¨offnung der Debatte mit dem Erscheinen des Sammelbands Rejouer le politi” que” (Balibar u. a. 1981) und darin insbesondere dem Vorwort von Lacoue-Labarthe und Nancy (1981: 16). Eine pr¨agnante Definition f¨ ur die Bedeutung der dichotomen Begriffe der Politik” und des Politischen” bietet der andere Sammelband an: ” ” Verweist der Begriff der Politik auf die institutionelle Ordnung, die staatliche Verwaltung des Gemeinwesens, so betont der Begriff des Politischen die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses und der Unterbrechung. (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext) Weitere Facetten der Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik wurden an verschiedenen Stellen entfaltet. So unterscheidet Ernesto Laclau zwischen der Politik als dem etablierten Gef¨ uge von Institutionen” und dem Politischen als der Praxis der ” ´ ” Balibar Instituierung der Gesellschaft” (so paraphrasiert bei Hetzel 2004: 187) und Etienne zwischen konstituierter” und konstituierender Macht” (so paraphrasiert bei Celikates ” ” 2010a: 60ff.). F¨ ur diese Denkfigur der Dichotomie zweier Dimensionen von politischem Handeln hat Oliver Marchart den Begriff der politischen Differenz” gepr¨agt (Marchart ” 2007; deutschsprachige und erweiterte Fassung Marchart 2010). Er untersucht dabei die Positionen der Klassiker Nancy, Lefort, Badiou und Laclau (s. Marchart 2007, 2010) sowie in der erweiterten Ausgabe (s. Marchart 2010) zus¨atzlich die Positionen von Agamben und Ranci`ere zum Thema. Br¨ockling und Feustel (2010a) betont explizit, die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen sei eine, wenn nicht DIE Leitdifferenz zeitgen¨ossischer Sozi” alphilosophie” (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext, Hervorhebung im Original). Diese Einsch¨atzung l¨asst sich mit dem Blick auf unterschiedliche Ans¨atze aus Philosophie und Sozialwissenschaft best¨atigen, denn tats¨achlich sind dichotome Unterscheidungen zwischen Dimensionen politischen Handelns, die sich als Politik” und das Politische” fassen ” ” ließen, h¨aufiges Thema der Forschung, wenn auch in unterschiedlichen terminologischen Rahmungen, wie unten ausf¨ uhrlicher gezeigt wird. Forschung zum Verh¨altnis von institutionelle[r] Ordnung” und unterhintergehbaren ” ” Momente[n] des Dissenses [...] und der Unterbrechung” findet in verschiedenen Forschungsfeldern statt. Dabei ist die Terminologie der Politik” und des Politischen” keineswegs ” ” durchgehend etabliert, sondern es existieren verschiedene weitere dichotome Begriffspaare. So operiert etwa Ranci`ere (2002) mit dem Begriffspaar Polizei” und Politik” und ” ” Alain Badiou mit Staat” und Politik” (s. Bedorf 2010: 16), Ulrich Beck verwendet kein ” ” dichotomes Begriffspaar, sondern bezeichnet Praktiken, die in der Sprache der politischen Differenz als das Politische” zu klassifizieren w¨aren, als entgrenzte Politik” (U. Beck ” ” 1986: 300ff. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 8f.). Die letztgenannten Autoren verorten sich allerdings in ihren Texten selbst nicht unbedingt als Teilnehmer an derselben Debatte, die unter dem Namen der politischen Differenz” gef¨ uhrt wird. Dennoch ber¨ ucksichtigt ” ¨ Bedorf (2010: 19) die Uberlegungen von U. Beck (1993), indem er dessen Monographie Die Erfindung des Politischen” in seine Diskussion zu Gedanken der politischen Differenz ” einreiht. Die Denkfigur der politischen Differenz wird folglich unter h¨ochst verschiedenen Termini und in mehreren, nicht immer eng miteinander verkn¨ upften Debatten behandelt. Bedorf (2010) definiert als Kriterium f¨ ur die Zuordnung zur Theorie der politischen Differenz,

2.3 Das Politische

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dass es darin jeweils um eine in vielen Varianten wiederkehrende Abgrenzungsgeste” ” (Bedorf 2010: 13) geht. Zur Einordnung verschiedener Ans¨atze in die Theorie der politischen Differenz stellt Bedorf (2010: 16) weiter fest: Entscheidend ist jedoch, dass die ” Unterscheidung jeweils theoriestrategisch zentral ist und sich auf das Vokabular von Politischem und Politik abbilden l¨asst.” Es wird deutlich, dass die Komplementarit¨at und die Widerspr¨ uche zwischen einerseits institutionell geordnetem und andererseits unterbrechendem politischen Handeln – also zwischen der Politik und dem Politischen – wiederkehrende Themen der politischen Philosophie und Sozialphilosophie darstellen. Diese wurden auch bei den Klassikern dieser Disziplinen intensiv behandelt. So widmen auch die oben genannten aktuellen, die Debatte zusammenfassenden und weitertreibenden Sammelb¨ande (d. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a) einen großen Teil ihrer Argumentation den Diskussionen von Positionen der Klassiker (s. z.B. Laclau 2002; zitiert nach Heil und Hetzel 2010). Bedorf (2010: 15ff.) verweist darauf, dass bereits vor Lacoue-Labarthe und Nancy (1981) verwandte Gedanken von Hannah Arendt und Carl Schmitt diskutiert wurden. Diese k¨onnen als Er¨offnung der Debatte verstanden werden. Marchart (2010) arbeitet die Gegens¨atzlichkeit heraus, die sich in der Bewertung des Politischen bei Arendt und Schmitt zeigt: Doch w¨ahrend die Arendtianer im Politischen einen Raum der Freiheit ” und ¨offentlichen Deliberation sehen, sehen die Schmittianer in ihm einen Raum der Macht, des Konflikts und Antagonismus” (Marchart 2010: 35). Aktuell werden die Klassiker breit rezipiert. Wie Bedorf und R¨ottgers (2010: 2) feststellen, inspiriert dabei die Literatur zur politischen Differenz eine Erneuerung der poli” tischen Theorie [...], die das Politische abhebt von bloßer Politik”’. In diesem Sinn einer ’ Erneuerung der Theorie”, die sich zugleich auf klassische Positionen bezieht, verkn¨ upfen ” die Sammelb¨ande ¨altere Theorien mit neueren Diskussionen, wie sie beispielsweise von Hardt und Negri (2003) oder von Jacques Ranci`ere (2002, 2008, 2012, 04.07.2003) gef¨ uhrt wurden (s. Kapitel in Br¨ockling und Feustel 2010a), aber auch von U. Beck (1983, 1986, 1993) (s. Bedorf 2010: 19). Die aktuell recht breite Rezeption dieser Klassiker sehen Jochem (2013), Knobloch (2014), Lehner (2012) und Ritzi (2014) in der Krise der liberal-demokratischen politischen Systeme begr¨ undet. Auch Lemke und Schaal (2014: 71f.) weisen mit Blick auf die aktuellen Debatten darauf hin, dass die Diskussion um die politische Differenz Parallelen ¨ zu Diskussionen um Leitbilder von Demokratie aufweist. So sind Uberlegungen zur politischen Differenz h¨aufig eingebettet in Diskussionen u urgerrechte und Demokratie. ¨ber B¨ Der Ausgangspunkt dieser Forschung besteht in der empirischen Feststellung von Demokratiedefiziten, gefolgt von der theoretischen Analyse dieser Demokratiedefizite. Diese Art von Forschung ist h¨aufig deutlich normativ motiviert. Dies soll hier beispielhaft an einer Formulierung von Jacques Ranci`ere verdeutlicht werden: Er schreibt in einem Medienartikel w¨ortlich vom Triumph der Konsensdemokratie” (Ranci`ere 04.07.2003), verwendet ” also den Begriff Triumph”, um anzudeuten, dass die Konsensdemokratie” einen hege” ” monialen Status erlangt habe, den er als negativ bewertet. Die oben genannten Autoren, die oben in den Theorieansatz der politischen Differenz” ” eingeordnet wurden, werden in anderen Schriften als Vertreter radikaler Demokratietheo” rien” behandelt (so z.B. bei Lehner 2012; Ritzi 2014). Mit dieser Einordnung wird der Anspruch der Autoren betont, den Demokratiebegriff nicht auf formale Institutionen zu reduzieren, sondern eben die widerstreitenden und unterbrechenden Momente des Politischen aufzuwerten.

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2 Forschungsstand

In ihrer Zusammenfassung aktueller Debatten um radikale Demokratietheorien stellen Heil und Hetzel (2010) definitorische Aspekte heraus: Demnach grenzt die radikale Demokratietheorie sich von liberalen Demokratietheorien insofern ab, als sie rationalistische Begr¨ undungen f¨ ur politische Institutionen und Entscheidungen verwirft, da diese den jeder politischen Entscheidung zugrunde liegenden Dissens ignorieren (vgl. Mouffe 2007; zitiert nach Heil und Hetzel 2010: 9f.). In der radikalen Demokratie hingegen spielt Dissens eine zentrale Rolle, wohingegen das Ideal des Konsens – wie bereits in dem obigen Zitat von Ranci`ere angedeutet – als illusorisch verworfen wird: Der herrschaftsfreie Konsens“ im Sinne von Habermas kann aus der Per” spektive Laclaus nicht als Ziel radikaldemokratischer Politik gelten. Radikale Demokratie hielte uns vielmehr dazu an, den Dissens und den Antagonismus auszuhalten, ohne uns einfach in ihm einzurichten. (Heil und Hetzel 2010: 9; s. auch Laclau 2002; Heil 2010: 97f.) Diese deutlichen Zusammenh¨ange zwischen den Denkfiguren der politischen Differenz und der radikalen Demokratie d¨ urfen gleichwohl nicht mit einer Gleichsetzung verwechselt werden. So sehen nicht alle Theoretiker der politischen Differenz sich als Radikaldemokraten, ˇ zek und Alain Badiou sind grunds¨atzlich skeptisch gesondern beispielsweise Slavoj Ziˇ gen¨ uber dem Begriff der Demokratie” (vgl. Heil und Hetzel 2010: 16). Sehr deutliche ” Bez¨ uge zwischen normativen Fragen nach Demokratie und nach dem Politischen finden sich hingegen in den Werken von Jacques Ranci`ere (2002, 2008, 2012, 04.07.2003). Heil und Hetzel (2010: 14) stellen diesbez¨ uglich sogar fest, bei Ranci`ere seien die Begriffe der Demokratie und der Politik” (d.h. in der Terminologie der politischen Differenz das ” ” Politische”) im Grunde identisch. So ist Ranci`ere derjenige Theoretiker, der sowohl die dichotome Begrifflichkeit der Politik und des Politischen als auch den Begriff der Postdemokratie” verwendet und beide ” miteinander verkn¨ upft, wie Claudia Ritzi (2014: 37ff.) in ihrem Vergleich dreier Theoretiker der Postdemokratie feststellt. Sie weist dabei darauf hin, dass Ranci`ere den Begriff durch einen Vortrag Anfang der 1990er Jahre in die Debatte eingebracht und in La ” M´esentente” im Jahr 1995 (deutsch: Das Unvernehmen”, Ranci`ere 2002) publiziert habe ” (vgl. Ritzi 2014: 153). Die breitere Rezeption des Begriffs Postdemokratie” sei allerdings ” erst durch die gleichnamige Monographie von Colin Crouch (2008: erschienen in italienischer Sprache 2001, in englischer Sprache 2004) ausgel¨ost worden, der weiterhin in der Literatur deutlich st¨arker mit dem Begriff assoziiert wird (vgl. Knobloch 2014; Ritzi 2014). Den Inhalt der Krisendiagnose der Postdemokratie fasst Ritzi wie folgt zusammen: Die Postdemokratisierungsthese besagt, ganz allgemein gesprochen, dass ” moderne, westliche Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien und unterst¨ utzt durch das Hegemonialwerden neoliberaler Denkweisen zunehmend von Eliten kontrolliert werden. (Ritzi 2014: 2) Es u ¨berrascht nicht, dass Kritik an einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien” ” mit Forderungen nach der Aufwertung des Politischen einhergeht. So ist es folgerichtig, dass die politische Differenz auch innerhalb des theoretischen Rahmens der Postdemokratie diskutiert wird, etwa in der zitierten aktuellen Theorie-Studie von Ritzi (2014), aber auch bei weiteren Autoren (z.B. Jochem 2013; Knobloch 2014). Dabei befassen sich allerdings nicht alle Autoren der Postdemokratie mit Konzepten des Politischen oder der politischen Differenz, und auch die normativen Forderungen der

2.3 Das Politische

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Autoren sind durchaus verschieden. So stellt Ranci`ere (2002, 2008, 2012, 04.07.2003) die deutlichsten Verbindungen zwischen den beiden Theoriefeldern her, w¨ahrend etwa Crouch (2008) das unterbrechende Moment des Politischen” nicht ausf¨ uhrlich thematisiert und ” sich sogar ablehnend dazu ¨außert (vgl. Crouch 2008: 149). Insgesamt wird in Diskussionen zur Postdemokratie, ebenso wie in den oben skizzierten aktuellen Diskussionen zur politischen Differenz, festgestellt, dass die grundlegenden ¨ Uberlegungen dazu nicht neu sind, dass aber die aktuellen Diskussionen in Nuancen durchaus innovative Qualit¨at aufweisen. Dies ist besonders virulent mit Blick auf Bez¨ uge zur politischen Praxis: Krisenbeschreibungen der” Demokratie sind keineswegs neu. [...] Flankiert ” werden solche Klagen” allerdings von neuen Formen politischer Mobilisie” rung. [...] Insofern k¨onnte davon ausgegangen werden, dass alte” Formen ” demokratischer Partizipation von neuen” Formen politischer Mobilisierung ” abgel¨ost werden. (Jochem 2013: 446) ¨ Die in diesem Zitat angedeutete Ahnlichkeit zwischen der Gegen¨ uberstellung von der Politik und dem Politischen mit der Gegen¨ uberstellung von formal-politischen Institutionen und sozialen Bewegungen ist auff¨allig, aber bisher werden Theorien sozialer Bewegungen und Theorien der politischen Differenz nur selten verkn¨ upft. Unterscheidungen zwischen dem Politischen und der Politik werden allerdings, wenn auch versehen mit anderen Begrifflichkeiten, im Rahmen von Theorien neuer sozialer Bewegungen aufgemacht (s. 2.2.1; 3.1.5). Der Postdemokratie-Theoretiker Jochem (2013) diskutiert diese Verbindung zumindest ansatzweise: Zum einen zitiert er in seinem Artikel u ¨ber Postdemokratie den NSB-Theoretiker Claus Offe (s. 2.2.1; 3.1.5), zum anderen stellt er in dem obigen Zitat (Jochem 2013: 446) eine diskursive Verkn¨ upfung her, indem er die Gegen¨ uberstellung von alten” und neuen” Formen von Partizipation und Mobilisierung erw¨ahnt und so” ” mit explizit eine Verbindung zu Theorien sozialer Bewegungen aufzeigt, insbesondere zur Theorie neuer sozialer Bewegungen. Die Parallelen zwischen den beiden Theorien zeigen sich sowohl in der Dichotomisierung von politischem Handeln als auch in dem erweiterten Partizipationsbegriff der neuen sozialen Bewegungen, der Aspekte des Politischen einschließt. Zudem werden dichotome Politikkonzepte und die Theoretisierung der nachlassenden Integrationskraft und Legitimit¨at der staatlichen Institutionen in den liberalen Demokratien auch als Themen anderer Gegenwartsdiagnosen behandelt. Dies verdeutlicht Ritzi (2014: 109ff.), indem sie die Krisendiagnose” Postdemokratie neben weitere Krisendia” ” gnosen” stellt und diese miteinander vergleicht ( Kritik der Massengesellschaft”, Struk” ” turprobleme kapitalistischer Staaten”, Demokratische Krise durch overload”’, Medio” ’ ” kratie”). Da diese von Ritzi ausgew¨ahlten Theorien aber nicht mit Denkfiguren operieren, in denen die Konzeption des Politischen zentral w¨are, sollen auf sie an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Die bloße Feststellung, dass in Theorien der Postdemokratie ¨ahnliche aktuelle Transformationen behandelt werden wie in weiteren, konkurrierenden oder verkn¨ upften Krisendiagnosen”, bleibt dennoch relevant. ” Eine der weiteren Gegenwartsdiagnosen, in der die Thematik der politischen Differenz ber¨ uhrt wird, besteht in der Individualisierungsthese (s. U. Beck 1983, 1986, 1993, 2008, 1999; U. Beck und Beck-Gernsheim 1994; U. Beck und Sopp 1997b; Berger und Hitzler 2010; s. auch Junge 2002; Kron und Hor´acek 2009). Als Teilaspekt der Individualisierungsthese werden individualisierte Politikformen diskutiert, die nicht nur jenseits der

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2 Forschungsstand

Kategorien Links und Rechts, sondern auch jenseits der etablierten Institutionen verortet sind. Es geht um die nachlassende Integrationskraft der staatlichen Institutionen, wobei diese in gewisser Weise ersetzt werden durch Praktiken jenseits der Institutionen, welche Beck als entgrenzte Politik”, Alltagspolitik” oder Subpolitik” bezeichnet (U. Beck ” ” ” 1986: 300ff. s. auch U. Beck, Hajer und Kesselring 1999). Auch wenn U. Beck, Hajer und Kesselring (1999: 8f.) sich dabei nicht direkt auf die von den oben genannten Werken (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; Marchart 2010; Ritzi 2014) rezipierten Theoretiker der politischen Differenz beziehen, so bestehen doch offensichtliche Parallelen: So behandeln Beck und andere Individualisierungsforscher durchaus die Spannungen zwischen den formal-politischen Institutionen und den auf darunter liegen¨ den Ebenen beobachtbaren Praktiken politischer Artikulation, wobei diese Uberlegungen h¨aufig nicht in Verbindung, sondern parallel zur expliziten Debatte um die politische Differenz stattfinden. Es ist also festzustellen, dass die Idee der politischen Differenz und darin insbesondere die Konzeption des Politischen als Gegesatz zur Politik nicht nur anschlussf¨ahig an eine Reihe weiterer Theorien ist, sondern dass sich sogar auff¨allige Parallelen zwischen den Denkfiguren der verschiedenen theoretischen Ans¨atzen zeigen. Dies weist darauf hin, dass es sich um wiederkehrende Beobachtungen bestimmter Br¨ uche handelt, die aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden k¨onnen. ¨ Diese wiederholte Behandlung verwandter Uberlegungen und verbundener Facetten bestimmter Entwicklungen in unterschiedlichen theoretischen Kontexten tr¨agt auch dazu bei, dass die Terminologie der politischen Differenz uneinheitlich ist. Die unklare Benennung der politischen Differenz bei verschiedenen Autoren liegt demnach unter anderem darin begr¨ undet, dass auch in angrenzenden Forschungsgebieten Entwicklungen thematisiert werden, die als Facetten der Diskrepanz zwischen der Politik und dem Politischen interpretierbar sind, dass diese Debatten aber h¨aufig weitgehend unverbunden nebeneinander laufen. Allerdings sind nicht alle Theorien, die sich mit Facetten des Politischen besch¨aftigen, als Theorien der politischen Differenz einzuordnen. Entsprechend der oben zitierten Definition, nach der Bedorf (2010: 16) die Theorie der politischen Differenz von anderen Ans¨atzen abgrenzt, sind etwa Theorien neuer sozialer Bewegungen und Individualisierungstheorien zwar, wie gezeigt, anschlussf¨ahig, aber nicht mehr Teil des Theoriestrangs: Die dort getroffenen Unterscheidungen zwischen Formen politischen Handelns lassen sich zwar auf das Vokabular von Politischem und Politik abbilden”, aber diese Dichotomisie” rung ist in dem jeweiligen theoretischen Gef¨ uge eher ein nebengeordneter Gedanke und daher nicht theoriestrategisch zentral” (vgl. das oben stehende Zitat von Bedorf 2010: ” 16). ¨ Der zentrale gemeinsame Ausgangspunkt der diskutierten Uberlegungen zur politischen Differenz, zur Postdemokratie und – mit den eben genannten Einschr¨ankungen – zu den anderen genannten Ans¨atzen beziehen sich zum einen auf die schwindende Legitimit¨at formal-politischer Institutionen und zum anderen auf die darauf folgende Forderung nach politischem Handeln außerhalb dieser Institutionen. In dieser Hinsicht sind die Ans¨atze zu Konzepten des Politischen auch anschlussf¨ahig an Bez¨ uge zur politischen Praxis und somit zu den strategischen Entscheidungen von Akteuren sozialer Bewegungen. Ein Beispiel ist die popul¨arwissenschaftliche Diskussionen um Politikverdrossenheit”, ” im Rahmen derer in Deutschland die Abkehr von formal-politischen staatlichen Institutio-

2.4 Zwischenfazit: Forschungsstand und Forschungsl¨ ucken

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nen thematisiert wurde. Politikverdrossenheit” meint vor allem die Abkehr von Wahlen ” und etablierten Parteien, die sich in niedriger Wahlbeteiligung und der nachlassenden Unterst¨ utzung f¨ ur die Volksparteien zeigt. Aus der Perspektive einiger Sozialwissenschaftler allerdings ist Politikverdrossenheit” durchaus als eine rationale Wahl einer Partizipati” onsm¨oglichkeit erkl¨arbar: Da die etablierten formal-politischen Institutionen an Legitimit¨at verlieren, ist der Entzug von Unterst¨ utzung f¨ ur diese Form von Beteiligung eine politische Meinungs¨außerung (vgl. Arzheimer 2001; Geiling 1995). Diese Meinungs¨außerung artikuliert die Abkehr von der Politik und kann in einem n¨achsten Schritt in der Hinwendung zum Politischen m¨ unden. Hier spiegelt sich das Bewusstsein, dass vordergr¨ undig als unpolitisch oder sogar politikverdrossen eingeordnete individuelle Praktiken durchaus politischen Charakter haben k¨onnen. ¨ Ahnliche Beobachtungen werden auch in der Forschung zum Nahen und Mittleren Osten diskutiert, wobei inhaltliche Parallelen zu den hier besprochenen Ans¨atzen bestehen, die aber nur selten durch gegenseitige Bezugnahme explizit gemacht werden. So wird auch f¨ ur den Nahen und Mittleren Osten die Tendenz einer Entfremdung vom Staat konstatiert und es wird diskutiert, inwieweit diese Entfremdung Konsequenzen im Bereich politischer Partizipation nach sich zieht (s. S. Cohen 2004; Hanafi 2010; Harders 2002, 2008, 2009; Lust-Okar und Zerhouni 2008; Singerman 1995). Dabei geht es um Nichtbewegungen”, ” also das nicht-kollektive Handeln kollektiver Akteure” (Bayat 2010b), individualisierten ” Studentenaktivismus (vgl. Favier 2004: 37f., 459f.) und die thematische Verschiebung zur Forderung von citizenship (vgl. Bayat 2007: 104; Challand 2011: 271; Hanafi 2012: 198). Dar¨ uber hinaus befindet sich Forschung zur Thematik der politischen Differenz mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten aktuell in den Anf¨angen (so wurde die Terminologie des Politischen” etwa von der Sommerakademie Reconfiguring the (Non-)Political” ” ” verwendet, s. Universit¨at Marburg 2016). Ein aktueller Artikel zu radikalen Demokratietheorien (vgl. Lehner 2012: 102, 104) betont die Relevanz dieser Debatten f¨ ur die Analyse des Arabischen Fr¨ uhlings” und der Occupy-Bewegung allerdings explizit. ” 2.4 Zwischenfazit: Forschungsstand und Forschungsl¨ ucken Die Literatur zu den Gebieten Konfessionalismus und Antikonfessionalismus, Theorien sozialer Bewegungen und Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten sowie Konzepten des Politischen ist umfangreich. In den Ausf¨ uhrungen zum Forschungsstand in diesem Kapitel wurde zugleich deutlich, dass einige Forschungsl¨ ucken sichtbar sind. Die folgende Zusammenfassung arbeitet heraus, welche Desiderate identifizierbar sind. Dabei ist zu beachten, dass einige dieser Forschungsl¨ ucken besonders dann deutlich sichtbar werden, wenn die verschiedenen Forschungsfelder zueinander in Bezug gesetzt werden. Desiderat der Libanonforschung: Nichtkonfessionelle Themen und Aktionen Die Thematik von Konfessionalismus und Antikonfessionalismus ist in der Libanonforschung sehr pr¨asent, so dass festzustellen ist, dass Fragen nach politischem und gesellschaftlichem Konfessionalismus die Literatur u ¨ber den Libanon dominieren. Der Konfessionalismus wird dabei teilweise als zu erkl¨arende Variable behandelt, wenn nach Bedingungen f¨ ur seine Existenz und Persistenz gefragt wird, und teilweise als erkl¨arende Variable, wenn er als Ursache f¨ ur den Zustand von Staat und Gesellschaft verstanden wird. Die Bedeutung der Thematik als paradigmatische Rahmung der Libanonforschung zeigt sich auch darin, dass Studien zu verschiedenen Themen die jeweils untersuchten Populationen

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2 Forschungsstand

nicht nur nach Geschlecht, Einkommen, geographischem Wohnort o.¨a. klassifizieren, sondern auch nach Konfessionszugeh¨origkeit. Dabei ist der Ton der Literatur gegen¨ uber dem konfessionalistischen Prinzip fast durchgehend kritisch: Autoren begr¨ unden ihre Ablehnung des Konfessionalismus und fordern seine Abschaffung. In aktuelleren Werken wird allerdings auch explizit darauf hingewiesen, dass Debatten um Konfessionalismus einer Ausdifferenzierung des Konzepts bed¨ urfen (s. Makdisi 1996, 2000; Weiss 2009, 2010) und dass Forderungen nach S¨akularisierung h¨aufig als unspezifische Utopien analysierbar sind (s. Joseph 2011; Mikdashi 25.03.2011, 29.03.2011). Hier ist auf der Ebene der deskriptiven Libanonforschung ein Desiderat erkennbar: Vor dem beschriebenen Hintergrund der Dominanz des Themas Konfessionalismus ist es nicht verwunderlich, dass nichtkonfessionelle Themen und Praktiken in deutlich geringerem Umfang diskutiert werden. Auch Aktionen und Praktiken, die sich gegen den Konfessionalismus richten, sind nur vereinzelt Thema der Forschung. In den letzten Jahren wurden Aktionen von La¨ıque Pride und von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, zwei zentralen Akteuren der Protestwelle 2010-2012, zwar in einigen Arbeiten beachtet, aber eine tiefergehende Analyse der gesamten Protestwelle steht noch aus. Somit ist festzustellen, dass die libanesische antikonfessionelle Bewegung insgesamt bisher kaum beschrieben wurde: Es fehlen ¨ ein Uberblick u ¨ber antikonfessionellen Aktivismus im Libanon, eine Analyse der Strategien und seines Verh¨altnisses der Aktivisten zu Elite und Staat. c

Desiderat der politikwissenschaftlichen Nahostforschung: Theoretisch strukturierte Bewegungsforschung Die Literatur zu Protestbewegungen ist vielf¨altig, sowohl hinsichtlich theoriegeleiteter und eher auf Europa und Nordamerika bezogener als auch hinsichtlich auf den Nahen und Mittleren Osten bezogener Werke. Die Theorien sozialer Bewegungen sind facettenreich, wobei verschiedene Ans¨atze jeweils auf unterschiedliche Ebenen von Bewegungen fokussieren. F¨ ur eine umfassende, strukturierte Analyse einer Bewegung bietet es sich daher an, mehrere dieser Ans¨atze zu kombinieren. Die Forschung zu Protestbewegungen im Nahen und Mittleren Osten ist mit der theorieorientierten Bewegungsforschung nur in Ans¨atzen verbunden, wobei eine Reihe aktueller Publikationen Versuche unternehmen, diese Verbindungen zu st¨arken. In der regionalbezogenen Bewegungsforschung sind einige wiederkehrende Themen erkennbar, wobei diese wiederkehrenden Thematiken f¨ ur den Libanon jeweils eine spezielle Orientierung aufweisen: Zahlreiche Ver¨offentlichungen befassen sich mit Islamismus, auch mit der libanesischen Hisbollah. Das zweite sehr breit diskutierte Thema besteht in NGOs und Zivilgesellschaft. Damit verbunden werden auch Fragen nach Partizipation unter autorit¨aren Bedingungen bearbeitet, wobei es im Libanon weniger um autorit¨are Bedingungen geht als vielmehr um blockierte und dysfunktionale Institutionen. Ein großer Anteil aktueller Literatur behandelt die Proteste des Arabischen Fr¨ uhlings”, wo” ¨ bei Uberblickswerke, Vergleiche und Sammelb¨ande den Libanon nur in Ausnahmef¨allen ber¨ ucksichtigen – die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 wird entweder wegen ihrer geringen Gr¨oße nicht als relevanter Massenprotest wahrgenommen, oder aufgrund ihres andersartigen thematischen Fokus und des Ausbleiben eines Umsturzes an der Staatsspitze nicht dem Arabischen Fr¨ uhling” zugerechnet. ” Im Zusammenhang mit Fragen nach Partizipation, NGOs und besonders dem Arabi” schen Fr¨ uhling” wurden einige Themen h¨aufig andiskutiert: So konstatieren Autoren eine Tendenz zu bestimmten Transformationen des Aktivismus, insbesondere das Auftreten

2.4 Zwischenfazit: Forschungsstand und Forschungsl¨ ucken

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von unkonventionellen Partizipationsformen und von abstrakten statt konkreten politischen Forderungen. Auch werden Beobachtungen zur Pr¨asenz bestimmter Gruppen von Akteuren angestellt, so werden einerseits das Fehlen bzw. die Unsichtbarkeit von Parteien und NGOs bei den Massenprotesten des Arabischen Fr¨ uhlings” und andererseits eine ” zentrale Rolle der Jugend” festgestellt. ” Eine Forschungsl¨ ucke in der nahostbezogenen Bewegungsforschung besteht darin, diese letztgenannten Beobachtungen theoretisch strukturiert und empirisch informiert zu analysieren. F¨ ur die Analyse von unkonventionellen Aktionsformen und verschiedenen Arten von Bewegungsakteuren etwa bieten sich der R¨ uckgriff auf Theorien an, die verschiedene Arten von Protest in dichotome Kategorien einordnen (s. J. L. Cohen 1985; Melucci 1985; Offe 1985). Auch Theorien zu Typologien von Bewegungsakteuren (s. Della Porta und Diani 2006; Rucht 1996, 2004), Repertoires (s. Tilly 1979, 2005, 2008) und Protestzielen (s. Della Porta und Diani 2006; Taylor und Van Dyke 2004) bieten sich an, um die genannten Beobachtungen zu theoretisieren. Mit Hilfe etwa von Theorien zu movement spillover (s. Meyer und Whittier 1994) und Generationen (s. Murphy 2012a,b) k¨onnen die skizzierten Thesen zudem ausdifferenziert werden. Schließlich kann das Konzept der Protestwellen (s. Koopmans 2004; Tarrow 1998) dazu beitragen, den Blick auf diachrone Prozesse in Protestbewegungen zu sch¨arfen und diese historisch einzubetten. Desiderat der politikwissenschaftlichen Nahostforschung: Politische Wirkung verschiedener Protest- und Organisationsformen Auch sind auf der Ebene der analytischen politikwissenschaftlichen Nahostforschung verschiedene Formen von Protesten und ihre politische Wirkung Thema aktueller Debatten, nicht nur im Zusammenhang mit dem Arabischen Fr¨ uhling”, sondern auch mit Bewe” gungen wie Occupy. Versuche einer systematischen Diskussion der politischen Wirkung verschiedener Protestformen wurden allerdings kaum unternommen. Mit Blick auf den Libanon zeigt sich, dass Organisationsformen jenseits von Parteien und NGOs bisher kaum Gegenstand der Forschung waren. Diese m¨ ussen zun¨achst empirisch beschrieben werden. Um auch demokratietheoretische Fragen nach NGOs und Zivilgesellschaft behandeln zu k¨onnen, m¨ ussen die beschriebenen NGOs und auch andere Akteure sodann in ihrer Abgrenzung voneinander und Orientierung aneinander differenziert analysiert werden. Ein theoretisches Desiderat: Verkn¨ upfung von Theorien sozialer Bewegung mit Theorien des Politischen” ” Auf der theoretischen Ebene f¨allt zudem auf, dass manche Theorien sozialer Bewegungen deutliche inhaltliche Anschlussm¨oglichkeiten zu Diskussionen um Politikkonzepte, wie sie in Theorien der politischen Differenz verhandelt werden, aufweisen: Beide nehmen Abgrenzungen zwischen politischen Praktiken innerhalb und außerhalb der Institutionen sowie Abgrenzungen zwischen verschiedenen Arten politischer Aktionen vor. Dennoch finden Verkn¨ upfungen dieser Ans¨atze bisher nur selten statt. Die Frage, welche Akteure und Praktiken als Politik” einzustufen sind, wird h¨aufig ” mit Hilfe der Entwicklung dichotomer Politikkonzepte erkl¨art. Verschiedene derartige Ans¨atze wurden als Theorien der politischen Differenz” zusammengefasst. Diese sind ” dadurch gekennzeichnet, dass die institutionelle Ordnung, die staatliche Verwaltung des ” Gemeinwesens” den Momente[n] des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses und der ”

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2 Forschungsstand

Unterbrechung” gegen¨ ubergestellt werden (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext). Auch wenn die verschiedenen Autoren diese beiden dichotomen Konzepte nicht durchgehend als die Politik” und das Politische” benennen, sondern verschiedene Begriffe ” ” verwenden, so ist die Unterscheidung dennoch bei allen Autoren der politischen Differenz per definitionem theoriestrategisch zentral” (Bedorf 2010). ” Theorien der politischen Differenz sind eng verbunden mit Theorien der Postdemokratie, so dass insbesondere der Philosoph Jacques Ranci`ere (2002, 2008, 2012, 04.07.2003) beide Konzepte als verbunden behandelt. Die Krisendiagnose der Postdemokratie” geht ” dabei davon aus, dass die relevanten Prozesse politischer Entscheidungsfindung hinter einer Fassade von formal demokratischen Institutionen zunehmend undemokratischer werden – gefordert wird daher, jenseits der Politik” auf die nicht institutionalisierten, aber ” demokratischeren Praktiken des Politischen” auszuweichen. ” Verkn¨ upfungen zwischen den Politikkonzepten, wie sie in Theorien der politischen Differenz und der Postdemokratie konzipiert werden, mit Theorien sozialer Bewegungen wurden bisher kaum vorgenommen, sind aber an mehreren Stellen vorstellbar. Die Dichotomie von institutionell geordnetem versus unterbrechendem Handeln bietet zum einen deutliche Anschlussm¨oglichkeiten zu Abgrenzungen zwischen Bewegung und Staat, zum anderen zum Ansatz neuer sozialer Bewegungen und weiteren Ans¨atzen, die zwischen konventionellen und unkonventionellen Protesten unterscheiden. Im Kontext des Nahen und Mittleren Ostens wird diese Abgrenzung zwischen konventionellem, auf die institutionelle Ordnung gerichtetem Handeln und unterbrechendem, außerhalb der Institutionen stattfindendem Handeln verst¨arkt durch die zu beobachtende Entfremdung vom Staat. Dabei besteht eine weitere Forschungsl¨ ucke in dem Versuch, die Dichotomie der Po” litik” und des Politischen” aus ihrem Entstehungskontext herauszul¨osen: Theorien der ” politischen Differenz weisen Verbindungen zur Idee der Postdemokratie auf, w¨ahrend die Entfremdung von der Politik” im Libanon und auch in weiteren Staaten des Nahen und ” Mittleren Ostens nicht im Kontext der Postdemokratie, sondern vordemokratischer oder defekt-demokratischer Bedingungen stattfindet. Zur Bearbeitung der genannten Forschungsl¨ ucken sollen die folgenden Kapitel einen Beitrag leisten. Die Bearbeitung wird geleitet von den eingangs (in 1.1) erl¨auterten Fragen: Wie w¨ahlen Aktivisten der libanesischen antikonfessionellen Bewegung ihre Organisations- und Aktionsformen aus? Welche politische Wirkung haben die Organisationsund Aktionsformen? Die Hintergr¨ unde zu Konfessionalismus und Antikonfessionalismus, Theorien sozialer Bewegungen, Thesen zu Protestbewegungen der Region und Theorien zu Konzepten des Politischen bilden die Basis, auf der die Empirie u ¨ber die libanesische antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 interpretiert wird.

3 Theoretische Bezu ¨ ge: Soziale Bewegungen und politische Differenz Im nun folgenden Kapitel werden einige theoretische Konzepte und Modelle vertieft, welche die Analyse des antikonfessionellen Aktivismus strukturieren sollen. Die Diskussion in den sp¨ateren Analysekapiteln 6 und 7 wird sich auf diese Theoriebausteine beziehen. Diese entstammen gr¨oßtenteils Theorien, die zur Analyse von Bewegungen in Westeuropa und Nordamerika entwickelt wurden. Dennoch bieten diese Ans¨atze vielversprechende Zug¨ange auch zur Analyse der Dynamiken in der letzten libanesischen antikonfessionellen Protestwelle, denn sie sch¨arfen den Blick f¨ ur Merkmale und Entwicklungen der Bewegung und stellen Konzepte bereit, anhand derer Beobachtungen in analytische Kategorien gefasst werden k¨onnen. Zun¨achst werden in 3.1 Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen erl¨autert, die besonders auf Konfigurationen und Dynamiken sozialer Bewegungen abzielen. Darauf folgend werden in 3.2 Anleihen aus der politischen Philosophie get¨atigt, um Konzeptionen des Politischen zu erl¨autern, welche der strategischen Auswahl von Organisations- und Aktionsformen in sozialen Bewegungen zugrunde liegen k¨onnen. Aufbauend auf diesen ausf¨ uhrlichen Erl¨auterungen der verschiedenen relevanten Theorien wird schließlich in 3.3 eine Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen Ans¨atzen hergestellt. Dabei werden zum einen die in den analytischen Kapiteln 6 und 7 haupts¨achlich verwendeten theoretischen Konzepte zusammenfassend aufgez¨ahlt, zum einen wird beispielhaft erl¨autert, worin der Ertrag der komplement¨aren Kombination verschiedener Ans¨atze f¨ ur diese Arbeit liegt. 3.1 Theorien sozialer Bewegungen Die hier darzulegenden Ans¨atze aus den Theorien sozialer Bewegungen sollen vor allem der Analyse von Besonderheiten, Verlauf, Organisationsformen und Aktionsformen der libanesischen antikonfessionellen Bewegung dienen. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Bewegung” sich sowohl auf Akteure als auch auf Aktionen beziehen kann. Die Analy” se sozialer Bewegungen bezieht sich somit einerseits auf Gruppen oder Organisationen” ” und andererseits auf H¨aufungen von konflikthaften [...] Ereignissen” (Taylor und Van ” Dyke 2004: 263), man kann beispielsweise davon sprechen, dass ein Ereignis w¨ahrend der ” Friedensbewegung” stattfand oder aber dass eine Person Mitglied der Friedensbewegung” ” ist. Auf der Seite der Bewegungsakteure ist zu dem zu beachten, dass soziale Bewegungen aus mehreren Akteursebenen bestehen, so dass Organisatoren”, Teilnehmer” und ” ” Sympathisanten” unterschieden werden (Kriesi u. a. 2003: 37). ” In diesem Kapitel wird zun¨achst aus zwei unterschiedlichen Perspektiven das Entstehen einer Protestbewegung thematisiert: Der Ansatz der politischen Gelegenheitsstrukturen konzentriert sich auf politische Strukturen im Umfeld einer Bewegung (3.1.1). Die Rahmenanalyse verh¨alt sich dazu komplement¨ar und fokussiert auf die Aushandlung von Bedeutungen im Inneren einer Bewegung (3.1.2). Daran anschließend werden Ans¨atze zur Analyse von Organisationsformen und Aktionsformen dargelegt. Dabei werden zum einen im Abschnitt zu Bewegungsorganisationen Ans¨atze zur Analyse der inneren Strukturie-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_3

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

rung von Bewegungen dargelegt, unter anderem zur Bedeutung von NGOs und Netzwerken (3.1.3). Zum anderen werden im Abschnitt Aktionsformen und Repertoires unterschiedliche Arten von Aktionsformen und ihre Logiken sowie der theoretische Ansatz der Repertoires erl¨autert (3.1.4). Da mit Blick auf Organisationsformen und Aktionsformen sozialer Bewegungen sowohl Autoren wissenschaftlicher Literatur als auch an der Protestwelle beteiligte Aktivisten selbst h¨aufig eine Gegen¨ uberstellung von neuen” und ” alten” Organisations- und Aktionsformen aufmachen, wird im Anschluss ein Ansatz dis” kutiert, welcher solche Neuheiten” von Protestbewegungen thematisiert, n¨amlich der ” Theoriestrang der neuen sozialen Bewegungen (3.1.5). Alle in den bereits angesprochenen Ans¨atzen untersuchten Dimensionen von Bewegungen sind dynamisch, sie sind einem Wandel unterworfen. Daher wird schließlich der Blick auf den Verlauf von Protestbewegungen gelenkt, indem Ans¨atze zur diachronen Analyse dargelegt werden. Dies ist zun¨achst der Ansatz der Protestwellen, in dem der Verlauf einer Bewegung in Phasen unterteilt wird (3.1.6). Der Abschnitt wird erg¨anzt durch zwei Ans¨atze, welche auf bestimmte Einflussfaktoren auf den Verlauf von Protestwellen fokussieren. Dies sind der Ansatz des movement spillover, der den Einfluss von Bewegungen aufeinander analysiert (3.1.7), und der Ansatz der politischen Generationen, der Generationenwechsel in Bewegungen thematisiert (3.1.8). 3.1.1 Politische Gelegenheitsstrukturen Soziale Bewegungen verhalten sich zu ihrer Umwelt. Einerseits ist die Umwelt Gegenstand und Adressat von Forderungen, andererseits k¨onnen die Aktionen sozialer Bewegungen als Reaktionen auf ihre Umwelt gesehen werden. Der Ansatz der politischen Gelegenheitsstrukturen (political opportunity structures, POS) arbeitet h¨aufig mit der Methode des L¨andervergleichs, bei dem angenommen wird, dass Unterschiede zwischen Bewegungen in verschiedenen L¨andern durch Unterschiede in den Institutionen der jeweiligen L¨ander ¨ erkl¨arbar sind. Diese Uberlegung, der die Perspektive des methodologischen Nationalis” mus” (vgl. U. Beck 2008) zugrunde liegt, geht zur¨ uck auf Alexis de Tocquevilles Vergleich zwischen Bewegungen in den USA und Frankreich (vgl. Della Porta und Diani 2006: 201f.). Zentral f¨ ur den POS-Ansatz ist die Annahme, dass die Konfiguration der politischen Umwelt einer Bewegung die zentrale erkl¨arende Variable f¨ ur das Auftreten wie auch f¨ ur den Organisationsgrad sozialer Bewegungen ist (vgl. Rucht 1996: 191f.). Da der alleinige Fokus auf formale Institutionen den Blick stark verengen w¨ urde, ist es erstrebenswert, auch den Einfluss gesamtgesellschaftlicher Ver¨anderungen zu beachten (vgl. Hellmann 1998: 24). In diesem Zusammenhang hat Rucht (1994) auch darauf hingewiesen, dass die Entstehung und Konfiguration von sozialen Bewegungen in Beziehung zu makrostrukturellen Transformationen zu sehen ist, insbesondere mit Blick auf Prozesse der Modernisierung. Hier stellt sich allerdings das methodische Problem, dass solche makrostrukturellen Prozesse theoretisch schwer zu erfassen und vor allem schwer als Variable operationalisierbar sind. In der Forschung zu politischen Gelegenheitsstrukturen, welche die institutionelle Konfiguration dieser Strukturen in den Blick nimmt, wurden einzelne Teilaspekte analytisch getrennt. Dies geschieht haupts¨achlich auf der Ebene der unabh¨angigen Variable: Die verschiedenen Aspekte der nationalen institutionellen Kontexte sind in der Literatur deutlich weiter analytisch ausdifferenziert als die Bewegungen, auf die sie wirken (vgl. Della Porta und Diani 2006: 196). So werden eine Reihe von Teilkomponenten politischer Gelegenheits-

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strukturen unterschieden (die Aufz¨ahlungen ist Ergebnis einer Synthese von Della Porta und Diani 2006; Hellmann 1998; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996): Politische Gelegenheitsstrukturen bestehen sowohl aus Strukturen” als auch aus Strategien” (Hellmann 1998). ” ” Auf der Strukturseite lassen sich Konfliktlinien” und Institutionen” unterscheiden, auf ” ” der Strategieseite die vorherrschenden Strategien im Umgang mit Herausforderern”, also ” informelle Prozeduren und Strategien der politischen Eliten im Umgang mit Heraus” forderern” und die Allianzstrukturen” (Kriesi u. a. 2003: 26). Die Auspr¨agungen dieser ” Variablen bestimmt ihre Wirkung auf soziale Bewegungen. Die jeweilige Auspr¨agung von Konfliktlinien” zeigt sich erstens im Grad ihrer Ge” ” schlossenheit” und zweitens in ihrer Salienz” (Kriesi u. a. 2003: 5ff.). Wenn eine Kon” fliktlinie hochgradig geschlossen ist, sind die einzelnen Segmente der Gesellschaft eher homogen und die Mobilit¨at zwischen den Segmenten ist gering. Bez¨ uglich der Salienz sind nicht befriedete” Konfliktlinien informell und nicht institutionalisiert, befriedete” ” ” Konfliktlinien sind etwa durch autonome Institutionen f¨ ur die verschiedenen Segmente institutionalisiert. Aus der Geschlossenheit und der Salienz leiten Kriesi u. a. (2003) das Mobilisierungspotenzial der Konfliktlinien ab: Das h¨ochste Potenzial f¨ ur neue Mobilisierung haben demnach offene, aber nicht befriedete Konfliktlinien. Der Punkt Institutionen” bezieht sich auf die staatlichen Institutionen, die das formale ” politische Umfeld der Bewegungen bilden. Institutionelle Variablen beinhalten territo” riale Dezentralisierung” und funktionale Gewaltenteilung” (Della Porta und Diani 2006: ” 202ff.). Demnach erh¨oht eine dezentrale Machtverteilung erstens die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegungen Zugang zum System der Entscheidungsfindung haben, und zweitens die M¨oglichkeiten der Bewegungsmobilisierung auf der lokalen Ebene (vgl. Della Porta und ¨ Diani 2006: 202f.). Ahnliches wird f¨ ur die funktionale Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative sowie zwischen einzelnen Akteuren innerhalb des politischen Systems angenommen: Die Existenz vieler autonomer Anlaufpunkte innerhalb des formal-politischen Systems erh¨ohe die Zahl der m¨oglichen Einflusskan¨ale f¨ ur Bewegungen und somit die Offenheit des Systems der Entscheidungsfindung (vgl. Della Porta und Diani 2006: 203). Rucht (1996) denkt die Frage nach dem Zugang der Bewegung zu den formalstaatlichen Institutionen dahingehend weiter, wie diese Zug¨ange selbst die Struktur der Bewegung beeinflussen. Ein offener Zugang zum System der politischen Entscheidungsfindung, ein offener Zugang zum Parteiensystem und stark ausgepr¨agte Gewaltenteilung erh¨ohen demnach die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegungen starke Ressourcenausstattungen und formalisierte Organisationsstrukturen aufweisen. Grund hierf¨ ur sei der durch die relative Offenheit der formal-politischen Institutionen gebotene Anreiz, Bewegungsaktivit¨aten im Umfeld dieser Institutionen anzusiedeln, wobei die Aktivit¨at von Bewegungen wiederum deren formale Organisation und die Allokation von Ressourcen f¨ordere (vgl. Rucht 1996: 191ff.). Des Weiteren werden die politischen Gelegenheitsstrukturen bestimmt durch Allian” zen” mit bewegungsexternen Akteuren (vgl. Della Porta und Diani 2006; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996). Solche Allianzen k¨onnen zu einer weiten Bandbreite von Akteuren bestehen, etwa Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, ausl¨andischen Nichtregierungsorganisationen oder Internationalen Organisationen. Kriesi u. a. (2003) haben dargestellt, wie etwaige Allianzen mit Parteien oder mit Regierungen auf die Bewegungen wirken: Wenn eine thematisch der Bewegung nahestehende Partei existiert, sei deren Unterst¨ utzung entscheidend f¨ ur den Mobilisierungserfolg der Bewegung (vgl. Kriesi u. a. 2003: 53). Ob solche Parteien die Bewegung unterst¨ utzen, und wie diese Unterst¨ utzung wirkt, h¨ange

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wiederum von deren Position in der Regierung ab: Parteien in der Opposition kooperieren extensiver mit Bewegungen als Parteien an der Regierung (vgl. Kriesi u. a. 2003: 59ff.). Die Unterst¨ utzung von Parteien f¨ ur Bewegungen h¨angt zudem von m¨oglicher Konkurrenz bei Wahlen ab: Wenn mehrere konkurrierende Parteien derselben Bewegung nahestehen, wird dies die Bem¨ uhung der Parteien um die Stimmen der Aktivisten erh¨ohen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 214f.). Eine weitere Komponente politischer Gelegenheitsstrukturen sind die staatlichen Stra” tegien im Umgang mit Herausforderern” (Kriesi u. a. 2003: 33ff.). Diese h¨angen nicht direkt vom formalen institutionellen Gef¨ uge ab, sondern diese analytische Kategorie repr¨asentiert informellere Strukturen, die durch tradierte, historisch gewachsene Praktiken gepr¨agt sind. Die idealtypischen dichotomen Auspr¨agungen sind ein inklusiver”, koope” rativer, f¨ordernder Umgang des Staats mit seinen Herausforderern, und ein exklusiver”, ” konfrontativer, polarisierender und unterdr¨ uckender Umgang (Kriesi u. a. 2003: 34). Bez¨ uglich der Frage, wie nun die Strategien im Umgang” und andere Komponenten ” politischer Gelegenheitsstrukturen sich auf Bewegungen auswirken, verweisen Kriesi u. a. (2003: 37ff.) auf einen Zwischenschritt. Die statischen POS determinieren Formen und Aktivit¨aten von Bewegungen nicht direkt, sondern u ¨ber kurzzeitige konkrete Gelegen” heiten”. Anders gesagt, geh¨oren zu den bewegungsexternen Kontextfaktoren, welche auf Bewegungen wirken, neben den Strukturmerkmalen” auch die kontingenten mobilisie” ” rungsf¨ordernden Ereignisse” (Koopmans 1998: 223ff.). Es sind Momente der kontingenten Ereignisse, welche Z¨asuren in der Entwicklung von Bewegungen bilden k¨onnen. Wenn es zu Z¨asuren in der Bewegungskonfiguration kommt, die eventuell durch Verschiebungen in den POS ausgel¨ost wurden, k¨onnen diese Z¨asuren wiederum R¨ uckwirkungen auf die POS haben. Obwohl grunds¨atzlich der Einfluss aus Richtung der POS in Richtung der Bewegungen l¨auft, kann sich diese Richtung unter Bedingungen von Umbr¨ uchen also auch umkehren. Modifikationen der POS-Komponenten gibt es in solchen F¨allen insbesondere im Bereich der Allianzen” zwischen Bewegungen und staatlichen oder anderen ” Akteuren sowie im Bereich der staatlichen Strategien des Umgangs mit Bewegungen (vgl. Kriesi 2004: 79; s. auch McAdam, Tarrow und Tilly 2001). 3.1.2 Rahmenanalyse Der Ansatz der Rahmenanalyse verh¨alt sich zum Ansatz der Politischen Gelegenheitsstrukturen komplement¨ar, denn er betont nicht Strukturen, sondern Bedeutungen, und z¨ahlt somit zu den konstruktivistischen Ans¨atzen der Bewegungsforschung (vgl. Hellmann 1998; Snow 2004: 384). Die Rahmenanalyse sozialer Bewegungen wurde maßgeblich von David A. Snow entwickelt. Es geht dabei um den Prozess, wie Bewegungsakteure die vorhandenen Missst¨ande in einer Art interpretieren, die Mobilisierung erm¨oglicht: The ” basic underlying premise is that frame alignment, of one variety or another, is a necessary condition for participation“ (Snow, Rochford u. a. 1986). Diese Annahme beruht auf der Theorie der Rahmenanalyse von Goffman (1974), der Rahmen” als Interpretations” ” schemata” begreift, die es erm¨oglichen, Begebenheiten zu lokalisieren, wahrzunehmen, ” identifizieren und benennen” (Goffman 1974: 21; zitiert nach Snow, Rochford u. a. 1986: 464). Auch im Kontext sozialer Bewegungen sind Themen nicht einfach objektiv vorhanden, sondern die Welt muss gedeutet ( gerahmt”) werden. So m¨ ussen etwa Ver¨anderungen des ” politischen Kontextes als politische Gelegenheiten gerahmt werden, damit die Akteure die

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sich bietenden politischen Gelegenheitsstrukturen erkennen und in diesem Sinn mobilisieren k¨onnen (vgl. Gamson und Meyer 1996). Es ist notwendig, die Kontexte und Themen der Bewegung zu lokalisieren, wahrzunehmen, identifizieren und benennen” (s.o.), weil ” nur so ein Bezugsrahmen hergestellt werden kann, auf Grund dessen Aktivisten mobilisiert werden k¨onnen: In contrast to the traditional view of social movements as carriers of extant, preconfigured ideas and beliefs, the framing perspective views movements as signifying agents engaged in the production and maintenance of meaning for protagonists, antagonists, and bystanders. (Snow 2004: 384) Die Funktionen der Rahmung f¨ ur das Aushandeln von Bedeutung besteht in Fokussie” rung”, Artikulation” und Transformation” (Snow 2004: 384f.) von Bedeutungen: Rah” ” men fokussieren die Aufmerksamkeit auf ausgew¨ahlte Aspekte eines Sachverhalts und betonen deren Relevanz; sie fungieren als Artikulationsmechanismen, indem sie bestimmte Bedeutungen hervorheben und narrativ einbetten; und sie ver¨andern die Bedeutung von Objekten, Beziehungen und biographischen Elementen (vgl. Snow 2004: 384f.). F¨ ur soziale Bewegungen sind drei Arten von Rahmung relevant (vgl. Snow und Benford 1988; Snow 2004: 390; s. auch Della Porta und Diani 2006: 74-79): Der diagnostische Rah” men” definiert das Problem. Dabei ist zu beachten, dass die konsensuale Hervorhebung eines bestimmten Problems, auf welches sich eine Bewegung konzentriert, nat¨ urlich mit der Vernachl¨assigung weiterer vorhandener Probleme einhergeht (vgl. Della Porta und Diani 2006: 76). Auf den diagnostischen Rahmen folgt der prognostische Rahmen”, der ” definiert, welche L¨osung f¨ ur das diagnostizierte Problem angestrebt wird. Schließlich wird der motivationale Rahmen” konstruiert, denn zur Mobilisierung von Aktivisten reichen ” eine Problemdiagnose und ein L¨osungsvorschlag nicht aus. Es muss zudem ein Rahmen bereitgestellt werden, der dahingehend zum Protest motiviert, als er eine kollektive Solidarit¨at unter den Aktivisten begr¨ undet und zur Schaffung einer Aktivistenidentit¨at beitr¨agt (vgl. Della Porta und Diani 2006: 79). Rahmungsprozesse finden an verschiedenen Zeitpunkten im Verlauf von Protesten statt. Zu Beginn einer Bewegung oder einer Protestwelle wird der Rahmen hergestellt, etwa indem die Interpretationen von einzelnen potenziellen Aktivisten mit den Interpretationen von Bewegungsorganisationen verkn¨ upft werden (vgl. Snow, Rochford u. a. 1986: 467). Die Rahmung kann aber im weiteren Verlauf durchaus angepasst werden (vgl. Snow 2004: 391). In der Herstellung und der Transformation von Rahmen identifizieren Snow, Rochford u. a. ¨ (1986) vier Prozesse: Ein Rahmung kann durch Uberbr¨ uckung” mehrere unterschiedliche ” Deutungen eines Sachverhalts vereinen, er kann durch Verst¨arkung” einen Aspekt in ” der Interpretation hervorheben, er kann durch Erweiterung” weitere Themen in eine ” Rahmung mit einschließen, und er kann durch Transformation” die Bedeutung eines ” Sachverhalts grundlegend umdeuten (Snow, Rochford u. a. 1986: 467ff. vgl. auch Hellmann 1998: 21). Die Rahmung beeinflusst schließlich die Realisierungsm¨oglichkeiten und somit das Entstehen von Protestwellen (vgl. Snow und Benford 1992: 146), aber auch andere Aspekte der Konfiguration einer Bewegung. So h¨angen etwa auch die Wahl von Aktionsformen und von Organisationsweisen von den Rahmen ab, in denen Aktivisten die Bewegung und sich selbst einordnen (vgl. Snow und Benford 1992: 143; Taylor und Van Dyke 2004: 277). Besonders umfassende Rahmungen k¨onnen einen Masterrahmen” bilden (Snow 2004; ” Snow und Benford 1988, 1992). Masterrahmen sind in hohem Maß inklusiv und k¨onnen

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daher zu breiter Mobilisierung beitragen, insbesondere wenn die zu mobilisierenden Akteursgruppen heterogen sind, aber ihre Interessen sich grob unter den Masterrahmen subsumieren lassen (vgl. Snow 2004: 390). Masterrahmen stellen also wichtige integrierende ” Mechanismen” dar, die zur Bildung von Koalitionen zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen beitragen (Snow 2004: 390f.). Die Entwicklung eines Rahmungsprozesses kann unter den Aktivisten durchaus umstritten sein. Die Rahmungsprozesse, mit denen Protestthemen bestimmt werden, k¨onnen auch Ideologien konstruieren, so dass Snow (2004) herausstellt, dass Rahmungen und Ideolo” gien Aspekte desselben Komplexes” sind (Snow 2004: 405). Della Porta und Diani (2006: 75) weisen darauf hin, dass es bei der Entwicklung eines diagnostischen Rahmens auch darum geht, welche Akteure berechtigt sind, eine Meinung zur Diagnose des Missstands zu haben. Ebenso geht es bei der Entwicklung eines prognostischen Rahmens darum, welcher m¨ogliche L¨osungsansatz sich durchsetzt, und beim motivationalen Rahmen um die Legitimit¨at mobilisierbarer Identit¨aten. Daher schlagen Della Porta und Diani (2006: 87) vor, die Rahmungskompetenz [framing skills] der beteiligten Akteure als Ressource zu analysieren, die von Bewegungsorganisationen und anderen Akteuren strategisch eingesetzt werden kann. Snow und Benford (1992: 150) erkennen an, dass selbst hoch inklusive Masterrahmen umstritten sein k¨onnen. Besonders angezweifelt werden Masterrahmen in ihrer Entstehungsphase, in der u ¨ber die Ausgestaltung und die Schwerpunktsetzung der Rahmen verhandelt wird, sowie gegen Ende einer Protestwelle, wenn die Integrationskraft eines Masterrahmens nachl¨asst. Wenn in dieser Phase ein konkurrierender Rahmen entsteht, wird dadurch die Irrelevanz des alten Rahmens verdeutlicht und dieser in Frage gestellt (vgl. Snow und Benford 1992: 150). 3.1.3 Bewegungsorganisationen Eine zentraler Ansatz in der Analyse sozialer Bewegungen besteht darin, die Akteure der Bewegung zu untersuchen, und dabei insbesondere deren Organisationsweise in den Blick zu nehmen. Ein Fokus auf Organisationen wurde in der Bewegungsforschung durch den Ressourcenmobilisierungs-Ansatz eingef¨ uhrt, der, in Abgrenzung vom POS-Ansatz, den Blick [weg] von allgemeinen gesellschaftlichen M¨oglichkeitsbedingungen des Protests auf ” das Entscheidungs- und Handlungszentrum einer Bewegung” lenkte (Hellmann 1998: 22). In diesem Zentrum der Bewegung” bewegen sich verschiedenartige Akteure, etwa ” NGOs, Parteien, informelle Netzwerke, unabh¨angige Aktivisten und andere Konstellationen. Wie Rucht (2004: 509) es ausdr¨ uckt, sind Bewegungen hybride, zwischen infor” mellen Kleingruppen und formellen Organisationen gelagerte Kollektive”. Bewegungsorganisationen sind tendenziell sichtbarer als einzelne Individuen. Zudem gilt die Existenz von Organisationen innerhalb von Bewegungen auch als Voraussetzung f¨ ur das dauerhafte Bestehen einer Bewegung (vgl. McAdam, McCarthy und Zald 1996b: 13). Viele Bewegungsorganisationen bezeichnen sich als NGOs (Nichtregierungsorganisationen). W¨ahrend ausf¨ uhrliche Typologien von Bewegungsorganisationen, die unten weiter diskutiert werden, weitgehend auf Westeuropa und Nordamerika bezogen sind, wurde der Organisationstyp NGO auch mit Blick auf den Nahen Osten besprochen. NGOs k¨onnen, je nach Reichweite oder Finanzierungsquelle, weiter klassifiziert werden in INGOs (international NGOs), GONGOs (government-organized NGOs), QUANGOs (quasi-NGOs), DONGOs (donor-organized NGOs) usw. (z.B. Carapico 2000). Entlang ihrer unterschiedlichen Ziele und Funktionen werden sie unterschieden in charity-NGOs, die bestimmte

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Dienstleistungen erbringen, und advocay-NGOs, deren Ziel in der Durchsetzung eines Anliegens liegt. Auch wenn NGOs etwa im Aktivismus f¨ ur Frauenrechte zuweilen beide Funktionen vereinen, beispielsweise Frauen beraten und ihre Kinder betreuen und zugleich f¨ ur feministisch begr¨ undete Gesetzes¨anderungen streiten, ist die Unterscheidung nach advocacy und charity f¨ ur diese Arbeit sinnvoll, da es um politische Strategien geht. Ben N´efissa (2005) f¨ uhrt Unterschiede zwischen den beiden Typen mit Bezug auf den Nahen Osten aus: Charity-NGOs sind h¨aufig in religi¨osen, lokalen oder anderen Gemeinschaften verwurzelt; advocacy-NGOs sind ein deutlich j¨ ungeres Ph¨anomen und unabh¨angiger von solchen gesellschaftlichen Strukturen, verf¨ ugen somit aber auch u ¨ber weniger soziale Basis. Auch ihre Finanzierung beziehen advocacy-NGOs kaum aus der Gemeinschaft, sondern prim¨ar von internationalen Gebern. Der Boom, den NGOs im Nahen und Mittleren Osten seit den 1990er Jahren erlebten, steht in Zusammenhang mit Transformationen der politischen Gelegenheitsstrukturen. Wie Abu-Sada und Challand (2011) in einem aktuellen Aufsatz aus Anlass des Arabi” schen Fr¨ uhlings” darlegen, ging mit dem Machtverlust des Staats ein Machtzuwachs f¨ ur NGOs einher. Besonders die charity-NGOs u ¨bernehmen Staatsaufgaben und sind durchaus mit dem Staat verflochten. Deshalb pl¨adiert Harders (2002: 233) daf¨ ur, sie eher als in ” Klientelketten eingebundener quasi-privatisierter Teil des unf¨ahigen Wohlfahrtsstaates”’ ’ zu verstehen denn als oppositionellen Akteur. Advocacy-NGOs hingegen werden in der Nahost-Literatur auch als Nachfolger von Parteien gesehen, wie Hegasy (2010) ausf¨ uhrt. Ein Unterschied zu Parteien ist, dass advocacyNGOs sich in der Regel auf ein bestimmtes Thema konzentrieren. Sie dienen wie Parteien der Interessenvertretung und interagieren auch h¨aufig mit dem formal-staatlichen System, aber eben monothematisch. Im Nahen Osten, in dem Parteien als Interessenvertreter in die Krise geraten sind, u ¨bernehmen sie gewissermaßen die Funktion von one-issue-parties” ” (Hegasy 2010: 23). Dass advocacy-NGOs h¨aufig Gegenpositionen gegen¨ uber den autorit¨aren arabischen Staaten einnehmen, f¨ uhrt aber nicht automatisch zu einer Bewertung dieser NGOs als Agenten der Demokratisierung. NGOs k¨onnen, auch wenn sie demokratische Inhalte vertreten, im politischen Gef¨ uge Positionen einnehmen, welche keineswegs als demokratisch einstufbar sind. Daher ist die Bewertung von advocacy-NGOs mit Bezug zu Fragen nach Demokratisierung ambivalent. Traboulsi 2000 weist advocacy-NGOs sogar eine depo” litisierende” Wirkung zu: Wenn sie politische Themen in ihre Zust¨andigkeit u ¨bernehmen, die somit nicht mehr an den Staat adressiert werden, bedeute dies eine Verlagerung dieser Themen aus dem politischen Prozess heraus. Hierzu ist allerdings festzuhalten, dass es nicht NGOs sind, welche proaktiv die politischen Parteien entmachten, sondern dass NGOs eine L¨ ucke in der Interessenvertretung besetzen, welche sich durch die Krise der Parteien auftut. Problematischer ist, wie Abu-Sada und Challand (2011) feststellen, dass auch NGOs genau wie Parteien vom Staat kooptiert werden k¨onnen. Sie machen zwar einerseits dem Staat das Monopol auf politisches Handeln streitig, k¨onnen aber auch als vermittelnde Instanzen zwischen staatlichen Institutionen und B¨ urgern fungieren und somit zum Instrument der staatlichen Politik werden. In beiden F¨allen sind es nicht die einzelnen B¨ urger, zu deren Gunsten der Staat Macht verliert oder abgibt, sondern es sind die NGOs, die erm¨achtigt werden (vgl. Abu-Sada und Challand 2011). AdvocacyNGOs stellen also nicht unbedingt eine radikale, anti-systemische Opposition dar: Sie k¨onnen sowohl einen Raum der Gegenmacht” darstellen als auch ein Instrument der ” ” Entwicklungspolitik, mobilisierbar sowohl durch die zentralen Autorit¨aten als auch durch

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internationale Geber” (Abu-Sada und Challand 2011). NGOs sind also durchaus ins politische System integriert, durch Interaktion mit dem Staat auf nationaler Ebene, und durch Geberstrukturen auf internationaler Ebene. Die Finanzierung von NGOs aus dem Ausland ist ein Faktor, durch den die Legitimit¨at von NGOs in Frage gestellt wird. Ein Grund hierf¨ ur liegt in der genannten engen Interaktion mit den Gebern, wegen der die Autonomie dieser NGOs bezweifelt wird (vgl. Hanafi 2005, 2010; Hanafi und Tabar 2005). Zum anderen wurde f¨ ur den Fall der Pal¨astinensischen Autonomiegebiete gezeigt, dass die dortige St¨arke des international finanzierten NGOSektors eine globalisierte Elite” geschaffen hat, welche von einem Großteil der lokalen ” Bev¨olkerung entfremdet ist (Hanafi und Tabar 2005; s. auch Hanafi 2012). Neben NGOs wurde eine Reihe weiterer Typen von Bewegungsorganisationen beschrieben. Rucht (1996) schl¨agt als Unterscheidungskriterium den Grad ihrer Involviertheit in das formal-politische System vor und unterscheidet die Modelle Graswurzel”, Interes” ” sengruppe” und Partei”. Welches dieser drei Modelle sich entwickelt, wird durch den ” politischen Kontext determiniert, so Rucht (1996: 191). Er geht davon aus, dass es die jeweilige Dominanz der einen oder anderen Organisationsform ist, durch welche die Bewegung gepr¨agt wird. Entsprechend unterscheidet er auch auf der Ebene der Bewegungen drei Typen: 1. The grassroot model, characterized by a relatively loose, informal, and decentralized structure, an emphasis on unruly, radical protest politics, and a reliance on committed adherents; 2. The interest group model, characterized by an emphasis on influencing policies (via lobbying, for instance) and a reliance on formal organization; 3. The party-oriented model, characterized by an emphasis on the electoral process, party politics, and, as well, a reliance on formal organization. (Hervorhebung im Original Rucht 1996: 188) Rucht geht hier davon aus, dass Organisationsformen und Aktionsformen eng miteinander verbunden sind. Die Pr¨agung einer Bewegung entlang einem der drei Modelle”, also ” die Dominanz eines bestimmten Organisationstypus innerhalb einer Bewegung, bestimme, welche Strategien” und Politischen Aktivit¨aten” von der Bewegung gew¨ahlt werden ” ” (Rucht 1996: 191). Della Porta und Diani (2006: 145ff.) machen eine ¨ahnliche Klassifizierung von Bewegungsorganisationen auf. Sie verkn¨ upfen Organisationsformen nicht mit Aktionsformen, sondern mit Stabilit¨at und mit Ideologie. In ihrer Typologie ist das erste Kriterium, ob die Aktionen einer NGO von bezahltem Personal ( professionelle Organisa” tion”) oder von ehrenamtlichen Aktivisten ( partizipatorische Organisation”) ausgef¨ uhrt ” werden. Innerhalb der zweitgenannten Kategorie wird als zweites Kriterium die interne Strukturierung der Organisation herangezogen: Stark formal durchstrukturierte Organisationen werden als Massenprotestorganisationen” bezeichnet, wenig formal strukturierte ” Organisationen als Graswurzelorganisation”. Diese formalen Eigenschaften der Organi” sationstypen setzen Della Porta und Diani (2006) in Bezug zu ihrer Stabilit¨at: St¨arker formalisierte und professionalisierte Organisationen seien stabiler, Graswurzelorganisationen – am anderen Ende des Spektrums – seien weniger stabil. Dies zeigt sich darin, dass Organisationen mit professionalisiertem, fest angestellten Personal stetig aktiv sind, w¨ahrend Graswurzelorganisationen mit ihren freiwilligen, nicht formal gebundenen, unbezahlten Aktivisten Phasen von Aktivismus” und von Latenz” durchmachen (Della Porta ” ”

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und Diani 2006: 149). Andererseits kann Professionalisierung auf Kosten von Legitimit¨at gehen, denn Graswurzelorganisationen gelten aus Sicht ihrer Mitglieder oder Anh¨anger als legitimer (vgl. Della Porta und Diani 2006: 145f.). Zudem sind die Kosten des Zugangs zu informellen Organisationen f¨ ur große Teile der Bev¨olkerung, zumal im Nahen und Mittleren Osten, geringer als die Kosten des Zugangs zu formalen Organisationen (vgl. Singerman 1995: 9). Abgesehen von dem Grad der Organisiertheit sei eine weitere Quelle von Legitimit¨at unter den Anh¨angern die ideologische Koh¨arenz, welche eine Organisation zeigt. Das Festhalten an Ideologien und Prinzipien f¨ordert dabei den internen Zusammenhalt in der Organisation. Sie kann aber politische Aushandlungsprozesse innerhalb der Bewegung erschweren. Ideologische Koh¨arenz kann dabei hinderlich sein, im Sinne von bewegungsinterner Kooperation Kompromisse zuschließen, um die Zusammenarbeit mit ideologisch anders aufgestellten Bewegungsakteuren zu erleichtern (vgl. Della Porta und Diani 2006: 150). Tilly und Wood (2012) weisen darauf hin, dass soziale Bewegungen nicht als v¨ollig autonome Akteure agieren, sondern als interaktive Kampagnen”. Sie interagieren mit ” verschiedenen, wechselnden Aktivisten und Protestgruppen, aber auch mit ihren Gegnern und mit staatlichen Akteuren. Diese komplexen, wechselnden Interaktionen sind zentral f¨ ur das Verst¨andnis der Entwicklung sozialer Bewegungen (vgl. Tilly und Wood 2012: 12f.). Mit Blick auf die Binnenstruktur von Bewegungen ist festzustellen, dass Bewegungsorganisationen – NGOs oder andere – in vielf¨altigen, netzwerkartigen Beziehungen zu anderen Bewegungsorganisationen stehen. In der Struktur dieser Netzwerke sind die Verbindungen zwischen einzelnen Punkten verschieden stark und auch qualitativ unterschiedlich. Della Porta und Diani (2006: 159ff.) weisen darauf hin, dass Bewegungsnetzwerke hybrid” sind. Somit sind Bewegungen keine kopflosen” Gebilde, in denen alle Punkte ” ” gleichm¨aßig dezentral sind, sondern sie sind mehrk¨opfig”, weil es mehrere relativ be” deutsamere Punkte gibt, etwa wichtige Bewegungsorganisationen oder zentrale Figuren. Bewegungen sind zudem segmentiert” in einzelne kleinere Netzwerke, die untereinander ” wiederum enger verkn¨ upft sein k¨onnen, so dass Bewegungen als Netzwerke von Netzwer” ken” bezeichnet werden (vgl. auch Neidhardt 1985: 197; zitiert nach Rucht 2004: 202). Diese kleineren Netzwerke wie auch die einzelnen Bewegungsorganisationen sind letztlich autonom: Es ist ihre jeweilige Entscheidung, in der Bewegung zu kooperieren (vgl. Della Porta und Diani 2006: 157ff.). Wird die hybride, netzwerkartige Struktur von Bewegungen konsequent weitergedacht, so kann auch nicht mehr die Rede von Beziehungen einer einheitlichen, als black box betrachteten Bewegung zu einem Gegner (etwa dem Staat) sein. Vielmehr bestehen vielf¨altige Beziehungen nicht nur zwischen den einzelnen Elementen der Bewegung untereinander, sondern auch zwischen den Elementen der Bewegung und den bewegungsexternen Antagonisten (vgl. Rucht 2004: 212f.). Diese internen und externen Beziehungen sind, wie Rucht weiter betont, komplex, vielf¨altig und ver¨anderlich. Sie changieren zwischen Ko” operation”, Konkurrenz” und Konflikt” (Rucht 2004: 203ff.): Damit die segmentier” ” ten, autonomen Akteure als eine soziale Bewegung zusammenarbeiten, ist Kooperation vonn¨oten. Bewegungsakteure nehmen an gemeinsamen Aktionen oder Strukturen teil, aber dies ist kein automatisches Ergebnis eines gemeinsamen Anliegens, sondern erfordert Koalitionsarbeit”. Wie stark die bewegungsinterne Kooperation formalisiert wird, h¨ange ”

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ab von POS und von Einstellungen der Akteure zu organisatorischen Entscheidungen (vgl. Rucht 2004: 203f.). Komplement¨ar zur Kooperation sind Beziehungen zwischen Bewegungsorganisationen auch von Konkurrenz gekennzeichnet. Sie treten an den Punkten in Wettbewerb untereinander, in denen ideologische und strategische Pr¨aferenzen zur Debatte stehen oder in denen sie um knappe Ressourcen konkurrieren, etwa um Mitglieder oder um mediale Aufmerksamkeit (vgl. Rucht 2004: 204). Schließlich gibt es in Bewegungen latente Konfliktlinien, an deren Bruchstellen bewegungsinterne Konflikte auftreten k¨onnen: Diese bez¨ogen sich auf Diskrepanzen zwischen Ideologie und Pragmatismus oder auf Uneinigkeit zwischen organisatorischen Prinzipien (vgl. Rucht 2004: 205f.). Die Uneinigkeit zwischen einzelnen Teilen einer Bewegung u ¨ber organisatorische Prinzipien ist relevant f¨ ur die Analyse von Bewegungsverl¨aufen und Bewegungsstrategien. Dies wurde bereits in der Ausf¨ uhrlichkeit der oben stehenden Ausf¨ uhrungen zu verschiedenen Organisationsprinzipien von Bewegungsorganisationen deutlich: Die Wahl einer bestimmten Organisationsweise ist nicht nur zur¨ uckzuf¨ uhren auf verf¨ ugbare Ressourcen oder ¨ auf Uberlegungen zur politischen Effektivit¨at, sondern eine bestimmte Organisationsform kann auch aus programmatische Gr¨ unden gew¨ahlt werden. So zeigt J. L. Cohen (1985), dass in den NSB die Wahl bestimmter Organisationsformen auch als Schaffung demokratischer, autonomer Nische gesehen wird. Diese stellen somit in sich selbst politische Ziele ( ends in themselves”) dar, auch wenn sie sich damit dem Vorwurf der strategischen ” Ineffektivit¨at aussetzen (vgl. J. L. Cohen 1985: 670, 689): Indeed, their organizations are not viewed by the actors as mere resources to serve the goal of mobilization into large-scale confrontations whose stakes are state power. Instead, democratically structured associations and public spaces, a plurality of types of political actors and action within civil society, are viewed as ends in themselves. Indeed, many of the actors interpret their actions as attempts to renew a democratic political culture and to reintroduce the normative dimension of social action into political life. (J. L. Cohen 1985: 670) ¨ Ahnliches wurde auch mit Blick auf die Bewegung der Globalisierungskritiker angemerkt: [I]n North America especially, this is a movement about reinventing democracy. It is not opposed to organization. It is about creating new forms of organization. It is not lacking in ideology. Those new forms of organization are its ideology. (Graeber 2004: 212, Hervorhebung im Original) Aus dieser Perspektive wird die Bedeutung von formalen Organisationen f¨ ur soziale Bewegungen relativiert. Auch wenn Organisiertheit, wie oben dargelegt, Voraussetzung f¨ ur das dauerhafte Bestehen einer Bewegung sowie f¨ ur die Stabilit¨at von Bewegungsorganisationen ist, so kann politisches Handeln auch jenseits von formalen Organisationsformen stattfinden. In diesem Sinne weisen etwa NSB-Theoretiker darauf hin, dass auch nichtinstitutionelle Praktiken als politisch” gelten k¨onnen: Das Kriterium f¨ ur die politische ” Qualit¨at einer Praxis außerhalb von formalen Institutionen sei dann, dass deren Mittel legitim” und ihre Ziele bindend” sind (Offe 1985: 826f.). ” ”

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3.1.4 Aktionsformen und Repertoires Ein weiterer zentraler Analyseansatz mit Blick auf soziale Bewegungen besteht darin, die Aktionsformen der Bewegung zu untersuchen. Die Aktionen sozialer Bewegungen sind dabei h¨aufig als Protest” zu klassifizieren: Protest ist eine Form von contentious po” litics, also von politischem Handeln, dem Streit oder Auseinandersetzungen zugrunde liegen (vgl. Tarrow 1993, 1998, 2011; Tilly 1979, 2007, 2008; Tilly und Tarrow 2007). Der Begriff contentious politics sagt dabei noch nichts dar¨ uber aus, inwieweit die politische Auseinandersetzung sich innerhalb, außerhalb oder zwischen staatlichen oder formalen Institutionen abspielt, sondern ist definiert als episodic, public, collective interaction among makers of claims and their objects when (a) at least one government is a claimant, an object of claims, or a party to the claims and (b) the claims would, if realized, affect the interest of at least one of the claimants. (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 5) Diese Definition wird paraphrasiert als kollektiver politischer Kampf” (McAdam, Tar” row und Tilly 2001: 5). Die Formen solcher K¨ampfe haben sich, wie Tilly und Wood (2012: 4) zeigen, zu bestimmten historischen Momenten ge¨andert: An den Momenten, wo bestimmte Aktionsformen wie vor allem der disziplinierte Straßenmarsch” sich eta” blierten, begannen die beteiligten Akteure selbst, von sozialen Bewegungen” zu sprechen. ” Ebenso wie auf der Ebene der Organisationsformen ist auf der Ebene der Aktionsformen sozialer Bewegungen eine breite Varianz zu beobachten, deren jeweilige Legitimit¨at und Wirksamkeit in der Literatur unterschiedlich bewertet wird. Die variantenreichen Praktiken von sozialen Bewegungen bzw. von Aktivisten werden zusammenfassend als Protest” ” charakterisiert. Protest unterscheidet sich demnach von anderen Formen von contentious politics dadurch, außerhalb politischer Routinen stattzufinden: What, then, do all these actions have in common? In the first place, they are forms of protest: i.e. nonroutinized ways of affecting political, social, and cultural processes. (Della Porta und Diani 2006: 165; vgl. auch Taylor und Van Dyke 2004: 263) In der Literatur werden auf der Ebene von Aktionsformen h¨aufig zwei Klassen von Aktionen unterschieden, die als alt” und neu” bezeichnet werden. W¨ahrend mit Blick auf ” ” neue soziale Bewegungen in Europa (zum Ansatz der neuen sozialen Bewegungen” s. ” Abschnitt 3.1.5) bereits in den 1980er Jahren Kataloge neuer” Aktionsformen erstellt ” wurden (z.B. Della Porta und Tarrow 1986; Offe 1985), wurden solche f¨ ur die arabische Welt insbesondere, aber nicht ausschließlich, seit 2011 diskutiert. So beobachtet Cilja Harders unkonventionelle Partizipationsformen” und informelle, illegale und unsicht” ” bare Partizipationsweisen” (Harders 2009: 302) sowie neue Modi der Mobilisierung wie ” die Besetzung des ¨offentlichen Raums und die netzwerkf¨ormige Organisierung von Koalitionen” (Harders 2011: 15). Bezogen auf Diskussionen um Aktivismus im Arabischen ” Fr¨ uhling”, als dessen Akteure sie vor allem Jugendliche sieht, betont Emma Murphy the novelty and innovation of formats for youth activism which erase the boundaries between public and private, and the complexities of that activism which simultaneously comprise resistance, negotiation and compliance. (Murphy 2012a: 4)

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Die Neuheit, Unkonventionalit¨at und Komplexit¨at, durch welche sich zahlreiche Proteste j¨ ungerer Zeit in der arabischen Welt und weltweit auszeichnen, lassen sich durch die ihnen zugrunde liegenden Protestlogiken erkl¨aren. Zun¨achst ist Protest, im Gegensatz zu anderen Formen von contentious politics (s. McAdam, McCarthy und Zald 1996a; McAdam, Tarrow und Tilly 2001; Tarrow 2005, 2011; Tilly 2008; Tilly und Wood 2012), eine Ressource der Machtlosen” (Lipsky 1968; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: ” 166f.), w¨ahrend Akteuren mit Zugang zur Macht andere Mittel zur Verf¨ ugung stehen, die zum Erreichen politischer Ziele in der Regel effektiver sind. Wer realistische Chancen hat, seine politischen Ziele u ¨ber formale Wege zu erreichen, wird diese nutzen, anstatt mit ungekl¨arter Erfolgsaussicht zu protestieren. Politische Effektivit¨at ist daher kein Kriterium, anhand dessen eine Handlung als Pro” test” verstanden wird.7 Vielmehr wird hier der Definition von Taylor und Van Dyke (2004: 268ff.) gefolgt, wonach sich Protest auszeichnet durch Streit [contestation], Intentionalit¨at und kollektive Identit¨at. Protestaktionen von sozialen Bewegungen beziehen sich demnach per Definition erstens auf einen Konflikt, es geht um einen Streitpunkt. Zweitens zielen die ¨ ¨ Akteure auf politische Anderungen oder auf die Abwendung von Anderungen. Handlungen, die nebenbei” politische Ergebnisse erreichen, fallen nicht unter die Definition von ” Protest”.8 Drittens ordnen sich die Protestakteure einer gr¨oßeren kollektiven Identit¨at ” zu, in der Regel einer sozialen Bewegung. Welche Art des Protests aus einer Vielzahl von m¨oglichen Aktionsformen gew¨ahlt wird, h¨angt zun¨achst von der Verf¨ ugbarkeit der Aktionsformen ab. Wie Charles Tilly (1979, 2005, 2007, 2008) gezeigt hat, w¨ahlen Aktivisten ihre Aktionsformen nicht v¨ollig frei. Vielmehr stehen ihnen bestimmte, nicht beliebig erweiterbare Repertoires” zur Verf¨ ugung, ” welche die M¨oglichkeiten des Protests beschr¨anken (vgl. Tilly 2008: 5, 17). Auch die einzelnen Aktionsformen sind demnach zu einem gewissen Grad standardisiert, wie Tillys Metapher der Performanz” (performance) andeutet. Protestaktionen sind ein Ergebnis ” ” gelernter und historisch wurzelnder Performanzen” (Tilly 2008: 4). So wissen Aktivisten, welche Praktiken zu einer bestimmten Aktionsform geh¨oren, etwa dass zu einer Demonstration Plakate, viele Teilnehmer und eine Demonstrationsroute geh¨oren. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der Wahl bestimmter Aktionsformen und den Erfahrungen und Konventionen der Akteure. Dass die Aktivisten sich der Existenz von Performanzen und Repertoires bewusst sind, zeige sich darin, dass sie Performanzen benennen k¨onnen, sich gegenseitig Handlungsanweisungen geben und das Handeln anderer Aktivisten antizipieren k¨onnen (vgl. Tilly 2008: 27). Ein Repertoire besteht dann aus einer Liste von Performanzen, die einem Akteur in Bezug auf ein Objekt zur Verf¨ ugung stehen. Repertoires sind somit bestimmten An” spruchsteller-Objekt-Paaren” (Tilly 2008: 14) bzw. Sets politischer Beziehungen” (Tilly ” 2008: 202) zugeordnet. Verschiedene Ans¨atze von Protest unterscheiden sich in der Art der Interaktion, die zwischen Aktivisten und ihren politischen Gegnern stattfindet (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 267). Die Verkn¨ upfung solcher Aktivist-Objekt-Konstellationen mit bestimmten Repertoires zeige sich etwa in den definierten und begrenzten Listen m¨oglicher Aktionsformen von Arbeitern gegen Besitzer, einer Volksgruppe gegen eine andere uvm. 7 8

Zudem ist Effektivit¨ at von sozialen Bewegungen außerordentlich schlecht messbar (vgl. Tilly 2008: 28). Dadurch unterscheiden sie sich von unsichtbaren, vorpolitischen Praktiken, wie sie Asef Bayat (1997, 2003, 2010a,b, 2012) unter dem Begriff der Nichtbewegung” beschrieben hat. ”

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Innerhalb einer solchen Konstellation sei das Repertoire relativ starr, neue Aktionsformen k¨onnten sich nur in kleinen Schritten etablieren. Nur im Fall von Umw¨alzung des politischen Kontexts kann es zu radikalen, rapiden Innovationen der Performanzen und Repertoires kommen, wie Tilly (2008: 12f.) feststellt: Rapid changes in political con” texts offer more stimuli to radical, rapid innovation in performances. But most of the time political contexts change incrementally. As a result, so do performances.” Die konkrete Ausgestaltung der Repertoires eines Protestakteurs wird wiederum durch mehrere Faktoren beeinflusst, wie sie Taylor und Van Dyke (2004) treffend zusammenfassen: [R]epertoires of contention are created out of a group’s prior experience of making and receiving claims, and [...] specific forms of collective action are determined by the degree and type of political opportunity, the form of organization adopted by subordinate groups, and a subordinate group’s cultural framing of its grievances. (Taylor und Van Dyke 2004: 271) Entsprechend der zitierten Zusammenfassung von Taylor und Van Dyke (2004: 271) wird die Auswahl der Aktionsformen, die sich im Repertoire eines Akteurs befinden, von mehreren Faktoren beeinflusst. Diese Faktoren liegen sowohl im bewegungsinternen als auch im bewegungsexternen Bereich: So wird das Protestrepertoire eines Akteurs einerseits beeinflusst durch die aktuelle Konfiguration der politischen Gelegenheitsstrukturen, andererseits durch die mit fr¨ uheren Protestaktionen gesammelten Erfahrungen der Aktivisten sowie durch die Organisationsform, welche die Akteure annehmen, und zudem durch die Rahmung der Proteste, also der durch die Aktivisten konstruierten Deutungen von politischen Problemen und L¨osungen. Somit wirken auch die Themen und Ziele der Proteste auf die Ausgestaltung von Repertoires. Wie Protestthemen und Protestziele sowie Protestlogiken die Wahl einer Aktionsform beeinflussen, soll im Folgenden erl¨autert werden. Die Ziele von Protestaktionen k¨onnen auf sehr verschiedenen Ebenen liegen. So k¨onnen Proteste etwa auf formal-politische Systeme oder auf Wertesysteme zielen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 170f. Rucht 1994). Die von J. L. Cohen (1985) und Taylor und Van Dyke (2004) getroffene Unterscheidung zwischen strategieorientierten” und iden” ” tit¨atsorientierten” Protesten deutet zudem an, dass Protestziele nicht unbedingt stra” tegisch”, also auf ein formal-politisches Ziel ausgerichtet sein m¨ ussen, sondern auch auf die Identit¨at der Protestierenden zentriert sein kann. So liegen weitere m¨ogliche Ziele von Protesten weder in der formalen Politik noch in informellen Wertesystemen, denn Protestformen zielen zuweilen nicht nur nach außen, sondern ins Innere der Bewegung: Sie k¨onnen auf Motivation der Aktivisten, auf kollektive Identit¨at, auf Solidarit¨at oder auf Rekrutierung neuer Aktivisten abzielen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 179). Diese Dimension der bewegungsinternen Ziele von Protest ist nicht zu untersch¨atzen, besonders in F¨allen, in denen Ziele auf der Ebene des formal-politischen Systems oder einer Werteordnung nicht klar erkennbar sind. Das Konzept der Protestziele ist eng verbunden mit dem Konzept der Protestergebnisse, denn Ziele sind dadurch definiert, welche Ergebnisse anvisiert werden. Daher kann eine Kategorisierung verschiedener Protestziele auch angelehnt werden an eine Typologie von Protestergebnissen, wie Staggenborg (1995) sie anbietet. Sie unterscheidet zwischen drei Arten von Protestergebnissen: Mobilisierungsergebnisse”, politische Ergebnisse” und ” ” kulturelle Ergebnisse” (zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 278). Politische Er” gebnisse liegen auf der Ebene des formal-politischen Systems, betreffen also h¨aufig die

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Gesetzesebene oder das politische Personal. Kulturelle Ergebnisse sind ebenfalls bewe¨ gungsextern, aber weniger stark formalisiert: Sie betreffen Anderungen von Einstellungen, Werten und Meinungen. Mobilisierungsergebnisse hingegen sind bewegungsintern verortet und tragen durch Mobilisierung, Rekrutierung, Motivation, Erfolgserlebnisse der Aktivisten usw. zum Bestehen der Bewegung bei, beispielsweise durch Gef¨ uhle von Solidarit¨at, die aus gemeinsamen Erfahrungen entstehen, so Berezin (2001), der diesen Mechanismus aus der Sicht von Aktivisten treffend formuliert: ’[W]e are all here together, we must ” share something’; and lastly, it produces collective memory – we were all there together’ ’ [...]” (Berezin 2001: 93; zitiert nach Eyerman 2006: 196). Des Weiteren kann die Wahl einer Aktionsform bestimmt sein durch die ihr zugrunde liegende Protestlogik”. Della Porta und Diani (2006: 170ff.) machen drei unterschiedliche ” Logiken” aus, denen die Wahl einer Protestform folgen kann. Eine m¨ogliche Protestlo” gik ist die Zahlenlogik”, wonach ein Protest mit dem Ziel durchgef¨ uhrt wird, die große ” Anzahl der Unterst¨ utzer zu demonstrieren (Della Porta und Diani 2006: 171ff.). Eine andere Logik, die Zerst¨orungslogik”, zeigt sich etwa bei urbanen Aufst¨anden oder bei ” Aktionen eines schwarzen Blocks”, aber auch in Boykotten und Protesten, welche auf ” die Unterbrechung von Abl¨aufen zielen, wie etwa Streiks (Della Porta und Diani 2006: 173ff.). Drittens folgen manche Proteste der Zeugenlogik (logic of bearing witness)”, das ” heißt sie zeigen vor allem die St¨arke, Entschiedenheit und Leidenschaft, mit der Aktivisten sich f¨ ur ihr Ziel einsetzen. Dies geschieht etwa durch Protestformen mit pers¨onlichen Risiken f¨ ur die Aktivisten oder durch die F¨orderung von ¨offentlichem Bewusstsein f¨ ur das Protestthema (Della Porta und Diani 2006: 176ff.). Diese Protestlogiken sind nicht kausal mit den oben erl¨auterten Klassen von Ergebnissen verbunden, sondern liegen quer dazu: So kann man etwa ein politisches Ergebnis” u ¨ber die Logik der Zahlen, der Zerst¨orung ” oder der Zeugenschaft verfolgen; gleiches gilt f¨ ur kulturelle und mobilisierende Ergebnisse. In der Diskussion um neue” und unkonventionelle” Aktionsformen sind besonders ” ” solche Aktionsformen von Interesse, welche nicht auf politische Ergebnisse zielen. An der Oberfl¨ache stellt sich bei solchen Protesten die Effektivit¨atsfrage, welche jedoch von den beteiligten Aktivisten nicht unbedingt diskutiert wird: Ask members of a new social ” movement about the effectiveness of the movement and they will refuse even to address the question. Effectiveness is a concept relevant for companies not for movements” (Gundelach 1989: 427). Zu den kulturellen Ergebnissen bzw. Protestzielen kann geh¨oren, als Aktivist mit seinem Thema und seiner Identit¨at u ¨berhaupt erst sichtbar zu werden. So konstatiert Schulze (2012: 41) f¨ ur den Arabischen Fr¨ uhling”, dass die dortigen Proteste auf Ver¨offentlichung ” ” ˇ zek f¨ von Lebenswelten” zielen. Vergleichbares stellt Slavoj Ziˇ ur die franz¨osischen BanlieueAufst¨ande von 2005 in Frankreich fest, in denen es den Protestierenden darum gegangen ˇ zek 2009b: 65; Heil 2010: 112f.): sei, sichtbar zu werden (vgl. Ziˇ What needs to be resisted when faced with the shocking reports and images ” of the burning Paris suburbs is what I call the hermeneutic temptation: the search for some deeper meaning or message hidden in these outbursts. What is most difficult to accept is precisely the riots’ meaninglessness [...]. The riots ˇ zek 2009b: 65, Hervorhebung were simply a direct effort to gain visibility.” (Ziˇ im Original) Die Akteure solcher Proteste wie der Banlieue-Aufst¨ande, die scheinbar ziellos und deˇ zek im Anschluss an Jacques Ranci`ere (2002) als Anteilstruktiv vorgehen, bezeichnet Ziˇ ”

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lose”, die durch die Proteste daf¨ ur sorgen, nicht l¨anger ignoriert zu werden. (Diese These wird unten in Abschnitt 3.2.1 ausf¨ uhrlich diskutiert.) Durch die gew¨ahlten Aktionsformen werden sie sichtbar und betreiben politische Artikulation. Aktivisten, welche weit entfernt von Positionen der Macht stehen, greifen eher zu destruktiven Protestformen, durch welche Abl¨aufe unterbrochen werden (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 277). Sie verwenden Protestformen, welche sich nicht durch Kooperation mit dem Staat auszeichnen, sondern durch radikalen Protest gegen den Staat (vgl. Graeber 2004: 212; J. L. Cohen 1985), also solche Formen, die von Ranci`ere (2002) als St¨orung” bezeichnet werden. ” 3.1.5 Neue soziale Bewegungen In der Diskussion von Organisationsformen und Aktionsformen sozialer Bewegungen in der Literatur und im Nachdenken u ¨ber Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen werden h¨aufig Dichotomien von zwei entgegengesetzten Idealtypen aufgemacht. Diese werden zuweilen als alt” und neu” eingeordnet. So gelten auch die Proteste des ” ” Arabischen Fr¨ uhlings” 2011 und weitere aktuelle Proteste, beispielsweise die Occupy” Bewegung, als neu”, oder zumindest als deutlich verschieden von etablierten” Bewe” ” gungen. Als in den 1980er Jahren Unterschiede zwischen der klassischen Arbeiterbewegung und den j¨ ungeren Bewegungen f¨ ur Frieden, Umwelt, Frauenrechte etc. beschrieben wurden, kamen f¨ ur diese Dichotomie eine Vielzahl von Begriffen auf: Claus Offe (1985: 825f.) nennt unter anderem die Begriffe Paradigma der Lebensweise”, new protest mo” ” vements,” new politics,” new populism,” neoromanticism”, antipolitics,” unorthodox ” ” ” ” ” political behavior,” disorderly politics” und alternative movements”. In der Literatur ” ” setzte sich der Begriff neue soziale Bewegung” (NSB) durch, nach dem der Ansatz der ” Bewegungsforschung benannt ist, der in den 1980er Jahren entwickelt wurde und diese Bewegungen intensiv diskutiert (s. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994, 1996). Der Ansatz bezieht sich auf politisches Handeln im linken Spektrum, entsprechend ist in der Literatur auch von der Gegen¨ uberstellung von alter Linke” bzw. der Arbeiterbewegung ” ” als der klassischen’ sozialen Bewegung” (Rucht 1994: 512, Hervorhebung im Original) ’ und neuer Linke” die Rede (J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994). Der NSB-Ansatz ” soll hier ausf¨ uhrlich dargelegt werden, um seine Modelle zum Verh¨altnis zwischen al” ten” und neuen” Bewegungen nutzbar zu machen f¨ ur die Analyse von gegens¨atzlichen ” Bewegungskonfigurationen in aktuellen Protesten im Nahen Osten.9 Dabei soll hier nicht insistiert werden, dass die NSB tats¨achlich neu” sind und es, his” torisch betrachtet, vor den 1960er Jahren nur als relativ homogen gezeichnete alte” Be” wegungen gegeben h¨atte. Es gab auch im 19. Jahrhundert schon Aktivismus f¨ ur die Rechte von Minderheiten, bei dem durchaus identit¨are Rechte mit betont wurden, der Aktivismus sich nicht in ein politisches Rechts-Links-Schema pressen ließ, und die Sph¨aren des Priva¨ ten und des Offentlichen verwischt wurden (vgl. Tilly und Wood 2012: 71). Jenseits von dieser Behauptung einer Neuheit” bietet der NSB-Ansatz die M¨oglichkeit, die von den ” Akteuren selbst konstatierten Dichotomien zwischen entgegengesetzten Proteststrategien fassbar zu machen. So sind entsprechend dem NSB-Ansatz zwei Idealtypen sozialer Bewegungen kontrastierbar: Alte soziale Bewegungen” sind organisiert, pragmatisch, strategisch und handeln ” 9

Dabei wird hier keine nachholende Modernisierung” angenommen, nach der europ¨aische Prozesse ” im Feld sozialer Bewegungen sich im Nahen Osten einfach wiederholen w¨ urden. Um Aussagen u ¨ber unterschiedliche Bewegungskonfigurationen in der Region zu treffen, sollen vielmehr gezielt Komponenten des NSB-Ansatzes herangezogen werden.

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im Namen von definierbaren Kollektiven, etwa von Arbeitern oder anderen ausgebeuteten Gruppen. Der davon abgegrenzte Idealtyp der neuen sozialen Bewegung” ist infor” mell oder dezentral organisiert, ideologischer, unsteter, orientiert sich an Autonomie und Selbstdarstellung, verfolgt ehre identit¨are als strategische Ziele und f¨ uhrt Aktionen auf symbolischer Ebene durch, die h¨aufig als unkonventionell beschrieben werden (s. J. L. Cohen 1985; Della Porta und Tarrow 1986; Melucci 1985, 2001; Offe 1985; Tilly und Wood 2012). Ihre Organisationsstruktur wird als ahierarchisch und dezentral mit nur wenigen Anzeichen von B¨ urokratie und F¨ uhrung charakterisiert (vgl. Rucht 1996: 193f.) Zudem stellt der NSB-Ansatz analytische Perspektiven bereit, um die Organisationsweisen und Aktionsformen einer Bewegung in Bezug zu sozialen Umw¨alzungen zu setzen. Der Annahme folgend, dass die Organisationsformen einer sozialen Bewegung abh¨angen von politischen Gelegenheitsstrukturen (vgl. z.B. Rucht 1996), werden neue soziale Bewegungen in bestimmten Entstehungskontexten verortet. Die f¨ ur Europa untersuchten neuen sozialen Bewegungen entstanden in Folge von tiefgreifendem sozialem Wandel und bestimmten makrosoziologischen Transformationen. Rucht (1994) fasst diese Transformationen als Modernisierung” zusammen und stellt folglich die These auf, dass das relativ ” abrupte Entstehen neuer sozialer Bewegungen als Folge eines Modernisierungsschubs zu sehen ist. Offe (1985: 844) f¨ uhrt zu derselben These aus, der Effekt des Wandels auf einzelne B¨ urger sei breit”, tief” und unumkehrbar”. Negative Effekte des Wirtschaftssystems ” ” ” haben breite” Wirkung, sie k¨onnen unabh¨angig von Klassenzugeh¨origkeit jeden betref” fen. Auch die Instrumente von Kontrolle haben erweiterte Wirkung, sie wirken tiefer” in ” alle Lebensbereiche bis in den privaten Bereich. Dies ist unumkehrbar”, weil den Insti” tutionen von Politik und Wirtschaft eine korrigierende Instanz fehle, diese Institutionen seien in ihrer eigenen Logik gefangen (vgl. Offe 1985: 844f.). Vor allem der erste Punkt, die breite” Entwicklung, f¨ uhrt zu einem weiteren abgren” zenden Merkmal der neuen von den alten sozialen Bewegungen: Ihre soziale Basis besteht in Mitgliedern einer im Zuge der beschriebenen Transformationen entstandenen sozialen Gruppe, namentlich der neuen Mittelschicht”10 (J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht ” 1994). Offe f¨ uhrt, in Anlehnung an Anthony Giddens, aus, das die Aktivisten dieser Bewegungen sich inhaltlich nicht auf ihre Klassenzugeh¨origkeit beziehen: New middle class ” politics, in contrast to most working class politics, as well as old middle class politics, is typically a politics of a class but not on behalf of a class” (Offe 1985: 833, Hervorhebung im Original). Die Klassenzugeh¨origkeit ist in den neuen sozialen Bewegungen, anders als in der alten” Arbeiterbewegung, nicht mehr treibende Kraft. Dennoch ist die ” soziale Basis keineswegs, wie es im Selbstbild von Aktivisten zuweilen dargestellt wird, klassen¨ ubergreifend, sondern besteht eben zu weiten Teilen aus der neuen Mittelschicht”, ” wie Offe (1985: 831) darlegt. Demnach beziehen sich die Aktivisten selbst weder auf etablierte politische Kategorien wie das Rechts-Links-Schema, noch auf damit verbundene sozio¨okonomische Kategorien wie die Dichotomien Arbeiterklasse/Mittelklasse, arm/reich o.¨a. Stattdessen bez¨ogen sie den politischen Konflikt, in dessen Kontext sie aktiv sind, auf Kategorien, die aus den Themen der Bewegung abgeleitet w¨ urden, also etwa auf GenderIdentit¨at oder gar auf Menschlichkeit. Offe f¨ uhrt aus: 10

In englischsprachigen Texten ist die Rede von New Middle Class”. Da im deutschen der Begriff ” Mittelschicht” etablierter ist als Mittelklasse”, wird hier der Schicht-Begriff verwendet. Dies geht ” ” zu Lasten des intuitiven Bezugs, der im Englischen zwischen middle class” und Klassentheorien ” besteht. Im folgenden wird Mittelschicht” dennoch auf Klassen-Konzepte bezogen. ”

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To be sure, the insistence upon the irrelevance of socioeconomic codes (such as class) and political codes (ideologies) that we find on the level of selfidentification of new social movements (and often of their opponents), and which is part of their very newness” (and distinguishes them from old” social ” ” movements), by no means implies that the social base and political practice of these movements is in fact as amorphous and heterogeneous in class and ideological terms. (Offe 1985: 831, Hervorhebung im Original) Die Aktivisten dieser neue Mittelschicht”, die einen Großteil der sozialen Basis der neuen ” Bewegungen bildet, seien durchaus erfahren in den alten Bewegungen, sie seien aber u ¨ber die geringe politische Reichweite des alten konventionellen” Protests frustriert. Diese ” Frustration u ur ¨ber die eng begrenzten M¨oglichkeiten von alten sozialen Bewegungen ist f¨ die Entwicklung neuer sozialer Bewegungen ein zentraler Faktor: [T]hose who use nonconventional practices of political action do not do so because they lack experience with (or are unaware of) available conventional forms of political participation; on the contrary, these nonconventional actors are relatively experienced in, and often frustrated with, conventional practices and their limitations. (vgl. Offe 1985: 855). Bei Vergleichen zwischen alten” und neuen” sozialen Bewegungen wird deutlich, dass ” ” die Analyse der Organisationsformen eng verkn¨ upft ist mit der Analyse von Aktionsformen. Im NSB-Ansatz werden in den in der Literatur h¨aufig dargestellten Listen von Merkmalen, anhand derer alte” und neue” Bewegungen abgegrenzt werden, neben den ” ” Organisationsformen in der Regel auch die Aktionsformen beschrieben (z.B. Abu-Sada und Challand 2011; J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994; Tilly 2008). Dabei wird in einem Strang der Literatur die Aktionsform als kausale Folge der Organisationsform gesehen (s. Rucht 1996; Taylor und Van Dyke 2004: 275). In einem anderen Strang wird keine Kausalit¨at stipuliert, aber die beiden Aspekte Organisationsform und Aktionsform werden als zwei Dimensionen eines Ph¨anomens gesehen (s. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994). F¨ ur Offe (1985) etwa sind Organisations- und Aktionsformen zwei Sorten von Aktionsmodi”, n¨amlich einen internen” und einen externen Aktionsmodus”, die ” ” ” er gemeinsam bespricht: Typically, in their internal mode of action, new social movements do not rely, in contrast to traditional forms of political organization, on the organizational principle of differentiation, whether in the horizontal (insider vs. outsider) or in the vertical dimension (leaders vs. rank and file members). To the contrary, there seems to be a strong reliance upon de-differentiation, that is, the fusion of public and private roles, instrumental and expressive behavior, community and organization, and in particular a poor and at best transient demarcation between the roles of members” and formal leaders”. (Offe 1985: 829f.) ” ” Dass bestimmte Organisationsformen h¨aufig parallel zu bestimmten Aktionsformen auftreten, soll hier nicht bestritten werden. Dieser Zusammenhang scheint aber nicht starr zu sein: Die große NGO Greenpeace etwa ist eindeutig als professionelle Organisation zu bezeichnen, verwendet aber unkonventionelle Aktionsformen. Anders herum gibt es durchaus Graswurzelorganisationen, die nicht auf unkonventionellen Protest, sondern auf

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Gesetzes¨anderungen abzielen. Statt Kausalit¨at oder einen starren Zusammenhang zwischen den Dimensionen zu stipulieren, soll hier daher ein loserer Zusammenhang angenommen werden. Denkbar ist, dass beide Dimensionen die grunds¨atzlichen Einstellungen der Aktivisten zu Politik reflektieren. Dieser Vermutung wird unten im Abschnitt 3.2.1 weiter nachgegangen. 3.1.6 Protestwellen Wie in den vorangegangenen Abschnitten zu Bewegungsorganisationen und zu Repertoires deutlich wurde, k¨onnen Entwicklungen und Innovationen in diesen Bereichen nur verstanden werden, wenn soziale Bewegungen nicht nur punktuell oder in ihrer Entstehungsphase betrachtet werden, sondern in ihrem Verlauf. Der hier vorrangig diskutierte Ansatz zur diachronen Untersuchung sozialer Bewegungen konstatiert das Auftreten von Protestwellen”. ” Der Verlauf einer Protestwelle wird von mehreren Faktoren beeinflusst, deren Relevanz sich w¨ahrend der Welle verschiebt. So h¨angt, wie Kriesi u. a. (2003: xxv, 118, 124) darlegen, das Entstehen einer Protestwelle stark von politischen Gelegenheitsstrukturen ab, w¨ahrend Transformationen in der Bewegung im Verlauf der Protestwelle, wie sie sich in der Weiterentwicklung von Organisations- und Aktionsformen zeigen, in st¨arkerem Maß von bewegungsinternen Dynamiken abh¨angen, es sei also eine Autodynamik des Protests” zu ” beobachten (Kriesi u. a. 2003: xxv). Auch wurde vermutet, dass der entscheidende Faktor f¨ ur die Entwicklungsrichtung einer Bewegung oder ihrer Teile nicht in externen Einfl¨ ussen auf die Bewegung liege, sondern in der Thematik selbst (McAdam, McCarthy und Zald 1996b: 15; s. auch Kriesi 1996). Der Begriff Protestwelle” hat sich in der Literatur gegen¨ uber Begriffen wie Protest” ” zyklus” durchgesetzt und soll wegen seiner relativen Etabliertheit auch hier verwendet werden. Zudem ist die Verwendung des Begriffs Welle” der Bem¨ uhung geschuldet, As” soziationen mit der Wiederholung immergleicher Prozesse zu vermeiden, wie sie mit dem Begriff Zyklus” suggeriert w¨ urden (vgl. Koopmans 2004: 21). Sidney Tarrow (1989, 1991, ” 1998), der die Methode, Proteste in definierten Episoden starker Aktivit¨at in ihrem Verlauf zu untersuchen, etablierte, sprach allerdings von Protestzyklen”: ” Less momentous than revolutions, more connected than contingent chains of events, the concept of cycles [...] is a bounded way of studying the connections among events, between them and non-eventful processes and in the light of major political changes, helping to interpret history as an interactive progression between structure and action [...]. (Tarrow 1998: 55) Kriesi u. a. (2003: 113) u ur ihre Definition von Protest¨bernehmen Tarrows Ansatz f¨ ” wellen”, die aus vier Kriterien besteht: Eine Protestwelle zeigt demnach starke Expansion und Kontraktion des Ausmaßes der Proteste, erstreckt sich u ¨ber eine l¨angere Zeit, umfasst große Teile des Sektors sozialer Bewegungen und betrifft einen Großteil des nationalen Gebiets. Diese Definition ist h¨ochst sinnvoll zur Abgrenzung einer Protestwelle von einzelnen Protesten sowie von kontinuierlichen politischen Aktivit¨aten ohne gr¨oßere Schwankungen. Sie schließt allerdings urbane Bewegungen aus, weshalb der letzte Punkt nur mit Einschr¨ankungen anwendbar ist und f¨ ur diese Arbeit verworfen wird. Schließlich bleibt hinzuzuf¨ ugen, dass die einzelnen Ereignisse einer Protestwelle selbstverst¨andlich inhaltlich verbunden sind, sie teilen dieselbe thematische Perspektive und sind auf ein

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gemeinsames Ziel orientiert (vgl. Della Porta und Diani 2006: 188). Eine Protestwelle besteht aus mehreren Phasen. Zun¨achst bestehen in sozialen Bewegungen Phasen der Aktivit¨at” und der Latenz” (vgl. Melucci 1984; zitiert nach Della ” ” Porta und Diani 2006: 149). In Phasen der Latenz sind Bewegungen nicht verschwunden, aber inaktiv oder lediglich auf niedrigem Niveau aktiv. Akteure, Netzwerke, Ressourcen, Rahmungen und Repertoires bleiben dabei aber prinzipiell aktivierbar. Die Phasen der Aktivit¨at von Bewegungen k¨onnen sich als Protestwellen darstellen. Die Phasen, in denen Protestwellen verlaufen, sind w¨ahrend der eigentlichen Protestwelle dreigeteilt in Expan” sion”, Transformation” und Kontraktion” (Koopmans 2004: 22ff.). Die weiteren Prozes” ” se am Ende einer Protestwelle bezeichnet Koopmans (2004: 37) als Re-Routinisierung” ” oder Re-Stabilisierung”. Damit wird betont, dass auch nach dem Ende der aktivsten ” Protestphase die Bewegung nicht einfach vollst¨andig verf¨allt, sondern eben in eine Phase der Latenz eintritt, in der es auf niedrigem Niveau durchaus Aktivit¨aten geben kann. Die einzelnen Phasen einer Protestwelle sollen im Folgenden charakterisiert werden. Die Charakterisierung st¨ utzt sich haupts¨achlich auf Erl¨auterungen von Sidney Tarrow (2011) zu seinem theoretischen Modell und auf Thesen u ¨ber Entwicklungsmuster im Verlauf einer Welle, welche Kriesi u. a. (2003) aus einer vergleichenden Studie u ¨ber neue soziale Bewegungen in mehreren europ¨aischen Staaten generiert haben. Dabei ist zu beachten, dass die Phasen zwar analytisch klar trennbar sind, in der Realit¨at aber u ¨berlappen, wenn etwa Transformationen bereits w¨ahrend der Expansionsphase beginnen und bis in die Kontraktionsphase hineinreichen. Die Phase der Expansion, in der eine Protestwelle entsteht, zeichnet sich in der Regel durch g¨ unstige politische Gelegenheitsstrukturen aus. In dieser Phase bilden sich Koalitionen aus verschiedenen Aktivisten und Aktivistengruppen, es werden Kampagnen organisiert, sowohl Masterrahmen als auch Repertoires sind f¨ ur eine breite Masse an Aktivisten verf¨ ugbar und die Kosten und Risiken des Protestierens werden f¨ ur die einzelnen Aktivisten niedriger (vgl. Tarrow 2011: 14). Die in dieser Phase angewandten Protestformen sind konfrontativ und unterbrechend [disruptive], aber gewaltfrei (Kriesi u. a. 2003: 124). Ungewohnte Aktionsformen bekommen in dieser Phase Aufmerksamkeit von Medien, Eliten und Beobachtern (vgl. Tarrow 2011: 112). Die Phasen der Expansion und Transformation sind die Hochphasen der Protestwelle und werden von Tarrow (2011) als Periode allgemeiner Unordnung” bezeichnet. Akti” visten beschreiben dies mit den Worten: Es war wie ein Fieber” (Polletta 2006; zitiert ” nach Tilly 2008: 8). Andere bezeichnen diese Phasen als moments of madness” (Tarrow ” 1993). An diesen Punkten ist alles m¨oglich”, so dass in der Bewegung etablierte Kon” ventionen gebrochen werden k¨onnen (vgl. Tarrow 1993: 281, 302). Dieser Moment des enthusiastischen Ausnahmezustands unterscheidet sich grundlegend von dem politischen Handeln gegen Ende und nach der Protestwelle, auch wenn dort dieselben Forderungen ¨ vertreten werden. So unterscheidet Bayat (2013b) f¨ ur die Ereignisse in Agypten seit 2011 die Ausnahmeepisode” von der Post-Revolution”. W¨ahrend zun¨achst die Politik der ” ” ” Straße” das Geschehen vorantreibe, dominierten sp¨ater die Trittbrettfahrer”, welche an ” den risikoreichen Aktionen der ersten Phase nicht beteiligt sind, aber u ¨ber etabliertere Ressourcen, Strukturen und Netzwerke verf¨ ugten (vgl. Bayat 2013b: 594). Es sind die¨ se Trittbrettfahrer, die m¨oglicherweise nachhaltige formal-politische Anderungen durchsetzen werden, w¨ahrend die in der Ausnahmeepisode” aktiven Akteure eine weiterhin ” machtferne Minderheit darstellen (vgl. Bayat 2013b: 594f.).

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Die in der Expansionsphase begonnene Massenmobilisierung zu moderaten” Aktions” formen dauert noch an, wenn die Bewegung in die n¨achste Phase eintritt, die Transformationsphase (vgl. Kriesi u. a. 2003: 124). Transformationen k¨onnen aus dem Inneren der Bewegung ausgel¨ost werden, aber auch aus dem bewegungsexternen Bereich. Insbesondere Bewegungsgegner k¨onnen Ausl¨oser der Transformation sein, beispielsweise der Staat, indem er etwa durch Reformen oder durch Repressionen die Bedingungen ver¨andert (Tarrow 2011: 14f. s. Abschnitt 3.1.1). Das Verh¨altnis der Bewegung gegen¨ uber dem Staat und anderen externen Akteuren kann die Form von Institutionalisierung”, Eskalation” ” ” oder Repression” annehmen (Della Porta und Tarrow 1986). ” Die Transformationsphase” (Koopmans 2004) betrifft alle Ebenen einer Bewegung. Be” sonders vielf¨altig sind die Transformationen auf der Ebene der Akteure. McAdam, Tarrow und Tilly (2001) identifizieren mehrere robuste Prozesse”: Gr¨oßenverschiebung” (scale ” ” shift), die Konstituierung neuer Akteure” und die Polarisierung”. Eine Gr¨oßenver” ” ” schiebung” hebt die Bewegung beispielsweise von der lokalen auf die nationale oder sogar transnationale Ebene, oder eine weltweite Bewegung wird auf lokaler Ebene weitergef¨ uhrt (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314; s. auch Tarrow 2006). Zur Konstituierung neuer ” Akteure” kommt es, wenn entweder vorhandene Aktivisten sich neu formieren, etwa durch Spaltungen oder Fusionen von Bewegungsorganisationen, oder durch erweiterte Mobilisierung neue Aktivisten zu der Bewegung stoßen (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314ff.). Dabei k¨onnen die lose strukturierten Organisationen”, welche in der Expansionsphase ” pr¨asent waren, auch Konkurrenz von den etablierteren Bewegungsorganisationen bekommen (Kriesi u. a. 2003: 137). Der Prozess der Polarisierung geschieht zwischen den zwei grunds¨atzlichen Richtungen der Bewegungstransformation Radikalisierung” und Insti” ” tutionalisierung” oder Formalisierung” (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322ff. ” Kriesi u. a. 2003: 124; s. auch Tarrow 2006: 13f. Della Porta und Tarrow 1986; Della Porta und Diani 2006: 151). Der sich institutionalisierende Teil der Bewegung schließt sich den etablierten Bewegungsorganisationen an, auch wenn diese erst w¨ahrend der Expansionsphase dazugestoßen waren, und orientiert sich an deren Protestrepertoires. Der sich radikalisierende Teil lehnt diese Entwicklung ab und bleibt bei weniger formalisierten Organisationsformen, konfrontativeren Protestformen und radikaleren Forderungen. Mit den internen Polarisierungen und den Ver¨anderungen der externen Gelegenheitsstrukturen kommt es zur Kontraktionsphase der Protestwelle. Von Seiten der Eliten tragen Repressionen oder auch Kooptierung von Bewegungsakteuren zur Demobilisierung bei. Bei Eliten, Medien und Teilnehmern erregen die Protestformen und -themen weniger Interesse. Außerdem sind die mobilisierten Teilnehmer ersch¨opft oder desillusioniert (vgl. Tarrow 2011: 112). Zur Desillusionierung tr¨agt bei, dass die m¨oglichen unmittelbaren Ergebnisse einer Protestwelle selten den politischen/institutionellen und pers¨onlichen/kulturellen” ” Erwartungen der mobilisierten Aktivisten entsprechen (Tarrow 2011: 15). In der Phase der Re-Routinisierung” schließlich, welche im engeren Sinn nicht mehr ” Teil der Protestwelle ist, stabilisieren sich die Strukturen, die innerhalb der Protestwelle ver¨andert oder neugeschaffen wurden (vgl. Koopmans 2004: 37f.). Abgesehen von ¨ m¨oglichen Anderungen auf Ebene des politischen Kontexts und der Protestrepertoires fin¨ den die greifbarsten und sichtbarsten Anderungen auf Ebene der Akteure statt, so Charles Tilly (2008: 90): Kooperationen (oder auch Konkurrenzverh¨altnisse und Konflikte) zwischen Aktivisten und Organisationen, welche sich w¨ahrend der Protestwelle entwickelt haben, k¨onnen sich in dieser Phase fortdauernd stabilisieren. Transformationen der Re-

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pertoires geschehen auch auf dem H¨ohepunkt einer Protestwelle nicht abrupt, sondern reichen hinein in die Phase Re-Routinisierung bzw. in die zwischen der beendeten und der n¨achsten Protestwelle liegende Latenzphase. Zwar werden in der Expansions- und Transformationsphase neue Formen eingef¨ uhrt, aber bis sich neue Aktionsformen im Repertoire etablieren, bedarf es weiterer Verbreitung, Bew¨ahrung und Weiterentwicklung, die sich u ¨ber die Protestwelle strecken (vgl. Tarrow 1993: 283f.). 3.1.7 Movement spillover Wenn in einer Protestwelle Transformationen der Bewegung auf verschiedenen Ebenen stattfinden, so beruht dies nicht rein auf bewegungsinternen Faktoren, sondern ist auch Ergebnis bewegungsexterner Einfl¨ usse. Neben Einfl¨ ussen durch den politischen Kontext im engeren Sinn, wie sie im POS-Ansatz betrachtet werden, sind auch Einfl¨ usse aus anderen sozialen Bewegungen zu beachten: Social movements are not distinct and self-contained, they grow from and give birth to other movements, work in coalition with other movements, and influence each other indirectly through their effects on the larger cultural and political environment. (Meyer und Whittier 1994: 277). Die Bewegung breitet sich w¨ahrend der Protestwelle u ungliche Basis hinaus ¨ber ihre urspr¨ aus und mobilisiert neue Gruppen, die eventuell vorher in anderen Bewegungen aktiv waren. Diese neu mobilisierten Akteure k¨onnen zur Weiterentwicklung des Protestrepertoires beitragen (vgl. Diani 2004: 190). Der Ansatz des movement spillover (Meyer und Whittier 1994; Whittier 2004) betont diese Dynamiken, die zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen stattfinden. Es geht um Interaktion zwischen verb¨ undeten, aber getrenn” ten Problemen” und um Kooperation und gegenseitigen Einfluss sowie Wettbewerb” ” zwischen Bewegungen (Meyer und Whittier 1994: 278). In einer vergleichenden Studie zwischen der Frauenbewegung und der Friedensbewegung der 1980er Jahre in den USA zeigen Meyer und Whittier (1994) eine Reihe von Einfl¨ ussen, welche die Frauenbewegung auf die Friedensbewegung aus¨ ubte. So finden sie Einfl¨ usse der Bewegungen aufeinander auf den Ebenen der Rahmung, der Repertoires, der Organisationsformen und der mobilisierten Aktivisten bzw. deren Identit¨aten (vgl. Whittier 2004: 537f.)11 . Sie identifizieren ¨ mehrere Ubertragungsmechanismen” zwischen Bewegungen12 : Zum einen hinterlassen ” Bewegungen auch Spuren in ihrer politischen Umwelt, sie ver¨andern also die politischen 11

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¨ Bei den zahlreichen in der Bewegungsforschung beobachtbaren Uberschneidungen und gegenseitigen Beeinflussungen zwischen Bewegungen auf allen Ebenen stellt sich die Frage, inwieweit eine konzeptionelle Trennung einzelner Bewegungen analytisch sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang haben NSB-Theoretiker von Bewegungsfamilien” gesprochen (z.B. Rucht 1996), im spillover ” Ansatz wird die analytische Trennbarkeit einzelner Bewegungen, die aber miteinander verbunden sind, nicht theoretisch begr¨ undet, sondern als Annahme vorausgesetzt. Das Kriterium, nach dem sich Bewegungen unterscheiden, ist in diesem Ansatz das Protestthema: While social movements ” are often identified with only one issue or set of issues, activists rarely are” (Meyer und Whittier 1994: 291). Dies steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem konstatierten spillover -Effekt auf der thematischen Ebene der Rahmung. Daher ist hier festzuhalten, dass sinnvollerweise nur dann von movement spillover gesprochen werden kann, wenn die Einfl¨ usse nicht so weit gehen, dass sie die Unterscheidbarkeit der Bewegungen verwischen w¨ urden. Ein weiteres Kriterium f¨ ur die Existenz zweier sich beeinflussender, aber getrennter Bewegungen kann die Selbstverortung der Aktivisten sein. Neben den hier diskutierten Mechanismen der organisatorischen Koalitionen, geteilten Basis und geteiltem F¨ uhrungspersonal identifizieren Meyer und Whittier (1994) einen vierten

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Gelegenheitsstrukturen (vgl. Meyer und Whittier 1994: 292), bzw. den externen politi” ¨ schen und kulturellen Kontext” (Whittier 2004: 546ff.). Dieser Ubertragungsmechanismus kommt ohne pers¨onliche Kontakte aus. Er umfasst etwa die Situation, in der von einer Bewegung durchgesetzte institutionelle Neuerungen die POS f¨ ur nachkommende Bewegungen ver¨andern, oder dass Bewegungen sich Strategien voneinander abschauen, ohne pers¨onlichen Kontakt zu haben. Dies schließt auch Medienberichte mit ein: Even when ” activists share no network connections and do not see themselves as similar to other protesters, they can learn about movement innovations, actions, and successes through mass media” (Whittier 2004: 547). ¨ Weitere Ubertragungsmechanismen beruhen auf pers¨onlichen Kontakten zwischen Aktivisten. So bilden eigentlich getrennte Bewegungen organisatorische Koalitionen”, in de” nen sich die normalerweise getrennt agierenden Akteure aus verschiedenen Bewegungen zusammenschließen und ihre politischen Analysen, Protesttaktiken und Organisationsstrukturen austauschen (Meyer und Whittier 1994: 290). Ein weiterer Mechanismus, die community”, besteht darin, dass getrennte soziale Bewegungen durchaus dieselben in” dividuellen Aktivisten mobilisieren k¨onnen (Meyer und Whittier 1994: 291). Wenn eine Bewegung gegen Ende der Protestwelle in ihrer Aktivit¨at nachl¨asst und eine Wartestel” lung” einnimmt, k¨onnen die Bewegungsakteure außerhalb der Bewegung aktiv bleiben, etwa durch Mobilisierung f¨ ur andere Themen, welche zu diesem Zeitpunkt vielverspre” chender oder dringlicher” sind (Meyer und Whittier 1994: 279f.). Ein Grund f¨ ur die Verschiebung des Aktivismus hin zu anderen Themen am Ende der Protestwelle kann darin liegen, dass Akteure eine Aktivistenidentit¨at” entwickelt haben: ” Collective identities constructed during periods of peak mobilization endure even as protest dies down. One-time movement participants continue to see themselves as progressive activists even as organized collective action decreases [...]. (Meyer und Whittier 1994: 281) Der Mechanismus der community ¨ahnelt somit der andernorts konstatierten Flexibilit¨at von Aktivisten innerhalb einer Bewegung, die zwischen unterschiedlich ausgerichteten Bewegungsorganisationen springen (vgl. Hanafi 2012: 204). Damit eng verbunden ist ein ¨ weiterer Ubertragungsmechanismus, das Personal”, der ebenfalls einen Aspekt des dop” pelten Engagements von Aktivisten in mehreren Bewegungen betrifft. Dabei fokussiert die Kategorie des Personals nicht auf die Teilnehmer, sondern auf die Organisatoren der Bewegungen. Insbesondere bei F¨allen mehrerer Bewegungen, welche kurz nacheinander in Phasen des erh¨ohten Aktivismus eintreten, k¨onnen F¨ uhrungsfiguren der einen Bewegung in der Folge F¨ uhrungsrollen in der n¨achsten Bewegung u ¨bernehmen (vgl. Meyer und Whittier 1994: 291f. Whittier 2004: 541f.). 3.1.8 Politische Generationen Einen weiterer Ansatz, welcher die diachron beobachtbaren Dynamiken sozialer Bewegungen in den Fokus r¨ uckt, bietet das Konzepte der politischen Generationen. Ein Generationenwechsel, der durch die Mobilisierung neuer Aktivisten eintreten kann, wird dabei ¨ Ubertragungsmechanismus, wonach parallel agierende soziale Bewegungen vergleichbaren Politischen Gelegenheitsstrukturen unterworfen sind. Dieser Mechanismus wird hier vernachl¨assigt, weil er nicht u ¨berzeugend als Mechanismus zwischen Bewegungen zu konzeptionalisieren ist, sondern eher in dem Raum zwischen einer Bewegung und dem politischen Kontext verortet ist.

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als weiterer Faktor eingef¨ uhrt, welcher zur Transformation sozialer Bewegungen im Laufe einer Protestwelle beitragen kann. Eine einmal mobilisierte Aktivistengeneration kann u ¨ber die Jahre und u ¨ber mehrere Protestwellen hinweg aktiv bleiben. So stellt etwa Norris (2001: 201f.) fest, dass sich die Sozialstruktur von Aktivisten normalisiert” habe und in ” den 1990er Jahren sowohl ¨altere als auch j¨ ungere Aktivisten beteiligt sind, w¨ahrend die Altersstruktur in den 1970er Jahren j¨ unger war, und f¨ uhrt dies darauf zur¨ uck, dass die Generation der in den 1970ern mobilisierten Aktivisten aktiv geblieben ist. Theoretische Ans¨atze, in denen die Rolle von Generationen in sozialen Bewegungen vertieft behandelt wird (z.B. Murphy 2012a; Whittier 1997), bauen zumeist auf den ¨ Uberlegungen auf, die Karl Mannheim 1929 in seinem Aufsatz Das Problem der Ge” nerationen” entwickelt hat. Generationen in diesem Sinne bestehen nicht unbedingt aus Alterskohorten, sondern aus sozialen Gruppen, welche dieselben Erfahrungen teilen. Bloße Gleichaltrigkeit begr¨ undet noch keine Identit¨at als soziale Gruppe (vgl. Mannheim 1929: 309f.). Mannheim unterscheidet daher, in Anlehnung an die Klassentheorie (vgl. Mannheim 1929: 171f.), das Kriterium der Generationslagerung” (objektive Merkmale, vor ” allem das Alter) und das Kriterium des Generationenzusammenhangs”, der durch eine ” ” Partizipation der derselben Generationslagerung angeh¨orenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugeh¨orenden, irgendwie zusammenh¨angenden Gestalten” (Mannheim 1929: 313) entsteht. Mit Blick auf soziale Bewegungen entwickelt Whittier (1997) Mannheims Generationentheorie weiter und spricht von politischen Generationen”. Neue politische Generationen ” treten in der Expansionsphase von Protestwellen auf, wenn neue Aktivisten mobilisiert werden (vgl. Whittier 1997: 761f.). Die Identit¨at dieser Aktivistengeneration wird im Moment ihrer Mobilisierung geformt und bleibt, auch u ¨ber den Verlauf der Protestwelle und sogar u ¨ber mehrere Protestwellen hinweg, relativ stabil. Da die neue Generation ihre eigenen Vorstellungen in die Bewegung einbringt, tr¨agt ein Generationenwechsel zur Transformation der Bewegung bei: During periods of high recruitment or personnel turnover, ” high levels of change are expected in the ongoing organizations, the multiorganizational field, and the collective identity of the movement” (Whittier 1997: 764). Dieser von Whittier (1997) beschriebene Wandel vollzieht sich allerdings nicht zwangsl¨aufig und auch nicht unbedingt abrupt, sondern ist abh¨angig von der Geschwindigkeit des Generationswechsels, aber auch von der bestehenden Pr¨asenz der ¨alteren Aktivistengenerationen und dem Organisationsged¨achtnis” der Bewegung, welches sich etwa in der Weitergabe von ” Informationen zwischen den Generationen manifestiert (vgl. Whittier 1997: 775). Auch in sozialen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten wird das Auftreten einer neuen Generation beobachtet. Allerdings ist allgemein f¨ ur die auf die Region bezogene Literatur festzustellen, dass h¨aufiger das Konzept der Jugend” als das Konzept ” der Generation” verwendet wird. Emma Murphy (2012a,b) bringt diese beiden Ans¨atze ” zusammen und konzeptionalisiert Jugend” als Generationsnarrativ von Exklusion, Mar” ” ginalisierung und Entfremdung” (Murphy 2012a: 2). Das Generationsnarrativ der arabischen Jugend entstehe, im Sinne von Mannheims Generationenzusammenhang”, durch ” geteilte Erfahrungen (vgl. Murphy 2012b: 6f., 15ff.). Auch im aktuellen Aktivismus des Arabischen Fr¨ uhlings” grenze sich eine junge Aktivistengeneration explizit von ¨alteren ” Aktivistengenerationen ab (vgl. Murphy 2012b: 11). Diese junge Aktivistengeneration wird als Repr¨asentantin einer weiterreichenden jungen Generation und als Akteur von Innovationen im Arabischen Fr¨ uhling” gesehen. So ”

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habe sich in der Region eine neue Generation herausgebildet, welche im Gegensatz zur Elterngeneration durch Bildungsexpansion gepr¨agt sei, und nun im Arabischen Fr¨ uhling” ” durch junge Aktivisten vertreten werde (vgl. Austin 2011; Desrues 2012). Diese junge Aktivistengeneration zeichne sich inhaltlich dadurch aus, dass sie ideologisch neutrale” und ” post-islamistische” Ans¨atze vertrete (Austin 2011: 88) und von den etablierten politi” ” schen Oppositionen desillusioniert” sei (Challand 2011: 278). Diese Pr¨asenz einer neuen Generation f¨ uhrt allerdings auch im Arabischen Fr¨ uhling” nicht zum kompletten, radi” kalen Wandel, sondern zu einer Serie von Diskontinuit¨aten in verschiedenen Sph¨aren” ” (Desrues 2012: 24) des Aktivismus. 3.2 Konzepte des Politischen Im folgende Kapitel werden Theorien zu Konzepten des Politischen diskutiert, die in den sp¨ateren Kapiteln, komplement¨ar zu den in 3.1 erl¨auterten Theorien sozialer Bewegungen, zur Analyse der antikonfessionellen Protestwelle verwendet werden sollen. Es wird davon ausgegangen, dass eine Analyse der Politikkonzepte der Akteure dazu beitragen kann, die Fragen nach Auswahl und Wirkung der Organisations- und Aktionsformen zu erkl¨aren. Dabei werden drei theoretische Ans¨atze zu Politikkonzepten erl¨autert.13 Abschnitt 3.2.1 entfaltet die Theorie der politischen Differenz, also die dichotome Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen. Daran anschließend wird in 3.2.2 eine Perspektive dargelegt, die das Entstehen einer entgrenzten Politik konstatiert, also politische Praktiken jenseits der formalen Politik. Diese Entfernung des Aktivismus von formalen Strukturen der Politik impliziert Verschiebungen von Kollektiven hin zu Individuen. Daher werden im letzten Abschnitt des Kapitels (3.2.3) Ans¨atze aus Individualisierungstheorien dargelegt, die Modelle einer politischen Individualisierung thematisieren. 3.2.1 Die politische Differenz” ” ¨ Uberlegungen u ¨ber verschiedene Organisations- und Aktionsformen sind h¨aufig mit der Frage verbunden, inwieweit diese jeweils politische Qualit¨at aufweisen. Um die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von politischen Akteuren und Aktionen fassbar zu machen, wird im folgenden die Dichotomie zwischen der Politik” und dem Politischen” ” ” erl¨autert, die als politische Differenz” (Bedorf und R¨ottgers 2010) bezeichnet wird14 . ” 13

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Hierzu ist anzumerken, dass die drei diskutierten Ans¨ atze weniger Koh¨arenz aufweisen als die oben besprochenen Ans¨ atze von Theorien sozialer Bewegungen. W¨ahrend alle in den Abschnitten von Kapitel 3.1 besprochenen Theorieans¨ atze explizit als Theorien sozialer Bewegungen” klas” ¨ sifiziert sind, ist die Gruppierung der hier diskutierten Theorien Ergebnis eigener Uberlegungen: Sowohl die Theorie der politischen Differenz” als auch das Konzept der entgrenzten Politik” und ” ” der politischen Individualisierung” beleuchten unterschiedliche Strategien politischen Handelns, ” welche jeweils unterschiedliche Konzepte des Politischen reflektieren. Diese Dichotomie wird in der Literatur in unterschiedlichen Terminologien gefasst: So spricht Lefort von le politique” und la politique”, Badiou von Staat” und Politik”, Ranci`ere von Polizei” ” ” ” ” ” und Politik” (Bedorf 2010: 16; vgl. auch Bedorf und R¨ ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a). ” Andere Autoren wie etwa Ulrich Beck (s. 3.2.2; 3.2.3) verwenden Umschreibungen wie Politik” und ” das Nichtpolitische” oder das subpolitische System” (U. Beck 1986). Zudem werden Konzepte der ” ” politischen Differenz in einigen aktuelleren Beitr¨ agen durchaus auch mit Bezug auf die Proteste des Arabischen Fr¨ uhlings” verwendet. So stellt Challand (2011: 272, Endnote 4) fest, dass in ” diesem Kontext politisches Handeln nicht mehr im Sinne der Politik”, sondern des Politischen” ” ” imaginiert w¨ urde.

3.2 Konzepte des Politischen

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Dabei bezeichnet die Politik das staatliche, institutionalisierte, geordnete Handeln, also Politik” im alltagssprachlichen Verst¨andnis. Diese beschr¨ankt sich auf Verwaltung ” des Status quo, das Aufrechterhalten der bestehenden Ordnung und auf risikofreie Feiˇ zek ”2001; Bauman erabendrevolten” der etablierten Zivilgesellschaft (Heil 2010: 91ff. Ziˇ 2000a: 11). Hingegen bezeichnet das Politische Unterbrechungen dieser geordneten institutionellen Abl¨aufe, etwa die Artikulation radikaler Gegenentw¨ urfe oder Regelver¨anderungen, die sich außerhalb des kollektiv und formal organisierten Rahmens der Politik abspielen15 . Das Politische besteht in der Kunst des Unm¨oglichen”, es folgt nicht den vorgesehenen ” Abl¨aufen, sondern interveniert, und handelt nicht innerhalb des gegebenen Rahmens, ˇ ˇ zek sich ab sondern ver¨andert diesen (Ziˇzek 2001: 273f. Heil 2010: 104). Hiermit grenzt Ziˇ von dem Aphorismus, wonach Politik in der Kunst des M¨oglichen” bestehe: ” Der eigentliche politische Akt (die Intervention) ist nicht einfach etwas, das innerhalb des Rahmens der existierenden Verh¨altnisse gut funktioniert, sondern etwas, das genau diesen Rahmen ver¨andert, der bestimmt, wie die Dinge zusammenspielen. [...] Man kann das alles gut mit der wohlbekannten Definition von der Politik als Kunst des M¨oglichen” ausdr¨ ucken: Echte Politik [d.h. ” in der hier verwendeten Terminologie das Politische] ist das genaue Gegenteil davon, das heißt die Kunst des Unm¨oglichen – sie ver¨andert gerade die Parameter dessen, was als in der existierenden Konstellation m¨oglich” betrachtet ˇ zek 2009a: 37, Kursivierung im Original; s. auch” Lehner 2012: 115f.) wird. (Ziˇ Wer eben nicht nach L¨osungen f¨ ur kleinere Probleme innerhalb eines im akzeptierten gr¨oßeren Rahmens sucht, fordert grundlegende Regelver¨anderungen. Es geht dann nicht ˇ zek, zitiert bloß um ein Nein zu etwas”, sondern um ein radikales Nein zu allem” (Ziˇ ” ” nach Heil 2010: 9). Die Logiken der Politik und des Politischen treten miteinander in ein dialektisches Verh¨altnis (vgl. Balibar 1993; s. auch Celikates 2010a,b): Die Politik vertritt die kon” stituierte” Macht der vorhandenen Regeln, w¨ahrend das Politische die konstituierende” ” 16 Macht vertritt, welche Regeln erst setzt bzw. aushandelt . In einem Artikel u ¨ber den ´ Ranci`ere-Sch¨ uler Etienne Balibar demonstriert Robin Celikates, dass dieses Spannungsverh¨altnis sich auch als Dialektik von Institutionalisierung und Praxis abbilden l¨asst: Als ¨außerste Form politischer Praxis f¨ uhren Revolutionen zum Umsturz einer bestehende Ordnung. In Institutionen hingegen werden politische Praktiken auf Dauer gestellt, sie werden zu mehr oder weniger routinierten administrativen Abl¨aufen und verlieren dadurch ihren Praxischarakter. Institutionen haben stets den Zweck, revolution¨ares Handeln zu verhindern und die Ordnung zu erhalten, indem sie konflikttr¨achtige Probleme zum Gegenstand normalen politischen Handelns machen oder verrechtlichen. (Celikates 2010a: 60) 15

16

Bedorf (2010) weist allerdings darauf hin, dass diese Erweiterung der Kategorie des Politischen”, ” bei der auch Handlungen als politisch eingeordnet werden, die auf den ersten Blick (bzw. im alten” Verst¨ andnis) nicht der Politik zugeordnet werden, ein theoretisches Problem birgt: Die ” konzeptionelle Eingrenzung des Politischen verschwimmt (Bedorf 2010: 33). Celikates (2010a: 64) weist darauf hin, dass diese beiden Aspekte sich im deutschen Begriff ¨ Staatsb¨ urgertum” spiegeln: Zum einen ist der Begriff die deutsche Ubersetzung des franz¨osischen ” citoyennet´e (und engl. citizenship) und suggeriert somit politisches Engagement auch jenseits der etablierten Institutionen, zum anderen bezieht sich der Staatsb¨ urger” eben auf den Staat, also ” auf die Politik.

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen muss dabei nicht immer radikal sein, sondern es handelt sich um ein Kontinuum [...] m¨oglicher Aggregatzust¨ande”’ ” ’ von politischer Praxis (Celikates und Jaeggi 2006). Das dialektische Verh¨altnis zwischen der konstituierten und der konstituierenden Macht wird, so Balibar, durch zivilen Ungehorsam am Laufen gehalten, indem ziviler Ungehorsam die Wiederaufnahme der politischen Auseinandersetzung anst¨oßt (vgl.Balibar, zitiert nach Celikates 2010b: 291; s. auch Celikates 2010a: 73). Da aus dieser Perspektive Widerstand gegen den Staat politische Qualit¨at hat, spricht Balibar (1993: 113) von zwei Modi politischen Handelns: Der Politik der Verfassung” und ” der Politik des Aufstands”. Die Politik des Aufstands” ist ein Modus politischer Arti” ” kulation derjenigen, die aus der konstituierten, wohlgeordneten Politik der Verfassung” ” (also der Politik ) ausgeschlossen sind17 . Dieses Moment der Exklusion spielt in Theorien der politischen Differenz” eine zentrale Rolle. Wie Ranci`ere (2002: 40ff., 132ff.) betont, ” sind die Akteure des Politischen (bei Ranci`ere: Politik) von der Politik (bei Ranci`ere: Polizei) ausgeschlossen. Sie sind der part-sans-part”, die Unz¨ahlbaren”, die Anteillosen”, ” ” ” die als handelnde Subjekte der Politik nicht vorgesehen sind (Krasmann 2010: 82f.). Die Polizei [d.h. in der hier verwendeten Terminologie die Politik ] [...] ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die daf¨ ur zust¨andig ist, dass diese T¨atigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird und jenes andere als L¨arm. (Ranci`ere 2002: 41) ˇ zek (2009b) bezieht sich auf Ranci`ere und radikalisiert dessen Positionen. Er Slavoj Ziˇ erl¨autert die These, dass das Politische in der Subjektivierung der Anteillosen besteht, am Beispiel der Banlieue-Ausschreitungen in Frankreich 2005 (s. auch oben in 3.1.4). Die ˇ zek 2009b: Aufst¨andischen in den Banlieues formulierten keine politische Agenda (vgl. Ziˇ ˇ zek 64), sondern ihr einziges Ziel war, sichtbar und wahrgenommen zu werden (vgl. Ziˇ 2009b: 63, 65). Wem die formal vorgesehenen Wege der Partizipation verschlossen sind, der kann nur durch St¨orungen bzw. durch Unterbrechungen der Ordnung auf sich aufmerksam machen (vgl. Krasmann 2010: 81; Bedorf 2010: 25). In den Banlieue-Ausschreitungen war ˇ zek (2009b: 66): They were Gewalt das einzige zur Verf¨ ugung stehende Mittel, so Ziˇ ” neither offering a solution nor constituting a movement for providing a solution. Their aim was to create a problem, to signal that they were a problem that could no longer be ˇ zek 2009b: 66), das die ignored.” Durch eine solche St¨orung wird ein Problem kreiert” (Ziˇ ” Ordnung in Frage stellt; die St¨orung interveniert in den Konsens der Politik dar¨ uber, wer sichtbar ist und was sagbar ist (vgl. Bedorf 2010: 24). Die politische Subjektivierung” ” der Anteillosen entsteht somit erst durch die St¨orung, denn erst damit werden sie als potenziell politisch handelnde Subjekte wahrgenommen (vgl. Ranci`ere 2002: 47; s. auch Krasmann 2010: 84f.). Es geht also, wenn man Ranci`ere folgt, im Bereich des Politischen an zentraler Stelle um die Auseinandersetzung, wer als politisches Subjekt z¨ahlt (vgl. Liebsch 2010: 103f.).18 17

18

Balibar (1993) entwickelt diese Thesen anhand der franz¨ osischen Migrationsdebatte, also mit Blick auf Personengruppen, die trotz der formalen Gleichheit der Staatsangeh¨origkeit nicht mit realistischen Erfolgsaussichten in der Politik partizipieren k¨ onnen. Heil (2010: 67ff.) erl¨ autert, wie diese politische Subjektivierung, die durch Akte des Politischen ˇ zek theoretisiert wird: Zun¨ geschieht, von Ziˇ achst wird auf Louis Althusser verwiesen, der Subjektivierung im Moment der Anrufung” erkennt. Dadurch, dass man von einer Institution, etwa der ” Kirche, der Schule oder einem Polizeibeamten, adressiert wird, wird man zum Subjekt, das in der

3.2 Konzepte des Politischen

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Durch diesen theoretischen Zugang zu (auf den ersten Blick) zielloser politischer Gewalt wie etwa in den Pariser Banlieue-Aufst¨anden 2005 werden somit solche Praktiken jenseits der etablierten, kollektiven, formalen Institutionen der Politik aufgewertet und als Kern des Politischen interpretiert. Zugleich sind, so Jaques Ranci`ere (s. Ranci`ere, Celikates und ˇ zek (s. Heil 2010: 138), die Chancen des Politischen auf das Keller 2006) und Slavoj Ziˇ Erreichen nachhaltiger Reformen gering. Die Banlieue-Aufst¨ande waren bedingt durch den Missstand der sozialen und politischen Exklusion, aber [e]ine effektive Politisierung ” bedarf der Gr¨ undung eines gemeinsamen Sprach- und Handlungsrahmens” (Ranci`ere, Ce¨ likates und Keller 2006), ohne den keine Aussicht besteht, greifbare Anderungen auf der Ebene der Politik durchzusetzen. Ob Aktivisten der Logik der formal-partizipatorischen Politik oder der Logik des individuellen, nicht formalisierten, radikal infragestellenden Politischen folgen, kann sich in ihren Strategien spiegeln (vgl. Abschnitt 3.1.4). So sind Praktiken aus dem Bereich des Politischen tendenziell eher unkonventionell, unorganisiert und unterbrechend.19 Zu verschiedenen Zeitpunkten politischer Prozesse sind die Logiken der Politik und des Politischen unterschiedlich stark. Die Regelver¨anderung, die radikale Infragestellung der Ordnung und die Subjektivierung der Anteillosen haben ihren H¨ohepunkt zur Zeiten der Ausnahmeepisode”. Dies spiegelt sich in der oben in Abschnitt 3.1.6 zitierten Formulie” rung, die sich auf die Hochphase sozialer Bewegungen bezieht: Alles ist m¨oglich” (Tarrow ” 1993: 281, 302). W¨ahrend einer Ausnahmeepisode erscheint alles gleichzeitig ver¨anderbar ” und m¨oglich [...], bis zu z¨ahfl¨ ussig-erstarrten Formen der in politischen Gremien verwiesenen Entscheidungsfindung” (Celikates und Jaeggi 2006). Die Ausnahmeepisode ist der Moment des Politischen, in der die Anteillosen” zu Wort kommen. ” 3.2.2 Entgrenzte Politik Mit der Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen sind Fragen nach der Bedeutung formal-politischer Institutionen verbunden. In dem Zusammenhang konstatieren Soziologen eine Zunahme von Formen politischen Handelns jenseits der etablierten Institutionen, das treffend als entgrenzte Politik” bezeichnet wird (U. Beck 1986: 300ff. ” U. Beck, Hajer und Kesselring 1999). Dabei stellt U. Beck (1986: 300ff.) eine Entfremdung der Individuen von formal-politischen Institutionen fest. Diese Institutionen sind dadurch einerseits gel¨ahmt, aber zugleich sind die Individuen – außerhalb der Institutionen – durchaus aktiv und tragen zu gesellschaftlichem Wandel bei. Dieser Gesellschaftswandel finde allerdings in der Form des Nichtpolitischen” statt – zumindest dann, wenn mit Politik” ” ” die etablierten formal-politischen Institutionen gemeint sind (U. Beck 1986: 303, Hervorhebung im Original). So konstatiert Beck, dass das Potential der Gesellschaftsgestaltung ” aus dem politischen System ins subpolitische System” abwandere und somit die Politik” ” unpolitisch w¨ urde, w¨ahrend Bereiche des Unpolitischen” politische Qualit¨at bek¨amen (U. ”

19

ˇ zek geht dies nicht weit genug, sonsymbolischen Ordnung einen bestimmten Platz einnimmt. Ziˇ dern er weist darauf hin, dass die Anrufung niemals alle potenziellen Subjekte erreicht. Mit Bezug auf Jacques Lacan verweist er auf den Moment vor der Subjektivierung und lenkt somit den Blick darauf, dass die Anteillosen nicht angerufen wurden und somit keine politischen Subjekte sind. Dieser Zusammenhang ist nicht automatisch, ebenso wenig wie der oben in den Abschnitten 3.1.5 und 3.1.3 andiskutierte Zusammenhang zwischen Organisationsformen und Aktionsformen. So weist Ranci`ere (2002: 44) ausdr¨ ucklich darauf hin, dass die politische Qualit¨at einer Aktion sich nicht aus ihrer Form bestimmt, sondern daraus, ob die Aktion Verh¨altnisse [...] neu ordnet”. ”

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Beck 1986: 305). Daraus folgt die Forderung, dass als Konsequenz der Entfremdung von den formal-politischen Institutionen nicht regelanwendende Politik notwendig sei, sondern politische Regelver¨anderung (U. Beck 1986; Bedorf 2010: 19). Dass die etablierten Ordnungen Ver¨anderungen unterworfen sind, ist also unumg¨anglich und steht selbst nicht zur Debatte, aber es zieht eine Forderung nach sich: Die Forderung nach einer Wiederkehr des Politischen20 in dem Sinn, dass die Regeln dieser Ordnungen neu entwickelt werden m¨ ussen, und zwar außerhalb der bestehenden Regeln. ¨ Der Ausgangspunkt der Uberlegungen zur Entgrenzten Politik” ist die Beobachtung, ” dass die konstitutionell vorgesehenen, am Staat orientierten, formal organisierten Wege der Politik in einer Krise seien: Das nationalstaatliche System der Politik – und damit wird im klassischen Verst¨andnis die Politik” in der Regel gleichgesetzt – ist nicht mehr das Steue” rungszentrum einer individualisierten, fragmentierten und globalisierten Gesellschaft [...]. Was also in der Krise ist, ist vor allen Dingen ein bestimmtes Verst¨andnis von Politik, das im politischen System die zentrale Schaltstelle der Gesellschaft sieht. (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 8) Eine solche Entfremdung vom Staat, die mit der Verortung politischen Handelns außerhalb staatlicher und formaler Strukturen einhergeht, wird auch f¨ ur den Nahen und Mittleren Osten konstatiert (vgl. S. Cohen 2004; Zein 2010). So zeigt S. Cohen (2004: 108f.) f¨ ur Marokko, dass die jungen Mitglieder einer global orientierten Mittelschicht sich dieser Entfremdung bewusst sind. Sie reagieren darauf, indem sie in der konventionellen Politik nicht partizipieren, sondern von Alternativen tr¨aumen (vgl. S. Cohen 2004: 6, 140). Obwohl nun, um das obige Zitat von U. Beck, Hajer und Kesselring (1999: 8) aufzugreifen, das Verst¨andnis von Politik” in der Krise ist, k¨onnen Organisations- und ” Aktionsformen außerhalb der formal-politischen Institutionen, wie sie etwa von neuen sozialen Bewegungen (s. 3.1.5) verwendet werden, als politisch verstanden werden. Aus dieser Perspektive kann selbst das Fernbleiben von formal-politischen Institutionen, etwa von Wahlen und Parteien, nicht ungepr¨ uft als unpolitisch verstanden werden. So hat etwa Arzheimer (2001) in seiner Analyse zur deutschen Debatte um Politikverdrossenheit” ”¨ gezeigt, dass dieses Fernbleiben von Institutionen auf politischen Uberlegungen basiert, n¨amlich auf der Frustration u ¨ber diese Institutionen oder der Einsch¨atzung, dass diese Institutionen f¨ ur die Bearbeitung dr¨angender Fragen nicht geeignet sind. Innerhalb der aktiven politischen Handlungen” unterscheidet der syrische Soziologe ” Sari Hanafi (2010) drei Ebenen: Die staatliche Gouvernementalit¨at”, also Handlungen ” des Staats gegen¨ uber der Bev¨olkerung, governance” im Sinne von Handlungen, die sich ” zwischen dem Staat und der organisierten Zivilgesellschaft bzw. dem Privatsektor abspielen, und nicht-institutionelles Protestieren”, also gegen die staatlichen Handlungen ” gerichteter Widerstand, der sowohl in organisierten als auch in unorganisierten Strukturen ablaufen kann (Hanafi 2010: 152ff.). Die Qualifizierung einer Handlung als Politik” ” ist demnach daran ausgerichtet, dass staatliche Politik thematisiert wird, aber nicht an der Verortung des Akteurs in staatlichen Institutionen und auch nicht an der formalen 20

So fordert etwa Ranci`ere (2008) die R¨ uckkehr der Politik”, wobei er diese Forderung als komple” ment¨ ar zur Diagnose vom Ende der Politik” konzipiert (Ranci`ere 2008: 45). ”

3.2 Konzepte des Politischen

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Organisation eines Akteurs. Die Entgrenzung der Politik bezieht sich auf alle Ebenen politischen Handelns, wie sie in den Theorien sozialer Bewegungen unterschieden werden (Tilly 1978; Kriesi 1989; s. 2.2.1): Entgrenzt werden sowohl die Akteure als auch die Aktionen und Themen. Insbesondere handelt es sich um eine Politisierung jenseits der formal-politischen Institutionen sowie um eine Politisierung des Lebensstils. So zeichnen die Praktiken der entgrenzten Politik sich dadurch aus, dass sie erstens jenseits von links und rechts” verortet sind, ” zweitens jenseits der politischen Institutionen” stattfinden und drittens in einem neuen ” ” Sinne hochpolitisch [sind], weil sie an der zentralen Frage des 20. Jahrhunderts entlang konfiguriert sind”, n¨amlich an der Frage, wie wir leben wollen und sollen (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 9). Die von U. Beck, Hajer und Kesselring (1999: 9) aufgegriffene Frage des How should ” we live? ” (Giddens 1991: 215) weist auf eine Entgrenzung auch der politischen Themen hin: Vormals aus der Politik ausgegliederte Bereiche, also etwa die private Selbstverwirklichung, werden zu Gestaltungsr¨aumen des Politischen” (Hitzler und Honer 1994: 449). ” Dabei verschieben sich Einsch¨atzungen dar¨ uber, welche Lebensbereiche politisiert sind: Bereiche, die vormals als privat” oder als nat¨ urlich” galten und somit nicht in den ” ” Bereich politischer Gestaltung fielen, werden zu Gegenst¨anden politischer Aushandlung (vgl. Celikates und Jaeggi 2006). Dadurch verschwimmen die Grenzen der Politik, denn es kommt zur Vermischung von politischem Handeln und sozio-kulturellen Formen der ” gesellschaftlichen Artikulation” (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 16). Aus dieser Perspektive ist also Lebensweise bzw. Lebensstil ein hochpolitischer Bereich. So spricht Hitzler (1997: 60) von Lebensstil-Auseinandersetzung”, U. Beck (1997: 186) ” von Politik der Lebensf¨ uhrung” und von Selbst-Politik”, Giddens (1991) von life po” ” ” litics” bzw. politics of lifestyle” (vgl. auch die Titel von Bayat 2010b Life as politics” ” ” bzw. Bayat 2012 Leben als Politik”). Life politics” behandelt politische Themen, die ” ” durch Lebensentscheidungen und Prozesse der Selbstverwirklichung in post-traditionalen ” Gesellschaften” entstehen (Giddens 1991: 214f.). Im Kontext des Arabischen Fr¨ uhlings” wurden entgrenzte Politik und Politik der Le” bensf¨ uhrung zunehmend auch mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten zu einem ¨ Thema theoretischer Uberlegungen. So stellt Reinhard Schulze (2012, 2013) fest, dass die Protestformen des Arabischen Fr¨ uhlings” durch die Ver¨offentlichung” und die Mobi” ” ” lisation der Lebenswelten” (Schulze 2012: 41, 43) gekennzeichnet sind. Dabei w¨ urde das Konzept der Lebenswelten als plural verstanden und die Aktivisten vertr¨aten einen poly” zentrischen Gesellschaftsbegriff” (Schulze 2012: 55). Der Aktivismus orientiere sich nicht mehr an vorgegebenen, staatlich vertretenen Normen”, sondern an Werten”, welche ” ” nicht von Staats wegen definiert sind, sondern sich aus den individuellen Lebenswelten ergeben (Schulze 2012: 43, 49f. 2013: 237ff.). Mit dieser Passage von politischer Normen” ordnung zu lebensweltlicher Werteordnung” (Schulze 2012), also einer Verschiebung der Bezugsrahmen weg vom staatlichen Kollektiv und hin zur Bedeutung individueller Akteure, wurden die Aufst¨ande in gewisser Hinsicht vergesellschaftet und der Staatshoheit ” entzogen” (Schulze 2013: 235). Im politischen Handeln von Akteuren des Arabischen ” Fr¨ uhlings” spiegelten sich demnach die Betonung individueller Lebenspl¨ane”: ” Die Mobilisation der Lebenswelten hingegen, die in den Revolten eindr¨ ucklich zum Ausdruck kam, erfolgte nicht mehr nach einer politischen Normenord-

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

nung, die ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel zu erreichen versuchte, sondern nach der Schaffung von sozialen M¨oglichkeitsr¨aumen, in denen der Einzelne seine individuellen Lebenspl¨ane verwirklichen k¨onnte. (Schulze 2013: 236) In ¨ahnlicher Weise konstatiert Benoˆıt Challand (2011) eine neue politische Subjekti” vit¨at”, die sich von fr¨ uheren politischen Subjektivit¨aten durch die Weise unterscheidet, in der die Aktivisten sich selbst und ihr politisches Handeln re-imaginieren” (Challand ” 2011: 271). Diese neue politische Subjektivit¨at” stelle insofern einen Bruch gegen¨ uber den ” vor 2011 u ¨blichen Partizipationsweisen dar, als es sich um ein individuelles Verst¨andnis ” von staatsb¨ urgerlicher Beteiligung” handle (Challand 2011: 271). Dabei grenzt Challand (2011: 271, 276) sein Verst¨andnis von Individualismus von einem neoliberalen” Verst¨andnis ” ab, welches die Relevanz kollektiver Rechte vollst¨andig u ¨bersehe. Im Gegenteil fordern die Tr¨ager der neuen politische Subjektivit¨at” einen radikalen Bruch von fragmentierten ” ” Sozialstrukturen” (Challand 2011: 276), sind aber zugleich von den bestehenden Kollektivstrukturen, namentlich den etablierten Akteuren der politischen Opposition, desillusioniert (vgl. Challand 2011: 278). Diese Entgrenzung der politischen Bez¨ uge pr¨agte die Mobilisierung im Arabischen Fr¨ uhling”, wie Challand (2011: 280) ausf¨ uhrt: Successful ” ” forms of mobilization in the collective imaginary are now more about political participation, national equality, and isonomy – in short, a new notion of citizenship.” Auf diese Beobachtung bezieht sich des Weiteren Sari Hanafi (2012) und bezeichnet sie als refle” xiven Individualismus”. Dieser richtet sich nicht einfach eindimensional gegen kollektive Strukturen, sondern bewegt sich sowohl innerhalb als auch zwischen” politischen Insti” tutionen (Hanafi 2012: 204), indem die Aktivisten kollektive Strukturierung nicht v¨ollig ablehnen, sondern sie flexibel und reflexiv verwenden: The individuals construct themselves in the space between social integration and disintegration [...] armed with the power of reflexivity. [...] It is a type of individualism that involves the constant negotiation of an actor with the existing social structure in order to realize a (partial) emancipation from it. This is an act of self-reference of an agent that recognizes forces of socialization but alters their place in the social structure and resists their disciplinary power. (Hanafi 2012: 203) Die Entgrenzung der Politik wird somit auch im Zusammenhang mit der Frage nach politischer Individualisierung diskutiert. Dabei kommen Autoren zu unterschiedlichen normativen Bewertungen, so kann die Krise formal-hierarchischer Institutionen sowohl als Chance als auch als Gefahr interpretiert werden. In diesem Zusammenhang sieht etwa der Soziologe Zygmunt Bauman die Gefahr, dass kollektive Institutionen der Interessenvertretung der Individualisierung zum Opfer fallen und nennt das Individuum den “schlimmsten Feind ¨ ¨ des B¨ urgers“ (Bauman 2003: 47ff.). Ahnliche Uberlegungen finden sich in Debatten zum Nahen und Mittleren Osten, bei denen ein Mangel an Individualisierung und/oder Demokratisierung beklagt wird. So fragt Bayat (2007: 212) in seiner Monographie u ¨ber soziale Bewegungen und Postislamismus: Is individualism a prerequisite for democracy or its an” tithesis?” Individualisierung gilt dabei mal als Voraussetzung f¨ ur freie staatsb¨ urgerliche Partizipation (vgl. Saghie 2001a), mal als Schritt zur Massengesellschaft, in der die entwurzelten Individuen leichte Beute heimt¨ uckischer Einfl¨ usse” sind (I. Harik 2001: 123). ”

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3.2.3 Politische Individualisierung In der oben zitierten Literatur zu den erl¨auterten Theorien zur politischen Differenz und zur entgrenzten Politik werden Bez¨ uge zur Individualisierungsthese hergestellt (s. U. Beck 1986: 300ff. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999; Bedorf 2010: 19; Hanafi 2012; Bayat 2007). Daher sollen im Folgenden einige theoretische Thesen zur politischen Individualisierung diskutiert werden. W¨ahrend der Begriff Individualisierung” alltagssprachlich als eine Metapher f¨ ur Selbst” ” bestimmung” fungiert und mit einer Erweiterung der Entscheidungs- und Wahlm¨oglich” keiten assoziiert” wird (Junge 2010: 265), ist seine analytisch-konzeptionelle Verwendung deutlich komplexer. Dies gilt insbesondere f¨ ur den ambivalenten Ansatz” (Schroer 2001, ” 2010) der Individulisierungsforschung, der in j¨ ungerer Zeit im Rahmen der Debatten um die Individualisierungsthese” von U. Beck (s. v.a. 1983, 2008) seit den 1980er Jahren ” umfassend diskutiert und ausdifferenziert wurde (vgl. Schroer 2001, 2010; Bauman 1997, 2003; Kron und Hor´acek 2009). Die Individualisierungsthese im Sinne Becks ist verbunden mit einem bestimmten Zeitalter. Un¨ ubersehbar seien Individualisierungsprozesse in westlichen Industriel¨andern seit den 1960er Jahren (vgl. U. Beck 1983: 40f.)21 . Die Antriebskraft der Individualisierungsprozesse bestehe in einem Strukturwandel, der typisch f¨ ur Industriegesellschaften sei (vgl. U. Beck 1986: 207ff. Junge 2010: 270). Zentraler Aspekt dieses Strukturwandels ist die Entstehung von Institutionen, die das Individuum adressieren22 : So erfordert der Arbeitsmarkt, dass die Einzelnen ihre Arbeitskraft individuell verkaufen m¨ ussen (vgl. Junge 2010: 270ff.), der ausgebaute Wohlfahrtsstaat k¨ ummert sich nicht um Gruppen, sondern rechnet Leistungen und Anspr¨ uche individuell zu (vgl. U. Beck 2008: 304), b¨ urgerliche Grundrechte richten sich nicht auf Kollektive, sondern auf Individuen (vgl. U. Beck 2008: 303), und die moderne Liebesheirat stellt nicht die miteinander zu verbindenden Familien in den Mittelpunkt, sondern die einzelnen Partner (vgl. Wohlrab-Sahr 1997: 26ff.). Obwohl diese Zeitdiagnose haupts¨achlich auf Industriel¨ander bezogen ist und insbesondere die auf institutionelle Individualisierung fokussierte Debatte von Deutschland ausging (vgl. Wohlrab-Sahr 1997: 24), fordert U. Beck (2008), die diskutierten Transformationen mit kosmopolitischem Blick” zu betrachten, welcher u ¨ber nationalstaatliche Grenzen hin” ausreicht. Dies wird vor allem damit begr¨ undet, dass auch die in der reflexiven Moderne ablaufenden Prozesse nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen, sondern global wirken23 . Dabei verlaufen diese Prozesse der Individualisierung nicht eindimensional, sondern sind als ambivalent und nicht-linear zu verstehen. So verbleiben die Individuen nach der Erosion von kollektiven Strukturen nicht in der Lage einer atomisierten Vereinzelung. Auf die Entstrukturierung”, n¨amlich die Herausl¨osung aus kollektiven Strukturen, folgt die ” 21

22 23

Vester (1997: 99) weist zu Recht darauf hin, dass es in der Geschichte durchaus auch an anderen Stellen Individualisierungsprozesse gegeben hat. Die Individualisierungsthese (s. U. Beck 1983, 1986) wurde allerdings seit den 1980er Jahren besonders breit debattiert. Diese Debatte f¨ ugt sich ein in Zeitdiagnosen, welche f¨ ur das 20. Jahrhundert auch auf anderen Ebenen außergew¨ohnlich umfassende Umbr¨ uche diagnostizieren. Dieses Adressieren eines Individuums durch staatlichen Institutionen kann ein zentrales Moment der politischen Subjektivierung darstellen, s. 3.2.1. So finden die von Beck mit Individualisierung zusammengedachten Prozessen in ¨ahnlicher Form durchaus auch in der Region des Nahen und Mittleren Ostens statt, etwa in Prozessen der S¨ akularisierung (vgl. I. Harik 2003; Roald 2008).

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Restrukturierung”, bei der sich neue kollektive Strukturen bilden (vgl. U. Beck 2008). U. ” Beck (1986: 206f.) beschreibt drei Schritte, in denen sich dieser Prozess der Ent- und Restrukturierung vollzieht: Herausl¨osung”, Stabilit¨atsverlust” und Wiedereinbindung”. ” ” ” Das Individuum l¨ost sich erstens aus historisch vorgegebenen Sozialformen heraus, verliert dadurch zweitens an Sicherheit und Orientierung, und sucht drittens nach Integration in alternative Bindungen und Strukturen, in die es sich einbindet (vgl. U. Beck 1986: 206ff. s. auch Junge 2010: 270). Da also auf die Entstrukturierung” eine Restrukturierung” ” ” folgt, ist zu erwarten, dass nach der Aufl¨osung von Gruppen, bzw. nach ihrer Verkleinerung oder ihrem Verlust an Integrationskraft, deren fr¨ uhere Mitglieder nicht unbedingt in der Vereinzelung verharren. Vielmehr werden die aus den Gruppen herausgel¨osten” ” Individuen sich wiedereinbinden” (U. Beck 1986: 206f.), entweder in bestehende Gruppen ” 24 oder in sich neu formierende Gruppen. Insofern ist Individualisierung auch als ein Prozeß [sic] der Vergesellschaftung” zu ” verstehen (U. Beck 1986: 119; s. auch Habermas 1994), denn sie l¨ost nicht nur soziale Strukturen auf, sondern schafft zugleich neue Strukturen. Kron und Hor´acek (2009: 11ff.) bezeichnen diese Dialektik von Ent- und Restrukturierung als den Grundprozess der ” Individualisierung”, den sie in der Geschichte der Individualisierungsforschung durchgehend finden: Auf die Individualisierung im Sinne des Raus” des Individuums aus einer ” Struktur folgt das Rein” in eine andere Struktur (Kron und Hor´acek 2009). ” Die kollektiven Zusammenh¨ange, die sich durch Restrukturierung” bilden, k¨onnen sich ” qualitativ von ihren Vorg¨angern unterscheiden, etwa durch gr¨oßere Heterogenit¨at oder weniger Verbindlichkeit. Es handelt sich um post-traditionale Vergemeinschaftungen” ” (Hitzler 1998; vgl. Kron 2007: 325). Die Solidarit¨at in restrukturierten Gruppen ist dann, anders als in den Gruppen, in die man hineingeboren wird, nicht unhinterfragt, sondern freiwillig, so dass darum geworben werden muss (vgl. Hitzler 1997: 49ff. U. Beck und Sopp 1997a: 12). Auch die Bewertung der Individualisierung ist ambivalent (s. 3.2.2). Der Individualisierungsprozess suggeriert eine gewisse Wahlfreiheit und eine Autonomie de jure (egal ” ob sie de facto gew¨ahrt wird oder nicht)” (Bauman 2003: 43, Hervorhebung im Original; zitiert nach Kron und Hor´acek 2009: 72). Dass Individualisierung nicht unbedingt mit Autonomie und Wahlfreiheit einhergeht, liegt daran, dass die institutionelle Individualisierung in erster Linie ein passiver Prozess und eine Reaktion auf strukturellen Wandel ist (vgl. Kron 2007: 330). Somit ist Individualisierung keine rein freiwillige Entscheidung, wie Beck in einem vielzitierten Satz formuliert: Individualisierung wird dem Individuum ” tats¨achlich durch moderne Institutionen auferlegt” (U. Beck 2008: 303; vgl. auch Kron 2007). Dennoch soll an dieser Stelle klargestellt werden, dass Individualisierung kein rein strukturell bedingter, automatischer” Prozess ist. Das Agens verschwindet nicht hinter ” der Struktur, aber es wird durch die Struktur stark beeinflusst. Es unterliegt dahingehend zwar keinem Zwang, wohl aber einem Druck, denn institutionalisierte Individualisierung ” heißt: Es gibt einen wachsenden Druck zu reflexiven Lebensstilen und individualisierten Lebenswegen” (U. Beck 2008: 307). Entscheidungen zur Herausl¨osung k¨onnen bewusst getroffen werden, etwa als Ergebnis von Frustration u ¨ber eine kollektive Struktur. Aber 24

Aus dieser Perspektive scheint es folgerichtig, dass im Nahen und Mittleren Osten etwa auf die nachlassende Integrationskraft von Parteien ein Boom politischer NGOs folgt (vgl. AbuKhalil 1997), und dass durch islamistische Parteien entt¨ auschte Individuen sich dem neueren kollektiven Referenzschema des Postislamismus” zuordnen (Bayat 2007). ”

3.2 Konzepte des Politischen

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Herausl¨osung wird nicht unbedingt selbst ausgesucht und aktiv betrieben, sondern kann auch reaktiv und unfreiwillig geschehen. Auch in diesen F¨allen ist das herausgel¨oste Individuum gezwungen sich selbst um seine Wiedereinbindung zu k¨ ummern (vgl. Bauman 1997, 2000a, 2003). Dabei impliziert Individualisierung auch ein Moment der Selbstverwirklichung: Menschen werden zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensf¨ uhrungen” (U. ” Beck 1986: 116f. vgl. auch Vester 1997: 109), denn Lebensplanungen unter Bedingungen von Individualisierung sind nicht durch vorgegebene Zugeh¨origkeiten determiniert. Die Einzelnen gehen nicht in kollektiven Strukturen auf, sondern m¨ ussen sich in der ausdifferenzierten Gesellschaft ihre eigenen Pl¨atze zusammensuchen und sich ihre eigene Bas” telexistenz” (Hitzler und Honer 1994) aufbauen. Gleiches gilt f¨ ur Sinnsysteme”, die zur ” Verf¨ ugung stehen, und zwischen denen sich das Individuum – wenn auch unverbindlich und auf Zeit – entscheiden muss (vgl. Hitzler 1997: 58). Die zusammengebastelten, heterogenen Sinnbez¨ uge und Gruppenorientierungen kann das Individuum zu einem spezifi” schen Lebensstil ” arrangieren (Hitzler und Honer 1994: 309, Hervorhebung im Original). Die M¨oglichkeiten sind dabei nicht unendlich, aber weniger rigide beschr¨ankt: Es er¨offnen sich weitere M¨oglichkeitsr¨aume” (Berger 1997: 84), die aber nicht allen Individuen glei” chermaßen offen stehen, da zum einen Ressourcen weiterhin ungleich verteilt seien (vgl. Berger 1997: 19f.), zum anderen der systemische Rahmen individueller Selbstkonstitu” tion außerhalb der Reichweite individueller Entscheidungen liegt” (Bauman 2000b: 209; zitiert nach Kron 2007: 326). Eine ausschließliche Betonung von Freiheit des Individuums, die Befreiungsillusion”, ” f¨ uhrt insofern in die Irre, als die Freiheit eben erstens nicht ausschließlich freiwillig gew¨ahlt und zweitens nicht von Bestand sei, sondern einer Restrukturierung weichen werde (vgl. Kron und Hor´acek 2009: 151). Diesem Gedankengang folgend, spricht Schroer (2010) von Individualisierung als Zumutung”. So impliziert pers¨onliche Individualisierung einen ” Gewinn an individuellen Freiheiten”, aber auch die Ersch¨ utterung von Gewissheiten und ” neuartige Verunsicherungen” (Berger 1997: 81; s. auch Kron 2007: 326), einen Gewinn ” ” an Entscheidungschancen, an individuell w¨ahlbaren (Stilisierungs-)Optionen”, aber auch einen Verlust eines sch¨ utzenden, das Dasein u ¨berw¨olbenden, kollektiv und individuell ” verbindlichen Sinn-Daches” (Hitzler und Honer 1994: 307). Diese Spannungsverh¨altnisse werden in Iliya Hariks Beitrag zu Individualismus im Nahen Osten reflektiert, wenn er zwei Lesarten von Individualismus als eine positive Suche ” nach Freiheit und Autonomie” und als ein negativer Trieb, dessen Ziel es ist, etablierte ” und harmlose soziale Verbindungen zu zerst¨oren” gegen¨ uberstellt und sich zweiterer Deutung anschließt (I. Harik 2001: 126). Gegen diese vorgebliche Ideologiefreiheit richtet sich, mit Blick auf den Libanon, die Argumentation von I. Harik (2001, 2003): Er kritisiert sowohl Individualismus als auch S¨akularismus, die als neutrale Ideologie“ verschleiert ” w¨ urden, tats¨achlich aber interessengeleitete Ideologien seien (I. Harik 2003: 16). Dass Individualismus keine Ideologie im Sinne einer ausformulierten Utopie mit einem formal organisierten institutionellen Unterbau darstellt, ist dabei zweitrangig, wie aktuelle ¨ Uberlegungen der Ideologieforschung betonen: So wurde mit Bezug auf den Arabischen ” Fr¨ uhling” angemerkt, dass die Abwesenheit von organisierten und ausformulierten Ideologien keineswegs Ideologiefreiheit bedeute, sondern dass gerade die Abgrenzung von diesen Strukturen ideologische Qualit¨at haben kann (vgl. Haugbolle 21.03.2012).

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit ” Die in den vorangegangenen Kapiteln 3.1.1 und 3.2.1 erl¨auterten theoretischen Konzepte und Modelle stellen die theoretische Grundlage dieser Arbeit bereit. Dieses Kapitel fasst die zentralen Punkte der vorangegangenen Kapitel zusammen und erg¨anzt sie dahingehend, dass hier die Kombination der verschiedenen theoretischen Ans¨atzen erl¨autert wird. Dabei werden zun¨achst die Konzepte, welche unten in Kapitel 6 und Kapitel 7 zur Analyse der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 haupts¨achlich verwendet werden, genannt, und ihre grundlegendsten Inhalte werden rekapituliert (3.3.1). Im Anschluss (3.3.2) wird begr¨ undet, warum f¨ ur diese Arbeit eine Kombination dieser verschiedenen Ans¨atze gew¨ahlt wird, und es wird beispielhaft aufgezeigt, an welchen Stellen die Synthese mehrerer Ans¨atze besonders ertragreich scheint. 3.3.1 Zentrale analytische Konzepte In diesem Abschnitt werden zun¨achst die Konzepte genannt, welche die gesamte Arbeit betreffen, gefolgt von Erl¨auterungen zu Konzepten, die nur in einzelnen Abschnitten der Arbeit verwendet werden. Das Gef¨ uge der untersuchten antikonfessionellen Akteure und Aktionen zwischen den Jahren 2010 und 2012 wird als Protestbewegung definiert und somit prim¨ar anhand von Theorien sozialer Bewegungen untersucht. Eine soziale Bewegung wird dabei verstanden als ein segmentiertes Netzwerk aus verschiedenen Akteuren, das als mehrk¨ opfig” (Della Porta und Diani 2006: 157ff.) und hybrid” (Rucht 2004: ” ” 509) zu charakterisieren ist (dieses Konzept wird insbesondere in den Abschnitten 6.2.2 und 6.2.3 angewandt). Weitere theoretische Bestimmungen, die sich auf die gesamte Arbeit beziehen, bestehen prim¨ar in der Operationalisierung des Forschungsgegenstands. Zur Operationalisierung wird eine analytische Unterscheidung zwischen den Bewegungsebenen der Akteure”, Aktionen” und Themen” getroffen (Kriesi 1989; Tilly 1978). Inner” ” ” halb der Akteure werden wiederum die Gruppen der Organisatoren”, Teilnehmer” ” ” und Sympathisanten” unterschieden (Kriesi u. a. 2003: 37). Die beiden analytischen ” Kapitel dieser Arbeit beziehen sich jeweils auf eine der genannten Bewegungsebenen, wobei in Kapitel 6 die Organisationsformen der Akteure und in Kapitel 7 die Aktionsformen behandelt werden. Der Untersuchungszeitraum der Arbeit wird mit Hilfe des Modells der Protestwelle” ” (s. Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; Tarrow 1989, 1991, 1998) eingegrenzt. Dieses Modell stellt zugleich Konzepte zur Unterscheidung der verschiedenen Phasen im Verlauf der antikonfessionellen Aktionen 2010-2012 bereit. Unterschieden werden zun¨achst die Phasen der Expansion”, Transformation”, Kontraktion” und Re-Routinisierung” (Ko” ” ” ” opmans 2004). Vor und nach der Protestwelle befinden soziale Bewegungen sich in Phasen der Latenz” (Melucci 1984; Della Porta und Diani 2006: 149), wobei dieses Konzept ” impliziert, dass die Bewegung nicht verschwunden, sondern inaktiv oder auf niedrigerem Niveau aktiv ist. Der H¨ohepunkt der Protestwelle, der sich u ¨ber Teile der Expansions- und der Transformationsphase erstreckt, wird von Bayat (2013a) zudem als Ausnahmeepi” sode” bezeichnet, in Abgrenzung von der sp¨ater folgenden Post-Revolution”. Innerhalb ” der Transformationsphase ist, so Rucht (2004: 12), Konkurrenz um Ideologien, Strategien und Ressourcen besonders wahrscheinlich. Zu den typischen Prozessen der Transformationsphase z¨ahlen zudem die Polarisierung” zwischen sich institutionalisierenden und ” sich radikalisierenden Teilen der Bewegung (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322; Kriesi u. a. 2003: 124), sowie die Konstituierung neuer Akteure” (McAdam, Tarrow ”

3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit ”

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und Tilly 2001: 314ff.). Zur Untersuchung der Organisationsformen (Kapitel 6) wird zun¨achst auf Ans¨atze zur¨ uckgegriffen, welche verschiedene Bewegungsakteure anhand ihrer formalen Organisiertheit typologisieren (s. Della Porta und Diani 2006; Rucht 1996, 2004). Dabei entspricht der Akteurstyp der NGO dem andernorts als Massenprotestorganisation” ” (Della Porta und Diani 2006: 145ff.) bzw. Interessengruppe” (Rucht 1996: 188) bezeich” neten Typ, der abgegrenzt wird vom Akteurstyp der Graswurzelorganisation” (Della ” Porta und Diani 2006: 145ff. Rucht 1996: 188ff.). Innerhalb des Akteurstyps NGO ist zu unterscheiden zwischen charity-NGOs und advocacy-NGOs (s. z.B. Ben N´efissa 2005), wobei f¨ ur die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 nur advocacy-NGOs von Relevanz sind. Deren politische Funktion in der Region des Nahen Ostens wird zuweilen mit der von Parteien verglichen, etwa wenn Hegasy (2010: 23) sie als one-issue-parties” bezeichnet. ” Ein zentrales Moment der theoretischen Abgrenzung zwischen Graswurzelorganisationen und NGOs besteht darin, dass letztere eine st¨arkere Formalisierung und Professionalisierung aufweisen. Graswurzelorganisationen hingegen sind, in Abgrenzung zu NGOs, durch weniger ausgepr¨agte Organisiertheit bzw. durch eine relativ lose, informelle und ” dezentrale Struktur” gekennzeichnet (Rucht 1996: 188ff. s. auch Della Porta und Diani 2006: 145ff.). Dabei korreliert st¨arkere Professonalisierung eines Bewegungsakteurs einerseits mit h¨oherer Stabilit¨at (vgl. Della Porta und Diani 2006: 149) und andererseits h¨aufig auch mit geringerer Legitimit¨at (Della Porta und Diani 2006: 145f.). Als weiterer relevanter Akteurstyp sind Koalitionen zu nennen, in denen sich verschiedene Bewegungsakteure zusammenschließen. In der theoretischen Literatur wird Koalitionen zugeschrieben, dass diese durch netzwerkf¨ormige Organisierung” entstehen (Harders 2011: 15), und dass ” die diese Organisierung Koalitionsarbeit” voraussetzt (Rucht 2004: 203f.). ” Bez¨ uglich der Untersuchung der Aktionsformen (Kapitel 7) ist als ein zentrales theoretisches Konzept das Repertoire” (Tilly 1979, 2005, 2007, 2008) zu nennen. Ein Re” pertoire enth¨alt eine begrenzte Anzahl m¨oglicher Aktionsformen, die weitgehend aus vorangegangenen Protestwellen u ¨bernommen werden (vgl. Tilly 2008). Nach Tilly geschehen Ver¨anderungen des Repertoires in der Regel schrittweise (vgl. Tilly 2008: 4, 15), wobei rapider Wandel der politischen Kontexte zu radikalerer, rapiderer Innovation” der Re” pertoires f¨ uhren kann (Tilly 2008: 12). Repertoires sind bestimmten Anspruchsteller” Objekt-Paaren” (claimant and object of claim, Tilly 2008: 14) zugeordnet, also nicht nur an den jeweiligen Bewegungsakteur gebunden, sondern auch an den jeweiligen politischen Gegner. Zudem weisen Taylor und Van Dyke (2004: 271ff.) darauf hin, dass die Ausformung von Repertoires durch eine Reihe weiterer Faktoren beeinflusst wird, wobei es sich nach sowohl um bewegungsexterne als auch bewegungsinterne Faktoren handelt. Zur vergleichenden Untersuchung verschiedener antikonfessioneller Aktionsformen (v.a. in Bezug auf Kapitel 7.2) wird zudem das Konzept des Protests” thematisiert. Ein Groß” teil der Aktionen in einer Protestwelle sind als Protest” zu klassifizieren, der entspre” chend der Definition von Taylor und Van Dyke (2004) gekennzeichnet ist durch Streit” ” (contestation), Intentionalit¨at” und kollektive Identit¨at” und zudem nicht routinisiert” ” ” ” ist (Taylor und Van Dyke 2004: 268ff.). Dabei stellt Protest eine Ressource der Machtlo” sen” (Lipsky 1968; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 166f.) dar, w¨ahrend Akteure, die mit Macht ausgestattet sind, zu anderen Aktionsformen tendieren.

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Bei der Analyse der Ziele verschiedener antikonfessioneller Aktionen in Kapitel 7.3 wird unter R¨ uckgriff auf die von Kriesi u. a. (2003: 38) verwendete Terminologie angenommen, dass ein Zusammenhang zwischen den Mitteln” (means) und den Zielen” ” ” (ends) der Aktionen besteht. Welche Aktionsform jeweils gew¨ahlt wird, h¨angt auch davon ab, welches Ziel mit der Aktion erreicht werden soll (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 264; Della Porta und Diani 2006: 178). Unter Kombination mehrerer aus der Literatur entnommener Ans¨atze wird in der Arbeit zwischen verschiedene Arten von Zielen unterschieden: Aktionen k¨onnen auf politische Ergebnisse”, kulturelle Ergebnis” ” se” oder Mobilisierungsergebnisse” zielen (Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor ” und Van Dyke 2004: 278), sie k¨onnen strategieorientiert” oder identit¨ atsorientiert” ” ” sein (J. L. Cohen 1985; s. auch Taylor und Van Dyke 2004: 266f.) und sie k¨onnen auf eine bestimmte Normenordnung” oder auf Ver¨ offentlichung von Lebenswelten” zielen ” ” (Schulze 2012, 2013). Dabei kann die Auswahl der Aktionen verschiedenen Logiken folgen, etwa der Logik der Zahlen oder der Logik der Zerst¨ orung (Della Porta und Diani 2006: 171ff.). Insgesamt wird bez¨ uglich Fragen nach der Ausrichtung von Aktionen auf bestimmte Ziele jedoch auch dem Hinweis von Tilly gefolgt, der feststellt, dass tats¨achliche Ergebnisse und Effektivit¨ at von Bewegungen schwer messbar sind (vgl. Tilly 2008: 28; s. auch Gundelach 1989: 427). Weitere theoretische Konzepte werden in Abschnitten von beiden analytischen Kapitel (6 und 7) verwendet. So werden etwa ausgew¨ahlte Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen (Politische Gelegenheitsstrukturen, Rahmenanalyse, movement spillover, politische Generationen), die prim¨ar zur Analyse von Transformationen der Organisationsformen w¨ahrend der Protestwelle (Kapitel 6.3) angewandt werden, zugleich auch an anderen Stellen aufgegriffen. Die zentralen Konzepte dieser Ans¨atze sowie des ebenfalls an mehreren Stellen der beiden Analysekapitel angewandten Ansatzes der neuen sozialen Bewegun” gen” werden im Folgenden rekapituliert. Der Ansatz der politischen Gelegenheitsstrukturen (s. z.B. Koopmans 1998; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996) wird in Abschnitt 6.3.1 sowie in Abschnitt 7.1.2 angewandt. Er bietet Konzepte zur Analyse der Einfl¨ usse aus dem politischen Kontext auf eine soziale Bewegung. Aus der Perspektive der politischen Gelegenheitsstrukturen wird untersucht, inwieweit Merkmale des formal-politischen Systems das Vorhandensein und die Auspr¨agung von sozialen Bewegungen beeinflussen. Gelegenheitsstrukturen in diesem Sinn sind etwa gekennzeichnet durch den Grad der Geschlossenheit oder Offenheit der Institutionen und durch den Grad der Befriedung” der Konfliktlinien, welche im ” jeweiligen sozialen und politischen Gef¨ uge vorhanden sind (vgl. Kriesi u. a. 2003: 5ff., 26; s. auch Della Porta und Diani 2006: 202ff.). Weitere Parameter bestehen darin, inwieweit eine Bewegung Allianzen” zu bewegungsexternen Akteuren aufweisen ” kann, sowie in den staatlichen Strategien im Umgang mit Herausforderern”, die sich als ” eher exklusiv oder eher inklusiv darstellen k¨onnen (vgl. Kriesi u. a. 2003: 33ff., 53ff.). Da diese strukturellen Merkmale zwar relativ stabil, aber nicht unumst¨oßlich auf Dauer gestellt sind, wird zudem eine Unterscheidung von Koopmans (1998) aufgegriffen, der neben den statischen Strukturmerkmalen” auch die Ver¨anderungen dieser Strukturmerkma” le beachtet, die durch kontingente mobilisierungsf¨ ordernde Ereignisse” geschehen ” (Koopmans 1998: 223ff.). Zur Untersuchung der Transformation der Organisationsformen (in 6.3.2) sowie der antikonfessionellen Aktionen (in 7.1.1 und 7.1.2) und dabei insbesondere des Protest-

3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit ”

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ziels des S¨akularismus (in 7.3.1) wird auf Rahmenanalyse (s. Snow und Benford 1988, 1992; Snow, Rochford u. a. 1986; Snow, Soule und Kriesi 2004b) zur¨ uckgegriffen. Dabei wird unterschieden zwischen diagnostischer Rahmung” bez¨ uglich der Definition ” des Problems, prognostischer Rahmung” bez¨ uglich der angestrebten L¨osungen und ” motivationaler Rahmung”, die sich auf die Identit¨at der Aktivisten bezieht (Snow ” 2004; Snow und Benford 1988). Rahmen erf¨ ullen nach Snow verschiedene Funktionen: Sie k¨onnen die Themen einer Bewegung fokussieren”, artikulieren”, transformieren” (Snow ” ” ” 2004: 390f.) und u ucken” (Snow, Rochford u. a. 1986: 467ff.). Eine besondere Rolle ¨berbr¨ ” kommt dabei den Masterrahmen” zu, welche besonders inklusiv, aber auch besonders ” umstritten sind (vgl. Snow, Soule und Kriesi 2004b: 390f. Snow und Benford 1992: 150). In Abschnitt 6.3.3 wird mit dem Konzept des movement spillover (Meyer und Whittier 1994; Whittier 1997, 2004) ein weiterer Ansatz aus den Theorien sozialer Bewegungen angewandt. Dieser strukturiert die Analyse von spillover -Effekten” (Meyer und Whit” tier 1994), die aus Interaktionen zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen resultieren. ¨ Der Fokus liegt dabei auf der Untersuchung mehrerer Ubertragungsmechanismen” ” (Meyer und Whittier 1994: 290ff.). Diese Mechanismen bestehen auf der Ebene der Koalitionsbildung zwischen verschiedenen Organisationen oder anderen Bewegungsakteuren ( organisatorische Koalitionen”, Meyer und Whittier 1994: 290), der Ebene der Teilneh” mer und Organisatoren, die zuweilen in mehreren Bewegungen parallel aktiv sind ( com” munity” und geteiltes Personal”, Meyer und Whittier 1994: 291f. Whittier 2004: 541f.) ” und der Ebene der indirekten Kontakte etwa u ¨ber die Rezeption von ¨offentlichen Berichten u ¨ber die andere Bewegung ( kulturelle Repr¨asentation und Medienberichte”, Whittier ” 2004: 547). Das Konzept der politischen Generationen” (Whittier 1997) wird ebenfalls zur ” Analyse von Transformationen der Organisationsformen w¨ahrend der Protestwelle (Abschnitt 6.3.4) und zudem in der Diskussion der Kontroversen um Aktionsformen (Abschnitt 7.1.3) verwendet. Es basiert auf den Thesen von Karl Mannheim, wonach die Zugeh¨origkeit zu einer Generation” nicht durch gleiches Alter bestimmt sei, sondern ” durch den Generationenzusammenhang”, der prim¨ar in geteilten Erfahrungen” bestehe ” ” (Mannheim 1929). Die Verwendung des Konzepts als ein Analyseinstrument dieser Arbeit steht in Bezug zur Feststellung von Murphy (2012a: 2), dass die Jugend der arabischen Welt sich ein Generationsnarrativ” konstruiere, welches durch das Gef¨ uhl der Margina” ” lisierung” gekennzeichnet sei. Auch das Modell der neuen sozialen Bewegungen” (s. z.B. J. L. Cohen 1985; Offe ” 1985; Rucht 1994) ist als ein Ansatz zu nennen, auf den in mehreren Abschnitten der Arbeit zur¨ uckgegriffen wird. Die in diesem Ansatz entwickelten Dichotomien zwischen verschiedenen Arten sozialer Bewegungen informieren insbesondere die Analyse der Informalisierung der Organisationsformen (6.2.2) und der Gegen¨ uberstellung verschiedenartiger Repertoires (7.1.2). Den neuen sozialen Bewegungen wird auf der organisatorischen Ebene zugeschrieben, horizontal und vertikal dedifferenziert” zu sein (Offe 1985: ” 829f.). Auf der thematischen Ebene wird ihnen zugeschrieben, den Fokus von konkreten Zielen hin zu Themen wie Identit¨at und Autonomie zu verschieben (vgl. J. L. Cohen 1985; Melucci 1980; Offe 1985). Zur Entstehung von neuen sozialen Bewegungen” wird ange” nommen, dass diese sich als Reaktion auf Frustration u ¨ber etablierte politische Akteure und Aktionsformen bilden (vgl. Offe 1985: 855) und sich in der Regel dezidiert sowohl unabh¨angig von etablierten Konfliktlinien (vgl. Offe 1985) als auch unabh¨angig von Klassenzugeh¨origkeiten (vgl. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994) verorten.

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

Komplement¨ar zu den erl¨auterten Ans¨atzen aus Theorien sozialer Bewegungen wird in mehreren Abschnitten der analytischen Kapitel auch auf Theorien zu Konzepten des Politischen zur¨ uckgegriffen. So wird sowohl bez¨ uglich der Organisations- als auch bez¨ uglich der Aktionsformen (v.a. Abschnitte 6.2.1, 6.2.2, 7.3.2) das Konzept der Entstruktu” rierung” und Restrukturierung” von U. Beck (1986, 2008) angewandt. Dies be” zeichnet die Aufl¨osung kollektiver Strukturen, aus deren Fragmenten sich in der Folge neue kollektive Strukturen bilden, wobei die restrukturierten Strukturen durch geringere Verbindlichkeit gekennzeichnet sind (vgl. Hitzler 1997: 49ff. s. auch U. Beck und Sopp 1997a; Hitzler und Honer 1994). In Verbindung damit wird eine Entfremdung von formalpolitischen Institutionen diagnostiziert, die als Krise eines bestimmte[n] Verst¨andnis von ” Politik” (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 8) beschrieben wird. Die daraus resultierende Restrukturierung politischer Akteure und Aktionen wird als entgrenzte Politik” ” bezeichnet (U. Beck 1986: 300ff. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 9). Auf diesen Begriff wird in der Arbeit insbesondere zur Untersuchung der mit verschiedenen Aktionsformen verkn¨ upften Ziele zur¨ uckgegriffen (7.3.1, 7.3.2, s. auch 6.2.2). Schließlich werden komplement¨ar zu Theorien sozialer Bewegungen auch Ans¨atze aus Theorien der politischen Differenz” angewandt (so bezeichnet z.B. bei Bedorf und ” R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; Marchart 2010). Die dabei konstruierte Differenz besteht zwischen den Polen der Politik” und des Politischen”. Die Politik” ” ” ” meint die etablierten Kan¨ale der formal-politischen Institutionen, w¨ahrend das Politi” sche” informelle, unterbrechende und radikalere Praktiken und Forderungen außerhalb dieser Institutionen bezeichnet (vgl. Bedorf 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a,b). Diese Konzepte werden unter anderem zur Analyse von Transformationen der Organisationsformen in Abschnitt 6.2.2 angewandt. Zudem wird in der Untersuchung der verschiedenen Protestziele (v.a. Abschnitt 7.3.2) auf weitere Konzepte aus Theorien der politischen Differenz zur¨ uckgegriffen, die bestimmte Aspekte des Politischen” vertiefen. Als Akteure ” des Politischen” treten demnach Gruppen von Personen auf, die von den etablierten ” Institutionen missachtet werden und daher von Ranci`ere (2008: 27ff.) als Anteillose” ” bezeichnet werden (vgl. auch Krasmann 2010: 82f.). Deren politische” Praktiken dienen ” daher nicht dem konstruktiven Dialog mit den Institutionen, sondern ihrer Sichtbarkeit” ˇ zek 2009b: 65) und letztlich ihrer Subjektivierung” (Ranci`ere 2002:” 47; vgl. auch (Ziˇ ” ˇ zek, s. Heil 2010: 67ff.), also dem auch Ziˇ Versuch, einen Status als politische Subjekte zu erreichen. 3.3.2 Synthese: Kombination der analytischen Konzepte Die vorgestellten einzelnen theoretischen Konzepte zur Untersuchung sozialer Bewegungen und politischer Praktiken sind jeweils analytisch fokussiert. Dennoch ist festzustellen, dass bei einigen Aspekten des untersuchten Falls die einzelnen Konzepte, wenn sie isoliert verwendet werden, der Komplexit¨at der empirischen Realit¨at nicht gerecht werden. Daher werden in dieser Arbeit ausgew¨ahlte Ans¨atze miteinander kombiniert, um somit komplexere Analyseinstrumente anwenden zu k¨onnen. Diese Vorgehensweise wird im Folgenden anhand von vier Beispielen dargelegt und begr¨ undet. Dabei werden zun¨achst zwei Kombinationen von Ans¨atzen erl¨autert, die jeweils alle dem Gebiet der Theorien sozialer Bewegungen zuzuordnen sind, und im Anschluss zwei Kombinationen von Ans¨atzen, die sowohl Theorien sozialer Bewegungen als auch Theorien zu Konzepten des Politischen entnommen sind.

3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit ”

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Wenn beispielsweise der Verlauf der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 ausschließlich unter R¨ uckgriff auf das Modell der Protestwelle erkl¨art werden soll, so ist diese Erkl¨arung nicht in befriedigendem Maße umfassend. Die Zunahme von Akteuren und Aktionen, die Konflikte und Spaltungen zwischen den Akteuren und das Auslaufen der Proteste sind anhand des Phasenmodells der Protestwelle (s. Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; Tarrow 1989, 1991, 1998) insofern erkl¨arbar, als dass dieses den Blick daf¨ ur sch¨arft, dass Prozesse der Expansion, Transformation und Kontraktion in einer Protestwelle normale und zu erwartende bewegungsinterne Prozesse darstellen. In der erhobenen Empirie zur antikonfessionellen Protestwelle wird allerdings zugleich deutlich, dass bewegungsexterne Prozesse wie der Arabische Fr¨ uhling”, die libanesische Regierungskrise und die in ” der ersten Jahresh¨alfte 2011 beginnenden Konflikte in Syrien und Libyen den Verlauf der Protestwelle ebenfalls beeinflussten. Um sowohl die zu erwartenden Phasen der Protestwelle als auch die intervenierenden Variablen der politischen Gelegenheitsstrukturen (s. Koopmans 1998; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996) zu ber¨ ucksichtigen, werden in dieser Arbeit beide Ans¨atze verwendet. Das zweite Beispiel betrifft ebenfalls die beiden Ans¨atze der Protestwelle und der politischen Gelegenheitsstrukturen. Diese werden in der Arbeit auch angewandt, um die Diskussion der Transformationen der Organisationsformen antikonfessioneller Akteure zwischen 2010 und 2012 zu untersuchen (Kapitel 6.3), wobei hierzu zudem weitere Ans¨atze hinzugezogen wurden. Somit wird einerseits ber¨ ucksichtigt, dass Organisationsformen – insbesondere bez¨ uglich Prozessen der Koalitionsbildung – sich im Verlauf der verschiedenen Phasen der Protestwelle unterscheiden, und dass andererseits die Wahl einer Organisationsform zuweilen auch als Positionierung der Aktivisten gegen¨ uber den formalpolitischen Institutionen und somit als Ergebnis der politischen Gelegenheitsstrukturen verstanden werden kann. Zus¨atzlich sind im Fall der antikonfessionellen Protestwelle weitere Einfl¨ usse auf die Wahl und Transformation von Organisationsformen identifizierbar, die mit den Instrumenten der Protestwellen” und politischen Gelegenheitsstrukturen” ” ” nicht abgebildet werden k¨onnen. Um diese Einfl¨ usse dennoch in die Analyse miteinzubeziehen, wird daher zus¨atzlich auf Konzepte von Rahmenanalyse (s. Snow und Benford 1988, 1992; Snow, Rochford u. a. 1986; Snow, Soule und Kriesi 2004b), movement spillover (s. Meyer und Whittier 1994; Whittier 1997, 2004) und politischen Generationen (s. Mannheim 1929; Murphy 2012a; Whittier 1997) zur¨ uckgegriffen. Aus dieser kombinierten theoretischen Perspektive wird sichtbar, dass ein u ¨bergeordneter Masterrahmen” ” die breite Koalitionsbildung erm¨oglichte, dass die Orientierung libanesischer Aktivisten an den Organisationsstrukturen ¨agyptischer Akteure einen spillover -Effekt des Arabi” schen Fr¨ uhlings” darstellten, und dass die neu mobilisierte Generation junger Aktivisten Vorstellungen von angemessenen Organisationsweisen mitbrachte, die sich von den Er¨ fahrungen und Uberzeugungen der a¨lteren Aktivisten-Generation unterschieden. Anhand dieser Aufz¨ahlung wird deutlich, dass jeder der genannten Ans¨atze bei isolierter Anwendung einen Teilaspekt der Transformationen der Organisationsformen erkl¨aren kann, der Komplexit¨at des empirisch vorhandenen Gesamtbilds wird aber die sorgf¨altige Kombination der genannten unterschiedlichen Ans¨atze besser gerecht. Neben den genannten Anwendung von verschiedenen, komplement¨aren Ans¨atzen aus Theorien sozialer Bewegungen werden auch Ans¨atze kombiniert, die zun¨achst weiter voneinander entfernt scheinen, namentlich Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen und

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3 Theoretische Bez¨ uge: Soziale Bewegungen und politische Differenz

verschiedene Konzepte des Politischen. So sei hier sich als drittes Beispiel die Analyse der verschiedenartigen Organisations- und Aktionsformen bzw. der darum gef¨ uhrten Kontroversen genannt. Dabei werden zun¨achst Dichotomien zwischen diesen verschiedenartigen Organisations- und Aktionsformen konstruiert (Kapitel 6.2.2, 7.1, 7.3). Diese Dichotomien orientieren sich einerseits an der Gegen¨ uberstellung von alten“ und neuen“ Formen des ” ” Aktivismus, wie sie im Ansatz der neuen sozialen Bewegungen“ vorgenommen wird (s. ” J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994). Die neuen sozialen Bewegungen” stellen etwa ” Konzepte zur strukturierten Diskussion von Merkmalen der Organisationsform und der thematischen Ausrichtung verschiedener Akteure bereit. Dieser Ansatz wird in der Arbeit erg¨anzt durch eine weitere dichotome Konstruktion, welche auf die Position der jeweiligen Akteure im formal-politischen System fokussiert: Theorien der politischen Differenz“ ” ˇ zek 2009b) (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; Ranci`ere 2002; Ziˇ bieten analytische Instrumente, welche die verschiedenartigen Organisations- und Aktionsformen dadurch erkl¨aren, ob sie in den vorgesehenen Kan¨alen der formal-politischen Institutionen agieren oder ob sie ebendiese Institutionen radikal herausfordern und in Frage stellen. Beide Ans¨atze strukturieren die Untersuchung der Organisations- und Protestformen durch eine Dichotomisierung25 . Sie weisen dabei deutlich Parallelen auf, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte: Die Analyseebenen, auf denen sowohl die zentralen Kriterien f¨ ur die Einordnung in die Dichotomie als auch die erkl¨arenden Variablen angesiedelt sind, sind verschieden. In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, die dichotomen Konstruktionen der neuen sozialen Bewegungen“ und der politischen Differenz“ ” ” komplement¨ar zu verwenden. Ein viertes Beispiel f¨ ur den Ertrag der Kombination verschiedener theoretischer Ans¨atze besteht in der Analyse der verschiedenen Einfl¨ usse auf die Auswahl der Aktionsformen. Unter R¨ uckgriff auf Ans¨atze der Protestwellen” (s. Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; ” Tarrow 1989, 1991, 1998) und des Repertoires” (s. Tilly 1979, 2005, 2007, 2008) wird ” angenommen, dass die Bandbreite m¨oglicher Aktionsformen einer sozialen Bewegung aus strukturellen Gr¨ unden von vornherein beschr¨ankt ist (vgl. Tarrow 2011: 112; Kriesi u. a. 2003: 124; Taylor und Van Dyke 2004). Innerhalb dieser gesetzten Rahmen sind f¨ ur die Auswahl einer Aktionsform insbesondere die mit dieser Aktionsform verfolgten Ziele relevant (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 277; Della Porta und Diani 2006: 178). Um diese sehr diversen Ziele und den jeweiligen Einfluss dieser Ziele auf die Aktionsform umfassend zu untersuchen (Kapitel 7.3), wird in dieser Arbeit auf ein Reihe weiterer theoretischer Konzepte zur¨ uckgegriffen. Dies sind erneut die Theorien der neuen sozialen Bewegun” gen” (s. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994) und der politischen Differenz” (s. ” ˇ zek 2009b) soBedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; Ranci`ere 2002; Ziˇ wie die Konzepte der Ergebnisse” einer sozialen Bewegung (s. Staggenborg 1995; Taylor ” und Van Dyke 2004: 278) und der entgrenzten Politik” (U. Beck 1986: 300ff. U. Beck, ” Hajer und Kesselring 1999: 9). Diese Kombination erm¨oglicht die Ber¨ ucksichtigung vielschichtiger und auf unterschiedlichen Analyseebenen angesiedelter Faktoren, welche auf die Auswahl von Aktionsformen wirken: So werden durch die Anwendung einer Typologie verschiedener Ergebnisse” von Protestaktionen die unterschiedlichen Ergebnisebenen ” sichtbar, auf die verschiedene Akteure mit ihren Aktionen zielen. Ob diese angestrebten 25

Zudem weisen die Denkfiguren der beiden Ans¨ atze insofern deutliche Parallelen auf, als sie jeweils den Zustand des formal-politischen Systems als erkl¨ arende Variable f¨ ur das Vorkommen bestimmter Formen von politischer Artikulation annehmen (vgl. U. Beck 1986: 300ff. Bedorf 2010: 19; Celikates 2010b,a).

3.3 Der Theorie-Baukasten” dieser Arbeit ”

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Ergebnisse innerhalb der im formal-politischen System vorgesehenen Spielr¨aume liegen oder ob sie ebendiese Spielr¨aume in Frage stellen, kann anhand von Theorien der ent” grenzten Politik” und der politischen Differenz” analysiert werden. Die Theorien der ” politischen Differenz” und der neuen sozialen Bewegungen” strukturieren zudem die ” ” Gegen¨ uberstellung verschiedener Klassen von Aktionsformen.

4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten In diesem Kapitel werden die Methoden erl¨autert, mit welchen die Forschungsfragen be¨ arbeitet wurden. Dabei werden insbesondere einige grundlegende Uberlegungen zu Methodologie sowie die Vorgehensweisen bei Erhebung, Aufbereitung und Auswertung der Empirie diskutiert. Das Kapitel widmet sich zun¨achst den große Fragen” der Methodo” logie, die zu Beginn eines jeden sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts entschieden werden m¨ ussen (vgl. Della Porta und Keating 2008b: 2). Danach folgen Erl¨auterungen zur Fallauswahl, zur Verwendung theoretischer Konzepte, zur empirischen Basis, Erhebungsmethode und Auswertungsmethode. 4.1 Methodologische Vor¨ uberlegungen Die zentralen Fragen” (Della Porta und Keating 2008b) an die einer Forschungsarbeit zu” grunde liegende Methodologie bestehen zum einen in Entscheidungen u ¨ber Epistemologie und Forschungsziele. Zum anderen wird das Forschungsdesign durch eine u ¨bergreifende, wissenschaftsphilosophische zentrale Frage” gesteuert, welche von Della Porta und Kea” ting (2008a) als grundlegende Entscheidung zwischen einem variablenlogischen Forschungsdesign oder einem falllogischen Forschungsdesign dargestellt wird (vgl. Della Porta und Keating 2008b: 2ff.). In dieser Gegen¨ uberstellung von Variablenlogik und Falllogik betonen Della Porta und Keating (2008b), dass variablenbasierte Forschung ausgew¨ahlte Variablen mehrerer F¨alle vergleicht, w¨ahrend fallbasierte Forschung m¨oglichst viele Aspekte eines einzigen Falls betrachtet (vgl. Della Porta und Keating 2008b: 3f. s. auch Blatter, Janning und Wagemann 2007: 124). Auch Blatter, Janning und Wagemann (2007) betonen, dass die unterschiedlichen Denkweisen von Fall- und Variablenlogik einen h¨aufigen Grund f¨ ur Missverst¨andnisse darstellten: There is a persistent division in the social sciences between those who prefer to break their material up into variables and those who prefer dealing with whole cases. In our experience, there are few causes of greater confusion among graduate social scientists, many of whom insist on speaking in the language of variables while working with whole cases, or occasionally vice versa. (Blatter, Janning und Wagemann 2007: 3) Zwischen diesen beiden Polen orientiert sich die vorliegende Arbeit u ¨ber die antikonfessionelle Protestwelle im Libanon 2010-2012 st¨arker in Richtung der Falllogik. Auch wenn an einigen Stellen der Arbeit mit Variablen operiert wird, so bleibt das prim¨are Interesse dennoch auf die strukturierte, fokussierte und kontextsensible Analyse des Falls ausgerichtet. ¨ In dieser Verortung der vorliegenden Arbeit spiegeln sich die methodologischen Uberlegungen, welche von einigen der Autoren, auf deren theoretische Arbeiten sich diese Arbeit st¨ utzt, formuliert wurden. So erkl¨aren etwa die Bewegungsforscher McAdam, Tarrow und Tilly (2001), dass sie bei der Untersuchung der Fallbeispiele nicht an generell anwendba” ren Gesetzen” interessiert sind, sondern an robusten Prozessen”. Es gehe ihnen nicht um ”

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_4

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4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten

berechenbare und vorhersagbare Entwicklungen, sondern um die Identifikation und Untersuchung wiederkehrender Prozesse in ihrer G¨anze (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 313f.). Diese sind, anders als naturwissenschaftliche Gesetzm¨aßigkeiten, von unz¨ahligen Kontextfaktoren sowie vom freien Willen der Akteure abh¨angig und werden daher nicht als deterministisch betrachtet, sondern als kontingent (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 311; s. auch Blatter, Janning und Wagemann 2007: 124; U. Beck 2008: 303).

Das prim¨are Forschungsinteresse liegt nicht in der Suche nach Kausalit¨aten, sondern nach Prinzipien, wie die einzelnen Teile konsistent zusammenpassen (vgl. Della Porta 2008: 205), und analysiert den Kontext und die Komplexit¨at von Ergebnissen” der un” tersuchten Prozesse (Della Porta und Keating 2008b: 4). Das dabei zu generierende Wissen besteht also nicht prim¨ar in (generalisierbarem) Wissen u ¨ber Beziehungen zwischen einzelnen Variablen, sondern im dichten Wissen” u ¨ber den Fall (Della Porta 2008: 207; ” vgl. auch Vennesson 2008: 229). Dieses empirische dichte Wissen” bleibt nicht auf der ” Ebene der Deskription stehen, sondern wird durch theoretisch informierte Kategoriensysteme oder Typologien eingeordnet (vgl. Blatter, Janning und Wagemann 2007: 127). Die Vorgehensweise soll dabei zum einen strukturiert” sein, n¨amlich geleitet von Fragen ” und Vor¨ uberlegungen, und zum anderen fokussiert”, n¨amlich auf bestimmte ausgew¨ahlte ” Aspekte des Falls (Blatter, Janning und Wagemann 2007: 140f.). In der vorliegenden Arbeit wurde die Fokussierung v.a. in den oben entfalteten Leitfragen (s. Kapitel 1.1) erl¨autert, w¨ahrend die Basis der theoretischen Strukturierung v.a. im Theoriekapitel (Kapitel 3) gelegt wurde. Ziel ist also weniger ein theoretischer Beitrag u ¨ber verallgemeinerbare Kausalmechanismen u ¨ber den Fall hinaus als vielmehr die strukturierte, fokussierte und detaillierte Erkl¨arung des Falls (vgl. Blatter, Janning und Wagemann 2007: 135).

In dieser Arbeit sollen also die leitenden Forschungsfragen nach der strategischen Auswahl von Organisationsformen und Aktionsformen und nach der politischen Wirkung dieser Organisations- und Aktionsformen in erster Linie f¨ ur den untersuchten Fall der libanesischen antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 beantwortet werden, wobei es dennoch durchaus w¨ unschenswert ist, die Ergebnisse f¨ ur weitere Forschung zu vergleichbaren F¨allen zu nutzen, insbesondere mit Blick auf weitere aktuelle Protestbewegungen in der Region – aber dieses Ziel ist nachgeordnet. Die Parallelit¨aten zwischen der hier untersuchten libanesischen Protestbewegung und Protesten des Arabischen Fr¨ uhlings” ” sowie anderer zeitgleicher Bewegungen wie Occupy Wall Street” in den USA oder den ” Indignados” in Spanien (s. Sonay 2015: 30, 205) haben die Fallauswahl, das Casing” ” ” (z.B. Vennesson 2008: 226, 229), zwar einerseits geleitet, denn Parallelit¨aten zwischen den Organisations- und Proteststrategien dieser Bewegungen waren offensichtlich vorhanden, wie auch oben in den Kapiteln zu Forschungsstand und Theorien (2.2, 2.3, 3.1) deutlich wurde. Andererseits weist der libanesische Fall einige Besonderheiten auf, welche bei Vergleichen beachtet werden m¨ ussen und die Empirie des Einzelfalls pr¨agen. Diese Besonderheiten liegen gr¨oßtenteils auf der Ebene der Politischen Gelegenheitsstrukturen (s. Abschnitt 3.1.1), also außerhalb der Bewegung selbst. Zu nennen sind etwa die geringe Gr¨oße des Landes und somit auch der Protestbewegung, das konfessionalistisch gepr¨agte konkordanzdemokratische politische System und die extreme politische Polarisierung. Versuche, die Ergebnisse dieser Arbeit zu generalisieren, m¨ ussten somit vorsichtig geschehen und den Kontext sorgf¨altig mit einbeziehen.

4.2 Operationalisierung

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4.2 Operationalisierung Die Analyse wird durch die Verwendung theoretischer Konzepte strukturiert, die oben in 3 erl¨autert wurden. Wie dort dargelegt wurde, bilden diese Konzepte kein in sich geschlossenes Modell ab, sondern sie stellen Begriffe bereit, um beobachtete Ph¨anomene zu benennen und zu strukturieren. Sie dienen als Baukasten” f¨ ur die Analyse der erhobenen ” Daten zum untersuchten Fall der antikonfessionellen Protestbewegung. Die in der Analyse verwendeten theoretischen Konzepte entstammen zwei verschiedenen Theoriefeldern: Die theoretische Basis wird durch Theorien sozialer Bewegungen gelegt und durch Theorien zu Konzepten des Politischen erg¨anzt. Die f¨ ur diese Arbeit relevanten Schnittstellen zwischen den beiden Theoriefeldern bestehen darin, dass in mehreren der vorgestellten Ans¨atze verschiedene Formen von politischem Handeln (d.h. insbesondere von Organisations- und ¨ Aktionsformen) dichotom gegen¨ ubergestellt werden. Ahnliches zeigt sich insofern auch auf der empirischen Ebene, als derartige Dichotomien auch in Debatten unter den Aktivisten der hier untersuchten Protestbewegung verwendet werden. Zur Operationalisierung sozialer Bewegungen haben etwa Tilly (1978) und Kriesi (1989) vorgeschlagen, drei untersuchbare Ebenen der Bewegung zu unterscheiden, n¨amlich Akteure, Aktionen und Themen (ausf¨ uhrlicheres hierzu in Kapitel 2.2.1). In der vorliegenden Arbeit werden die beiden ersten Ebenen betrachtet, also Akteure und Aktionen26 . So untersucht Kapitel 6 die Organisationsweise der Protestwelle, Akteure, Organisationsformen und Koalitionsbildung. In Kapitel 7 werden die von den Aktivisten durchgef¨ uhrten Aktionen untersucht und die Repertoires analysiert, die in der Protestwelle zur Anwendung kamen. 4.3 Fallauswahl und Untersuchungszeitraum Die Falleingrenzung und die Festlegung des Untersuchungszeitraums ergeben sich aus ¨ thematischen und konzeptionellen Uberlegungen. Der untersuchte Fall, die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012, stellt eine Episode” im Sinne der Bewegungs-Theoretiker ” McAdam, Tarrow und Tilly (2001) und Tilly (2008) dar. Episoden sind ein analytisches Konzept, nach dem Protestereignisse” (Tarrow 1998: 55ff.) zusammengefasst werden. ” Als Ereignisse” werden dabei neben Protestereignissen [...] auch andere Stellungnah” ” men und Forderungen [...] zu einem bestimmten Themenfeld” verstanden (Rucht 2001: 26

Die Ebene der Themen” bleibt weitgehend ausgeklammert. Dies ist zum einen im Umfang der ” Arbeit begr¨ undet. Ein weiterer Grund ist methodischer Art: Aussagen u ¨ber Akteure und Aktionen der Protestwelle stellen auch an der Oberfl¨ ache gut beobachtbare Informationen dar, die mit Experteninterviews rekonstruiert werden k¨ onnen (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008: 133f.). Die Ebene der Themen hingegen w¨ urde eine tiefere Analyse von Bedeutungen verlangen, wof¨ ur eine Diskursanalyse besser geeignet w¨ are. Daher wird die Ebene der Themen hier nur an den Stellen mit andiskutiert, an denen deutliche Verkn¨ upfungen der Themen mit den Konfigurationen der Akteure und Aktionen bestehen. Dies geschieht zum einen mit Bezug zu den Debatten um Slogans der Bewegung, wobei diese mit Hilfe der Rahmenanalyse (vgl. Abschnitt 3.1.2) auf Prozesse der Mobilisierung und Koalitionsbildung bezogen werden. Zum anderen wird die Ebene der Themen in 7.3 thematisiert, wenn Ziele der Bewegung identifiziert werden, um diese in Zusammenhang mit Aktionsformen zu stellen. Zwischen den beiden Ebenen der Akteure und Aktionen bestehen, wie in der theoretischen Literatur konstatiert wurde, enge Zusammenh¨ ange. Diese sind eher als Kontingenzen denn als Kausalit¨ aten einzuordnen (vgl. J. L. Cohen 1985; Kriesi 1989; Offe 1985, s. Abschnitte 2.2.1, 3.1.5 und 3.1.3).

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4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten

15). Die Abgrenzung der Episode obliegt demnach den Forschern und wird durch die Ziele der systematischen Beobachtung und Erkl¨arung geleitet (vgl. Tilly 2008: 10). Die Kriterien f¨ ur Anfang, Ende und Begrenzung der Episode m¨ ussen explizit definiert werden (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 309), etwa durch die Festlegung bestimmter einschneidender Ereignisse (vgl. Tilly 2008: 10). Als hier untersuchte Episode wird eine bestimmte Protestwelle festgelegt (zum Konzept der Protestwelle” s. Abschnitt 3.1.6, ” vgl. auch Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003). Die Protestwelle wird von anderen politischen Ereignissen durch ein thematisches Kriterium abgegrenzt, namentlich durch die Forderung nach dem Sturz des konfessionalistischen Systems”. Zeitlich begrenzt wird die ” Protestwelle durch das Kriterium des Auftretens antikonfessioneller Demonstrationen und M¨arsche: Die Veranstaltungen des Netzwerks La¨ıque Pride” im April 2010 und im April ” 2012 bilden den Anfangs- und Endpunkt einer Reihe von Demonstrationen und M¨arschen, die zwischen diesen Zeitpunkten stattfanden. Zu den Ereignissen der untersuchten Episode z¨ahlen des Weiteren nur Ereignisse, welche als Protest” zu bezeichnen sind. Protest” ” ” wird hier anhand der von Taylor und Van Dyke (2004) aufgestellten Kriterien Streit (contention), Intentionalit¨at und kollektive Identit¨at definiert. Somit werden per definitionem alle Ereignisse oder politische Handlungen aus dem Fall antikonfessionelle Protestwelle ” 2010-2012” ausgeschlossen, die nicht als Protest” einzuordnen sind27 , die andere Themen ” als den Konfessionalismus als Hauptthema hatten oder die vor April 2010 bzw. nach April 2012 stattfanden. Die Fallstudie ist also nicht historisch angelegt – das Forschungsinteresse gilt nicht in erster Linie der Geschichte des libanesischen Antikonfessionalismus – aber sie stellt auch keine bloße Momentaufnahme dar. Vielmehr werden die biographische oder diskursive Verortung der Aktivisten in Protesten und Protestwellen vor 2010 ber¨ ucksichtigt, und vor allem wird die Protestwelle nicht statisch untersucht, sondern in ihrem Verlauf28 . 4.4 Experteninterviews und weitere Quellen: Erhebung und Dokumentation Die Empirie u ¨ber die libanesische antikonfessionelle Protestbewegung, auf die sich die Arbeit gr¨oßtenteils st¨ utzt, wurde mit Experteninterviews erhoben. Die Vorbereitung und Durchf¨ uhrung der Experteninterviews, aber auch die Auswertung der Experteninterviews und weiterer Quellen mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse richten sich nach der von Gl¨aser und Laudel (2010) vorgeschlagenen Vorgehensweise. Experteninterviews zeichnen sich dadurch aus, dass die Interviewpartner Experten f¨ ur den Untersuchungsgegenstand sind, weil sie selbst als Akteure entscheidenden Positionen innehaben: 27 28

Nicht als antikonfessioneller Protest” subsumiert werden somit etwa u ¨berkonfessionelle Praktiken ” wie beispielsweise das Leben in gemischtkonfessionelle Ehen. Da aus diachroner Perspektive die Prozesse innerhalb der Protestwelle betrachtet werden, liegt ein Blick auf die verwandte Methode der Prozessanalyse nahe. Deren Anspruch ist es, mit dem ¨ Ziel der Uberwindung der statischen, synchronen Betrachtung einzelner Variablen, zeitliche Konvergenzen, konkreter Interaktionen oder Pfadabh¨ angigkeiten zwischen Variablen identifizieren (so Blatter, Janning und Wagemann 2007: 162). Sie soll somit zur Aufkl¨arung von sequentiellen und ” situativen Interaktionseffekten zwischen Einflussfaktoren” beitragen (Blatter, Janning und Wagemann 2007: 157). Dennoch wird der Ansatz der Prozessanalyse hier nicht weiter verfolgt, denn f¨ ur die selben Forschungsziele bietet sich auch der theoretische Rahmen der Protestwellen an: Auch die Protestwellen-Perspektive sch¨ arft den Blick f¨ ur diachrone und dynamische Abl¨aufe w¨ahrend der Protestwelle, also f¨ ur Zeitpunkte und Abfolgen des Geschehens.

4.4 Experteninterviews und weitere Quellen: Erhebung und Dokumentation

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Die Experten sind ein Medium, durch das der Sozialwissenschaftler Wissen u ¨ber einen ihn interessierenden Sachverhalt erlangen will. [...] Die Experten haben eine besondere, mitunter sogar exklusive Stellung im dem sozialen Kontext, den wir untersuchen wollen. (Gl¨aser und Laudel 2010: 12f.) Die Interviewpartner f¨ ur diese Arbeit waren selbst Aktivisten in der untersuchten Protestwelle. Sie hatten darin zentrale Positionen inne, weil sie etwa an Organisation und Entscheidungsfindung beteiligt waren. Wenn man die von Theoretikern sozialer Bewegungen verwendete Terminologie verwendet, wonach Organisatoren” und Teilnehmer” ” ” unterschieden werden (Kriesi u. a. 2003: 37), so wurden die Interviews gezielt mit Or” ganisatoren” gef¨ uhrt. Da in Experteninterviews das Wissen und die Meinung u ¨ber den Untersuchungsgegenstand erfragt werden, gilt diese Erhebungsmethode als besonders gut geeignet, wenn das Thema noch wenig erforscht ist und wenn eine differenzierte Rekon¨ struktion erw¨ unscht ist (vgl. Blatter, Janning und Wagemann 2007: 60). Uber die Bewegung liegt bisher in der Tat nur sehr wenig Forschung vor (s. Kapitel 2). Andere, verwandte, benachbarte oder ¨ahnliche Bewegungen sind empirisch deutlich besser erforscht, weshalb die verwendeten theoretischen Konzepte wiederum diesen anderen Kontexten entstammen. Da die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 detailliert und eingebettet in ihren Kontext betrachtet werden soll, sollte die Rekonstruktion der Abl¨aufe, Akteure und Ereignisse so differenziert und dicht wie m¨oglich sein. Die Interviewpartner wurden nach ihrem Betriebswissen”, Deutungswissen” und Kontextwissen” u ¨ber den antikon” ” ” fessionellen Aktivismus befragt (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2008: 133f.). Im Sinne des Experteninterviews war das Ziel hierbei die Generierung von Informationen u ¨ber Ereignisse, Strukturen, Abl¨aufe und Mechanismen des Aktivismus, insbesondere auch u ¨ber die Diversit¨at der Akteure, Themen und Ziele. Weitere hier gesammelte Informationen betrafen die Deutungen und Diskurse unterschiedlicher Akteure und die Hintergr¨ unde des Aktivismus, also seine historischen, politischen und sozialen Kontexte. Die Experteninterviews wurden im M¨arz 2011 sowie zwischen M¨arz und Juni 2012 im Libanon gef¨ uhrt. Sie wurden durch Leitf¨aden strukturiert, die Frageb¨ undel zu den Meinungen der Interviewten u ¨ber libanesischen S¨akularismus, u ¨ber ihren pers¨onlichen Aktivismus und ggf. u ¨ber ihre Organisationen enthielten. Die Fragen wurden nicht zwingend in der Reihenfolge des Leitfadens abgearbeitet, sondern der Leitfaden diente w¨ahrend der Interviews als Ged¨achtnisst¨ utze f¨ ur noch anzusprechende Themen. Durch aktives Zuh¨oren und gezielte Nachfragen wurde eine an informellen Gespr¨achen orientierte Situation geschaffen, die zum Erz¨ahlen anregte. Wie bereits erl¨autert, waren die Interviewpartner nicht einfache Teilnehmer an antikonfessionellen Protesten, sondern geh¨orten zu den Organisatoren und zentralen Figuren, hatten also eine besondere, mitunter sogar exklusive Stellung” (Gl¨aser und Laudel 2010: 12f., ” s. oben) in der Protestwelle inne. Ihre Auswahl erfolgte so weit als m¨oglich bewusst und kriteriengesteuert. Kelle und Kluge (2010: 41ff.) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch Fallkontrastierung” die Verzerrung von Ergebnissen durch eine einseitige ” Auswahl von Interviewpartnern verhindert werden kann. Sie formulieren als Leitfrage f¨ ur die Auswahl von Gespr¨achspartnern: Wie kann sichergestellt werden, dass f¨ ur die Unter” suchungsfragestellung und das Untersuchungsfeld relevante F¨alle in die Studie einbezogen werden?” (Kelle und Kluge 2010: 42) Um dies zu gew¨ahrleisten, wurden zum einen Personen befragt, die in den bereits gef¨ uhrten Interviews oder in der Medienberichterstattung als zentrale Figuren der Protestwelle genannt wurden. Zum anderen sollten die interviewten Aktivisten m¨oglichst unterschiedlich sein, was theoretisch relevante Merkmale angeht.

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4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten

Die Auswahl der Interviewpartner folgte daher der aus der Grounded Theory stammenden Methode der theoretischen Stichprobe”, bei welcher die Auswahl der Gespr¨achspartner ” auf komplement¨aren theoretischen Kategorien basiert (Kelle und Kluge 2010: 43; Blatter, Janning und Wagemann 2007: 32). Diese Kategorien waren haupts¨achlich auf der Ebene der Organisationsformen angesiedelt, so dass versucht wurde, Vertreter m¨oglichst unterschiedlicher Organisationsformen einzubeziehen. Zweitens sollten Vertreter verschiedener politische Generationen (zu diesem theoretischen Konzept s. Abschnitt 3.1.8) und drittens Organisatoren bzw. Protagonisten verschiedenartiger Aktionsformen vertreten sein. Ziel war also die Maximierung der Unterschiede” (Blatter, Janning und Wagemann 2007: 32) ” zwischen den interviewten Organisatoren. Alle interviewten Aktivisten hatten zentrale Rollen in der untersuchten Protestwelle inne, wobei aber auch ihre pers¨onliche Geschichte und ihr fr¨ uherer Aktivismus besprochen wurden, um historische Tiefe zu gew¨ahrleisten und die biographische und diskursive Verwurzelung in fr¨ uherem Aktivismus beachten zu k¨onnen. Die empirische Basis der Experteninterviews wurde durch weitere Quellen erg¨anzt. Hierzu wurden insbesondere Presseartikel herangezogen. Der verwendete Korpus an Medienartikeln besteht aus ca. 130 Artikeln, die im Zeitraum der Protestwelle in tagesaktuellen Medien online erschienen waren (NOW Lebanon, The Daily Star, as-Saf¯ır, al-Ahb¯ar, ¯ ab aus˘dem Naharnet, Blogs) und elf einschl¨agigen Themenausgaben der Zeitschrift al-Ad¯ Zeitraum 2006-2011. Ein ca. 50 Artikel umfassenden Pressespiegel u ur ¨ber die Kampagne f¨ ein ziviles Personenstandsrecht Ende der 1990er Jahre aus dem Archiv der Lebanese Association for Civil Rights wurde v.a. f¨ ur den historischen Teil in Kapitel 5 verwendet. Unter den aktuelleren Medienartikeln, welche sich direkt mit der Protestwelle befassen, wurde besonderes Augenmerk auf Artikel gerichtet, deren Verfasser als Intellektuelle und Aktivisten an der Protestwelle beteiligt waren und eigene Analysen zu deren Strategien und Verlauf ver¨offentlichten (s. Al Salim 06.12.2011; Abbas Beydoun 2012; Chit 2012; Idriss 2011b). Auch Publikationen beteiligter Parteien und NGOs wurden ber¨ ucksichtigt, ebenso wie diverse im sozialen Netzwerk Facebook angelegte Seiten, Veranstaltungen und Profile. Hinzu kommen Ergebnisse teilnehmender Beobachtung bei Demonstrationen, Platzbesetzungen, Veranstaltungen und Planungstreffen von Aktivisten aus den Zeitr¨aumen M¨arz 2011 und M¨arz bis Juni 2012 sowie die Audiodokumentation der Podiumsdiskussion O` u ” en sommes-nous de la chute du syst`eme confessionnel’ ?”, die im Oktober 2011 im Beiruter ’ Institut fran¸cais du Proche-Orient veranstaltet wurde (Institut fran¸cais du Proche-Orient o.D.). Die Experteninterviews wurden nach M¨oglichkeit als Audiodatei aufgenommen. Die Interviews wurden in dem Auswertungsprogramm MAXQDA w¨ortlich transkribiert, wobei irrelevante Passagen ausgespart wurden. Somit entstanden selektive Protokolle” (May” ring 2002: 97ff.). Die Kriterien f¨ ur die Entscheidungen, welche Passagen des gef¨ uhrten Interviews in der Transkription ausgespart bleiben, bestanden darin, nur f¨ ur den Untersuchungsgegenstand relevante Aussagen der Interviewpartner zu transkribieren. Daher wurden Unterhaltungen zu privaten Themen und anderen Themen außerhalb des Forschungsinteresses, einschließlich der Eingangs- und Schlussgespr¨ache, nicht transkribiert, ebenso Wiederholungen bereits get¨atigter Aussagen und Interviewfragen, sofern die Fragen nicht f¨ ur das Verst¨andnis der Antwort unabdingbar sind. Die ausgesparten Passagen wurden in den Transkripten markiert. F¨ ur einige Interviews oder Interviewpassagen

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stehen keine Audiodateien zur Verf¨ ugung, entweder weil die Interviewpartner um das Abschalten des Aufnahmeger¨ats baten, etwa wenn sie auf Kritik an anderen Bewegungsakteuren zu sprechen kamen, oder weil die Interviews spontan in einer Situation ohne verf¨ ugbares Aufnahmeger¨at stattfanden. In diesen F¨allen wurden die Transkripte in Form von Ged¨achtnisprotokollen erstellt. Einige Gespr¨ache mit Aktivisten fanden in informeller Form statt. Dies geschah in Situationen, in denen es spontan zu Gespr¨achen u ¨ber das Thema der Arbeit kam sowie in Situationen nach dem Ende des eigentlichen Interviews, wobei das Interviewende etwa durch das Abschalten des Aufnahmeger¨ats bzw. durch das Weglegen von Notizblock und Stift deutlich markiert waren. Auch diese informellen Gespr¨ache wurden in Ged¨achtnisprotokollen dokumentiert. Die Interviews und Ged¨achtnisprotokolle werden anonymisiert zitiert, um die Vertraulichkeit der Interviews zu wahren. In der Regel sind direkte und indirekte Zitate aus den ausgewerteten Interviews mit dem Vermerk (Experteninterview)” gekennzeichnet.An ” Stellen, an denen die Position des jeweils zitierten Interviewpartners im antikonfessionellen Aktivismus f¨ ur die Kontextualisierung des Interviewzitats relevant ist, wird diese erl¨autert. Dies geschieht etwa in Form von Erl¨auterungen wie so ein intellektueller Akti” vist im Interview” oder wie eine erfahrene Aktivistin berichtet”.(zu dieser Vorgehensweise ” im libanesischen Kontext vgl. Lang 2016: 8f.). W¨ahrend die Experteninterviews in der Regel mit jeweils einer einzelnen Person gef¨ uhrt wurden, nahmen in einigen Ausnahmen mehrere Personen an Gespr¨achen oder Interviews teil. Dies war etwa der Fall bei einer Interviewsituation in den R¨aumen einer Organisation, in denen eine zweite Aktivistin anwesend war, sich dazu setzte und sich am Gespr¨ach beteiligte. In einem anderen Fall brachte eine Interviewpartnerin eine Freundin mit zum Interview, die ebenfalls in der Protestwelle aktiv war. Diese Konstellationen erwiesen sich als sehr informativ, da die Interviewpartnerinnen nunmehr auch Diskussionen untereinander begannen, ihre Standpunkte verglichen und Unterschiede zwischen ihren Standpunkten und Aktivistenbiographien erl¨auterten. Bei der Zitation von Interviewausz¨ ugen mit meh¨ reren Gespr¨achspartnern werden die Außerungen der verschiedenen Interviewpartner mit E!” und E2” markiert. Interviewfragen werden nur in den F¨allen mit zitiert, in denen ” ” die Antworten ohne die Frage unverst¨andlich w¨aren. Die transkribierten Interviewfragen stehen in eckigen Klammern und sind durch [KS: ...] markiert. Die Transkription gibt den w¨ortlichen Inhalt der Interviews wieder, wobei Versprecher, Pausen, Z¨ogern usw. nicht mit transkribiert wurden. Diese Transkriptionsweise ist f¨ ur Experteninterviews angemessen, da es dabei nicht um latente Sinnstrukturen oder Emotionen geht, sondern um explizit besprochene Inhalte. Englischsprachige und franz¨osischsprachige Interviews werden im Original zitiert, arabische Interviewpassagen werden ins Deutsche u ¨bersetzt. Wenn Gespr¨achspartner in zitierten Interviewpassagen zwischen den Sprachen wechselten, so wird die Passage in der haupts¨achlich verwendeten Sprache zitiert, wobei die anderssprachigen W¨orter, Satzteile oder S¨atze in die haupts¨achlich verwendete ¨ Sprache u von Inter¨bersetzt werden. Alle teilweisen oder vollst¨andigen Ubersetzungen viewpassagen werden am jeweiligen Zitat kenntlich gemacht. Einige in dieser Arbeit und in den Interviews verwendete Termini zeichnen sich durch Mehrdeutigkeit und Ambivalenz aus. Teilweise handelt es sich um Begriffe, die sowohl deskriptiv als auch, teilweise in mehreren nuancierten Bedeutungen, eine vielf¨altige Se¨ mantik besitzen. Ubersetzungsfragen und Begriffsdiskussionen zu diesen Termini (z.B. S¨akularismus, Aktivist, Koalition) werden in der Arbeit jeweils an der Stelle erl¨autert, an

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4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten

der die betreffenden Konzepte diskutiert werden. Un¨ ubersetzbare Termini (z.B. maid¯an, delivery boy) wurden in den jeweiligen Originalsprachen beibehalten. 4.5 Auswertung des empirischen Materials Die Auswertung der Experteninterviews und weiterer Quellen orientierte sich an der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (QIA) von Gl¨aser und Laudel (2010). Diese stellt ¨ eine Weiterentwicklung der QIA von Mayring (2002, 2010) dar, deren Uberlegungen als einschl¨agig gelten (so Blatter, Janning und Wagemann 2007: 76). Die Methode von Gl¨aser und Laudel (2010) ist speziell auf die fallorientierte Auswertung von Experteninterviews ausgerichtet. Generell zeichnet sich die QIA dadurch aus, dass die zu analysierenden Texte, also in diesem Fall die Transkripte der Interviews, mit einem Kategoriensystem bearbeitet werden. Die Entwicklung der Kategorien geschieht theoriegeleitet und zugleich im stetigen Abgleich mit dem empirischen Material. Nach der modifizierten Methode von Gl¨aser und Laudel (2010) bleibt das Kategoriensystem im Prozess der Auswertung flexibel und kann angepasst werden. Die Zuordnung der Textstellen zu Kategorien wird dabei als Extrak” tion” bezeichnet (Gl¨aser und Laudel 2010: 199). Diese Wortwahl verdeutlicht, dass die Interpretation sich nicht in der Kategorisierung ersch¨opft, sondern dass durch die Zuordnung zu Kategorien das Material f¨ ur die Interpretation aufbereitet und strukturiert wird. Aus umfangreicherem Interviewmaterial, das nicht mit einem Blick u ¨berblickt werden kann, werden f¨ ur die Fragestellung relevante Interviewpassagen bzw. relevante Aussagen herausgefiltert (vgl. Blatter, Janning und Wagemann 2007: 75f.). Diese Extraktion erm¨oglicht ¨ eine strukturierte Ubersicht u ¨ber das Material und bereitet die fokussierte Analyse der relevanten Textstellen vor. Als Hilfsmittel f¨ ur die QIA wurde das Computerprogramm MAXQDA verwendet, das die Extraktion der kategorisierten Passagen erleichtert, indem gezielt alle Textstellen einer bestimmten Kategorie aufgerufen werden k¨onnen. Die qualitative Inhaltsanalyse wird als theoriegeleitetes” und regelgeleitetes” Verfah” ” ren bezeichnet (Gl¨aser und Laudel 2010: 202ff. vgl. auch Mayring 2010: 57ff.). Theorie hat in dem Verfahren insofern einen hohen methodischen Stellenwert, als bei der Strukturierung des Materials die theoretischen Konzepte mit der Empirie der Interviewtranskripte interagieren. Die Regelgeleitetheit der Auswertungsmethode besteht darin, dass das Material systematisch mit den Kategorien bearbeitet wird und dabei alle Textteile gleich behandelt werden: F¨ ur jeden Satz wird entschieden, ob er f¨ ur die Forschungsfrage relevant ist und welcher Kategorie er gegebenenfalls zugeordnet werden kann. Gl¨aser und Laudel (2010: 204) betonen die sich daraus ergebende Neutralit¨at” der Auswertung: Relevan” ” te, aber nicht ins Bild passende’ Informationen auszuschließen ist jeweils ein bewusster ’ Verstoß gegen die Regeln des Verfahrens und damit sehr unwahrscheinlich.” So soll die Explizitheit des Kategoriensystems zur Nachvollziehbarkeit der Analyse beitragen. Die QIA nach Gl¨aser und Laudel (2010: 202ff.) findet in f¨ unf Schritten statt: Dies sind 1. theoretische Vor¨ uberlegungen” (Gl¨aser und Laudel 2010: 200ff.) sowie die dar” auf folgenden vier Hauptschritte” (Gl¨aser und Laudel 2010: 202): 2. die Vorbereitung ” ” der Extraktion”, 3. die Extraktion” selbst, 4. die Aufbereitung” und 5. die eigentliche ” ” Auswertung” (Gl¨aser und Laudel 2010: 203). Dabei nimmt der Grad der Formalisierung ” mit jedem Schritt ab: Insbesondere die sp¨ateren Schritte sind nur in geringem Maß formalisierbar, da sie stark von der Fragestellung und dem empirischen Material der Studie abh¨angen (vgl. Gl¨aser und Laudel 2010: 231, 246) und sich die kreativen Elemente der ” [sic] nicht in Regeln fassen lassen” (Gl¨aser und Laudel 2010: 247).

4.5 Auswertung des empirischen Materials

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Die Analyse der Experteninterviews f¨ ur diese Arbeit wurde durch die Prinzipien der von Gl¨aser und Laudel (2010) beschriebenen Methode geleitet, allerdings wurden nicht alle Schritte der Methode vollst¨andig u ¨bernommen. Die theoretischen Vor¨ uberlegungen (1.) gelten dem Kategoriensystem, anhand dessen die relevanten Informationen aus den Ursprungstexten entnommen werden (vgl. Gl¨aser und Laudel 2010: 200). Die Kategorien ergeben sich aus den theoretischen Konzepten und strukturieren das Interviewmaterial (vgl. Gl¨aser und Laudel 2010: 201). Das Kategoriensystem bildet das Suchraster f¨ ur die Identifizierung relevanter Interviewpassagen. Wie bei Gl¨aser und Laudel (2010: 201) beschrieben, bestehen die Kategorien nicht in ordinalskalierten Variablen, sondern in freien Beschreibungen. Die u ¨bergeordneten Kategorien ¨ des Systems sind Organisationsformen”, Protestereignisse”, Themen”, Ubergreifende ” ” ” ” Br¨ uche der Protestwelle 2010-2012”, Politischer Kontext” und Aktivistenbiographien”. ” ” In den erstgenannten u ¨bergeordneten Kategorien spiegeln sich die oben erl¨auterten drei Ebenen der Untersuchung sozialer Bewegungen (Akteure, Aktionen und Themen; s. Tilly 1978; Kriesi 1989). Die Kategorie Organisationsformen” enth¨alt Unterkategorien zu einzelnen Organisati” onstypen (z.B. Parteien”, NGOs”) sowie, als wiederum eine Stufe weiter untergeordnete ” ” Kategorie, zu einzelnen Bewegungsakteuren (z.B. sind die Kategorien LCP” und SSNP” ” ” der Unterkategorie Parteien” untergeordnet). So sind auch Aussagen etwa zu einer be” stimmten NGO strukturiert und vollst¨andig auffindbar. Zudem werden hier Aussagen zur Organisationsweise von Bewegungsakteuren” extrahiert, die sowohl konkret auf einzelne ” Akteure bezogen als auch allgemein oder normativ sein k¨onnen. Eine weitere untergeordnete Kategorie extrahiert Aussagen zur Koalitionsbildung zwischen Bewegungsak” teuren”, also zur internen Strukturierung der Bewegung. Die Kategorien Organisations” formen” und Protestereignisse” stellen zusammengenommen sicher, dass alle Interview” passagen gefunden werden, in denen Aussagen u ¨ber Organisations- und Aktionsformen enthalten sind. Zudem werden in diesen beiden Kategorien Aussagen zu den Transformationen der Organisations- und Aktionsformen gefunden. Gr¨ unde und Ausl¨oser dieser ¨ Transformationen werden vor allem durch die Kategorie Ubergreifende Br¨ uche” mit ihren ” untergeordneten Kategorien Neuheit” und Generationen” extrahiert, aber auch durch ” ” die Kategorien Politischer Kontext” und Aktivistenbiographien” unterst¨ utzt. Die wei” ” tere Frage nach der politischen Wirkung von Aktionsformen wird durch die Kategorie Themen” extrahiert. Diese umfasst die von Aktivisten genannten Erkl¨arten Ziele” des ” ” Aktivismus sowie die untergeordnete Kategorie Einordnung der Themen” zu Meinun” gen der Aktivisten u ¨ber die verfolgten Ziele, namentlich u ¨ber ihre Ideologieorientierung” ” und Konkretheit”. Weitere den Themen” untergeordnete Kategorien extrahieren Aus” ” sagen zu den Slogans” der Bewegung, die hier als Rahmung” analysiert werden (vgl. ” ” Abschnitt 3.1.2), und zur Begriffsdiskussion” um den Terminus S¨akularismus” bzw. ” ” verwandte Termini (vgl. Kapitel 5.1.1). Um auch bewegungsexterne Einfl¨ usse zu erfassen, werden in der Kategorie Politischer Kontext” Interviewpassagen extrahiert, die Aussagen ” zu Politischen Gelegenheitsstrukturen” (vgl. Abschnitt 3.1.1) und zu movement spill” ” over ” (vgl. Abschnitt 3.1.7) beinhalten. Zudem werden dort Aussagen zur Geschichte” ” des libanesischen Antikonfessionalismus vor der Protestwelle extrahiert, um die Wirksamkeit historischer Bez¨ uge auf die Protestwelle 2010-2012 zu erfassen. Die Kategorien sind aus den verwendeten theoretischen Konzepten abgeleitet. Zur Erl¨auterung der Konzepte im Einzelnen und ihrer Verortung in den Theorien sei an

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4 Methodik: Experteninterviews mit Aktivisten

dieser Stelle auf Kapitel 3 verwiesen. Zun¨achst sollen nur die Verbindungen aufgezeigt werden, die zwischen den theoretischen Konzepten und den Kategorien der Auswertungsmethode bestehen. Einige der verwendeten theoretischen Ans¨atze, die in eigenen Abschnitten des Theoriekapitels erl¨autert werden, korrespondieren direkt mit Kategorien (Politische Gelegenheitsstrukturen, Rahmenanalyse, Bewegungsorganisationen, Protestformen und Repertoires, movement spillover, Politische Generationen). Weitere theoretische Ans¨atze beziehen sich auf mehrere Kategorien. Dies betrifft Ans¨atze, die sich nicht auf einzelne Komponenten von Protestbewegungen beziehen, sondern auf u ¨bergreifende Transformationsprozesse in Bewegungen, wobei diese Transformationen auf allen Bewegungsebenen stattfinden k¨onnen. So beziehen sich etwa die Ans¨atze, die im Abschnitt Neue Soziale Bewegungen” und im Kapitel Konzepte des Politischen” diskutiert wer” ” den, auf die Kategorien Organisationsformen” (insbesondere Organisationsweise von ” ” Bewegungsakteuren”), Protestereignisse”, Themen” (insbesondere auf die erkl¨arten Zie” ” le der St¨orung/Unterbrechung” und der Sichtbarkeit/Subjektivierung von Anteillosen” ” ” ¨ und auf die Einordnung von Themen”) und auf Ubergreifende Br¨ uche der Protestwelle ” ” 2010-2012”. Auf die theoretischen Vor¨ uberlegungen folgt in der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gl¨aser und Laudel (2010) als n¨achster Schritt (2.) die Vorbereitung der Extraktion. Dabei geht es um die Fixierung des Materials” sowie um die Festlegung der Analyseeinheit” ” ” (Gl¨aser und Laudel 2010: 209ff.). Mit der Fixierung des Materials” wird explizit entschieden, welche Texte ber¨ ucksichtigt ” werden, also aus welchen Texten Ausschnitte zur Analyse extrahiert werden. In dieser Arbeit wurden die Transkripte und Ged¨achtnisprotokolle der Interviews mit allen 35 befragten Aktivisten sowie 56 inhaltlich zentrale Artikel aus Zeitungen, Blogs und Internetportalen ber¨ ucksichtigt. Diese genannten Texte wurden somit mit dem Analyseprogramm MAXQDA verkn¨ upft. Mit der Festlegung der Analyseeinheit” ist in der qua” litativen Inhaltsanalyse die Bestimmung der zu kategorisierenden Teile gemeint (Gl¨aser und Laudel 2010: 209f. vgl. auch Blatter, Janning und Wagemann 2007: 76f.). In der vorliegenden Arbeit ist der kleinste extrahierbare Textteil ein Satz, als gr¨oßter Teil ist ein vollst¨andiges Interviewtranskript denkbar. Diese Festlegung gew¨ahrleistet, dass die Fundstellen f¨ ur sich interpretierbar sind, ohne dass zwingend Bez¨ uge im Interview nachgelesen werden m¨ ussten. Da sie aber mit der Extraktion nicht aus dem Text ausgeschnitten werden, sondern dort verbleiben, kann immer auch der Kontext nachgeschlagen und in die Interpretation mit einbezogen werden. Als n¨achster Schritt (3.) der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gl¨aser und Laudel (2010) folgt die Extraktion selbst (vgl. Gl¨aser und Laudel 2010: 212ff.). Alle Interviews wurden systematisch durchgearbeitet und f¨ ur jeden Satz wurde entschieden, ob er f¨ ur die Analyse relevant ist. Die relevanten Textpassagen wurden Kategorien zugeordnet, wobei sich die Fundstellen der Kategorien durchaus u ¨berlappen k¨onnen, n¨amlich wenn ein Satz bzw. eine markierte Passage f¨ ur mehrere Kategorien von Bedeutung ist. Diese F¨alle, bei denen eine einzige Textpassage in mehrere Kategorien extrahiert wird, sind bei der Analyse besonders interessant, da sie auf Zusammenh¨ange zwischen den Kategorien hindeuten. Die Anzahl der Fundstellen variiert zwischen den Kategorien. So wurden u ¨ber 400 Textpassagen zur Kategorie Erkl¨arte Zielen” extrahiert, wobei sich beispielsweise u ¨ber 100 ” extrahierte Fundstellen in die Unterkategorie S¨akularismus” einordnen, 73 in die Unter”

4.5 Auswertung des empirischen Materials

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kategorie Ziviles Personenstandsrecht” und vier in die Unterkategorie St¨orung/Unter” ” brechung”. Die H¨aufigkeit deutet nicht auf die Bedeutsamkeit f¨ ur die Analyse hin, wohl aber auf die Bedeutsamkeit eines Themas in der Innenperspektive, also in den Diskursen und Argumenten der Aktivisten. Die Aufbereitung (4.) bestand in dieser Arbeit im gezielten Aufrufen von Fundstellen. Diese wurden u ¨ber MAXQDA geordnet abgerufen, so dass jeweils eine Liste aller Textpassagen zu einer bestimmten Kategorie aus ausgew¨ahlten Texten angezeigt wurden. Durch diese Vorgehensweise wurden die im Material verstreuten Informationen zu den gesuchten Kategorien u ¨bersichtlich nebeneinandergestellt, so dass sie zusammengefasst und verglichen werden k¨onnen (vgl. Gl¨aser und Laudel 2010: 230). Dabei werden [v]erschiedenartige Informationen [...] beibehalten”, es werden also auch abweichende ” Aussagen innerhalb der Kategorie ber¨ ucksichtigt (Gl¨aser und Laudel 2010: 230), die dann zur weiteren Interpretation etwa den Interviewpartnern zugeordnet und im Kontext des ganzen Interviews betrachtet werden k¨onnen. Schließlich besteht der Schritt der Auswertung (5.) darin, die strukturiert extrahierten Fundstellen aus den Interviews und Medienartikeln im Hinblick auf die Forschungsfragen zu interpretieren. Dabei werden, geleitet von den Forschungsfragen, auf den beiden Bewegungsebenen der Organisationsformen und der Aktionsformen die extrahierten Fundstellen auf einzelne Aspekte hin untersucht, die daraus hervorgehenden Aussagen diskutiert und mit Ausz¨ ugen aus den Interviews belegt.

¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon Bevor die Protestwelle 2010-2012 mit ihren Organisationsformen, Aktionsformen und Politikkonzepten in Kapitel 6 und Kapitel 7 ausf¨ uhrlich analysiert wird, soll in diesem Kapi¨ tel ein Uberblick u ¨ber den libanesischen antikonfessionellen Aktivismus seit Beginn seiner Existenz, also seit dem 19. Jahrhundert, gegeben werden. Zun¨achst wird in 5.1 der Begriff antikonfessionell” in Bezug zu verwandten Begriffen ” gesetzt und es wird gezeigt, wie umstritten diese Konzepte sind. Dabei werden sowohl die komplexe Semantik der Begriffe selbst als auch ihre Assoziation mit bestimmten politischen Akteuren und Projekten diskutiert und es wird begr¨ undet, warum in dieser Arbeit vor allem der Begriff Antikonfessionalismus” prominent verwendet wird. ” Im Anschluss an diese Begriffsdiskussion wendet sich das Kapitel der Praxis zu und ¨ thematisiert den antikonfessionellen Aktivismus selbst. Dieser historische Uberblick soll eine Grundlage bereiten, um in den nachfolgenden Kapiteln die von Aktivisten der Protestwelle vorgenommenen Selbstverortungen und R¨ uckbez¨ uge auf fr¨ uheren Aktivismus historisch einzuordnen. Der R¨ uckblick (5.2) ist gegliedert in historische Phasen, beginnend mit antikonfessionellen Aktivit¨aten zur Zeit der nahd.a und bis zur Staatsgr¨ undung, gefolgt von im linken politischen Spektrum verortetem Aktivismus der Ersten Republik, dem Anti-Kriegs-Aktivismus der B¨ urgerkriegsjahre und der Verschiebung des Aktivismus in die zivilgesellschaftliche Arena in der Zweiten Republik. Der letzte Abschnitt des Kapitels schließlich behandelt F¨alle von Antikonfessionalismus in staatlichen politischen Entscheidungen, indem er die Kontexte und Inhalte der wenigen in der Geschichte des Libanon dagewesenen antikonfessionellen Gesetzesreformen darlegt. 5.1 L¯ a-t.¯ a if¯ıya, c alm¯ an¯ıya, madan¯ıya: Das Ringen um Begriffe und Konzepte c

Das Adjektiv, mit dem die hier untersuchte Bewegung in dieser Arbeit bezeichnet wird, lautet antikonfessionell”. Dass dieser Begriff eine semantische Verk¨ urzung darstellt, ist ” ¨ nicht nur den Ubersetzungproblemen vom Arabischen ins Deutsche geschuldet, sondern auch den konkurrierenden Begriffen, die unter den libanesischen Aktivisten verwendet werden. ¨ Ubersetzungsprobleme zu den Begriffen Konfessionalismus wie auch Antikonfessionalismus stellen sich in jeder deutschsprachigen (bzw. nicht arabischsprachigen) Besch¨aftigung mit dem Libanon (s. 2.1). Thomas Scheffler (1999b) weist in seiner Erl¨auterung des englischen Begriffs confessionalism im libanesischen Kontext darauf hin, dass das arabische undel von Bedeutungen” umfasst, die einfach Teile eines Gan.t¯a ifa ”ein eher profanes B¨ ” zen” bezeichnen. Die politische Verwendung der Begriffe Konfession” und Konfessiona” ” lismus” stammen aus dem Kontext der dogmatischen Spaltung zwischen Protestanten und ¨ Katholiken in Europa und beziehen sich auf explizite und ¨offentliche Außerungen u ¨ber religi¨ose Doktrinen und Glauben der bezeichneten Personen (vgl. Scheffler 1999b: 171). Im Gegensatz dazu sagt der arabische Begriff .t¯a ifa (Plural: .taw¯ a if ) noch nichts dar¨ uber, c

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_5

¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

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nach welchen Merkmalen sich diese Gruppen voneinander unterscheiden. Es k¨onnen durch religi¨ose oder konfessionelle Mitgliedschaften definierte Gruppen sein, aber auch politische, ¨ familiale oder regionale Gruppen. Dies spiegelt sich in den deutschen Ubersetzungen der Begriffe, die im Standard-W¨orterbuch von Hans Wehr angegeben werden: Teil; Anzahl; ” Schar; Gruppe; Schwarm; Volk; Klasse; Sekte; Konfession; religi¨ose Minderheit; Partei” (Wehr 1985: 792). In jedem Fall ist aber in der Semantik von .t¯a ifa ein Moment der Spaltung enthalten, es geht um Gruppen, die voneinander abgespalten oder getrennt sind. Um den Begriff .t¯a if¯ıya – also die Ideologie oder das Strukturierungsprinzip, welches an den .taw¯a if ausgerichtet ist – ins Deutsche zu u unden prinzipiell auch ¨bersetzen, st¨ der nicht auf Konfessionen beschr¨ankte Begriff Kommunalismus” oder der Verweis auf ” ethnisch-konfessionelle Gruppen” zur Verf¨ ugung. Kommunalismus” w¨ urde Suggestio” ” nen u a if¯ıya ¨ber die Relevanz konfessioneller Zugeh¨origkeit im Kontext der libanesischen .t¯ vermeiden, w¨ahrend ethnisch-konfessionelle Gruppe” darauf hindeutet, dass die poli” tische Rolle der libanesischen konfessionellen Gruppen denen von Ethnien ¨ahnelt. Der Begriff Konfessionalismus” aber ist im Deutschen etabliert – vermutlich durch den Ein” fluss franz¨osischsprachiger Literatur – und wird daher auch in der vorliegenden Arbeit verwendet. c

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Auch unter den Aktivisten der antikonfessionellen Bewegung und unter libanesischen Intellektuellen, die sich zum Thema a¨ußern, kursieren mehrere konkurrierende Begriffe, mit denen jeweils ein anderer Schwerpunkt in der Analyse der Problematik verbunden ist. Manche Aktivisten bezeichnen ihre Einstellung als l¯a-t.¯a if¯ı (nichtkonfessionell/nichtkonfessionalistisch), manche als madan¯ı (zivil), manche als c alm¯ an¯ı (s¨akular/laizistisch, vgl. Wehr 1985: 871), manche auf englisch als secular (s¨akular) oder auf franz¨osisch als la¨ıque (laizistisch); ihre Forderungen benennen sie also entweder als l¯ a-t.¯ a if¯ıya, als madan¯ıya, als c alm¯an¯ıya bzw. secularism oder als la¨ıcisme. Unter den Aktivisten der Protestwelle 2010-2012 war umstritten, ob man sich als s¨akular (c alm¯an¯ı) oder als antikonfessionell (l¯a-t.¯a if¯ı) bezeichnen soll, auch wenn die Begriffe von einigen Aktivisten alternierend verwendet wurden. Einige der f¨ ur diese Arbeit interviewten Aktivisten betonten, dass S¨akularismus mehr” beinhalte als Antikonfessionalismus, ” und dass S¨akularismus ein positives Konzept sei, w¨ahrend Antikonfessionalismus nur eine Negation enthalte, ohne eine Alternative zu formulieren. Wenn interviewte Aktivisten sich f¨ ur die Verwendung des Begriffs Antikonfessionalismus aussprachen, betonten sie, dass dieser weniger Angriffsfl¨ache biete als der Begriff S¨akularismus, politisch korrekter” ” sei und dass es u ¨ber S¨akularismus im Libanon viele Missverst¨andnisse gebe. Ein weiterer interviewter Aktivist beschrieb den Sachverhalt mit der Formulierung: This word, ” secularism’, freaks people out [...].” ’ Neben S¨akularismus und Antikonfessionalismus wurde w¨ahrend der Protestwelle, wenn auch seltener, der Begriff madan¯ıya (Zivilit¨at) verwendet. Ein interviewter Aktivist f¨ uhrte dies auf die Inspiration durch die ¨agyptische Protestbewegung zur¨ uck, in der eher von Zivilit¨at” als von S¨akularismus” gesprochen wurde. Im Verst¨andnis einiger interviewter ” ” Aktivisten sagt allerdings die Forderung nach Zivilit¨at noch nichts u ¨ber die Position religi¨oser Autorit¨aten im Staat: Die Forderung nach Zivilit¨at schließe zwar einen religi¨osen Staat aus, aber nicht die Einmischung religi¨oser Gruppen - positiv formuliert, erkenne Zivilit¨at” konfessionelle Gemeinschaften ebenso an wie andere Einheiten. ” Des Weiteren ist, besonders wenn franz¨osisch gesprochen wird, auch von la¨ıcisme (Laizismus) die Rede, wie beispielsweise im Namen der Graswurzelorganisation La¨ıque Pri” c

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5.1 L¯ a-t.¯ a if¯ıya, c alm¯ an¯ıya, madan¯ıya: Das Ringen um Begriffe und Konzepte

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de”. In deren Aufrufen zu Veranstaltungen wurde der Titel La¨ıque Pride” in einigen ” F¨allen durch die arabisch- bzw. englischsprachigen Untertitel Mas¯ırat al-c Alm¯an¯ıya” oder ” ¨ Secular March for Citizenship” erg¨anzt. Hier wird la¨ıcisme als franz¨osische Ubersetzung ” c von alm¯an¯ıya bzw. secularism verwendet. Diese Begriffsverwendung ist unter den Aktivisten verbreitet, wie in f¨ ur diese Arbeit durchgef¨ uhrten Experteninterviews best¨atigt wurde: I don’t see the difference between secularism and la¨ıcit´e. On a personal level, I use them as ” the English word and the French word.” W¨ahrend allerdings sowohl Laizismus” als auch ” S¨akularismus” ins Arabische als c alm¯an¯ıya u ¨bersetzt werden, gibt es zwischen den beiden ” deutschen Begriffen durchaus wichtige Unterschiede. W¨ahrend S¨akularismus” ein viel” schichtiger Begriff ist, der unter anderem den R¨ uckgang pers¨onlicher Religiosit¨at bezeichnen kann (vgl. Casanova 1994, s.5.1.1), ist der Begriff Laizismus” im Deutschen mit der ” administrativen Trennung von Kirche und Staat in Frankreich verbunden. Die Aktivisten der Protestwelle treffen solche Unterschiede zwischen den beiden Konzepten aber nur selten. Eine erfahrene Aktivistin betonte im Interview, dass sie den Begriff des S¨akularismus bevorzuge, weil Laizismus die Opposition gegen Geistliche beinhalte. Ein weiterer Intellektueller unterstrich zudem, dass insbesondere bei Debatten um S¨akularismus w¨ahrend der Mandatszeit ber¨ ucksichtigt werden musste, dass Laizisimus durch seine franz¨osische Konnotation mit der ehemaligen Mandatsmacht des Libanon assoziiert werde. Eine Differenzierung nach dem grundlegenden Gehalt von Laizismus im Vergleich zu S¨akularismus wird in der Bewegung nur in Ausnahmef¨allen von Intellektuellen vorgenommen, etwa von Joseph Massoud, der in einem Konferenzvortrag erl¨auterte, dass Laizismus religi¨ose und staatliche Autorit¨aten trennt, w¨ahren S¨akularismus sich in einem allgemeineren Sinn gegen Religion richte29 . Die Verwendung der Begriffe Antikonfessionalismus (l¯a-t.¯a if¯ıya), Zivilit¨at (madan¯ıya) S¨akularismus (c alm¯an¯ıya) oder Laizismus im Sprachgebrauch von Aktivisten der antikonfessionellen Bewegung ist demnach uneinheitlich und folgt in der Regel keinen definitorischen Feinheiten, sondern die Begriffe werden h¨aufig synonym verwendet. Somit muss die Semantik der Begriffe aus der Innenperspektive, also in der Begriffsverwendung durch Aktivisten, von der Semantik derselben Begriffe aus der Außenperspektive wissenschaftlicher Publikationen unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist notwendig, um die ¨ Außerungen von Aktivisten einordnen zu k¨onnen. Unterschiedliche Aspekte – sowohl aus analytischer als auch als alltagssprachlicher Sichtweise – von S¨akularismus und Antikonfessionalismus im Libanon sind Thema des folgenden Abschnitts. c

5.1.1 Aspekte von S¨akularismus“ und Antikonfessionalismus“ ” ” S¨akularismus und Antikonfessionalismus, die beiden in der antikonfessionellen Protestwelle h¨aufig synonym verwendeten zentralen Begriffe, sind vieldeutig. Die Begriffsverwendungen in all diesen Debatten, Analysen und Perspektiven schl¨agt sich in den Sichtweisen der s¨akularen und antikonfessionellen Aktivisten nieder. Sie spiegelt sich in den großen Unterschieden, die zwischen den verschiedenen Bewegungsakteuren bez¨ uglich ihrer Meinungen zu S¨akularismus und verwandten Konzepten bestehen. Im Nahen und Mittleren Osten wird S¨akularismus aktuell zumeist als Gegensatz zu 29

Die Konferenz Christian Thought and Secularism” fand an der Balamand-Universit¨at statt und ” wurde von der Aktivistengruppe c Al¯ a Matn al-c Alm¯ an¯ıya/On Board Secularism” organisiert ” (Baaklini 04.07.2011).

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

Islamismus konzipiert (vgl. Sing 2013: 9, 20ff.). Diese Dichotomie liegt beispielsweise der ¨ Charakterisierung eines bestimmten Spektrums oppositioneller Gruppen in Agypten als s¨akular” zugrunde. Im Libanon hingegen ist das dem S¨akularismus entgegengesetzte ” Konzept nicht in erster Linie der Islamismus, sondern der Konfessionalismus. Wenn im Libanon Kritik am Konfessionalismus” ge¨außert wird, ist dabei nicht un” bedingt Konfessionalismus im engeren Sinne gemeint, sondern h¨aufig auch Korruption, Patronage und die verh¨artete politische Spaltung zwischen den politischen Lagern.30 So verwendete ein Aktivist im Experteninterview den Begriff s¨akular” quasi als Synonym zu ” anti-systemisch”, wenn er von der gr¨oßten s¨akularen, oder Anti-System-Demonstration” ” ” sprach. Auch die Forderung nach S¨akularismus” zielt h¨aufig auf kein positives Projekt, ” sondern verfolgte prim¨ar das negative Ziel der Ablehnung des bestehenden Systems. Die Forderung nach S¨akularismus fokussiert also in vielen F¨allen weniger auf konkrete Projekte der S¨akularisierung oder auf Ideen f¨ ur eine s¨akulare Umgestaltung von Institutionen. Vielmehr geht es um einen utopischen Gegenentwurf zum bestehenden System: Wie Mikdashi (25.03.2011) u ¨berzeugend argumentiert, verwenden die Aktivisten den unspezifischen Slogan S¨akularismus”, um die Utopie eines besseren Staats zu fordern.31 ” Die Vieldeutigkeit der Forderung nach S¨akularismus” im Libanon reflektiert die ebenso ” vieldeutigen Aspekte, unter denen der Konfessionalismus gedeutet wird. Wer ohne n¨ahere Erl¨auterung Forderungen nach S¨akularisierung” oder Entkonfessionalisierung” erhebt, ” ” hat damit noch nicht benannt, auf welchen konkreten Teilaspekt des Konfessionalismus die Forderung zielt. Drei Ebenen des libanesischen Konfessionalismus sind unterscheidbar: Erstens der politische Konfessionalismus, also die Quotenregelungen der formal-politischen Institutionen, zweitens die Autonomie der Gemeinschaften etwa im Bildungswesen und im Personenstandsrecht, drittens die konfessionelle Mentalit¨at. Wenn beispielsweise eine Zunahme des Konfessionalismus im B¨ urgerkrieg festgestellt wird, wie etwa bei Hanf (1990), Peleikis (2001) und Shanahan (2005), so ist damit die dritte Ebene gemeint. Die beiden erstgenannten Ebenen sind Elemente des politischen Systems des Libanon, das als Konkordanzdemokratie” eingestuft wird (z.B. Lijphart 1977, 2008), also als ein ” politisches System, welches die Konsensfindung zwischen verschiedenen politischen Segmenten betont. Da diese politischen Segmente im Fall des Libanon die konfessionellen Gemeinschaften sind, werden im Fall des Libanon die Begriffe Konkordanzdemokratie” ” und Konfessionalismus” zuweilen in einem Atemzug genannt. So konstruiert etwa Assi ” (2016) das konkordanzdemokratische System” ( consociational model”) als Gegensatz ” ” einer ent-konfessionalisierten und voll ausgebildeten Demokratie” (Assi 2016: 4; zitiert ” nach Scheffler 2017: 1). Dieses Beispiel illustriert die Verflechtungen zwischen verschiedenen Deutungen des libanesischen Systems und verschiedenen Ebenen der Kritik an 30

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Auch wenn die Kritik am Konfessionalismus die Libanonforschung dominiert (vgl. Longuenesse 2008: 257, s. Kapitel 2.1) wird mittlerweile auch die Frage nach der Plausibilit¨at dieser Konfessionalismuskritik durchaus diskutiert, so hat etwa Thomas Scheffler (2017) die Thesen von Assi (2016) u ordernde Wirkung des konfessionalistischen Kon¨ber die antidemokratische und gewaltf¨ kordanzsystems eindr¨ ucklich widerlegt (f¨ ur weitere Kritik an der Konfessionalismuskritik s. z.B. Haugbolle 21.03.2012; Mikdashi 2014a, 29.03.2011). Da aber diese Arbeit nicht das F¨ ur und Wider des Konfessionalismus behandelt, sondern den antikonfessionellen Aktivismus, soll diese Diskussion hier nicht vertieft werden. Dieses Argument findet sich auch bei Michaelle Browers (2006: 123): Secularism, or the separation ” of the religious and the political, appears here (or, we might say, does not appear here) to be a displacement of the real issue, which is, for all of the liberal thinkers discussed here, democracy.”

5.1 L¯ a-t.¯ a if¯ıya, c alm¯ an¯ıya, madan¯ıya: Das Ringen um Begriffe und Konzepte

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ebendiesem System: Konfessionalismus” wird zum einen assoziiert mit der Konkordanz” demokratie und zum anderen als Gegensatz von Demokratie” gedacht. ” Wie Max Weiss (2009) in seiner historiographischen Forschung zeigt, kursieren zudem vier unterscheidbare Denkschulen des Konfessionalismus”, also Deutungen u ¨ber das We” sen des libanesischen Konfessionalismus als Ganzes (s. 2.1): Er gilt der ersten Deutung als organisch”, der zweiten Deutung als erfundene Tradition, die von externen M¨achten ” ” aufgezwungen wurde”, die dritte Deutung betont seine negative Wirkung [...] auf die ” libanesischen Gesellschaft” und die vierte Deutung untersucht aus konstruktivistischer Perspektive seine kulturelle, soziale und institutionelle Untermauerung” durch die In” stitutionalisierung des Konfessionalismus in der Moderne (Weiss 2009: 142f.). Je nach Lesart des Konfessionalismus richtet sich antikonfessionelle Kritik also gegen unterschiedliche Facetten: Im Sinne der zweiten Deutung etwa gegen die Hegemonie externer M¨achte, denen ein Interesse an konfessioneller Spaltung unterstellt wird, oder im Sinne der vierten ¨ Deutung auf die Uberwindung der konfessionellen Institutionen, die als unauthentisch, k¨ unstlich und nicht mehr zeitgem¨aß gesehen werden. Die Kritik am Konfessionalismus stuft diesen h¨aufig als antimodern ein. Dieser Strang der antikonfessionalistischen Kritik folgt dabei, wie Mikdashi (2014b) treffend darlegt, h¨aufig einer Argumentation, welche insbesondere des konfessionalistische Personenstandsrecht als ein Hindernis auf dem Weg ” zu echter’, moderner’ Staatsb¨ urgerschaft” und als etwas, das auf dem Weg zur Moderne ’ ’ ” u ¨berwunden werden muss” sieht (Mikdashi 2014b: 283). Einige Intellektuelle unter den antikonfessionellen libanesischen Aktivisten haben den Begriff S¨akularisierung” ausdifferenziert und diesbez¨ ugliche Forderungen konkretisiert. ” Eine umfassende Definition entwickelte der ehemalige Bischof Gr´egoire Haddad in seiner Monographie al-c Alm¯an¯ıya aˇs-ˇs¯amila” ( Die umfassende S¨akularit¨at”, vgl. Haddad ” ” 2005: 45ff.), die auch unter j¨ ungeren Aktivisten verbreitet ist. Demnach beruhe die weit verbreitet Ablehnung von S¨akularisierung im Libanon auf Missverst¨andnissen: So werde S¨akularisierung etwa nicht verstanden”, nicht abgegrenzt” oder als Ablehnung von ” ” ” Gott” missverstanden (vgl. Haddad 2005: 12ff.). Haddad (2005) begriff S¨akularit¨at” als ” ein umfassendes Konzept, das aber nicht gegen Religiosit¨at gerichtet sei. Wenn er umfas” sende S¨akularit¨at” fordert, differenziert er zwischen sieben Bereichen, die zu s¨akularisieren 32 seien: Politik , Gesellschaft, Beruf, Gesetze, pers¨onliche Ebene, Institutionen und Werte (vgl. Haddad 2005: 49ff.). Zudem nennt er eine Reihe von direkten und indirekten Mit” teln” der S¨akularisierung, also Reformvorschl¨age (Haddad 2005: 69ff. s. auch 5.2). Der arabische Begriff c alm¯an¯ıya kann als S¨akularismus, S¨akularisierung, S¨akularit¨at oder Laizismus u ¨bersetzt werden (s. 5.1). Dass das Arabische diese Aspekte von c alm¯an¯ıya sprachlich nicht trennt, mag ein Grund daf¨ ur sein, dass auch in Diskussionen mit Bezug auf den Libanon oder allgemein auf den Nahen und Mittleren Osten kaum zwischen den genannten Aspekten differenziert wird. Stattdessen wird einfach von S¨akularismus” ge” sprochen, zumindest im alltagssprachlichen Bereich (vgl. Haugbolle 21.03.2012). In diesem Zusammenhang geht die Semantik sogar so weit, dass der Bezug auf S¨akularismus” zur ” Markierung einer bestimmten sozialen Identit¨at” dient (Haugbolle 21.03.2012). ” Haddad (2005: 49) u an¯ıya as¨bertitelte den entsprechenden Abschnitt w¨ortlich mit al-c Alm¯ ” siy¯ as¯ıya awi-l-l¯ a-t.¯ a if¯ıya as-siy¯ as¯ıya”, dt. Politische S¨ akularit¨at oder politischer Antikonfessiona” lismus”. Er stellt somit die konkurrierenden Begriffe S¨ akularismus” und Antikonfessionalismus” ” ” als gleichberechtigte Synonyme nebeneinander. c

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

In Abgrenzung von diesen alltagssprachlichen Verwendungen betonte Gr´egoire Haddad, der Autor von al-c Alm¯an¯ıya aˇs-ˇsa¯mila” ( Die umfassende S¨akularit¨at”, vgl. Had” ” dad 2005: 45ff.), im Interview die Notwendigkeit, zwischen S¨akularismus und S¨akularit¨at zu unterscheiden: Le s´ecularisme, c’est une doctrine. [...] La s´ecularit´e, c’est le concept ” pur”. Haugbolle (21.03.2012) f¨ uhrt eine weitere Differenzierung aus: Demnach kann das ” S¨akulare” (oder die S¨akularit¨at) als politisches oder ethisches Ideal und S¨akularismus” ” als staatliche Doktrin verstanden werden – der dritte Aspekt ist der historische Prozess der S¨akularisierung” . ” S¨akularisierungsprozesse m¨ ussen im Plural genannt werden, denn es handelt sich um ein B¨ undel mehrerer Vorg¨ange, wie Jos´e Casanova (1994) in seinem Werk u ¨ber die Rolle von Religion in modernen Gesellschaften darlegt. Dies sind erstens R¨ uckgang von Religio” sit¨at”, zweitens Differenzierung” der religi¨osen von der s¨akularen Sph¨are, also auch die ” Depolitisierung der religi¨osen Institutionen, und drittens die Privatisierung von Religi” on”, also ein Prozess, in dem der Glaube zunehmend subjektiv und somit auch individuell verortet wird (Casanova 1994: 7, 35f.). Teil dieser Prozesse ist ein Wandel von strukturel” ler Religiosit¨at” zu individueller Religiosit¨at” (Casanova 1994: 15), also eine Entkopplung ” individueller Einstellungen und Lebenslagen von kollektiven Strukturen. Der zweite und der dritte Prozess beinhalten zudem eine Verschiebung von o¨ffentlicher Religion” hin ins ” Private, so dass Religion im ¨offentlichen Leben und vor allem im Bereich der staatlichen Institutionen unsichtbar” wird (Casanova 1994: 35f.). Diese Prozesse m¨ ussen nicht not” wendigerweise miteinander verkn¨ upft sein oder parallel verlaufen (vgl. Casanova 1994: 7). Diese Thesen u ¨ber Prozesse der S¨akularisierung entwickelte Casanova explizit mit Blick auf Europa. Da sich aber die Bedeutung von S¨akularit¨at je nach nationalem, regionalem, religi¨osem und historischem Kontext unterscheidet (vgl. Haugbolle 21.03.2012), soll die Europa-Zentriertheit des Konzepts im folgenden Abschnitt eingehender diskutiert werden. 5.1.2 S¨akularisierung“ als Inbegriff des Westens ” S¨akularisierung” ist ein im europ¨aischen Kontext entstandener Begriff, und die euro” p¨aische Geschichte bildet das Paradigma der S¨akularisierung. Hierauf weist etwa Jos´e Casanova (1994) in seiner wegweisenden Monographie Public Religions in the Modern ” World” hin. Er legt dar, wie in dem f¨ ur das Ph¨anomen der S¨akularisierung paradigmatischen Fall von Europa mehrere Entwicklungen zusammenfielen, welche die S¨akularisierung vorantrieben, n¨amlich die protestantische Reformation sowie die Entstehung von Nationalstaaten, des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der modernen Wissenschaft (vgl. Casanova 1994: 21). Jede dieser Entwicklungen war f¨ ur sich genommen ein Tr¨ager der S¨akularisierung, wobei der spezielle Verlauf durch das Zusammenspiel der vier Teilbereiche ¨ zustande kam. Mit dieser Uberlegung wird deutlich, dass der Verlauf der S¨akularisierung in Europa im historischen Vergleich die Ausnahme und nicht die Regel ist. In anderen Kontexten verl¨auft S¨akularisierung anders: In den USA etwa gab es nie einen autorit¨aren Staat, der die Kirche zum Gegenspieler gehabt h¨atte (vgl. Casanova 1994: 29). Weil S¨akularisierung also aus vielschichtigen und von vielf¨altigen Faktoren beeinflussten Prozessen besteht, die keineswegs immer gleich verlaufen, kann kein universeller S¨akularisierungsprozess angenommen werden: Es gibt nicht den einen Pfad der S¨akularisierung, sondern es m¨ ussen jeweils die empirischen historischen Prozesse analysiert werden. Die Perspektive auf S¨akularisierung mit Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten

5.1 L¯ a-t.¯ a if¯ıya, c alm¯ an¯ıya, madan¯ıya: Das Ringen um Begriffe und Konzepte

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unterscheidet sich, wie Filali-Ansary (1999) zeigt, von der oben dargestellten Europaorientierten Perspektive: W¨ahrend es f¨ ur Europa um empirisch betrachtete historische Prozesse gehe, werde f¨ ur den Nahen und Mittleren Osten zumeist die grunds¨atzliche Frage behandelt, ob S¨akularisierung mit dem Islam kompatibel ist oder in Opposition dazu steht. Diese Frage nach der grunds¨atzlichen M¨oglichkeit von S¨akularisierung im islamischen Kontext ist relativ jung. In ihr zeigt sich eine Reaktion auf den starken Schwerpunkt, den die politische wie wissenschaftliche Wahrnehmung der Region auf das Ph¨anomen des Islamismus legt. Die Perspektive auf S¨akularismus in der Region h¨angt also mit dem politischen Kontext zusammen, wie auch der Blick auf fr¨ uhere in der Region gef¨ uhrte S¨akularisierungsdebatten zeigen (s. Haugbolle 21.03.2012). So war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts S¨akularismus ein breit diskutiertes Thema, das damals allerdings im Zusammenhang mit der nahd.a wie auch mit den Ideologien des arabischen Nationalismus und fr¨ uhen Nasserismus stand (vgl. Browers 2009; Haugbolle 21.03.2012). Im arabischen Nationalismus sollte die Be¨ tonung, dass die arabische nationale Identit¨at s¨akular ist, auf die Uberwindung sozialer und politischer Spaltungen zwischen den religi¨osen und konfessionellen Gemeinschaften hinwirken. Mit diesem Hinweis erkl¨art Browers (2009: 20f.), warum Bekenntnisse zum S¨akularismus unter arabischen Nationalisten im Maschrik weiter verbreitet waren als im Maghreb: W¨ahrend soziale Trennlinien im Maghreb eher anhand von sprachlichen Unterschieden gezogen wurden, bestand in den religi¨os deutlich diverseren L¨andern des Maschrik ¨ ein ungleich gr¨oßeres Bed¨ urfnis nach der Uberbr¨ uckung von Trennlinien, die durch Religion definiert waren. In den auf die Region bezogenen S¨akularismus-Debatten, sowohl zum Islamismus als auch zu nahd.a und arabischem Nationalismus, wird S¨akularisierung eng verkn¨ upft mit Modernit¨at. S¨akularismus” und S¨akularisierung” werden h¨aufig mit Moderne (s. Le” ” wis 1998; Browers 2006: 116ff. Casanova 1994) oder etwa auch mit Individualisierung (s. Roald 2008) in einem Atemzug genannt (vgl. Kalin 2011: 5).33 Die von Casanova (1994) genannten Prozesse, die in Europa zu S¨akularisierung f¨ uhrten, sind Prozesse der Moderne bzw. des Umbruchs zur Moderne. Da aber eben diese Vorstellung von Moderne mit Europa verkn¨ upft ist, stellt sich die Frage nach der Authentizit¨at von S¨akularisierung im Nahen und Mittleren Osten. Browers (2006: 118) weist in ihrer Monographie u ¨ber Zivilgesellschaft im politischen Denken der arabischen Welt darauf hin, dass die Debatte um die zwei arabischen Begriffe f¨ ur Zivilgesellschaft – al-muˇgtama c al-madan¯ı und al-muˇgtama c al-ahl¯ı – auch vor dem Hintergrund der Frage gef¨ uhrt wird, ob al-muˇgtama c al-madan¯ı authentisch” arabisch sein k¨onne. Al-muˇgtama c al-madan¯ı gilt als modern”, w¨ahrend ” ” und al-muˇgtama c al-ahl¯ı sowohl als traditionell” als auch als religi¨os” eingeordnet wird. ” ” Browers (2006: 118) zitiert hier Sadiq al-Azm mit seiner These, die Araber grenzten sich durch ihre Zur¨ uckweisung der modernen” und s¨akularen” Institutionen der muˇgtama c ” ” madan¯ı von der u urden sich somit selbst orientalisieren”, ¨brigen Welt ab. Die Araber w¨ ” indem sie in Anspruch n¨ahmen, von historischen S¨akularisierungsprozessen, wie sie anderswo stattfinden, ausgeschlossen zu sein (Browers 2006). Dieses Zusammendenken von S¨akularisierung und S¨akularismus mit Modernit¨at ist, 33

Die These, dass S¨akularismus und Moderne fundamental miteinander verbunden sind, verkehrt Ussama Makdisi (1996) ins Gegenteil: Unter dem Titel The Modernity of Sectarianism in Le” banon” zeigt er, wie im Libanon nicht die S¨ akularisierung, sondern gerade die Ausrichtung aller Lebensbereiche auf die Konfession ein Produkt der Moderne ist.

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

ebenso wie die Debatte um die Historizit¨at oder Universalit¨at von S¨akularisierung, h¨aufig ¨ verbunden mit normativen Uberzeugungen. Diese k¨onnen sowohl positiv als auch negativ sein. So zeichnet I. Harik (2001, 2003) f¨ ur den Libanon ein normativ negatives Bild von S¨akularismus als nicht neutrale Ideologie”. Seine Kritik zielt dabei gegen das im libane” sischen Kontext verwendete Konzept von S¨akularisierung, das sich gegen den Konfessionalismus richtet. Zum anderen wird S¨akularismus”, wie etwa bei den oben in Abschnitt ” 5.1.1 beschriebenen libanesischen antikonfessionellen Aktivisten, h¨aufig als normativ positiv gesetzt. Joseph (2011) weist darauf hin, dass die Bezeichnung einer Gesellschaft oder auch eines politischen Gegners als konfessionalistisch” eine Distanzierung bedeutet, weil ” durch diese negativ besetzte Bezeichnung die Konfessionalisten als die Anderen” einge” ordnet werden. 5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert Antikonfessionelle Bestrebungen im Libanon sind so alt wie die Institutionalisierung des Konfessionalismus selbst, reichen also zur¨ uck ins 19. Jahrhundert (vgl. z.B. Ziadeh 2006; Haugbolle 2013: 438). Der antikonfessionelle Aktivismus, welcher der Protestwelle 20102012 vorausging, wird hier in vier Phasen betrachtet: Die erste Phase begann nach der Institutionalisierung des Konfessionalismus nur langsam, entwickelte sich w¨ahrend der Zeit der nahd.a und der Debatte um die Gestaltung des libanesischen Staats nach Ende des Osmanischen Reichs und wurde durch die Z¨asur der Staatsgr¨ undung beendet (5.2.1). Die zweite Phase liegt in der Zeit der Ersten Republik vor dem B¨ urgerkrieg (5.2.2), die dritte ¨ besteht in der von Gewalt gepr¨agten Ubergangsphase des B¨ urgerkriegs (5.2.3), die vierte Phase liegt in der Zweiten Republik nach dem Ende des B¨ urgerkriegs (5.2.4).34 Nach diesen Abschnitten zum Aktivismus wird in Abschnitt 5.2.5 gesondert auf die wenigen tats¨achlich durchgef¨ uhrten antikonfessionellen Reformen auf Gesetzesebene eingegangen. 5.2.1 Die nahd.a und die Debatten um die libanesische Staatsgr¨ undung Wie Makdisi (2000) zeigt, wurde der politische Konfessionalismus im Libanon in der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts institutionalisiert. So zeigten einige Institutionen, welche gegen Ende der Herrschaft des Osmanischen Reichs in den aufeinander folgenden politischen Gebilden auf dem Gebiet der heutigen Republik Libanon eingerichtet wurden, konfessionalistische Pr¨agungen: Das 1843 gegr¨ undete Doppel-q¯a c immaq¯ am¯ at” folgte in ” seiner Teilung des Libanongebirges in ein drusisches und ein maronitisches Gebiet und ¨ ¨ in der Besetzung der h¨ochsten Amter konfessionellen Uberlegungen, und in der 1861 gegr¨ undeten mutas.arrif¯ıya” wurde erstmals ein proportional konfessionell besetztes politi” ¨ sches Gremium etabliert. Makdisi (2000: 166) bezeichnet diese Zeit treffend als eine Ara ” des Dazwischen”: Das alte osmanische Ordnungssystem war bereits im Zusammenbruch begriffen und ein neues System war noch nicht abschließend etabliert. Welche Art von politischer Ordnung im Libanongebirge herrschen sollte und welche sozialen Gruppen darin welche Stellung erhalten sollten, war Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse, an denen neben regionalen und europ¨aischen M¨achten auch libanesische Akteure beteiligt Die Terminologie der Ersten Republik” und Zweiten Republik” wird in der libanesischen Ge” ” schichtsschreibung u.a. von Corm (2012) verwendet. Die Z¨ asur zwischen der Ersten Republik und der Zweiten Republik besteht im Abkommen von T a if, das nicht nur als b¨ urgerkriegsbeendend .¯ gilt, sondern auch die Verfassung ¨ anderte. c

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5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert

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waren. So beschreibt Havemann (2006), wie sich bereits 1840 eine maronitische Bauernbewegung f¨ ur Konfessionalismus einsetzte, die versuchte, die traditionellen Herrschaftss” trukturen [...] zu durchbrechen, indem sich Bauern und Vertreter des niedrigen maronitischen Klerus alliierten” (Havemann 2006: 276). Die Interessen der Bauern und der maronitischen Kleriker waren komplement¨ar: Die Bauernbewegung hatte zun¨achst gegen Forderungen des osmanischen Gouverneurs nach vorzeitiger Steuerzahlung protestiert und richtete sich bald in einem allgemeineren Sinne gegen die herrschenden Machtverh¨altnisse; w¨ahrend die maronitische Kirche sich von der Schaffung eines Repr¨asentationssystem auf konfessioneller Grundlage einen Machtzuwachs erhoffte (vgl. Havemann 2006: 276ff.). Auch in dem Krieg von 1860 war die politische Segregation der Konfessionsgruppen durchaus ein Ziel, das nicht nur von Eliten und externen M¨achten vertreten wurde, sondern laut Makdisi (2000: 128) wollten die drusischen und maronitischen Konfliktparteien des Kriegs von 1860 die Gesellschaft entlang purer und segregierter Linien” konstituie” ren. Die ersten Schritte zur Institutionalisierung des Konfessionalismus, etwa die Teilung des Libanongebirges, waren also zwar u ¨berwiegend ein Werk der europ¨aischen M¨achte ” und der osmanischen Tanz.¯ım¯at-Reformer, [...] aber auch ein Ergebnis der Politik der maronitischen Kirche” (Havemann 2006: 277, Umschrift im Original). Die Zeit der nahd.a gilt als das liberale Zeitalter” (Hourani 2007). Der libanesische ” Intellektuelle Georges Corm (2012: 154) bezeichnet die von der nahd.a beeinflussten Denker als f¨ ur s¨akulare Emanzipation brennende Generation”. Viele Intellektuelle der nahd.a ” vertraten Pluralismus und Demokratie als zentrale Werte (vgl. Corm 2012: 87). Zu den Denkstr¨omungen der nahd.a geh¨oren zwar auch islamische Modernisten und Salafisten, aber die s¨akularen Modernisten sollten sich als dominant erweisen (vgl. Browers 2006: 35). Traboulsi (2007) weist in seiner Geschichte des Libanon darauf hin, dass christliche Intellektuelle wie Amir Muhammad Ibn Abbas, Butrus al-Bustani und Faris Shidyaq intellektuelle Inspiration in Europa suchten, sich aber nicht dem christlichen Europa” zuwandten. ” Stattdessen orientierten sie sich am s¨akularen Europa der Aufkl¨arung, des englischen ” Liberalismus und der Ideale der franz¨osischen Revolution”. Themen wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Individualismus und Gleichheit werden mit diesem s¨akularen ” Europa” assoziiert (Traboulsi 2007: 66). Die Intellektuellen artikulierten ihre politischen Ansichten in Publikationen wie der Zeitschrift an-N¯ ur. Die Zeitschrift war ein zentraler Punkt in einem Netzwerk von Radi¨ kalen, Sozialisten und Anarchisten in Agypten, Syrien und dem Libanon (vgl. Schumann 2008a: 7). an-N¯ ur war eine nahd.a-Zeitschrift, die durchgehend explizit f¨ ur S¨akularismus eintrat, insbesondere mit Blick auf den Libanon. Die Autoren vertraten sehr kritische Positionen gegen¨ uber dem Klerus, zun¨achst besonders gegen westliche Missionare, denen sie vorwarfen, konfessionelle Spannungen zu sch¨ uren. Aus der gleichen s¨akularistischen Perspektive warnte die Zeitschrift vor religi¨oser Intoleranz” (at-ta c as..sub ad-d¯ın¯ı) und ” klagte, dass diese die Herzen der Libanesen” befallen habe und zu Spaltung f¨ uhre (vgl. ” Khuri-Makdisi 2008: 165). Es wird deutlich, dass die Begriffe Konfessionalismus und S¨akularismus in der Literatur zu politischen Projekten und politischen Akteuren jener Zeit nur selten explizit genannt werden. Als im 19. Jahrhundert die ersten Schritte zur Institutionalisierung des Konfessionalismus getan wurden, war das Thema noch neu und andere Themen standen im

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

Vordergrund, und wo Fragen nach Konfessionalismus und S¨akularismus doch diskutiert wurden, geschah dies als untergeordnete Aspekte anderer Themen. Dies waren, neben dem intellektuellen Rahmen der nahd.a, vor allem die politischen Projekte des arabischen Nationalismus, des syrischen Nationalismus und – sp¨ater – des libanesischen Nationalismus. In diesen nationalistischen Ideologien waren S¨akularismus und die Kritik am Konfessionalismus wichtige Aspekte. Ein Intellektueller des arabischen Nationalismus, der eine entschieden s¨akulare Haltung vertrat, war Sati al-Husri. Er argumentiert, dass die grundlegenden Kriterien von Nationalit¨at in einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Geschichte l¨agen, so dass f¨ ur seine Konzeption des arabischen Nationalismus ein Fundament in kompromissloser S¨akularit¨at bestand (vgl. Cleveland und Bunton 2009: 235). Solche s¨akularistischen und liberalen Positionen pr¨agten den arabischen Nationalismus besonders in seiner Anfangszeit, als sie in besonderem Maße von Intellektuellen aus nichtmuslimischen Minderheiten vertreten wurden, unter anderem von libanesischen Christen. Als sp¨ater zunehmend die Rolle des Islam f¨ ur die arabische Nation betont wurde, wandten diese sich vom arabischen Nationalismus ab und eher dem libanesischen Nationalismus zu (vgl. Hanf 1990: 175). Ein nationalistischer Zusammenschluss im Mandatsgebiet des Libanon war die Confe” rence of the Coast”, eine Versammlung von 62 Aktivisten ohne Repr¨asentanten etablierter politischer Gruppen oder Parteien. Dabei waren einige Teilnehmer der Konferenz syrischnationalistisch orientiert; andere forderten eine Konzentration auf den Kampf gegen die Mandatsmacht, um die libanesischen Minderheiten nicht zu verprellen, die dem großsyrischen und dem arabischen Nationalismus kritisch gegen¨ uber standen (vgl. el-Solh 2008: 230). In einer weiteren Str¨omung der Konferenz vertrat etwa Kazem El-Solh, ein Gr¨ under der Arabischen Nationalistischen Partei, eine arabisch-nationalistische Ideologie und forderte eine demokratische und s¨akulare Weiterentwicklung des arabischen Nationalismus, um damit die libanesischen Fragen” zu l¨osen (el-Solh 2008: 230, 233). In jedem Fall ver” stand sich die Konferenz als nichtkonfessionell und anti-kolonial” (el-Solh 2008: 232) und ” bek¨ampfte Konfessionalismus und konfessionelle Autonomie, da diese den Zusammenhalt der Nation unterminierten (vgl. el-Solh 2008: 226). Weitere Aktivit¨aten und Meinungen gegen den libanesischen Konfessionalismus kamen von Vertretern des syrischen Nationalismus. Dabei ging es um die Frage, in welchen Grenzen das Libanongebirge, Beirut und umliegende Gebiete einen Nachfolgestaat des osmanischen Reichs bilden sollten. Die syrischen Nationalisten forderten einen gemeinsamen Staat, den Traum eines Großsyrien” (Corm 2012: 54), bei dem der Libanon nicht ” abgespalten, sondern in einen großsyrischen Staat integriert werden sollte. Cleveland und Bunton (2009: 234) ordnen den syrischen Nationalismus, ebenso wie beispielsweise den ¨agyptischen pharaonischen” Nationalismus als Regionalismus” bzw. Lokalnationalis” ” ” mus” ein. Diese richteten sich gegen die Fremdherrschaft der Mandate, sahen aber in den Lokalnationen” selbstst¨andige Nationen mit einer jeweils eigenen Geschichte. ” Die Forderung nach dem Aufgehen des Libanon in einem großsyrischen Staat war in erster Linie ein Projekt der libanesischen Muslime (vgl. Hanf 1990: 90ff., 96ff.) und wurde auch von einigen s¨akularen Akteuren unterst¨ utzt. Der wichtigste Vertreter des syrischen Nationalismus im libanesischen Mandatsgebiet war Antoun Saadeh, der 1934 die Syrische Sozial-Nationalistische Partei (SSNP, frz. Parti Populaire Syrien/PPS) gr¨ undete (vgl. Suleiman 1967: 93). Saadeh verurteilte die Teilung Großsyriens durch die franz¨osische ¨ Mandatsmacht und forderte die Wiedervereinigung des Landes. Nach seiner Uberzeugung w¨ urde die Besinnung auf die gemeinsame syrische Nationalgeschichte die partikularen

5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert

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christlichen, islamischen und arabischen Identit¨aten u ¨berwinden (vgl. Cleveland und Bunton 2009: 234). Folglich beinhaltete die Ideologie der SSNP einen dezidierten S¨akularismus (vgl. Traboulsi 2007: 102). ¨ des Dazwischen” (Makdisi 2000: 166), in der Zeit des franz¨osischen Gegen Ende der Ara ” Mandats ab 1920, bis der Libanon 1943 mit einer konfessionalistisch gepr¨agten Verfassung (s. Hanf 1990: 94f.) die Unabh¨angigkeit erlangte und der Nationalpakt geschlossen wurde, wurde die Konfessionalismus-Frage zu einem h¨aufigeren Gegenstand libanesischer innenpolitischer Debatten. Prim¨ar galt die syrisch-libanesische Spaltung durch die Mandatsmacht als deutlich relevanter als die konfessionelle Spaltung (vgl. el-Solh 2008). Dennoch blieben Debatten um die Ausgestaltung des neu zu gr¨ undenden libanesischen Staats nun nicht auf die Fragen der Grenzziehung beschr¨ankt, sondern betrafen auch die rechtliche Ausgestaltung des Konfessionalismus. So kam es bereits 1936 zu zivilgesellschaftlichem Aktivismus f¨ ur die Etablierung eines freiwilligen nichtkonfessionellen Personenstandsrechts: Als in jenem Jahr die franz¨osische Mandatsmacht die Gesetzgebung ¨ zum Personenstand an zivile Gerichte u der Eherecht¨bertrug, stellte sie die Ubertragung sprechung auf Grund von Protesten zur¨ uck. Gegen diese Zur¨ uckstellung protestierten libanesische Anw¨alte mit einem sechsmonatigen Streik, wobei allerdings letztlich die Eherechtsprechung bei den konfessionellen Gerichten angesiedelt blieb (vgl. El-Cheikh 1999; zitiert nach Zuhur 2002: 194; s. auch Traboulsi und Geisser 2012). Zudem erzwang im Jahr 1969 der Anwalt und Aktivist Sami Shaqifeh vor Gericht das Recht, seine Konfession aus dem Zivilregister und seinem Ausweis streichen zu lassen (vgl. CHAML 2009b: 11; Experteninterview). Die Frage nach arabisch-nationalistischer oder libanesisch-nationalistischer Ausrichtung des neuen Staats wurden 1943 mit dem Nationalpakt beigelegt, einem ungeschriebenen Abkommen zwischen dem ersten Staatspr¨asidenten nach der Unabh¨angigkeit Bechara elKhoury und dem ersten Ministerpr¨asidenten Riad el-Solh. Die Stimmen, die einen auf die Grenzen des Mandatsgebiets beschr¨ankten libanesischen Staat forderten, waren zun¨achst nicht gegen konfessionelle Segmentierungen eingestellt. Bis zur Unabh¨angigkeit 1943 aber wurden kritische Stimmen gegen den politischen Konfessionalismus auch bei libanesischen Nationalisten immer lauter, so dass der Konfessionalismus bereits 1943 nur mehr als suboptimale Notl¨osung galt. Selbst Riad el-Solh distanzierte sich von dem Prinzip: Er erkl¨arte, der Moment, in dem die Abschaffung des Konfessionalismus m¨oglich sein wird, werde ein Moment des gesegneten, totalen nationalen Erwachens in der Geschichte des ” Libanon” (zitiert in el-Solh 2008: 234). 5.2.2 Linker Aktivismus in der Ersten Republik vor dem B¨ urgerkrieg In der Ersten Republik bis in die Zeit des B¨ urgerkriegs hinein35 waren S¨akularismus und Antikonfessionalismus vor allem ein Thema der politischen Linken. Zu Beginn dieser Periode stand des Thema S¨akularismus allerdings nicht im Zentrum politischer Debatten. So wurden etwa die sozialen Konflikte, die im Libanon zu Beginn der 1970er Jahre zunahmen, in der Regel nicht konfessionell gerahmt (vgl. Hanf 1990: 46, 145). Ofeish (1999) weist dar35

S¨ akularer und antikonfessioneller Aktivismus w¨ ahrend des B¨ urgerkriegs 1975-1990 wird im n¨ achsten Abschnitt 5.2.3 gesondert diskutiert. Dabei ist zu ber¨ ucksichtigen, dass die Phasen vor ” dem B¨ urgerkrieg” und B¨ urgerkrieg” bez¨ uglich der Bedeutung linker Parteien nicht klar trenn” bar sind. Der B¨ urgerkrieg wird dennoch als eigenst¨ andige Phase behandelt, weil er zus¨atzlich von Protestaktionen gegen den Krieg gepr¨ agt war.

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auf hin, dass diese Rahmung in sp¨ateren R¨ uckblicken umso deutlicher ausf¨allt: Nach dem B¨ urgerkrieg verfasste historische Literatur u ¨ber die Erste Republik betont den Antikonfessionalismus des arabisch-nationalistischen, pro-pal¨astinensischen und linken Aktivismus jener Zeit. Fragen der S¨akularisierung und des Antikonfessionalismus gewannen in den politischen Debatten nur langsam und graduell an Bedeutung: Das Thema wurde punktuell in verschiedenen Zusammenh¨angen diskutiert, etwa im Rahmen von weiteren Vorst¨oßen f¨ ur die Etablierung eines zivilen Personenstandsgesetzes in den 1960er und 1970er Jahren (vgl. Zuhur 2002: 194). Zudem u ¨bten sunnitische Kleriker 1945 ¨offentlich Kritik am Einfluss des maronitischen Patriarchs auf die Politik (vgl. Haugbolle 2013: 438). Auch die konservative, christliche Partei al-Kat¯a ib” bekannte sich in den 1960er Jahren zur S¨akularisierung von ” Staat und Gesellschaft, was allerdings von einigen Beobachtern als Taktik interpretiert wurde (vgl. Hanf 1990: 179). Solche ¨offentlichen Debatten zum Thema blieben allerdings die Ausnahme, bis bei Kriegsbeginn 1975 und 1976 eine heftige Auseinandersetzung unter zahlreichen Akteuren der libanesischen Politik u ¨ber Fragen der S¨akularisierung stattfand (vgl. Hanf 1990: 179), die unten weiter erl¨autert wird (s. 5.2.3). F¨ ur die grundlegend s¨akular orientierte libanesischen Linke waren die 1960er und 1970er Jahre ein goldenes Zeitalter” (Haugbolle 2013: 434). Unter Pr¨asident Fuad Chehab (1962” 1968) kam es sogar zu einigen Vorst¨oßen f¨ ur sowohl soziale als auch gegen den politischen Konfessionalismus gerichtete Reformen, die allerdings erfolglos bleiben sollten (vgl. Haugbolle 2013: 434). Die starke Pr¨asenz linker Akteure in der politischen Landschaft jener Zeit ging einher mit einer atypischen politischen Kultur”, welche soziale Hierarchien ” grundlegend in Frage stellte (Favier 2004: 37f.). Diese atypische politische Kultur” sieht ” Favier (2004) als Ergebnis eines Zusammentreffens mehrerer Faktoren: Der Reichtum ” des kulturellen Lebens in Beirut” f¨orderte die Politisierung junger Leute in einer Situation, in welcher der kurze libanesische B¨ urgerkrieg 1958 und der arabisch-isralische Krieg ¨ 1967 insofern zu einer Offnung der politischen Gelegenheitsstrukturen f¨ uhrte (s. 3.1.1), als sie eine Neuorientierung der staatlichen Institutionen erforderten; w¨ahrend zugleich die Transnationalisierung der Konflikte” die Sichtbarkeit der innenpolitischen Konflikte ” erh¨ohte und zudem politische (kommunistische und arabisch-nationalistische) Ideologien außergew¨ohnlich pr¨asent waren (Favier 2004: 35). In dieser Atmosph¨are wurden auch Institutionen des religi¨os motivierten Aktivismus gegr¨ undet, wovon einige sich auch mit S¨akularismus besch¨aftigten. So veranstaltete der libanesische Zweig der weltweit aktiven, vom Marxismus und der lateinamerikanischen Be´ freiungstheologie beeinflussten christlichen Jugendorganisation Jeunesse Etudiante Chr´e” tienne” 1968 eine hochpolitische Konferenz u ¨ber die Frage nach der Rolle der Kirche in der Gesellschaft (vgl. el Khazen 2000: 79f.). Eine weitere christliche Organisation, das Mou” vement Social”, war 1956 von dem damaligen griechisch-katholischen Bischof Gr´egoire Haddad gegr¨ undet worden. Urspr¨ unglich eine Freiwilligenorganisation im Wohlfahrtsbereich, politisierte das Mouvement Social” sich nach 1967, als es deutliche Pro-PLO” Standpunkte bezog (vgl. el Khazen 2000: 79). Karam (2006b: 57) bezeichnet das Mou” vement Social” als Idealtyp” f¨ ur Organisationen jener Zeit, da sein zivilgesellschaftlicher ” Aktivismus sich durch mehrere regionale Zentren und die Zusammenarbeit mehrerer Generationen auszeichne, und es seitdem eine herausragende Rolle in der libanesischen NGOLandschaft einnehme. Dabei war S¨akularismus kein direktes Thema, aber die wohlt¨atigen Aktivit¨aten ohne Ansehen der Konfession sind dennoch als politische Positionierung gegen die konfessionelle Segregation interpretierbar. Bischof Gr´egoire Haddad ver¨offentlichte zuc

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dem in der von ihm herausgegebenen Zeitung Af¯aq” harsche Kritik am Staat, die neben ” sozialen Problemen auch den Konfessionalismus anprangerte (vgl. el Khazen 2000: 79; Traboulsi 2007: 177). In der Folge musste Haddad als Bischof zur¨ ucktreten (zur Rolle von Gr´egoire Haddad im antikonfessionellen Aktivismus s. auch 6.1.3.2). ¨ Ein weiterer Zugang zur Uberwindung des Konfessionalismus bestand in Bem¨ uhungen f¨ ur interreligi¨osen Dialog. Dabei wird, anders als bei s¨akularistischen Ans¨atzen, die religi¨ose Zugeh¨origkeit nicht in den Hintergrund ger¨ uckt, sondern steht im Mittelpunkt, wobei aber die Abgrenzung zwischen den Religionen auf individueller Ebene durch Dialogveranstaltungen u ¨berwunden werden soll.36 So rief etwa der Mufti von Beirut hochrangige muslimische und christliche W¨ urdentr¨ager mehrfach zum Dialog auf (vgl. Weber 2005: 69, s. auch 67ff., 96ff.). Zu Veranstaltungen des interreligi¨osen Dialogs, die abseits der religi¨osen Institutionen durchgef¨ uhrt wurden, z¨ahlten etwa die Konferenzen, die von den American Friends of the Middle East” zwischen 1954 und 1956 und vom C´enacle li” ” banais”, der von 1946 bis 1974 bestand, zwischen 1965 und 1966 veranstaltet wurden (vgl. Weber 2005: 67; Scheffler 2006: 97). Scheffler (2006: 97) weist darauf hin, dass der C´enacle libanais” ein Forum der s¨akularen Eliten und nicht des Klerus war. Dennoch be” teiligten sich an den Veranstaltungen auch Gr´egoire Haddad und der franz¨osische Priester Abb´e Pierre (vgl. Karam 2006b: 56f.), also zwei katholische Kleriker, die aber zugleich herausragende Pers¨onlichkeiten der Aktivismusszene waren. Auch der schiitische Imam Musa as-Sadr und der griechisch-orthodoxe Bischof Georges Khodr geh¨orten zu den we” nigen weitsichtigen und engagierten Personen”, die sich am Dialog zwischen Klerikern beteiligten (Scheffler 2006: 98). Ein weiterer Bereich des linken Aktivismus war studentisch (vgl. z.B. Favier 2004). Der Studentenaktivismus thematisierte den Konfessionalismus nicht direkt, behandelte aber Themen von konfessions¨ ubergreifendem Interesse, und zeichnete sich durch konfessionelle Heterogenit¨at der Aktivisten aus (vgl. Kiwan 1993). Unter Studierenden war die grunds¨atzliche Ablehnung des mit der Verfassung 1943 etablierten Systems immens, und laut Hanf (1990: 168) sympathisierten 60% mit linken Parteien. Die junge Generation war politisiert und radikalisiert und viele Studierende beteiligten sich h¨aufig an Demonstrationen (vgl. el Khazen 2000: 75). Besonders gut dokumentiert ist der Aktivismus an der American University of Beirut (AUB) (s. B. S. Anderson 2008, 2011; Rabah 2009), die ein Zentrum der libanesischen Studentenbewegung darstellte. Wie sehr das Studentenleben von Aktivismus gepr¨agt war, zeigt ein von B. S. Anderson (2008, 2011) dokumentierter Artikel aus der 1.-April-Ausgabe Lookout” der AUB-Studentenzeitschrift Outlook” von ” ” 1952, der die mit Aktivismus aufgeladene Atmosph¨are satirisch u ¨berzeichnet: There will be a demonstration this afternoon at 3 in front of the Medical Gate to object against everything [...]. The demonstration promises to be very exciting – tear gas will be used, and the slogans are simply delightful. If all goes well, police interference is expected. If not to join, come and watch. (o.A. 29.03.1952; zitiert nach B. S. Anderson 2008: 101) Besondere Wellen studentischer Proteste an der AUB fanden in den fr¨ uhen 1950er Jahren und ab 1968 statt, wobei die zweitgenannte Welle sowohl durch den israelisch-arabischen Krieg 1967 als auch durch die weltweite Studentenbewegung beeinflusst war (vgl. Rabah 36

Interreligi¨ oser Dialog zielt also in der Regel nicht auf Abschaffung des politischen Konfessiona¨ lismus, sondern eben Eind¨ ammung konfessioneller Konflikte und Uberwindung der informellen sozialen Vers¨ aulung.

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2009: 13). Sie kulminierte in einem mit Gewalt und Polizeieins¨atzen verbundenen Studentenstreik im Jahr 1974 (vgl. B. S. Anderson 2011). Der Studentenaktivismus war, obwohl auf den Campus konzentriert, nur indirekt an die Universit¨atsverwaltung gerichtet: Es ging zwar auch um Themen wie die H¨ohe der Studiengeb¨ uhren und die Einrichtung einer Studentenvertretung, aber in erster Linie stritten die Studierenden f¨ ur anti-imperialistische, pro-pal¨astinensische und arabisch-nationalistische Ideen (vgl. B. S. Anderson 2011: 120f., 143ff.). Dabei waren die Studierenden entlang ideologischer Linien politisiert” (el Khazen ” 2000: 76), bezogen sich also in hohem Maß auf Parteien. Parteien waren die zentralen Akteure des s¨akularen und antikonfessionellen Aktivismus in der Ersten Republik. So weist Karam (29-31.03.2000: 12ff.) darauf hin, dass Parteien und Fraktionen bereits in den 1950er Jahren versucht h¨atten, den Konfessionalismus abzuschaffen und die Zivilehe einzuf¨ uhren. Nachdem in den 1920er und 1930er Jahren die libanesische Politik als Sache von herausragenden Pers¨onlichkeiten aus Religionen und Clans galt, wurden etwa ab der Unabh¨angigkeit allm¨ahlich auch Parteien zu m¨oglichen Kan¨alen von Macht und Mobilisierung (vgl. Suleiman 1967). Obwohl in der Folge in den 1940er und 1950er Jahren auch s¨akulare Parteien Fuß fassten” (Grafton 2002: 39), weist ” Hanf (1990: 114) darauf hin, dass diese bis 1960 nicht im Parlament vertreten waren und somit keinerlei Regierungsverantwortung trugen, so dass sie ihre Positionen radikal vertreten konnten. Danach begannen s¨akulare Parteien, auch parlamentarisch zu arbeiten, und auch bei der Wahl 1972 wurden noch neue s¨akulare Pers¨onlichkeiten in die libanesische Nationalversammlung gew¨ahlt (vgl. Corm 2012: 116). Die drei wichtigsten Parteien, deren politisches Kriterium nicht in der Zuordnung zu einem Clan oder einer Konfession, sondern in ideologischer Ausrichtung bestand, waren die Libanesische Kommunistische Partei (LCP), die SSNP und die libanesische Bac t-Partei ¯ (vgl. Hanf 1990: 103). Die bereits 1924 gegr¨ undete LCP nahm s¨akulare Inspirationen sowohl aus den Diskussionen der nahd.a als auch aus dem bolschewistischen Russland auf (vgl. Haugbolle 2013: 433). Sie bezog klare Standpunkte f¨ ur die Pal¨astinenser und nahm auch am bewaffneten Widerstand gegen Israel teil, was zur Beliebtheit der Partei nach 1967 beitrug (vgl. M. Younes und Sing 2012: 107; Hanf 1990: 103f.). Die LCP hatte, ebenso wie die SSNP, viele Anh¨anger aus konfessionellen Gemeinschaften, denen der li” banesische Proporz nicht viel zu bieten hatte” (Hanf 1990: 105). Die libanesische al-Bac t ¯ lehnte Religion weniger stark ab, sondern erkannte sie als wichtigen kulturellen Bestandteil eines Staats an, der allerdings s¨akular sein sollte (vgl. Hanf 1990: 105). Entsprechend ihrer ideologischen Grundrichtung entwickelten diese Parteien ihre s¨akularistischen Forderungen aus unterschiedlicher Perspektive: Socialists and communists saw the consociational system as detrimental to national development, while Nasserists, Ba’athist and pan-Syrian parties had their own transnational agendas that did not sit easily with [...] a plural power-sharing Lebanon. (Haugbolle 2013: 438) Ab Mitte der 1960er Jahre vertrat auch die drusisch dominierte Progressive Sozialistische Partei (PSP) von Kamal Jumblat, die vorher den Nationalpakt bef¨ urwortet hatte, s¨akulare Positionen und ging eine Allianz mit der Linken ein (vgl. Hanf 1990: 169). Sie bef¨ urwortete nun einen s¨akularistischen Staat, der unabh¨angig, aber eng mit der arabischen Welt verbunden sein sollte (vgl. Hanf 1990: 107; s. auch Donohue 1978). Dabei schlossen sich die linken Parteien zur Nationalen Bewegung” zusammen. F¨ ur die darin ”

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zusammengeschlossenen Kr¨afte war S¨akularismus zu einem zentralen Thema geworden: Die Nationale Bewegung verstand sich als demokratisch, progressiv und nichtkonfessio” nell” und versammelte arabisch-nationalistische, anarchistische, marxistische und antiimperialistische Ideologien (Salamey 2013: 44), zugleich sah sie die libanesische Identit¨at als zweigeteilt in individuelle Staatsb¨ urger” und Mitglieder einer Gemeinschaft” (Tra” ” boulsi und Geisser 2012). Zu ihren innenpolitischen Forderungen z¨ahlten ein optionales ziviles Personenstandsrecht sowie ein s¨akularer Staat mit nichtkonfessionellem Wahlsystem (vgl. Traboulsi und Geisser 2012). 5.2.3 Aktivismus gegen den B¨ urgerkrieg 1975-1990 Der Kriegsbeginn stellte f¨ ur die S¨akularismus-Politik der linken Parteien einen Wendepunkt dar. Die kriegerischen Handlungen wurden von Beginn an konfessionell gerahmt, also zumindest von Teilen der Akteure als Konflikt zwischen den konfessionellen Gemeinschaften verstanden.37 Folglich gab es bereits kurze Zeit nach Kriegsausbruch verschiedene Appelle von durchaus hochrangigen Akteuren, das Kriegsgeschehen zu beenden und einen interkonfessionellen Dialog zwischen den Kriegsparteien zu f¨ uhren. So wurde im August 1975 das Nationale Dialogkomitee” gegr¨ undet, eine von Politi” kern geleitete Gruppierung. Im Nationalen Dialogkomitee wurde unter anderem u ¨ber die M¨oglichkeit der Einf¨ uhrung eines zivilen Personenstandsrechts als Schritt zur Abschaffung des politischen Konfessionalismus diskutiert; als das Komitee jedoch die Abschaffung parlamentarischer Quoten beschloss, wurde dieser Beschluss zwar in die staatlichen Institutionen getragen, dort aber nicht umgesetzt (vgl. Traboulsi 2007: 190). Des Weiteren entwickelte sich in den Jahren 1975 und 1976 eine heftige ¨offentliche Debatte um den politischen und gesellschaftlichen Charakter des zuk¨ unftigen Libanon (vgl. Hanf 1990: 179), die bei Donohue (1978), Grafton (2002) und Hanf (1990: 179ff.) umfassend dokumentiert ist und von Haugbolle (2013: 439ff.) mit Blick auf S¨akularismus als politisches Thema analysiert wurde. Unter den Beteiligten waren auf Seite der S¨akularisten die PSP, die vorwiegend sunnitische Alumnivereinigung der Maq¯as.id”-Gesellschaft38 , die ” einen großen Teil der sunnitischen Intelligenzija umfaßt” (Hanf 1990: 181) und Gr´egoire ” Haddad; auf Seiten der Verfechter des konfessionellen Systems maronitische Kleriker, der libanesische c ulam¯a -Rat und der Oberste Islamische Schiitische Rat (vgl. Donohue 1978; Hanf 1990). Die Formen der Debatte waren Demonstrationen, Zeitungsartikel, Konferenzen und runde Tische (vgl. Donohue 1978; Grafton 2002; Hanf 1990). Sie fand ein abruptes Ende mit Z¨asuren der politischen Gelegenheitsstrukturen, als mit der syrischen Invasion c

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F¨ ur eine ausf¨ uhrlichere Diskussion der Literatur zur Frage, inwieweit der Konfessionalismus als Kriegsgrund einzustufen ist, sei auf das Forschungsstandkapitel 2.1.2 verwiesen. An dieser Stelle soll nur betont werden, dass die beobachtbare politische Stimmung zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs gerade nicht konfessionalistisch dominiert war. Auf der Ebene von Parteien, Bewegungen und politische Organisationen beobachtet el Khazen (2000: 238-239) das h¨ochste Niveau” der ” s¨ akularen Stimmung” seit der Staatsgr¨ undung. Auch zentrale Gr¨ unde f¨ ur die Eskalation der Ge” walt wie die Pr¨ asenz der PLO und der pal¨ astinensischen Fl¨ uchtlingslager (s. Hudson 1997: 108; Hanf 1990; Corm 2012) bestanden unabh¨ angig von konfessionellen Gegebenheiten. Der libanesische B¨ urgerkrieg kann somit keineswegs als Konfessionskrieg” analysiert werden - und dennoch ” ist eine diskursive Verkn¨ upfung des B¨ urgerkriegs mit dem Konfessionalismus unter Aktivisten wie auch in der Literatur sehr pr¨ asent (f¨ ur eine Analyse solcher Konfessionalismuskritik s. Scheffler 2017). Daher kann eine konfessionelle Rahmung (zur Rahmenanalyse s. 3.1.2) festgestellt werden. ˇ c¯ıyat Maq¯ Die Gam as.id Hair¯ıya Isl¯ am¯ıya” ist eine sunnitische Wohlfahrtsorganisation im Bildungs” ˘ bereich (vgl. Hauser 2012).

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

1976 die Neuorganisation des Staats als Option wieder in weite Ferne r¨ uckte und mit dem t¨odlichen Attentat auf den Gr¨ under der PSP, Kamal Jumblat, die Nationalen Bewegung empfindlich geschw¨acht wurde (vgl. Grafton 2002: 47). In dieser Situation gab die Nationale Bewegung die weitergehende Forderung nach vollst¨andiger S¨akularisierung des Systems” auf und beschr¨ankte sich auf die Forderung ” nach Abschaffung des politischen Konfessionalismus” (Weber 2005: 171). Weber (2005: ” 171) f¨ uhrt weiter aus, dass dieser thematische Wandel zusammenlief mit den Interessen weiterer traditioneller muslimischer” Mitglieder der Nationalen Bewegung, namentlich ” von H arakat Amal”, die Interesse an der Entkonfessionalisierung des Wahlrechts hatten, ”. aber nicht an einer Einschr¨ankung der Autonomie der Gemeinschaften. Dennoch stellt die Debatte der Jahre 1975 und 1976 in der Geschichte der libanesischen Linken einen entscheidenden Punkt dar: In ihr entwickelte sich eine sichtbare Welle von zivilgesellschaftlichem und politischem antikonfessionellen Aktivismus und die Akteure der libanesischen Linken waren von nun an gezwungen, S¨akularismus als prim¨ares ideo” logisches Kennzeichen anzunehmen”, so Haugbolle (2013: 427f.). Nach dieser Schw¨achung der u ¨berkonfessionellen und s¨akular orientierten Parteien der Nationalen Bewegung kam es im B¨ urgerkrieg auch auf anderen Ebenen zu einer St¨arkung des Konfessionalismus: Die r¨aumliche Segregation nahm zu, konfessionell ausgerichtete Milizen und religi¨ose Institutionen u ¨bernahmen Staatsfunktionen, und die Bedeutung des Konfessionszugeh¨origkeit f¨ ur die individuellen Identit¨aten der Libanesen stieg an.39 Nach der Marginalisierung der s¨akularen Parteien formierte sich noch w¨ahrend des B¨ urgerkriegs ein neuer antikonfessioneller Aktivismus, der nun nicht mehr haupts¨achlich in Parteien verortet war, sondern in der Zivilgesellschaft. Ghassan Slaiby (1994) stellt die These auf, dass dieser Widerstand gegen den Krieg in der Forschung h¨aufig aus ideo” logischen Gr¨ unden” u ¨bersehen wird, weil er den paradigmatischen Erkl¨arungsmustern des Kriegs zuwiderlaufe: Die Lesart als B¨ urgerkrieg” geht demnach davon aus, dass alle ” B¨ urger ins Kriegsgeschehen involviert waren und es keine Nische des Widerstands gegen den Krieg gab; und die Lesart als Krieg f¨ ur die anderen” (so der Titel einer Monogra” phie von Ghassan Tueni 1985) nimmt an, dass es eine (kleine) Zivilgesellschaft gab, die sich aber ebenso wie die anderen libanesischen Akteure in Abh¨angigkeit von externen interessierten M¨achten befand (vgl. Slaiby 1994: 119). Auch Georges Corm (2012) unterstreicht, dass in den sp¨ateren Kriegsjahren, als das Milizsystem etabliert und der Libanon in Einflussbereiche der Milizen kantonisiert” war, jeglicher Widerstand gegen dieses Mi” lizsystem sowie physisch” als auch psychologisch” praktisch unm¨oglich war (Corm 2012: ” ” 215ff.). Dagegen ¨offnet Slaiby (1994: 119) den Blick f¨ ur die wenigen politischen Akteure, die keine Kriegsparteien waren. Auch Hanf (1990: 755ff.) weist auf Proteste gegen den Krieg und f¨ ur die Einheit der Libanesen hin, die sich vor allem seit Mitte der 1980er Jahre entwickelten. Es handelt sich um eine, freilich kleine und mit nur wenig Macht ausgestattete, aber dennoch existente Szene des Anti-Kriegs-Aktivismus. Slaiby (1994: 122ff.) z¨ahlt 19 zwischen 1975 und 1990 gegr¨ undete Organisationen sowie zahlreiche Aktivit¨aten gegen den ” Krieg”, darunter auch Veranstaltungen des interreligi¨osen Dialogs (s. auch Kiwan 1993). 39

Trotz dieser steigenden Bedeutung der konfessionellen Zugeh¨origkeit kann der Konfessionalismus nicht als prim¨ arer Kriegsgrund gesehen werden (Hanf 1990; Corm 2012) und die Kriegsparteien waren nach wie vor in den meisten F¨ allen multikonfessionell zusammengesetzt (Hudson 1997: 108), s. auch 2.1.2.

5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert

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Auf der Ebene der Aktionen z¨ahlt Slaiby (1994: 123f.) 114 kollektive Aktionen des zivilen ” Widerstands gegen den Krieg” in den Bereichen Kultur, Schule, Sport, Pfadfinder, Ferienlager, Begegnung, symbolische” und direkte” Aktionen. Die konfessions-¨ ubergreifende ” ” nationale Einheit wurde dabei besonders bei den Pfadfindern sowie bei Ferienlagern und Begegnungsveranstaltungen betont, aber auch bei symbolischen und direkten Aktionen wie einer Blutspende unter dem Slogan von allen Libanesen f¨ ur alle Libanesen” und ” einem gemeinsamen Protestmarsch muslimischer und christlicher Frauen (Slaiby 1994: 123f.). Als Kr¨onung” des zivilgesellschaftlichen Aktivismus gegen den Krieg bezeichnet ” Kiwan (1993) eine Demonstration im November 1987, bei der ein Marsch von 250.000 Teilnehmern die Gr¨ une Linie”, also die Demarkationslinie zwischen Ostbeirut und West” beirut, u ¨berquerte. Die Aktivistenszene der 1980er Jahre, die solche Aktionen organisierte, setzte sich in Teilen explizit f¨ ur die St¨arkung eine unabh¨angige Zivilgesellschaft frei von konfessio” nellen, religi¨osen, regionalen oder anderen traditionellen Zugeh¨origkeiten” ein (Kiwan 1993).40 Beispiele f¨ ur in diesem Kontext w¨ahrend der B¨ urgerkriegsjahre gegr¨ undete Organisationen sind die Lebanese Association for Civil Rights” (LACR), der Nationale ” Frauen-Rat, mehrere Initiativen f¨ ur die Rechte behinderter Menschen (vgl. Kiwan 1993), die von Gr´egoire Haddad initiierte St¨andige Konferenz der libanesischen S¨akularen (vgl. Haddad 2005: 76ff.) und die ebenfalls von Gr´egoire Haddad gegr¨ undete NGO at-Tayy¯ar al-c Alm¯an¯ı (im Englischen als Movement for Secularism” bezeichnet, vgl. Zalzal 1997: ” 37), die somit als Gr¨ undungsorganisationen der zivilgesellschaftlichen antikonfessionellen Bewegung im Libanon gesehen werden k¨onnen. 5.2.4 Zivilgesellschaftlicher Aktivismus in der Zweiten Republik Nach Kriegsende manifestierten sich diese Tendenzen: Zum einen war unter linken und s¨akularen Aktivisten die u ¨berkonfessionelle Einheit aller Libanesen zu einem bestimmenden Thema geworden, aus dem antikonfessionelle Forderungen abgeleitet wurden. In diesem Zusammenhang weist Sune Haugbolle (2013) vergleichend auf die globale Beobachtung hin, dass im Nachgang von B¨ urgerkriegen h¨aufig derartige Thematiken behandelt w¨ urden: In Post-Konflikt-Gesellschaften sei die Annahme einer formal inklusiven Ideolo” gie” ein h¨aufiges Merkmal von partikularistischen Gruppen” (Haugbolle 2013: 431). Zum ” anderen hatte sich das organisatorische Umfeld des Aktivismus weg von Parteien und hin zu NGOs verschoben (s. auch 3.1.3). Ein Grund hierf¨ ur lag in der Schw¨achung der linken und s¨akularen Parteien im B¨ urgerkrieg, ein anderer in dem globalen Anstieg von Aufmerksamkeit und F¨ordermitteln f¨ ur NGOs. So gr¨ undeten sich auch im Libanon zahlreiche NGOs, wovon allerdings die Mehrzahl im politischen Mainstream verortet und an Parteien, Konfessionen oder m¨achtige Familien gebunden war, etwa die Hariri-Stiftung, die Randa-Berri-Stiftung uvm. (f¨ ur weitere Beispiele s. AbiYaghi 2012; Rieger 2003).41 40

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An dieser Stelle soll erneut auf die vielschichtige Semantik des Begriffs Konfessionalismus” im ” libanesischen Kontext hingewiesen werden. Kritik am Konfessionalismus bezieht sich nicht unbedingt nur auf das konfessionalistisch gepr¨ agte Konkordanzsystem oder die konfessionalistische Vers¨ aulung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern mit Konfessionalismus” kann auch als Ge” gensatz zu Moderne (f¨ ur eine Analyse s. Mikdashi 2014b) und Demokratie (f¨ ur eine Analyse s. Scheffler 2017) gemeint sein, oder sich auf Patronage und Korruption beziehen. AbiYaghi (2012: 20) analysiert diese Stiftungen als reine Patronage-Organisationen: It became ” common for powerful political families to own’ private associations in order to provide for their ’ clientele and religious community [...].”

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¨ 5 Historischer Uberblick: Antikonfessioneller Aktivismus im Libanon

W¨ahrend die meisten dieser konfessions- und parteinahen Organisationen im Bereich der charity-NGOs einzuordnen sind, dominieren beim u ¨berkonfessionellen Aktivismus die advocacy-NGOs. Einige w¨ahrend der B¨ urgerkriegsjahre gegr¨ undete NGOs wie die LACR von Ogarite Younan und das Tayy¯ar c Alm¯an¯ı von Gr´egoire Haddad f¨ uhrten ihre Arbeit nach dem Krieg fort. Mit Blick auf den Großteil der neu gegr¨ undeten NGOs ist aber festzustellen, dass der u ¨berkonfessionelle advocacy-Aktivismus seit den 1990er Jahren sich nicht unbedingt durch dediziert s¨akulare oder antikonfessionelle Initiativen auszeichnet, sondern eher durch eine Konzentration auf gemeinsame Themen, also auf Themen, in denen es nicht um partikular konfessionelle Interessen geht (vgl. Fakhoury M¨ uhlbacher 2009: 250). Beispiele f¨ ur solchen Aktivismus sind die Kampagne Balad¯ı, Baldat¯ı, Balad¯ıyat¯ı”, ” die 1997 erfolgreich die Durchf¨ uhrung von Kommunalwahlen forderte, die Bewegung f¨ ur die Abschaffung der Todesstrafe, und die 1995 gegr¨ undete Umweltorganisation al-Minbar ” al-Ahd.ar”. ˘ Weitere in dieser Zeit gegr¨ undete NGOs setzten sich explizit f¨ ur ein Ende des Konfessionalismus ein, aber als untergeordneten Punkt ihrer haupts¨achlichen Forderungen. Hierzu z¨ahlen etwa die Lebanese Association for Democratic Elections” (LADE) und die ” LGBT-Organisation Helem”. Daneben sind unter den Gr¨ undungen seit B¨ urgerkriegsende ” auch einige Organisationen mit explizit antikonfessioneller Programmatik zu verzeichnen. Darunter finden sich politische Studierenden-Organisationen mehrerer Universit¨aten, etwa No Frontiers” (American University of Beirut), Pablo Neruda” (Lebanese American ” ” University), Direct Action” (Balamand-Universit¨at) und Tanios Chahine” (Universit´e ” ” Saint Joseph), die sich in dem losen Dachverband Independent Leftist Groups” zusam” menschlossen (vgl. Gambill 2003; s. auch AbiYaghi 2009). Diese Gruppen verstehen sich als links und, anders als die meisten anderen politischen Studierenden-Gruppen, als parteiunabh¨angig. Jenseits des studentischen Aktivismus wurde die NGO Tayy¯ar al-Muˇgtamac ” al-Madan¯ı” (Civil Society Movement, CSM) gegr¨ undet. Diese ging aus die aus dem Umfeld der von Gr´egoire Haddad gegr¨ undeten s¨akularen Organisationen hervor, also der charityNGO Mouvement Social” und der advocacy-NGO at-Tayy¯ar al-c Alm¯an¯ı, wobei letztere ” sich um das Jahr 2000 aufl¨oste (Experteninterview). Die Vorarbeiten zur offiziellen Registrierung des CSM als NGO begannen im Jahr 2001 und wurden 2006 abgeschlossen (Experteninterview). Die Themen und Aktivit¨aten des CSM liegen, anders als im Mouvement Social, nicht im Bereich charity, sondern direkt im Bereich der advocacy f¨ ur S¨akularismus. Der zivilgesellschaftliche Aktivismus in der Zweiten Republik verlief in mehreren Wellen, die Karam (2009) als Mobilisierungszyklen” herausgearbeitet hat. Diese waren jeweils ” gekennzeichnet von bestimmten Kampagnen, die in der Regel nicht explizit antikonfessionell gerahmt waren. Der Verlauf der Wellen hing zudem deutlich von den jeweiligen politischen Gelegenheitsstrukturen ab, wobei die staatliche Politik und die zivilgesell¨ schaftlichen NGOs direkt aufeinander reagierten. Die Uberg¨ ange zwischen den Wellen verortet Karam (2009) in Jahren, die durch außenpolitische Z¨asuren des Nachkriegs-Libanon gekennzeichnet sind: Im Jahr 1990 wurde der B¨ urgerkrieg beendet, 2000 verließen die israelischen Truppen den bis dahin besetzten S¨ udlibanon, 2005 zog die syrische Armee aus den u ¨brigen Landesteilen ab. Die einzelnen Wellen zwischen diesen Jahren bezeichnet Karam (2009) als zivile Mobilisierung”, in der zwischen 1990 und 2000 Diskurse um ” Rechte (Behinderten-, Frauen-, Partizipationsrechte) im Mittelpunkt standen, souver¨ane ” Mobilisierung”, in der zwischen 2000 und 2005 prim¨ar libanesische Souver¨anit¨at im Sinne der Unabh¨angigkeit von Syrien und der Abzug der syrischen Truppen gefordert wurden,

5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert

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und parteigebundene Mobilisierung”, in der nach 2005 - und bis zum Zeitpunkt der Pro” testwelle - fast jegliche zivilgesellschaftliche Aktivit¨at in der politischen Spaltung zwischen den Bl¨ocken des 8. M¨arz und des 14. M¨arz verortet sei. In der ersten von Karam (2009) identifizierten Welle der zivilen Mobilisierung” forder” ten die beiden gr¨oßten Kampagnen die Durchf¨ uhrung von Kommunalwahlen (Kampagne Balad¯ı, Baldat¯ı, Balad¯ıyat¯ı”) und eine zivile Reform des Personenstandsrechts (Kampa” gne Meeting for an Optional Secular Personal Status Law”) (vgl. Karam 2006b: 178ff.). ” Die Kampagne f¨ ur die Kommunalwahlen u ¨berraschte durch ihre L¨ange, hohe Teilnehmerzahlen, Vielfalt von Aktionen und Akteuren, mediale Sichtbarkeit und schließlich auch durch die erfolgreiche Durchsetzung ihrer Forderung. Sie stellt eine zentrale Inspiration f¨ ur die nachfolgenden u ¨berkonfessionellen zivilgesellschaftlichen Bewegungen dar (vgl. AbiYaghi 2012: 21). Diese große Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht wurde auch deutlich als Protest gegen den Konfessionalismus gerahmt, denn die Forderung mit der gr¨oßten Resonanz betraf die M¨oglichkeit der zivilen, nicht konfessionell gebundenen Eheschließung im Libanon.42 Seit 1996 hatte Staatspr¨asident Elias Hrawi (1989-1998) f¨ ur seinen Vorschlag eines Gesetzes f¨ ur ein optionales ziviles Personenstandsrecht geworben, auch einige andere politische Akteure wie die Parlamentsfraktion der SSNP hatten sich daf¨ ur ausgesprochen (vgl. Zuhur 2002; s. auch Karam 2006b: 183). Die Generalsekret¨arin des Tayy¯ar c Alm¯an¯ı erkl¨arte 1997, ihre Organisation arbeite an der Bewusstseinsschaffung zum Thema des s¨akularen Personenstandgesetzes (Zalzal 1997: 37, 39). Am 17. M¨arz 1998, also einen Tag, bevor Hrawi seinen Entwurf dem Ministerrat vorschlagen sollte, veranstaltete eine weitere NGO, die Lebanese Association for Civil Rights” (LACR) eine ” Konferenz zum Thema. Am folgenden Tag nahm der Minsterrat Hrawis Vorschlag mehrheitlich an, aber Ministerpr¨asident Hariri (1992-1998 und 2000-2004) gab ihn nicht ans Parlament weiter, mit der Begr¨ undung, das Votum des Ministerrats habe sich nur auf die prinzipielle Idee eines zivilen Personenstandsrechts bezogen und nicht auf den konkreten von Hrawi vorgelegten Entwurf (vgl. Zuhur 2002: 185). Karam (2005, 29-31.03.2000) zeichnet den weiteren Verlauf der Kampagne nach: Als Reaktion ver¨offentlichten Vertreter muslimischer Organisationen eine Stellungnahme gegen das Projekt, w¨ahrend Studentengruppen mehrerer Universit¨aten zun¨achst eine Petition f¨ ur das Projekt anstießen und begannen, sich untereinander zu koordinieren. Am 24. M¨arz formierte sich unter der Leitung des LACR die Koalition Meeting for an Optional Secular Personal Status Law” ” (MOPSL). Diese bestand anfangs aus u ¨ber 50 NGOs, Jugendgruppen, Studentengruppen usw., von denen sich einige bereits in den Jahren zuvor f¨ ur die Zivilehe eingesetzt hatten, wurde geleitet von Ogarite Younan, die Mitglied der im Krieg gegr¨ undeten St¨andigen Konferenz libanesischer S¨akularen und Gr¨ undungsmitglied der LACR war, und finanziell gef¨ordert von Oxfam Großbritannien (Experteninterview). MOPSL traf die strategische Entscheidung, ihren Protest als soziale Bewegung zu gestalten (vgl. Karam 2005: 332), 42

Da das Personenstandsrecht von den konfessionellen Gemeinschaften autonom geregelt wird, bestehen im Familien- und Erbrecht 16 Rechtssysteme mit voneinander unabh¨angigen Gerichtsbarkeiten nebeneinander. Ein sichtbarer und h¨ aufig diskutierter Effekt davon ist die Problematik, die bei gemischtkonfessionellen Ehen entsteht: Zum einen besteht keine Rechtsgleichheit, so ist etwa eine Ehescheidung f¨ ur einen sunnitischen Mann sehr einfach, f¨ ur eine sunnitische Frau sehr schwierig und f¨ ur Katholiken nur u ¨ber den Umweg der Annulierung der Ehe” m¨oglich. Zum anderen sind ” gemischtkonfessionelle Ehen in manchen F¨ allen formal unm¨oglich (zu M¨oglichkeiten und Praktiken der gemischtkonfessionellen Ehen s. Weber 2005). Libanesen, die unter Umgehung dieser rechtlichen Situation zivil heiraten m¨ ochten, reisen hierf¨ ur ins Ausland, etwa nach Zypern oder Griechenland.

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und initiierte 1998 eine Protestwelle, die rasch expandierte: Aktivisten gr¨ undeten mehrere Arbeitsgruppen, formulierten einen eigenen Gesetzentwurf, f¨ uhrten eine Informationskampagne durch und sicherten mediale Berichterstattung (vgl. Karam 2005), ver¨offentlichten einen vom LACR vorbereiteten Leitfaden zur Zivilehe, organisierten Vortr¨age ([vgl. Daily Star 19.05.1998), veranstalteten eine gespielte Hochzeit” (Al-Awar 14.09.1998; f¨ ur ” Erl¨auterungen zur Protestform der gespielten Hochzeiten” s. 7.1.1, 7.1.2), sammelten bis ” November 1999 u ¨ber 50.000 Unterschriften und veranstalteten Demonstrationen vor Regierungsgeb¨auden (vgl. Khayyat und Yehia 18.11.1999). Auch in der Kontraktionsphase der Bewegung kamen die Aktivit¨aten nicht vollst¨andig zum Stillstand, sondern beteiligte Aktivisten arbeiteten weiter daran, ihren eigenen Gesetzentwurf ins Parlament einzubringen. Eine gr¨oßere symbolische Aktion in dieser Phase war das Ablegen von Booten mit als zivile Hochzeitspaare” verkleideten Aktivisten, die von der Beiruter Corniche ” in Richtung Zypern” in See stochen (Experteninterview). Schließlich fand MOPSL im ” M¨arz 2002 zehn Parlamentsabgeordnete, die mit der Kampagne kooperierten, also die Mindestanzahl von Abgeordneten, die f¨ ur einen formalen Gesetzesvorschlag in der Nationalversammlung notwendig ist. Diese schlugen den Gesetzentwurf von MOPSL f¨ ur ein optionales nichtkonfessionsgebundenes Personenstandsrecht in die Nationalversammlung vor. Auch dieser Entwurf kam allerdings nie zur Abstimmung. Die Forderungen nach B¨ urgerrechten, welche in der zivilen Mobilisierung” dominant ” gewesen waren, traten in der zweiten Protestwelle der souver¨anen Mobilisierung” in ” den Hintergrund (Karam 2009). So nahm etwa LADE von ihrer vorherigen Forderung nach einem nichtkonfessionellen Verh¨altniswahlrecht Abstand und forderte nurmehr ein Verh¨altniswahlrecht, das aber auch von konfessionellen Quoten bestimmt sein k¨onnte (vgl. AbiYaghi 2012: 21). Das neue bestimmende Thema war nun der Widerstand gegen Syrien, und wenn man in der souver¨anen Mobilisierung” (Karam 2009) eine antikonfessionelle ” Rahmung ausmachen konnte, so bestand diese in der Betonung der libanesischen Einheit gegen¨ uber den syrischen Besatzern. Wortmeldungen und Aktionen gegen die syrische Besatzung kamen von verschiedenartigen Akteuren, darunter Parlamentsabgeordnete, legale und illegale Parteien sowie religi¨ose Akteure. In diesem Kontext gr¨ undete sich 2004 eine neue, dezidiert s¨akulare und linke Partei, das Democratic Left Movement” (DLM). Das ” DLM grenzte sich von der LCP ab, unter anderem in den Bereichen der parteiinternen Demokratie und der Haltung zum Irakkrieg 2003 (vgl. AbiYaghi 2011: 82). Entgegen dem Trend, s¨akularen und linken Aktivismus von Parteien auf NGOs zu verlagern, hatte das DLM zun¨achst enormen Zulauf, insbesondere auch von zivilgesellschaftlichen Aktivisten, die nach Einfluss auf die formale Politik strebten. Als zivilgesellschaftliche Gruppe der souver¨anen Mobilisierung” ist zun¨achst vor allem die bereits 2001 von maronitischen In” tellektuellen, Politikern und Gesch¨aftsleuten gegr¨ undete maronitische Gruppierung Qur” ˇ nat Sahw¯ an” zu nennen (vgl. Jaafar und Stephan 2009: 170). Auch nahmen w¨ahrend dieser Phase die Wortmeldungen von Intellektuellen gegen den Konfessionalismus zu und es erschienen einige einschl¨agige Publikationen (z.B. Hanf und N. Salam 2003; Karam 2009; Ofeish 1999; Saghie 2001b; N. A. Salam 1993). Bis zum Jahr 2004 war die syrische Pr¨asenz, auch im Nachgang des Irakkriegs (vgl. Fakhoury M¨ uhlbacher 2009: 263ff.), zu einem kontroverseren Thema geworden als zuvor, und die Debatte wurde hitziger. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen forderte in seiner Resolution 1559 den Abzug aller ausl¨andischen Truppen” und die Aufl¨osung und ” ” Entwaffnung aller libanesischen und nicht-libanesischen Milizen”, und seit Sommer 2004

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waren u ¨ber Monate eine Reihe prominenter Kritiker der syrischen Pr¨asenz im Libanon Opfer von Attentaten geworden. Nach dem t¨odlichen Attentat auf Rafiq Hariri am 14. Februar 2005 wuchs der antisyrische Protest rasch an und es bildeten sich neue zivilgesellschaftliche Gruppierungen. Jaafar und Stephan (2009) zeichnen nach, wie sich diese Gruppierungen organisierten und wie sie Ressourcen mobilisierten: Ab dem Attentat kam es zu spontanen Protesten und Demonstrationen, die zun¨achst nicht zentral organisiert waren. Nach wenigen Tagen formierte sich ein Demonstrationszug von neun oppositionellen Parteijugendorganisationen und anti-syrischen Politikern bzw. ihren Familienangeh¨origen (vgl. Jaafar und Stephan 2009: 171). Am 18. Februar formulierte das Oppositionsb¨ undnis Bristol Gathering” um Walid ” Jumblat und die Hariri-Partei Tayy¯ar al-Mustaqbal” politische Forderungen, die auch ” den Abzug der Syrer beinhalteten, w¨ahrend am gleichen Tag studentische Aktivisten aus den Oppositionsparteien auf dem zentralen Beiruter M¨artyrerplatz eine Zeltstadt errichteten (vgl. Jaafar und Stephan 2009: 172). Aus ihrer sehr von Sympathie f¨ ur die Bewegung gepr¨agten Perspektive umreißen Jaafar und Stephan (2009: 172), wie diese unterschiedlichen Akteure interagierten und kooperierten: Although most of the early street protests, ” demonstrations, and sit-ins had occured spontaneously, a few key individuals eventually took charge of strategic planning for the movement”. Diese Schl¨ usselpersonen” (Jaafar ” und Stephan 2009: 172) fanden sich erstens in einer als Chambre Noire” bezeichneten ” ¨ Gruppe, in der Politiker, Intellektuelle und Journalisten strategische Uberlegungen anstellten, die dann nach unten” an die Aktivisten weitergegeben wurden. Zweitens u ¨bernahm ” Asma Andraos, eine aus einer der Partei al-Kat¯a ib nahestehenden Familie stammende, aber bis dato eher unpolitische Veranstaltungsmanagerin, die Logistik der Zeltstadt (vgl. Jaafar und Stephan 2009: 173; Gahre 2011). Drittens steuerte die Firma f¨ ur politische Kommunikation Saatchi & Saatchi Lebanon” die Rahmung der Proteste: Sie pr¨agte, in ” Absprache mit dem Bristol Gathering und der Chambre Noire, den Slogan Indepen” dence 05”, der auf Plakaten, Fahnen und im Internet zu finden war, ebenso den Slogan al-haq¯ıqa”/ The Truth” sowie die Verwendung der libanesischen Nationalhymne und ” . ” Flagge als Symbole (vgl. Jaafar und Stephan 2009: 173f.). Die Rahmung der Ereignisse als konfessions¨ ubergreifend oder gar antikonfessionell war also auch Teil einer strategischen Entscheidung professioneller Kommunikationsmanager.43 c

Die folgenden Massendemonstrationen der pro-syrischen Unterst¨ utzer der Regierung am 8. M¨arz und der oppositionellen Gegner der syrischen Pr¨asenz am 14. M¨arz wurden zu Namensgebern der politischen Bl¨ocke, die sich im Libanon von da an f¨ ur mehrere Jahre gegen¨ uberstehen sollten. Diese politische Spaltung markiert den Beginn der dritten von Karam (2009) identifizierten Phase, der parteigebundenen Mobilisierung”. Das bestim” mende Moment in dieser Phase war die Ausrichtung jeglicher politischer Aktivit¨at an den Bl¨ocken 8. M¨arz und 14. M¨arz. Zahlreiche Akteure der anti-syrischen Bewegung 2005 schlossen sich dem 14. M¨arz an, darunter das DLM (vgl. AbiYaghi 2011: 83) und Asma 43

Die Protestwelle, deren sichtbarste Aktivit¨ aten die Demonstration am 14. M¨arz 2005 und die Zeltstadt auf dem M¨ artyrerplatz waren, wurde mit zwei verschiedenen Namen bezeichnet: W¨ahrend viele beteiligte Aktivisten von intif¯ ad.at al-istiql¯ al ” (dt. Unabh¨angigkeits-Aufstand”) sprachen, ” ” setzte sich in der internationalen Berichterstattung der im Umfeld der US-Regierung gepr¨agte Name Zedern-Revolution” durch. Karam (2009: 63) weist darauf hin, dass die verschiedenen Be” zeichnungen unterschiedliche thematische Foki implizieren: W¨ahrend der Begriff intif¯ ad.at al-istiql¯ al das nationalistische Element der Unabh¨ angigkeit von Syrien betont, stellt Zedernrevolution” die ” Proteste in eine Reihe mit den Demokratiebewegungen Osteuropas.

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Andraos, die eine Stelle in Saad Hariris Pressestab annahm (Experteninterview). Das Thema der libanesischen Einheit, insbesondere gegen¨ uber den Syrern, und ohne Ansehen der Konfessionen, blieb unter Aktivisten auch in der Kontraktionsphase der antisyrischen Bewegung 2005 pr¨asent. So wurde Asma Andraos zur Vorsitzenden der NGO 05 AMAM”, die unter anderem die viel beachtete, professionelle Plakatkampagne Stop ” ” Sectarianism” durchf¨ uhrte. Diese Kampagne stand zeitlich und personell noch so nah an den anti-syrischen Demonstrationen, dass sie als 14. M¨arz-nah eingeordnet werden kann, denn zu Beginn der parteigebundenen Mobilisierung” wurden S¨akularismus und ” Antikonfessionalismus noch mit den Protesten und somit mit dem 14. M¨arz assoziiert. Dies sollte sich bald ¨andern, denn mit der Verh¨artung der politischen Spaltung wurde diese zunehmend auch als konfessionalistisch begr¨ undet wahrgenommen. Antikonfessionalismus bekam somit eine weitere semantische Komponente: Wer sich gegen Konfessionalismus aussprach, konnte damit Kritik an der Verh¨artung der Bl¨ocke 8. und 14. M¨arz meinen. So entstanden weiterhin neue Organisationen, die antikonfessionell ausgerichtet waren, auch im Sinn der Opposition gegen die politische Spaltung, die aber marginal blieben. Beispiele hierf¨ ur sind die von AbiYaghi (2011) untersuchten Organisationen der anti” systemischen Linken”: So ¨außern Aktivisten von Taˇgammuc Yas¯ar¯ı Min Aˇgli-t-Tagy¯ ˙ ır” ” (dt. Linke Versammlung f¨ ur den Wandel”) und ATTAC Libanon Einstellungen gegen die ” dominante konfessionalistische Logik”, womit zugleich Anti-Religiosit¨at als auch Ableh” nung der traditionellen Parteien” gemeint sind (AbiYaghi 2011: 89f., 93f.). ” Zwei weitere antikonfessionelle Aktivit¨aten aus dieser Phase sind zu nennen, an denen prominente s¨akulare Intellektuelle beteiligt waren: Im Jahr 2008 wurde die Mai” son la¨ıque” er¨offnet, ein Forum f¨ ur s¨akulare Kultur und Politik im Beiruter Stadtteil al-H . amr¯a , das von Nasri Sayegh senior geleitet wurde (vgl. Association pour un Liban La¨ıque 10.01.2010; s. auch 6.1.3.2). Die Initiative zur Maison la¨ıque” entstammte der ” Organisation Association pour un Liban la¨ıque”, die bereits 2004 von einem in Bel” gien lebenden Libanesen gegr¨ undet wurden war (s. Association pour un Liban La¨ıque 16.01.2013). Die Maison la¨ıque” blieb allerdings nur kurze Zeit ge¨offnet. Des Weiteren ” fand im Dezember 2009 an der Universit¨at Kaslik eine Konferenz mit dem Titel Vers ” une la¨ıcit´e revisit´ee” statt, an der ebenfalls bekannte s¨akulare Intellektuelle teilnahmen. Sowohl die Konferenz als auch die Aktivit¨aten der Maison la¨ıque” fanden in kurzem zeit” lichen Abstand vor der Protestwelle statt, so dass es auff¨allt, dass sie von den interviewten Aktivisten der Protestwelle kaum erw¨ahnt wurden. c

Der Wechsel zwischen den von Karam (2009) gezeichneten Protestwellen impliziert jedoch keine vollst¨andigen Br¨ uche im antikonfessionellen Aktivismus. Einige Initiativen, ¨ deren Aktivit¨aten jenseits von breiter Offentlichkeit und Massenmobilisierung stattfanden, wurden u uhrt. Beispiele sind Projekte des ¨ber die dargestellten Z¨asuren hinweg fortgef¨ Erinnerungsaktivismus (s. Ahmad Beydoun und Atassi 2012; Haugbolle 2012; Kfoury 2012; Sammak und Kaoues 2012; Weber 2005) sowie f¨ ur interreligi¨osen Dialog (s. Weber 2005: 180ff. Sammak und Kaoues 2012), f¨ ur konfessions-¨ ubergreifenden Geschichts- und Religionsunterricht (s. Sammak und Kaoues 2012) und f¨ ur die Zivilehe. Der Bereich des interreligi¨osen Dialogs bekam nach dem Kriegsende verst¨arkte Aufmerksamkeit. Wie in den vorhergegangenen Jahrzehnten zielte der interreligi¨ose Dialog weder auf eine Zur¨ uckdr¨angung konfessioneller Identit¨aten noch auf Kritik am konfessionalisti¨ schen Konkordanzsystem, sondern auf Uberwindung konfessioneller Konflikte und sozialer konfessioneller Segregation (zur Unterscheidung der drei Ebenen von Konfessionalismus s.

5.2 R¨ uckblick auf antikonfessionellen Aktivismus seit dem 19. Jahrhundert

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Kapitel 5.1.1). So wurden an den Universit¨aten von Saint-Joseph und Balamand Institute f¨ ur christlich-muslimische Studien gegr¨ undet (vgl. Scheffler 2006: 98). Wie schon in der Ersten Republik und im B¨ urgerkrieg veranstalteten verschiedene Organisationen Treffen und Konferenzen zwischen Vertretern der Konfessionen (vgl. Weber 2005: 180ff. Sammak und Kaoues 2012). Mit dem Islamisch-Christlichen Nationalen Dialogkomitee wurde ein Gremium etabliert, in dem Vertreter aller großen konfessionellen Gemeinschaften ver¨ treten sind und dessen Außerungen ¨offentlich sehr beachtet werden (vgl. Scheffler 2006: 98). Sowohl bei den Projekten f¨ ur gemeinsamen Religionsunterricht als auch f¨ ur interreligi¨osen Dialog ist der Ansatz nicht, die konfessionelle Zugeh¨origkeit in den Hintergrund zu stellen, sondern aus einer starken konfessionellen Identit¨at heraus am gegenseitigen Verst¨andnis zu arbeiten, wie der Generalsekret¨ar des Islamisch-Christlichen Nationalen Dialogkomitees beschreibt: The inability to agree on a cultural identity and a history transcending religious particularities [...] indicates deep divisions in our society. [...] That is why is is so urgent to build bridges between people. (Sammak und Kaoues 2012: 28). Projekte f¨ ur konfessions-¨ ubergreifenden Geschichts- und Religionsunterricht zielen darauf, einheitliche Curricula oder gar Unterrichtsmaterialien im Geschichts- und Religionsunterricht durchzusetzen, um somit die konfessionelle Autonomie im Bildungswesen zu u uhrten Ogarite Younan vom LACR ebenso wie CSM Studien u ¨berwinden. So f¨ ¨ber Geschichts- und Religionsb¨ ucher durch (Experteninterview) und das Islamisch-Christliche ” Nationale Dialogkomitee” arbeitet an einem gemeinsamen Werk f¨ ur Religionsunterricht (vgl. Sammak und Kaoues 2012: 28). Erinnerungsaktivismus bezieht sich auf die Aufarbeitung des B¨ urgerkriegs jenseits von den Erinnerungsdiskursen der Konfessionen und Milizen. Seine Akteure kritisieren die staatlich verordnete Amnesie” und setzen dieser seit Mitte der 1990er Jahre die Forde” rung nach ¨offentlicher Erinnerung entgegen (vgl. Haugbolle 2012: 15). Mittlerweile hat sich, trotz der andauernden Rede u ¨ber das Fehlen von Aufarbeitung, ein lebhaftes Feld der Aufarbeitung entwickelt, in dem sowohl K¨ unstler als auch NGOs aktiv sind (vgl. Haugbolle 2012: 16; s. auch Lang 2016: 211). Deren explizite Kritik am Konfessionalismus beschreibt Haugbolle (2012: 16) als stark antikonfessionelle, h¨aufig s¨akularistische ” Diskurse von vielen Erinnerungs- und Aufarbeitungsprojekten”. Etablierte Politiker sind in diesen antikonfessionellen Erinnerungsaktivismus nicht involviert – auch deshalb, weil die Erinnerungs-Aktivisten die vollst¨andige politische Klasse kritisieren und lieber un” abh¨angig vom konfessionellen System’ arbeiten” (Haugbolle 2012: 16). ’ Das Thema Zivilehe wurde von einigen Akteure der Koalition MOPSL auch u ¨ber das Ende der Kampagne hinaus weiter verfolgt. So f¨ uhrte das Civil Society Movement Studien und Workshops etwa u ¨ber Einstellungen zur Zivilehe durch, in der LACR wurde weiter an einem Gesetzentwurf f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht gearbeitet und aus der LACR heraus wurde 2007 die NGO CHAML gegr¨ undet, deren Hauptthema die Zivilehe ist. CHAML begann eine Kampagne, bei der mit Publikationen, Demonstrationen und gespielten Hochzeiten f¨ ur die Zivilehe geworben wurde (s. 7.1). Einen weiten Bogen u ¨ber die oben dargelegten Facetten des linken und des s¨akularen Aktivismus durch die verschiedenen Phasen der libanesischen Geschichte spannt Haugbolle (2013) in seinem Aufsatz Social Boundaries and Secularism in the Lebanese Left”. ”

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Er res¨ umiert darin einige Tendenzen der j¨ ungeren Entwicklungen: So hat sich die Mehrheit der Aktivisten von revolution¨aren” Ideen eines radikalen Umsturzes abgewandt und ” verfolgt eher eine Strategie der kleinen Schritte (vgl. Haugbolle 2013: 441). Teil dieser Entwicklung ist, dass der Antrieb zu links-s¨akularem Aktivismus mittlerweile nicht nur ¨ in dem Streben nach Anderungen der Gesetze liegt, sondern auch in Alltagserfahrungen, weshalb Haugbolle (2013: 429) die libanesische Linke als eine Form affektiver Politik” ” bezeichnet: Politisch links-s¨akulares Verhalten zeigt sich demnach auch im Lebensstil, in der Sprache, und in weiteren sozialen Gewohnheiten”. ” 5.2.5 Antikonfessionelle Gesetze und Erlasse Die antikonfessionellen Gesetzesreformen, f¨ ur welche zivilgesellschaftliche Aktivisten wie oben beschrieben k¨ampften, kamen nicht zur Umsetzung. Dennoch gab es seit Kriegsende auch einige antikonfessionelle Entwicklungen auf der juristischen Ebene, die allerdings von oben” kamen und nicht prim¨ar von zivilgesellschaftlichem Aktivismus beeinflusst ” waren. Herausragende F¨alle solcher antikonfessionellen Gesetzsprechung sollen hier dennoch erl¨autert werden, um ein vollst¨andiges Bild des libanesischen Antikonfessionalismus zu zeichnen. Es handelt sich um das T.a¯ if-Abkommen von 1990, die M¨oglichkeit der Streichung der Konfession aus dem Personenstandsregister 200944 und die Registrierung der ersten im Libanon geschlossenen Zivilehe 2013. Das b¨ urgerkriegsbeendende T.a¯ if-Abkommen war Ergebnis einer Konklave” (Hanf ” 1990: 725f.), zu der eine von der Arabischen Liga beauftragte Troika” aus Saudi-Arabien, ” Algerien und Marokko die noch lebenden Abgeordneten der libanesischen Nationalversammlung im Oktober 1989 in die saudische Stadt T.a¯ if eingeladen hatte. Man einigte sich dort auf ein Dokument nationaler Verst¨andigung”, mit dem, so Hanf (1990: 726), ” alle unzufrieden [waren], aber es wurde von fast allen akzeptiert”. Weite Teile des Ab” kommens wurden in nationales Recht u ¨bersetzt, indem sie bei der Verfassungsreform von September 1990 in die Verfassung aufgenommen wurden (vgl. Scheffler 1999a: s.). Im T.a¯ if-Abkommen45 sind, neben zahlreichen weiteren Punkten, auch Aussagen zum politischen Konfessionalismus festgehalten. Diese Aussagen scheinen auf den ersten Blick widerspr¨ uchlich – zumindest aber zeugen sie von der Vielschichtigkeit und Komplexit¨at des Themas und von den unterschiedlichen Einsch¨atzungen und Interessen, die das Abkommen beeinflussten. Einerseits sind im Abkommen deutliche Bekenntnisse gegen den politischen Konfessionalismus enthalten: So werden in Teil I, also der Pr¨aambel, der demokratische Charakter des Staats und die Gleichheit aller Libanesen betont: No segregation of people on the ba” sis of any affiliation whatsoever; no partitioning, no dividing and no settling” (Center for Democracy in Lebanon 1989: Absatz I.1.i, s. auch Absatz I.1.c). Hanf (1990: 727) interpretiert diesen Teil des Dokuments als Absagen [...] an nichtdemokratische und nichts¨akulare ” Regierungsformen”. Zudem legt das Abkommen fest, dass Schulunterricht dem nationa” len Zusammenhalt” dienen soll und dass einheitliche Schulb¨ ucher f¨ ur den Unterricht in Geschichte und Nationalkunde entwickelt werden sollen (Absatz I.3.e.5). Die Absicht, den c

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Die Initiative zur Streichung der Konfession aus dem Personenstandsregister 2009 war nicht die erste Initiative dieser Art. Bereits 1969 war der Anwalt Sami Shaqifeh vor Gericht gezogen, um die Streichung seiner Konfession aus dem Zivilregister und seinem Ausweis zu erzwingen, und hatte Recht bekommen (vgl. CHAML 2009b: 11). Die Analyse des Dokuments beruht auf der englischsprachigen Version, die auf http://www.democracyinlebanon.org/Documents/CDL-LebaneseLaw/Taif.htm zug¨anglich ist.

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politischen Konfessionalismus abzuschaffen, wird in Absatz I.2.g. pr¨azisiert, der hier in voller L¨ange zitiert werden soll: Political deconfessionalization is a principal national objective which must be pursued in accordance with a transitional plan, and Parliament, which is elected on the basis of equal sharing by Moslems and Christians, shall take appropriate measures to achieve this objective and to form a national commission headed by the President and contains political, intellectual and societal personalities in addition to the head of Parliament and the Prime Minister. The mission of the commission is to study and recommend the means of eliminating confessionalism and to present them to Parliament and to the Council of Ministers and to follow up the implementation of the transitional plan. During the transient stage, the following shall be achieved: a) The rule of Confessional representation shall be abolished and qualification and specialization shall be adopted in public offices, in the judiciary, in the military and security establishments, in public and mixed agencies and in independent authorities as may be required to achieve National Reconciliation, except for first category positions and their equivalent positions therein which shall be equally shared by Christians and Moslems with no position being confined to either sect. b) Abolishing the mention of religion and sect in the identity card. (Center for Democracy in Lebanon 1989: Absatz I.2.g) In dem zitierten Abschnitt wird die ambivalente Haltung zum Projekt der politischen ” Dekonfessionalisierung” deutlich: Erstens ist die Abschaffung des politischen Konfessionalismus ein klar erkl¨artes Ziel. Zweitens wird der politische Konfessionalismus zugleich ¨ best¨atigt – zumindest f¨ ur eine Ubergangsphase gerechnet, in welcher der politische Konfessionalismus als Teil des politischen Systems wirksam ist, in dem also weiterhin ein konkordanzdemokratisches System auf konfessioneller Basis besteht. So schreiben die Pas¨ sagen zum Wahlrecht konfessionelle Quoten als Ubergangsregelung deutlich fest: F¨ ur die Nationalversammlung sind Gleichheit zwischen Christen und Muslimen” und Propor” ” tionalit¨at zwischen den Konfessionen” vorgesehen, allerdings nur, bis das Parlament ein ” Wahlgesetz verabschiedet, das nicht auf religi¨oser Zugeh¨origkeit basiert” (Absatz I.2.a.5). Bei der ersten Wahl ohne konfessionelle Quotenregelung soll zudem eine zweite Kammer etabliert werden, ein Senat”, in dem die spirituellen Familien” repr¨asentiert sind ” ” (Absatz I.2.a.7). Eine weitere Best¨atigung konfessionalistischer Prinzipien findet sich in Absatz I.3.b.3.b, der die M¨oglichkeit konfessionsgebundener Gerichte f¨ ur Angelegenheiten des Personenstandsrechts, der Religionsaus¨ ubung und der religi¨osen Erziehung nennt. Eine weitere Best¨atigung, dass die konfessionellen Gemeinschaften politische Subjekte sind, findet sich in Absatz I.3.b. Darin erhalten die Anf¨ uhrer der Gemeinschaften das Recht, das Verfassungsgericht anzurufen – ein Recht, welches sich ansonsten nur Staatspr¨asident, Ministerpr¨asident, Parlamentspr¨asident und Gruppen von Abgeordneten genießen (vgl. Scheffler 1999a: 8). Drittens best¨atigt das Abkommen von T.a¯ if nicht nur das konfessionalistische Konkordanzsystem, sondern legt auch Anpassungen des Konfessionalismus an die ver¨anderten demographischen Realit¨aten fest. Nach dieser Logik ist das Problem nicht der (konkordanzdemokratische) Konfessionalismus selbst, sondern das Vers¨aumnis, die Quoten zu aktualisieren. Die Anpassungen betreffen die ver¨anderten konfessionellen Quoten in der Nationalversammlung, aber auch Verschiebungen zwischen den Kompetenzen des Staatspr¨asidenten, des Ministerpr¨asidenten und des Parlamentspr¨asidenten (vgl. c

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N. Salam 2003: 44ff.), die ja nach ungeschriebenen Traditionen bestimmten konfessionellen Gemeinschaften angeh¨oren m¨ ussen. Trotz dieser Ambivalenzen bleibt das Bekenntnis zur Abschaffung des politischen Konfessionalismus in Absatz I.2.g des Abkommens. Dass dieses Bekenntnis der Inhalt eines Dokuments von Verfassungsrang ist, das von der Nationalversammlung ratifiziert wurde und international anerkannt ist, kann als Erfolg antikonfessioneller Bem¨ uhungen interpretiert werden. So begr¨ unden manche Kritiker des antikonfessionellen Aktivismus ihre Ablehnung mit dem Hinweis, dass die Abschaffung des Konfessionalismus bereits an h¨ochster Stelle beschlossen wurde und somit Aktivismus, der genau dies fordert, sinnlos sei. Konkret umgesetzt wurde die Streichung der Konfessionsangabe aus Ausweisdokumenten: Bereits seit 1997 wurden neue Personalausweise ohne Angabe der Konfession ausgestellt (vgl. Scheffler 1999a: 8).46 Nicht konkret umgesetzt wurden die geforderte Einrichtung einer Kommission zur Vorbereitung der Abschaffung des Konfessionalismus, der einheitliche Geschichtsunterricht, die Einrichtung eines Zwei-Kammer-Parlaments (Senat) und die Abschaffung der konfessionellen Quotierung der Parlamentsabgeordneten. Somit k¨onnen neben der Konfessionsstreichung lediglich die zitierten Bekenntnisse und Ank¨ undigungen als antikonfessionelle Erfolge des T.a¯ if-Abkommens gewertet werden. c

Die Registrierung der Konfession einzelner B¨ urger bei den staatlichen Institutionen war auch Thema zweier weiterer antikonfessioneller Entwicklungen auf Gesetzesebene nach dem T.a¯ if-Abkommen. Im Februar 2009 ver¨offentlichte der damalige Innenminister Ziad Baroud ein viel beachtetes Memorandum, wonach die Konfessionszugeh¨origkeit aus dem Zivilregister gestrichen werden muss, wenn ein B¨ urger dies beantragt. Bis dahin war die Konfessionszugeh¨origkeit, auch wenn sie in neuen Ausweisdokumenten nicht mehr vermerkt war, in den staatlichen Unterlagen des Zivilregisters dennoch weiterhin gef¨ uhrt worden. Vier Jahre sp¨ater, 2013, best¨atigten die Ministerien f¨ ur Inneres und f¨ ur Justiz die Rechtm¨aßigkeit einer im Libanon geschlossenen zivilen Ehe, also einer Ehe, die außerhalb der konfessionellen Rechtssysteme geschlossen wurde. Die beiden Initiativen f¨ ur die Konfessionsstreichung und die Zivilehe gingen zur¨ uck auf eine Gruppe s¨akularer Pers¨onlichkeiten und Aktivisten um Talal Husseini, Bruder des fr¨ uheren Parlamentssprechers Hussein Husseini. Diese argumentierten in beiden Initiativen rein juristisch, auf Grundlage bestehender Gesetze aus der Mandatszeit. (Auf Details zur Konfessionsstreichung und zur im Libanon geschlossenen Zivilehe sowie auf Akteure, Aktionsformen und Logiken der Initiativen wird unten in Abschnitt 7.2 ausf¨ uhrlich eingegangen.) Die genannten drei antikonfessionellen Neuerungen auf rechtlicher Ebene – das T.a¯ ifAbkommen sowie die staatliche Best¨atigung der Legalit¨at der Konfessionsstreichung und der ersten Zivilehe – kamen außerhalb des klassischen Aktivismus” zustande. Sie waren ” Ergebnisse von Verhandlungen auf der Ebene der politischen Eliten und nicht von Protestbewegungen (s. 7.1.3). Es passt in dieses Bild, dass die beiden Initiativen von Talal Husseini nicht direkt in Bezug zur antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 stehen, die genau in die Zeit zwischen den beiden beschriebenen Vorg¨angen fiel (s. 7.2). c

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46

Die Streichung der Konfession aus Ausweisdokumenten wird h¨aufig in Zusammenhang mit den Ausweis-Morden” im B¨ urgerkrieg gestellt, die bei Ausweiskontrollen durch Milizen allein an An” geh¨ origen verfeindeter” konfessioneller Gruppen ver¨ ubt wurden (z.B. Elali 14.04.2009). ”

6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle Die antikonfessionelle Protestwelle zwischen 2010 und 2012 unterscheidet sich sowohl quantitativ als auch qualitativ vom Aktivismus der Vorjahre, konstatieren Beobachter und Aktivisten: Wie erfahrene ¨altere Aktivisten in den Experteninterviews berichteten, stiegen die Anzahl der Aktivisten und der Aktionen an und es traten neue Themen und Formen des Aktivismus auf (s. auch Fanoos 2011). In diesem Kapitel wird eine Ebene dieses Aktivismus untersucht, namentlich die Akteure der Protestwelle und ihre Organisationsformen, bevor Kapitel 7 komplement¨ar dazu die Aktionsformen des Aktivismus diskutieren wird (die Unterscheidung der Bewegungsebenen Akteure, Aktionen und Themen folgt Tilly 1978; Kriesi 1989; s. Kapitel 4). Es wird untersucht, welche einzelnen Akteure in der Protestwelle aktiv waren, wie sich die Organisationsstruktur zwischen den Akteuren im Lauf der Protestwelle ver¨anderte – von der Formierung u ¨ber die Koalitionsbildung bis zum weitgehenden Zerfall – und wie diese Transformationen erkl¨arbar sind. Zun¨achst werden in 6.1 die Akteure der Protestwelle aufgez¨ahlt, beschrieben und eingeordnet. Die verschiedenen Organisationsformen werden dabei zum einen in ihrem historischen Entstehungskontext und zum anderen in ihrer jeweiligen Rolle im Gef¨ uge des antikonfessionellen Aktivismus verortet. Auf das Kapitel zur Beschreibung der Protestakteure folgt mit 6.2 ein Kapitel, das Transformationen in der Organisationsweise des antikonfessionellen Aktivismus analysiert, die vor und w¨ahrend der Protestwelle stattgefunden haben. Der erste Aspekt betrifft Verschiebungen des Aktivismus von Parteien hin zu NGOs und in der Folge weiter zum informell organisierten Aktivismus (6.2.1). Der zweite diskutierte Aspekt betrifft Manifestationen dieser Verschiebungen auf der Ebene der Organisationsformen, die sich als Informalisierung zusammenfassen lassen (6.2.2). Drittens werden die Transformationen der Organisationsstruktur behandelt, die in den verschiedenen Phasen der Protestwelle auftraten (6.2.3). Anschließend wird in Kapitel 6.3 analysiert, wie diese w¨ahrend der Protestwelle aufgetretenen Transformationen der Organisationsformen erkl¨arbar sind. Bei den diskutierten Faktoren handelt es sich erstens um politische Gelegenheitsstrukturen sowohl in den innen- als auch den außenpolitischen Konfigurationen (6.3.1), zweitens um die Rahmung von Protestthemen (6.3.2), drittens um Mechanismen des movement spillover von anderen Bewegungen (6.3.3) und viertens um die Mobilisierung einer neuen politischen Generation (6.3.4). 6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus An der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 waren vielf¨altige Bewegungsakteure beteiligt. Die organisatorischen Konfigurationen der Akteure war insofern divers, als zahlreiche verschiedene Organisationen und weitere Arten von Bewegungsakteuren involviert waren. Dieses Kapitel stellt die zentralen Protestakteure vor, wobei zuerst die in der Protestwelle pr¨asenten Parteien beschrieben werden (6.1.1), dann Nichtregierungsorganisationen (NGOs, 6.1.2) und schließlich Unabh¨angige (6.1.3.1), worunter sowohl Graswurzel-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_6

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

organisationen (6.1.3.1) als auch einzelne intellektuelle Pers¨onlichkeiten (6.1.3.2) gefasst werden. Im Anschluss werden die Koalitionen betrachtet, die sich in der Protestwelle aus verschiedenen Akteuren bildeten und die zugleich selbst als Akteur in der Protestwelle pr¨asent waren. Dabei werden auch der Begriff Koalition” selbst und verwandte, von ” Aktivisten und Beobachtern alternativ verwendete Termini diskutiert (6.1.4). Diese Gliederung des Kapitels spiegelt die in dieser Arbeit vorgenommene zentrale Klassifizierung der Akteure. Diese orientiert sich am Merkmal der Organisiertheit, begin¨ nend mit Parteien als den organisiertesten Akteuren der Protestwelle. Die Uberlegungen zur Auspr¨agung dieses Merkmals folgen theoretischen, formalen und diskursiven Kriterien (s. 3.1.3): Bewegungsakteure anhand ihrer Organisiertheit zu typisieren, ist in der theoretischen Literatur zu sozialen Bewegungen etabliert (s. z.B. Della Porta und Diani 2006; Rucht 1996). W¨ahrend Parteien relativ stark formalisiert sind, wird bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen das Bild komplexer: Hier k¨onnen in einem ersten Schritt professionalisierte zivilgesellschaftliche Organisationen mit festangestelltem Personal von solchen ohne festangestelltes Personal abgegrenzt werden (vgl. Della Porta und Diani 2006: 145ff.). Der professionelle” Organisationstyp, dessen Aktivit¨aten durch bezahlte ” Mitarbeiter gew¨ahrleistet werden, hatte allerdings in der untersuchten Protestwelle keine prominente Rolle inne. Innerhalb der Kategorie der von ehrenamtlichen Aktivisten betriebenen Gruppen hingegen sind wiederum zwei Typen zu unterscheiden, die in der libanesischen antikonfessionellen Protestwelle beide aktiv waren: Der Organisationstyp, der im libanesischen Kontext als NGO” bezeichnet wird47 , ist stark formalisiert, und ” unterscheidet sich dahingehend von Graswurzelorganisationen”, die eine relativ lose, ” ” informelle und dezentrale Struktur” aufweisen (Rucht 1996: 188ff. s. auch Della Porta und Diani 2006: 145ff.). Formale Anhaltspunkte f¨ ur die Einordnung eines Bewegungsakteurs als Partei, NGO oder Graswurzelorganisationen bestehen zum einen in der Teilnahme von Parteien an Wahlen und zum anderen in der offiziellen Registrierung als NGO bei den Beh¨orden. Die formalen Merkmale sind allerdings nicht hinreichend: So sind zwar viele, aber nicht alle zivilgesellschaftlichen Organisationen bei den libanesischen Beh¨orden als NGOs registriert. Die Registrierung bietet daher einen Hinweis auf die Verortung der Gruppen als NGO oder als Graswurzelorganisation, ist aber nicht zuverl¨assig, da auch Graswurzelorganisationen zuweilen beh¨ordlich registriert sind. Die Einordnung als Partei wird dadurch erschwert, dass der Libanon kein formales Parteiengesetz besitzt und Parteien auch in der Verfassung nicht erw¨ahnt werden (vgl. Ashtiyy 1997). Zudem f¨ uhren manche Parteien die Selbstbezeichnung Bewegung” (z.B. H.arakat Amal, dt. Hoffnungsbewegung”), andere ” ” bezeichnen sich als Partei”, ohne Ambitionen auf Einzug in die staatlichen Institutionen ” c 48 c ˇ zu zeigen, etwa H . arakat Sa b und at-Taˇgammu ad-D¯ımuqr¯at.¯ı (dt. ”Demokratische Versammlung”), wie ein Gr¨ under der letztgenannten Partei im Experteninterview best¨atigte. Zuverl¨assiger ist das diskursive Kriterium der Selbstverortung, denn die Unterscheidung von Parteien, NGOs und Graswurzelorganisationen wird auch von den interviewten Aktivisten selbst h¨aufig getroffen. Die Selbstverortung in einer bestimmten Organisationsweise zeigt sich etwa, wenn interviewte Aktivisten sich zu bestimmten Organisationsformen, der Distanzierung von anderen Organisationsformen oder der Typologisierung von verschie47 48

In der zitierten Bewegungsliteratur wird dieser Typ auch bezeichnet als Massenprotestorganisa” tion” (Della Porta und Diani 2006: 145ff.) bzw. als Interessengruppen” (Rucht 1996: 188). ” c ˇ H arakat Sa b f¨ u hrt ebenfalls den Begriff Bewegung” (h araka) im Namen, wird aber zugleich von . . ” innen und von außen als Partei bezeichnet.

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

125

denen Bewegungsakteuren bekannten. Anhand der erl¨auterten Kriterien werden die zentralen Akteure der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 nach einer an Organisiertheit orientierten Typologie angeordnet, welche das Ordnungsprinzip der folgenden Unterkapitel zu den einzelnen Akteurstypen ¨ bildet. Zudem findet sich im Anhang dieser Arbeit ein zusammenfassender Uberblick u ber die Protestakteure in Form einer Tabelle, die kurze Informationen zu Geschichte des ¨ Akteurs, seinen Themen und seiner Rolle in der Protestwelle 2010-2012 enth¨alt (??). 6.1.1 Parteien Die Frage nach der Beteiligung von Parteien an den antikonfessionellen Aktivit¨aten war w¨ahrend der Protestwelle ein h¨ochst kontroverses Thema. Der tats¨achliche Grad ihrer Beteiligung ist umstritten. Dies gilt f¨ ur beide in dieser Arbeit unterschiedenen Ebenen der Aktivisten (Kriesi u. a. 2003: 37; s. 4, 3.1.4), also sowohl f¨ ur die Ebene der Teilnehmer als auch f¨ ur die Ebene der Organisatoren. Mit Blick auf die Ebene der Teilnehmer ist anzunehmen, dass zumindest auf der H¨ohe der Protestwelle bei der gr¨oßten antikonfessionellen Demonstration am 20. M¨arz 2011 auch Parteiaktivisten unter den 20.000 Demonstranten waren. Nicht nur Parteien, sondern auch deren Verortung in den politischen Lagern des 8. M¨arz und 14. M¨arz stellten f¨ ur das politische Geschehen im Libanon nach 2005 und bis in die Zeit der Protestwelle hinein den bestimmenden Faktor dar (s. z.B. Karam 2009). Folglich ist die Mobilisierbarkeit von 20.000 Demonstrationsteilnehmern ohne die Beteiligung von Parteien kaum denkbar, wie eine Aktivistin, die selbst Mitglied in der LCP und der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war, feststellte: You cannot imagine 30,000 people without imagining that the parties ” were a big, big, big part of this.” Auf der Ebene der Organisatoren ist die Rolle von Parteien noch umstrittener. Auf einem Organisationstreffen der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, welche die gr¨oßten Demonstrationen der Protestwellen organisierte, wurde der formale Beschluss gefasst, Parteien nicht als Mitglieder der Koalition zuzulassen, sie also von Organisation und stra¨ tegischen Uberlegungen auszuschließen (Experteninterviews). Einflussnahme von Parteien an der Koalition konnte danach nur indirekt erfolgen, indem einzelne Parteimitglieder sich als individuelle Teilnehmer an der Koalition beteiligten. In dieser Weise wird vor allem vier Parteien eine gewisse, noch n¨aher zu untersuchende Rolle in der Protestwelle und v.a. in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zugeschrieben: Der Libanesischen Kommunistischen Partei, der Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei, H.arakat ˇ c b und H Sa . arakat Amal . c

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Die Libanesische Kommunistische Partei (LCP) ist die ¨alteste Partei des Libanon, sie wurde 1924 mit dem Namen Libanesische Volkspartei” gegr¨ undet und 1944 in ” Libanesische Kommunistische Partei” umbenannt (Suleiman 1967: 57, 60ff.). Die LCP ” ist traditionell u ¨berkonfessionell und s¨akular ausgerichtet. Gepr¨agt durch linke Ideologien, waren die programmatischen Positionen der Partei seit ihrer Gr¨ undung zugleich kritisch gegen¨ uber dem Konfessionalismus. So betont ein interviewter Aktivist der LCP, dass Kommunismus und Sozialismus die prim¨are Ideologie der Partei darstellen, aus welcher der S¨akularismus abgeleitet sei49 . Die Anh¨anger und Mitglieder der Partei kamen 49

Bereits zur Zeit der Ersten Republik stellt Suleiman (1967) fest, dass die Motivation f¨ ur eine Wahlentscheidung f¨ ur die LCP nicht unbedingt in der kommunistischen Ideologie liegt, sondern in

126

6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

aus verschiedenen Konfessionen (vgl. Hanf 1990: 103), wobei die st¨arkste Zeit der Partei ¨ in den 1960er und 1970er Jahren lag. Uber den B¨ urgerkrieg nahm die Popularit¨at der LCP ab, so dass zu Beginn der 1990er Jahre ein deutlicher Bedeutungsverlust zu konstatieren war. In den staatlichen politischen Institutionen war die LCP seitdem nicht mehr vertreten. Gr¨ unde f¨ ur den Bedeutungsverlust der Partei sind ihre wechselhafte Rolle im B¨ urgerkrieg, das Ende der Sowjetunion und die Konfessionalisierung der libanesischen Politik (vgl. M. Younes und Sing 2012: 107f.). Der Umgang der LCP mit den ver¨anderten Rahmenbedingungen war gepr¨agt durch Orientierungslosigkeit und Unf¨ahigkeit der Par” tei, in der weiterhin konfessionell gepr¨agten Politik des Nachkriegslibanon einen neuen Platz zu finden” (M. Younes und Sing 2012: 108). F¨ ur die Aktivisten der Partei vollzog sich Anfang der 1990er Jahre ein Bruch. Sie hatten sich vor und w¨ahrend des B¨ urgerkriegs ¨ durch Uberzeugungen, Ideologien und Zugeh¨origkeiten definiert, die mit der LCP verbunden waren. Diese hatten nunmehr an Bedeutung und G¨ ultigkeit verloren. Diese Situation besteht in ihren Grundz¨ ugen bis heute und treibt die libanesischen Kommunisten in eine unm¨ogliche, aber unumg¨angliche Suche nach Zugeh¨origkeit”, so M. Younes und Sing ” (2012: 113). F¨ ur das heutige Selbstbild und die heutigen Aktivit¨aten der LCP ist das pr¨agende Gef¨ uhl folglich das der Nostalgie. Diesen Zustand fassen M. Younes und Sing (2012: 108) in die scharfe Formulierung, dass die gegenw¨artige Bedeutung der LKP [sic] ” [...] sich daher vornehmlich auf die Pr¨asenz ihrer Vergangenheit in der Gegenwart” beschr¨anke. Das Alleinstellungsmerkmal der LCP in der libanesischen Parteienlandschaft ist nun ihr entschiedener S¨akularismus. Unter den Organisatoren der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 war die LCP aktiv und sichtbar. Mehrere Parteiaktivisten waren Mitglieder der Koalition al-Liq¯a alc Alm¯an¯ı. Die Teilnahme als Partei wurde in LCP-Gremien vorbereitet, aber wurde nicht mehr umgesetzt, weil al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı seine eigenst¨andigen Aktivit¨aten aufgab und in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı aufging (Experteninterview). Auch unter den Organisatoren der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren mehrere Parteimitglieder vertreten. F¨ ur diese Arbeit wurden mit zwei Mitgliedern der LCP Experteninterviews gef¨ uhrt, denen von anderen Interviewpartnern zentrale Rollen in der Koalition und bei weiteren antikonfessionellen Aktivit¨aten der Protestwelle zugeschrieben wurden. Die Rollen dieser beiden interviewten Aktivisten in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren allerdings insofern ambivalent, als sie zwischen der Teilnahme von Parteimitgliedern als Partei” ” bzw. als Unabh¨angige” schwankten: ” Last year we were part of the Isq¯at. an-Niz.a¯m. I was an activist, at first as an individual, then as a party member, and now as an individual. [...] Of course it still exists, Isq¯at. an-Niz.a¯m, and we were a part of it, and I am still a part of it. (Experteninterview) c

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Einer der interviewten Aktivisten stellte die Ambivalenz der Beziehung zwischen der Koalition und der Partei heraus: I was one of a few people who represented the LCP. [KS: How did it work? Did the party elect you?] No. The movement itself decided that no political vielen F¨ allen in Unzufriedenheit mit dem politischen Konfessionalismus: Besides, the election figures do not represent actual party membership or even ” sympathy for party ideology. Part of the support is merely protest registered against the confessional sectarian system in government and society.” (Suleiman 1967: 74)

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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groups could join the movement. But it is a special case for us as LCP, because we already know the activists and they are already confident about us. They do not have worries, such fears of hijacking the movement, because we have long-established relations to those activists. So we know each other basically. (Experteninterview) Der zuletzt zitierte Interviewpartner betonte die Sonderstellung der LCP gegen¨ uber Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die sich von der Stellung anderer Parteien gegen¨ uber der Koalition grundlegend unterscheide. Als Grund f¨ ur diese Sonderstellung f¨ uhrt er die langj¨ahrigen und engen Beziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen s¨akularen Aktivisten und der LCP an und leitet hierdurch einen Vertrauensvorschuss ab, den die Organisatoren der Koalition seiner Partei entgegenbr¨achten. F¨ ur die großen Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı mobilisierte die LCP ihre Mitglieder und Anh¨anger massiv. Die Zahl der durch die LCP mobilisierten Aktivisten bei der gr¨oßten Demonstration der Protestwelle am 20. M¨arz 2011 wird auf 6.000 gesch¨atzt (Experteninterview), auch stellte die Partei Busse f¨ ur die Anreise von Demonstranten aus den libanesischen Provinzen zur Verf¨ ugung (Experteninterview mit einer LCP-Aktivistin). c

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Eine weitere traditionsreiche politische Partei, die im Zusammenhang mit der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı h¨aufig genannt wird, ist die Syrische Sozial-Nationalistische Partei (SSNP). Sie wurde 1932 gegr¨ undet und trug zun¨achst den Namen Syrische Na” tionalistische Partei” (Suleiman 1967: 93). Nachdem die Partei w¨ahrend der Mandatszeit und der Ersten Republik mehrfach verboten wurde, besitzt sie seit 1970 durchgehend einen legalen Status (vgl. Pipes 1988: 308). Zentrale Themen der SSNP sind ein großsyrischer Nationalismus, verbunden mit der u ¨berkonfessionellen nationalen Einheit aller Libanesen und Syrer, sowie die Trennung von Staat und Religion (vgl. Suleiman 1967: 108). Im Gegensatz zu den meisten anderen an der Protestwelle beteiligten Akteuren gilt die SSNP nicht als links, sondern es wird ihr eine N¨ahe zum Faschismus nachgesagt, insbesondere bezogen auf die Anfangsjahre der Partei (vgl. Suleiman 1967: 110ff.). Sie ist insofern als s¨akular einzustufen, als die Partei zum einen betont, die Konfessionen ihrer Mitglieder nicht zu kennen (vgl. Suleiman 1967: 100f.). Zum anderen beinhaltet die Parteiideologie ¨ des großsyrischen Nationalismus die Forderungen nach der Uberwindung konfessioneller Barrieren zwischen den Angeh¨origen der Nation und nach Nicht-Einmischung religi¨oser Institutionen in staatliche Angelegenheiten (vgl. Suleiman 1967: 108, 115). Anders als im Bezug zur LCP wurden in den f¨ ur diese Arbeit gef¨ uhrten Interviews und weiteren ausgewerteten Quellen allerdings keine Parteimitglieder pers¨onlich benannt, welche als Organisatoren der Protestwelle hervorgehobene Rollen gespielt h¨atten. Somit ist die tats¨achliche Rolle der SSNP bei der Organisation der Protestwelle deutlich weniger evident als die der LCP. Auch die ideologische und institutionelle Position der SSNP wurden von den interviewten Aktivisten deutlich kritischer gesehen. So ist umstritten, ob sie als s¨akular” ” einzuordnen ist: Die Partei ist dezidiert nicht religi¨os, aber sie ist Mitglied im politischen Block 8. M¨arz und somit ein Akteur in der Verh¨artung der politischen Lager, die von vielen Aktivisten der Protestwelle mit dem Konfessionalismus in Verbindung gebracht wurde.50 In diesem Zusammenhang galt es vielen Aktivisten zudem als unglaubw¨ urdig, wenn die SSNP zum Sturz des Systems” aufriefe. Da die Partei seit 1957 fast durchg¨angig ” c

50

Zur Mehrdeutigkeit der Begriffe Konfessionalismus”, Antikonfessionalismus” und ” ” S¨ akularismus” in politischen Debatten zum Libanon vgl. die Ausf¨ uhrungen in 2.1 und ” 5.1.

128

6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

in der Nationalversammlung vertreten war (vgl. Suleiman 1967: 98. 100; Mermier 2012: 204), seit 2005 Teil des 8. M¨arz ist und zur Zeit der Protestwelle in der Regierung Miqati (Juni 2011 bis M¨arz 2013) mit Staatsminister Ali Qanso einen Minister stellte, stufen einige der interviewten Aktivisten die SSNP als Teil des Systems ein. Verbunden mit dieser Einsch¨atzung sah ein interviewter Aktivist, der als Organisator an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und an La¨ıque Pride beteiligt war, die Rolle von SSNP-Mitgliedern in der Koalition als Agenten des 8. M¨arz: c

The role of the SSNP was very negative. They weren’t working on mobilization. They have a minister in the government and they are part of the political sectarian division. How can you be against the regime, how can you be calling to overthrow the regime and everything and you are part of the regime, you have a minister inside the government, you are part of the alliances. [...] From another way, they weren’t participating to mobilize people. Their activists weren’t mobilizing people, they were just participating in the troublemakers’ world, for example, they participated looking up for a single word that criticizes Syria, for example, or ciriticizes Iran, or criticizes the 8 of March. (Experteninterview) Diese Einsch¨atzung belegt, dass Parteimitglieder bei Aktivit¨aten der Koalition Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı anwesend waren. Sie trugen zur quantitativen Expansion der Protestwelle bei, konnten jedoch keine zentrale Rolle unter den Organisatoren einnehmen. c

Noch st¨arker umstritten ist, welche Rolle die Partei H . arakat Amal (kurz Amal, dt. Hoffnungsbewegung”) in der Expansion der Protestwelle und insbesondere in der Koali” tion Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı spielte. Amal ist eine Partei der schiitischen Gemeinschaft, die 1974, also kurz vor dem libanesischen B¨ urgerkrieg, gegr¨ undet wurde (vgl. ShaeryEisenlohr 2007: 278). Bis in die 1970er Jahre hinein war die schiitische Gemeinschaft, anders als etwa die maronitische und die sunnitische Gemeinschaft, nicht politisiert, sondern die politisch aktiven Schiiten im Libanon waren eher in arabisch-nationalistischen und/oder linken Organisationen engagiert. Die Gr¨ undung von Amal als politische Organisation der Schiiten stellt insofern einen Bruch mit der bis dahin g¨ ultigen Symbiose ” zwischen der schiitischen Gemeinschaft und den ideologischen Str¨omungen von Arabismus und Kommunismus” dar (Hazran 2010: 539). Trotz der Fokussierung auf die Schiiten enth¨alt die Programmatik von Amal s¨akulare Elemente: Amal ist zwar nicht s¨akular im Sinne von u ¨berkonfessionell”, sondern dezidiert schiitisch (Norton 1985: 113), wird aber ” dennoch als s¨akular” in dem Sinne eingestuft, dass ihre politischen Inhalte nicht reli” gi¨os und dabei kritisch gegen¨ uber dem Konfessionalismus sind (vgl. Norton 1985: 116). Die Selbstdarstellung als antikonfessionell und auch als nicht-islamistisch ist ein wichtiges Element der Abgrenzung Amals von der anderen großen schiitischen Partei des Libanon, der in den 1980er Jahren gegr¨ undeten Hisbollah, wie Shaery-Eisenlohr (2007) beschreibt: c

Amal positions itself as the Shi’i party that favors a multicultural and multisectarian Lebanon and that encourages coexistence but casts Hizbullah and the religious ruling elite in Iran as those in favor of an Islamic republic in Lebanon. (Shaery-Eisenlohr 2007: 280) Die Kontroverse um die Beteiligung von H.arakat Amal in der Protestwelle ¨ahnelt der Kontroverse um die Beteiligung der SSNP. Beide Parteien sehen sich mit zwei Vorw¨ urfen

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

129

konfrontiert: Zum einen k¨onnten sie als Vertreter des etablierten politischen Systems kein echtes Interesse an einem Systemwechsel haben, und seien somit auch nicht als s¨akular” ” einzuordnen, zum anderen seien ihre Bestrebungen nach Mitarbeit in Isq¯at. an-Niz.a¯m ur eigeat.-T.a¯ if¯ı ein Versuch gewesen, die Protestbewegung selbst zu u ¨bernehmen und f¨ ne Zwecke zu instrumentalisieren. Abgesehen von der Vergleichbarkeit dieser Vorw¨ urfe ist die Debatte um die Beteiligung von Amal durch gr¨oßere Emotionalit¨at gekennzeichnet. So wurde die Rolle von Amal in Experteninterviews und weiteren Quellen deutlich h¨aufiger als Konfliktpunkt angesprochen. Auch Amal entsandte Parteimitglieder zu Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı (Experteninterviews). Diese nahmen keine zentralen Rollen in der Organisation ein, sondern blieben im Hintergrund, und wurden von anderen Aktivisten misstrauisch beobachtet, wie ein in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Aktivist der ULDY beschrieb: c

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Amal was indirectly a part of Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. [...] The speaker of the parliament, Birri, voiced support for the movement, and some activists [...] said that he had a political interest from this. [. . . ] Basically they [Amal] did not take much part in the meetings, but their supporters had marched with us in more than one protest. [...] I mean, they assigned some representatives to attend those meetings that were held on a weekly basis. Most of them were unknown faces, I mean unfamiliar faces, I mean all the activists in the secular organizations know each other, and it is easy to identify... Those people seemed to have some hidden agenda in terms of not revealing their identities. So they were suspicious to most of the people, and this lead to a lack of confidence, or a gap of confidence between the activists. (Experteninterview) Das Vertrauen in Amal war also außerordentlich gering und die meisten Organisatoren der Protestwelle lehnten eine Zusammenarbeit mit der Partei ab. Neben der umstrittenen Beteiligung an Organisationstreffen a¨ußerte Amal in den Medien ¨offentlich Unterst¨ utzung f¨ ur die Protestaktivit¨aten. Dieser Aufruf zur Unterst¨ utzung des antikonfessionellen Aktivismus gewann dadurch an Bedeutung, dass er von Nabih Birri ge¨außert wurde, dem Vorsitzenden von Amal, der zugleich das Sprecheramt der Nationalversammlung innehat. Birri ist in st¨arkerem Maß eine ¨offentliche Person als Pers¨onlichkeiten der LCP oder der SSNP. Zugleich vertritt er als Parlamentssprecher eine Institution, die f¨ ur Gesetzesinitiativen zust¨andig ist, und ist somit der im formalpolitischen System vorgesehene Ansprechpartner f¨ ur diejenigen antikonfessionellen Akteure, deren Strategie das Einbringen von Gesetzesreformen beinhaltet. Trotz der sehr verbreiteten und deutlichen Kritik an der Rolle von H.arakat Amal unter den Organisatoren der Protestwelle finden sich auch antikonfessionelle Aktivisten, die Amal nicht misstrauen. Dies gilt beispielsweise f¨ ur einen langj¨ahrigen antikonfessionellen Aktivisten, die außerhalb von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı steht und in den 1990er Jahren an der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht beteiligt war (Experteninterview). c

Die vierte Partei, der eine relevante Rolle in der Protestwelle zugeschrieben wird, ist ˇ c b (dt. Volksbewegung”). Die Partei wurde im Jahr 2000 von ihrem VorH . arakat Sa ” sitzenden Najah Wakim und einer Reihe weiterer s¨akularer Aktivisten gegr¨ undet. Das ˇ c b als bewundernswerterweise Nachrichtenportal NOW Lebanon beschreibt H.arakat Sa ” eine der konfessionell diversesten Parteien im Libanon” (NOW Lebanon 04.07.2007). Die Partei kooperiert mit zahlreichen NGOs wie der CCER, dem Civil Society Movement und

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

der feministischen NGO Kafa (Experteninterview mit einem auch in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.T.a¯ if¯ı aktivem Mitglied der Partei). Sie war nie Mitglied in einem der politischen Bl¨ocke des 8. M¨arz und 14. M¨arz, stellt keinen Parlamentsabgeordneten und ist auch in keinen anderen Institutionen der staatlichen Politik vertreten. Als wichtigste Themen von ˇ c b nannte eine Aktivistin der Partei im Interview in einem allgemeineren Sinn H . arakat Sa den Widerstand gegen Israel51 , die aktuellen Themen im Jahr 2012 aber h¨atten in Entkonfessionalisierung des Wahlrechts und des Personenstandsrechts sowie der allgemeinen Teuerung bestanden. Der Parteivorsitzender Najah Wakim war allerdings jahrzehntelang Parlamentsabgeordneter. Bei den letzten Vorkriegswahlen 1972 wurde er als Kandidat der Nasseristischen Arbeiterunion in die Nationalversammlung gew¨ahlt (vgl. Petran 1987: 125). Auch bei den ersten Parlamentswahlen nach dem B¨ urgerkrieg 1992 und 1996 behielt Wakim sein Mandat. Im Vorfeld der Parlamentswahlen 2000 war er zun¨achst als Kandidat aufgestellt, zog aber seine Kandidatur zur¨ uck, um mit diesem Boykott gegen die deutliche Wahlmanipulation zu protestieren (vgl. Gambill und Nassif 2000). Bei den n¨achsten Wahlen 2005 und 2009 kandidierte er erneut, erreichte aber kein Mandat. Najah Wakim ist u ¨berzeugter Vertreter von arabischem Nationalismus und S¨akularismus und ein h¨aufiger Kritiker der libanesischen Eliten, der etwa in Publikationen korruptes Verhalten von Politikern anklagt und vor dem Krieg daf¨ ur in Haft war (vgl. NOW Lebanon 04.07.2007). Wakim selbst bezeichnet seine politische Haltung als gegen alles” (NOW Lebanon 04.07.2007), ” Beobachter beschrieben ihn als Radikalen” und Teil der Lumpenelite” (Dekmejian 1978) ” ” bzw. nach dem B¨ urgerkrieg auch als aufr¨ uhrerische Stimme, die sich f¨ ur Anliegen der ” Unterschicht einsetzt” (Salem 1998) und als einen der aufrichtigsten Linken des Libanon” ” (NOW Lebanon 04.07.2007). Obwohl Najah Wakim mit dieser politischen Biografie als s¨akularer und linker Oppositioneller eine gewisse Prominenz genießt, nannten interviewte Aktivisten als wichˇ c b52 . tigen Akteur der Protestwelle nicht namentlich ihn, sondern die Partei H.arakat Sa Ein Grund hierf¨ ur d¨ urfte sein, dass die Partei der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı R¨aumlichkeiten zur Verf¨ ugung stellte, in denen Organisationstreffen abgehalten wurden (Experteninterview). Zudem war das in der antikonfessionellen Protestwelle aktivste Parteimitglied nicht Wakim, sondern die S¨akularismus-Expertin der Partei, Rajaa Hachem. ˇ c b in den Koalitionen der Protestwelle, sowohl im Liq¯a c Alm¯an¯ı Sie vertrat H.arakat Sa als auch in in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. ˇ c b in der Protestwelle h¨aufig Interviewte Aktivisten besprachen die Rolle von H.arakat Sa im Kontext von Debatten u ¨ber die Rollen der verschiedenartigen Parteien im antikonfessionellen Aktivismus. Dabei stuften auch unabh¨angige Aktivisten die Teilnahme von ˇ c b an der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı nicht als problematisch ein, da H . arakat Sa ˇ c b weder Teil des formal-politischen Systems des Libanon ist noch Mitglied H . arakat Sa der politischen Lager des 8. M¨arz oder des 14. M¨arz. c

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Neben den diskutierten Parteien, die von Aktivisten und Beobachtern h¨aufig als Akteure der Protestwelle genannt wurden, sind weitere kleinere s¨akulare Parteien zu erw¨ahnen, 51

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ˇ c b kooperiere Dabei grenzte die interviewte Aktivistin sich explizit von Hisbollah ab: H. arakat Sa mit Hisbollah und solchen Kr¨ aften, aber f¨ ur den Widerstand, nicht f¨ ur Politik” (Experteninter” view). Im Gegensatz dazu sprachen interviewte Aktivisten bez¨ uglich der Partei Amal durchaus u ¨ber Aktivit¨ aten von Nabih Birri”, Aktivit¨ aten von Amal wurden also eher ihm pers¨onlich zugeordnet ” als der Partei.

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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die keine Beteiligung an Parlamentswahlen anstreben, sich aber dennoch nicht als NGOs, sondern als Parteien bezeichnen. So wurde 2008 von dem erfahrenen kommunistischen Aktivist Rashid Zaatari die Partei at-Taˇ gammuc ad-D¯ımuqr¯ at.¯ı gegr¨ undet (Experteninterview). Das Taˇgammuc D¯ımuqr¯at.¯ı war als Mitglied in der Koalition al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı direkt an der Protestwelle beteiligt. Eine weitere expliziert antikonfessionelle Partei, das New Order Movement, wurde w¨ahrend der Protestwelle gegr¨ undet. Ihr politisches Programm wurde im Mai 2011 in Kooperation mit zahlreichen Akteuren der Protestwelle herausgegeben und in einer Pressekonferenz vorgestellt, an der auch die s¨akularen Intellektuellen Ogarite Younan und Nasri Sayegh senior teilnahmen (vgl. Mroueh 05.05.2011), wobei die letztgenannten intellektuellen Pers¨onlichkeiten allerdings selbst keine Mitglieder des New Order Movement waren (Experteninterview). c

6.1.2 NGOs Unter den weiteren an der Protestwelle beteiligten Akteuren waren auch NGOs, wobei hiermit in der Regel solche Organisationen gemeint sind, die beh¨ordlich registriert sind und ein vergleichsweise hohes Maß an formalen Organisationsstrukturen aufweisen, deren Arbeit aber nicht in erster Linie durch angestelltes Personal geleistet wird, sondern durch Ehrenamtliche (s. oben in 6.1). Neben der Organisiertheit sprachen Aktivisten in Interviews eine Reihe weiterer Parameter an, die ihnen f¨ ur die Bewertung der einzelnen Gruppierungen wichtig waren. Dies sind die Fragen, ob aktiv neue Mitglieder geworben werden, ob F¨ordergelder bezogen werden und von welchen Gebern diese gegebenenfalls gezahlt werden, und ob es sich um lokale oder international angebundene Gruppen handelt. In den Experteninterviews betonten mehrere Aktivisten, dass internationale, international gef¨orderte sowie professionalisierte Gruppierungen keinen prominenten Platz in der Protestwelle hatten. Die an der Organisation der Protestwelle beteiligten NGOs waren also durchgehend lokal. ˇ ab adDie United Lebanese Democratic Youth (ULDY, ar. Ittih.¯ ad aˇ s-Sab¯ ” D¯ımuqr¯ at.¯ı al-Lubn¯ an¯ı”) ist die Jugendorganisation der Libanesischen Kommunistischen Partei, ist aber administrativ und finanziell von der Partei unabh¨angig und besitzt eine eigene Satzung (Experteninterview). Gegr¨ undet wurde ULDY im Jahr 1970 (vgl. ULDY 01.10.2013). Die erkl¨arten Hauptthemen von ULDY sind soziale Gerechtigkeit, Pal¨astina und S¨akularismus (Experteninterview). ULDY ist intern stark formal organisiert, so bestehen etwa Regionalgruppen und Hochschulgruppen sowie arbeitsteilige Strukturen, bei denen beispielsweise ein Aktivist w¨ahrend der Protestwelle f¨ ur Hochschulpolitik zust¨andig war (Experteninterview). Eine Sonderrolle in der Wahrnehmung der Gruppe nimmt Arabi Al Andari ein, der als Generalsekret¨ar seit 2005 die Strategie verfolgte, die Rekrutierung junger Mitglieder zu verst¨arken (Experteninterview). In der Protestwelle beteiligte sich ULDY sowohl an al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı als auch an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und kooperierte mit zahlreichen weiteren Aktivisten, etwa der NGO CHAML. c

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Eine lokale advocacy-NGO, in der S¨akularismus bzw. der Kampf gegen Konfessionalismus das prim¨are Thema darstellt, ist das Civil Society Movement (CSM, ar. Tayy¯ ar al-Muˇ gtamac al-Madan¯ı”). Das CSM pflegte bis zu dessen Tod im Dezem” ber 2015 eine enge Verbindung zu seinem Gr¨ under Gr´egoire Haddad, einem ehemaligen griechisch-katholischen Bischof, auf dessen Rolle f¨ ur den libanesischen Antikonfessionalismus unten in 6.1.3.2 n¨aher eingegangen wird. Das CSM ist hervorgegangen aus dem

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

ebenfalls von Gr´egoire Haddad gegr¨ undeten Mouvement Social, dessen Aktivit¨aten eher im Bereich charity als advocacy liegt. Die Aktivisten des CSM arbeiten in verschiedenen Projekten, unabh¨angig von aktuellen Protestwellen, seit der Gr¨ undung 2001 (formale Registrierung als NGO 2006) kontinuierlich am Thema S¨akularismus. Die Arbeit der Organisation ist relativ stark formal organisiert. So ordnet das CSM seine Aktivit¨aten explizit in vier Felder ein, n¨amlich Wahlrecht, Personenstandsrecht, Bildung und Politik (Experteninterview). Auch bekennt das CSM sich zu vier explizit formulierten Arbeitsprinzipien: Umfassender S¨akularismus, Demokratie und Staatsb¨ urgerschaft, Partizipation und Gewaltfreiheit. Die Organisationsstruktur ist formalisiert und beinhaltet zwei Arten von Mitgliedschaft ( Mitglieder” und Freunde”) sowie mehrere Gremien, darunter einen ” ” Vorstand. Alle Aktivit¨aten werden von Ehrenamtlichen geleistet, das CSM hat keine angestellten Mitarbeiter. Es versteht sich als Forum f¨ ur s¨akulare Aktivisten mit unterschiedlichen Hintergr¨ unden und Schwerpunkten, wobei das B¨ uro des CSM im Beiruter Stadtteil Badaro f¨ ur diese auch einen physischen Treffpunkt darstellt (Experteninterview). Das CSM unterh¨alt vielf¨altige langj¨ahrige Kooperationen mit anderen NGOs, Graswurzelorganisationen, Parteien und Unabh¨angigen. Auch in der Protestwelle kooperierte das CSM mit mehreren weiteren Bewegungsakteuren: So hielten das Netzwerk La¨ıque Pride und die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Vorbereitungstreffen im B¨ uro in Badaro ab und das CSM war als Gruppe in der Koalition al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı repr¨asentiert. Die andauernde Teilnahme des CSM als Organisation an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war allerdings besonders gegen Ende der Protestwelle intern umstritten. Eines der Projekte, welches vom CSM bereits vor der Protestwelle bearbeitet wurde, war ein Entwurf f¨ ur ein reformiertes, nichtkonfessionelles Personenstandsgesetz. Bei diesem Vorhaben ist eine gewisse Konkurrenz zu CHAML erkennbar, einer weiteren s¨akularen NGO. c

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ˇ ab Muw¯ CHAML (ar. Sab¯ at.in¯ un l¯ a-c Unf¯ıy¯ un l¯ a-T a if¯ıy¯ un”, auf englisch lau.¯ ” tet der Name, vom arabischen leicht abweichend, Non Sectarian Non Violent ” YOUTH Lebanese Citizens”) ist eine seit 2007 beh¨ordlich registrierte NGO. Es handelt sich um eigenst¨andige NGO, die zugleich organisatorisch unter dem Dach der gr¨oßeren NGO Lebanese Association for Civil Rights (LACR) angesiedelt ist. Die LACR wurde in den 1990er Jahren von Ogarite Younan und Walid Slaiby gegr¨ undet, die w¨ahrend des B¨ urgerkriegs in der s¨akularen Zivilgesellschaft aktiv waren und F¨ uhrungsrollen in der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht der 1990er Jahre innehatten (s. Abschnitte 5.2.3 und 6.1.3.2). Sie haben bis heute die F¨ uhrungsrollen in der LACR inne. Neben diesen engen personellen Verflechtungen nutzt CHAML auch die Infrastruktur der LACR, etwa ˇ deren R¨aumlichkeiten im Beiruter Stadtteil al-Gummayza und die Unterst¨ utzung durch deren Sekretariat. W¨ahrend aber die LACR ein breiteres Feld der B¨ urgerrechte bearbeitet, wurde CHAML von LACR-Aktivisten als thematisch fokussiertere NGO gegr¨ undet, die Antikonfessionalismus als großes Thema bereits in ihrem Namen tr¨agt53 . Ein wichtiges Thema von CHAML ist die Zivilehe. Die potenzielle Konkurrenz zum Civil Society Movement besteht darin, dass das Protestrepertoire von CHAML ebenfalls das Instrument des c

Dieser Fokus kristallisierte sich allerdings erst nach der Gr¨ undung heraus. So ist auf ¨alteren ˇ ab Muw¯ Brosch¨ uren der Name noch als Sab¯ at.in¯ un Lubn¯ an¯ıy¯ un l¯a-c Unf¯ıy¯ un” (dt. w¨ortlich junge ” ” gewaltfreie libanesische Staatsb¨ urger”) angegeben, w¨ ahrend auf neueren Publikationen wie den ˇ ab Muw¯at.in¯ Ausgaben von Naˇsrat ˇs¯ amil von 2009 der Name Sab¯ un l¯a-c Unf¯ıy¯ un l¯a-T.¯a if¯ıy¯ un” (dt. ” w¨ ortlich junge antikonfessionelle gewaltfreie Staatsb¨ urger”) lautet (s. CHAML 2009a,b,c). ” c

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6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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Gesetzentwurfs enth¨alt. Ein von mehreren interviewten Aktivisten, die selbst in anderen NGOs aktiv sind, hervorgehobener Unterschied hingegen besteht in der Organisationsform: CHAML erh¨alt F¨ordergelder internationaler Geber, unterscheidet sich hinsichtlich interner Organisationsstrukturen von den Prinzipien des CSM, und gilt mit Blick auf die Protestwelle 2010-2012 als weniger sichtbar. Auch der Secular Club der American University of Beirut (AUB) ist formal organisiert und kann daher im Rahmen dieser Arbeit als NGO eingeordnet werden. Studentische Clubs an der AUB werden von der Universit¨atsverwaltung kontrolliert und k¨onnen durchaus im Sinne von advocacy-NGOs politisch aktiv sein. Der Secular Club wurde 2008 gegr¨ undet und ist vor allem im Bereich von Informationsveranstaltungen, Konferenzen u.¨a. aktiv. Dabei ist S¨akularismus nicht das zentrale Thema des Clubs, sondern bildet eher den Hintergrund der Aktivit¨aten, so ein Gr¨ undungsmitglied des Clubs: We chose this name because this is what differentiates us. If we say human ” rights”, you have people for different kinds of topics who are with different parties, but we as people, we have this set of principles, what distinguishes us is that we are secular, we did not chose our beliefs based on sectarian belonging or any kind of communitarian background. (Experteninterview) Hier wird der Begriff s¨akular” wieder in der Bedeutung politisch unabh¨angig” ver” ” wendet. Auch das mission statement des Clubs betont diesen Aspekt: The Secular ” Club is an independent student organization that presents an alternative to the current politico-sectarian status quo.” (American University of Beirut o.J.) Dieses Verst¨andnis von s¨akular” als politisch unabh¨angig” spiegelt die politische Situation zur Zeit der Club” ” gr¨ undung, denn 2008 war die Verh¨artung der politischen Lager 8. M¨arz und 14. M¨arz weit vorangeschritten. In der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 war der Secular Club sehr pr¨asent. Er war beteiligt am Liq¯a c Alm¯an¯ı und an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und kooperierte mit La¨ıque Pride. Der Gr¨ under des Secular Club stieg zudem 2012 in das kleine Organisationsteam von La¨ıque Pride ein. c

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Eine weitere Gruppierung, das Sozialistisches Forum, ist formal organisiert, wurde aber zum Zeitpunkt der Protestwelle nicht als Partei eingestuft54 und wird daher an dieser Stelle ebenfalls den NGOs zugeordnet. Das Sozialistische Forum wurde im Jahr 2010 als trotzkistische Gruppe gegr¨ undet (vgl. Chit und Turkeyagenda 16.10.2014), wobei al” le Debatten und Aktivit¨aten” der Gruppe auch auf das Thema S¨akularismus bezogen wurden, wie ein interviewtes Gr¨ undungsmitglied berichtete. Das Sozialistische Forum ist Herausgeber der Online-Publikation Manˇsu ¯r” und der in gedruckter Form erscheinenden ” Zeitschrift at-Tawra ad-d¯ac ima”, in der auch die Analyse des Aktivisten Bassem Chit ”¯¯ u ¨ber den Verlauf der Protestwelle erschien (s. Chit 2012). Das Sozialistische Forum war als Organisation Mitglied der Koalition al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı, zudem beteiligten Mitglieder des Sozialistischen Forums sich als Organisatoren an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. c

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In einem im Mai 2012 gef¨ uhrten Interview dr¨ uckte eine Aktivistin im Experteninterview ihre Hoffnung aus, dass das Sozialistische Forum sich zu einer Partei entwickeln wird. In den folgenden Jahren kam es insofern zu einer Ver¨ anderung dieser Einordnung, als im Jahr 2016 im Rahmen von Debatten u akulare Kampagne zur Beiruter Kommunalwahl Beirut Madinati” das ¨ber die s¨ ” Sozialistische Forum als Partei eingestuft wurde (Elsady, El Khazen und Kobaissy o.D.).

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Einige weitere libanesische NGOs, die zuweilen mit antikonfessionellem Aktivismus assoziiert werden, z¨ahlen nicht zu den zentralen Akteuren der Protestwelle und werden daher in dieser Arbeit nicht gesondert ber¨ ucksichtigt. Der Vollst¨andigkeit halber sollen sie an dieser Stelle dennoch kurz erw¨ahnt werden: Die Lebanese Association for Democratic Elections (LADE) gilt seit ihrer Gr¨ undung 1996 als zentraler Akteur in Initiativen f¨ ur Wahlrechtsreformen und bei Wahlbeobachtungen. Sie setzt sich f¨ ur die Etablierung eines nichtkonfessionellen Wahlrechts ein. Dabei kooperiert LADE seit Mitte der 2000er Jahre mit weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen. F¨ ur viele zivilgesellschaftliche antikonfessionelle Aktivisten steht LADE f¨ ur enge Kooperation mit den staatlichen Institutionen (Experteninterview), zum einen, weil sie strategisch f¨ ur Reformen im System steht und nicht f¨ ur Systemwechsel, zum anderen, weil ihr Gr¨ undungsmitglied und fr¨ uherer Generalsekret¨ar Ziad Baroud von 2008 bis 2011 als Innenminister Teil der staatlichen Institutionen war. Die Civil Campaign for Electoral Reform (CCER) ist eine Dachorganisation von u ¨ber 50 libanesischen NGOs, die mit mehreren Leitungsgremien formal organisiert ist, F¨ordergelder von ausl¨andischen Institutionen erh¨alt und zwei hauptamtliche Angestellte hat. Sie kooperiert eng mit LADE und anderen antikonfessionellen Akteuren, bezieht jedoch in ihren eigenen Entw¨ urfen f¨ ur Wahlrechtsreformen zur Frage des politischen Konfessionalismus keine Stellung. Ihr zur Zeit der Protestwelle amtierender Koordinator Rony Al Assaad war allerdings selbst als s¨akularer Aktivist im Civil Society Movement aktiv. Die Agenda einer weiteren NGO, 05 Amam (dt. 05 Vorw¨ arts”, s. 5.2.4), war dezidiert antikon” fessionalistisch, aber die Gruppe hatte bereits vor 2010 ihre Aktivit¨aten eingestellt und war somit in der Protestwelle 2010-2012 nicht mehr pr¨asent. 6.1.3 Unabh¨angige Aktivisten Des Weiteren waren an der Protestwelle Einzelpersonen und lose strukturierte Gruppen beteiligt, also Akteure, die nicht oder kaum formal organisiert waren. Aktivisten bezeichnen diese Netzwerke und Personen als unabh¨angig”, so etwa ein interviewter Aktivist, ” der selbst in LCP und ULDY aktiv ist: The secular movement in Lebanon has never been [...] institutionalized, in a certain unified political group. It has too much of branches with a lot of civil society groups on one hand, political groups on the other hand, and between them a wide array of independent activists and bloggers. (Experteninterview) Den unabh¨angigen Aktivisten wird zudem zugeschrieben, der aktivste Teil” der Protest” welle zu sein (Experteninterview). Sie waren in der Protestwelle sehr sichtbar, insbesondere wenn man, wie der oben zitierte ULDY-Aktivist, der negativen Definition folgt, die alle Akteure außerhalb von Parteien und NGOs als unabh¨angig” definiert. Gemeint sind also ” Akteure, die nicht in NGOs nach dem oben skizzierten Verst¨andnis (beh¨ordlich registriert und relativ stark formal organisiert) oder in Parteien organisiert sind. Relevant f¨ ur die Verortung eines Protestakteurs als unabh¨angig” ist sowohl der Aspekt der finanziellen ” und politischen Unabh¨angigkeit von Parteien und NGOs als auch die Distanzierung von formalisierten Organisationsstrukturen. Zudem ist zu ber¨ ucksichtigen, dass einige Akteure zwar antikonfessionelle Meinungen artikulieren und auch innerhalb des Kontexts der Protestwelle agierten, sich aber von den Aktivisten der Protestwelle distanzieren. So betont die eine interviewte Comiczeichnerin, dass sie sich selbst nicht als Aktivistin sieht, auch wenn ihre Cartoons durchaus politisch und sozial kritisch sind:

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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I really believe that cartoons can make a change, because sometimes I write about issues, or I draw about them, and I meet people, and they tell me: Every time we see this we remember your cartoon about it, and we laugh.” ” So, it stays in the minds of people, and it makes them see things differently. [...] I also draw a lot on women’s rights, but I am not really an activist, because I do this for a personal belief. I am not part of an organization, I don’t go to the street. [...] I am not only an activist. [...] When I started my blog, I did not even think it was awareness-raising, I just wanted to have fun. (Experteninterview) Wenn das subjektive Kriterium der Selbstverortung ernst genommen wird, kann die Zeichnerin somit nicht unter die Aktivisten der Protestwelle gez¨ahlt werden, auch nicht in die Kategorie der Unabh¨angigen. Voraussetzung hierf¨ ur w¨are, sich selbst als Aktivist oder Aktivistin zu verstehen.55 Die durch dieses subjektive Kriterium der Selbstverortung definierte Kategorie der unabh¨angigen Aktivisten umfasst eine ganze Reihe unterschiedlicher Akteure. Dabei z¨ahlen zum weiten Feld der unabh¨angigen Aktivisten” (Experteninterview, s. oben) zahlreiche ” Personen, die zwar eindeutig als Teilnehmer oder sogar als Organisatoren zu klassifizieren sind, aber keine F¨ uhrungsrolle in der Protestwelle innehatten, sondern eher in der zwei” ten Reihe” beteiligt waren. Zu den unabh¨angigen Aktivisten z¨ahlen zudem zahlreiche Blogger, Journalisten, K¨ unstler und Intellektuelle. Zwei Typen unabh¨angiger Akteure in der Protestwelle waren auf der Ebene der Organisatoren besonders sichtbar und sollen daher im Folgenden gesondert betrachtet werden. Die sind zum einen Graswurzelorganisationen, die kollektiv, aber weitgehend informell organisiert waren (6.1.3.1), und zum anderen die ¨alteren, erfahrenen Intellektuellen (6.1.3.2). 6.1.3.1 Graswurzelorganisationen Einige Akteure der Protestwelle bestanden aus Gruppierungen, deren Mitglieder kollektiv handelten und die als Gruppe einen eigenen Namen f¨ uhrten, die aber nur einen sehr geringen formalen Organisationsgrad aufwiesen. Es handelt sich um Graswurzelorganisationen, also Gruppierungen mit einer relativ lose[n], informelle[n] und dezentrale[n] ” Struktur” (Rucht 1996: 188ff. s. auch Della Porta und Diani 2006: 145ff. 3.1.3). Zu den besonders sichtbaren Graswurzelorganisationen z¨ahlen die antikonfessionelle Gruppe La¨ıque Pride, das feministische Kollektiv Nasawiya und die Aktivistengruppe, die ein Protestzelt vor dem Innenministerium unterhielt. Die Akteure, die außerhalb solcher Netzwerke als Unabh¨angige aktiv waren, sind gerade wegen ihrer relativen Informalit¨at schwieriger zu identifizieren, denn sie erscheinen vereinzelt und teilweise ohne Anbindung an die sichtbareren kollektiven Gruppierungen. Daher soll hier zun¨achst auf die drei genannten Gruppen eingegangen werden. Die Gruppe La¨ıque Pride (der arabische Name lautete Mas¯ırat al-c Alm¯an¯ıy¯ın Nah.wa” l-Muw¯at.ana”, deutsch Marsch der S¨akularen in Richtung Staatsb¨ urgerschaft”) besteht ” 55

Die Selbstbezeichnung als Aktivist” bzw. im Arabischen als n¯ aˇsit.” ist unter mehreren Akteuren ” ” der Protestwelle kontrovers. Vor allem solche Personen, die sich von NGOs und Parteien distanzieren, zeigen diese Distanzierung auch darin, dass sie nicht als Aktivisten” bezeichnet werden ” m¨ ochten (Experteninterviews). Da diese Ablehnung der Bezeichnung als Aktivisten” sich auf die ” Abgrenzung von Parteien und NGOs bezieht, in dieser Arbeit aber der Begriff Aktivist” jegliche ” außerhalb der staatlichen Institutionen politisch Aktiven B¨ urger mit einschließt, wird der Begriff weiterhin verwendet.

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

aus f¨ unf bis sieben unabh¨angigen Aktivisten, die zwischen 2010 und 2012 j¨ahrliche M¨arsche gegen den Konfessionalismus organisierten. Die Gr¨ under der Gruppe waren bis zu dem Zeitpunkt nur wenig politisch aktiv gewesen und in der Regel außerhalb von organisierten Gruppen. Die Idee zum ersten Marsch entstand aus Protest gegen Kulturpolitik konfessioneller und religi¨oser Institutionen, wie einer der Initiatoren im Interview beschrieb: For example, the Hisbollah didn’t want Gad Elmaleh to come, a French humorist. They said he is a Zionist, and the Bayt ad-D¯ın Festival. . . Gad cancelled. [...] Second, at the same time, Hisbollah also, there was The Diary of Anne Frank that was taught in public schools. They were like: How can ” you teach our children about Jews?” And so they decided to take this out from the curriculum. The third shock came from the Christians, the Catholic committee of information, that decided that [a] rock festival was very bad – Satanism and drug apology – and [they] sent SMSs, and emailed all the parents [...] the European missionaries, those are the ones who called the parents to say: Don’t let your children go.” [...] At this point it was for me ” like: Enough, what the fuck is happening? All this religion and politics.” I ” posted an article [on Facebook] about the subject and I said: Extremism has ” no religion.” [. . . ] And a friend [...], he said: Fuck religious people. Let us ” explode all mosques and churches.” I said: Dear, there is another less violent ” message. Maybe a secular state.” [..] We said: Let’s do a walk and call it ” La¨ıque Pride’.” [. . . ] Two hours later, Said was very excited and created, ’ for fun, an event on Facebook. [...] With a [picture of a] fatt¯ uˇs [traditional Lebanese dish], it was bullshit, it was fun. [. . . ] Three days after that we were 3,000. And now, at that point, we were like: What the fuck, should we assume ” it is a joke?” And when we saw the 3,000, we were like: Ok, let’s fucking do ” this.” (Experteninterview, kursiv: im Original arabisch oder franz¨osisch, meine ¨ Ubersetzung, zur Gr¨ undungsgeschichte von La¨ıque Pride vgl. auch Mikdashi 2014a: 143f.) Die Veranstaltung war also zun¨achst in Form eines Facebook-Events” angelegt, dessen ” Unterst¨ utzung sich in der Zahl der virtuellen Teilnehmer zeigte. Die physische Teilnehmerzahl der ersten Veranstaltung La¨ıque Pride” im April 2010 lag bei 2.000 bis 3.000 ” Teilnehmern (s. 7.1.1). In der Vorbereitung hatten die Organisatoren mit zahlreichen weiteren s¨akularen zivilgesellschaftlichen Akteuren kooperiert und sich von ihnen beraten lassen, etwa von Aktivisten des CSM und von mehreren a¨lteren s¨akularen Intellektuellen. Dabei kooperierten nicht nur einzelne Aktivisten, sondern das CSM, der Secular Club der AUB und andere Akteure nahmen als Organisationen an dem Marsch teil (Experteninterviews). Die Organisatoren des La¨ıque Pride betonten allerdings ihre prinzipielle Eigenst¨andigkeit. Bis 2012 fanden zwei weitere M¨arsche statt, jeweils einmal im Jahr im April oder Mai. In den Zeitr¨aumen zwischen den Veranstaltungen hielt ein Großteil der Organisatoren sich im Ausland auf und die Gruppe La¨ıque Pride war bei Treffen antikonfessioneller Akteure im Libanon kaum pr¨asent. Andere Aktivisten der antikonfessionellen Protestwelle kritisierten die mangelnde Pr¨asenz von La¨ıque Pride. Die Gruppe selbst aber sah ihre Rolle dezidiert als Organisatoren eines Marsches im Jahr, ohne kontinuierlichen Aktivismus: They said: Our role as a part of the secular movement [is] to do a march eve” ry year, whereby each organization participates under its own title.” [...] Their

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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own job is to organize this yearly pride’, and that’s it. (Experteninterview mit ’ einem an der Organisation des La¨ıque Pride 2012 beteiligten Aktivisten) Organisatoren des La¨ıque Pride nahmen allerdings an den Demonstrationen der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı in der ersten Jahresh¨alfte 2011 teil, wobei die Gruppe La¨ıque Pride selbst sich nicht Teil der Koalition verstand (vgl. Fanoos 2011). c

Die feministische Gruppe Nasawiya (Nasaw¯ıya, dt. Feminismus”) kooperierte so” wohl mit La¨ıque Pride als auch mit Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Nasawiya wurde im Jahr 2010 gegr¨ undet, sie besteht aus einer Anzahl junger Aktivistinnen sowie einigen jungen m¨annlichen Aktivisten (vgl. Yasmine und Hatem 29.07.2013). Die Gruppe ist beh¨ordlich registriert, um F¨ordergelder beantragen und R¨aumlichkeiten anmieten zu k¨onnen, aber die beteiligten Aktivistinnen bezeichnen Nasawiya explizit nicht als NGO, sondern als Graswurzel-Kollektiv” (Experteninterviews) bzw. als organisiertes Kollektiv” ((Nasa” ” wiya o.D.[b])). Dieses Selbstverst¨andnis wird auf der Facebook-Seite explizit erl¨autert: c

At Nasawiya, we do not have a traditional NGO structure of boards, staff, and volunteers. We are a member-driven collective where everyone is equal and in support of each other’s activism. We believe that we are stronger together. ((Nasawiya o.D.[a])) Obwohl das Kernthema der Gruppe nicht in S¨akularismus oder Antikonfessionalismus besteht, sondern in Feminismus, wird Nasawiya h¨aufig als wichtiger Akteur der antikonfessionellen Protestwelle genannt (Experteninterviews). Das Thema trat w¨ahrend der Protestwelle verst¨arkt in den Fokus der Aktivistinnen, wie ein Mitglied von Nasawiya im Interview erl¨auterte: c

[KS: Was Nasawiya part of Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı?] There was not a decision, there were members. [...] Now Nasawiya is more and more engaged in movements and groups that are working on secularism. Last year, as Nasawiya, we did not have this decision to participate. But now more and more we are realizing that we need to infiltrate the movements for secularism to have them have this feminist perspective. [...] We are realizing the importance of being part of a growing movement around several issues related to secularism, social justice, racism, everything. ¨ Die Außerungen der interviewten Aktivistin zeigen die Dynamik von Protestthemen sogar bei Akteuren, deren inhaltliche Ausrichtung eigentlich klar definiert ist. Sie verdeutlichen zudem, dass die diskursive Verbindung zwischen den Rahmungen Feminismus und S¨akularismus sich im Aktivismus von Nasawiya im Verlauf der Protestwelle sukzessive entwickelte. Die Gruppe von Aktivisten, die von M¨arz bis Mai 2011 ein Protestzelt vor dem Innenministerium mit zahlreichen Rahmenaktivit¨aten unterhielt, ist nicht formal organisiert. Initiatoren des Zelts waren zwei junge Aktivisten. Einer von ihnen, der zugleich Mitglied in der LCP und in ULDY ist, beschrieb im Experteninterview die Spontaneit¨at der Aktion: [KS: How did it start?] We were chatting, me and my friend, after the Egyptian and Tunisian revolution. [. . . ] We decided that to start some kind

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

of revolution, we should interact with people, more than doing meetings and meetings and offices, like the Civil Society Movement and stuff, I don’t believe in these actions. I believe that these actions are important, but not the most important. [...] People are not motivated by other people doing only meetings. You should be with people. [. . . ] There is a lot of youth who came to us, and they did not know anything about secular and sectarian system, and we were doing workshops there, and lots of them stayed with us. [KS: How did you find the other people who stayed at the tent? [...]] We posted on facebook, and emails, and sms, and we had a meeting before the night, and there is a lot of youth who were like: Yeah, let’s do it”. [. . . ] We were arguing: Please, ” ” go, and you, stay, and tomorrow you’ll stay and he’ll go”. [. . . ] There were six activists in the tent. [...] And many people coming and going. It was in Beirut, so there were a lot of people coming and going. (Experteninterview) Der zitierte Aktivist versteht sich selbst nicht als unabh¨angig, sondern in erster Linie als in der LCP organisierter Kommunist, aber als Initiator des Protestzelts handelte er als unabh¨angiger Aktivist. In diesem Sinn betont er im oben stehenden Zitat die Unabh¨angigkeit der an dem Zelt beteiligten Aktivisten von Treffen und B¨ uros”, denen er Revolution”, ” ” Interaktion” und N¨ahe zu den Leuten” gegen¨ uberstellt. Entsprechend war das Vorge” ” hen der Aktivisten rund um das Zelt von einer informellen ad hoc-Organisationsweise gekennzeichnet. Trotz der im Zitat exemplarisch dargestellten grunds¨atzlichen Kritik an st¨arker formalisierten Organisationen bestanden mehrere lose Kooperationen mit erfahrenen und etablierten Bewegungsakteuren. Des Weiteren waren unter den Aktivisten rund um das Protestzelt viele junge Leute, die in diesem Zusammenhang erstmals politisch aktiv waren. Sowohl die etablierten Bewegungsakteure als auch die jungen, unerfahrenen Aktivisten trugen zu den vielf¨altigen Aktionen am Zelt bei, die das Verteilen von Flugbl¨attern an Autofahrer, die vor dem Zelt im t¨aglichen Stau standen, ebenso umfassten wie Workshops, Vortr¨age, Konzerte und Kunstaktionen (s. 7.1). Nach einer mehrw¨ochigen Phase von solchem lebendigen Aktivismus wurde in der Transformationsphase der Protestwelle das Zelt wieder abgebaut und die Gruppe l¨oste sich auf. 6.1.3.2 Intellektuelle Pers¨onlichkeiten Unter den unabh¨angigen Aktivisten waren zudem ¨altere, erfahrene s¨akulare Intellektuelle, die aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrads als Prominente bezeichnet werden k¨onnen. Diese arbeiten nicht zwangsl¨aufig außerhalb von NGOs, sind aber innerhalb ihrer jeweiligen Organisationen derart prominent, dass in den f¨ ur diese Arbeit durchgef¨ uhrten Experteninterviews wie auch in Medienberichten zun¨achst die Personen namentlich genannt werden und die Organisationen h¨ochstens an untergeordneter Stelle56 . Die in den Experteninterviews mit Abstand am h¨aufigsten erw¨ahnten prominenten intellektuellen 56

In Interviews wurden auch weitere Personen als Akteure der antikonfessionellen Protestwelle 20102012 namentlich genannt, etwa Arabi Al Andari, Bassel Abdallah und Bassem Chit. Diese werden hier dennoch nicht als unabh¨ angige intellektuelle Pers¨ onlichkeiten behandelt, sondern als Vertreter von kollektiven Akteuren. Diese Abgrenzung ist zum einen darin begr¨ undet, dass sie prim¨ar als Vertreter ihrer Gruppierungen (ULDY, Civil Society Movement, Sozialistisches Forum) agierten. Zum anderen geh¨ oren sie einer anderen politischen Generation an, denn sie sind j¨ unger als die hier vorgestellten ¨ alteren Intellektuellen, waren also im B¨ urgerkrieg noch nicht aktiv, und haben daher nicht den Status der verehrten Prominenten inne, die von j¨ ungeren Aktivisten als Berater angefragt werden.

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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Pers¨onlichkeiten, denen die interviewten Aktivisten zentrale Rollen im libanesischen antikonfessionellen Aktivismus zuschrieben, sind Nasri Sayegh senior, Gr´egoire Haddad, Ogarite Younan und Talal Husseini. Nasri Sayegh senior ist stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung as-Saf¯ır. Er ist der Vater von Nasri Sayegh junior, der als Organisator am ersten Marsch von La¨ıque Pride beteiligt war. Nasri Sayegh senior ist Autor zahlreicher Artikel und einiger B¨ ucher u ¨ber den politischen Konfessionalismus, in denen er die Entkonfessionalisierung des libanesischen politischen Systems fordert. In seinem als Monographie erschienenen Essay Lastu lubn¯an¯ıyan bac d” (dt. Ich bin noch kein Libanese”, Sayegh 2007b) legt Nasri ” ” ¨ Sayegh seine Uberzeugung dar, wonach der libanesische Staat s¨akulare bzw. konfessionslose Staatsb¨ urger nicht anerkenne, und dass er selbst als s¨akularer Libanese sich daher nicht durch die formal-staatlichen Institutionen repr¨asentiert f¨ uhle. Als Aktivist war er unter anderem Leiter der Maison la¨ıque”, einem von einer NGO gegr¨ undeten s¨akularen ” Begegnungszentrum im Beiruter Stadtteil al-H.amr¯a , das von 2008 an f¨ ur einige Zeit aktiv war, aber bereits bis zum Beginn der Protestwelle wieder geschlossen war (s. 5.2.4). Nasri Sayegh betont sowohl mit Bezug auf die Maison la¨ıque als auch mit Bezug auf die Protestwelle 2010-2012, dass er selbst keine Initiative zum zivilgesellschaftlichen Aktivismus mehr ergreife, sondern das Feld einer j¨ ungeren Generation u ¨berlasse, Einladungen von Aktivisten aber regelm¨aßig annehme: c

Je suis avec la jeunesse. Mais je leur cache ce que j’ai dans la tˆete. La solution du Liban est une solution r´egionale. On arrivera jamais a` un ´etat d´emocratique – un ´etat, pas plusieurs ´etats, nous somme plusieurs ´etats. [...] Je leur dit: Voil`a. [..] C’est a` vous maintenant de me dicter ce qu’il faut faire. ” C’est a` vous de cr´eer vos pas, de d´ecider vos chemins de la¨ıcit´e, du progr`es, du modernisme , de l’art, de l’´ecriture, de tous ce qui est cr´eatif. Ce n’est pas a` moi de dire un mot avant que vous commenciez vous-mˆeme. [...] Et c’est a` vous de d´ecider. Je ne suis rien. Je suis avec vous”. (Experteninterview mit Nasri Sayegh senior) In der Protestwelle nahm Nasri Sayegh an Demonstrationen und M¨arschen teil, thematisierte den Aktivismus in Artikeln und hielt Vortr¨age vor Aktivisten, etwa im Rahmen der Organisationstreffen der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. F¨ ur diesen Vortrag hatten Aktivisten der Koalition ihn zu Beginn der Kontraktionsphase der Protestwelle angefragt, um den R¨ uckgang der Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen zu erkl¨aren. Die Rolle von Nasri Sayegh senior als Akteur der Protestwelle ist demnach die eines f¨ uhrenden Intellektuellen und Beraters f¨ ur die Aktivisten. c

Der ehemalige Bischof Gr´ egoire Haddad war bis zu seinem Tod im Dezember 2015 einer der prominentesten und etabliertesten Akteure des libanesischen Antikonfessionalismus. Zu seinen antikonfessionellen Aktivit¨aten (s. 5.2) z¨ahlen die Gr¨ undung des Mouvement Social im Jahr 1956, die Gr¨ undung des Tayy¯ar c Alm¯an¯ı im Jahr 1980 (vgl. Im Fall von Bassem Chit gelten diese Erl¨ auterungen f¨ ur den Untersuchungszeitraum 20102012, wenngleich nach seinem fr¨ uhen Tod (Oktober 2014) die pers¨onliche Verehrung f¨ ur ihn als Aktivist und Intellektueller weiter anstieg (s. Haugbolle 2016) und er als mittlerweile als herausragende Pers¨ onlichkeit so sichtbar ist, dass ein Stipendienprogramm f¨ ur Aktivismusstudien nach ihm benannt wurde (Lebanon Support 2018).

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Zalzal 1997: 37), die Initiative f¨ ur die Gr¨ undung der St¨andigen Konferenz der libanesischen S¨akularen ebenfalls w¨ahrend der B¨ urgerkriegsjahre und des Liq¯a c Alm¯an¯ı im Jahr 2010, die Gr¨ undung des Civil Society Movement im Jahr 2000, die Herausgabe mehrerer ¯ aq in der Vorkriegszeit und der Monographie s¨akularer Publikationen wie der Zeitung Af¯ al-c Alm¯an¯ıya aˇs-ˇs¯amila” (dt. Die umfassende S¨akularit¨at”, Haddad 2005) sowie die Be” ” teiligung an der Initiative zur Streichung der Konfession aus dem Zivilregister (s. 7.2). Gr´egoire Haddad wurde zuweilen als roter Bischof” bezeichnet (z.B. Haddad und NOW ” Lebanon 2009; Henoud 2010) und war bereits w¨ahrend seiner Amtszeit als griechischkatholischer Erzbischof von Beirut und Byblos bekannt f¨ ur sein soziales Engagement und ¯ aq in den 1970er seine Kirchenkritik. In Folge seiner ausgesprochen kritischen Artikel in Af¯ Jahren trat er auf Druck des Vatikans hin von seinem Bischofsamt zur¨ uck (vgl. Traboulsi 2007: 79; el Khazen 2000: 177), wobei es nach Einsch¨atzung von Traboulsi (2007: 177) nur seiner Popularit¨at zu verdanken war, dass er nicht auch exkommuniziert wurde. Mehrere interviewte Aktivisten des Civil Society Movement berichteten, dass f¨ ur sie ¨offentliche Auftritte von Haddad der Anlass waren, sich mit s¨akularem Aktivismus zu befassen: c

I am a secular person, but I am a believer. [...] So, I was active also in a religious movement. And I don’t consider that a conflict. [...] And I managed to create a movement between several religious groups from different religions. And I was active there for two or three years. And a person from another religion told me: You don’t know Gr´egoire [Haddad]?” I said: No.” And he ” ” said: Go with me and visit him.” And I went with him and visited him, and ” Gr´egoire told me: There is a workshop on secularism next week. Do you want ” to participate?” I said: Ok, why not”. (Experteninterview) ” I watched [...] Gr´egoire [Haddad] on TV and I was really shocked to hear from a religious man something talking about secularism. So I was excited to meet this man or to know more about the CSM. They were organizing a workshop regarding secularism in Lebanon. So I attended this workshop, it was in Bikfaya, for two days, a weekend, and I started my work. (Experteninterview) Bis ins hohe Alter (und bis kurz vor seinem Tod) beteiligte sich der mittlerweile weitgehend bettl¨agrige Gr´egoire Haddad weiterhin am antikonfessionellen Aktivismus. Treffen von Aktivisten des Civil Society Movement fanden bisweilen in seinem Zimmer um sein Bett herum statt, er unterhielt eine Facebook-Seite, die ebenfalls von Mitgliedern des CSM gepflegt wurde, und er absolvierte gelegentlich o¨ffentliche Auftritte (s. z.B. American University of Beirut - News 2011). In der Protestwelle 2010-2012 nahm er im Rollstuhl an mehreren Demonstrationen teil und hatte eine beratende Rolle vor allem f¨ ur das Civil Society Movement sowie, dar¨ uber vermittelt, f¨ ur die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı inne. Er ¨außerte er sich u ¨ber die verschiedenen an der Protestwelle beteiligten Akteure durchaus positiv (Experteninterview), kommentierte aber insbesondere w¨ahrend der Kontraktionsphase der Protestwelle die Forderungen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı allerdings auch sehr kritisch, etwa im Rahmen einer Rede an der American University of Beirut: c

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It is better to gradually change the Lebanese political system instead of toppling the regime because such calls have only caused violence as we have seen in many Arab countries in the region [...]. (American University of Beirut - News 2011)

6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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Eine weitere seit Jahrzehnten im antikonfessionellen Aktivismus erfahrene und h¨aufig als zentrale Pers¨onlichkeit in diesem Aktivismus genannte Aktivistin ist Ogarite Younan, die u.a. gemeinsam mit ihrem Partner Walid Slaiby die NGO Lebanese Association for Civil Rights gr¨ undete, aus der CHAML hervorging. Ogarite Younan ist seit den 1980er Jahren Aktivistin gegen Konfessionalismus und gegen Gewalt und war an mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen den B¨ urgerkrieg beteiligt, etwa an der Anfang der 1980er Jahre von Gr´egoire Haddad initiierten St¨andigen Konferenz der libanesischen S¨akularen. Sie ist Autorin mehrerer Studien u ucher, Gewalt ¨ber konfessionalistische Bildung, Schulb¨ und Gewaltfreiheit, Zivilehe und andere Themen, die allerdings kaum ver¨offentlicht wurden (Experteninterview). Hingegen hat sie, großteils im Rahmen ihrer NGO LACR, zu den Themen ihrer Studien zahlreiche Trainings und Workshops mit Jugendlichen abgehalten. Ein w¨ahrend der Protestwelle aktuelles antikonfessionelles Projekt ist ihre Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsgesetz. Die Kampagne, an der u ¨ber 50 weitere libanesische NGOs beteiligt sind, wird von CHAML gef¨ uhrt und formal von Walid Slaiby koordiniert, wobei dennoch Ogarite Younan eine f¨ uhrende Rolle einnimmt, die sich sowohl auf den inhaltlichen Aspekt der Formulierung des Gesetzentwurfs als auch auf die Rolle als Trainerin f¨ ur die jungen Aktivisten bezieht (Experteninterview). Die Kampagne f¨ ur den Gesetzentwurf lief bereits vor 2010 an und wurde w¨ahrend der Protestwelle fortgef¨ uhrt, wobei es allerdings kaum zu Kooperationen mit den Akteuren kam, welche die gr¨oßten und sichtbarsten Aktionen der Protestwelle organisierten, also Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und La¨ıque Pride. Als Reaktion auf die Expansion der Protestwelle hielt Ogarite Younan allerdings eine Pressekonferenz ab, in der sie u ¨ber ihre laufende Kampagne zum zivilen Personenstandsrecht informierte, ebenso wurden die oben (s. 6.1.2) beschriebenen Aktionen von CHAML weitergef¨ uhrt. c

Ein weiterer erfahrener Intellektueller, dem eine wichtige Rolle im antikonfessionellen Aktivismus zur Zeit der Protestwelle zugeschrieben wird, ist Talal Husseini. Der Bruder des fr¨ uheren Parlamentssprechers und Amal-Politikers Hussein Husseini war die F¨ uhrungsfigur der Initiativen f¨ ur die Streichung der Konfession aus dem Zivilregister 2009 und die zivile Eheschließung auf libanesischem Boden 2013 (s. 7.2). Den organisatorischen Rahmen dieser Initiativen bildete die von ihm gegr¨ undete NGO al-Markaz al-Madan¯ı Li” l-Mub¯adara al-Wat.an¯ıya” (Civil Center for National Initiative, gegr¨ undet 2008). W¨ahrend Talal Husseini in diesen Initiativen einerseits mit Pers¨onlichkeiten wie Nasri Sayegh und Gr´egoire Haddad und NGOs wie dem Civil Society Movement eng kooperiert, umfasst das Markaz Madan¯ı auch weitere prominente Libanesen als Mitglieder der nationalen ” Kommission”, also protokollarische Mitglieder, etwa Najib Miqati, Farid el Khazen und Ghassan Tueni (Experteninterview). Obwohl er ausgebildeter Literaturwissenschaftler ist, besteht eine zentrale Methode seiner Aktivit¨aten im Erstellen juristischer Gutachten. Damit grenzt Talal Husseini sich von ¨ dem an der Schaffung von Offentlichkeit orientierten Aktivismus der meisten Akteure der Protestwelle ab (Experteninterview). Ebenso grenzt er sich von deren Forderung nach S¨akularismus” ab und bevorzugt den Begriff Zivilit¨at” (madan¯ıya). Diese Abgrenzun” ” gen betonen seine hervorgehobene Position f¨ ur den antikonfessionellen Aktivismus, weisen aber zugleich auf Br¨ uche zwischen seinen Aktivit¨aten und den Aktivit¨aten der meisten Aktivisten hin. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Intellektuellen sind zweifelsohne als individuelle

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Pers¨onlichkeiten zentrale Akteure im Gef¨ uge des antikonfessionellen Aktivismus. Dennoch sind sie entweder direkt in kollektive Organisationen eingebunden oder kooperieren sehr eng mit solchen Organisationen. Die Ambivalenz, mit der die erfahrenen Intellektuellen zum einen als Individuen auftreten und zum anderen im Rahmen von NGOs, beschrieb ein interviewter ULDY-Aktivist, als er u ¨ber die Akteure der Protestwelle sprach: And there are the individuals. Like, I would say, Talal Husseini. There is a thing that started with them. It was about erasing the sect from the civil register. It was more a center thing, or like an NGO thing, or individual thing. I don’t know how to describe it, but there are this kind of initiatives. Like the Markaz al-Madan¯ı [. . . ]. Sometimes there has been a role for a certain person, like Ogarite Younan, as a person she played a role. But she made something called CHAML and before that some other thing [LACR]. Like Talal Husseini, as a person he played a role, but he did it within this center, Markaz al-Madan¯ı. But individual, as one person, who stayed as a person, this has not really happened. (Experteninterview) Die Abgrenzung zwischen formal organisierten Akteuren einerseits und unabh¨angigen Aktivisten andererseits verl¨auft an dieser Stelle unscharf: Die erfahrenen Intellektuellen sind als Pers¨onlichkeiten Akteure des Aktivismus, w¨ahrend sie zugleich in NGOs aktiv sind, also im Rahmen eines formal organisierten kollektiven Akteurs. Allerdings bleiben diese Pers¨onlichkeiten auch im Rahmen des kollektiven Akteurs sichtbar, in den Worten des oben zitierten Aktivisten als eine Person, die als eine Person blieb”. Dies betonen ” auch Aktivisten, die sich in Interviews u ¨ber die jeweiligen NGOs a¨ußern: La campagne pour la loi [dans les ann´ees quatre-vingt-dix], c’´etait d’abord une r´eunion ad hoc de plusieurs organisations, ensuite c’´etait l’association d’Ogarite Younan et Wali Slaiby. (Experteninterview) [Secular people before 2005] were fewer than now. [...] We didn’t have this number of NGOs, we only had Gr´egoire Haddad with a group of friends who later formed what is now called the Civil Society Movement. (Experteninterview) 6.1.4 Koalitionen Unter den antikonfessionellen Parteien, NGOs und Unabh¨angigen bildeten sich im Verlauf der Protestwelle Koalitionen, die teilweise als selbstst¨andige Akteure auftraten, auch wenn die einzelnen Mitglieder der Koalition ihre Autonomie und Sichtbarkeit beibehielten. Die zentralen Koalitionen werden in diesem Kapitel betrachtet. Dabei ist Koalition” nur einer von mehreren Begriffen, mit denen Aktivisten die ge” nannten Akteursgruppen bezeichnen. So verwenden Aktivisten im Zusammenhang mit Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı auf Englisch den Begriff coalition” ” (Experteninterview). Coalition” wird auch mit Bezug auf weitere Akteure verwendet, ” etwa bezogen auf die B¨ undnisse f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990ern, f¨ ur Wahlbeobachtung 2005 oder f¨ ur die Vererbung der Staatsb¨ urgerschaft durch Frauen, aber auch auf die Parteib¨ undnisse 8. und 14. M¨arz (Experteninterviews). Der Terminus coali” tion” betont, dass es sich um eine Kooperation zwischen mehreren bereits unabh¨angig voneinander existierenden Akteuren handelt. c

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6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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Andererseits wird Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı auch auf Englisch als movement” (Exper” teninterviews) und analog dazu auf Arabisch als h.ir¯ak ” bezeichnet (Experteninterviews). ” Durch diese Konzeptualisierung als Bewegung” wird die aktive Rolle von Isq¯at. an-Niz.a¯m ” at.-T.a¯ if¯ı in der Protestwelle in den Vordergrund gestellt: Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı wird als einheitlicher Akteur gesehen, w¨ahrend das Moment der Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteuren im Hintergrund steht. Dies best¨atigt sich darin, dass mit h.ir¯ ak ” auch ” die gesamte Protestwelle bzw. sogar jegliches Auftreten einer s¨akularen sozialen Bewegung gemeint sein kann, so etwa in der Begriffsverwendung eines interviewten Aktivisten: c

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Vor zwei oder drei Jahren gab es keine s¨akulare politische Bewegung [. . . ]. Ich habe gesagt: Wir sind nicht die Bewegung, wir sind die Aktivisten und ” nicht die Bewegung, denn die Bewegung sind die Leute, die 25.000 Personen, die auf die Straße gegangen sind [. . . ]”. (Experteninterview, im Original ara¨ bisch, meine Ubersetzung) c

Des Weiteren bezeichnen einige Aktivisten Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als Kampagne” ” (engl. campaign”, Experteninterviews), womit anstatt der Struktur des Akteurs eher sei” c ne Aktionen im Vordergrund stehen. Al-Liq¯a al- Alm¯an¯ı hingegen wird als Plattform” ” (engl. platform, Experteninterview) und als einheitlicher Rahmen” (ar. it.¯ ar w¯ ah.ad ”, Ex” ” perteninterview) bezeichnet, wodurch das Moment des kooperierenden Zusammenschlusses zwischen unterschiedlichen Bewegungsakteuren noch st¨arker herausgestellt wird. Da an dieser Stelle die Akteursebene im Zentrum steht, sind bez¨ uglich al-Liq¯a alc Alm¯an¯ı und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı die Aspekte des Zusammenschlusses von Interesse. Daher werden Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı hier als Koalitionen” ” bezeichnet. Dies geschieht zudem unter Ankn¨ upfung an die Begriffsverwendung in der einschl¨agigen Theorie, in der ebenfalls der Terminus Koalition” (bzw. engl. coalition) ” verwendet wird: Harders (2011: 15) illustriert das Auftreten solcher netzwerkf¨ormige[n] ” Organisierung von Koalitionen” speziell im Kontext des Arabischen Fr¨ uhlings” in der ” ersten Jahresh¨alfte 2011. Meyer und Whittier (1994) stellen fest, dass organisatorische ” Koalitionen” nicht nur zwischen verschiedenen Akteuren innerhalb einer einzigen Bewegung existieren, sondern dass Bewegungsakteure auch Koalitionen mit Akteuren aus anderen Bewegungen bilden, auch wenn die Bewegungen eigentlich getrennt voneinander operieren. c

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Die beiden zentralen Koalitionen, die in der hier untersuchten Protestwelle aus solchen Kooperationen hervorgingen, sind al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Al-Liq¯ a al-c Alm¯ an¯ı (Das s¨ akulare Treffen) hatte in der Protestwelle eine zentrale Rolle inne, u uhrung und war nach außen nicht sonderlich sicht¨bernahm aber nicht die F¨ bar. Die Koalition entstand als Reaktion auf den ersten La¨ıque Pride, wie eine Aktivistin des CSM beschrieb: c

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We helped a little about the preparation [of the first La¨ıque Pride], and we participated. And after this, many parties and NGOs were starting to think: Why not do a sort of platform, and to meet?” And these meetings took ” place here [at the office of the Civil Society Movement]. [...] How to spread secularism, how to make this march bigger, and make people participate more. (Experteninterview)

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Die durch La¨ıque Pride generierte ¨offentliche Aufmerksamkeit f¨ ur den Antikonfessionalismus wollten also mehrere Akteure, die sich bereits seit l¨angerer Zeit gegen den Konfessionalismus engagierten, f¨ ur weitere Aktivit¨aten nutzen. Das Liq¯a c Alm¯an¯ı ver¨offentlichte eine mit einfachen Mitteln hergestellte Publikation mit Artikeln bekannter s¨akularer Aktivisten und Intellektueller, die konzipiert war als erste Nummer eines Periodikums mit dem Titel Lubn¯an c alm¯an¯ı” (dt. Ein s¨akularer Libanon”, o.A. 2010a). Darin werden als zum ” ” Erscheinungsdatum aktuelle Mitglieder der Koalition sieben Parteien und NGOs aufgeˇ c b, LCP, ULDY, at-Taˇgammuc ad-D¯ımuqr¯at.¯ı, das listet, namentlich das CSM, H.arakat Sa Sozialistische Forum und der Secular Club der AUB (vgl. o.A. 2010a: 8; s. auch AbiYaghi und Catusse 2014: 255). Zudem nahmen an weiteren Treffen der Koalition unabh¨angige Aktivisten sowie Vertreter von CHAML, Nasawiya und weiteren NGOs teil (vgl. o.A. 2010b). Die Koalition plante eine Veranstaltungsreihe zum Thema S¨akularismus, die rund um den f¨ ur Fr¨ uhling 2011 geplanten zweiten La¨ıque Pride stattfinden sollte. Im Laufe der Vorbereitungen wurde die Koalition von den Ereignissen des Arabischen Fr¨ uhlings” und ” dem Anstieg von Aktivit¨aten gegen den libanesischen Konfessionalismus u ¨berrascht: c

This Liq¯a c Alm¯an¯ı, we were preparing for a series of conferences, before the date of the second La¨ıque Pride, which we were expecting to take place in April. So now we are talking about January. [...] But then something happened. What happened was revolutions [in Tunisia and Egypt]. (Experteninterview) c

In der Folge beteiligten sich Aktivisten von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı an der Gr¨ undung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Seit der Etablierung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı fanden keine weiteren Treffen unter dem Namen al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı statt. Letztlich war die eine Koalition in der anderen aufgegangen: c

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In between two Prides, there is work that has to be done. We called for meetings with different groups who took part in this Pride, and we decided on the Liq¯a c Alm¯an¯ı, to try to see what we can do all together. [...] We started meeting later as Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı”, the same group. (Experteninter” view) c

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Die Koalition Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T a if¯ı (Sturz des konfessionalistischen Systems) .¯ war in der Protestwelle sehr pr¨asent und sichtbar. Sie war Organisatorin der großen antikonfessionellen Demonstrationen in der ersten Jahresh¨alfte 2011. Die an der Koalition beteiligten Aktivisten waren zahlreich und bez¨ uglich ihrer organisatorischen und politischen Hintergr¨ unde divers: You found people from all secular parties, or non-secular political parties, and even... [My friend] who was working with fashion and came there, [with] no political background. And others, and others, and others. Small secular groups, secular movements, and people with no ideology. (Experteninterview) c

Die Entstehung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı hatte zwei Triebkr¨afte: Einerseits die etablierten antikonfessionellen Aktivisten von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı und andererseits eine Gruppe junger Facebook-Aktivisten. Die Facebook-Gruppe war unter dem Eindruck der De¨ monstrationen in Tunesien und Agypten gegr¨ undet worden und hatte schnell großen Zulauf. Aktivisten von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı kontaktierten die Administratoren der Seite und c

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6.1 Akteure des antikonfessionellen Aktivismus

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man rief zu einem gemeinsamen Treffen auf, das in den R¨aumen des Civil Society Movement stattfand (Experteninterviews). Dieses erste große Treffen, das am 22. Februar 2011 stattfand (Experteninterview), war offen f¨ ur alle interessierten Aktivisten und wurde von einem kleinen Kreis von Aktivisten des Liq¯a c Alm¯an¯ı und der Facebook-Gruppe vorbereitet. Eine interviewte Aktivistin bezeichnete dieses Vorbereitungstreffen im kleinen Kreis als erstes, erstes Treffen, dass das erste Treffen vorbereitete”. Dabei kann der ” Gr¨ undungsmoment der Koalition nicht genau bei der einen oder anderen Gruppe verortet werden. In Interviews mit beteiligten Aktivisten zeigt sich, dass unter den Aktivisten die Ansichten dar¨ uber divergieren. W¨ahrend Mitglieder von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı dieses als treibende Kraft ansehen, betrachten die jungen Unabh¨angigen die Facebook-Gruppen als Ursprung: c

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I was at that time a member of that small group that was meeting in order to plan for this. [...] It was [...] called al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı. The Liq¯a c Alm¯an¯ı, from my perspective, because I was active in it, was a very important factor in these things, in what happened in the first year [2011]. (Experteninterview) c

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So we [al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı] started working with the different guys, on Facebook [...]. We called for a meeting, on Facebook, of the different groups who were organized on different pages. [...] There were already different pages all calling for more or less the same thing. Some of their admins were members in the Liq¯a c Alm¯an¯ı, but others were not members. So we called for those who were interested to come to a meeting. (Experteninterview) c

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But the one who declared the movement actually was the page. Two, there is something that is called Liq¯a c Alm¯an¯ı. They invited the admins and they tried to make a meeting, a small meeting, before they declared on Facebook to ask for another meeting. I was in this [small] meeting also. (Experteninterview) c

Eine ebenfalls beteiligte Aktivistin stellte dazu im Interview treffend fest: Some people ” said: We were before the Facebook page, we called for a meeting.’ I don’t know exactly ’ who thought before the others about a meeting” (Experteninterview). Bald beteiligten sich zahlreiche weitere NGOs und Unabh¨angige an der Koalition. Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı ist folglich ein Zusammenschluss mehrerer Akteure, die sich parallel entwickelt hatten. Die Treffen der Koalition fanden in den R¨aumlichkeiten mehrerer beˇ c b. Bei teiligter Organisationen statt, etwa in den B¨ uros des CSM und von H.arakat Sa den großen, offenen Organisationstreffen waren teilweise bis zu 200 Aktivisten anwesend (Experteninterview). Die Koalition war nicht hierarchisch strukturiert, aber organisierte sich horizontal arbeitsteilig in mehreren Komitees, die beispielsweise f¨ ur Demonstrationen, Medienbeziehungen oder Auslandslibanesen zust¨andig waren (Experteninterview). Nach den ersten Mobilisierungserfolgen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı in Beirut bildete sich in Tripoli, der zweitgr¨oßten Stadt des Libanon, eine davon inspirierte Gruppierung ˇ al (Sturz des konfessionalistischen unter dem Namen Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Fi-ˇs-Sam¯ Systems im Norden). Sie kooperierte mit der Beiruter Koalition, indem Aktivisten der ˇ al Beiruter Koalition auch im Norden aktiv wurden. Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Fi-ˇs-Sam¯ veranstaltete zwei Demonstrationen in Tripoli, was bemerkenswert ist, weil der libanesische s¨akulare Aktivismus in hohem Maße in Beirut konzentriert ist. Nachdem die Koalition in der Expansionsphase der Protestwelle derart schnell angewachsen war, dass in Beirut 20.000 Teilnehmer mobilisiert wurden und selbst in der Proc

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

vinz Nordlibanon Demonstrationen unter demselben Slogan stattgefunden hatten, folgten in der Transformationsphase Konflikte. Nachdem aus der Partei H.arakat Amal heraus Unterst¨ utzung f¨ ur Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı ge¨außert worden war, unterstrichen die Aktivisten ihre Distanzierung von den Systemparteien, indem der Name der Koalition erg¨anzt wurde um den Zusatz . . . Wa-Rum¯ uzihi”, sie nannte sich nun also Isq¯at. an” ” Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Wa-Rum¯ uzihi” ( Sturz des konfessionalistischen Systems und ihrer Sym” bole”, s. 6.3.2). In der Kontraktionsphase der Protestwelle kam es zu weiteren Schritten der Aufl¨osung der Koalition. Im Juni 2011 gr¨ undeten einige Unabh¨angige, die in der Koalition eine zentrale Rolle gespielt hatten, aus Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı heraus die Gruppierung Direct Action” (Experteninterview). Mit diesem Moment wurde die Spaltung ” der Koalition offensichtlich. c

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6.2 Transformationen der Organisationsformen Parteien und NGOs spielten f¨ ur viele Aktivisten der Protestwelle eine untergeordnete Rolle, sie zogen das Modell der Graswurzelorganisation den Modellen von NGO und Partei vor. Dies resultiert zum Teil aus der Distanzierung junger Aktivisten von formalisierten Strukturen, denn eine treibende Kraft f¨ ur Experimente mit unabh¨angigem Aktivismus besteht in der Frustration u ¨ber die begrenzten M¨oglichkeiten der alten” Organisationen ” (vgl. auch 3.1.5). Wenn formal organisierte Akteure wie Parteien an Bedeutung verlieren, f¨ uhrt dies nicht einfach zu einer Ansammlung atomisierter Individuen, die unstrukturiert nebeneinander bestehen. Vielmehr kommt es zu dem, was Kron und Hor´acek (2009: 11ff.) als Grund” prozess der Individualisierung” bezeichnen, denn auf Entstrukturierung” folgt Restruk” ” turierung” (U. Beck 1986, 2008, s. 3.2.3): Der Aktivismus wird entstrukturiert, indem Aktivisten die formalen Organisationen ablehnen und hinter sich lassen, aber darauf folgt eine Restrukturierung, in der sie neue Organisationsformen entwickeln. Zu welcher Art von Organisationsformen die Restrukturierung f¨ uhrt, h¨angt von den Entscheidungen der Akteure ab. Das Thema dieses Kapitels sind die Transformationen des antikonfessionellen Aktivismus auf der Ebene der Organisationsformen. In 6.2.1 werden Verschiebungen von Parteien zu NGOs und weiter zu unabh¨angigem Aktivismus behandelt, die in der Geschichte des libanesischen Antikonfessionalismus geschehen sind. Dabei werden sowohl die Abgrenzung vieler Unabh¨angiger und NGO-Aktivisten von Parteien als auch die sp¨atere Abgrenzung vieler Unabh¨angiger von NGOs beleuchtet. Es wird untersucht, inwieweit das Verh¨altnis der weniger formalisierten Akteure zu den Parteien einerseits durch Abgrenzung und andererseits durch Bezugnahme gepr¨agt wird. Daran anschließend wird in Kapitel 6.2.2 diskutiert, wie sich die Distanzierung von Parteien und auch von NGOs in der Organisationsweise der Protestwelle manifestierte. Dabei geht es sowohl um unabh¨angige Aktivisten als auch um die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die beide durch Informalisierung gekennzeichnet waren. Schließlich werden in 6.2.3 Transformationen der Organisationsformen betrachtet, die w¨ahrend der Protestwelle 2010-2012 stattfanden. Dabei wird untersucht, wie die Transformationen mit den verschiedenen Phasen der Protestwelle verkn¨ upft sind, die in 3.1.6 skizziert wurden (vgl. Della Porta und Diani 2006; Koopmans 2004; Tarrow 2011). Die Organisationsformen werden also nacheinander in den Phasen der Latenz, Expansion, Transformation, Kontraktion und Re-Routinisierung betrachtet. c

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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6.2.1 Verschiebung von Parteien zu NGOs und zu unabh¨angigem Aktivismus Die Verschiebung des s¨akularen Aktivismus weg von Parteien und hin zu NGOs und zu unabh¨angigem Aktivismus ist ein Prozess, der ambivalent und nicht-linear verl¨auft (vgl. 3.2.3). So findet Aktivismus, welcher nicht oder nur in geringem Maß formal organisiert ist, parallel und komplement¨ar zum formal organisierten Aktivismus statt. Viele Aktivisten der Protestwelle waren in mehreren Gruppierungen aktiv. Die Mitgliedschaften u ¨berlappten. Nicht nur waren Aktivisten einerseits an ihren Parteien, NGOs und Graswurzelorganisationen und andererseits zugleich an den Koalitionen Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı beteiligt. Ebenso waren Aktivisten parallel in mehreren Parteien, NGOs oder Graswurzelorganisationen aktiv, so war etwa eine im Experteninterview befragte Aktivistin gleichzeitig Mitglied bei Nasawiya und beim Sozialistischen Forum, ein anderer Aktivist im Secular Club der AUB und bei La¨ıque Pride und ein weiterer war parallel in der ULDY, bei Nasawiya und im Secular Club aktiv57 ). ¨ Ein Grund f¨ ur das h¨aufige Auftreten solcher personeller Uberschneidungen liegt in der geringen Gr¨oße der libanesischen s¨akularen Zivilgesellschaft. Im kleinen Land Libanon mit seiner kleinen Mittelschicht ist die s¨akulare Zivilgesellschaft sehr aktiv, aber von u ¨berschaubarer Gr¨oße, so dass ein Organisator der ersten Veranstaltung von La¨ıque Pride im Interview zu der Einsch¨atzung kam, die ganze Zivilgesellschaft” habe daran ” teilgenommen: When we walked and we saw how many people came – everybody from ” civil society came. I went and talked with everybody” (Experteninterview). Ein anderer unabh¨angiger Aktivist betonte, dass die geringe Anzahl der Aktivisten durchaus die Mobilisierung erleichtert: c

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Lebanon is a small country, and the society that is calling for change, and trying to make a difference, is very small. Therefore, it is not hard to find out what is going on here and there, and social media made it easier as well. (Experteninterview) Zudem waren die Mitgliedschaften in verschiedenen Gruppierungen flexibel: So waren einige Aktivisten einerseits Mitglieder in einer Partei, NGO oder Graswurzelorganisation und andererseits zugleich in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı aktiv, dort aber als Unabh¨angige”.58 ” Mitglieder von CHAML und Nasawiya etwa nahmen als Unabh¨angige an der Koalition teil (Experteninterviews). So betonte eine Aktivistin im Interview, wie sie mit ihrer Mitgliedschaft in LCP und ULDY in Bezug auf Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı flexibel umging: c

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Some people who know me can not think about it without asking about it. [They ask:] If you are a communist, how can you work on other things?” [...] ” Many of the people said: If our party called for this event or this demonstra” tions, we are part of it, and if our party is not a part of it, we cannot support it.” Even if they believe it is a very important event for all the Lebanese people. But I think, [...] if you want to change, you have to follow all the sources of change in Lebanon. (Experteninterview) 57 58

Der hier zitierte Aktivist ist Mitglied der ULDY, betont aber, dass er in den anderen Gruppen kein Mitglied ist, sondern aushilft”. ” Die Betonung, als Unabh¨ angige” an s¨ akularen politischen Aktionen teilzunehmen, zieht sich durch ” die Geschichte des antikonfessionellen Aktivismus. So betonten bereits die Aktivisten der Kampagne f¨ ur ein s¨ akulares ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren (s. 5.2.4), dass sie dort als B¨ urger” teilnahmen, auch wenn sie Mitglieder in NGOs waren (Experteninterview). ”

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Die hier zitierte Aktivistin erl¨auterte zudem, wie es zu ihrer Teilnahme an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı erst als Individuum, dann als Parteimitglied, und jetzt als Individuum” kam: ” c

In Isq¯at. an-Niz.a¯m [...], I was an individual, supported by the Communist Party, from the first meeting [on]. Then, my party was a part, an essential part, of Isq¯at. an-Niz.a¯m. Then, now, one month ago I think, my party left Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, and I am staying, as an individual activist in Isq¯at. an-Niz.a¯m. (Experteninterview) c

Die Aktivisten entschieden allerdings nicht unbedingt ausschließlich selbstst¨andig u ¨ber ihre Teilnahme an der Koalition, sondern hielten durchaus R¨ ucksprache mit ihren Organisationen. So beschrieb ein Aktivist mit Blick auf LCP und ULDY, wie diese ihm explizit gestatteten, auch in außerparteilichem Rahmen politisch aktiv zu sein: You see, we have ” space. I can do everything. The party and ULDY told me to. I don’t need a green light from the party to do something” (Experteninterview, kursiv: im Original arabisch, meine ¨ Ubersetzung). Antikonfessioneller Aktivismus findet also parallel in verschiedenen Organisationsformen statt, die sowohl aufeinander bezogen als auch voneinander abgegrenzt werden. Gleichwohl ist mit einem Blick auf die Jahre vor der antikonfessionellen Protestwelle feststellbar, dass sich der s¨akulare und antikonfessionelle Aktivismus im Libanon u ¨ber die letzten Jahrzehnte tendenziell weg von Parteien und hin zu NGOs und weiter zu unabh¨angigem Aktivismus verschoben hat. Diese Verschiebungen stehen in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Phasen des antikonfessionellen Aktivismus, die oben in Kapitel 5.2 skizziert wurden: So erlebten die s¨akularen politischen Parteien, nach ihrer Hochphase in den 1960er Jahren, bis zum B¨ urgerkriegsende einen Reputationsverlust, dann boomten insbesondere ab 2005 NGOs, die in der Folge dieses Booms wiederum selbst an Reputation verloren. Bis zum Ende des libanesischen B¨ urgerkriegs 1990 war S¨akularismus ein Thema von Parteien. Das Thema war mit den Ideologien von Nasserismus und Arabischem Nationalismus verkn¨ upft (vgl. Browers 2009; Haugbolle 21.03.2012; s. auch 5.1). Wenn in den 1960er Jahren, dem goldenen Zeitalter” des Libanon, NGOs bestanden, so waren diese ” als charity-NGOs zu klassifizieren (Experteninterview). Zu Beginn der Zweiten Republik hingegen war die Libanesische Kommunistische Partei in der Krise. Das Ende des libanesischen B¨ urgerkriegs fiel zusammen mit der Zeit der Aufl¨osung der Sowjetunion, woraufhin auch die libanesischen Kommunisten sich mit dem Wegfall des sowjetischen Vorbilds neu orientieren mussten (Experteninterview). Viele kommunistische Aktivisten sahen sich in ihren Idealen entt¨auscht: [My parents] used to be communists, but not any more. [...] Their generation passed through a lot. It was like a movement that went up, and then, they got depressed. They do not have any political affiliation or ideology any more. (Experteninterview). Einige dieser entt¨auschten fr¨ uheren LCP-Aktivisten wurden sp¨ater bei Hisbollah aktiv (Experteninterview), andere waren unter den zivilgesellschaftlichen Aktivisten der Protestwelle, wieder andere zogen sich in die apolitische Privatheit zur¨ uck. In der Zweiten Republik entwickelte sich, jenseits von Parteien, eine lebhafte Zivilge¨ sellschaft (vgl. Kapitel 5.2.4). Die Uberwindung des Konfessionalismus wurde nun nicht

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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mehr prim¨ar von Parteien behandelt, sondern es gr¨ undeten sich die ersten antikonfessionalistischen advocacy-NGOs. Einige s¨akulare und antikonfessionelle NGOs wie LACR und das Civil Society Movement bestehen bereits seit den fr¨ uheren Jahren dieser Zeit. Eine Z¨asur f¨ ur die libanesische Zivilgesellschaft stellt das Jahr 2005 dar, in dem Massen nicht-parteigebundener Demonstranten gegen die syrische Besatzung auf die Straße gingen. Dies l¨oste mehrere f¨ ur die Zivilgesellschaft relevante Transformationen aus: Eine neue Aktivistengeneration politisierte sich und das internationale Interesse am Libanon und seiner Zivilgesellschaft nahm zu. Der libanesische NGO-Sektor boomte und zahlreiche neue advocacy-NGOs wurden gegr¨ undet. Mit diesem Boom ging ein wachsendes Misstrauen in die Agenden der NGOs einher (Experteninterview). Mit dem Misstrauen in ihre Agenden und der Unzufriedenheit mit ihren Organisationsstrukturen und Strategien verloren NGOs an Legitimit¨at. Dies f¨ uhrte zu einem weiteren Schritt in der Informalisierung des antikonfessionellen Aktivismus. Ein interviewter Aktivist beschreibt die Pr¨asenz von sehr unterschiedlichen Gruppen, die allein arbeiten”, ” und kontrastiert dies mit einem großen zentralisierten Programm von großen Parteien ” wie der SSNP und der LCP in den 1960er und 1970er Jahren” (s. 7.3). So ist, ebenso wie in anderen L¨andern der Region, eine sukzessive Verschiebung politischer Aktivit¨at weg von Parteien und NGOs und hin zu informellem Aktivismus” (Duboc 2011: 64ff. s. auch ” Haugbolle 2013: 431) zu beobachten. Dessen Akteure sind Unabh¨angige und Graswurzelgruppen, auch wenn Parteien und NGOs daneben weiter bestehen und aktiv bleiben. Diese Geschichte antikonfessioneller Parteien und NGOs bildet einen historischen Hintergrund, der sich im Selbstverst¨andnis von Aktivisten spiegelt, und auf den sie sich in ihrer Selbstverortung beziehen. Zun¨achst ¨außerten viele Aktivisten Kritik und Distanzierung von NGOs und Parteien. Sowohl La¨ıque Pride als auch Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı distanzierten sich ausdr¨ ucklich von Parteien. So blieben viele Aktivisten, die an vorherigen Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı teilgenommen hatten, der Demonstration im Juni fern, die zum Parlament f¨ uhrte. Zudem fasste die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı bei einem Organisationstreffen den formalen Beschluss, die Teilnahme von Parteien an den Demonstrationen abzulehnen (Experteninterviews), bzw. das Zeigen von Parteisymbolen zu verbieten (Experteninterview). Auch an den Veranstaltungen von La¨ıque Pride durften Parteimitglieder nicht im Namen ihrer Partei teilnehmen, sondern nur als B¨ urger”, wie ein interviewter ” Organisator von La¨ıque Pride berichtete. Der Legitimit¨atsverlust von Parteien als Instrumente antikonfessioneller Politik bezieht sich auf mehrere Ebenen: Manche Aktivisten stehen der Idee von Parteipolitik, auf einer abstrakten Ebene, zwar positiv gegen¨ uber, lehnen aber die im Libanon aktiven Parteien ab. So stellt eine interviewte Aktivistin fest: I would love to have a political party, but I ” can’t find a political party that suits my principles” (Experteninterview). Eine interviewte Aktivistin, die bei Nasawiya und beim Sozialistischen Forum aktiv war, hierzu f¨ uhrt aus: c

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[KS: Have you ever considered joining a party?] No, the traditional parties that exist, no. [...] There is no democracy in them, there is no new generation having a voice in them. [...] I don’t have this fear from parties. [...] I am not an anarchist. I am totally with political organizations and political groups and political parties. (Experteninterview)

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Viele weitere Aktivisten distanzieren sich nur von den Systemparteien59 , also denjenigen Parteien, die in Parlament und Regierung bzw. in den politischen Bl¨ocken 8. und 14. M¨arz vertreten sind (Experteninterview). Wieder andere Aktivisten lehnen allgemein alle Parteien ab (Experteninterview). Zugleich sehen auch einige derjenigen Aktivisten, die Parteien kritisch sehen, den parlamentarischen und den außerparlamentarischen Weg der Politik als verschr¨ankt an – so unterschied ein interviewtes Aktivist, der Mitglied des Sozialistischen Forums war, zwischen dem parlamentarischen” und dem radikalen” Teil ” ” der [antikonfessionellen] Bewegung” (Experteninterview). ” Alle diese verschiedenen Facetten der Ablehnung von Parteien eint, dass dahinter eine Distanzierung von der formalen Politik steht60 . Dies ist folgerichtig, wenn die Aktivisten den Sturz des konfessionalistischen Systems” fordern. Sie sehen Parteien als Vertreter des ” Systems”, vertreten aber unterschiedliche Auffassungen dar¨ uber, wer noch zum System ” geh¨ort und wer bereits außerhalb steht: Als zum System” geh¨orig gelten in der einen ” Logik Regierung und Parlament, nach der anderen Logik die im Libanon aktiven Parteien, oder nach einer wieder anderen Logik grunds¨atzlich alle Parteien. Dabei befinden sich unter den Aktivisten der Protestwelle durchaus auch (fr¨ uhere) Parteiaktivisten. Pr¨asent sind einige ehemalige Unterst¨ utzer des 14. M¨arz. Diese jungen Aktivisten wurden in der Zeit der Massendemonstrationen 2005 politisiert, wie etwa ein interviewter Aktivist mit Blick auf seine eigene politische Aktivit¨at berichtete. Er beschrieb im Interview, wie die jungen Aktivisten sich der Zivilgesellschaft und dem Thema S¨akularismus zuwandten, als ihre hohen Erwartungen an die Politik des 14. M¨arz entt¨auscht wurden. Zahlreiche weitere Aktivisten sind oder waren mit den alten linken Parteien LCP und SSNP verbunden. Diese Parteien werden in der Protestwelle allerdings kontrovers betrachtet (s. 6.1.1): Unabh¨angige Aktivisten warfen den alten s¨akularen Parteien vor, politisch zu wenig erreicht zu haben, und betrachten die LCP heutzutage als veraltet und ineffektiv (Experteninterviews). Zudem ist unter den Aktivisten der Protestwelle 2010-2012 auch umstritten, ob diese LCP und SSNP u ¨berhaupt als s¨akular einzustufen sind. Nach Lesart einiger interviewten Aktivisten seien die Parteien bzw. Milizen selbst, trotz ihrer Kooperation mit konfessionellen Kr¨aften, s¨akular geblieben. In anderen Experteninterviews kritisierten die Gespr¨achspartner, dass die Parteimilizen sich im B¨ urgerkrieg an konfessionalistischen K¨ampfen beteiligten. Diese Kooperationen im B¨ urgerkrieg h¨atten gezeigt, dass die Parteien konfessionalistisch geworden seien. Sie seien nie dezidiert s¨akular gewesen, sondern ihr S¨akularismus sei nur Nebenprodukt der entsprechenden Ideologien gewesen, also des Kommunismus oder des Arabischen Nationalismus (Experteninterviews). Neben der Distanzierung von Parteien war auch die Distanzierung von NGOs unter den Aktivisten ein pr¨asentes Thema, insbesondere unter Unabh¨angigen. So versteht sich etwa Nasawiya, eine an der Protestwelle aktiv beteiligte junge feministische Gruppe, ausdr¨ ucklich nicht als NGO, sondern als Graswurzel-Kollektiv” (Experteninterview), als ” Netzwerk von Individuen” (Experteninterview) oder als Mitglieder-gef¨ uhrtes Kollek” ” tiv” (Nasawiya o.D.(a), s. 6.1.3.1). Auch einer der Gr¨ under von La¨ıque Pride betonte, 59

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Der Begriff Systempartei” wird hier f¨ ur die Parteien verwendet, die durch ihre Beteiligung an ” Parlament und Regierung direkt Teil des formal-politischen Systems sind. Im Gegensatz dazu k¨ onnen Akteure, die sich gegen das libanesische formal-politische System stellen, als anti-system” ” bezeichnet werden, so etwa bei AbiYaghi (2011). Dass ein zentrales Anliegen linker Aktivisten die Abgrenzung von den traditionellen, etablierten Parteien ist, zeigt sich auch in ihrem Wahlverhalten, wie AbiYaghi (2011: 93) belegt.

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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dass Aktivismus keiner kollektiven Zusammenh¨ange bed¨ urfe: Of course not. [...] I am a free-lancer in everything. Nothing, not even Helem [Lebanese advodacy NGO for LGBT rights]. [...] As I do my activism alone, I don’t need it to be in a group of people who look like me to feel at ease to do my things. (Experteninterview) NGO-kritische Aktivisten ¨außerten im Interview Misstrauen bez¨ uglich der finanziellen Unterst¨ utzung einiger NGOs f¨ ur ihre Teilnehmer, denen sie bei Veranstaltungen etwa Hotel¨ ubernachtungen bezahlen (Experteninterviews) oder die Teilnahme an Demonstrationen entlohnen (Experteninterviews). Der haupts¨achliche Kritikpunkt an NGOs betrifft jedoch nicht die Verteilung, sondern den Erhalt von Geldern, da das Erhalten finanzieller F¨orderung die Abh¨angigkeit von politisch interessierten Akteuren impliziere (vgl. auch 3.1.3). Dementsprechend betonten interviewte Vertreter von Graswurzelorganisationen wie La¨ıque Pride ihre finanzielle Unabh¨angigkeit sehr deutlich: Elle [La¨ıque Pride] ´etait compl`etement... elle est toujours ind´ependante [...]. C’est notre argent, et c’est pas beaucoup. [...] Des fleuristes... moi j’ai donn´e 500 Dollars, un ami `a moi a donn´e 50. C’est pas beaucoup. (Experteninterview) We did it with [...] 200 Dollars. [KS: Private donations?] Yes. [...] A flower shop gave us 3,000 Liras and flowers. [...] They said: The Americans are ” giving them money.” And actually USAID wanted to give us money, 10,000 dollars. We refused. We can not. [...] They said: Don’t put our logo, nobody ” will know.” But imagine. And then the SSNP said we took money from the Americans, that we were spies for Israel. This is crazy. (Experteninterview, ¨ kursiv: im Original arabisch, meine Ubersetzung) Das Interviewzitat zeigt, wie stark die Legitimit¨at eines Bewegungsakteurs mit dessen finanzieller Unabh¨angigkeit verkn¨ upft sein kann, wobei die Anschuldigung der finanziellen Abh¨angigkeit auch als Mittel im politischen Konflikt eingesetzt werden kann. Wie sich ebenfalls in dem Zitat zeigt, wird insbesondere Finanzierung f¨ ur NGOs, die aus dem Ausland kommt, deutlich kritisiert, auch von interviewten Aktivisten der Protestwelle: I am against any funding of the movement from external powers, whatever are the powers. Definitely, this is a red line. [...] NGOs have a very bad reputation in Lebanon. [...] The mushrooming of NGOs over the last seven years made many people suspicious and fearful about their political agenda, which is very true. The number of NGOs has risen tremendously since 2005. [. . . ] 2005 was very much a critical time in terms of the international powers who were willing to provide some support and aid for the Lebanese [...]. (Experteninterview) I am against NGOs. I believe in [a] conspiracy theory. And I believe that NGOs are a tool to destruct the activism in society in the Third World. [KS: No difference if they are international or local NGOs?] Local NGOs are funded ” by international NGOs. By the EU and USAID, and the EU and USAID are not a charity organization, of course they have their political targets.

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

That’s why I don’t trust NGOs, I don’t work with NGOs. And I suspect that NGOs are sent to Lebanon, and to all countries, to burn all this activist society and turn them to employees in NGOs affiliated to the EU or USAID. (Experteninterview) Das erste Zitat stammt von einem Aktivisten, der selbst in NGOs aktiv ist, und beschreibt von einem eher analytischen Standpunkt den Legitimit¨atsverlust von NGOs, w¨ahrend in dem unteren Zitat ein Vertreter der NGO-kritischen Aktivisten zitiert wird. Letzterer ¨außerte das verbreitete Misstrauen, dass insbesondere ausl¨andische Geber systemkritischen Aktivismus entweder zerst¨oren oder u ¨bernehmen wollen. Dieses Misstrauen spiegelt die typische Situation vieler advocacy-NGOs, die in der theoretischen Literatur diskutiert wird (Ben N´efissa 2005; s. 3.1.3): Sie sind extern finanziert und daher relativ wenig im sozialen Gef¨ uge verwurzelt, dadurch sind sie allerdings zugleich unabh¨angiger von sozialen Strukturen. Allgemeine Kritik an Parteien und allgemeine Kritik an NGOs werden durchaus miteinander in Verbindung gebracht: NGOs never had legitimacy. All their legitimacy comes from the leftist parties not playing their role; and that the government does not exist, to offer these services that any state should be offering. (Experteninterview) Das Verh¨altnis zwischen Parteien und NGOs ist also spannungsreich und komplement¨ar. Mehrere interviewte Aktivisten der Protestwelle betonen, dass der s¨akulare Aktivismus sich nach dem B¨ urgerkrieg von Parteien zu NGOs verschob, und dass es fr¨ uher eher LCPAktivisten gegeben habe und heute mehr unabh¨angige Aktivisten. Analog zur allgemeinen Verschiebung des Aktivismus von Parteien zu NGOs und Unabh¨angigen, gilt ihnen der s¨akulare Aktivismus der Protestwelle als Nachfolger” der LCP. Die Verkn¨ upfung zwi” schen S¨akularismus und linker Politik ist so eng, dass s¨akulare kulturelle Praktiken als Bestandteil linker Kultur und Politik gelten (vgl. Haugbolle 2013). Die Bedeutung der LCP sehen Beobachter als Pr¨asenz ihrer Vergangenheit in der Gegenwart” (M. You” nes und Sing 2012: 108), also als Referenzpunkt in der Selbstverortung von Aktivisten. Dass die antikonfessionellen NGOs somit gewissermaßen die Nachfolger der abgestiegenen linken Parteien sind, ist keine Partikularit¨at des libanesischen Antikonfessionalismus. Vergleichbare Verschiebungen stellt Hegasy (2010) auch f¨ ur NGOs in anderen L¨andern der Region fest: Indem diese NGOs ein Forum zur Diskussion des Themas bilden, erf¨ ullen sie die Funktion einer one-issue-party” (Hegasy 2010: 23, vgl. 3.1.3). So geschieht hier der ” Grundprozess der Individualisierung” (Kron und Hor´acek 2009, s. auch U. Beck 1986, ” 2008; 3.2.3): Der s¨akulare Aktivismus entstrukturiert sich, indem Parteien als organisatorischer Rahmen des Aktivismus an Zulauf und Legitimit¨at verlieren, verschwindet aber nicht, sondern restrukturiert sich in Form von NGOs und unabh¨angigem Aktivismus. Entsprechend ist das Verh¨altnis von Unabh¨angigen und NGO-Aktivisten zu Parteien wie der LCP ambivalent: Sie grenzen sich einerseits von ihnen ab, und setzen sich andererseits mit ihnen in eine Reihe. So artikulierten viele der interviewten Aktivisten der Protestwelle einerseits Distanz von Parteien, und stellen andererseits eine diskursive Kontinuit¨at zu den s¨akularen Vorkriegsparteien her, besonders zu LCP und SSNP. Ein Gr¨ under von La¨ıque Pride beispielsweise stellte im Experteninterview einen direkten Bezug zur LCP her, w¨ahrend er sich zugleich von ihr distanzierte: We [La¨ıque Pride] did in five months ” what the Lebanese Communist Party could not do in 85 years” (Experteninterview).

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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Eine j¨ ungere, aber erfahrene Aktivistin beschrieb im Interview, wie auch ¨altere Aktivisten Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als Nachfolge ihres eigenen Aktivismus sehen: c

We gave them the hope, they wrote about it. You can find men around 60, 65, 70, who came to us and said: This is our last chance to change the system ” in Lebanon. Please go on”. (Experteninterview) Die Verortung zivilgesellschaftlicher Aktivisten als Parteien-Nachfolger zeigt sich auch in Familiengeschichten: W¨ahrend Libanesen, die vor und im B¨ urgerkrieg in der LCP oder anderen s¨akularen Parteien aktiv waren, sich in weiten Teilen von ihren fr¨ uheren Parteien zur¨ uckgezogen haben, sind Kinder dieser entt¨auschten Ex-Kommunisten als Aktivisten in der s¨akularen Zivilgesellschaft pr¨asent (Experteninterviews; s. auch AbiYaghi 2011). Diesen kritischen und zugleich ambivalenten Haltungen vieler s¨akularer Aktivisten ge¨ gen¨ uber Parteien liegen weit verbreitete Einstellungen zugrunde, die in den Uberlegungen eines jungen unabh¨angigen Aktivisten exemplarisch deutlich werden: Before the civil war, it was actually better than now. [...] It was not exclusive, it was a bigger movement. The concept of civil society was better grasped back then than it is now. The changes that the country and the Arab World, and the rest of the world, went through during the last 25 years – the influence of petrodollars, of religion, of the clergy is strong. [...] We came out from a revolution against colonization, people were liberating themselves, mentally, and physically. [...] Parties had big popular support, and [...] some of them were real in a sense, they wanted to advocate real change, and it was not only for political games. But unfortunately that changed, and parties are now tools for certain persons, and not for the people. (Experteninterview) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in diesem Zitat repr¨asentierte Haltung von Aktivisten der Protestwelle gegen¨ uber Parteien von zwei Einstellungen gepr¨agt ist: Einerseits werden Parteien als Instrument antikonfessioneller Politik vielfach abgelehnt, denn es besteht Frustration u ¨ber den heutigen Zustand des Parteiensystems und das Verhalten der Parteipolitiker, andererseits dr¨ uckten Interviewpartner nicht nur Ablehnung von Parteien, sondern auch ambivalentere Haltungen aus: There are many independents, and many who do not want to join organizations. [KS: And some reject parties; some reject any forms of hierarchical organization because they think it is undemocratic.] Maybe they are right. [KS: But you don’t think like this.] Well, I do not like working alone. And what I do alone does not have an impact. (Experteninterview) If you talk to many [of the] new activists, when it comes to parties they become very sensitive: No, we don’t want [this]”. [KS: But maybe some say: ” I hate parties, but the Communist Party is fine.”] Because they have this idea ” about the Communist Party, a kind of affection to the old days, the golden old days, you know. (Experteninterview) Unter unabh¨angigen Aktivisten der Protestwelle besteht zwar Frustration u ¨ber die etablierten Parteien aber zugleich besteht Nostalgie nach dem Parteiaktivismus der 1960er und 1970er Jahre61 , so dass Unabh¨angige und NGO-Aktivisten sich durchaus als Nachfolger dieses fr¨ uheren s¨akularen Parteiaktivismus verorten. 61

Zur Nostalgie nach den Parteien der Vorkriegszeit vgl. 5.2.2; s. auch Haugbolle (2013: 434ff.).

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

6.2.2 Informalisierung des Aktivismus Die in der Protestwelle vorkommenden Organisationsformen k¨onnen als Dichotomie von formalen und informellen Akteuren konzipiert werden, angelehnt an die theoretische Dichotomie zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen (s. 3.1.5)62 . Informellere Akteure zeichnen sich demnach aus durch De-Differenzierung”, also durch unklare Abgrenzun” gen zwischen Organisatoren und Teilnehmern sowie zwischen Mitgliedern und Externen (vgl. Offe 1985: 829f.). Im Folgenden wird dargestellt, welche informellen Akteure in der Protestwelle pr¨asent waren, welche Kontroversen um Formalit¨at und Informalit¨at intern gef¨ uhrt wurden und wie interviewte Aktivisten Fragen von Formalit¨at und Informalit¨at deuteten. Im Anschluss daran werden diese Beobachtungen unter R¨ uckgriff auf Theorien der neuen sozialen Bewegungen (s. 3.1.5; z.B. das bereits genannte Konzept der DeDifferenzierung), der entgrenzten Politik (s. 3.2.2) und der politischen Differenz (s. 3.2.1) analysiert. Mit Blick auf die Akteure der Protestwelle k¨onnen die Parteien eindeutig den formalen Akteuren und die Graswurzelorganisationen den informellen Akteuren zugeordnet werden, auf welcher Seite des Kontinuums aber NGOs und die Koalitionen Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı eingeordnet werden, h¨angt davon ab, wo die Grenze zwischen formalen oder informellen Akteuren gesetzt wird. Die Abgrenzung zwischen formalen und informellen Akteuren kann somit nicht absolut vorgenommen werden, sondern es handelt sich um ein relationales Kriterium (s. Kap. 6.1). c

c

Nicht oder wenig formal organisierte Akteure waren in der Protestwelle 2010-2012 bedeutsam, zahlreich und sichtbar. Informelle Organisationsformen pr¨agten insbesondere die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und Graswurzelgruppen wie La¨ıque Pride, Nasawiya und die Aktivisten des Protestzelts vor dem Innenministerium. Auch nicht formal organisierte, unabh¨angige Einzelpersonen wie etwa Blogger und K¨ unstler waren pr¨asent: c

[KS: Do you think bloggers, journalists, and independents have a crucial role in secular activism?] Yes, definitely. Bloggers contributed in many ways through posting all the activities on their websites, through making connections with other bloggers in the Arab region, to exchange information or experiences. (Experteninterview) Die meisten interviewten Blogger und K¨ unstler waren in der Protestwelle aktiv, ohne mit einer Partei oder NGO verbunden zu sein, und ohne parallel dazu an Demonstrationen oder anderen Aktionen zum Thema teilzunehmen. Sie artikulierten Kritik am Konfessionalismus und Unterst¨ utzung f¨ ur Aktivit¨aten der Protestwelle, w¨ahrend sie sich gleichzeitig 62

Die Theorie der neuen sozialen Bewegungen (NSB), die mit Blick auf Frauenbewegung, Friedensbewegung, Studentenbewegung etc. entwickelt wurde, kann selbstverst¨andlich nicht unkritisch auf die Situation heutiger arabischer Akteure u ¨bertragen werden, aber es sind einige strukturelle ¨ Ahnlichkeiten zwischen den F¨ allen feststellbar. Abgesehen von der Konstruktion einer Dichotomie alter” und neuer” Proteste verorten sich etwa die neuen” Akteure der Protestwelle wie ” ” ” auch einige Akteure des Arabischen Fr¨ uhlings” jenseits von etablierten politischen Konfliktlinien, ” ebenso wie NSB sich jenseits von rechts und links verorten (vgl. Offe 1985). Zudem verstehen sie sich explizit nicht als Repr¨ asentanten bestimmter Klassen, wiewohl ihre soziale Basis eindeutig der neuen Mittelschicht” zuzuordnen ist, so dass auch hier eine Parallele zu NSB feststellbar ist (Offe ” 1985 ; J. L. Cohen 1985; Rucht 1994; 6.2.1).

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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selbst explizit als unabh¨angig von den beteiligten Parteien, NGOs und auch Graswurzelgruppen verstanden (Experteninterviews). Auch der gr¨oßte und sichtbarste Akteur der Protestwelle, die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, war durch ein geringes Ausmaß an Formalisierung gepr¨agt. Dies betraf nicht nur die Organisationsform der Koalition, sondern zudem befanden sich unter den Mitgliedern der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı neben Parteien, NGOs und Graswurzelorganisationen auch zahlreiche Aktivisten, die nicht formal organisiert waren. Wie die Rolle der Unabh¨angigen f¨ ur die Strategien von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und den Verlauf der Protestwelle zu bewerten sei, ist ein unter den Aktivisten kontrovers diskutiertes Thema. So formulierte eine erfahrene NGO-Aktivistin im Interview ihre Einsch¨atzung, wonach die neu mobilisierten jungen Unabh¨angigen mit ihrer Unerfahrenheit einerseits die enthusiastische Triebkraft von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren, w¨ahrend andererseits ihre Distanz zu formaler Organisiertheit auch negative Auswirkungen hatte: c

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Due to the enthusiasm of the people coming from Facebook [...]. This was new, they don’t really know how, it is the first experience of them. [...] They never were neither in NGOs, neither in parties, neither in any organized way. And this impacted negatively. It was positive and negative at the same time. (Experteninterview) ¨ Ahnliches berichtet eine erfahrene Aktivistin von Nasawiya und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı u ¨ber Organisationstreffen der Koalition, an denen sich zahlreiche Unabh¨angige beteiligten: c

During the meetings, we had [...] like 200, 300 people in the meeting. It was a total mess, but this indicates that the movement [...] succeeded to attract new people that are not affiliated to any party, that are not ideologically framed. (Experteninterview) Der zitierte Interviewausschnitt enth¨alt mehrere Aussagen u ¨ber die Pr¨asenz der unabh¨angigen Aktivisten in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı: Es handelt sich um neu mobilisierte und somit wenig erfahrene Aktivisten, sie sind weder mit Parteien noch mit Ideologien” ” verbunden, und ihre Teilnahme ging mit totaler Unordnung” der Organisationstreffen ” einher. Es wird somit eine Verbindung zwischen der Unordnung” der informellen Or” ganisation und der Distanz zu Parteien hergestellt, wobei diese Distanz von Parteien in zwei Dimensionen benannt wird: Es handelt sich einerseits um Distanz von der formalen Organisation einer Partei und andererseits um Distanz zu den mit Parteien verbundenen Ideologien. c

Diese Verkn¨ upfung zwischen einerseits Formalit¨at und Informalit¨at der Organisationsform und andererseits Positionierung gegen¨ uber Parteien und Ideologien soll im Folgenden diskutiert werden. Die Distanzierung von Parteien war unter Aktivisten der Protestwelle verbreitet. So finden sich unter den informelleren Akteure teilweise neu mobilisierte Aktivisten, die sich vorher von politischen Aktionen fernhielten, aber teilweise auch durchaus erfahrene Aktivisten, die aber u ¨ber die Arbeit der Parteien und NGOs frustriert sind (Experteninterviews; vgl. Offe 1985: 855, 3.1.5). So begr¨ undeten interviewte Aktivisten aus Graswurzelgruppen ihre Entscheidungen gegen Formalisierung und ihre Experimente mit informellen Arbeitsweisen damit, dass sie die Arbeitsweisen von Parteien bzw. von NGOs mit Treffen und B¨ uros” als ineffektiv einsch¨atzten (Experteninterviews, s. ” oben in 6.1.3.1). Diese Aktivisten beurteilen die verf¨ ugbaren Instrumente der formalen

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Politik als unangemessen f¨ ur ihre Bed¨ urfnisse. Aus dieser Perspektive ist ein bestimm” tes Verst¨andnis von Politik, das im politischen System die Schaltstelle der Gesellschaft sieht”, in der Krise (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 8, s. 3.2.2). In ihrem Bem¨ uhen um alternative Instrumente der Politik beschr¨anken diese Aktivisten sich folglich nicht auf die Neugr¨ undung weiterer NGOs und Parteien, sondern halten ihre internen Strukturen informell. Die Distanzierung vieler Aktivisten von Parteien und NGOs manifestiert sich somit auf der Ebene der Organisationsformen. Ein Merkmal vieler unabh¨angiger Aktivisten in der Protestwelle bestand in der Abgrenzung von Ideologien bzw. der Selbstverortung als unideologisch. So insistieren vor allem viele junge Unabh¨angige, anders als in der s¨akularen Parteipolitik seien in der antikonfessionellen Protestwelle Ideologien und auch Klassen irrelevant gewesen. Eine Gr¨ underin von La¨ıque Pride etwa betont im Interview mit NOW Lebanon: La¨ıque Pride belongs to all those who participate in it. It gathers individuals from all social backgrounds and fields, civil society movements, and other movements working for secularism or women’s and human rights. (Y. Younes und Elali 04.05.2012) c

Auch unter Aktivistinnen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war im Interview die Relevanz oder Irrelevanz von Ideologien ein Thema: E1: I am not a communist, I am an independent member of the anti” sectarian movement. [. . . ] E2: She insists in all meetings, to say that I am not a communist.’ [...]” ” ’ E1: Because actually I don’t believe in principles, in ideologies, I don’t ” believe that. Ideologies will control people. It will take a part of their freedom.” (Experteninterview) In diesem Zitat zeigt sich das Spannungsverh¨altnis zwischen Aspekten von neuen” und ” alten” soziale Bewegungen innerhalb von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. So distanziert sich ” k¨ urzlich politisierte, junge Aktivistin E1sich grunds¨atzlich von Parteien und Ideologien”, ” auch in Abgrenzung von ihrer Freundin E2, die als aktives Mitglied der LCP eher als Vertreterin der alten” Bewegungen zu sehen ist. Die Aussagen erfahrener ¨altere Aktivisten ” best¨atigen diese Entkopplung des antikonfessionellen Aktivismus von Ideologien. So stelle eine interviewte a¨ltere Aktivistin fest, im Unterschied zur Vorkriegszeit sei eine Vielzahl von Gruppierungen zu beobachten, die nicht verankert” sind (Experteninterview), also ” nicht organisatorisch mit Parteien verbunden oder anderweitig zentral vernetzt. Handlungsleitend f¨ ur diese sind nicht die Zugeh¨origkeiten zu einer Partei oder ihrem ideologischen Umfeld, sondern bestimmte Themen (Experteninterview). Andere ¨altere Intellektuelle sehen diese Distanzierung von Parteien und Ideologien des Aktivismus kritisch. So h¨alt ein interviewter erfahrener Aktivist die Abkopplung des Themas S¨akularismus von anderen Themen f¨ ur falsch, da er S¨akularismus als Teil eines globalen Programms f¨ ur ” Ver¨anderung” betrachtet: c

Secularism is part of a whole program of change, for left parties. Secularism goes hand in hand with social justice, hand in hand with illiteracy, hand in hand with the liberation of women. Now NGOs come and confiscate every one of these single big ideas and take it out of the context of social progress and social improvement and treat it as a separate body, and get funded for that. (Experteninterview)

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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Dabei betrifft die Distanzierung von Parteien und ihren Ideologien nicht nur j¨ ungere, sondern auch ¨altere Aktivisten (Haugbolle 2013). Wie Haugbolle (2013) feststellt, liegt der Grund f¨ ur den R¨ uckzug ¨alterer Aktivisten von Parteien hierf¨ ur allerdings nicht unbedingt in der Desillusionierung u ¨ber Ideen, sondern u ¨ber die Organisation (vgl. Haugbolle 2013: 431; s. auch Duboc 2011). Die oben zitierten Selbstverortungen junger unabh¨angiger Aktivisten als unideologisch und klassen¨ ubergreifend (Experteninterview; Y. Younes und Elali 04.05.2012) l¨adt wiederum ein zu einem R¨ uckgriff auf Theorien der neuen sozialen Bewegungen (s. 3.1.5). Die Analyse der Protestakteure der anti-konfessionellen Protestwelle zeigt, dass auch der Bereich der informellen Akteure tats¨achlich weniger klassen¨ ubergreifend war als von der oben zitierten Aktivistin konstatiert wurde, sondern die Proteste wurden haupts¨achlich von einer akademisch gebildeten Mittelschicht getragen. Insofern sind sie typisch f¨ ur die Politik der neuen Mittelschicht” (Offe 1985: 831ff.): Wenn diese neuen Mittelschichten ” politisch aktiv sind, so handelt es sich dabei typischerweise um Politik von einer Klas” se, nicht um Politik f¨ ur eine Klasse” (Offe 1985: 833). Die Aktivisten geh¨oren zwar der Mittelschicht an, wie auch offene politische Partizipation weitgehend als Sache der mittleren und oberen Gesellschaftsschichten gilt (s. oben in Kapitel 2.2.2), aber sie verstehen sich nicht als Vertreter partikularer Mittelschichtinteressen, sondern verstehen ihren Aktivismus explizit als universalistisch und ideologiefrei. Diese ostentative Abgrenzung von ¨ Ideologien hat, wie Haugbolle (21.03.2012) in seinen Uberlegungen zur Rolle von Ideologie in Zeiten des Arabischen Fr¨ uhlings” feststellt, selbst ideologische Qualit¨at (vgl. auch ” 3.2.3). Selbst den wenig hierarchischen und kaum formalisierten neuen” Bewegungsak” teuren der Protestwelle kann also keineswegs v¨ollige Ideologiefreiheit attestiert werden. Sie verorten sich zwar außerhalb von formalen Akteuren wie Parteien, die ihnen eine ¨ Ideologie vorgeben k¨onnten. Ihre Uberzeugungen und Einstellungen werden also nicht von einer Partei u ¨bernommen, sondern sie entwickeln in ausschließlicher Selbstverant” wortung” (Kron 2007: 330) eine eigene ideologische Bastelexistenz” (Hitzler und Honer ” 1994; vgl. 3.2.3). Wie in dem obigen Interviewzitat einer Gr¨ underin von La¨ıque Pride (s. Y. Younes und Elali 04.05.2012) deutlich wurde, meinen Aktivisten mit der Betonung ihrer Unabh¨angigkeit von Ideologien, dass einzelne Bewegungsakteure sich in ihren strategischen Entscheidungen nicht nach den Vorgaben einer Partei richten, es geht also um ausformulierte und parteigebundene Ideologien. Die konstatierte Ideologiefreiheit bezieht sich also prim¨ar auf Abgrenzung von Parteien (und teilweise auch von NGOs), welche wiederum zu einer Informalisierung der Organisationsformen f¨ uhrt. Wie die oben zitierten Debatten unter Aktivisten u ¨ber die Rolle der Unabh¨angigen in der kaum formal organisierten Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı andeuten, bringen die Distanzierung antikonfessioneller Akteure von Parteien und NGOs und die Restrukturierung des antikonfessionellen Aktivismus in Graswurzelgruppen und Koalitionen organisatorische Implikationen mit sich. Mit der Abgrenzung von Parteien und NGOs wird der s¨akulare Aktivismus entstrukturiert” und in Form von unabh¨angigem Aktivismus ” restrukturiert” (U. Beck 1986, 2008, s. 3.2.3). In diesem Verst¨andnis der informellen Ak” teure als restrukturierte” Akteure des antikonfessionellen Aktivismus spiegelt sich die ” Beobachtung, dass diese Akteure nicht vollst¨andig neu sind, sondern dass es sich prim¨ar um die Herausbildung neuer kollektiver Strukturen handelt (vgl. U. Beck 2008). Die neueren informellen Akteure k¨onnen daher als Nachfolger der formaleren Akteure verstanden c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

werden, auch wenn diese durchaus weiter bestehen. Diese restrukturierten, neu geordneten Formationen weisen allerdings deutliche organisatorische Unterschiede zu den alten”, ” formalen Vorg¨angern auf. Anders als Parteien und NGOs wiesen die weniger formalen Protestgruppen in ihrer internen Organisation kaum horizontale und vertikale Differenzierung auf, ¨ahnlich wie die von Offe (1985: 829f.) analysierten neuen sozialen Bewegungen (s. 3.1.5). Wie Offe (1985) zeigt, l¨ost sich mit der vertikalen De-Differenzierung die Unterscheidung zwischen Anf¨ uhrern und Mitgliedern, bzw. zwischen leaders” und rank and file members” (Offe ” ” 1985: 829f.), auf. Damit wurde die Differenzierung zwischen Organisatoren und Teilnehmern unscharf, denn jeder der hunderten Teilnehmer an den Organisationstreffen der Koalition konnte sich selbst als Organisator” verorten, auch wenn die Gr¨oße und die Un” verbindlichkeit dieser Treffen nahelegen, dass es viele der dort anwesenden Aktivisten eher als Teilnehmer” einzustufen w¨aren. So waren die Organisationstreffen der Koalition Isq¯at. ” an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı kaum formalisiert, sondern, wie oben zitiert, eine totale Unordnung” ” (Experteninterview). Auch waren sowohl Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als auch La¨ıque Pride durch gewollt flache bis fehlende formale Hierarchien gekennzeichnet, auch wenn die Frage der F¨ uhrung intern viel diskutiert wurde. Ein weiterer Aspekt von De-Differenzierung besteht darin, dass die entsprechenden Bewegungsakteure kein klares internes Zentrum aufweisen. So gibt es in Graswurzelorganisationen wie Nasawiya und La¨ıque Pride weder Vorsitzende noch Sprecher und somit keinen festen Ansprechpartner f¨ ur Externe. Auch in den Koalitionen Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı gab es kein Gesicht ” der Gruppe”. Bei Interviews und anderen Medienauftritten wurde die Koalition Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı immer wieder von unterschiedlichen Personen vertreten. Es handelte sich um ein segmentiertes Netzwerk, das nicht v¨ollig f¨ uhrungslos war, sondern mehrk¨opfig”, ” also mehrere Zentren aufwies (Della Porta und Diani 2006: 157ff. s. 3.1.3). Mit dieser Mehrk¨opfigkeit und Segmentierung der Koalition in kleinere Netzwerke geht einher, dass die verschiedenen F¨ uhrungszentren relativ unabh¨angig voneinander agieren, so dass die einzelnen Segmente autonom entscheiden, inwieweit sie kooperieren. Auch das Organisationsprinzip der horizontalen Differenzierung (Offe 1985: 829f.) war insbesondere in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı verwischt. Indem die Koalition keine formale Mitgliedschaft kannte und Organisationstreffen explizit f¨ ur jeden” ¨offnete, erkl¨arten die ” Akteure damit die Unterscheidung zwischen Insidern” und Outsidern” (Offe 1985: 829f.) ” ” f¨ ur irrelevant. So bezog die Koalition h¨ochst unterschiedliche zivilgesellschaftliche und anderweitig politisch aktive Gruppen ein und wurde zu einem Sammelbecken von Gruppierungen, Meinungen und Strategien. In den Vorbereitungstreffen f¨ ur die Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı konnte jeder Interessierte sich als Organisator einbringen, ohne langfristige Verbindlichkeit und unabh¨angig von Mitgliedschaften in anderen Grup¨ pen. Diese Offnung f¨ ur ein sehr breites Feld von Aktivisten – sowohl Teilnehmer als auch Organisatoren – war gewollt (Experteninterview, s. 155). Auch in weiteren Experteninterviews wurde die Offenheit” der Koalition betont, etwa bei diesem unabh¨angigen Aktivist: ” During the meetings we tried to direct towards a more open coalition, to understand how ” it worked in Egypt and Tunisia and take it from there“ (Experteninterview). Diese Offenheit f¨ uhrte zu einer Flexibilisierung der Mitgliedschaft in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die durch das Mobilisierungsinstrument Facebook weiter vorangetrieben wurde.63 Die Einc

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Besonders unter den jungen Unabh¨ angigen finden sich auch Stimmen, welche die Bedeutung von Facebook f¨ ur die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 als immens hoch einsch¨atzen: Facebook [...] revolutionized all what we are doing. Last year we had an act to ”

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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beziehung der diversen Facebook-Seiten in die Mobilisierung zu Vorbereitungstreffen der Koalition ¨offneten die Treffen explizit f¨ ur unterschiedlichste Akteure, denn auf diesen Seiten wurde die Offenheit der Koalition betont, wie eine Aktivistin berichtete: They called ” for meetings on Facebook, so everybody can go, we were excited“ (Experteninterview). Wenn Mitgliedschaften informell und unverbindlich sind, erfolgen Beitritte und Austritte spontan und reversibel (vgl. Duboc 2011: 74; Hanafi 2012: 204). Activists hop on and ” off institutions”, wie es der Soziologe Sari Hanafi ausdr¨ uckte (informelles Gespr¨ach). Insbesondere in der h¨ochst informell organisierten Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı traten Aktivisten sehr leicht ein und aus.64 Auch u ¨ber die Teilnahme an einzelnen Protestaktionen entschieden Aktivisten ad hoc. Der Aktivismus der Protestwelle war auch f¨ ur Mitglieder formaler Bewegungsorganisationen freiwillig. Diese Freiwilligkeit wurde in den Interviews betont, um die Abgrenzung von den Organisationsweisen der etablierten Parteien zu unterstreichen. So stellten Aktivisten von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, der LCP und La¨ıque Pride heraus, dass die Teilnahme an Demonstrationen der Protestwelle nicht bezahlt wurde (Experteninterviews).65 c

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overthrow the sectarian regime, [...] Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯a if¯ı. [...] So, at that time, it ’ was solely organized on Facebook. It was advertised on Facebook. The flyers we were distributing were not really the first reason for people to come, most knew about it from Facebook.” (Experteninterview) Hier gilt Facebook als wichtiges Instrument der Mobilisierung wie auch der Organisation. Das Zitat repr¨ asentiert eine verbreitete Wahrnehmung der Rolle von Facebook unter unabh¨angigen Aktivisten. Dabei ist zu ber¨ ucksichtigen, dass diejenigen Interviewpartner, die Internetinstrumenten eine zentrale Rolle zuschreiben, zumeist selbst diejenigen sind, die diese Instrumente intensiv nutzen: So sch¨ atzten insbesondere Administratoren aktivistischer Facebook-Gruppen und Blogger diese Foren des Aktivismus als bedeutsam ein. In ihrer Selbstwahrnehmung ist Facebook ein erm¨achtigendes Medium, durch das sie neue Wege des Aktivismus er¨ offnet sehen. Damit wird die Rolle von Facebook f¨ ur die Organisation und Mobilisierung allerdings u ¨bersch¨atzt, denn wie oben in 6.1.4 gezeigt, waren f¨ ur die Organisation der Koalition Isq¯ at. an-Niz.¯am at.-T.¯a if¯ı und die Mobilisierung zu ihren Demonstrationen andere Organisationsformen ebenso wichtig wie Facebook, insbesondere die ausschließlich offline organisierte Koalition al-Liq¯ a al-c Alm¯an¯ı. Der Mobilisierungserfolg der Protestwelle beruhte folglich nicht prim¨ ar auf Protestakteuren eines bestimmten Typs, sondern auf der Kooperation und der Komplementarit¨ at von verschiedenartigen Protestakteuren. Vergleichbare Tendenzen stellt Duboc (2011) f¨ ur den Kontext der ¨agyptischen Kefaya-Bewegung fest. Sie zitiert Intellektuelle, die ihre Mitarbeit bei Kefaya als flexibel und ambivalent beschreiben und dies in die Worte fassen: I am a member... and not a member.” (Duboc 2011: 74f.) ” Die LCP stellte allerdings kostenlose Busse bereit, um Mitglieder aus den Provinzen zu den Demonstrationen nach Beirut zu fahren. Ein Interviewzitat zeigt, dass dies f¨ ur die interviewte Aktivistin keinen Widerspruch darstellte: Die diskursive Abgrenzung von etablierten Parteien blieb aufrechterhalten, indem die Aktivistin im Interview betonte, dass die LCP nur Infrastruktur bereitstelle, w¨ ahrend – anders als bei den Parteien des 8. und 14. M¨arz – nicht im engeren Sinne die Teilnahme bezahlt w¨ urde: c

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E1: And you don’t pay. This [Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯ a if¯ı] is the first time in Lebanon that you make a big demonstration without paying people to come. E2: 14 March and 8 March, they pay the people, for the buses, and for the people, giving them food or something like that. But in our case, we can not do it. [...] E2: I know that the communists pay for buses for their people to come from the borders, from the South and the North. [KS: You said ten minutes ago that this was the first demonstrations nobody paid for.] E2: Yes, but [...] not to pay them to come, not to pay fuel or give them money to come. If you have 10,000 you can not come to Beirut. So they paid for the buses.

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Insgesamt stellte sich somit die Mitgliedschaft in Graswurzelorganisationen und in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als deutlich freiwilliger und unverbindlicher dar als die Mitgliedschaft in Parteien und NGOs. Diese vergleichsweise geringe Verbindlichkeit und Solidarit¨at der Aktivisten untereinander sind ein typisches Merkmal restrukturierter Gruppierungen (vgl. Hitzler 1997: 49ff. U. Beck und Sopp 1997a: 12, s. 3.2.3). c

Die genannten Aspekte der Informalit¨at – Flexibilit¨at der Mitgliedschaften, starke Offenheit und schwache Verbindlichkeit – hatten Auswirkungen auf den Verlauf der Mobilisierung und somit letztlich auf den Verlauf der Protestwelle. Diese Effekte sind hier kurz zu diskutieren, weil sie die oben dargestellten Kontroversen u ¨ber die Rolle der informell organisierten und insbesondere der unabh¨angigen Akteure in der Protestwelle reflektieren. Die offenen und unverbindlichen M¨oglichkeiten der Teilnahme unterst¨ utzten die Mobilisierung und Expansion. Andererseits trug die Unverbindlichkeit zur Instabilit¨at der Protestwelle bei. Diese Instabilit¨at wurde verst¨arkt durch einen weiteren Aspekt der De-Differenzierung, namentlich die Mehrk¨opfigkeit” (Della Porta und Diani 2006) der ” Protestwelle, also die Existenz weitergehend autonomer Segmente, die sich leicht abspalten konnten. So fielen insbesondere die Graswurzelorganisationen, aber auch die antikonfessionelle Bewegung als ganzes gegen Ende der Protestwelle auch durch den niedrigen Grad der formalen Organisiertheit rasch zur¨ uck aus der Aktivit¨at in den Zustand der Latenz” (Melucci 1984; Della Porta und Diani 2006: 149; s. Abschnitte 3.1.3 und 3.1.6). ” Trotz dieser Risiken der Unverbindlichkeit und Instabilit¨at waren das Fehlen von formaler Organisiertheit bzw. die horizontale und vertikale De-Differenzierung” (Offe 1985) ” programmatisch gewollt: Das Verlassen auf De-Differenzierung unterstrich die Abgrenzung von der formalen Politik. Der Aktionsbereich des antikonfessionellen Aktivismus u ¨berwindet durch die beschriebenen Praktiken der informellen Organisation die Grenzen der formalen Politik, so dass die informalisierten Organisationsformen Z¨ uge von entgrenz” ter Politik” aufweisen (U. Beck 1986: 300ff. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 9; s. auch Abschnitt 3.2.2): Die informellen Akteure verorten sich außerhalb der formal-politischen Spielregeln, n¨amlich sowohl jenseits der großen politischen Lager als auch jenseits der formal-politischen Institutionen66 . Derartige Tendenzen der Informalisierung des antikonfessionellen Aktivismus k¨onnen unter R¨ uckgriff auf Theorien der Politischen Differenz” interpretiert werden (s. z.B. ” Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; s. 3.2.1): Die Aktivisten, die in Abgrenzung von Parteien und NGOs mit flachen Hierarchien und chaotischen Treffen experimentieren, sind gewissermaßen nicht Repr¨asentanten der Politik”, sondern des ” Politischen”. Sie verlassen also die durch die konstituierte Macht” vorgesehenen insti” ” tutionellen Pfade (Balibar, zitiert nach Celikates 2010b: 291; s. auch Celikates 2010a: 73) und versuchen, als konstituierende Macht” die politischen Regeln zu verschieben. Damit ” sind diese Akteure nicht als unpolitisch einzustufen, denn die Distanzierung von den etablierten formal-politischen Organisationen wie Parlament und Parteien kann in sich den Charakter einer politischen Artikulation aufweisen (vgl. Arzheimer 2001). Junge Aktivisten wenden sich dabei von stark formalisierten Gruppen und von ausfor(Experteninterview) 66

Das dritte Merkmal entgrenzter” Politik besteht in der Entgrenzung von Themen, also in der ” Politisierung vormals als unpolitisch geltender sozialer Regeln und Lebensbereiche (vgl. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 9). Diese Entgrenzung politischer Ziele wird unten in 7.3.1 ausf¨ uhrlicher diskutiert.

6.2 Transformationen der Organisationsformen

161

mulierten Ideologien ab, obwohl dies in einer chaotischen” Organisationsweise, interner ” L¨ahmung und einer Entbettung der Themen aus gr¨oßeren Zusammenh¨angen resultiert. Den Mangel an organisatorischer Effizienz nehmen viele Aktivisten deshalb hin, weil die Wahl dieser losen Organisationsformen programmatische Gr¨ unde hat. Ein hoher Grad an formaler Organisiertheit und Differenzierung gilt ihnen als ein Faktor von Legitimit¨at bzw. Illegitimit¨at. Hier zeigt sich – wie mit Blick auf die theoretische Literatur zu erwarten ist (vgl. Della Porta und Diani 2006, s. auch Abschnitt 3.1.3) – ein negativer Zusammenhang zwischen der Professionalisierung des Aktivismus und der Legitimit¨at in den Augen der jungen, unabh¨angigen Aktivisten. Die Legitimit¨at, welche die jungen Unabh¨angigen aus ihrer Distanzierung von Parteien und NGOs erwerben, geht auf Kosten der Professionalit¨at der Organisationsstrukturen. So waren die großen Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı sehr legitim bez¨ uglich ihrer Distanz von Parteien, aber aus ebendiesem Grund auch chaotisch”. ” Mit einem erneutem R¨ uckgriff auf die Theoretiker der neuen sozialen Bewegungen (s. J. L. Cohen 1985: 670, 689, s. auch 3.1.5) wird verst¨andlich, dass der unabh¨angige Aktivismus, wie er in La¨ıque Pride und in weiten Teilen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı verfolgt wurde, selbst ein politisches Ziel darstellt, in dem die Akteure ihre Aktionen als Versuche ” interpretieren, die demokratische politische Kultur zu erneuern” (J. L. Cohen 1985: 670). Die chaotischen” Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren in der Logik ” einiger Aktivisten insofern Selbstzweck, als sie einerseits die Distanz der Aktivisten zu etablierten Parteien und NGOs demonstrierten und andererseits alternative Organisationsformen praktizierten. c

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6.2.3 Transformationen der Organisationsformen in den Phasen der Protestwelle Die Organisationsstruktur des antikonfessionellen Aktivismus war w¨ahrend der Welle 2010-2012 dynamisch, sie ver¨anderte sich laufend. Wie Rucht (2004) feststellt, sind Beziehungen innerhalb von Bewegungsnetzwerken vielf¨altig und ver¨anderlich: Sie changieren zwischen Kooperation, Konkurrenz und Konflikt (Rucht 2004, s. Abschnitt 3.1.3). Dies war auch in der antikonfessionellen Protestwelle der Fall. Die sich ergebenden Transformationen in der Organisationsstruktur betrafen etwa die Bildung und Aufl¨osung von Koalitionen, die umstrittenen Rollen von Parteien und NGOs, die rasche Mobilisierung und den R¨ uckfall in die Latenz, und weitere Aspekte. Die Ver¨anderungen der Organisationsstruktur liefen teils parallel, teils sukzessiv ab. Sie sollen in diesem Abschnitt nachgezeichnet und unter R¨ uckgriff auf das oben in Abschnitt 3.1.6 eingef¨ uhrte theoretische Modell der Protestwelle” analysiert werden, so dass die Ver¨anderungen der Organisationsstruktur in ” die Phasen der Protestwelle eingeordnet werden. Diese Phasen bestehen in Expansion”, ” Transformation”, Kontraktion” und Re-Routinisierung” (Koopmans 2004), wobei der ” ” ” H¨ohepunkt der Mobilisierung auch als Ausnahmeepisode” (Bayat 2013b) und die Phasen ” vor und nach der Welle als Phase der Latenz” (vgl. Melucci 1984; zitiert nach Della Porta ” und Diani 2006: 149) bezeichnet werden. W¨ahrend der Expansionsphase kooperierten vielf¨altige Bewegungsakteure. Sie leisteten Koalitionsarbeit” (Rucht 2004) und arbeiteten aktiv an einem Anstieg von bewe” gungsinterner Verst¨andigung und Koordination. Zu Beginn der Protestwelle 2010 war die erste Veranstaltung von La¨ıque Pride f¨ ur mehrere weitere antikonfessionelle Akteure der Anlass, sich um Kooperation zu bem¨ uhen. So veranstalteten die Organisatoren des La¨ıque Pride Vorbereitungstreffen mit anderen

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Bewegungsakteuren, wobei etwa das Civil Society Movement an der Vorbereitung des Marschs beteiligt war (Experteninterview) und die Zeichnerin Maya Zankoul einen Cartoon zur Verf¨ ugung stellte (Experteninterview). Von Aktivisten von La¨ıque Pride wurde die Wahrnehmung artikuliert, dass diese Kooperation antikonfessioneller und s¨akularer Akteure 2010 beispiellos gewesen sei, und dass somit La¨ıque Pride die erste Kooperation dieser Kr¨afte angeregt h¨atte. Donc la La¨ıque Pride se veut comme un chapeau sup´erieur, c’est comme, r´eunissons nous tous. [...] Tu appelles les gens, tu dis : Toi, pr´esente ; toi, ” pr´esente. . . ” Qui est l`a, qui sommes-nous ? Et la La¨ıque Pride a eu ¸ca tr`es tr`es positif. C’est-`a dire-que c’´etait la premi`ere fois les gens se sont regard´es: Ah, tiens, bonjour, moi je suis la¨ıc, toi aussi. Moi je travaille pour cette cause, ” toi tu travailles pour cette cause. Et ben, travaillons peut-ˆetre ensemble”. (Experteninterview) Auch wenn diese Darstellung historisch nicht haltbar ist, sondern es bereits vor 2010 Beispiele f¨ ur Kooperationen s¨akularer Akteure gab, etwa in der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren (s. Kapitel 5.2), so zeigt diese Wahrnehmung doch, welche Rolle der erste La¨ıque Pride als Ausl¨oser der Protestwelle spielte. Insbesondere j¨ ungere Aktivisten nahmen die Veranstaltung als Beginn eines neuen” antikonfessionel” len Aktivismus wahr. Der Marsch war verbunden mit Anf¨angen erneuter Koalitionsarbeit unter Akteuren, die in der Latenzphase h¨aufig getrennt operiert hatten. In den folgenden beiden Jahren 2011 und 2012, in denen jeweils auch eine Veranstaltung von La¨ıque Pride stattfand, wurde die Kooperation mit anderen Bewegungsakteuren konflikthafter. So berichtete eine interviewte Aktivistin, die als Organisatorin an der Vorbereitung aller drei M¨arsche von La¨ıque Pride beteiligt war, dass 2010 auch Details mit den Kooperationspartnern diskutiert wurden, w¨ahrend Beschl¨ usse 2012 bereits in der Kleingruppe der Organisatoren getroffen und erst im Nachhinein an die Kooperationspartner kommuniziert wurden , wie eine Aktivistin von La¨ıque Pride im Interview berichtete. La¨ıque Pride band dabei nach wie vor auch Forderungen anderer Gruppierungen ein, aber gab die Slogans zunehmend selbst vor. Dar¨ uber kam es bei einem Vorbereitungstreffen f¨ ur den Marsch 2012 zwischen dem Organisationsteam und anderen Bewegungsakteuren zu einem Konflikt, u ¨ber den Vertreter beider Seiten in Interviews berichteten (Experteninterviews). Als im Februar und M¨arz 2011 die Expansion der Protestwelle beschleunigte, die Zahl der Aktivisten anstieg und die Aktivit¨aten von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı begannen, wurden auch die etablierten antikonfessionellen NGOs davon u ¨berrascht. Das Civil Society Movement und CHAML, die bereits vor der Protestwelle kontinuierlich an der Thematik gearbeitet hatten, reagierten unterschiedlich auf die ver¨anderte Situation. CHAML hielt an den Planungen seiner laufenden Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht67 fest, in der unter anderem am 18. M¨arz 2011 ein Protestzelt in der Beiruter Innenstadt errichtet werden sollte: c

The tent was there for nine months. [...] It started on March 18 because March 18 was the day we had chosen. Actually it [the campaign] started in 2009 on March 18. Some people think we did it [the tent] because of the big movement [Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı], because they don’t read, they don’t study what happened yesterday. (Experteninterview) c

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ˇ c b u.a. In dieser Kampagne, die 2009/2010 begann, kooperierten auch CSM, ULDY, H.arakat Sa (Experteninterviews). Die Aktivit¨ aten der Kampagne werden in Kapitel 7 diskutiert.

6.2 Transformationen der Organisationsformen

163

Der interviewte Aktivist dr¨ uckte somit im Namen von CHAML Distanz gegen¨ uber Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı aus. Im Civil Society Movement hingegen wurde die Koalition positiver gesehen, wie eine interviewte Aktivistin des CSM beschrieb: c

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I was not disappointed. When they [Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı] started the activities, one of my main thoughts was: Great, this will help us to identify ” who is secular.” And that’s all. I didn’t expect more than that. And that happened. But my other thought was: Shit, this is two years too early to ” happen, we are not really prepared yet”. (Experteninterview) Das Civil Society Movement unterbrach Anfang 2011 Teile seiner laufenden Projekte, um in den aktuellen Netzwerken mitzuarbeiten. Den divergenten Einsch¨atzungen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı folgend, kooperierte das Civil Society Movement intensiv mit der Koalition, w¨ahrend der Pr¨asident von CHAML zwar Gespr¨ache mit Aktivisten der Koalition f¨ uhrte, CHAML sich aber weder als Organisation noch mit f¨ uhrenden Aktivisten der Koalition anschlossen. Bewegungsakteure, die mit CHAMLs neuer Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht lose kooperiert hatten, setzten diese Kooperation w¨ahrend der Hochphase der Protestwelle aus, weil sie sich Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı angeschlossen hatten. So berichtete ein Vertreter von CHAML im Interview u ¨ber den Tag, an dem CHAML seinen Gesetzentwurf zur Zivilehe im Parlament pr¨asentierte: c

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We called [...] everyone who was in the campaign before, but no one came except one or two. They said: No, we won’t go to Nabih Birri. Why? Becau” se we are with the big movement Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı] now, and the big movement said we would not get involved with the politicians”. (Experteninterview) c

Diese Beispiele f¨ ur Spannungspotenzial zwischen Bewegungsakteuren verdeutlichen die Bedeutung von aktiver Koalitionsarbeit in der Expansionsphase. Intensive Koalitionsarbeit zwischen antikonfessionellen Bewegungsakteuren wurde in den Koalitionen al-Liq¯a alc Alm¯an¯ı und, beim H¨ohepunkt der Expansionsphase, in besonderem Maße in Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı geleistet. Hier kooperierten junge und alte, erfahrene und unerfahrene, formal organisierte und nicht formal organisierte Akteure, die zudem durchaus unterschiedliche Forderungen vertraten. Die Treffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı in den R¨aumen ˇ c b belegen die von NGOs wie dem Civil Society Movement und Parteien wie H.arakat Sa wichtige organisatorische Rolle dieser Organisationen. Diese waren zugleich Mitglieder des Liq¯a c Alm¯an¯ı, das innerhalb von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı eine koordinierende, aber keine f¨ uhrende Rolle einnahm, wie mehrere an der Koalition beteiligte Aktivisten berichteten: c

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So us, the Liq¯a c Alm¯an¯ı, what we cared about was not to create a conflict ” between those different notions. So we started working with the different guys, on Facebook [...]. We called for a meeting of the different groups who were organized on different pages. There were already different pages all calling for more or less the same thing. (Experteninterview) c

But the Liq¯a c Alm¯an¯ı never actually [...] felt comfortable to lead, although it was very much a mixed group of youth, and parties, and NGOs, and nonconventional NGOs. Their hesitation allowed the youth... some of them were c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

in the group, but decided that they wanted to operate in a different way... the kitchen became somewhere else. (Experteninterview) Es wird deutlich, dass die erfahrenen Aktivisten von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı mit den j¨ ungeren, neuen Aktivisten aus den Facebook-Gruppen zwar kooperierten, aber dass diese Kooperation nicht konfliktfrei war. Die in al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı zusammengeschlossenen Aktivisten u ¨bernahmen die anf¨angliche interne Koordination auch deshalb, weil sie den informellen, neuen” Akteuren, also den j¨ ungeren, enthusiastischen Unabh¨angigen nicht zutrauten, ” sich eigenst¨andig zu organisieren. Beide zitierte Interviewpartner betonen die Vielfalt der jeweils eigenst¨andig, aber eben unkoordiniert operierenden Akteure. Die Koalitionsarbeit zwischen diesen unterschiedlichen Akteuren war dennoch derart erfolgreich, dass die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı u ¨ber Wochen in den libanesischen Medien pr¨asent war und zum H¨ohepunkt der Mobilisierung 20.000 Demonstranten auf die Straße brachte. F¨ ur den Erhalt dieser sehr breiten antikonfessionellen Koalition machten die einzelnen Akteure Zugest¨andnisse. So berichteten mehrere erfahrene Aktivisten, dass sie Einladungen junger Aktivisten aus La¨ıque Pride und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zu Workshops und Vortr¨agen ¨ annahmen, obwohl sie deren strategische Uberlegungen nicht teilten (Experteninterviews). Weitere Bewegungsakteure waren mit der gr¨oßten Koalition der Protestwelle, Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, kaum koordiniert, aber teilweise davon inspiriert. Dies gilt f¨ ur die Veranstalter der beiden im M¨arz 2011 in Beirut errichteten Protestzelte, wiewohl deren organisatorischen Hintergr¨ unde sehr unterschiedlich waren. Das Zelt, mit dem CHAML f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht demonstrierte, war organisatorisch und strategisch unabh¨angig von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, auch wenn lose Kooperation stattfand. Die Idee f¨ ur ein Protestzelt am Innenministerium hingegen entstand parallel zu Isq¯at. an-Niz.a¯m at.T.a¯ if¯ı und war ebenso wie die Koalition ein Produkt des antikonfessionellen Enthusiasmus der Ausnahmeepisode. Die jungen Aktivisten, die bei ihrem Zelt vor dem Innenministerium den Sturz des konfessionalistischen Systems” forderten, waren zumindest zum Teil ” explizit keine Mitglieder der Koalition (Experteninterview), auch wenn sie an mehreren Punkten kooperierten und sich koordinierten. So hielt etwa ein NGO-Aktivist, der auch Mitglied in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war, am Zelt Workshops ab (Experteninterview), und die Abschlusskundgebung der großen Demonstration am 20. M¨arz 2011 fand ebenfalls am Innenministerium statt. Um die Organisationsstruktur in der Protestwelle zu verstehen, muss auch die Rolle der Systemparteien betrachtet werden. Zu Beginn der Protestwelle waren Reaktionen aus diesen Parteien rar, wie ein Aktivist berichtete: Last year [2011], at the first demo, they ” [ruling political parties] were very hostile. Because they thought it would not develop. [...] The second demo grew up from 3,000 to 10,000” (Experteninterview). Zum H¨ohepunkt der Expansionsphase versuchten dann insbesondere die Parteien Amal und SSNP als Trittbrettfahrer von der Bewegung zu profitieren. Nach der zweiten Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı rief Nabih Birri junge Anh¨anger seiner Partei Amal dazu auf, sich an den Demonstrationen der Koalition zu beteiligen (vgl. L’Orient-Le Jour 07.03.2011; zitiert nach Association pour un Liban La¨ıque 2011). In der Folge nahmen Parteimitglieder an Demonstrationen, aber auch an Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı teil. Das stieß in der Koalition auf viel Kritik, trug aber zum Erreichen der Teilnehmerzahl von 20.000 bei der gr¨oßten Demonstration bei (Experteninterviews). Hier ist eine klare Unterscheidung zwischen Teilnehmern und Organisatoren zu treffen (vgl. Kriesi u. a. 2003: 37; s. Kapitel 4), denn die Zusammensetzung der Teilnehmerschaft unterscheidet sich von der Zusammensetzung der Organisatoren. Die Organisatoren waren gr¨oßtenteils s¨akular und c

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6.2 Transformationen der Organisationsformen

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keine Mitglieder der etablierten Parteien. Die Teilnehmerschaft hingegen weitete sich zum H¨ohepunkt der Protestwelle nicht nur politisch, sondern auch sozial aus: W¨ahrend beim ersten La¨ıque Pride 2010 vor allem Angeh¨orige der Mittelschicht teilnahmen, liefen bei den gr¨oßten Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı auch mehr einfache Leute” ” mit, wie ein Organisator von La¨ıque Pride beobachtete: c

Ca part d’une certaine classe. Dans la La¨ıque Pride, quand tu vas `a la manifestation, en fait c’est des gens que je connais quasiment tous. Je les ai vus quelque part, `a H.amr¯a , on a bu des verres ensemble, on se connait, des artistes, des ´ecrivains, des ´etudiants, des ´etudiants des grandes universit´es, surtout de Beyrouth. Mais en mˆeme temps, dans la premi`ere La¨ıque Pride, il y avait des gens qui sont venus du sud, du nord, juste quelques personnes, mais c’´etait d´ej`a ´enorme. [...] L’ann´ee d’apr`es, l’ann´ee derni`ere [2011], il y avait Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. [...] Quand je regardais les gens, il y avait des gens d’un profil tr`es diff´erent. [...] Il y avait des gens qui venaient, qui marchaient avec nous qui venaient de Burˇg H.amm¯ ud, des gens qui ne sont pas n´ecessairement `a la fac, [...] les gens qui travaillent dans la restauration, les gens qui travaillent, [les] m`eres de famille. (Experteninterview). c

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Unter den neuen Teilnehmern, die zur gr¨oßten Demonstration am 20. M¨arz 2011 mobilisiert worden waren, befanden sich einerseits Anh¨anger der Systemparteien und andererseits Unabh¨angige und Personen, die vormals wenig politisiert waren: On the third one [demonstration on March 20, 2011], there were events why it was so huge. Many parties participated in it, very well organized, parties, and many parties which participated in it are sectarian parties. Others are secular parties. And there is a high number of people coming here, for the first time in their life participating in a political event. (Experteninterview) Die Rollen der verschiedenen Akteure unter den Aktivisten sind umstritten. Diese Uneindeutigkeit resultiert aus der f¨ ur soziale Bewegungen typischen Netzwerkstruktur, die unter R¨ uckgriff auf Della Porta und Diani (2006: 157ff.) (vgl. 3.1.3) als mehrk¨opfig” und ” segmentiert” zu verstehen ist. Die interne Organisationsstruktur einer sozialen Bewe” gung ist nicht hierarchisch, sondern es gibt mehrere Zentren, deren Verh¨altnis teilweise von Kooperation und teilweise von Konkurrenz gepr¨agt ist. Keines der Segmente ist klar f¨ uhrend, und keines hat die eindeutige Deutungshoheit. So kursieren im Fall der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 unterschiedliche Deutungen, wer maßgeblich f¨ ur Verlauf und Br¨ uche der Protestwelle verantwortlich war. Manche Akteure sch¨atzen die Rolle der auf Facebook organisierten Aktivisten als f¨ uhrend ein (Experteninterview, s. 6.2.2), andere sehen die auch in der Latenzphase kontinuierlich aktiven Aktivisten aus NGOs und Parteien als maßgeblich an. Die Formierung der unterschiedlichen Akteure geschah teils parallel, und h¨aufig in Reaktion aufeinander. So war die Formierung von al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı eine Reaktion auf La¨ıque Pride und die Formierung junger Aktivisten auf Facebook-Seiten und in Facebook¨ Gruppen eine Reaktion auf die Ereignisse in Agypten und Tunesien um den Jahreswechsel 2010/2011. F¨ ur die Initiative des ersten gemeinsamen Treffens von Aktivisten des Liq¯a c Alm¯an¯ı und der Facebook-Gruppen waren Aktivisten des Civil Society Movement treibende Kr¨afte, wie ein Mitglied des CSM berichtete: c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Revolutions started in several countries, and people in Lebanon, some of them, started websites about this issue. And they were sitting on this table [in the CSM office]. I was standing there, I did not participate directly [...]. So they said: Why not invite the administrators of these websites, to come and ” talk together?” And on each of these two main websites they invited there were more than 10,000 people registered. [...] So they fixed the dates, and all of them came. At the beginning, it was just to get to know each other. (Experteninterview) Die Koalitionsarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren funktionierte in dieser Phase gut. Sie war getragen von Enthusiasmus, wie in den Gespr¨achen mit dem eben zitierten CSM-Mitglied sowie einem unabh¨angigen Aktivisten deutlich wurde: But the new ones [...], those who did not have any experience in group work, at the beginning they were a plus. Because they were enthusiastic, they wanted to do things, they were full of energy. (Experteninterview) The problem is that there was a lot of enthusiasm last year [2011] in this movement, but there was a revolutionary naivety, a lot of naivety, [...] by the people who were running it. The enthusiasm is nice, but we need to mature. (Experteninterview) Wie Tarrow (2011: 14) gezeigt hat, sind solche Zusammenschl¨ usse unterschiedlicher Akteure zu Koalitionen ein typischer Mechanismus der Expansionsphase einer Protestwelle. Die einzelnen an der Koalition beteiligten Akteure leisten dabei Koalitionsarbeit” (Rucht ” 2004: 203f. Della Porta und Diani 2006: 157), die beteiligten Parteien, NGOs, Graswurzelorganisationen und Pers¨onlichkeiten investieren also bewusst in die Kooperation (s. 6.2.3). Die Koalitionsbildung in dieser Phase ist getragen von Enthusiasmus und Offenheit. Es handelte sich um eine Ausnahmeepisode, einen moment of madness”, eine Phase der ” allgemeinen Unordnung (s. Abschnitt 3.1.6). W¨ahrend der Ausnahmeepisode waren Aktivisten euphorisch und bereit zu politischen Kompromissen, aber auch zu pers¨onlichen Zugest¨andnissen: In this period the Lebanese youth did not care for their jobs. My newspaper [said]: You are not working.” I said: I don’t care. If you throw me out, throw ” ” me out.” It was a chance for the Lebanese youth to change Lebanon, even if they lost one job, they will find a nation, they will find a state, they will find themselves. Many of them stopped working, or took a long vacation. [...] Many of them lost their jobs, and really, they don’t care. (Experteninterview) Wie aber bereits die weiter oben stehenden Interviewzitate gezeigt haben, kann die Stimmung der Ausnahmeepisode nicht die Konsolidierung des Aktivismus tragen (vgl. Bayat 2013b). Der Enthusiasmus trug die Expansion der Protestwelle, wird aber im Nachhinein mit Blick auf die Zeit nach dem H¨ohepunkt der Protestwelle kritisch gesehen. Dementsprechend ¨außert ein erfahrener Aktivist Kritik an den jungen unabh¨angigen Organisatoren des Protestzelts am Innenministerium: The youth [...], they did it fast. Back at that time ” when they decided on that, the secular movement was not consolidated” (Experteninterview).

6.2 Transformationen der Organisationsformen

167

Die Transformationsphase der Bewegung war von diesen Konflikten gepr¨agt und m¨ undete letztlich in die Spaltung der Bewegung. Dies war kein spezifisches Problem der libanesischen Antikonfessionalisten, sondern die Vorg¨ange zeigten vielmehr typische Muster f¨ ur den Verlauf einer Protestwelle: In der Transformationsphase einer Bewegung kann es zu Konkurrenz um Ideologie, Strategie und Ressourcen kommen (vgl. Rucht 2004: 212; s. Abschnitt 3.1.3). Auch treten in dieser Phase typischerweise bestimmte Transformationsprozesse auf Ebene der Akteure auf, etwa die Polarisierung zwischen sich institutionalisierenden und sich radikalisierenden Teilen der Bewegung (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322; Kriesi u. a. 2003: 124), sowie die Konstituierung neuer Akteure, sei es durch erweiterte Mobilisierung, durch den Einbezug etablierter Akteure, oder durch interne Fusionen und Spaltungen (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314ff. s. 3.1.6). Die Transformationsphase der antikonfessionellen Protestwelle begann Ende M¨arz 2011, als der H¨ohepunkt der maximalen Mobilisierung u ¨berschritten war und die Ausnahmeepisode auf ihr Ende zuging. Den Beginn der internen Spaltungen von Isq¯at. an-Niz.a¯m ˇ at.-T.a¯ if¯ı verorten interviewte Aktivisten am Zeitpunkt der Demonstration in Gubayl am 27. M¨arz 2011 (Experteninterview). In den darauf folgenden Wochen und Monaten verließen immer mehr Akteure die Koalition von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı , d.h. sie blieben den Organisationstreffen fern und nahmen nicht mehr an Protestaktionen teil. Durch Abspaltungen bildeten sich neue Akteure. Der gr¨oßte davon war das Netzwerk Direct Action, in dem sich, in Abgrenzung von Parteien, vor allem Unabh¨angige trafen, etwa Aktivistinnen der Graswurzelorganisation Nasawiya und der unabh¨angige Aktivist Bassem Chit (Experteninterview). Direct Action vertrat einen breiteren Katalog von Forderungen, der u ¨ber die Konfessionalismuskritik hinaus weitere Themen umfasste. W¨ahrenddessen f¨ uhrten u ¨brige Akteure, darunter Vertreter der ULDY und des Civil Society Movement, die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı weiter. Die Aufl¨osung der Koalition zog sich u ¨ber Monate weiter hin, so dass etwa die LCP Anfang 2012 austrat. Auch die Kooperation zwischen La¨ıque Pride und anderen Bewegungsakteuren wurde konflikthafter, so dass bereits die Veranstaltung von 2011 deutlich kleiner ausfiel als 2010 (s. Tabelle in 7.1.1). Der Marsch von La¨ıque Pride am 15. Mai fiel in den konfliktreichen Zeitpunkt der Transformationsphase. An diesem Termin fanden zeitgleich Proteste aus Anlass des Nakba-Tags statt68 , zu dem zahlreiche Aktivisten an die libanesisch-israelische Grenze fuhren, etwa eine interviewte Aktivistin der LCP: c

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About the La¨ıque Pride, I was not there last year. Last year I was at M¯ar¯ un ar-R¯as, with the Palestinian rights [movement]. [...] Last year we were still at Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı at the time of the La¨ıque Pride. So they put the schedule for the La¨ıque Pride at the same time with the Palestinian right of return day. [...] Many of the Lebanese activists were there. [...] We told them: You can not do it at the same time, you will lose many activists.” Because, ” you know, the Palestinians are our priority in everything. (Experteninterview) c

An dieser Stelle waren die Absprachen zwischen verschiedenen Akteuren der Protestelle – zwischen La¨ıque Pride einerseits und den anderen antikonfessionellen Aktivisten sowie dem weiteren Feld der Zivilgesellschaft andererseits – l¨ uckenhaft. Die Kooperation der 68

¨ Die terminliche Uberschneidung entstand durch eine Verschiebung des in einem fr¨ uheren Planungsstadium f¨ ur den 17. April terminierten La¨ıque Pride. Der Marsch wurde um vier Wochen verschoben, weil dieser zun¨ achst geplante Termin auf einen hohen Feiertag einiger christlichen Konfessionen fiel.

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Expansionsphase war der Konkurrenz um die Ressource Veranstaltungsteilnehmer” ge” wichen (vgl. Rucht 2004: 212), und La¨ıque Pride hatte den Wettbewerb f¨ ur diesen Termin 69 verloren. In Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı gab es vom ersten großen Organisationstreffen an Kontroversen um angemessene Organisations- und Aktionsformen. Diese Treffen mit u ¨ber 200 Aktivisten waren durchaus eine totale Unordnung” (Experteninterviews), wobei die ” teilnehmenden Aktivisten durcheinander schrien (Experteninterviews). Da die Koalition sich als offen verstand, hatten alle anwesenden Aktivisten ein Vetorecht” (Expertenin” terview). Diese Offenheit und geringe Organisiertheit wurde von einigen Aktivisten und Beobachtern im R¨ uckblick mit F¨ uhrungsschw¨ache und mit Egos” assoziiert. So ¨außerte ” ein interviewter unabh¨angiger Aktivist: I feel that the movement has gone nowhere, and ” I think the problem is not the outside, the sects, I think the problem is internal. The egos, the lack of political experience” (Experteninterview). Ein Aktivist von CHAML verwendete in diesem Zusammenhang ebenfalls den Begriff Ego”: The problem we have ” ” here in Lebanon is that sometimes we have egos” (Experteninterview). Auch ein OnlinePortal vertrat diese These: Another problem was leadership, as many of the quarrels ” that erupted in their meetings or facebook groups was most certainly an ego related issue, coupled with a slight difference in views” (Fanoos 2011). Was die zitierten Aktivisten und Beobachter als Egos” bezeichnen, ist als die von Della Porta und Diani (2006: 157ff.) ” herausgestellte Mehrk¨opfigkeit von sozialen Bewegungen interpretierbar. Auch u ¨ber andere Bewegungsakteure der Protestwelle wurde von chaotischer Organisation berichtet, aber dort wurde das Chaos” teilweise durch die Aufl¨osung der Mehrk¨opfigkeit und die ” informelle Etablierung einer F¨ uhrungsrolle aufgel¨ost. Dass dies im Spannungsverh¨altnis zum Anspruch an gewisse interne demokratische Prinzipien steht, zeigt sich in der Wortwahl von denjenigen Aktivisten, welche diese F¨ uhrungsrolle u ¨bernahmen: So bezeichneten sowohl ein Aktivist von La¨ıque Pride als auch ein Aktivist von CHAML in Interviews, ¨ wenn sie u dieser F¨ uhrungsrollen sprachen, sich selbst als ¨ber ihre informelle Ubernahme Diktatoren” (Experteninterviews). ” Auch in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı mehrten sich nach der zweiten Demonstration, und ¨ nachdem die Organisationstreffen auf hunderte Teilnehmer angewachsen waren, Uberlegungen zu einer st¨arkeren formalen Organisation. Dies l¨oste interne Kontroversen aus: c

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There was a proposition that said: We don’t want to organize. We be” lieve that the street should lead us, let the street lead. We don’t want any committees.” [...] And another who said: No, we won’t take a step until we ” organize.” So, between this and that, also we came up with a settlement that we would have a temporary committee in charge of the media and a temporary committee in charge of organizing the event, only the event. [...] It was like a semi-organization. [...] After that [the demonstration of February 27] we did another meeting, we decided on another demonstration, so we kept [on]. After two demonstrations, we tried to... Ok, let’s start to organize.” Because ” it became very open. Even the ones who did not want to organize realized that a lot of people came in and it was impossible to take a decision. And they started to get afraid that the newcomers had a different notion on Isq¯at. ” an-Niz.a¯m”. (Experteninterview) 69

Dass sich die Ressourcenkonkurrenz tats¨ achlich auf diesen Termin bezog, und die Aktivisten La¨ıque Pride keineswegs grunds¨ atzlich ablehnten, zeigt sich darin, dass die letzte Veranstaltung im Jahr 2012 wieder deutlich besser besucht war.

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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In der Koalition etablierte sich eine st¨arker formalisierte Arbeitsteilung, aber keine hierarchische Entscheidungsstruktur. Die Segmente aus Mitgliedern einzelner NGOs, Parteien und Graswurzelorganisationen sowie ¨alteren und j¨ ungeren Unabh¨angigen blieben autonom. Unter dieser Bedingung von Autonomie waren gemeinsame Entscheidungen erschwert. In der Transformationsphase nach der Ausnahmeepisode kam es zur Polarisierung zwischen Institutionalisierung und Radikalisierung (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322; Kriesi u. a. 2003: 124; s. Abschnitt 3.1.6): W¨ahrend einige Aktivisten den Aufbau formaler Strukturen bef¨ urworteten, lehnten andere dies ab und pl¨adierten daf¨ ur, weiterhin radikal basisdemokratisch zu arbeiten. Ein weiteres Thema der Polarisierung zwischen verschiedenen Segmenten der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war die Positionierung gegen¨ uber der formalen Politik. Dies betraf Fragen nach der Kooperation mit dem Parlament und die Rolle von Parteien in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. W¨ahrend in der Expansionsphase der Protestwelle, um eine Formulierung von Kriesi u. a. (2003) zu verwenden, lose strukturierte Organisationen” wie ” La¨ıque Pride, al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı, und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı das Feld f¨ ur sich hat” ten”, bekamen sie in der Transformationsphase, als die Protestwelle fortschritt und wuchs, Konkurrenz von etablierten, formal organisierten Akteuren (vgl. Kriesi u. a. 2003: 137). Wie oben besprochen, drangen nun, zum H¨ohepunkt der Mobilisierung, Vertreter der Systemparteien Amal und SSNP in den Bereich des antikonfessionellen Aktivismus vor. Mit ˇ c b, die auch am al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı beVertretern von ULDY und LCP sowie H.arakat Sa teiligt waren und nicht in Parlament und Regierung saßen, hatten sich die Unabh¨angigen in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zun¨achst arrangiert. Deren Aktivit¨at in der Koalition war ein integraler Bestandteil, wie ein an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als Organisator beteiligtes LCP-Mitglied berichtete: c

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The movement itself [Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı] decided that no political groups could join the movement. But it is a special case for us as LCP, because we already know the activists, and they are already confident about us. They do not have worries, such fears of hijacking the movement, because we have long-established relations to those activists. So we know each other basically. And it was fine for them to work under the umbrella of LCP in the movement. But for other parties it was definitely a problem. (Experteninterview) Dennoch wurden Parteienvertreter in der Koalition von Unabh¨angigen kritisch beobachtet (Experteninterview), w¨ahrend Vertreter dieser Parteien selbst die Allianz zwischen ihnen und den Unabh¨angigen als Zugest¨andnis an letztere sahen (Experteninterview). Ein ULDY-Aktivist beschrieb dieses Spannungsverh¨altnis im Interview: How do we deal with the participation of parties, of groups, and of individuals? It is not easy to sit on a round table, there are parties and organizations and individuals, and all of them have the right to veto. The individual is always afraid of the party, that it will swallow him, and the party is always fed up with the individual. (Experteninterview) Die Frage nach dem Umgang mit Parteien und nach dem Umgang mit den staatlichen Institutionen wurde zu einem zentralen Konfliktthema, das auch in der Formierung von Direct Action bedeutsam war: You want, for example, to change the system in Lebanon. [...] But how to change it? [...] It’s different points of view. For example, [Direct Action]

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

said: We can not talk with the parliament members, we can not talk with ” the ministers, we can not organize a demonstration there, because we can not deal with the authorities in Lebanon.” [...] For example, the Civil Society [Movement] says: We want to change the society in Lebanon, but we can go ” to the ministers and parliament members, calling them for changing the laws, or giving them draft laws”. (Experteninterview) Nach der Expansion der Proteste drangen auch Systemparteien in die Koalition vor. W¨ahrend Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı sich zun¨achst dezidiert außerhalb der politischen Laˇ ger des 8. M¨arz und 14. M¨arz positioniert hatte, gaben am 27. M¨arz 2011 in Gubayl ¨ einige Demonstranten diese Neutralit¨at auf und verorteten sich durch ihre Außerungen in den Lagern (Experteninterview). Umstritten war nun nicht nur die Frage nach einer m¨oglichen Rolle von Parteien in der Koalition, sondern auch die Frage nach der Positionierung gegen¨ uber den Lagern 8. M¨arz und 14. M¨arz. Die organisatorischen Prinzipien der Offenheit f¨ ur alle Teilnehmer und zugleich der Abgrenzung von den Lagern konnten nicht beide aufrechterhalten werden. Welches dieser Prinzipien Priorit¨at hat, war unter Aktivisten ein Streitpunkt: c

The movement itself is composed of political groups, political parties, and independent activists. So you have political groups and political parties who did not see that there is a central issue of having the movement completely independent from March 8 and March 14. [...] This has actually quite harmed the movement. (Experteninterview) Guys from the Direct Action, they said: As long as there is the guys from ” the SSNP, or guys who are considered to be in the March 8 movement, we won’t attend any meetings.” So they decided to leave. We said: We can’t tell ” anyone to leave or to come. It started as an open thing, and people who took part of it took part of it.” (Experteninterview) In den folgenden Organisationstreffen nahm das Misstrauen gegen¨ uber neuen Teilnehmern zu, die verd¨achtigt wurden, Mitglieder der von den meisten an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligten Aktivisten abgelehnten Parteien zu sein (Experteninterview). Interviewpartner berichteten von der Furcht mancher Aktivisten, die Koalition und antikonfessionelle Bewegung k¨onnten gehijackt” werden (Experteninterviews). An dieser Stelle vermischte ” sich die Kontroverse um die Teilnahme von Parteien mit der Kontroverse um die geeignete Organisationsform: c

Back at that time, we tried to convince those people that all the sectarian parties would try to put [their] feet into the movement, so the best way to stop this is by establishing a hierarchical structure, or a strong structure, that would insure the independent movement to take its way. (Experteninterview) Die Polarisierung zwischen den Bef¨ urwortern und Gegnern der Institutionalisierung gewann also an Sch¨arfe. Zudem kam es zu Konflikten u ¨ber die Forderungen der Koalition. Die Forderungen nach dem Sturz des konfessionalistischen Systems” wurde zunehmend ” als unrealistisch eingesch¨atzt (hierzu ausf¨ uhrlicher in Abschnitt 6.3.2). Eine Formulierung expliziter und konkreter Forderungen fand erst zu Beginn der Transformationsphase statt. Ein interviewter Aktivist, der die Institutionalisierung der Koalition bef¨ urwortete, sch¨atzte diesen Zeitpunkt als zu sp¨at ein:

6.2 Transformationen der Organisationsformen

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First, there was another issue: Ok, let’s start to organize. When we decided – and everybody finally agreed – ok, let’s start to organize – it was already too late. We had become so open, that already like the inner core was very full. I believe that was one of our main mistakes. Now, the ones who believed they were involved within... We started to put like main lines and it became almost impossible to find a point where everyone agrees. If we had done it before, before the first or at least before the second demonstration [...], it would have been much easier. (Experteninterview) Die Konflikte m¨ undeten in die Demobilisierung zahlreicher in der Expansionsphase mobilisierter Akteure und in den besprochenen Spaltungen. Damit manifestierte sich auf organisatorischer Ebene die f¨ ur den Verlauf einer Protestwelle typische Polarisierung der radikalen und institutionellen Str¨omung70 , wie sie in der theoretischen Literatur behandelt wird (vgl. McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322ff. Kriesi u. a. 2003: 124; s. auch Tarrow 2006: 13f. Della Porta und Tarrow 1986). Die Protestwelle trat in eine Kontraktionsphase ein, gefolgt von Prozessen der Re” Routinisierung” (vgl. Koopmans 2004: 37). Die Bewegungsorganisationen, die zum Ende der Protestwelle l¨anger existent und aktiv blieben, hatten zumeist schon vor der Protestwelle bestanden und waren zumindest in Ans¨atzen formal organisiert. Wenn die in der Expansions- und Transformationsphase entstandenen Netzwerke eine wenig formalisierte Organisationsstruktur bevorzugten, so hatte dies auch programmatische Gr¨ unde und erh¨ohte die Legitimit¨at unter vielen Organisatoren und Teilnehmern der Protestwelle (s. 6.2.1 und 6.2.2). Stabil auch u ¨ber die Protestwelle hinaus aber waren vor allem Akteure, die ein gewisses Maß an Formalisierung und Professionalisierung aufwiesen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 149; s. Abschnitt 3.1.3). So l¨osten sich Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı und La¨ıque Pride de facto auf, ebenso wie die Aktivistengruppe um das Zelt am Innenministerium, w¨ahrend die an der Protestwelle beteiligten Parteien und NGOs sowie die informell organisierte, aber beh¨ordlich registrierte Graswurzelorganisation Nasawiya weiterhin aktiv sind. Zudem formierten sich in der Transformationsphase mit Direct Action und einigen weiteren kleinen Gruppierungen neue Akteure, die auf Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zur¨ uckgehen (vgl. AbiYaghi 2012: 22)71 . Die Zahl der antikonfessionellen Aktivit¨aten nahm deutlich ab, der Aktivismus verlor an Sichtbarkeit und trat wieder in eine Phase der Latenz ein (vgl. Melucci 1984; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 149), die – entsprechend dem Modell von Koopmans (2004) – durch Re-Routinisierung gekennzeichnet war. Die Bewegungsakteure waren nicht verschwunden, aber sie waren weniger geworden, f¨ uhrten weniger Protestaktionen durch und waren untereinander weniger koordiniert. Sie wandten sich wieder den Themen und Aktionen zu, an denen sie vor der Protestwelle gearbeitet hatten. Die weitreichende Kooperation, die im Rahmen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı stattgefunden hatte, f¨ uhrten sie c

c

c

c

70

71

Dieses Vokabular wird auch von den Aktivisten selbst verwendet, wenn im Experteninterview von einem radikalen” und einem parlamentarischen” Teil der Bewegung gesprochen wurde (Exper” ” teninterview, s. 6.1). In diesen Gruppierungen waren S¨ akularismus und Antikonfessionalismus nicht das Hauptthema. Der direkte Einfluss der Protestwelle ist allerdings daran sichtbar, dass sie sich w¨ahrend der Transformationsphase der Protestwelle formierten, und dass sie in der politischen Landschaft des Libanon jenseits der Polarisierung zwischen 8. und 14. M¨ arz und der klassischen Linken” verortet ” wurden (AbiYaghi 2012: 22).

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

nicht fort (Experteninterview), so dass wieder deutlich wird, dass die erfolgreiche Koalitionsarbeit nur unter den außergew¨ohnlichen Bedingungen der Protestwelle m¨oglich war. Dennoch ist zugleich feststellbar, dass die in der Protestwelle gebildeten Akteure und Koalitionen, trotz ihrer weitgehenden Inaktivit¨at w¨ahrend der Latenzphase, in sp¨ateren Bewegungen als mobilisierbare Netzwerke relevant blieben. Die Feststellung von Charles Tilly (2008), dass das greifbarste Ergebnis einer Protestwelle in den ver¨anderten Beziehungen zwischen den Protestakteuren besteht, spiegelt sich insofern in Analysen der Protestwelle, als Mikdashi (25.03.2011) die Formierung von Netzwerken, die weit u ¨ber ” die w¨ochentlichen Proteste hinaus bestehen werden”, als einen der wichtigsten Erfolge der Protestwelle bezeichnet, und auch ein interviewter Aktivist feststellte: The other part is that the movement last year is the first time after the civil war which has allowed the secular movement, or the leftist movement in general, to actually build a national network. Before that, it was limited to Beirut. So we are talking about a movement that is mainly placed in Beirut. After 2011, it has a national network. (Experteninterview) Ein Großteil der Teilnehmer an den Demonstrationen und anderen Aktivit¨aten der Protestwelle bestand aus neu mobilisierten jungen Leuten72 . Unabh¨angige, die vorher wenig oder gar nicht politisch aktiv waren, stellten aber auch einen Teil der Aktivisten auf Organisatorenebene (vgl. Abschnitt 6.1.3). Wie Tarrow (2011: 15, 112) feststellt, sind mobilisierte Teilnehmer am Ende einer Protestwelle h¨aufig ersch¨opft und desillusioniert. So berichtete ein Aktivist von La¨ıque Pride von Gef¨ uhlen der Desillusionierung und Frustration, die ihn zur weitgehenden Aufgabe seines Engagements trieben (Experteninterview). Ab der Phase der Re-Routinisierung, welche w¨ahrend und nach der Kontraktionsphase stattfindet (Koopmans 2004; s. 3.1.6), wird zudem im R¨ uckblick die Protestwelle gedeutet. Wie oben gezeigt, ist unter den Aktivisten umstritten, welche Akteure in der Expansionsphase f¨ uhrend waren, aber auch, wer Transformation und Kontraktion zu verantworten hat. Am Ende der Protestwelle stehen also auch Aushandlungsprozesse u ¨ber das Narrativ, mit dem die Ereignisse im R¨ uckblick gedeutet und eingeordnet werden (s. Abschnitt 6.3.2). 6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle Die Deutung der Dynamiken in der Organisation der antikonfessionellen Bewegung w¨ahrend der Protestwelle ist Gegenstand dieses Kapitels. Dabei geht es vor allem um Fragen nach Verschiebungen zwischen eher formalen und eher informellen Organisationsformen, nach der organisatorischen Einbindung von neu mobilisierten Aktivisten und nach der Formierung und Aufl¨osung von Koalitionen aus verschiedenen Bewegungsakteuren, die in der Latenzphase entweder getrennt voneinander operierten oder aber inaktiv waren und erst im Verlauf der Welle zur Koalitionsbildung mobilisiert wurden. 72

Diese vormals nicht politisierten Teilnehmer zogen sich in der Kontraktionsphase wieder in die Inaktivit¨ at zur¨ uck. Daher reicht der Erkl¨ arungsansatz einer Aktivistin f¨ ur die geringe Gr¨oße einer Demonstration gegen Ende der Protestwelle, diese geringe Gr¨oße reflektiere die Unabh¨angigkeit ” der Demonstration” (Nadine Moawad, zitiert in Gatten 26.2.2012), nicht aus. Politische und konfessionelle Unabh¨ angigkeit zeichnete auch die Demonstrationen in der Expansionsphase der Protestwelle aus, aber diese konnten, zus¨ atzlich zu den bereits erfahrenen unabh¨angigen Aktivisten, zahlreiche vormals nicht politisch aktive Unabh¨ angige mobilisieren.

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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Unter Aktivisten und Beobachtern gab es zahlreiche Diskussionen u ¨ber die Frage, welche Faktoren entscheidend waren f¨ ur die Expansion, Transformation und Kontraktion – oder, in den Worten von Aktivisten, f¨ ur die Gr¨oße, die Spaltung und das Scheitern der Protestwelle. Dies spiegelt sich in den Titeln von Ver¨offentlichungen beteiligter Aktivisten und Intellektueller zum Thema, die Selbstkritik” (Idriss 2011a,b) u ¨ben oder nach ” Gr¨ unden f¨ ur das Scheitern” (Experteninterview; Al Salim 06.12.2011) fragen. ” In diesem Kapitel wird analysiert, wie eine Reihe von Faktoren die in 6.2.3 dargelegten organisatorischen Transformationen der Protestwelle beeinflussten. Hierzu soll insbesondere auf einige der in Kapitel 3.1 dargelegten Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen zur¨ uckgegriffen werden. Da von einem komplexen Zusammenspiel zahlreicher Faktoren ausgegangen werden muss (s. 3.1.4, 3.3.2), sollen sowohl bewegungsinterne als auch bewegungsexterne und sowohl strukturalistische als auch konstruktivistische Erkl¨arungsans¨atze diskutiert werden (s. 3.1, 3.3.1). Zun¨achst werden die politischen Gelegenheitsstrukturen beleuchtet, wobei außer den innen- auch die außenpolitischen Gelegenheitsstrukturen Beachtung finden. Dann geht es in einer Rahmenanalyse um die integrierende Kraft des Slogans Sturz des konfessionalistischen Systems”. Anschließend wendet sich das Kapitel ” verschiedenen Effekten des movement spillover von anderen sozialen Bewegungen zu, bevor schließlich die Relevanz eines Generationenwechsels im antikonfessionellen Aktivismus besprochen wird. 6.3.1 Politische Gelegenheitsstrukturen im Libanon und in der Region Da in der libanesischen Politik die innenpolitische Ebene mit der außenpolitischen Ebene außerordentlich verflochten ist73 , werden auch die politischen Gelegenheitsstrukturen (engl. Political Opportunity Structures, Abk¨ urzung POS, s. 3.1.1) durch beide Ebenen gepr¨agt. Mit Blick auf den Verlauf der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 scheint der Einfluss ausw¨artiger Politik auf die Gelegenheitsstrukturen sogar von gr¨oßerer Bedeutung gewesen zu sein als der Einfluss interner Politik. Auch ist eine Unterscheidung zwischen den statischen Strukturmerkmalen” und den dynamischen, einmaligen kontin” ” genten mobilisierungsf¨ordernden Ereignissen” (Koopmans 1998: 223ff.) sinnvoll: W¨ahrend antikonfessionelle Mobilisierung, die Gr¨ undung und Aktivierung antikonfessioneller Gruppen und die Bildung antikonfessioneller Koalitionen im Libanon durch Strukturmerkmale der POS erschwert werden, wurden diese Strukturmerkmale zu Beginn der Protestwelle durch einmalige Ereignisse und konkrete Situationen u ¨berlagert, welche die Mobilisierung, die Formierung neuer Akteure und die Koalitionsbildung beg¨ unstigten. Hier sollen nun zuerst einige Strukturmerkmale besprochen werden, namentlich Insti” tutionen”, Umgang mit Herausforderern”, Allianzen” und Konfliktlinien” (Della Porta ” ” ” und Diani 2006; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996; s. 3.1.1). Die staatlichen Institutionen sind hochgradig geschlossen” (vgl. Kriesi u. a. 2003: 26; Della Porta und Diani 2006: 202ff.), ” so dass Zug¨ange zur Entscheidungsfindung wie auch zum Parteiensystem f¨ ur unabh¨angige Aktivisten kaum vorhanden sind. Durch diesen versperrten Zugang zum formal-politischen System gibt es f¨ ur Aktivisten kaum Anreize, ihren Aktivismus den formal-politischen Institutionen anzun¨ahern, was dazu f¨ uhrt, dass der antikonfessionelle Aktivismus zur oben beschriebenen informellen Organisation und zu Ressourcenarmut tendiert (vgl. Rucht 73

So fragt (Salam´e 1988) im Titel eines w¨ ahrend des B¨ urgerkriegs erschienenen Aufsatzes, ob liba” nesische Außenpolitik m¨ oglich” ist, und (Salloukh 2008) betitelt w¨ahrend der Zweiten Republik einen Aufsatz u ¨ber libanesische Außenpolitik als die Kunst des Unm¨oglichen”. ”

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

1996: 191ff.). Verbunden mit dieser Geschlossenheit der Institutionen, sind auch die staatlichen Strategien des Umgangs mit Herausforderern” in der Regel exklusiv (vgl. Kriesi u. a. 2003: ” 33ff.). So ist der Umgang der staatlichen Institutionen im Libanon mit den antikonfessionellen Herausforderern mehrheitlich nicht f¨ordernd, sondern marginalisierend. Dies gilt allerdings nur mit Einschr¨ankungen. Wie Meier (2015: 187) betont, zeigte die Protestwelle, wie Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen und ihrer politischen Umgebung maßgeblich durch pers¨onlich Netzwerke beeinflusst werden: W¨ahrend die nicht mit dem Staat vernetzten Parteien, NGOs und Unabh¨angigen unter Bedingungen der Marginalisierung arbeiten, haben Akteure, die gute informelle Kontakte in die staatlichen Institutionen hinein besitzen, durchaus Chancen auf Kooperation und F¨orderung. Ein deutliches Beispiel hierf¨ ur sind die Initiativen von Talal Husseini, die den Staat zwar durchaus herausforderten, aber dennoch auf Kooperation stießen (s. 7.2). Teile der etablierten Parteien verhielten sich gegen¨ uber Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als opportunistisch”, indem sie sich deren Forderungen zu eigen machten, wenn es opportun ” erschien (Meier 2015: 184). So kam es in der Protestwelle zu einer gewissen Aufweichung der Geschlossenheit und Exklusivit¨at der formal-politischen Institutionen gegen¨ uber den Aktivisten der Protestwelle, als Parteien mit Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı kooperierten, wobei ˇ c b) zu fr¨ die Beteiligung nicht-systemischer Parteien (LCP, H.arakat Sa uheren Zeitpunkten stattfand und weit weniger umstritten war als die Beteiligung von Systemparteien (Amal, SSNP). Hier best¨atigt sich die These von Kriesi u. a. (2003: 53ff.), dass Allian” zen” einer sozialen Bewegung mit externen Akteuren zum Mobilisierungserfolg beitragen k¨onnen. Insofern ist die Beteiligung von Parteien an der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.T.a¯ if¯ı f¨ ur den Verlauf der Mobilisierung nicht von der Hand zu weisen. So wurde der Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m” ( Sturz des Systems”) in Beirut bereits bei einer Demonstration ” ” der LCP-Jugendorganisation ULDY am 30. Januar skandiert (Experteninterview), und die Anh¨anger von Amal und SSNP erh¨ohten die Teilnehmerzahl der antikonfessionellen Demonstration (Experteninterviews). Auch das Strukturmerkmal der Konfliktlinien” (Kriesi u. a. 2003) ist f¨ ur den Fall der ” Protestwelle relevant. Ein dominierendes, omnipr¨asentes Merkmal der libanesischen POS um die Zeit der Protestwelle war die Spaltung in die beiden Lager 14. M¨arz und 8. M¨arz. Die Existenz und die Entwicklung von antikonfessionellem Aktivismus, bzw. von politischem Aktivismus außerhalb des 8. und 14. M¨arz, war vom Verhalten dieser Lager abh¨angig. Durch die verh¨artete Spaltung zwischen diesen beiden Lagern war die wichtigste Konfliktlinie der libanesischen Politik nicht nur geschlossen, sondern auch befriedet, wobei befriedete” Konfliktlinien die Mobilisierung erschweren k¨onnen (Kriesi u. a. ” ¨ 2003: 5ff.): Aktivismus jenseits der Konfliktlinie, bzw. Aktivismus f¨ ur die Uberwindung der Konfliktlinie war zwar auch vor der Protestwelle vorhanden, aber nicht massenhaft mobilisierbar. So ¨außert etwa ein interviewter Intellektueller die Einsch¨atzung, es g¨abe im Libanon keine echte Zivilgesellschaft, weil die Konfessionen alles u ¨bernommen” h¨atten ” (Experteninterview). Die Herausbildung antikonfessioneller und nicht an die Lager des 8. und 14. M¨arz gebundener Akteure war einerseits eine Reaktion auf die Verh¨artung der Lager (vgl. AbiYaghi 2009: 82, 2012), denn Aktivisten waren frustriert u ¨ber den politischen Stillstand und suchten nach Alternativen. Andererseits ist die Entwicklung des antikonfessionellen Aktivismus vom Verhalten der Lager abh¨angig, denn in Momenten, in denen die Verh¨artung der Lager wieder st¨arker verhandelbar wird, steigt die Mobilisierbarkeit. So gewannen c

c

c

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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Akteure, die als Unabh¨angige außerhalb der Lager verortet sind, auch wenn sie teilweise bereits vor 2010 aktiv waren, in der Protestwelle enorm an Sichtbarkeit. Neben den genannten Strukturmerkmalen” der libanesischen Politik, die als relativ sta” bile Rahmenbedingungen auf den antikonfessionellen Aktivismus wirken, sind im Kontext der Protestwelle auch die kontingenten mobilisierungsf¨ordernden Ereignisse” zu beachten ” (Koopmans 1998: 223ff.). Das innenpolitische mobilisierungsf¨ordernde Ereignis bestand in der Regierungskrise Anfang 2011, als die Regierung am Konflikt um das Special Tribunal ” for Lebanon” (s. dazu z.B. Sriram 2012) auseinanderbrach und Verhandlungen um eine neue Regierung begannen. In der Wahrnehmung der Aktivisten allerdings spielte die Regierungskrise eine untergeordnete Rolle: In den Slogans und Forderungen der Protestwelle wurde sie nicht erw¨ahnt, und auch die interviewten Aktivisten sprachen sie nicht an. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die Regierungskrise zwar nicht der Ausl¨oser f¨ ur die Expansion der Protestwelle und die Bildung neuer antikonfessioneller Akteure war, diese aber doch f¨orderte, indem die Frage nach der Spaltung der politischen Landschaft in 8. und 14. M¨arz in h¨oherem Maße offen und verhandelbar schien als in den Monaten zuvor, denn die innenpolitischen POS hatten durch die Nicht-Befriedung der Konfliktlinie zwischen den Lagern an Offenheit gewonnen. Andererseits kann die Konfliktlinie zwischen 8. und 14. M¨arz sp¨atestens im Moment der Bildung einer neuen Regierung im Juni 2011 wieder als befriedet” (vgl. Kriesi u. a. ” 2003: 5ff.) bezeichnet werden. Zudem ist die Dominanz dieser Konfliktlinie so stark, dass ¨ sie trotz der relativen Offnung auch w¨ahrend der Regierungskrise h¨ochst pr¨asent war. So manifestierte sich die Konfliktlinie zwischen den politischen Lagern des 8. und 14. M¨arz im Laufe der Protestwelle zunehmend auch innerhalb der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Wie die oben in Abschnitt 6.2.3 zitierten Interviewausschnitte zeigen, gilt die Entwicklung von parallelen Lagern innerhalb der Koalition einigen Aktivisten als Grund f¨ ur die Spaltung (s. auch Abbas Beydoun 2012) der Koalition. Diese Transformation der bewegungsinternen Organisation weg von der Kooperation in einer Koalition und hin zu Konflikt und Spaltung in vereinzelte Akteure wurde zudem durch außenpolitische Ereignisse beeinflusst: Der Gewaltausbruch in Syrien, der mit den Ereignissen von Darc a¯ Ende M¨arz 2011 begann, hatten direkte Auswirkungen auf die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Dies spiegelt sich in den Analysen interviewter Aktivisten zur Spaltung der Koalition: c

c

c

The movement [Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı] built a lot of momentum, but also we lost, [...] mostly because of internal problems. Also we had the Syrian revolution that came to divide the movement. We were allied to so-called secular parties that are totally directly affiliated to the Syrian regime. (Experteninterview) There are some kinds of divisions that are based on some unrelated topics. For example, the Syrian topic. I was participating in an activity about Syria, and one of the people who were beating us was a secular activist who was with us in several activities, from the SSNP. (Experteninterview) Der Scheitelpunkt der Protestwelle fiel zusammen mit der Versch¨arfung in Syrien, und zus¨atzlich mit den NATO-Angriffen auf Libyen (Experteninterview). Dass unter den zumindest indirekt an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligten Parteien Verb¨ undete des syrischen Regimes waren, versch¨arfte die Spannung zwischen Anh¨angern des 8. und des 14. c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

c

M¨arz innerhalb der Koalition. Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war derart von den Lagern durchdrungen, dass die steigende Spannung zwischen den Lagern mit zur Spaltung der Koalition beitrug. Zudem erh¨ohte der beginnende B¨ urgerkrieg f¨ ur die antikonfessionellen Aktivisten die Notwendigkeit, sich in der Syrien-Frage zu positionieren, um als politischer Akteur ernst genommen zu werden: Some started blaming people for not coming to the demonstrations, but without actually answering people’s questions about why should we come down while this is happening in Syria, while the movement said it does not have a position on what is happening in Syria. (Experteninterview) Dies blieb bis zum Ende der Protestwelle ein Problem derjenigen antikonfessionellen Aktivisten, die an ihrer Neutralit¨at festhalten wollten. Auch an die letzte Veranstaltung von La¨ıque Pride im Mai 2012, die ihren Fokus auf S¨akularit¨at im Libanon beibehielt und den Syrienkrieg ebenfalls ausblendete, wurde die Frage nach der Positionierung gestellt: Many people, people outside the demonstration, were walking next to me, no, outside the demonstration, and asked me: What is this demonstration ’ for?’ I would say: It is for secularism.’ And at least two of them asked me: Is ’ ” this with or against Syria?” (Experteninterview) So war ein außenpolitischer Aspekt der POS, verkn¨ upft mit der starken Verflochtenheit der innen- und außenpolitischen Ebene, letztlich ein zentraler Faktor f¨ ur die Entwicklung von Konflikten und Spaltungen im antikonfessionellen Aktivismus. Auch die Mobilisierung neuer Aktivisten in der Expansionsphase der Protestwelle war in hohem Maße durch ein außenpolitisches mobilisierungsf¨orderndes Ereignis beeinflusst worden, n¨amlich den Arabischen Fr¨ uhling”. Die Motivation und Ermutigung neuer wie auch ” erfahrener Akteure des antikonfessionellen Aktivismus durch die Ereignisse in Tunesien ¨ und Agypten ist ein Thema, u ¨ber das viele Aktivisten berichteten (Experteninterview). Exemplarisch seien hier zwei erfahrene Aktivisten der Protestwelle zitiert: When the Arab Revolutions were there, in Egypt, in Tunis, all the people in Lebanon were excited, wanted to change. . . The people wants to topple ” the regime”, and something like that. (Experteninterview, kursiv: im Original ¨ arabisch, meine Ubersetzung) Yes [the secular movement has a long history], but it has acquired a completely new understanding of how things work. And that new understanding came from the Arab Uprisings. Before, there was a sense of defeatism and fatalism, especially if you live in Lebanon, you feel left out by the whole world. (Experteninterview) Neben der enormen Mobilisierungswirkung durch den Enthusiasmus, mit dem die Ereig¨ nisse in Tunesien und Agypten verfolgt wurden, hatte der Arabische Fr¨ uhling” auch Ef” fekte auf Organisationsformen. So waren lose Aktivistennetzwerke, die an der Gr¨ undung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligt waren, bei Solidarit¨atsdemonstrationen vor der ¨agyptischen Botschaft in Beirut entstanden (Experteninterview), und Aktivisten der Koalition begr¨ undeten die Offenheit ihrer Treffen unter anderem mit ihrer Orientierung an den Methoden der ¨agyptischen Aktivisten (Experteninterviews). c

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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c

6.3.2 Integration durch Rahmung: Der Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” ” Un¨ ubersehbar zeigt sich der Einfluss des Arabischen Fr¨ uhlings” im Slogan Isq¯at. an” ” niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” ( Sturz des konfessionalistischen Systems”, unter dem die gr¨oßte Akti” vistenkoalition der Protestwelle Organisationstreffen mit hunderten Teilnehmern und die gr¨oßten Demonstrationen der Protestwelle veranstaltete. Da dieser Slogan ein zentrales Attribut der gleichnamigen Koalition darstellte, soll hier die Bedeutung des Slogans f¨ ur die Prozesse der Koalitionsbildung und Spaltung untersucht werden. Der Slogan ist als Rahmen analysierbar, also als Interpretationsschema”, das es den Aktivisten erm¨oglicht, die ” Gegebenheiten zu lokalisieren, wahrzunehmen, zu identifizieren und zu benennen” (Goff” man 1974: 21, zitiert nach Snow, Rochford u. a. 1986: 464; s. Abschnitt 3.1.2). Rahmen k¨onnen die Diagnose von Problemen, die Motivation zur Mobilisierung bestimmter Identit¨aten und die Prognose von L¨osungsans¨atzen betreffen, es k¨onnen also diagnostische”, ” motivationale” und prognostische” Rahmungen unterschieden werden (Della Porta und ” ” Diani 2006; Snow 2004; Snow und Benford 1988). Die Rahmung, wonach politische, soziale und ¨okonomische Missst¨ande prim¨ar im Konfessionalismus begr¨ undet seien, wurde bereits mit dem Beginn der Protestwelle konstruiert, indem La¨ıque Pride den Mangel an S¨akularismus als zentrales Problem diagnostizierte, unter das andere Themen subsumiert wurden. Zudem war S¨akularismus als ein zentrales Identit¨atsmerkmal der Aktivisten etabliert worden, deren Motivation zum Aktivismus eben darin bestand, dass sie sich als s¨akular verstanden. S¨akulare und antikonfessionelle Initiativen, wie etwa die Maison la¨ıque” und die Kon” ferenz Vers une la¨ıcit´e revisit´ee”, die vor der Protestwelle stattgefunden hatten, waren ” weniger sichtbar und mobilisierten nur eine geringe Anzahl an Teilnehmern (s. 5.2.4). Der Mobilisierungserfolg stieg erst an, als der diagnostische und motivationale Rahmen des S¨akularismus – bzw. Kritik am Konfessionalismus – kombiniert wurde mit dem prognostischen Rahmen Sturz des Systems”. Dies liegt darin begr¨ undet, dass der Arabische ” ” Fr¨ uhling” auch im Libanon Enthusiasmus ausgel¨ost hatte und Aktivisten sich daran orientierten: c

Now, doing that demonstration, people were influenced by The people ” wants to topple the regime” in Egypt and Tunisia, so the slogan [...] was there already. So people started shouting that. During the demonstration we had at the Egyptian embassy, people were already shouting that. (Experteninterview) The title was very strong. They [the activists] were pretty affected by it. [...] They use it in Libya, they use it in Egypt, they use it in Syria, they use it everywhere, so we use it, too. (Experteninterview) Die politische Gelegenheit, die durch das mobilisierungsf¨ordernde Ereignis des Arabi” schen Fr¨ uhlings” geschaffen worden war, wurde erfolgreich gerahmt (vgl. Gamson und Meyer 1996), so dass die Missst¨ande im Libanon unter den Slogan Sturz des Systems“ ” passten. Snow (2004: 384f.) schreibt Rahmungen im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen die Funktionen der Fokussierung, Artikulation und Transformation zu. Durch die Rahmung der Proteste als s¨akular” bzw. gegen Konfessionalismus” gelang es dementspre” ” chend w¨ahrend der ganzen Protestwelle auf Kritik am Konfessionalismus zu fokussieren.

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Themen wie Frauenrechte und Wahlrecht wurden in ein antikonfessionalistisches Narrativ eingebunden und innerhalb dieses Rahmens artikuliert. Somit wurde die Bedeutung einiger Themen transformiert: Die Forderung nach Einf¨ uhrung der Zivilehe etwa war aus Perspektive einiger Aktivisten ein feministisches Thema, wurde aber unter dem Rahmen der Protestwelle auch als s¨akulares Thema gerahmt. So waren unter den Akteuren der Protestwelle zahlreiche Aktivisten und Gruppen, denen Themenschwerpunkte normalerweise auf anderen Themen liegen, etwa Wahlrechtsreform, ziviles Personenstandsrecht, Pal¨astina, Frauenrechte, LGBT-Rechte74 , denn der Rahmen war breit genug, um diese Themen mit einzuschließen. Der Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” ist daher als Master” ” rahmen” analysierbar: Er subsumiert heterogene Akteure, ist sehr inklusiv und kann breit mobilisieren, da sich die Interessen der unterschiedlichen Akteure grob in den Masterrahmen einordnen lassen (Snow 2004: 390f.). Diese einzelnen, bereits vor der Protestwelle existenten Akteure verlieren in diesem Prozess zugunsten der Koalition an Sichtbarkeit. Die integrierende Kraft des Masterrahmens schwankte allerdings im Verlauf der Protestwelle stark. So konnte er zwar integrieren, erreichte aber keine absolute Dominanz u ¨ber alle anderen Themen der Zivilgesellschaft. Dies wird etwa an dem Beispiel des La¨ıque Pride 2011 deutlich, an dem viele Aktivisten in den S¨ udlibanon zu einer Demonstration f¨ ur die Rechte der Pal¨astinenser fuhren, weil sie das Thema Pal¨astina gegen¨ uber La¨ıque Pride priorisierten (s. 6.2.3). Auch ein Vertreter der NGO CHAML berichtete im Interview, dass CHAML dagegen war, viele Themen gemeinsam unter einem Slogan zu behandeln (Experteninterview). CHAML stellte sich somit gegen die Deutung, nach der die Forderung nach einem zivilen Personenstandsrecht prim¨ar ein Unterpunkt des u uckenden ¨berbr¨ ” Rahmens” (Snow, Rochford u. a. 1986: 467ff. vgl. auch Hellmann 1998: 21) des Antikonfessionalismus w¨are. CHAML ist organisatorisch mit der LACR verbunden, die ebenfalls unterschiedliche Themen behandelt, diese aber in erster Linie nicht als s¨akular”, sondern ” als b¨ urgerrechtlich” rahmt. ” c

Die integrierende Wirkung des Masterrahmens war besonders hoch in der kurzen Hochphase der Protestwelle. Wie Snow und Benford (1992: 150) anmerken, sind Masterrahmen besonders zu Beginn einer Protestwelle und nach dem H¨ohepunkt der Expansion umstritten. So war die Entscheidung, die Proteste der Koalition durch den Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m ” at.-t.a¯ if¯ı” zu rahmen, das Ergebnis kontrovers gef¨ uhrter Diskussionen.75 Darauf spielte eine Aktivistin im Interview an, wenn sie berichtete, dass bei den großen Organisationstreffen, an denen hunderte Aktivisten teilnahmen, um Formulierungen gestritten wurde. Dabei waren sowohl La¨ıque Pride als auch die Gruppierung, die sich wenig sp¨ater Isq¯at. an” Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı” nennen sollte, einig in der Thematik des Konfessionalismus, aber La¨ıque Pride wollte den Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” und somit die Komponente Sturz des ” ” c

c

c

74

75

Insbesondere die Einbeziehung von LGBT-Rechten unter den u uckenden Rahmen” (Snow, ¨berbr¨ ” Rochford u. a. 1986: 467ff. vgl. auch Hellmann 1998: 21) des Antikonfessionalismus f¨ uhrte innerhalb der Protestwelle zu Kontroversen. Unter den Organisatoren des ersten La¨ıque Pride befand sich ein Gr¨ undungsmitglied von Helem Paris”, dem franz¨ osischen Zweig einer libanesischen NGO, ” die sich f¨ ur LGBT-Rechte einsetzt. Die Kritik einiger Aktivisten an der starken Sichtbarkeit dieser Thematik bezog sich darauf, dass die Pr¨ asenz der Thematik und der LGBT-Aktivisten bei La¨ıque Pride f¨ ur einen großen Teil konservativer Libanesen eine exkludierende Wirkung h¨atte. Dies spiegelt sich in den Berichten interviewter Aktivistinnen u ¨ber die Reaktionen ihrer V¨ater auf die Berichterstattung u ¨ber den ersten La¨ıque Pride (Experteninterviews). Hierzu ist anzumerken, dass die Konzepte Konfessionalismus, Antikonfessionalismus, S¨akularismus etc. im Libanon seit jeher umstritten sind, wie oben in 5.1.1 (s. auch 2.1) ausf¨ uhrlich diskutiert wurde.

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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Systems” explizit nicht u ¨bernehmen: And on Facebook a debate started. Between the original organizers of the La¨ıque Pride who did not want this slogan to overcome on the La¨ıque Pride. They did not want the La¨ıque Pride to be about Isq¯at. an-niz.a¯m”, they just ” wanted a La¨ıque Pride”. (Experteninterview) ” Auch war die Aushandlung des Slogans verbunden mit den Debatten um die Kooperation mit konfessionellen Anf¨ uhrern” und ihren Parteien: ” Back at that time [spring 2011] there was a clash between the activists on what to name the campaign. Is it anti-sectarianism” or secularism”? The ” ” people who favored this label [ anti-sectarianism”] planned to attract people ” from different sects, because they considered that if we name it secularism”, ” this could be sensitive and make fears and concerns for people who have loyalty to confessional leaders. This was their argument. While on the other hand those people who favored [the coalition] to be named the secular movement”, ” their argument was, we should have a clear political identity, which is not meant to take into consideration any of the factors related to the interests of confessional leaders and/or their followers. (Experteninterview) In diesen Debatten wurde gewissermaßen ein Machtkampf zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb der Koalition sichtbar (vgl. auch AbiYaghi, Catusse und M. Younes 2017: 76f.). Es ging darum, welchen Akteuren legitime Rahmungskompetenzen” zugesprochen ” werden, wer also eine Meinung zu Problemdiagnose haben darf, welche L¨osungsans¨atze sich durchsetzen und welche Identit¨aten mobilisierbar sind (Della Porta und Diani 2006: 75, 87). Wie oben gezeigt, funktionierte S¨akularismus” als diagnostischer Rahmen und als mo” tivationaler Rahmen. Als prognostischer Rahmen hatte er in der Expansionsphase mobilisierende Wirkung, aber war ab der Transformationsphase umstritten, so dass die Forderungen vage blieben (s. Kapitel 7.3 f¨ ur eine Diskussion der Protestziele). Ein Ergebnis der im obigen Zitat angesprochenen Debatten um die Rahmung der Proteste war, dass der Slogan nach wenigen Wochen abge¨andert wurde. Er wurde erg¨anzt um den Zusatz und seiner Symbole” und lautete nun Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı wa-rum¯ uzihi”, ” ” also Sturz des konfessionalistischen Systems und seiner Symbole”. Gemeint waren die ” Politiker, die den Aktivisten als Symbole des konfessionalistischen Systems galten. Die¨ se Anderung des Slogans war eine direkte Reaktion auf die Versuche des Vorsitzenden von H . arakat Amal, Nabih Birri, und anderer Politiker, mit der Bewegung zu kooperieren (Experteninterviews). Deren Anh¨anger wurden damit diskursiv aus der Protestwelle ausgeschlossen. Die Integrationskraft des sehr inklusiven, aber vagen Masterrahmens ließ also bereits nach. Mit der Kontraktion der Protestwelle nahm auch die Deutung von Missst¨anden als im Konfessionalismus begr¨ undet ab, der diagnostische Rahmen verlor an Wirksamkeit. So nannte sich eine Koalition zivilgesellschaftlicher Akteure, in der sich einige fr¨ uhere Organisatoren von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı neu organisierte, S¨akularismus, ” Gleichheit und soziale Gerechtigkeit” (Experteninterview): Die s¨akulare Rahmung war noch vorhanden, aber nicht mehr dominant. c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

6.3.3 Movement spillover aus verwandten Bewegungen Die Protestwelle war beeinflusst von mehreren libanesischen und externen Protesten und Bewegungen. Um die verschiedenen Wege der Kooperationen und Einfl¨ usse zwischen Bewegungen zu analysieren, ist das Konzept des movement spillover n¨ utzlich (Meyer und Whittier 1994; Whittier 2004, s. Abschnitt 3.1.7). Es geht um Interaktionen zwischen Akteuren, deren Protestthemen zwar klar unterscheidbar, aber verbunden sind (Meyer und Whittier 1994: 278). Die Effekte des spillover k¨onnen beispielsweise darin bestehen, dass Rahmungen, Organisations- und Aktionsformen durch andere Bewegungen beeinflusst werden (Meyer und Whittier 1994). Das movement spillover findet durch mehrere ¨ Ubertragungsmechanismen” statt (Meyer und Whittier 1994: 290ff.). Im Folgenden sollen ” ¨ die Ubertragungsmechanismen aus fr¨ uheren und parallelen Bewegungen auf die Protestwelle 2010-2012 analysiert werden. ¨ Ein Ubertragungsmechanismus besteht in kulturellen Repr¨asentationen und Medien” berichten” (Whittier 2004: 547) u ¨ber eine Bewegung, die von anderen Aktivisten rezipiert werden. So waren die Rahmung, aber auch Organisationsweise und Repertoires der antikonfessionelle Protestwelle durch Berichte u uhlings” beeinflusst.76 ¨ber den Arabischen Fr¨ ” Der gr¨oßte Einfluss des Arabischen Fr¨ uhlings” bestand in dem oben in 6.3.1 besprochenen ” ansteckenden Enthusiasmus, der Aktivismus und Mobilisierung antrieb. Die direkte Inspiration des Slogans Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.a¯ if¯ı” ( Sturz des konfessionalistischen Systems”) ” ” wurde bereits oben in 6.3.2 gezeigt. Hierzu sei hier beispielhaft ein weiteres Interview-Zitat aufgef¨ uhrt: c

It’s like a huge campaign, the Arab Spring, under that Isq¯at. an-Niz.a¯m”. ” [...] It’s the first time that people saw this kind of activism: Let’s go to the ” streets and overthrow the sectarian regime and participate in such activities”. (Experteninterview) Der interviewte Aktivist betonte, dass diese Art von Aktivismus” hier das erste Mal ” im Libanon aufgetreten w¨are, und beurteilte den Einfluss des Arabischen Fr¨ uhlings” ” damit als sehr hoch. Insbesondere die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war auch auf Organisationsebene beeinflusst. Ein Aktivist, der sowohl an der Graswurzelorganisation La¨ıque Pride als auch an der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligt war, bezog im ¨ Interview seine Uberlegungen zur informellen und ahierarchischen Organisationsweise von Akteuren der Protestwelle auf den Arabischen Fr¨ uhling”: ” c

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But now we are talking about a clear movement, an independence movement, which is not lead by anyone, and can’t be used by anyone [...]. [Not having a leader] is good, I guess. [...] I guess it is a very positive point. Some people who attack the Arab Spring just say: They don’t have a leader, they ” are not controlled, and they are unexpected [...].” (Experteninterview) 76

Die Literatur zum Konzept movement spillover diskutiert spillover -Effekte, die zwischen Bewegungen innerhalb eines Staats auftreten. Diese Sichtweise des methodologischen Nationalismus” ” (vgl. U. Beck 2008) soll hier allerdings nicht beibehalten werden, da unter den Protesten Ende 2010 und Anfang 2011 spillover -Effekte auch u ubersehbar sind. Dies ¨ber Staatsgrenzen hinweg un¨ gilt nicht nur f¨ ur die libanesischen Proteste, sondern auch f¨ ur Einfl¨ usse etwa zwischen Bewegungen ¨ in Tunesien, Agypten und auch den Occupy”-Bewegungen (vgl. Sonay 2015). ”

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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Hier ist also kein unidirektionaler Einfluss von Protesten des Arabischen Fr¨ uhlings” zu ” konstatieren, da La¨ıque Pride bereits vor 2011 aktiv war. Eher handelt es sich um parallele Entwicklungen, wobei gegen Ende der libanesischen Protestwelle auf die Erfolge verwiesen werden kann, die der Arabische Fr¨ uhling” mit der zur Debatte stehenden Organisations” weise hatte. Auch mit Blick auf die in 6.2.2 diskutierte enorme Offenheit der Koalition bezogen Aktivisten sich auf das ¨agyptische Vorbild: A maid¯an was important. How to achieve a Maid¯an at-Tah.r¯ır. And what kind of components we need to arrive to that maid¯an. Is the 15,000 that we had maximum at the third march here [...] 15,000 to 20,000, was that enough to create a maid¯an? Was it important for these 20,000 to go and have a sit-in, to have a maid¯an, or not? (Experteninterview, kursiv: arabisch im Original; s. auch Experteninterview in 6.2.1) Der hier zitierte Aktivist nannte den physischen Ort der ¨agyptischen Proteste als Vorbild f¨ ur eine offene Organisationsweise. Andererseits gab es, jenseits der Einfl¨ usse durch den Arabischen Fr¨ uhling”, selbstverst¨andlich auch spillover -Effekte von anderen libanesi” schen Bewegungen. Unter Aktivisten und Beobachtern kursieren verschiedene Interpretationen dar¨ uber, wie relevant der Einfluss des Arabischen Fr¨ uhlings” auf die Protestwelle ” war. Diese Interpretationen werden zuweilen als gegens¨atzlich gegen¨ ubergestellt: The media is putting a thing on the fact that it is happening now, it’s like revolt now”, the Arab Spring or whatever, people would like it to be. But ” actually it is not. It is a continuum. This is a new phase or a new form of advocacy on these issues. It can only be understood in a historical perspective. (Experteninterview) Einfluss des Arabischen Fr¨ uhlings” und Kontinuit¨at libanesischer Bewegungen m¨ ussen ” aber nicht als unvereinbar gesehen werden. Vielmehr wurde die Protestwelle 2010-2012 sowohl von spillover -Effekten des Arabischen Fr¨ uhlings” als auch der fr¨ uheren libanesi” schen Protestbewegungen geformt. Die s¨akulare, unabh¨angige Zivilgesellschaft des Libanon hat u ¨ber Jahrzehnte ihre Organisationsformen und Protestrepertoires erarbeitet, die auch in der Protestwelle verwendet wurden.77 Aktivisten sind h¨aufig nicht nur in der gerade aktuellen Protestwelle aktiv, sondern auch in verwandten Bewegungen78 , wie Meyer und Whittier (1994: 291) herausstellen: While social movements are often explicitly identified with only one issue or set ” of issues, activists rarely are.“ 77

Bei sp¨ ateren Protestbewegungen sind wiederum spillover -Effekte der antikonfessionellen Protestwelle zu beobachten. Beispielhaft sei auf die Kampagne You stink” vom Sommer und Herbst 2015 ” verwiesen. Darauf weist Mikdashi (26.08.2015) in einem Artikel u ¨ber You stink” hin: ” The mobilization and commitment of today’s protestors grows and builds upon ” previous networks of activism. These previous movements include “Isqat al-Nizam’, ’ Take Back Parliament’, anti-sectarian and civil marriage movements, and feminist ’ activism against domestic violence, police negligence, and female second class citizenship.”

78

Der Terminus verwandt” erinnert daran, dass Theoretiker der neuen sozialen Bewegungen” die ” ” Existenz von Bewegungsfamilien” konstatierten, also von Bewegungen, die zu ¨ahnlichen Themen ” arbeiten und auf verschiedene Weise eng interagieren (s. 3.1.5).

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

¨ Die beim spillover von libanesischen Bewegungen wirksamen Ubertragungsmechanis” men” beruhen vor allem auf pers¨onlichen Kontakten und pers¨onlichen Erfahrungen (vgl. auch Meier 2015: 187), denn wenn Aktivisten – gleichzeitig oder nacheinander – f¨ ur mehrere Themen und in mehreren Gruppen aktiv sind, bringen sie Merkmale der einen Be¨ wegung in die andere Bewegung mit. So besteht ein weiterer Ubertragungsmechanismus, der als organisatorische Koalition” bezeichnet wird, im Zusammenschluss von Akteuren, ” die normalerweise getrennt arbeiten (Meyer und Whittier 1994: 290). Mit al-Liq¯a alc Alm¯an¯ı und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren solche organisatorischen Koalitionen in der Protestwelle sehr prominent. Parteien, NGOs, Graswurzelorganisationen und intellektuelle Pers¨onlichkeiten leisteten Koalitionsarbeit und schlossen sich zusammen. Die Akteure ¨ brachten ihre Erfahrungen und Ressourcen, aber auch Uberzeugungen und Prinzipien mit, tauschten sich mit den anderen Akteuren der Koalition aus und handelten gemeinsame Strategien aus. Gleichzeitig unternahmen Akteure aus verschiedenen Themenbereichen Vorst¨oße, durch Kooperation mit Akteuren der Protestwelle von deren Sichtbarkeit zu profitieren. So traten an das von CHAML aufgestellte Protestzelt f¨ ur die Einf¨ uhrung eines zivilen Personenstandsrechts immer wieder Aktivisten heran, die ihre eigenen Plakate dazu stellen wollten: c

c

[In the tent, every morning] I woke up, I saw people, so I looked at their signs, and if they were good I sat [down] with them. People then said: We ” saw you on TV, you were with the feminists”, or with the teachers, and so on. (Experteninterview) ¨ Als weitere Ubertragungsmechanismen werden die community” und das Personal” einer ” ” Bewegung genannt (Meyer und Whittier 1994: 291f. Whittier 2004: 541f.): Sowohl Organisatoren als auch Teilnehmer waren nicht exklusiv nur in der antikonfessionellen Protestwelle aktiv, sondern auch in anderen Bewegungen. Dies gilt freilich in weit geringerem Maß f¨ ur die jungen, neu politisierten unabh¨angigen Aktivisten, sondern haupts¨achlich f¨ ur diejenigen Aktivisten, die bereits vor der Protestwelle politisch aktiv waren. Deren Politisierung fand zu verschiedenen Zeitpunkten statt (vgl. Ausf¨ uhrungen in 6.1). Einige ¨altere Aktivisten wurden vor oder im B¨ urgerkrieg politisiert, andere durch zivilgesellschaftliche Kampagnen der 1990er Jahre, und einige j¨ ungere Aktivisten durch die Massendemonstrationen gegen die syrische Besatzung 2005 (Experteninterview) oder den Krieg zwischen Israel und Hisbollah 2006 (Experteninterview). Die Akteure u uheren Kampagnen ¨bertrugen Organisations- und Aktionsformen aus fr¨ auf die Protestwelle. So sind etwa Koalitionen aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren, innerhalb derer arbeitsteilige Komitees gebildet werden, eine h¨aufige Organisationsform, die beispielsweise auch in der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren verwendet wurde. Ebenso geh¨oren Aktionen wie Protestzelte an urfen ins Parlament zu etablier¨offentlichen Pl¨atzen und die Einreichung von Gesetzentw¨ ten Repertoires (vgl. Kapitel 7). Auch die dezidierte Unabh¨angigkeit von den etablierten formal-politischen Akteuren hat Vorl¨aufer, etwa die Kampagne gegen den Irakkrieg aus dem Jahr 2003. Dazu berichtete ein antikonfessioneller Aktivist der Protestwelle, der auch 2003 beteiligt war: These tactics are not new. These tactics are the tactics we used for example in 2003 in the anti-war movement. [...] They worked there, in even harsher

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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times. Because at that point, most of the left said: Support Saddam Huss” ein.” We said: [...] No to war and no to dictatorship.” [...] At that point, we ” were told by most of the classic left that we were traitors. [...] This independence from the ruling ideologies, the ruling regimes, [...] this is the political breakthrough that happened in 2003. (Experteninterview) Die Zusammenarbeit mit Akteuren aus anderen Bewegungen kann auch ein entscheidender Punkt f¨ ur den Mobilisierungserfolg sein. Das Mobilisierungspotenzial unter Aktivisten, die bereits f¨ ur andere Themen aktiv waren oder sind, ist hoch, und die Zahl der potenziell mobilisierbaren Aktivisten f¨ ur unabh¨angigen und s¨akularen Aktivismus ist klein. Die geringe Gr¨oße der Zivilgesellschaft im Libanon ist auch ein Grund f¨ ur die starke Auspr¨agung der ¨ Ubertragungsmechanismen, die auf einer geteilten community” und geteilten Personal” ” ” beruht (vgl. Meyer und Whittier 1994: 291f. Whittier 2004: 541f.). Dies beurteilten die interviewten Aktivisten nicht nur als positiv: We are the same circle that is moving from one issue to another. This is very dangerous, [...] because at a certain point you will arrive at a stage where you cannot do it any more, you will be exhausted. So if the movement cannot recruit new blood... (Experteninterview) Auch ein weiterer Aktivist erkl¨arte im Interview: The thing is that we have to approach ” the rest of the country. It couldn’t be just us, the usual suspects” (Experteninterview). Eine m¨ogliche L¨osung f¨ ur das Zirkulieren der immer gleichen u ¨blichen Verd¨achtigen” zwi” schen den Themen, Kampagnen und Bewegungen ist die Rekrutierung junger Aktivisten. Dies stellte in der Protestwelle ein weiteres kontrovers diskutiertes Thema dar. 6.3.4 Mobilisierung einer neuen Generation Unter den Organisatoren und Teilnehmern der Protestwelle waren zahlreiche junge Leute, die sich hier erstmals intensiv an politischem Aktivismus beteiligten. Die Pr¨asenz einer neuen Generation” unabh¨angiger Aktivisten wurde in Berichten u ¨ber die Proteste wie ” auch von interviewten Aktivisten thematisiert.79 This is the very important thing about the movement last year. It created a new layer of activists which were completely outside of the scene of activism. So, before 2011, a meeting about any issue would not get more than 10, 15 people, now any simple meeting will get about 50, 60 people. (Experteninterview). Interviewpartner sprachen teilweise w¨ortlich von einer neuen Generation” (Expertenin” terviews), teilweise sprachen insbesondere ¨altere Aktivisten von der Jugend” (Experten” interviews) und j¨ ungere Unabh¨angige von alten Aktivisten” (Experteninterview).80 ” c

79

Einige Autoren klassifizieren die Koalition Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯a if¯ı als Jugendaktivismus, etwa Moawad.2012, der schreibt: Inspired by other Arab uprisings, a group of young people has ” initiated a call to bring down the sectarian regime’ [...].” Diese Interpretation u ¨bersieht die Be’ deutung der anderen – ¨ alteren, etablierteren und formaler organisierten – Akteure innerhalb von Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯ a if¯ı. Die zitierte Interpretation spiegelt aber die von vielen jungen Aktivisten vorgenommene Rahmung, welche das Moment der Jugendbewegung” f¨ ur die Protestwelle in den ” Vordergrund r¨ uckte. In besonderer Weise wurden die Unterschiede zwischen den Aktivistengenerationen in Experteninterviews mit zwei Aktivisten thematisiert, die Vater und Sohn sind. Der Vater ist als Aktivist und c

80

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Die Idee einer neuen Generation ist dabei als relativ zu sehen, also als relativ neu und nicht als absoluter Bruch. So wurde das Auftreten neuer Generationen” im Kontext von ” Aktivismus auch in fr¨ uheren Bewegungen thematisiert, wenn etwa Schumann (2001: 233) darauf hinweist, dass der Begriff neue Generation” unter den Radikalnationalisten der ” 1940er Jahre geradezu inflation¨ar gebraucht” wurde, und wenn das Auftreten neuartiger ” Organisationen in den 1990ern mit der Mobilisierung einer neuen Gruppe junger Aktivisten in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Karam 29-31.03.2000: 5ff.). Da das Konzept der Generation” von Interviewpartnern in Diskussionen u ¨ber die Protestwelle h¨aufig ” angesprochen wurde, ist es zumindest im Selbstverst¨andnis einiger Aktivisten offenbar relevant. Wenn die Akteure den Begriff verwenden, attestieren sie damit den Organisationsformen, Themen oder Aktionen, die von der jungen Generation” bevorzugt werden, eine ” gewisse Neuheit. Wenn sie sich selbst in einer Generation verorten, so arbeiten sie damit auch an ihrem Selbstkonzept: Wer sich in die junge Generation einordnet, konzeptionalisiert sich selbst als innovativ und neu, wer sich in die alte Generation einordnet, konzeptionalisiert sich selbst als erfahren. Daher ist der Begriff Generation” in erster Linie ” relevant f¨ ur die Analyse der Rahmungen, mit denen die Aktivisten ihre Motivationen zum Aktivismus oder Konfliktlinien innerhalb der Bewegung konstruieren. Diese Konstruktionen beruhen auf einem Generationennarrativ” (Murphy 2012b; Des” rues 2012; s. auch Mannheim 1929; 3.1.8). Wie Mannheim (1929) herausgestellt hat, werden die Individuen, die sich subjektiv als eine gemeinsame Generation verstehen oder von außen als eine Generation gesehen werden, nicht bloß durch ihr ¨ahnliches Alter verbunden, sondern vor allem durch den Generationenzusammenhang”, also durch geteilte Erfahrung ” oder geteiltes Schicksal. Der Generationenzusammenhang besteht hier darin, in welchem Kontext die Aktivisten politisiert wurden und in welchen Organisationen bzw. bei welchen Aktionen sie ihre Erfahrungen gesammelt haben (vgl. AbiYaghi 2011: 84). Analoge Beobachtungen macht ein erfahrener intellektueller Aktivist, als er u ¨ber die jungen Teilnehmer von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı spricht: I think the problem is not generational. It has to ” do more with the experiences of people. Or let’s put it this way: With lack of experience, for most of them” (Experteninterview). Es besteht also, zumindest diskursiv, eine Dichotomie zwischen erfahrenen und unerfahrenen Aktivistengruppen, die von Aktivisten und Beobachtern als Dichotomie zwischen Generationen konzipiert wird. Da er die Thematik pr¨azise erfasst, sei hier ein Interviewauszug mit einem weiteren erfahrenen Aktivisten ausf¨ uhrlich zitiert: c

We are also some kind of different generations. Not only generations [in terms of age], but generations of activists. There are the ones who consider themselves more mature, more with expertise etc., and they would know how to reach the exact political moment and what and how to do etc. And there are the ones who are more enthusiastic – Let’s go and do this” – without really ” thinking about what will come next. [...] I understand when the youngsters would say: Stop telling me about your expertise and your maturence, you ” have not achieved anything until now. [...]” For me, this is understandable, I would not agree, but I understand that notion. Now at the other hand, the other guys with expertise would say: I have seen thousands like you. They ” Intellektueller eine im antikonfessionellen Aktivismus hoch angesehene Pers¨onlichkeit, der Sohn ist ein Organisator des ersten La¨ıque Pride”. Ihre Diskrepanzen bez¨ uglich der antikonfessionellen ” Protestwelle werden unten in 7.3 besprochen.

6.3 Faktoren der Transformation der Organisationsformen w¨ ahrend der Protestwelle

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come every year and go, and no one lasts. [...] So I am here because I stick to the issue.” [...] I understand both of them. What we try is to push for them to understand each other. (Experteninterview) Welche Eigenschaften der j¨ ungeren und der ¨alteren Generation zugeschrieben werden, l¨asst sich aus diversen Interviews zusammentragen. Als ¨altere Generation gelten vor allem diejenigen Aktivisten, die bereits im B¨ urgerkrieg aktiv waren (s. AbiYaghi 2011: 83). Die Meinungen der j¨ ungeren Aktivisten u ¨ber diese ist ambivalent. Einerseits beziehen j¨ ungere Aktivisten sich sehr positiv auf die ¨altere Generation. Sie bewundern die s¨akularen K¨ampfer der 1960er und 1970er Jahre und sprechen mit Nostalgie u ¨ber den Aktivismus jener Zeit. Pers¨onlichkeiten aus der ¨alteren Generation werden von j¨ ungeren Aktivisten der Protestwelle respektiert und bewundert (s. 6.1.3.2). Aus diesem Respekt heraus ¨außerten die interviewten jungen Aktivisten ihre Kritik an der ¨alteren Generation zumeist unter der Bedingung von Anonymit¨at. Gleichzeitig werden der ¨alteren Generation Einstellungen und Verhaltensweisen zugeschrieben, welche j¨ ungere Aktivisten kritisieren: Die ¨altere Generation gilt ihnen als verhaftet in Denkweisen des B¨ urgerkriegs, und als unflexibel, besonders bzgl. Organisations- und Aktionsformen jenseits von Parteipolitik. The older generation is the one we have the most problems with. [KS: Why?] [...] They are stuck in 1970. There is a rapper, a new one [El Rass], who has great lyrics. He said: Your experiences have gathered as tears and weeping ” and civil wars.” (Experteninterview) Die Dichotomie zwischen einer j¨ ungeren und einer ¨alteren Aktivistengeneration ist verbunden mit der oben in 6.2.2 diskutierten Dichotomie zwischen formalen und informellen Organisationsformen. So gilt die j¨ ungere Generation als unbelastet vom B¨ urgerkrieg und war bis 2011 eher unpolitisch, und gilt zudem als schlecht informiert u ¨ber die Geschichte von Aktivismus und Politik (Experteninterviews). Erfahrene Aktivisten berichteten, die jungen Aktivisten h¨atten hohe Erwartungen an die Ergebnisse der Proteste gehabt und seien entsprechend schnell entt¨auscht worden (Experteninterviews). So galten die jungen Aktivisten als motiviert, aktiv und enthusiastisch, aber auch als unerfahren und chaotisch (Experteninterview). Dies spiegelte sich insofern in den Organisationsformen der Bewegung, als die Entscheidung f¨ ur informelle und offene Organisationsformen insbesondere den j¨ ungeren Aktivisten zugeschrieben wird. Diese Orientierung an informellen und offenen Organisationsformen, die sich in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, aber auch bei Graswurzelorganisationen wie La¨ıque Pride zeigte, ist zudem als Akt der Abgrenzung zwischen den Generationen zu verstehen. Wie in dem oben zitierten ausf¨ uhrlichen Interviewzitat deutlich wird, grenzten insbesondere viele junge Unabh¨angige sich bewusst von ¨alteren Aktivistengenerationen und deren Institutionen ab. Denselben Prozess konstatiert Murphy (2012b: 11) f¨ ur die jungen Aktivisten des Arabischen Fr¨ uhlings”. Dabei fallen weitere Parallelen zwischen den Generationennarra” tiven des Arabischen Fr¨ uhlings” und der libanesischen antikonfessionellen Protestwelle ” auf: So findet das jugendliche Generationennarrativ von Exklusion, Marginalisierung und ” Entfremdung” (Murphy 2012a: 2) auch im Libanon Resonanz. Des Weiteren werden der jungen Generation im Arabischen Fr¨ uhling” ideologische Neutralit¨at” (Austin 2011: ” ” 88) und Desillusionierung u ¨ber formale Politik” (Challand 2011: 278) zugeschrieben. ” Dass diese Aspekte des Generationennarrativs auch in der antikonfessionellen Protestwelle aufschien, zeigt sich etwa in den informellen Organisationsformen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, La¨ıque Pride und dem Protestzelts am Innenministerium, deren Organisatoren c

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

sich jeweils von den etablierten Parteien und deren Ideologien entschieden distanzierten und, damit einhergehend, auch deren formalisierte Organisationsformen ablehnten, um mit informelleren Formen zu experimentieren. Die massenhafte Rekrutierung neuer Aktivisten und das Entstehen von Graswurzelorganisationen, also kaum formal organisierten politischen Gruppen, gab dem antikonfessionellen Aktivismus im Libanon ein neues Gesicht. Mit der Mobilisierung einer neuen politischen Generation” (Whittier 1997: 461ff.) ging eine Weiterentwicklung der Orga” nisationsformen einher. Andererseits bleiben politische Generationen u ¨ber Jahre stabil, und bilden das Organisationsged¨achtnis” (Whittier 1997: 775) der Bewegung. So wur” de beispielsweise die etablierte zivilgesellschaftliche Organisationsform mit verschiedenen Komitees, die sich etwa in der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren bew¨ahrt hatte, in die Organisationsform der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı u ¨bernommen. Somit kann festgestellt werden, dass die Organisations- und Aktionsformen der Protestwelle sowohl durch die im Organisationsged¨achtnis der ¨alteren Generationen vorgesehenen Formen als auch durch die von der jungen Generation eingef¨ uhrten Formen gepr¨agt waren. Dementsprechend fanden die oben in 6.2 beschriebenen Konflikte u ¨ber angemessene Organisationsformen – nicht ganz deckungsgleich, aber tendenziell – zwischen verschiedenen politischen Generationen statt. c

6.4 Zwischenfazit: Programmatiken, Konflikte und Dynamiken der Organisationsformen Das vorliegende Kapitel analysiert die Akteursebene (zur Unterscheidung der Bewegungsebenen Akteure”, Aktionen”, Themen” vgl. Tilly 1978; Kriesi 1989) der antikonfessio” ” ” nellen Protestwelle 2010-2012, und darin prim¨ar die Organisationsformen. Da politische Strategien und Entscheidungsfindungen des Aktivismus untersucht wurden, behandelte das Kapitel weder Teilnehmer” noch Sympathisanten”, sondern nur die Organisato” ” ” ren” der Protestwelle (die Unterscheidung dieser Aktivistenebenen folgt Kriesi u. a. 2003: 37). Das Kapitel ging den in 1.1 entwickelten Fragestellungen nach, welche Organisationsformen in der Protestwelle verwendet wurden und wie die Aktivisten diese ausw¨ahlten, welche Transformationen der Organisationsformen stattfanden und worin die Ausl¨oser dieser Transformationen zu sehen sind, welche Kontroversen um Organisationsformen bestanden und wie diese Kontroversen analysierbar sind. Wie der Bewegungsforscher Rucht (2004) gezeigt hat, sind soziale Bewegungen hybride, ” zwischen informellen Kleingruppen und formellen Organisationen gelagerte Kollektive” (Rucht 2004: 509). Eine solche Hybridit¨at ist auch in der antikonfessionellen Protestwelle feststellbar, denn darin waren sowohl informelle als auch formal organisierte Akteure pr¨asent. Der Organisationsgrad war also sehr divers: Beteiligt waren Parteien wie die Liˇ c b, NGOs wie das Civil Society banesische Kommunistische Partei (LCP) und H.arakat Sa Movement (CSM) und CHAML, Graswurzelorganisationen wie La¨ıque Pride und Nasawiya sowie unabh¨angige Aktivisten, darunter auch prominente intellektuelle Pers¨onlichkeiten wie der ehemalige Bischof Gr´egoire Haddad und der stellvertretende Chefredakteur der Tageszeitung as-Saf¯ır, Nasri Sayegh senior. Verschiedene antikonfessionelle Akteure bildeten in der Protestwelle die Koalitionen al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die wiederum jeweils als eigenst¨andiger Akteur auftraten. Diese Kategorisierung von Bewegungsakteuren entlang ihres Organisationsgrads reflekc

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6.4 Zwischenfazit: Programmatiken, Konflikte und Dynamiken der Organisationsformen

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¨ tiert sowohl theorie- als auch empiriegeleitete Uberlegungen: Sie greift die Kategorisierungen von Rucht (2004) auf, der Bewegungsakteure anhand ihres Organisationsgrads unterscheidet, und folgt zugleich der Innenperspektive der beteiligten Aktivisten, die in den Interviews f¨ ur diese Arbeit ihre Aussagen u ¨ber Diskrepanzen zwischen einzelnen Akteuren mit deren Organisationsform verkn¨ upfen. Mit Blick auf die organisatorische Entwicklung s¨akularer und antikonfessioneller Akteure im Libanon in den Jahren vor der Protestwelle zeigt sich eine Tendenz der Informalisierung. Analog zu den Beobachtungen, die Abu-Sada und Challand (2011) auf arabische L¨ander im allgemeinen bezogen, haben auch im Libanon Parteien tendenziell an Legitimit¨at und Unterst¨ utzung verloren, so dass zahlreiche neue NGOs gegr¨ undet wurden und die Funktion von one-issue-parties” (Hegasy 2010: 23) u ¨bernahmen. In der Folge ” verloren allerdings auch NGOs an Legitimit¨at und Unterst¨ utzung (vgl. Abu-Sada und Challand 2011). Im Libanon ist dieser Prozess seit dem NGO-Boom ab dem Jahr 2005 sichtbar. Viele unabh¨angige Aktivisten beurteilen sowohl Parteien als auch NGOs als gescheitert und nicht zielf¨ uhrend f¨ ur antikonfessionellen Aktivismus. Parteien gelten vielen antikonfessionellen Aktivisten als zu stark im formal-politischen System verwurzelt und als erfolglos bez¨ uglich s¨akularer Politik, NGOs gelten den Aktivisten als ineffizient und zu stark mit politischen Geldgebern verbunden. Ein folgerichtiges Ergebnis dieser Entwicklung ist, vergleichbar mit den Beobachtungen mehrerer Autoren zum Arabischen ” Fr¨ uhling”, dass unter den Organisatoren der Protestwelle ein relativ hoher Anteil an unabh¨angigen Aktivisten und Graswurzelorganisationen pr¨asent war. Die Distanzierung von Parteien und teilweise auch von NGOs ist allerdings nicht total, sondern ambivalent. Es besteht sowohl Frustration u ¨ber die etablierten Parteien und teilweise auch NGOs als auch Nostalgie nach dem Parteiaktivismus der 1960er und 1970er Jahre. Hier geschieht ein Prozess, der als Grundprozess der Individualisierung” (Kron ” und Hor´acek 2009: 11ff.) begreifbar ist, bei dem auf den Schritt der Entstrukturierung” ” eine Restrukturierung” folgt (U. Beck 1986, 2008). Die zitierten Soziologen gehen da” von aus, dass Individuen nach der Abwendung von formalen Kollektiven nicht in der Atomisierung verharren, sondern dass sich neue Strukturen bilden. Die kollektiven Zusammenh¨ange, die sich durch Restrukturierung bilden, k¨onnen sich qualitativ von ihren Vorg¨angern unterscheiden, etwa durch gr¨oßere Heterogenit¨at oder weniger Verbindlichkeit, es handelt sich um post-traditionale Vergemeinschaftungen” (Hitzler 1998; s. auch ” Kron 2007: 325). Dieses Modell erm¨oglicht das Verst¨andnis der Ambivalenz, durch welche die Diskussionen u ¨ber Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle gepr¨agt sind, insbesondere wenn unabh¨angige Aktivisten sich u ¨ber Parteien ¨außern: Einerseits distanzieren viele Aktivisten sich etwa deutlich von der Libanesischen Kommunistischen Partei oder lehnen sogar grunds¨atzlich die Organisationsform der Partei als Instrument antikonfessioneller Politik ab, aus Frustration u ¨ber den Zustand des Parteiensystems und das Verhalten von Parteipolitikern. Andererseits vergleichen sie ihren Aktivismus mit dem Aktivismus s¨akularer Parteien der Vorkriegszeit und verorten sich als deren Nachfolger. Teile des s¨akularen Aktivismus verlassen somit die Organisationsform der Parteien, aber es sind diese entstrukturierten Teile, die sich in neuen, weniger formalisierten Organisationsformen restrukturieren. Im Verh¨altnis dieser neueren, weniger formalisierten Akteure zu a¨lteren, st¨arker formalisierten Akteuren zeigen sich Parallelen zum Verh¨altnis zwischen neuen sozialen Bewe”

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

gungen” und alten sozialen Bewegungen”, das seit den 1970er Jahren theoretisiert wurde. ” Der Ansatz zu neuen sozialen Bewegungen” (NSB) konstruiert eine Dichotomie zwischen ” formal organisierten, alten Bewegungen und informell organisierten, neuen Bewegungen (s. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994, 1996). Auch wenn die Einordnung als alt” ” und neu” empirisch nicht haltbar ist, sondern sowohl der empirische Kontext der NSB” Forschung als auch die libanesische Realit¨at durch Ambivalenzen gekennzeichnet sind, so ist diese Dichotomie dennoch geeignet, um interne Abgrenzungen zwischen verschiedenen Bewegungsakteuren zu operationalisieren. Eine Parallele zwischen der Organisationsweise der antikonfessionellen Protestwelle und den NSB besteht darin, dass einige informelle Akteure der Protestwelle sich, ebenfalls im Zusammenhang mit Distanzierung von Parteien, als unideologisch und klassen¨ ubergreifend einstuften (f¨ ur die NSB vgl. Offe 1985: 831). Die Selbstverortung als ideologiefrei kann dabei selbst gewissermaßen ideologische Qualit¨at annehmen, ¨ahnlich wie es f¨ ur den Arabischen Fr¨ uhling” diskutiert wurde (s. Haugbolle 21.03.2012): Die Aktivisten ” folgen durchaus festen inhaltlichen und organisatorischen Prinzipien, diese Prinzipien sind allerdings dezidiert unabh¨angig von strategischen Vorgaben eines formalen Akteurs oder einer u ¨bergeordneten Hierarchieebene. Die konstatierte ideologische Neutralit¨at bezieht ¨ sich daher weniger auf die Flexibilit¨at von Uberzeugungen als auf die Abgrenzung von ausformulierten Parteiideologien. Der von einigen Aktivisten der Protestwelle formulierte Anspruch des klassen¨ ubergreifenden Aktivismus ist in ¨ahnlicher Weise zu interpretieren. Zwar waren die Forderungen der Protestwelle nicht auf klassenbezogene Privilegien ausgerichtet, und die soziale Herkunft der Teilnehmer auf dem H¨ohepunkt der Protestwelle war relativ divers, aber die Organisatoren wiesen in der Regel sozio¨okonomische Hintergr¨ unde der akademisch gebildeten Mittelschicht auf. Mit einer weiteren auf die NSB bezogenen Formulierung von Offe (1985) l¨asst sich sagen, dass es sich bei der Protestwelle zwar nicht um Poli” tik f¨ ur eine Klasse”, aber um Politik von einer Klasse” handelt: Aktivisten sind sozi” alstrukturell der Mittelschicht zuzuordnen, verorten ihren Aktivismus aber als politisch klassen¨ ubergreifend (Offe 1985: 833). Unter den Akteuren der Protestwelle sind insbesondere die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und Graswurzelorganisationen wie La¨ıque Pride als wenig formalisiert bzw. im Sinne der NSB als neu” einzuordnen. Analog zu den Feststellungen, die Offe (1985) ” f¨ ur die NSB formuliert hat, zeichnen diese sich durch vertikale und teilweise auch horizontale Dedifferenzierung aus. In der Horizontalen verschwimmt die Grenze zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern ( insider vs. outsider”), in der Vertikalen die Grenze ” zwischen leaders” und rank and file members” (vgl. Offe 1985: 829). Die neuen” Ak” ” ” teure weisen in ihrer Dedifferenziertheit” (Offe 1985) und Hybridit¨at” (Della Porta und ” ” Diani 2006; Rucht 2004) kein klares internes Zentrum auf. Die Formulierung der Bewegungsforscher Della Porta und Diani (2006: 157ff.), wonach soziale Bewegungen dennoch nicht als kopflos”, sondern als mehrk¨opfig” zu charakterisieren seien, ist treffend: In der ” ” gesamten Protestwelle wie auch innerhalb der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı waren mehrere Zentren vorhanden, die letztlich autonome Einheiten darstellten und teilweise konkurrierten. c

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Durch diese Mehrk¨opfigkeit” der Protestwelle ist zudem uneindeutig, welches Seg” ment die F¨ uhrungsrolle einnahm. So wurde die Gr¨ undung der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı von einigen Aktivisten einer Facebook-Gruppe junger Unabh¨angiger zugeschriec

6.4 Zwischenfazit: Programmatiken, Konflikte und Dynamiken der Organisationsformen

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ben und von anderen Aktivisten der Koalition al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı. Das Konzept der Mehrk¨opfigkeit erkl¨art, dass die Zuordnung der F¨ uhrungsrolle nicht eindeutig geschehen kann, da mehrere Zentren parallel aktiv waren. Die Organisation der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı wurde von interviewten Aktivisten als ineffizient, laut und totale Unordnung” beschrieben. Sie war unordentlich”, ” ” informell, dedifferenziert und offen – und daher zugleich gepr¨agt von Unverbindlichkeit, Instabilit¨at und Ineffizienz. Dennoch war die informelle Organisationsweise programmatisch gewollt, denn sie unterstrich die Abgrenzung der Aktivisten von der formalen Politik. Hier bewahrheitet sich eine These von Della Porta und Diani (2006), wonach Professionalisierung und Legitimit¨at von Bewegungsorganisationen negativ korrelieren: Obwohl sie mit dem Risiko der Ineffizienz verbunden war, erh¨ohte die informelle, nicht professionalisierte Organisationsweise insbesondere von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı die Legitimit¨at der Koalition unter den beteiligten Aktivisten. c

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Die Einsch¨atzung von Aktivisten und Beobachtern u ¨ber Effektivit¨at und Legitimit¨at der Protestakteure und ihrer Organisationsformen schwankte im Verlauf der Protestwelle. Die Welle begann im April 2010 mit einer Veranstaltung von La¨ıque Pride mit 2.000-3.000 Teilnehmern, wuchs in der ersten Jahresh¨alfte 2011 auf u ¨ber 200 Organisatoren allein in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und auf 20.000 Teilnehmer bei der gr¨oßten von dieser Koalition organisierten Demonstration. Zudem fanden neben den Demonstrationen und M¨arschen eine Vielzahl weiterer Veranstaltungen und ¨offentlicher Diskussionen statt. Im Sommer 2011 verorten Aktivisten die Spaltung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, und im Mai 2012 fand mit dem dritten La¨ıque Pride mit 1.000-2.000 Teilnehmern die letzte Veranstaltung der Protestwelle statt. Zur Erkl¨arung dieser Schwankungen wurde in dieser Arbeit das Konzept der Protestwelle” (s. Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; Tar” row 1989, 1991, 1998) herangezogen. Die Protestwelle l¨asst sich analytisch unterteilen in die Phasen von Expansion”, Transformation”, Kontraktion” und Re-Routinisierung” ” ” ” ” (Koopmans 2004). Die Thesen, dass Akteure w¨ahrend der Expansionsphase st¨arker kooperieren als in anderen Phasen, und dass es sich beim H¨ohepunkt der Mobilisierung um eine Ausnahmeepisode” (Bayat 2013b) handelt, erkl¨art, warum die verschiedenen Akteu” ¨ re sich in der ersten Jahresh¨alfte 2011 trotz ihrer unterschiedlichen Uberzeugungen aktive und bewusste Koalitionsarbeit” (Rucht 2004: 203f. Della Porta und Diani 2006: 157) ” leisteten und sich in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zusammenschlossen. Aus der Perspektive des Protestwellen-Ansatzes sind auch die darauf folgende Spaltung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und die sinkenden Teilnehmerzahlen nicht als Defekt des antikonfessionellen Aktivismus zu verstehen, sondern es handelt sich um die in zahlreichen Bewegungen wiederkehrenden Prozesse der Transformation und Kontraktion. Die Kontraktionsphasen sozialer Bewegungen sind h¨aufig gepr¨agt durch einen Prozess der Polarisierung”, in der ” einzelne Segmente sich entweder institutionalisieren” oder radikalisieren” (McAdam, ” ” Tarrow und Tilly 2001: 314, 322; Kriesi u. a. 2003: 124). Auch dieser Prozess war in der Protestwelle zu beobachten. Die dabei relevanten Konfliktthemen bestanden einerseits in der Rolle von Parteien und die Positionierung gegen¨ uber dem formal-politischen System und seinen politischen Lagern des 8. und 14. M¨arz, und andererseits in den Debatten um angemessene Organisationsformen, etwa um die Etablierung von Arbeitsteilung und Hierarchien in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. c

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Die Ausgestaltung der Organisationsformen und die Einsch¨atzungen von Aktivisten

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

und Beobachtern u ¨ber Legitimit¨at und Effektivit¨at verschiedener Organisationsformen schwankten im Verlauf der Welle. Die Transformationen der Organisationsformen korrelierten mit Kooperation und Spaltung sowie mit Mobilisierung und Demobilisierung der Akteure. Da diese Dynamiken sich in den verschiedenen Phasen der Protestwelle jeweils unterschiedlich darstellten, wurden sie im Zusammenhang mit den Phasen der Protestwelle analysiert. F¨ ur eine detailliertere Analyse der Transformationen der Organisationsformen im Verlauf der Protestwelle wurden zudem weitere Ans¨atze aus Theorien sozialer Bewegungen herangezogen. Entscheidende Faktoren f¨ ur den Verlauf der Protestwelle bestanden in politischen Gelegenheitsstrukturen, Rahmungen und movement spillover. Da der Faktor der Aktivistengenerationen in Diskussionen sowohl um die antikonfessionelle Protestwelle im Libanon als auch um den Arabischen Fr¨ uhling” h¨aufig thematisiert wird, wurde er eben” falls in der Analyse ber¨ ucksichtigt. Die politischen Gelegenheitsstrukturen (s. Koopmans 1998; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996) f¨ ur eine antikonfessionelle Bewegung im Libanon sind ung¨ unstig f¨ ur die Entstehung von zivilgesellschaftlichem Aktivismus: Sie sind gepr¨agt durch die Geschlossenheit” und ” Exklusivit¨at” der politischen Institutionen” sowie die Geschlossenheit” der Konflikt” ” ” ” linien” (Kriesi u. a. 2003), die ab dem Jahr 2005 und bis in die Zeit der Protestwelle hinein zwischen den Lagern des 8. und 14. M¨arz bestanden. Wie Koopmans (1998) zur Recht betont, sind allerdings bei der Betrachtung der politischen Gelegenheitsstrukturen nicht nur die statischen Strukturmerkmale”, sondern auch dynamische kontingente mobilisie” ” rungsf¨ordernde Ereignisse” zu beachten (Koopmans 1998: 223ff.). So bestand im Libanon zu Jahresbeginn 2011, also zum Zeitpunkt der Expansionsphase der Protestwelle, kurzzeitig eine Situation, in der die Gelegenheitsstrukturen durch eine vergleichsweise hohe Offenheit gekennzeichnet waren: Die innenpolitischen verh¨arteten Konfliktlinien schienen durch eine Regierungskrise in h¨oherem Maße als sonst verhandelbar zu sein. Im Fall der antikonfessionellen Protestwelle haben allerdings auch außenpolitische Ereignisse sowohl die Expansion als auch die Kontraktion der Protestwelle deutlich beeinflusst. Insbesondere die Ereignisse des Arabischen Fr¨ uhlings” hatten mobilisierungsf¨ordernde Wirkung, ” denn der Enthusiasmus sowie die Organisations- und Aktionsformen der ¨agyptischen und tunesischen Aktivisten inspirierten die Protestwelle und f¨orderten die bewegungsinterne Kooperation und somit die Bildung der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Allerdings wurden auch die Transformations- und Kontraktionsphase der Protestwelle, in der die Koalition sich spaltete und letztlich aufl¨oste, durch außenpolitische kontingente Ereig” nisse” beeinflusst, als mit der Versch¨arfung der Konflikte in Syrien und die Luftangriffe der NATO auf Libyen auch Aktivisten der Protestwelle forderten, sich in diesen Fragen zu positionieren. Hierdurch wurde die Neutralit¨at und somit die Unabh¨angigkeit der Protestwelle gegen¨ uber der Lagern des 8. und 14. M¨arz in Frage gestellt. Ein weiterer Faktor, der unter den Aktivisten kontrovers diskutiert wurde, bestand in dem Slogan Sturz des konfessionalistischen Systems”, unter dem in der gleichnamigen Ko” alition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı h¨ochst unterschiedlich Akteure kooperierten. Auch dieser Slogan f¨orderte die Mobilisierung neuer Aktivisten und die Bereitschaft zu Koalitionsarbeit zwischen Bewegungsakteuren. Der Slogan stellt eine Artikulation der Rahmung” der ” Protestwelle dar. Bei der Rahmenanalyse wird aus sozialkonstruktivistischer Perspektive angenommen, dass Problemdiagnosen, L¨osungsvorschl¨age und Motivationen (vgl. Della Porta und Diani 2006; Snow 2004; Snow und Benford 1988) in sozialen Bewegungen nicht einfach objektiv vorhanden sind, sondern ausgehandelt werden m¨ ussen. Der Slogan Sturz ” c

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6.4 Zwischenfazit: Programmatiken, Konflikte und Dynamiken der Organisationsformen

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des konfessionalistischen Systems”, unter dem die Protestwelle w¨ahrend der Expansionsphase rasch anwuchs, ist als Masterrahmen” analysierbar. Masterrahmen zeichnen sich ” aus durch ihre Inklusivit¨at, die unterschiedliche Interessen heterogener Akteure in einen gemeinsamen Rahmen stellt, so dass sie zu breiter Mobilisierung geeignet sind (Snow 2004: 390f.). Masterrahmen sind allerdings besonders zu Beginn der Protestwelle und in ihrer Endphase h¨aufig umstritten (vgl. Snow und Benford 1992: 150) und somit instabil. So wurde der Slogan Sturz des konfessionalistischen Systems” zum einen bei der Gr¨ undung ” der Koalition heftig debattiert und bildete zum anderen auch nach dem H¨ohepunkt der Mobilisierung eine Kontroverse, die im Zusammenhang mit der Spaltung der Koalition erneut debattiert wurde. Ein Masterrahmen wie der zitierte zentrale Slogan der Protestwelle ist dabei inhaltlich vage. Somit wird verst¨andlich, dass die formulierte Forderung nach dem Sturz des konfessionalistischen Systems” zu unterschiedlichen Zeitpunkten der ” Protestwelle einerseits mobilisierend und andererseits demobilisierend wirkte: Er wurde zu Beginn und Ende der Protestwelle von Aktivisten und Beobachtern zu recht als unspezifisch und unkonkret kritisiert, aber gerade diese Vagheit erm¨oglichte auf dem H¨ohepunkt der Protestwelle breite Mobilisierung und Kooperation von unterschiedlichen Akteuren. Die Mechanismen, mit denen eine soziale Bewegung durch andere Bewegungen beeinflusst wird, sind anhand des Konzepts movement spillover analysierbar (s. Meyer und Whittier 1994; Whittier 2004). In der antikonfessionellen Protestwelle bestanden Einfl¨ usse von Bewegungen des Arabischen Fr¨ uhlings” nicht nur auf die politischen Gelegenheitss” trukturen und den Masterrahmen, sondern auch auf interne Aspekte der Protestwelle wie etwa organisationsstrategische Entscheidungen. So wurde die Betonung informeller, ahierarchischer und offener Organisationsformen innerhalb der Protestwelle durch spillover Effekte des Arabischen Fr¨ uhlings” verst¨arkt. Zugleich bestanden weitere spillover -Effekte ” auf die Organisationsformen der Protestwelle von fr¨ uheren Bewegungen und Kampagnen innerhalb des Libanon, so waren etwa die Bildung von Koalitionen aus verschiedenen Bewegungsakteuren und von arbeitsteiligen Komitees innerhalb einer Gruppierung bereits in fr¨ uheren Kampagnen praktiziert worden. Die Organisationsformen der Protestwelle sind folglich sowohl in der Geschichte des libanesischen s¨akularen Aktivismus als auch in ¨ Einfl¨ ussen aus dem Arabischen Fr¨ uhling” verwurzelt. Die Ubertragungsmechanismen” ” ” (Meyer und Whittier 1994: 290ff.) von diesen Verschiedenen Bewegungen unterschie¨ den sich allerdings: Die Ubertragungsmechanismen aus Bewegungen des Arabischen ” Fr¨ uhlings” bestanden haupts¨achlich in Medienberichterstattung, also in kultureller Re” ¨ pr¨asentation” (Whittier 2004: 547), w¨ahrend die Ubertragungsmechanismen aus anderen libanesischen Bewegungen in pers¨onlichen Verbindungen bestanden, sowohl in personel¨ len Uberschneidungen als auch in der Bildung von Koalitionen (vgl. Meyer und Whittier 1994: 291f. Whittier 2004: 541f.). Die Dynamiken und Kontroversen um Organisationsformen wurden von Interviewpartnern und Beobachtern auch in den Zusammenhang mit der Pr¨asenz einer jungen Generation von Aktivisten gestellt. Dabei wurde die jungen Generation” als innovativ und neu ” konzipiert, die alte Generation” als erfahren und teilweise als nicht zeitgem¨aß. Hierzu hat ” bereits der Soziologe Karl Mannheim (1929) u ¨berzeugend festgestellt, dass die Verortung eines Individuums in einer Generation subjektiv und anhand von geteilten Erfahrungen” ” geschieht. Auch die Zuschreibungen von Eigenschaften zu einer Generation sind subjektiv. Dennoch waren generationale Zuschreibungen in Debatten innerhalb der Protestwelle durchaus wirksam, denn sie strukturierten interne Debatten, indem verschiedene Positionen jeweils unterschiedlichen Generationen zugeordnet wurden. Wie Murphy (2012a,b)

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6 Die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle

gezeigt hat, verorten sich junge Aktivisten in der arabischen Welt in einem Generationen” narrativ”. Dieses jugendliche Generationennarrativ betont Exklusion, Marginalisierung ” und Entfremdung” (Murphy 2012a), es steht also wiederum im Zusammenhang mit der Distanzierung junger Aktivisten von etablierten Organisationsformen, und somit auch mit der Erprobung unkonventioneller und informeller Formen, wie beispielsweise der explizit informellen, ahierarchischen und offenen Organisationsformen von La¨ıque Pride und der Aktivistengruppe um das Zelt vor dem Innenministerium, oder etwa der dezidierten Offenheit der Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Da aber Generationen empirisch nicht klar voneinander abgrenzbar sind, handelt es sich letztlich um eine diskursive Dichotomie zwischen jungem, innovativem und informellem Aktivismus und ¨alterem, erfahrenem und formalerem Aktivismus, die haupts¨achlich f¨ ur die Selbstverortung von Aktivisten relevant ist. c

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Organisationsformen der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 durch Diversit¨at und durch Br¨ uche gekennzeichnet waren. Aktivisten und Beobachter konstruierten Dichotomien zwischen einerseits formal und hierarchisch und andererseits informell und offen organisierten Akteuren. Durch die vielf¨altigen Beziehungen zwischen Bewegungsakteuren ist die Protestwelle nicht als f¨ uhrungslos zu bezeichnen, aber als mehrk¨opfig”. Die Beziehungen zwischen Bewegungsakteuren wie ” auch die Organisationsformen waren w¨ahrend der Protestwelle Gegenstand von Transformationen und wurden von verschiedenen internen und externen Faktoren beeinflusst, insbesondere von Ereignissen des Arabischen Fr¨ uhlings” und durch interne Konflikte um ” angemessene Organisationsformen und um Positionierung gegen¨ uber formal-politischen Akteuren. Mehrere Bewegungsakteure, insbesondere die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, waren durch informelle, ahierarchische Organisationsweisen gepr¨agt, welche heftig debattiert wurden. Diese Organisationsweisen galten als ineffizient und chaotisch, aber zugleich als offen, inklusiv und legitim. Vor dem Hintergrund der Abgrenzung vieler Aktivisten von Parteien und NGOs, die als Organisationsform bereits in den Vorjahren an Legitimit¨at verloren hatten, hatte die Wahl informeller und damit wenig effizienter Organisationsformen allerdings politisch-programmatische Qualit¨at, sie war in sich ein politisches Programm. c

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle Nach der Diskussion der Akteure im vorangegangenen Kapitel wendet sich das folgende Kapitel nun einer weiteren Analyseebene zu, n¨amlich den Aktionen (zur Unterscheidung dieser Ebenen vgl. Tilly 1978; Kriesi 1989; s. oben in Abschnitt 4). Analog zur Untersuchung von Organisationsformen der Akteure in Kapitel 6 gilt das Augenmerk nun den Aktionsformen der antikonfessionellen Aktionen zwischen 2010 und 2012. Es soll untersucht werden, welche Aktionsformen zum Einsatz kamen, wie Aktivisten Aktionsformen ¨ ausw¨ahlten und welche strategischen Uberlegungen damit verbunden waren, wo Br¨ uche und Erneuerungen der Protestrepertoires stattfanden und wie diese erkl¨arbar sind. Dabei wird auch diskutiert, wie die Wirksamkeit verschiedener Aktionen zu beurteilen ist, bzw. inwieweit die Auswahl der Aktionsform dadurch geleitet wird, wie die Akteure ihre politischen Ziele definieren. Im folgenden Kapitel werden die Aktionen der Protestwelle zun¨achst beschrieben. Nach einer einleitenden Erl¨auterung in 7.1, welche Praktiken als Protestereignisse einzuordnen sind, folgt in 7.1.1 eine Auflistung der gr¨oßten antikonfessionellen Aktionen, welche innerhalb der Protestwelle stattfanden. Dabei werden systematisch die Form, die Gr¨oße und der Ort der einzelnen Aktionen beschrieben. In den folgenden Abschnitten werden diese Protestereignisse dann unter R¨ uckgriff auf mehrere analytische Konzepte (s. Abschnitt 3.3.1) diskutiert: So haben sich die Repertoires zu verschiedenen Zeitpunkten des antikonfessionellen Aktivismus ver¨andert, wobei die Ver¨anderungen w¨ahrend der Protestwelle besonders deutlich waren. Diese Kontinuit¨aten und Innovationen der Repertoires sind das Thema von Abschnitt 7.1.2. Die Kontroversen, die in der Protestwelle u ¨ber die Aktionsformen – ¨ahnlich wie u uhrt wurden, werden anschließend ¨ber die Organisationsformen – gef¨ in Abschnitt 7.1.3 thematisiert. Auf diese Er¨orterungen der Protestereignisse folgt mit 7.2 ein Exkurs zu den Initiativen f¨ ur die Streichung der Konfession aus dem Personenstandsregister und f¨ ur die Anerkennung einer im Libanon geschlossenen Zivilehe. Der Abschnitt stellt im Rahmen der Arbeit in doppelter Hinsicht einen Exkurs dar. Zum einen handelt es sich zwar um zivilgesellschaftliche antikonfessionelle Initiativen, die aber nicht als Protest definierbar sind und sich somit von den meisten w¨ahrend Aktionen der Welle deutlich unterscheiden. Zudem fanden sie zwar in zeitlicher N¨ahe, aber nicht direkt w¨ahrend des Zeitraums der Protestwelle statt. Ihre Relevanz im Rahmen dieses Kapitels besteht darin, dass sie innerhalb des nicht-staatlichen, nicht formal organisierten Antikonfessionalismus den komplement¨aren Gegenpol zu einigen der in der Protestwelle verwendeten Aktionsformen darstellen. Schließlich werden in 7.3 die unterschiedlichen Aktionsformen der Protestwelle im Hinblick darauf diskutiert, welche Ziele damit jeweils verfolgt werden. Die unterschiedlichen Aktionsformen werden danach analysiert, welchen Logiken sie folgen, und welche Ziele damit verkn¨ upft sind. Dabei werden drei Ziele der antikonfessionellen Protestwelle eingehender betrachtet. Dies sind erstens die Ideale der S¨akularisierung und der Staatsb¨ urgerschaft (eng. citizenship, arab. muw¯a.tana, 7.3.1), die von vielen Aktivisten explizit als Protestziele genannt werden. Zweitens wird in 7.3.2 das Ziel der politischen Subjektivierung herausgearbeitet und gezeigt, wie dieses Ziel insbesondere Aktionen zugrunde lag, welche auf

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_7

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

die Unterbrechung der u ¨blichen Ordnung zielten. Drittens werden in 7.3.3 Protestziele diskutiert, die auf das Innere einer Bewegung gerichtet sind, in deren Vordergrund also die Mobilisierung und Motivierung von Aktivisten stehen. 7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse Wenn die Ereignisse und Aktionsformen der Protestwelle diskutiert werden sollen, so bedarf dies zun¨achst der Eingrenzung, welche Aktionen gemeint sind. Zun¨achst gelten als Ereignisse” der Protestwelle sowohl Protestereignisse”, also F¨alle von Protest im enge” ” ren Sinn, als auch andere Stellungnahmen und Forderungen” (Rucht 2001: 15), welche ” thematisch der Protestwelle zuzuordnen sind. Die interviewten Aktivisten selbst z¨ahlten sehr diverse Praktiken zum Aktivismus, wie die folgenden Zitate zeigen: c

[KS: Are you now still active with Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı?] No, I am following up because a lot of my friends are still active, but I am no longer attending meetings or participating in lectures. (Experteninterview) On Tuesday [1.5.2012], we had five events. First we had a demonstration for the communist people [...], the graffiti event [demonstration for the freedom of expression, following the arrest of two graffiti sprayers], the La¨ıque Pride meeting [a preparatory meeting for the third La¨ıque Pride], Kaled al-Habr performed at UNESCO [palace]. (Experteninterview) Als Antworten auf Fragen nach ihrem eigenen Aktivismus oder im Zusammenhang mit Berichten u ¨ber Termine des s¨akularen Aktivismus z¨ahlten die zitierten Aktivisten Organisationstreffen, Vortr¨age, Demonstrationen, Konzerte und einen Graffiti-Workshop auf. Diese Aktionen gelten den befragten Aktivisten als Aktivismus und k¨onnen somit zumindest aus der Innenperspektive der Organisatoren (Zur Unterscheidung zwischen den Ebenen der Organisatoren und Teilnehmer s. Kriesi u. a. 2003: 37; s. 4, 3.1.4) als Protest eingeordnet werden. Aus der theoriegeleiteten Außenperspektive geh¨oren zu Protest” diejenigen Aktionen, ” die durch Streit” ( contestation”), Intentionalit¨at” und kollektive Identit¨at” gepr¨agt ” ” ” ” sind (Taylor und Van Dyke 2004: 268ff. s. auch 3.1.4). Protestaktionen beziehen sich also auf einen Konflikt, die Akteure haben die Absicht, mit ihrem Protest etwas zu erreichen, ¨ beispielsweise politische Anderungen, und die Proteste werden von Akteuren ausgef¨ uhrt, die sich in einem gr¨oßeren politischen oder sozialen Zusammenhang verorten. Zus¨atzlich ist festzuhalten, dass Proteste außerhalb der formal-politisch vorgesehenen politischen Kan¨ale geschehen, also nicht routinisiert” sind (Della Porta und Diani 2006: 165). Da ” aber nicht alle in der Protestwelle verwendeten Aktionsformen als Protest” zu klassifi” zieren sind, wird die Analyse der Protestereignisse”, Rucht (2001: 15) folgend, auch Ak” tionen wie beispielsweise Besuche bestimmter Kulturveranstaltungen mit einbeziehen. In diesem Kapitel werden folglich vor allem Ereignisse besprochen, die anhand der genannten Kriterien als Protest” zu definieren sind. Im Zentrum stehen dabei die Demonstrationen ” und M¨arsche von La¨ıque Pride und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, also die gr¨oßten ¨offentlichen Protestereignisse. Nur unsystematisch erfasst, aber ebenfalls besprochen werden weiche” re” Protestformen in Bereichen wie Musik, bildender Kunst und Journalismus. Ereignisse wie Organisationstreffen von Aktivisten, Neugr¨ undungen von Gruppen oder Netzwerken, c

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

195

oder Schritte in der Koalitionsbildung bleiben hingegen unber¨ ucksichtigt, denn diese werden nicht der Ebene der Aktionen zugeordnet, sondern finden auf der Ebene der Akteure statt. Sie sind somit nicht als Aktionsformen zu analysieren, sondern – wie oben in Kapitel 6 geschehen – als Aspekt der Organisationsformen. 7.1.1 Chronologie der Protestereignisse Die Anzahl der Protestereignisse und der Teilnehmer war zu Beginn der Protestwelle gering, stieg im Verlauf der Welle an und nahm gegen Ende wieder ab. Wie in Kapitel 4 dargelegt, werden in dieser Arbeit die großen Demonstrationen und M¨arsche als Indikatoren f¨ ur die Protestwelle definiert, so dass Beginn und Ende der Welle durch die erste und die letzte Veranstaltung von La¨ıque Pride markiert werden. Antikonfessionelle Protestereignisse, die vor diesem Zeitraum stattfanden, wurden in Abschnitt 5.2.4 andiskutiert, wobei einige Aktivit¨aten mit niedrigeren Teilnehmerzahlen, die in den Jahren vor dem ersten La¨ıque Pride begonnen hatten, in den Zeitraum der Protestwelle hinein fortgef¨ uhrt wurden. Zu nennen sind hier etwa die Aktivit¨aten des Secular Club der AUB und des Civil Society Movement sowie die Kampagne f¨ ur den Entwurf eines zivilen Personenstandsgesetzes von CHAML. Im Rahmen dieser Kampagne waren u.a. 2009 eine Demonstration und 2010 eine gespielte Hochzeit”81 durchgef¨ uhrt wurden, ” und auch w¨ahrend der Protestwelle wurde die Kampagne wie geplant weitergef¨ uhrt. So fiel das Einreichen des Gesetzentwurfs beim Parlament in den M¨arz 2011 (Experteninterview; vgl. auch Armstrong 14.06.2012), also in die Hochphase der Protestwelle, und im Oktober 2011 protestierten Aktivisten von CHAML ¨offentlich dagegen, dass der Entwurf im Parlament nie zur Diskussion auf die Tagesordnung gesetzt wurde (vgl. Merhi 08.10.2012). Ebenso kam es auch nach dem definierten Ende der Welle, also nach Mai 2012, zu s¨akularen Protestereignissen, deren Akteure teilweise bereits in der Protestwelle 2010-2012 involviert gewesen waren. Bei Aktionen wie Demonstrationen f¨ ur eine Wahlrechtsreform, feministische Anliegen, bessere Stromversorgung oder der Kampagne You Stink” (f¨ ur ” eine Aufz¨ahlung der Kampagnen bis 2015 vgl. Mikdashi 26.08.2015) sowie der Kampagne Beirut Madinati” (Bayr¯ ut mad¯ınat¯ı, dt. Beirut ist meine Stadt”) zur Kommunalwahl ” ” 2016 standen allerdings die Themen Konfessionalismus bzw. S¨akularismus nicht im Zentrum. Zudem waren die großen Akteure der Protestwelle, Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und La¨ıque Pride, h¨ochstens peripher an der Organisation jener Aktionen beteiligt. Somit sind diese Aktionen von der Protestwelle 2010-2012 nicht nur durch ihren Zeitpunkt, sondern insbesondere bez¨ uglich ihrer thematischen Rahmung und ihrer organisatorischen Zusammenh¨ange abzugrenzen. Die gr¨oßten ¨offentlichen Protestereignisse der Welle bestanden in Demonstrationen. Diese wiesen eine beeindruckend hohe Teilnehmerzahl auf und waren Gegenstand ausf¨ uhrlicher Berichterstattung in den libanesischen Medien. Die Demonstrationen und M¨arsche der Protestwelle, die in Beirut und außerhalb der Hauptstadt stattfanden, werden daher in diesem Abschnitt zuerst besprochen. Daran anschließend werden andere Aktionsformen c

81

Bei dieser Aktionsform werden im ¨ offentlichen Raum Teile von Hochzeitsritualen durchgef¨ uhrt, die eindeutig als solche erkennbar sind. So verkleiden sich etwa Demonstrantinnen und Demonstranten als Brautpaare. Bei den f¨ ur diese Arbeit relevanten gespielten Hochzeiten” demonstrieren die ” beteiligten Aktivisten mit dieser Aktionsform f¨ ur die Zivilehe. Der Begriff gespielte Hochzeit” ist ” angelehnt an den englischen Begriff der mock wedding” (dieser Begriff wird z.B. verwendet bei ” Bayoumy 18.03.2010). Die Aktionsform wird unten in 7.1.2 weiter erl¨autert.

196

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

thematisiert, von Protestzelten und Publikationen bis hin zu Kunst und Musik. ¨ Die unten stehende Tabelle listet als Uberblick die großen Demonstrationen und M¨arsche mit antikonfessioneller Thematik auf, die w¨ahrend der Protestwelle in Beirut stattfanden. Die chronologische Ordnung zeigt, wie von unterschiedlichen Akteuren organisierte Veranstaltungen parallel oder nacheinander stattfanden und zu welchen vorhergegangenen Veranstaltungen R¨ uckbez¨ uge hergestellt werden konnten. Außerdem nennt die Tabelle die Teilnehmerzahlen82 und die Routen der M¨arsche, deren Symbolik unten weiter diskutiert wird. Diese Veranstaltungen stellen zeitliche Referenzpunkte innerhalb der Protestwelle dar, auf die Aktivisten sich in Interviews bezogen, wenn sie einzelne Ereignisse in den Verlauf der Welle einordnen. Datum 25.04.2010 27.2.2011

Veranstalter La¨ıque Pride Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı

Teilnehmerzahl 2.000-3.000 2.000

c

06.03.2011

3.000-10.000

c

20.03.2011

20.000

c

10.04.2011

2.500-10.000

c

15.05.2011

La¨ıque Pride

700

26.06.2011

Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı

500

26.02.2012

Coalition for secularism, equality, social justice

400

c

Die Teilnehmerzahlen von Demonstrationen und M¨ arschen haben große symbolische Aussagekraft und sind entsprechend umstritten (vgl. 7.3.3). Jede der hier angegebenen Zahlen basiert auf mehreren Quellen, darunter Medienartikel sowie Interviews mit Organisatoren und Beobachtern der Veranstaltungen. F¨ ur die F¨ alle, bei denen Unklarheiten u ¨ber die Teilnehmerzahl auch beim Abgleich mehrerer Quellen bestehen blieben, ist die Bandbreite der als vertrauensw¨ urdig eingestuften Sch¨ atzungen angegeben. Besonders breit schwanken die Angaben zu den Teilnehmerzahlen f¨ ur die zweite und die vierte Demonstration von Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯a if¯ı in Beirut, die am 6. M¨arz und am 10. April stattfanden. Ein Grund f¨ ur diese Schwankungen liegt vermutlich darin, dass bei den M¨ arschen von Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯ a if¯ı die Teilnehmerzahl im Laufe einer Demonstration anstieg. So berichteten Aktivisten mit Bezug auf die ersten drei Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.¯am at.T.¯ a if¯ı, dass Aktivisten entlang der Strecke in Wohnh¨ auser gingen und Anwohner mobilisierten, sich dem Demonstrationszug anzuschließen, wodurch die Teilnehmer am Ende der Demonstration deutlich zahlreicher waren als am Anfang (Experteninterview; vgl. Gatten 02.11.2011). c

c

c

82

Route Corniche – Parlament ˇ ah. – Alte S.ayd¯a-Straße – aˇs-Siy¯ at.-T.ay¯ una – Justizpalast ad-Dawra – Burˇg H.amm¯ ud – Electricit´e du Liban Sassine-Platz – Sodeco-Platz – al-Bast.a – Innenministerium Nationalmuseum – Damaskus-Straße – al-Bast.a – Riad-al-Solh-Platz (Sitz des Ministerpr¨asidenten) c Ain al-Muraysa – Riad-al-Solh-Platz (Sitz des Ministerpr¨asidenten) Cola-Platz (Sozialversicherungsgeb¨aude) – Erziehungsministerium – Parlament ad-Dawra– Burˇg H.amm¯ ud – Electricit´e du Liban

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

06.05.2012

La¨ıque Pride

197

1.000-2.000

Innenministerium – al-H . amr¯a – Corniche c

Der erste Marsch unter dem Motto La¨ıque Pride” im April 2010 f¨ uhrte von der Beiruter ” Corniche ausgehend in die Innenstadt vor das Parlament. Bei der Veranstaltung wurden Blumen verteilt und der bekannte libanesische Rapper Rayess Bek f¨ uhrte ein Lied auf, das er eigens f¨ ur den Anlass geschrieben hatte (Lee 26.04.2010; zitiert nach Association pour un Liban La¨ıque 2011). Die Teilnehmerzahl lag bei mindestens 2.000 und somit f¨ ur einen nicht-parteigebundenen Marsch außerordentlich hoch. Der Marsch, u ¨ber den in zahlreichen libanesischen und internationalen Medien ausf¨ uhrlich berichtet wurde (f¨ ur eine Presseschau s. Association pour un Liban La¨ıque 2010), war Anlass f¨ ur die Gr¨ undung ¨ der Koalition al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı und gilt vielen Aktivisten als Beginn einer neuen Ara des antikonfessionellen Aktivismus (vgl. 6.2.3): c

Mit La¨ıque Pride begann eine s¨akulare politische Bewegung. La¨ıque Pride stellt die erste politische s¨akulare Bewegung in der Geschichte des Libanon dar, davor gab es keine solche Bewegung. (Experteninterview mit einem er¨ fahrenen Aktivisten, im Original arabisch, meine Ubersetzung) What La¨ıque Pride gave to civil society, or to activism in this country, is a new form. A new form, like social media, to start, like in all the Arab World. Second, there was a time when you said secularism” and there were ” only people from the Left wing, totally partisan, they only knew each other. (Experteninterview mit einem Organisator des ersten La¨ıque Pride, kursiv: im ¨ Original arabisch, meine Ubersetzung) Die Wahrnehmung von La¨ıque Pride als Innovation des s¨akularen Aktivismus wird hier von einem Organisator der Veranstaltung vertreten, aber auch von einem erfahrenen Aktivisten. Dies unterstreicht die weite Verbreitung dieser Wahrnehmung unter antikonfessionellen Aktivisten. Nach diesem ersten Erfolg von La¨ıque Pride fanden zun¨achst keine weiteren Demonstrationen oder M¨arsche zum Thema statt. Im Winter 2010/2011 demonstrierten parteiunabh¨angige Aktivisten f¨ ur die Unterst¨ utzung des Arabischen Fr¨ uhlings” und skandierten ” dort den Slogan Isq¯at. an-niz.a¯m” ( Sturz des Systems”). Auch bei Veranstaltungen zu ” ” anderen Themen, insbesondere bei einer von ULDY Ende Januar 2011 veranstalteten Demonstration f¨ ur soziale Gerechtigkeit, begannen Teilnehmer, den Slogan zu rufen (Experteninterview; s. 6.3.1). Die ersten Veranstaltungen, welche die Kritik am libanesischen Konfessionalismus wieder zum Hauptthema hatten, und bei denen der Slogan erweitert wurde zu Isq¯at. an-niz.a¯m at.-t.¯a if¯ı” ( Sturz des konfessionalistischen Systems”), waren ” ” die Demonstrationen der gleichnamigen Koalition. Deren erste Veranstaltung fand im Februar 2011 bei Regenwetter statt und wird daher von Aktivisten als Regenschirm” Demonstration” bezeichnet. Ihre Route verlief entlang der gr¨ unen Linie”, also der De” markationslinie, die Beirut im B¨ urgerkrieg geteilt hatte. Im Interview berichtete eine ¨ Aktivistin von ihrer Uberraschung u ¨ber die Zahl der Teilnehmer: c

[At] this first one, nobody knew if the others would come or not. [..] It was raining a lot. [...] Each one was: Ok, I’ll go because I wanted to go, but I’m ” sure I’ll find nobody, it’s raining too much.” And all of them were surprised

198

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

that at least 500 persons participated. And it was raining a lot, so everybody was holding an umbrella. They called it the umbrella march”, muz.¯ aharat ” ” ˇsams¯ıya”. Everybody has a nostalgia of this march [...]. (Experteninterview, kursiv: arabisch im Original) Die zweite Demonstration der Koalition fand nur eine Woche sp¨ater am 6. M¨arz 2011 statt und mobilisierte zahlreiche weitere Teilnehmer. Die Route verlief durch den Vorort Burˇg H ud, eine einfachere Gegend, in der Aktivisten bewusst Anwohner ansprachen . amm¯ und zur Teilnahme motivierten: At the second demo, when we walked from Dawra to the Electricity Company in M¯ar M¯ıha¯c¯ıl, when we passed inside Burˇg H.amm¯ ud – which is why it ˘ [the route] was selected – the demonstration was around 6,000 or 7,000. When we left Burˇg H.amm¯ ud, we were 10,000. So it was basically pulling more and more people in. (Experteninterview) Diese Strategie zur Mobilisierung weiterer Teilnehmer w¨ahrend der laufenden Demonstration wurde auch bei der dritten Veranstaltung von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı angewandt, die am 20. M¨arz 2011 sp¨ater stattfand: c

When we arrived to Sodeco we were probably 15,000. We passed through Sodeco, we passed through Bast.a, when we arrived to the interior ministery, we were more than 20,000. [...] There were people on their balconies [...], the organizers went up into the buildings and talked to people and many came down to join us. (Experteninterview) Mit der Teilnehmerzahl von etwa 20.000 markiert diese Demonstration den H¨ohepunkt der Protestwelle. Die Route dieser dritten Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı hatte ebenfalls einen Bezug zur gr¨ unen Linie”: Sie u ¨berquerte diese, indem die Demonstranten ” vom Zentrum Ostbeiruts zum Zentrum von Westbeirut liefen. Die Abschlusskundgebung der Demonstration fand am S.an¯ac i -Park statt, also an einem Ort mit zweifacher politischer Symbolik, den dort befindet sich zum einen der Sitz des Innenministeriums und zum anderen war dort ein Protestzelt antikonfessioneller Aktivisten errichtet. Auch auf dieser Demonstration wurde ein Lied gespielt und gesungen, das der Rapper Rayess Bek eigens f¨ ur diese Demonstration geschrieben hatte: Das Lied Tawra” ( Revolution”) verwendet ”¯ ” Aufnahmen von Sprechch¨oren der ersten Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı (vgl. Nassar 21.03.2011). Unterdessen hatten parallele Proteste in den Provinzen außerhalb Beiruts stattgefunden. So wurden am 6. M¨arz, parallel zu der Demonstration in Beirut, kleinere antikonfessionelle Demonstrationen in Baalbek und in as.-S.ayd¯a durchgef¨ uhrt, eine Woche sp¨ater gefolgt von Demonstrationen in Baalbek und an-Nabat.¯ıya und einem Sit-In in Tripoli (vgl. Fanoos 2011; Facebook 2011a). Diese Protestereignisse wurden jeweils von Aktivisten aus den Provinzen organisiert, in Tripoli beispielsweise von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı ˇ al (Sturz des konfessionalistischen Systems im Norden). Fi-ˇs-Sam¯ Am 27. M¨arz fanden antikonfessionelle Demonstrationen s¨ udlich von Beirut in as.-S.ayd¯a ˇ ˇ und n¨ordlich von Beirut in Gubayl statt. Die Demonstration, die von c Amˇs¯ıt nach Gubayl zog, wurde von der Beiruter Koalition organisiert. Es nahmen mehrere Hundert Demonstranten teil, die allerdings haupts¨achlich aus der Hauptstadt angereist waren (Experteninterview). Das Nachrichtenportal Lebanonwire ver¨offentlichte dazu einen Artikel unter c

c

c c

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

199

dem Titel Lebanon’s anti-sectarian activities stage new march in Jbeil [Byblos]. Orga” nizers aim to show support for secular system exists across Lebanon, not just Beirut” (Lebanonwire 2011). Darin erkl¨arte ein Aktivist die Motivation der Beiruter Aktivisten, eine Demonstration außerhalb der Hauptstadt zu organisieren: Not wanting to focus solely on the capital, the organizers of the Topple ” the Sectarian System” group [...] called for the need to stage protests across Lebanon. We want to break the common trend of affiliating each town with ” its residents and sects,” said Junaid Sarieddine, 29, an activist and playwright. Demonstrations will be staged everywhere regardless of our numbers,” ” he added as he marched with other activists in Amsheet, the hometown of President Michel Sleiman. (Lebanonwire 2011) Am darauffolgenden ersten Aprilwochenende mobilisierte eine antikonfessionelle Demonstration in Tripoli 300 bis 500 Teilnehmer, wobei zu bemerken ist, dass diese Anzahl von Teilnehmern an einer von den politischen Bl¨ocken und Konfessionen unabh¨angigen Demonstration f¨ ur Tripoli außerordentlich hoch ist. Unter den Teilnehmern in Tripoli waren, analog zur Beiruter Strategie, auch Anwohner, die w¨ahrend des Demonstrationszugs von Aktivisten mobilisiert wurden. Am selben Wochenende fand eine Demonstration mit einer h¨oheren dreistelligen Teilnehmerzahl in as.-S.ayd¯a statt. W¨ahrend alle bisher genannten Demonstrationen friedlich verlaufen waren, kam es am ersten Aprilwochenende 2011 in as.-S.ayd¯a zu Schl¨agereien. Anl¨asse waren von Demonstranten gezeigte Plakate, die sich gegen Hisbollah richteten, sowie die Teilnahme eines dem politischen Block 8. M¨arz zugeh¨origen Parlamentsabgeordneten an der Demonstration. Die Konflikte zwischen den Demonstranten bezogen sich also auf die oben (6) erl¨auterten Kontroversen um die Haltung der antikonfessionellen Aktivisten zur Teilnahme von Systemparteien (vgl. Zaatari und Alkadiri 04.04.2011). Die n¨achste Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı in Beirut hatte deutlich weniger Teilnehmer als die vorangegangene. Bei dieser Veranstaltung, die unter dem Motto Die Farben zur¨ uckfordern” stand, wurden Protestformen praktiziert, welche Farbigkeit ” betonten. So trugen Teilnehmer bunte Plakate und Luftballons und es traten Clowns auf: c

A small group of activists was also holding up a secular rainbow,” a sort ” of multicolor-umbrella, under which demonstrators could walk to suddenly become” secular. Clown Jancouz, who was dancing with ribbons among pro” testers, said in a squeaky voice that politicians took the happiness away from ” colors” by using them for their parties. Colors are for us, not for politicians,” ” 83 he added. (Dhumieres 11.04.2011) Die Demonstrationsroute verlief wieder entlang der gr¨ unen Linie”, mit dem National” museum als Startpunkt, und sollte planm¨aßig am Parlamentsgeb¨aude in der Beiruter Innenstadt enden. Als der Demonstrationszug schließlich kurz vor dem geplanten Endpunkt angehalten wurde, weil das letzte St¨ uck der Route von Sicherheitskr¨aften blockiert war, und einige Demonstranten die Blockaden u ¨berwanden, kam es zu kleineren Zusammenst¨oßen mit Sicherheitskr¨aften, w¨ahrend Organisatoren u ¨ber Megaphon zur Friedfertigkeit aufriefen (vgl. Dhumieres 11.04.2011). 83

Zu den Symbolen der libanesischen Systemparteien geh¨ ort neben Parteisymbolen auch die Zuordnungen von Farben. So sind etwa die Flaggen der Zukunftsbewegung hellblau, der Freien Patriotischen Bewegung orange und von Hisbollah gelb.

200

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Das n¨achste Großereignis der Protestwelle war der zweite La¨ıque Pride. Etwa 700 Teilnehmer zogen mit gedruckten und selbstgemalten Plakaten, Rosen und Luftballons zum Riad-al-Solh-Platz, also wiederum einem Ort mit zweifacher politischer Symbolik, denn dort war in Sichtweite zum S´erail, dem Sitz des Ministerpr¨asidenten, das Protestzelt von CHAML f¨ ur die Zivilehe aufgebaut. Der starke R¨ uckgang der Teilnehmerzahlen im Vergleich sowohl mit dem ersten La¨ıque Pride ein Jahr zuvor als auch mit der letzten Beiruter Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı steht im Zusammenhang mit dem Verlauf der Protestwelle, die ihren H¨ohepunkt u ¨berschritten hatte und von der Expansionsphase in die Transformationsphase eingetreten war. Wie in 6.2.3 gezeigt, kam es in dieser Phase zu Konkurrenz und Konflikt unter den Akteuren der Protestwelle, so dass auch die auftretenden Differenzen zwischen La¨ıque Pride und Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und die terminlichen ¨ Uberschneidung zwischen dem Marsch von La¨ıque Pride mit einer pro-pal¨astinensischen Demonstration im S¨ udlibanon die niedrige Teilnehmerzahl erkl¨aren. Am 26. Juni fand, nach einer zweimonatigen Pause, die letzte Demonstration der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı statt, deren Route ebenfalls zum Parlament f¨ uhrte, und deren Teilnehmerzahl nurmehr leicht u ¨ber 500 lag (B. Anderson 27.06.2011). Auf diesen letzten Termin einer Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı hatten sich eine Woche zuvor Aktivisten in Metn außerhalb von Beirut bezogen, die dort mit einem Sit-In f¨ ur die geplante Demonstration geworben hatten (vgl. Daily Star 20.06.2011). In der Kontraktionsphase der Protestwelle kam es zu Abspaltungen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und es wurden keine weiteren Demonstrationen unter diesem Slogan organisiert. Die Großereignisse in dieser Phase, zu deren erkl¨arten prim¨aren Zielen der S¨akularismus geh¨orte, wurden von anderen Akteuren organisiert. So fand im Februar 2012 eine Demonstration statt, die von der neu formierten Koalition S¨akularismus, Gleichheit und ” soziale Gerechtigkeit” organisiert wurde, an der einige der Organisatoren von Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligt waren, welche die Koalition im Sommer 2011 verlassen hatten, etwa die Graswurzelgruppe Direct Action (Experteninterview). Das Motto der Koalition, S¨akularismus, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit” (Experteninterview), zeigt, dass das ” Thema S¨akularismus weiterhin pr¨asent war, aber nicht mehr den alleinigen Masterrahmen bilden konnte (vgl. 6.3.2). Ein Aktivist, der als Organisator an dieser Demonstration beteiligt war, begr¨ ußte die Abkehr vom Masterrahmen des S¨akularismus und die Fokussierung auf die komplexeren Zusammenh¨ange zwischen den Themen: c

c

c

c

c

c

[KS: I think there is no one [activist] who is working only on secularism, or only on socio-economic issues.] There are some, there used to be. Now they are confused. Those people who are working on specific issues, they are now facing a problem, which is, dealing with a growing consciousness about the relationship between these things. So, for example, now we are working in a coalition which is called coalition for social justice, equality and secula” rism”. It is a continuation, for us, of the movement [Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı]. (Experteninterview) c

Auch in Medienberichten wurde die Demonstration als Fortf¨ uhrung der antikonfessionellen Protestwelle interpretiert und als Hoffnung, die antikonfessionelle Bewegung, die fast zwei ” Jahre zuvor begonnen hatte, neu anzustoßen” beschrieben (Gatten 26.2.2012). Allerdings fiel die Demonstration mit etwa 400 Teilnehmern (Gatten 26.2.2012) deutlich kleiner aus als die vorherigen Proteste von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Das letzte Großereignis der Protestwelle, der dritte La¨ıque Pride, war mit u ¨ber tausend Teilnehmern wieder gr¨oßer. Die dabei verwendeten Aktionsformen betonten den festlichen c

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

201

Charakter des Marschs, der am Innenministerium begann und durch kleinere Straßen des Stadtteils al-H.amr¯a zur Corniche zog. Wie schon bei den fr¨ uheren M¨arschen von La¨ıque Pride hatten einige Teilnehmer sich als zivile Hochzeitspaare verkleidet und es wurden Rosen verteilt. Zudem trat eine Percussion-Gruppe auf, Clowns der Gruppe Clown Walk ” for Laughter” begleiteten den Marsch und am Ende der Route forderten die Organisatoren in einer Speakers’ Corner” Teilnehmer auf, in einer Minute u ¨ber Megaphon zu erkl¨aren, ” wie sie den Libanon gerne ver¨andern w¨ urden. Am Schlusspunkt des Marschs war der La¨ıque Pride nicht die einzige Veranstaltung, denn die Beiruter Corniche war, wie an Sonntagnachmittagen u ¨blich, mit Verkaufsst¨anden, Musikern, Sportlern, Familien und vielen weiteren Gruppen sehr belebt, wobei zahlreiche Passanten die Aktivisten von La¨ıque Pride fotografierten. Parallel zu den Demonstrationen der Protestwelle im Libanon fanden Veranstaltungen außerhalb des Libanon statt, zu denen die Organisatoren die im Ausland lebenden Libanesen aufgerufen hatten. So wurden zeitgleich mit M¨arschen von La¨ıque Pride und mit den gr¨oßten Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı vor einigen libanesischen Botschaften im Ausland ebenfalls entsprechende Demonstrationen veranstaltet. c

c

Neben den Demonstrationen und M¨arschen bestand eine weitere sehr sichtbare Aktionsform der Welle in Protestzelten. Zus¨atzlich zu den besprochenen Zelten in Beirut wurden auch in mehreren Orten außerhalb der Hauptstadt Zelte errichtet (Experteninterview). Aktivisten, die an diesen Zelten außerhalb Beiruts beteiligt waren, riefen auf Facebook zur Revolution der tausend Zelte” auf (s. Facebook 2011c). Die Zahl der Aktivisten an ” diesen Zelten blieb allerdings gering, ein erfahrener Aktivist aus as.-S.ayd¯a sch¨atzte als Beobachter die Zahl aller Aktivisten an antikonfessionellen Protestzelten außerhalb Beiruts auf insgesamt h¨ochstens 100 (Experteninterview). In Beirut standen zwei antikonfessionelle Protestzelte. Die NGO CHAML errichtete am 18. M¨arz 2011 ihr Zelt am Riad-Al-Solh-Platz, das bis in den Herbst 2011 hinein stehen blieb. Das Zelt war Teil der Kampagne von CHAML und LACR f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht. Der Pr¨asident von CHAML betonte im Interview die Langfristigkeit der Planung f¨ ur das Zelt und grenzte sich damit ab von Interpretationen, das Zelt sei erst durch die Protestwelle inspiriert worden: The tent was there for nine months. It started ” on March 18 because March 18 was the day we chose. Actually it [CHAML’s civil marriage campaign] started in 2009 on March 18” (Experteninterview, s. 6.2.3). Obwohl es demnach zu dieser Gleichzeitigkeit der Aktionen nicht durch strategische Planung, sondern durch Zufall kam, war das Zelt an mehreren Stellen mit der Protestwelle verbunden, etwa als Ziel des zweiten Marschs von La¨ıque Pride. Das Zelt war fast durchgehend besetzt, aber zumeist nur von wenigen oder sogar nur einem Aktivisten, h¨aufig vom Pr¨asidenten der NGO CHAML selbst (Experteninterviews). Das andere Beiruter Protestzelt vor dem Innenministerium war kurz zuvor errichtet worden und blieb f¨ ur die Dauer von etwa zwei Monaten bestehen. An diesem Zelt hielten sich mehr Aktivisten auf, wobei die Kerngruppe aus 20 bis 30 Personen bestand (Experteninterview) und die Anwesenheit rotierte (Experteninterview). Durch den zentralen Standort des Zelts an einer Hauptverkehrsstraße im Zentrum von Westbeirut konnten die Aktivisten mit vielen Passanten und Autofahrern interagieren. Am Zelt fanden politische und kulturelle Veranstaltungen statt. So wurden etwa Vortr¨age zum Wahlrecht und zur konfessionalistischen Budgetpolitik des Libanon (Experteninterview) sowie Workshops zu Konfliktl¨osung und zum B¨ urgerkrieg (Experteninterview) abgehalten, aber es fanden auch

202

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

abendliche Konzerte statt und Maler arbeiteten vor dem Zelt ¨offentlich an ihren Kunstwerken. Verschiedene Akteure organisierten weitere Workshops, Vortr¨age und Diskussionsveranstaltungen zu Themen des Antikonfessionalismus, die zu zahlreichen Gelegenheiten in Beirut, außerhalb Beiruts und auch im Ausland durchgef¨ uhrt wurden. Anders als die Demonstrationen und M¨arsche, die als Großereignisse den Verlauf der Protestwelle strukturierten, werden solche Veranstaltungen in dieser Arbeit nicht systematisch erfasst, aber um zu zeigen, wie vielf¨altig und zahlreich die antikonfessionellen Veranstaltungen w¨ahrend der Protestwelle waren, seien hier einige Beispiele genannt: So wurde etwa an der AUB eine Konferenz mit dem Titel Cost of the Sectarian System” durchgef¨ uhrt und in Metn in ” der Provinz Libanongebirge eine Podiumsdiskussion zum Thema Christian Thought and ” Secularism” (vgl. Baaklini 04.07.2011), ebenso setzten CHAML und LACR ihre bereits vor der Protestwelle geplanten Workshops fort. F¨ ur die Aktivit¨aten der antikonfessionellen Protestwelle war auch der virtuelle Raum von Relevanz, wobei hier insbesondere das soziale Netzwerk Facebook” und Blogs zu ” nennen sind. So wurden Veranstaltungen auch u ¨ber Facebook bekannt gemacht, wobei sich auch Organisatoren und Teilnehmer, die sich nicht vor Ort in Beirut aufhielten, an den Diskussionen beteiligten und ihre Meinungen artikulierten, die von Aktivisten in Beirut u ¨ber diese Kan¨ale durchaus wahrgenommen wurden, wie eine Aktivistin im Interview berichtete: c

Before we created the [Facebook] page [for Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı], our friends from outside [of Lebanon] called us: We want to be active with you, even ” if we are outside.” That’s why we created a page. And at each page, we tried to put an admin from the Lebanese expatriates in France. (Experteninterview, ¨ kursiv: im Original franz¨osisch, meine Ubersetzung) Der Aktivismus im virtuellen Raum war eine Form, im Ausland lebende Libanesen in die Protestwelle zu integrieren. Zudem wurde das soziale Netzwerk Facebook auch verwendet, um mit geringem Aufwand Gruppen zu gr¨ unden oder Veranstaltungen anzuk¨ undigen, was in einer Bewegung, die als segmentiert” und mehrk¨opfig” charakterisierbar ist (Della ” ” Porta und Diani 2006: 157ff. s. 3.1.3, 6.2.2, 6.2.3), auch zu Doppelungen f¨ uhrt, besonders in der Expansionsphase, in der die Zahl derjenigen, die sich als Organisatoren aktiv beteiligen wollen, besonders hoch ist. So gab es vor der Gr¨ undung der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı mehrere [Facebook-]Seiten, die alle mehr oder weniger dasselbe forderten” (Ex” perteninterview, s. 6.1.4), und f¨ ur die zweite Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı am 6. M¨arz 2011 wurden mindestens vier verschiedene Facebook-Seiten gegr¨ undet. Dabei dient Facebook – ebenso wie Blogs, Twitter und andere Plattformen – nicht nur zur Organisation von Veranstaltungen und zur Mobilisierung, sondern auch als Artikulationsort politischer Meinungen. Strategien, Meinungen und Analysen wurden in verschiedenen Formen online ver¨offentlicht und diskutiert. Viele Organisatoren der Protestwelle waren zugleich als Blogger aktiv, etwa Atallah Al Salim (atallahalsalim.blogspot.com), Farah Kobeissy (farfahinne.blogspot.com), Nadine Moawad (www.nadinemoawad.com), Moe Ali Nayel (themoealibeirutvibes.wordpress.com), Khodor Salameh (jou3an.wordpress.com) und weitere. Meinungsartikel, die sie zur Protestwelle ver¨offentlichten, fanden unter den Aktivisten große Beachtung. c

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7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

203

Des Weiteren waren in der antikonfessionellen Protestwelle Aktionsformen aus den Bereichen Musik und Kunst pr¨asent, auch u ¨ber die oben beschriebenen musikalischen und k¨ unstlerischen Darbietungen am Protestzelt und bei den verschiedenen Demonstrationen hinaus. So veranstaltete die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zwischen ihrer zweiten und ihrer dritten Demonstration eine Fundraising-Party, bei der auch B¨ ucher und Bilder antikonfessioneller Schriftsteller und K¨ unstler verkauft wurden. Im Bereich der Musik wurde, wie oben angedeutet, insbesondere libanesischer und arabischer Hiphop von Aktivisten auch außerhalb der Demonstrationen rezipiert. Dar¨ uber berichtete ein interviewter unabh¨angiger Aktivist, der auch als DJ aktiv war: c

I am using Arab hiphop a lot. There are upcoming artists who have a strong message, they just need to be exposed better. [...] Their lyrics are like eyeopening. Not many people read nowadays. Not many people can be bothered to buy books and actually open their eyes themselves. So I think through music the message can get to people’s heads easily. And that’s what I do when I play in public. I try to play this music, and I am happy when people come to me and say: Oh, this is so good, he’s right, the artist is saying something really ” right.” (Experteninterview) Diese Musik war bei den Ereignissen der Protestwelle h¨aufig pr¨asent. Des Weiteren wurden kleine Videos produziert, so stellten die Organisatoren von La¨ıque Pride, darunter die bildende K¨ unstlerin Kinda Hassan und weitere K¨ unstler, im Vorfeld ihrer Veranstaltungen Jingles und Videos online (Experteninterview). Eine weitere visuelle Artikulationsform des antikonfessionellen Aktivismus bestand in Graffiti, die an ¨offentliche Bauwerke gespr¨ uht wurden, h¨aufig mit vorgefertigten Schablonen (Experteninterview; vgl. Rowell 5.2.2012). La¨ıque Pride verwies im Vorfeld der ersten Veranstaltung 2010 zudem auf einen Cartoon der libanesischen Grafikdesignerin Maya Zankoul. Der Cartoon zeigt einen Dialog zwischen einer ¨alteren und einer j¨ ungeren Frau, wobei die ¨altere Dame durch indirekte Fragen die Konfessionszugeh¨origkeit ihrer Gespr¨achspartnerin herausfinden m¨ochte, diese aber so geschickt antwortet, dass sie ihre Konfession nicht preisgibt (vgl. Zankoul 24.04.2010). ¨ Dieser Cartoon tr¨agt die Uberschrift Lebanese La¨ıque Pride” und ist somit deutlich ” durch den ersten La¨ıque Pride inspiriert. Die Zeichnerin bewertete die Veranstaltung im Vorfeld als sehr positiv, wandte sich dann aber von La¨ıque Pride ab (Experteninterview). In Experteninterviews mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern am ersten La¨ıque Pride zeigte sich Unzufriedenheit mit der Ausgestaltung der Aktionsform von La¨ıque Pride, insbesondere bez¨ uglich der Gr¨oße der Veranstaltung und der thematischen Verkn¨ upfung zwischen S¨akularismus und Homosexualit¨at (s. 6.3.2). Die Zeichnerin des Cartoons distanzierte sich in der Folge von der ganzen Protestwelle, auch wenn sie der Verwendung ihres Cartoons weiterhin zustimmte (Experteninterview). Neben der Verwendung von Kunst und Musik in direktem Zusammenhang mit Protestaktionen ist also auch am Rande des Aktivismus Kunstproduktion vorhanden. Manche Kulturschaffende wie Maya Zankoul lehnen die Einordnung ihrer Kunst als politisch” ab, ” w¨ahrend andere K¨ unstler eine weniger eindeutige Position beziehen. Interviewte K¨ unstler, die als Organisatoren an La¨ıque Pride beteiligt waren, sehen zwischen ihrer Kunst und ihrem Aktivismus eine Verkn¨ upfung, wenn sie auch recht lose ist (Experteninterview). Ein weiterer Organisator von La¨ıque Pride, der als professioneller T¨anzer zur Zeit des Interviews in Beirut mit einem bemerkenswertem Tanzprogramm auftrat, schrieb seinen Auftritten bewusst politische Qualit¨at zu, wenn er erkl¨art: I see it [my show] is a type ” of activism. I don’t split between my activism and my art“ (Experteninterview).

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

7.1.2 Repertoires und Innovation In der antikonfessionellen Protestwelle wurden vielf¨altige Aktionsformen verwendet. Es stand also ein gewisses Repertoire” an Aktionsformen zur Verf¨ ugung, wie es von dem Be” wegungstheoretiker Charles Tilly (1979, 2005, 2007, 2008) beschrieben wurde (vgl. oben in 3.1.4): Ein Repertoire enth¨alt eine begrenzte Anzahl von Aktionsformen (vgl. Tilly 2008). Repertoires bieten Aktivisten somit einerseits eine gewisse Auswahl und implizieren andererseits eine Einschr¨ankung und Standardisierung der m¨oglichen Aktionsformen. Diese Standardisierung tr¨agt dazu bei, dass der Verlauf von Protestereignissen f¨ ur die Aktivisten einsch¨atzbar und erwartbar ist (Tilly 2008: 4). Des Weiteren sind Protestrepertoires in hohem Maße stabil. Sie bestehen in der Regel gr¨oßtenteils aus existierenden und etablierten Aktionsformen und werden zwar kontinuierlich an neue Erfahrungen der Aktivisten und an ver¨anderte Gelegenheitsstrukturen angepasst, diese innovativen Anpassungen geschehen aber in der Regel nicht radikal, sondern schrittweise, durch kollektives ” Lernen und best¨andige Anpassung” (Tilly 2008: 4, 15). Welche Aktionsformen in welcher Ausgestaltung in einem Repertoire enthalten sind, wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Relevant im hier diskutierten Kontext sind insbesondere die Geschichte des Aktivismus, die Phase der Protestwelle, die Rahmung der Protestthemen, die Organisationsform der Akteure und die Konfiguration der Protestakteure und ihrer Gegner. Diese Faktoren sollen im Folgenden erl¨autert werden: Zun¨achst sind Aktionsformen Ergebnis historischer Prozesse, denn wie Tilly (2008) gezeigt hat, werden weite Teile der Repertoires aus vorhergegangenen Bewegungen und Protestwellen u ¨bernommen. Innerhalb des Verlaufs einer Protestwelle h¨angt die Ausgestaltung des Repertoires dann auch davon ab, welche Phase die Welle gerade durchl¨auft: So sind etwa ungewohnte, konfrontative und unterbrechende (disruptive) Aktionsformen in der Expansionsphase der Welle wahrscheinlicher als zu anderen Zeitpunkten (vgl. Tarrow 2011: 112; Kriesi u. a. 2003: 124; Taylor und Van Dyke 2004; s. 3.1.6). Ein weiterer Einflussfaktor besteht insofern in der Rahmung der Proteste, als Aktivisten zur Wahl von Aktionsformen tendieren, die Kongruenz mit ihren Visionen, Identit¨aten und Motiven aufweisen (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 277; s. auch Benford und Snow 2000: 620ff. s. 3.1.2). Zudem bestehen Wechselbeziehungen zwischen Aktionsformen und Organisationsformen, denn bestimmte Repertoires treten tendenziell im Zusammenhang mit bestimmten Organisationsformen auf (vgl. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994, 1996, s. auch Taylor und Van Dyke 2004: 275; 3.1.5), so dass etwa von einer Partei andere Repertoires zu erwarten sind als von einer Graswurzelorganisation. Daneben sind auch weitere Merkmale der Protestakteure sowie ihrer Gegner als Einflussfaktoren von Bedeutung, denn ein Repertoire ist jeweils einem bestimmten Anspruchsteller-Objekt-Paar” (claimant and object of claim, ” Tilly 2008: 14) zugeordnet, also jeweils einem bestimmten Protestakteur und seinem Gegner. So haben die Organisationsweise und die Selbstverortung des Protestakteurs sowie die Identifikation des Gegners Einfluss auf die Formen der Proteste. Das Konzept des Repertoires bietet Perspektiven zur Analyse von Kontinuit¨at und Wandel der Aktionsformen in der antikonfessionellen Protestwelle. Die Standardisierung des Repertoires in der Protestwelle war deutlich erkennbar, wobei einschr¨ankend festzustellen ist, dass die Aktionsformen der Protestwelle keine durchgehende Homogenit¨at aufwiesen, sondern zwischen Repertoires einzelner Akteure durchaus Unterschiede bestehen. Dies verdeutlicht, dass es sich nicht um ein einziges Repertoire eines einzelnen Akteurs handelt, sondern um verwandte Repertoires mehrerer Akteure, deren Verh¨altnis durch

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

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Kooperation”, aber auch durch Konflikt” und Konkurrenz” gekennzeichnet sein kann ” ” ” (Rucht 2004, s. 3.1.3, 6.2.3). In diesem Kontext erf¨ ullen die Unterschiede zwischen den Repertoires auch die Funktion der gegenseitigen Abgrenzung. So bestehen etwa Unterschiede zwischen den Plakaten und Bannern, die bei den Veranstaltungen von CHAML bzw. von La¨ıque Pride gezeigt wurden: W¨ahrend auf Fotos von Protesten von CHAML professionell gedruckte, standardisierte Plakate und Banner zu sehen sind, wirken die h¨aufig handgeschriebenen Plakate und Banner bei La¨ıque Pride bunter und variantenreicher. Hierin spiegeln sich die Organisationsformen dieser beiden Akteure (vgl. J. L. Cohen 1985; Offe 1985; Rucht 1994, 1996), denn w¨ahrend CHAML eine relativ stark formal-hierarchisch aufgebaute und professionalisierte NGO ist, versteht La¨ıque Pride sich als dezidiert ahierarchisch organisierte unabh¨angige Graswurzelorganisation (s. 3.1.3)84 . Trotz dieser Einschr¨ankungen wiesen die Repertoires der antikonfessionellen Protestwelle ein hohes Maß an Standardisierung auf, wobei auch die historische Verwurzelung der Repertoires im vorhergegangenen zivilgesellschaftlichen Aktivismus deutlich erkennbar war. Zu den Aktionsformen der Protestwelle, welche bereits im fr¨ uheren s¨akularen libanesischen Aktivismus etablierten waren, z¨ahlen Demonstrationen und das Tragen libanesischer Flaggen, Konferenzen und Publikationen, Protestzelte, das Verfassen und Einreichen von Gesetzentw¨ urfen, gespielte Massenhochzeiten sowie Musik und Kunst. Innerhalb des Repertoires der Protestwelle 2010-2012 zeichneten Demonstrationen und M¨arsche sich dadurch aus, dass zwar verschiedene Transparente und Schilder gezeigt wurden, darunter auch libanesische Flaggen, aber keine Parteiflaggen oder andere Parteisymbole. Die Organisatoren von La¨ıque Pride wiesen explizit auf diese Beschr¨ankung der gestatteten politischen Symbole hin (Experteninterview, vgl. LEBANESE LAIQUE PRIDE 5.5.2012). Verst¨oße gegen diese Ordnung des Repertoires f¨ uhrten innerhalb der Protestwelle zu Konflikten wie den in 7.1.1 beschriebenen Schl¨agereien zwischen Demonstranten in as.-S.ayd¯a im April 2011. Zu den Aktionsformen, die im antikonfessionellen Aktivismus sowohl w¨ahrend der Protestwelle als auch in Phasen der Latenz” (Melucci 1984; zitiert nach Della Porta und ” Diani 2006: 149) pr¨asent sind, z¨ahlen Publikationen und Konferenzen. So ver¨offentlichte in den Jahren vor der Protestwelle die LACR eine Anzahl von Studien und Ratgebern zur Zivilehe und zu Konfessionalismus in der Bildung, das Civil Society Movement ver¨offentlichte verschiedene Brosch¨ uren und Studien zur Zivilehe und anderen Themen, CHAML und die Partei at-Taˇgammuc ad-D¯ımuqr¯at.¯ı gaben Magazine mit Berichten u ¨ber die eigene Arbeit und Artikeln zu antikonfessionellen Themen heraus. Auch al-Liq¯a alc Alm¯an¯ı ver¨offentlichte w¨ahrend der Protestwelle seine Publikation Lubn¯an c alm¯an¯ı” ” ( Ein s¨akularer Libanon”), in der die Koalition und ihre Forderungen vorgestellt wur” c den. Des Weiteren plante al-Liq¯a al- Alm¯an¯ı eine Konferenzreihe (Experteninterview; s. 6.1.4). Dieses Repertoire reflektiert die Phase der Protestwelle (Koopmans 2004; Kriesi u. a. 2003; Tarrow 1989, 1991, 1998: s.), in der al-Liq¯a al-c Alm¯an¯ı gegr¨ undet wurde: In der c

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Als Faktor, welcher die Verwendung professionell hergestellter Plakate bei CHAML gegen¨ uber der Verwendung handgeschriebener Plakate bei La¨ıque Pride vermutlich beeinflusste, ist die unterschiedliche Ausstattung der beiden Gruppen mit finanziellen Ressourcen zu nennen. W¨ahrend La¨ıque Pride nur durch Kleinspenden finanziert war, hatte CHAML erfolgreich F¨ordermittel von internationalen Gebern beantragt (s. Kapitel 6.2.1).

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

fr¨ uhen Expansionsphase (s. Koopmans 2004) der Protestwelle war ein gesteigertes Interesse an antikonfessionellen Themen vorhanden, auf welches die Aktivisten des Liq¯a c Alm¯an¯ı mit der Publikation und den Veranstaltungen zielten. Zugleich aber war das Ausmaß der Expansion noch nicht absehbar, so dass das Repertoire des Liq¯a c Alm¯an¯ı eher auf die Situation der Latenzphase zugeschnitten war als auf eine Ausnahme-Episode: Konferenzen, Vortr¨age, Diskussionsveranstaltungen etc. sind im Repertoire der antikonfessionellen Akteure etabliert, es handelt sich also um Aktionsformen, die im Gegensatz zu den typischen Formen der Expansionsphase weder konfrontativ noch ungew¨ohnlich sind (vgl. Tarrow 2011: 112; Kriesi u. a. 2003: 124). Antikonfessionelle Konferenzen, Vortr¨age und Diskussionsveranstaltungen fanden bereits vor der Protestwelle statt, ihre Zahl stieg allerdings w¨ahrend der Protestwelle an, als auch Aktivisten aus dem Umfeld von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und weitere Akteure derartige Veranstaltungen organisierten, etwa am Protestzelt vor dem Innenministerium. Dieses Zelt war, ebenso wie die antikonfessionellen Protestzelte außerhalb Beiruts, einerseits von den Protestzelten des Arabischen Fr¨ uhlings” inspiriert. So nannte ein Aktivist ” die Protestzelte in Kairo als Ideal einer erfolgreichen Platzbesetzung, als maid¯ an” (Ex” perteninterview, s. 6.3.3). Andererseits steht diese Aktionsform zugleich in einer langen Tradition politischer Protestzelte, welche in den Repertoires h¨ochst unterschiedlicher libanesischer Akteure zu finden sind. Beispiele sind Sit-Ins und Zeltst¨adte in Beirut f¨ ur ˇ ın (Experteninterview), die Solidarit¨at mit dem pal¨astinensischen Fl¨ uchtlingslager Gan¯ Zeltstadt der Demonstranten gegen die syrische Besatzung 2005 und die Zeltstadt von Hisbollah im Jahr 2008, das Zelt von Angeh¨origen Strafgefangener am Sitz des Ministerpr¨asidenten und das Zelt von Angeh¨origen im B¨ urgerkrieg verschwundener” Personen ” im Khalil-Gebran-Park. Ein weiteres Beispiel ist das ebenfalls w¨ahrend der Protestwelle pr¨asente Zelt von CHAML, das nicht vom Arabischen Fr¨ uhling” inspiriert, sondern mit ” l¨angerem Vorlauf geplant war (s. 7.1.1), da die Aktionsform bereits vor der Welle Teil von CHAMLs Repertoire war. Auch das Verfassen und Einreichen von Gesetzentw¨ urfen, wie es in der Protestwelle etwa von CHAML praktiziert wurde, ist Teil des etablierten antikonfessionellen Repertoires. Dabei entwerfen Aktivisten ein Gesetz und versuchen, dieses im Parlament zur Abstimmung zu bringen. Da hierzu die Vermittlung von Regierungsmitgliedern oder Parlamentsabgeordneten notwendig ist, impliziert diese Aktionsformen in der Regel auch die Kontaktaufnahme zu Politikern85 . Diese Aktionsform war bereits das zentrale Element in der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren, deren weitere Aktionen auch andere Formen annahmen, aber dabei durchgehend unterst¨ utzenden Charakter hatten, da sie durchgehend auf das Ziel einer Gesetzes¨anderung zielten. Komplement¨ar dazu verh¨alt sich ein weiterer Teil des Repertoires an Aktionsformen f¨ ur die Zivilehe, n¨amlich die gespielte Hochzeit (s. 7.1.1). W¨ahrend das Entwerfen und Einc

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Zur Darstellung der formalen Schritte dieser Aktionsform sei aus einem Interview mit einer Juristin, die in der Protestwelle als Aktivistin pr¨ asent war, zitiert:: In order to approve the law, you have to find ten deputies. [...] It’s a partnership, or kind ” of strategy, but the NGO would have worked on the draft law, with some experts. Sometimes they ask judges, or they ask lawyers, to help them with these draft laws. And then you need the link. It’s either through government, where you have to find at least two ministers who suggest the law, or you need to have ten MPs. [...] Then it can be submitted and this goes to the parliament, is amended, et cetera, in order to become official. It is a long process. But you need to have this partnership with either MPs or the government.” (Experteninterview)

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

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bringen eines Gesetzentwurfs an der formal-politischen Ebene ansetzt, zielt die gespielte Hochzeit auf die kulturelle Ebene, also auf Einstellungen und Meinungen (zur Unterscheidung dieser Ergebnisebenen s. Della Porta und Diani 2006: 79; s. auch Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 278ff.). Ein Aktivist von CHAML beschrieb die Komplementarit¨at dieser Aktionsformen als Teil der Strategie seiner NGO: We have four levels of [action]: Lobbying, advocacy, media, fieldwork. You must have all these. [...] Lobbying is when you go to the politicians, talk to them, or push them. [...] But nobody knows about it, you don’t have the media. Advocacy is when you go to universities, colleges, to the streets, to make people know about it. And maybe to go sign petitions. [...] And fieldwork, to go to the street. (Experteninterview) Bei gespielten Hochzeiten gehen Aktivisten auf die Straße und adressieren zugleich die Medien, die formal-politischen Institutionen sind dabei zwar die Gegner der Aktivisten (objects of claim, Tilly 2008), sie werden aber nur indirekt adressiert. Gespielte Hochzeiten als Protestform wurden bereits im Rahmen der Kampagne f¨ ur eine ziviles Personenstandsrecht um die Jahrtausendwende aufgef¨ uhrt (Experteninterview; s. 5.2.4) und sind weiterhin vor allem im Repertoire der Organisationen von Ogarite Younan, der die Leitung der damaligen Kampagne MOPSL oblag, zu finden, also bei LACR und CHAML. So veranstaltete CHAML im M¨arz 2010 vor dem Parlamentsgeb¨aude eine aufw¨andige gespielte Hochzeit mit mehreren falschen Brautpaaren in Smokings und weißen Kleidern, Blumen, Musikern und dem traditionellen Hochzeitszug zaffa, w¨ahrend zugleich Aktivisten mit Transparenten f¨ ur ihr Anliegen warben (Experteninterview; vgl. Mahdawi 19.03.2010). Ein interviewter CHAML-Aktivist beschrieb die Aussage dieser Aktion im Interview: It ” was not a wedding, actually. It was like: We want to do a wedding, but you didn’t let ’ us’.” (Experteninterview). Die Aktionsform der gespielten Hochzeiten wurde von anderen Akteuren im Rahmen der Demonstrationen und M¨arsche der Protestwelle aufgegriffen: Bei allen drei Veranstaltungen von La¨ıque Pride riefen die Organisatoren auf Facebook dazu auf, als zivile Brautpaare zu kommen, indem sie mit einem Wortspiel La¨ıque Bri” des” zu La¨ıque Pride” einluden (LEBANESE LAIQUE PRIDE 3.5.2011), so dass unter ” den Teilnehmerinnen der Demonstrationen und M¨arsche einige junge Frauen waren, die weiße Kleider, Brautschleier oder Sch¨arpen mit der Aufschrift La¨ıque Bride” trugen. ” Des Weiteren stehen auch Lieder, Konzerte und weitere k¨ unstlerische Auff¨ uhrungen im Rahmen der Protestwelle in einer langen Tradition der Verbindung von insbesondere linkem und s¨akularem Aktivismus mit Musik und Kunst. Kulturelle und k¨ unstlerische Aktionsformen reflektieren die Rahmung der Proteste. So diente der Verkauf von B¨ uchern und Kunstwerken bei einer Fundraising-Party von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı nicht nur der Finanzierung weiterer Protestereignisse, sondern sollte, laut dem entsprechenden FacebookEvent, auch den friedlichen und kulturellen Charakter der Bewegung” unterstreichen ” (Facebook 2011b). Die Bedeutung, welche k¨ unstlerische Aktionsformen f¨ ur den s¨akularen Aktivismus auch vor der Protestwelle besaßen, betonte auch ein erfahrener Aktivist, der mit der Maison la¨ıque kooperiert hatte: c

Moi j’ai fait la maison la¨ıque pour une seule chose : C’est une maison pour les la¨ıques qui viennent discuter, chanter, faire de l’art, de la musique, du th´eˆatre, dans cette maison. Et c’est `a vous de d´ecider. Moi, je ne suis rien. Je suis avec vous. (Experteninterview)

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Damit schreibt der prominente Intellektuelle und Vordenker der libanesischen S¨akularen der Kunst eine große Bedeutung zu. Zugleich betont er seine Vorstellung, wonach die jungen Leute und K¨ unstler in der Maison la¨ıque selbst u ¨ber ihre Aktionen entscheiden sollten, er hebt also die Bedeutung der Kunst, des unabh¨angigen Aktivismus und der jungen Aktivistengeneration hervor. Einen ¨ahnlichen Bezug zur Verortung der k¨ unstlerischen Artikulationsformen der antikonfessionellen Protestwelle als Aktivismus einer jungen Generation stellt der Rapper Rayess Bek her, wenn er in einem Blogartikel zu seinem durch die Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı inspirierten Lied Tawra” (dt. Revo”¯ ” lution”) interviewt wird: c

[I made the song] because I realized that the only revolutionary music we ” have is 20-years-old. And sadly, those tunes remind me of the civil war. This Arab revolution is by young people, and so it needed young music, something modern and powerful. I did not rap in it because it should be the voice of all the Lebanese, not mine,” Bek told me in an email interview today. (Nassar 21.03.2011, Einf¨ ugung im Original) Zugleich schwingt in dem Zitat die bei vielen j¨ ungeren Aktivisten der Protestwelle erkennbare Ambivalenz gegen¨ uber dem Aktivismus der B¨ urgerkriegsjahre mit (vgl. Kapitel 6.2): Rayess Bek bezieht sich einerseits positiv auf die einzige revolution¨are Musik” und ” sieht andererseits die Notwendigkeit f¨ ur junge Musik, etwas modernes und kraftvolles”. ” Er stellt also eine Kontinuit¨at des Repertoires der revolution¨aren Musik” her, das er ” nicht umw¨alzen, sondern eher behutsam modernisieren will. Somit besteht Kontinuit¨at bez¨ uglich der ungebrochenen Bedeutung von Musik f¨ ur den s¨akularen libanesischen Aktivismus, w¨ahrend zugleich eine Diskontinuit¨at darin besteht, dass diese Musik im HiphopStil geschrieben ist, also deutlich verschieden sowohl von aktuellem gef¨alligen Pop (vgl. Nassar 2011: 367) als auch von der im traditionelleren Stil gehaltene Musik fr¨ uherer aktivistischer Musiker.86 Diese Verortung von Musik im Protestrepertoire des linken, s¨akularen Aktivismus der 1960er und 1970er Jahre erw¨ahnte auch eine interviewte Aktivistin: When I was like 14 years old, I used to listen to songs of Marcel Khalifeh, and Ziad Rahbani. These songs, you know, also shaped my way of viewing things. The revolution, the intifada, the Palestinian cause, it is very important. So, a lot of [...] young people, they have this kind of affection, they listen to these songs, they have a Che Guevara T-Shirt and everything, and they decide to go to the Communist Party. (Experteninterview) 86

Arabischer und auch libanesischer Hiphop hat bereits seit l¨ angerer Zeit eine Position als Artikulationsweise der politisch denkenden Jugend inne, wie Nassar (2011) eindringlich beschreibt: Hip-hop [sic] is a place where young people in Lebanon are trying to make sense ” of the ruptures and contradictions that shape their lives. It is a testing ground for alternative frameworks through which they can view the world, search for identity, and make meaning.” (Nassar 2011: 364). Zur Rolle des libanesischen Hiphop als Sprachrohr f¨ ur Meinungen zitiert Nassar auch Kinda Hassan, eine Organisatorin von La¨ıque Pride, die hauptberuflich f¨ ur ein Musik-Label arbeitet: ’Hip hop [sic] is not a status thing. It’s an in your face thing – telling you so” mething. You can’t ignore the message’ (Kinda Hassan, Eka’ Production).” (Nassar 2011: 367)

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Auch dieses Zitat betont die emotionale Komponente von Musik als Form des Protests und stellt zugleich den Musikkonsum der Aktivisten in einen Zusammenhang mit dem Aktivismus der Vorkriegszeit. Es wird deutlich, dass der u ¨berwiegende Teil der in der Protestwelle 2010-2012 verwendeten Aktionsformen in einer l¨angeren Tradition von antikonfessionellem und s¨akularem Aktivismus steht. Das Repertoire des antikonfessionellen Aktivismus zeigt sich somit auch w¨ahrend der Protestwelle in hohem Maß stabil. Dennoch sind einige Weiterentwicklungen der Repertoires festzustellen, die w¨ahrend der Protestwelle auftraten. Die Stabilit¨at von Repertoires ist verkn¨ upft mit der Stabilit¨at der Verh¨altnisse. Somit sind die Repertoires, solange die Aktivisten, ihre Gegner und ihre Themen feststehen, relativ fest und zeigen nur kleine Ver¨anderungen. In der Regel erfolgen Innovationen von Repertoires nicht radikal, sondern schrittweise (vgl. Tilly 2008: 12). Zum rapiden und radikalen Wandel von Repertoires, also etwa zur Aufnahme grundlegend anderer Aktionsformen, kommt es also nur in bestimmten Kontexten, etwa in einer Situation von ¨ radikalen Anderungen der politischen Gelegenheitsstrukturen. Diese schrittweise” (Tilly 2008: 12) Innovation von Repertoires kann etwa dadurch ” ausgel¨ost werden, dass eine bestimmte Aktionsform in einer fr¨ uheren Protestwelle verwendet wurde und in das Repertoire nachfolgender Wellen aufgenommen wird (Tilly 2008: 95ff., 101ff.). Des Weiteren kann die Weiterentwicklung von Repertoires Ergebnis eines ver¨anderten Verst¨andnisses von Politik sein, wobei Aktivisten desillusioniert u ¨ber die M¨oglichkeiten sind, Politikver¨anderungen in ihrem Sinne u ¨ber die formal-politisch vorgesehenen Kan¨ale zu erreichen. So erkl¨aren U. Beck, Hajer und Kesselring (1999: 9) die beobachtbare Distanzierung von etablierten, formalen Akteuren und Aktionsformen der Politik damit, dass das Verst¨andnis von Politik, das im politischen System die zentrale ” Schaltstelle der Gesellschaft sieht” in der Krise sei (s. 3.2.2). Dies steht im Zusammenhang mit Transformationen in den Bereichen Organisationsformen und Rahmung: Zum einen kann die Abwendung vom politischen System” eine Abgrenzung von formal organisier” ten Akteuren implizieren. Zum anderen kann diese Krise des Politikverst¨andnisses, wie Theoretiker der neuen sozialen Bewegungen” gezeigt haben (s. 3.1.5), einhergehen mit ” der Entfernung von konkreten Zielen und der Hinwendung zu Themen wie Autonomie und Identit¨at (vgl. J. L. Cohen 1985; Della Porta und Tarrow 1986; Melucci 1985, 2001; Offe 1985; Tilly und Wood 2012). W¨ahrend der Protestwelle 2010-2012 fanden mehrere Weiterentwicklungen der Protestform Demonstration” statt, so dass das Repertoire zur Durchf¨ uhrung von Demonstra” tionen erweitert wurde. Einige Aktionsformen, die bei gr¨oßeren Protestereignissen praktiziert wurden und Neuerungen im Protestrepertoire des libanesischen s¨akularen Aktivismus darstellten, sollen im Folgenden, unter R¨ uckgriff auf die dargelegten theoretischen ¨ Uberlegungen zu Ausl¨osern der Innovation von Repertoires, diskutiert werden. Ein Beispiel f¨ ur die schrittweise Innovation einer Protestform im Repertoire des antikonfessionellen Aktivismus w¨ahrend der Protestwelle besteht darin, dass Aktivisten GuyFawkes-Masken trugen, etwa bei der Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı im April 2011 (Amro 2011; abgebildet in Gertel und Ouaissa 2014: 285f.) und bei der Demonstration der von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı abgespaltenen Koalition S¨akularismus, Gleichheit ” und soziale Gerechtigkeit” im Februar 2012 (vgl. Gatten 26.2.2012). Da diese Masken in den vorangegangenen Monaten h¨aufig von Aktivisten der Occupy-Bewegung getragen wurden, ist zu vermuten, dass das Tragen der Masken in Beirut durch Occupy inspic

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

riert war. Hier wurde das Repertoire von Akteuren der Protestwelle nicht einfach um Aktionsformen aus einer fr¨ uheren Welle des libanesischen antikonfessionellen Aktivismus erweitert, sondern es handelt sich um Aufnahme von Formen aus einer Protestwelle außerhalb des Libanon. Die Aufnahme von Inspiration aus der Occupy-Bewegung in das Protestrepertoire des libanesischen Antikonfessionalismus weist darauf hin, dass Akteure der Protestwelle sich mit den Aktivisten von Occupy verbunden f¨ uhlen und sich auch durch die Rahmung der Protestthemen angesprochen f¨ uhlen.87 Mit dem Arabischen Fr¨ uhling” hatte eine weitere außerhalb des Libanon stattfindende ” Protestwelle deutlichen Einfluss auf Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı (s. Kapitel 6). Damit verkn¨ upft, waren Organisations- und Aktionsformen der Koalition gepr¨agt durch die große Anzahl junger, vormals kaum politisierter Aktivisten, deren Mobilisierung eine Reaktion ¨ auf die Ereignisse in Tunesien und Agypten und den damit verbundenen Enthusiasmus darstellte. Einige dieser neu mobilisierten Aktivisten brachten Vorstellungen von Protestformen mit, die direkt durch den Arabischen Fr¨ uhling” inspiriert waren, wie ein ” erfahrener Aktivist im Interview berichtete (vgl. 6.3.3): c

During that [first organisatory] meeting [of the coalition], people wanted... Ok, let’s go tomorrow and have our own Tah.r¯ır, and we are going to stay there ” until the system collapses.” [...] Others were with the idea: Let’s prepare for a ” big demonstration on independence day.” Now independence day comes in the end of the year, in November. [...] We were in February. (Experteninterview, ¨ kursiv: im Original arabisch, meine Ubersetzung) Das Zitat zeigt deutlich die Diskrepanzen, die bei den großen, offenen Organisationstreffen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von angemessenen Protestformen bestanden. Die in diesem Zitat angesprochene Kontroverse bestand in der Konkurrenz zwischen langfristig geplanten Demonstrationen und spontanen, durch die Ereignisse in der ¨agyptischen Hauptstadt Kairo inspirierten Sit-Ins, bzw. in Fragen nach der Bedeutung von langfristiger Planung oder Spontanit¨at im Allgemeinen. Innovationen der Repertoires waren folglich auch innerhalb der Gruppe der Organisatoren von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Gegenstand von kontroversen Aushandlungsprozessen. Weitere Beispiele f¨ ur Innovationen antikonfessioneller Repertoires in der Protestwelle waren bei den Veranstaltungen von La¨ıque Pride beobachtbar. So stellen Auftritte von Clowns bei Veranstaltungen der Protestwelle im libanesischen Kontext eine Innovation dar. Analog zu den obigen Ausf¨ uhrungen zu Guy-Fawkes-Masken bei Occupy und bei Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı ist zu vermuten, dass die Innovation des Repertoires durch den Kanal der Verf¨ ugbarkeit bei Protestwellen außerhalb des Libanon darauf hindeutet, dass die Akteure sich selbst in einer globalen Protestszene verorten, denn die Wahl von Tak” tiken dr¨ uckt symbolisch N¨ahe zu vorherigen Bewegungen aus” (Della Porta und Diani 2006: 182). Aus einer globalen Perspektive z¨ahlen Clownauftritte bereits seit Jahren zum Repertoire von Demonstrationen, insbesondere im Bereich der Globalisierungskritik (vgl. Shepard 2011), w¨ahrend die libanesische Gruppe Clown Walk for Laughter” erst 2011 von ” Absolventen des Schauspiel-Studiengangs der Libanesischen Universit¨at gegr¨ undet wurde c

c

c

87

Komplement¨ ar zu der Feststellung, dass in antikonfessionellen Protesten im Libanon ab April 2011 Inspirationen aus der Occupy-Bewegung einflossen, ist zu konstatieren, dass der Transfer von Protestmerkmalen zwischen Occupy und arabischen Protesten in beide Richtungen stattfand. So wird Occupy auch als Reaktion auf den Arabischen Fr¨ uhling” verstanden und es bestanden nach” ¨ weislich Kontakte zwischen Aktivisten der Aufst¨ ande in Agypten 2011 und der Occupy-Bewegung (Sonay 2015: v.a. 30, 69, 205ff.).

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

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(Experteninterview). Die Gruppe f¨ uhrte in der Folge mehrere Clown Walks” auf, also ” kleine M¨arsche von Clowns bzw. als Clowns verkleideten Aktivisten im ¨offentlichen Raum (Experteninterview). Der erste Clown Walk” hatte kein politisches Motto, der zweite ” demonstrierte gegen die Schließung des Beirut-Theaters, der dritte fand im Rahmen von La¨ıque Pride 2012 statt, wie ein Organisator der Clows Walks berichtete: The Clown Walk for Beirut Theater was not political, it was for Beirut Theatre. And we walked for La¨ıque Pride because... it was a different way. They called me [. . . ] I was going to walk [in La¨ıque Pride] as a Lebanese [...]. Then they called me: Can you do this?” I was like: Ok, why not.” ” ¨ ” (Experteninterview, kursiv: im Original arabisch, meine Ubersetzung) Das Interview zeigt, wie die Organisatoren von La¨ıque Pride aktiv an einer Ausweitung des Repertoires arbeiteten. Ein weiteres Beispiel hierf¨ ur ist die bei derselben Veranstaltung aktive Percussion-Gruppe, die ebenfalls von den Veranstaltern um ihre Teilnahme an La¨ıque Pride gebeten worden war (Experteninterview). Dass die Organisatoren das La¨ıque Pride das ihnen zur Verf¨ ugung stehenden Repertoire aktiv weiterentwickelten, zeigt sich zudem in den Erl¨auterungen eines Aktivisten, der die Ausgestaltung des Marschs mit k¨ unstlerischen Elementen erl¨autert, dabei die Neuheit dieser Elemente betont, und sich somit gleichsam von fr¨ uherem antikonfessionellen Aktivismus abgrenzt: When we [La¨ıque Pride ] started to do videos, to do sounds, to do performances in the streets, and so on, it gave a new meaning to activism in the country, and a new image. [...] It was recuperated, the same demands, the same ways of action, by Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. [...] It was so beautiful to see that our model was exported to other activists. (Experteninterview, kursiv: ¨ im Original arabisch, meine Ubersetzung) c

Diese Aktionsformen wurden von anderen Aktivisten als Teile eines angemessenen Protestrepertoires akzeptiert und weitergef¨ uhrt. Dies zeigte sich bei einer von der NGO Civil Campaign for Electoral Reform veranstalteten Demonstration f¨ ur die Einf¨ uhrung eines Verh¨altniswahlrechts f¨ ur die nationalen Parlamentswahlen, welche eine Woche nach dem dritten La¨ıque Pride stattfand.88 Dabei war ebenfalls eine Gruppe von Aktivisten als Clowns verkleidet und eine andere Gruppen von Aktivisten spielte auf Trommeln, wobei die Clowns und Trommler in diesem Fall nicht von den Organisatoren angefragt worden waren (Experteninterview). Die gezielte Einf¨ uhrung von Clownerie, Trommelgruppen und ¨ahnlichen Aktionsformen auf Demonstrationen zeigt, dass die Veranstaltungen aktiv als fr¨ohlich” gerahmt wurden. ” Ebenso betonen die Organisatoren von La¨ıque Pride, dass es sich bei ihren Veranstaltungen nicht um Demonstrationen” (arabisch muz.¯ahara) handele, sondern um M¨arsche” ” ” (arabisch mas¯ıra)89 . Damit ist gemeint, dass die Veranstaltung nicht konfrontativ ist, son88

89

Diese Demonstration war nicht dezidiert s¨ akular, vielmehr sparte der von CCER vorgeschlagene Entwurf f¨ ur ein neues Wahlrecht zur Nationalversammlung die Frage nach konfessionalistischen Quoten bewusst aus, um sich auf die Forderung nach einer Umstellung von Mehrheitswahlrecht auf Verh¨ altniswahlrecht zu konzentrieren (Experteninterview). Daher wird die Demonstration hier nicht zur Protestwelle gez¨ ahlt, obwohl der Koordinator des CCER zugleich Mitglied des Civil ˇ c b und at-Taˇgammuc adSociety Movement war und die antikonfessionellen Parteien H.arakat Sa D¯ımuqr¯ at.¯ı unter den Kooperationspartnern f¨ ur die Demonstration waren. ¨ Weitere m¨ ogliche Ubersetzungen f¨ ur das arabische mas¯ıra w¨aren Umzug” oder Parade”. Die ” ” ¨ Ubersetzung als Marsch” wird hier aus dem Grund verwendet, dass die englische Bezeichnung ” march” im Zusammenhang mit La¨ıque Pride etabliert ist. ”

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

dern einen festlichen, fr¨ohlichen Charakter hat (vgl. auch Mikdashi 2014a: 146). Der Kanal der Verf¨ ugbarkeit von Aktionsformen durch ihre Anwendung in fr¨ uheren Protestwellen bezieht sich auch hier auf Protestereignisse außerhalb des Libanon: Der Name La¨ıque ” Pride” deutet an, dass Inspirationen von der Gay Pride-Bewegung aufgenommen wur90 den , deren zentrale Aktionsform ebenfalls in festlichen, opulent ausgeschm¨ uckten, aber gegen¨ uber dem formal-politischen System nicht direkt konfrontativen Paraden besteht. Den festlichen Charakter der M¨arsche in Beirut beschrieb eine interviewte Organisatorin von La¨ıque Pride wie folgt: It is a happy day, it is fun, there are funny, colorful things, like ” the roses, the clowns, and the percussion” (Experteninterview). In diesem spaßbetonten Repertoire spiegeln sich Merkmale der Akteure. So handelt es sich bei La¨ıque Pride um eine Neugr¨ undung aus dem Jahr 2009 und bei den Gr¨ undungsmitgliedern der Gruppe um Personen, die sich in Interviews selbst als vorher kaum politisch aktiv beschrieben (Experteninterviews). Das Anspruchsteller-Objekt-Paar” (Tilly 2008: 14) besteht folglich aus ” einer neuen Konstellation, der noch kein Repertoire fest zugeordnet ist. So beeinflusste die Tatsache, dass vier von f¨ unf Gr¨ undungsmitgliedern von La¨ıque Pride politisch unerfahrene K¨ unstler waren, die Wahl der Aktionsformen: What we can do, what is in our hands to do, these four, five people, is a march. That’s what I can do. I cannot write a law, I cannot create a revolution, I cannot organize a political party, but I can organize a march. (Experteninterview) Die hier zitierte Aktivistin ¨außerte im Interview zudem Distanz zu den etablierten Aktionsformen wie Gesetzentw¨ urfen, aber auch zu der Organisationsform der Parteien. Vielen j¨ ungeren Aktivisten gelten die Repertoires der etablierten Parteien als unpassend f¨ ur ihre politischen Ziele. Auf sie trifft das zu, was S. Cohen (2004) mit Blick auf junge Marokkaner formulierte: [They] deny the relevance of this [established political] public space through their lack of participation in conventional politics, their sharp, reflective critiques of social and political life in Morocco, and, inversely, their idealization of alternative arenas [...]. (S. Cohen 2004: 6) Mit ihren Aktionsformen erproben sie Alternativen zur konventionellen Politik. Somit folgt f¨ ur Aktivisten aus der beschriebenen Abwendung von den veralteten und unangemessenen Institutionen von Konfession und Staat und der Frustration u ¨ber die begrenzten Erfolge der alten” Bewegungen (vgl. Offe 1985; 3.1.5) die Innovation der Repertoires, denn Ak” tionsformen, die den Staat oder konfessionelle Institutionen adressieren, gelten ihnen als unpassend. Die Weiterentwicklung der antikonfessionellen Repertoires f¨allt bei La¨ıque Pride mit der Einf¨ uhrung von M¨arschen” statt Demonstrationen” und von Aktionsformen, die Spaß ” ” und Festlichkeit betonen, entschiedener aus als bei Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Gr¨ unde f¨ ur diesen Unterschied bestehen darin, dass die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı st¨arker c

c

90

Ein Initiator und Organisator von La¨ıque Pride, ist ein enger Kooperationspartner der libanesischen NGO Helem, deren Thema der Einsatz f¨ ur LGBT-Rechte ist, insofern kann ein Mechanismus ¨ des movement spillover von der LGBT-Bewegung vermutet werden. Ahnlichkeiten in den Aktionsformen von La¨ıque Pride mit Aktionsformen von Gay Pride außerhalb des Libanon wurden von mehreren interviewten antikonfessionellen Aktivisten und Beobachtern festgestellt (Experteninterview).

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

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als La¨ıque Pride in personeller Kontinuit¨at zu fr¨ uherem Partei- und NGO-Aktivismus steht und dass La¨ıque Pride sich deutlich st¨arker als Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı von formalpolitischen Institutionen und etablierten Protestrepertoires abgrenzt. Mit der oben zitierten Formulierung der Soziologen U. Beck, Hajer und Kesselring (1999: 8) kann festgestellt werden, dass ein bestimmtes Verst¨andnis von Politik, das im politischen System die zen” trale Schaltstelle der Gesellschaft sieht” aus der Perspektive der Organisatoren von La¨ıque Pride st¨arker in der Krise” ist als aus der Perspektive von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. ” c

c

7.1.3 Kontroversen um Aktionsformen In der Protestwelle traten Spannungen auf, welche die Wahl und Ausgestaltung von Aktionsformen betrafen. Diese Kontroversen betrafen in erster Linie Aktionen von La¨ıque Pride und von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. Bei diesen beiden Akteuren handelt es sich um in der Protestwelle neu gegr¨ undete Gruppen, die als sichtbarste Akteure der Protestwelle große Zahlen an Aktivisten mobilisierten, darunter auch viele vormals unpolitische junge Leute. Die Kontroversen um Aktionsformen reflektieren folglich die Kritik an eher neuartigen Aktionen neuerer Akteure, welche von etablierten, erfahrenen Akteuren ge¨ ubt wurde. Dabei geht es um das Spannungsverh¨altnis von etablierten Aktionen der erfahrenen Akteure gegen¨ uber den ver¨anderten Repertoires neuerer Akteure, wobei sich Zusammenh¨ange mit den Spannungsverh¨altnissen zwischen verschiedenen Generationen von Aktivisten (vgl. 6.3.4) und mit Diskrepanzen um angemessene Organisationsformen (vgl. Kapitel 6) zeigen. Debatten u ¨ber Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle wurden sowohl w¨ahrend der Transformationsphase der Welle als auch w¨ahrend der Kontraktions- und Latenzphase gef¨ uhrt, wobei insbesondere die Debatten ex post letztere im Zusammenhang mit Diskussionen u ¨ber die Ausl¨oser der Kontraktionsphase bzw. das Scheitern” der Pro” teste standen. Sie betrafen mehrere Punkte, insbesondere Fragen nach der Kooperation mit dem formal-politischen System, der Gr¨oße der Proteste, der Konfrontativit¨at, der Kontinuit¨at und der Ernsthaftigkeit der Aktionen. In Bezug auf diese Kontroversen ist dabei zu beachten, dass einzelne Aktivisten nicht unbedingt eine feste Meinung vertraten, sondern zuweilen schwankten. So wollten Aktivisten, die noch 2010 an einer von CHAML organisierten gespielten Hochzeit” teilgenommen ” hatten, sich im M¨arz 2011 nicht an einer von CHAML organisierten Demonstration beteiligen, obwohl beide im Rahmen derselben Kampagne f¨ ur den Gesetzentwurf der NGO stattfanden (Experteninterview; s. 6.2.3). Die heftigen Kontroversen unter Aktivisten der Protestwelle u ¨ber m¨ogliche Kooperationen mit dem formal-politischen System betrafen nicht nur Akteure (s. Kapitel 6), sondern auch Aktionen. Die unter diesem Gesichtspunkt umstrittene Aktionsform war der Gesetzentwurf, der verbunden ist mit Lobbyarbeit bei Politikern zur Einbringung des Entwurfs ins Parlament. Einige Aktivisten, die das Einbringen von Gesetzentw¨ urfen unterst¨ utzen, bezeichneten in Interviews diejenigen, welche diese Aktionsform aus prinzipiellen Gr¨ unden heraus ablehnen, als unrealistisch” (Experteninterview) und naiv”: ” ” c

The next year [2011], because we [CHAML] had a draft law now, we said: We have the law, we’ll do a sit-in there [downtown Beirut], we will continue.” ” So we set the tent, gave the law to the head of the parliament, and that’s why many people did not want to talk to us. [...] Because when they marched [in the demonstrations of Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı], they said: We want to break ” c

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

down the system and the symbols. We don’t want to talk to anyone.” But, come on, how do you want to change if you are not talking to the parliament? [...] It was a naive demand. (Experteninterview) Ein weiterer kontroverser Punkt betraf die Gr¨oße der Proteste, die vor allem in Gespr¨achen u ¨ber die Protestzelte thematisiert wurde. Da an allen Zelten in den Provinzen außerhalb Beiruts zusammengenommen insgesamt h¨ochstens 100 Aktivisten beteiligt waren (Experteninterview, s. 7.1.1), stuften andere an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı beteiligte Aktivisten diese Zelte als irrelevant ein (Experteninterview). Auch das Zelt von CHAML in der Beiruter Innenstadt war h¨aufig nur von einer Person besetzt (Interview Experteninterview) und galt deswegen anderen Aktivisten als eine traurige Sache” (Experteninterview). Ein ” Aktivist von CHAML hingegen, der in diesen Monaten im Zelt lebte”, wies die Proble” matik der abwesenden Aktivisten zur¨ uck: c

It is not a demonstration, it is a tent. The tent itself was an act of disobedience. [KS: But there were people in it, no?] Not all the time, but most of the time, yes, but it was me, and a few others. (Experteninterview) Auch die Konfrontativit¨at der verschiedenen Aktionen wurde debattiert. So betonte derselbe Aktivist im Interview zudem, dass Aktivisten nicht nur Bewusstsein schaffen”, ” sondern auch angreifen” m¨ ussten: ” CHAML’s main field actually is to work on the street, to attack [...], not just to spread awareness and go to colleges and make workshops, no, it is part of the strategy, but it is the tools. It is not actually the goal to make workshops. (Experteninterview) Auch ein interviewter Blogger forderte, die Aktionen antikonfessioneller Aktivisten sollten gewaltsamer” werden: ” My problem is just that [...] we need to take our struggle outside the circle of protesting, [...] because protesting is being limited and is not changing anything. We protest on Sunday, on Monday everything is always the same. I think it needs to grow out of demonstrations. [...] I think it needs to grow into direct action. [...] It has to be violent. When I speak about violence I am not necessarily saying: Let’s carry guns and start shooting.” Not at all. Violence ” should face the violence that is being practiced on us on a daily basis, from the state itself, from the corrupt politicians themselves. (Experteninterview) Der hier zitierte Aktivist sah die u ¨blichen Demonstrationen als unpassend und aussichtslos an. Mit Blick auf das in diesem Interviewzitat beschriebene Unbehagen der Demonstration ˇ zek (s. 3.1.4, 3.2.1) den passenden Begriff der risikofreien hat der Philosoph Slavoj Ziˇ ” Feierabendrevolten” formuliert: ˇ zek m¨ochte unterscheiden zwischen authentische[m] sozialen Engagement Ziˇ ” zugunsten der ausgebeuteten Minderheiten” und den multikulturellen/postkolonialen, ” absolut risikofreien Feierabendrevolten, in denen sich die radikale‘ Welt des ’ ˇ akademischen Amerika gef¨allt” [...]. (Ziˇzek 2002: 20, paraphrasiert in Heil 2010: 93f.)

7.1 Antikonfessionelle Protestereignisse

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Auch wenn libanesische antikonfessionelle Aktivisten nicht der radikalen Welt des akade” mischen Amerika” angeh¨oren, sind sie dieser doch im Habitus sehr ¨ahnlich, insbesondere im Umfeld der amerikanischen Privatuniversit¨aten im Beiruter Stadtteil al-H.amr¯a . So ¨ weisen die Diskurse durchaus Ahnlichkeiten auf, etwa wenn Aktivisten der Protestwelle debattieren, wie radikal, gewaltt¨atig und riskant angemessene Protestformen zu sein haben. Auch eine Aktivistin der LCP bewertete etwa die Veranstaltungen und Forderungen von La¨ıque Pride als zu wenig radikal: c

If you want to change the [...] system in Lebanon, you cannot depend on one day in May and say: Hey people, come on, let’s go and have this La¨ıque Pride ” and have this Hyde Park thing [speaker’s corner at La¨ıque Pride 2012].” [. . . ] So we said: We are of course supporting it, we are going to be there, but for ” the next time: You cannot change the country with one day, this traditional day folklore.” (Experteninterview) Die in dem Zitat ge¨außerte Kritik bezieht sich auch auf die Frage, wie kontinuierlich bestimmte Aktionsformen sind. Dies betrifft auf der Akteursebene die mangelnde Nachhaltigkeit im Engagement vieler junger, neu mobilisierter Aktivisten (s. 6.3.4), und auf der Aktionsebene die Einmaligkeit einiger Protestereignisse. Schließlich bestanden unter den Aktivisten der Protestwelle Spannungen u ¨ber die gebotene Ernsthaftigkeit des Aktivismus. Auch hier entz¨ undete sich, analog zu den bereits diskutierten Streitpunkten, die Kritik an den eher unkonventionellen Aktionsformen, insbesondere den gespielten Hochzeiten und der Gestaltung der Veranstaltungen von La¨ıque Pride. Dies zeigt sich etwa in einem Bericht u ¨ber Reaktion von Außenstehenden auf die von CHAML 2010 durchgef¨ uhrte gespielte Hochzeit”, von denen ein CHAML-Aktivist ” berichtete: We were surprised about how the media coverage was, we didn’t believe it. [...] When you do a demonstration slash wedding” [sic], it will be different. [...] ” And then someone came and asked: Sorry, for what are you demonstrating? ” – What?” Because everybody thought about demonstrations being mad, and angry, we want that”. And we were talking about civil marriage, about love, ” about helping people who are in love to get married even if they are from different sects. One should be happy. (Experteninterview) Das Zitat betont die positive Stimmung der Aktion, bei der anstelle von Wut eher Spaß und Freude artikuliert wurden. Dies schien f¨ ur die Medienberichterstattung attraktiv zu sein, w¨ahrend es zugleich Irritationen hervorrief, weil das klassische Repertoire einer Demonstration eben eher mit einer w¨ utenden Stimmung verkn¨ upft sei. Die Betonung von Spaß und Freude wurde auch mit Blick auf La¨ıque Pride thematisiert, sowohl von Beobachtern als auch von Organisatoren. So wurde der Marsch 2010 in einer Publikation der Partei at-Taˇgammuc ad-D¯ımuqr¯at.¯ı als einem geschm¨ uckten Blumenstrauß ¨ahnlich” ” (Sharara 2010) bezeichnet und die Organisatorin Yalda Younes unterstrich im Interview mit NOW Lebanon den fr¨ohlichen Charakter der Veranstaltung” (Y. Younes und Elali ” 04.05.2012), ebenso wie Kinda Hassan in der Tageszeitung L’Orient Le Jour, dessen Artikel die fr¨ohliche Atmosph¨are des 2012 veranstalteten Marschs zudem ausf¨ uhrlich beschreibt: C’est une impression de printemps qui s’en d´egage chaque ann´ee. Les fleurs pars`ement le cort`ege. Des banderoles fluorescentes raillent le confessionnalisme. Les sourires des manifestants se mˆelent aux slogans chant´es. Cette ”

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marche d´egage une positivit´e qui n’existe pas ailleurs”, fait remarquer Kinda Hassan, artiste de son et d’image, coorganisatrice de la La¨ıque Pride”. ” (Ilcinkas 07.05.2012) Im Gegensatz zu diesen von Begeisterung gepr¨agten Zitaten ¨außert sich eine erfahrene Aktivistin aus der LCP kritisch gegen¨ uber dem Ansatz, bei Protestaktionen vor allem den Spaß zu betonen, und fordert Ernsthaftigkeit: We have to give it a serious impact. [...] With the speech, for the people, for the invitation, for the slogans, for everything. [...] We can not give people these excuses to judge us. So, let’s be serious. (Experteninterview) Die besprochenen Kontroversen u ¨ber Aktionsformen der Protestwelle weisen Analogien zu den im Kapitel 6 analysierten Debatten u ¨ber Organisationsformen auf. W¨ahrend auf der Ebene der Aktionsformen Kontroversen bez¨ uglich der Distanz zum formal-politischen System, der Gr¨oße, der Konfrontativit¨at, der Kontinuit¨at und der Ernsthaftigkeit der Proteste bestanden, bezogen die Kontroversen bez¨ uglich der Organisationsformen sich auf Fragen von Hierarchien, Formalisierung und Verh¨altnissen zu Parteien (s. Kapitel 6). Insbesondere mit Blick auf den letztgenannten Punkt des Verh¨altnisses zu Parteien als Institutionen der formalen Politik sind Parallelen der Spannungsfelder offensichtlich. Diese Parallelen der Kontroversen zeigen, dass Aktionsformen und Organisationsformen von sozialen Bewegungen eng verschr¨ankt sind. Dies spiegelt sich in theoretischen Betrachtungen, wobei Aktionsformen und Organisationsformen etwa bei Offe (1985: 829ff.) als zwei Aktionsmodi” einer sozialen Bewegungen analysiert werden. In der antikonfessionellen ” Protestwelle verdeutlicht etwa das Beispiel der M¨arsche von La¨ıque Pride, wie einige Akteure sich sowohl mit ihrer ahierarchischen, informellen Organisationsform als auch mit ihrem unkonventionellen, spaßbetonten Repertoire dezidiert und bewusst von etablierten Akteuren mit ihren konventionellen Aktionsformen absetzen. Auch innerhalb von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı kamen Forderungen nach unkonventioneller direkter Aktion eher von unabh¨angigen Aktivisten wie dem oben zitierten Blogger, w¨ahrend Vertreter von Parteien und NGOs eher ein konventionelles Repertoire unterst¨ utzten. Solche Verbindungen zwischen den Ebenen der Organisations- und Aktionsform sind nicht als determinierend zu verstehen, sondern stellen lose Tendenzen dar (s. 3.1.5). Die Debatten auf beiden Ebenen weisen allerdings einige Gemeinsamkeiten auf: In beiden F¨allen betreffen die Spannungen die Frage, wie sichtbar die individuellen Aktivisten sind, oder wie sehr sie sich formalen Strukturen und kollektiven Aktionen unterordnen. Auch h¨angt auf beiden Ebenen die Einsch¨atzung der Aktivisten, welche Form sie f¨ ur angemessen halten, damit zusammen, was sie damit erreichen wollen. Aktivisten unterst¨ utzen diejenige Organisationsform und Aktionsform, die sie f¨ ur angemessen halten, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Welche Ziele die verschiedenen Akteure der antikonfessionellen Protestwelle mit ihren unterschiedlichen Aktionen verfolgten, wird unten in 7.3 eingehend analysiert. c

7.2 Exkurs: Lobbyismuserfolge in der ¨ offentlichen Verwaltung: Die Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister 2009 und die Zivilehe 2013 Vor der Analyse der Protestziele sollen in einem Exkurs weitere antikonfessionelle Initiativen diskutiert werden, die sich sowohl in ihrer Organisationsform als auch in ihrer

7.2 Exkurs: Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister 2009 und Zivilehe 2013

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Aktionsform deutlich von dem bisher besprochenen Aktivismus unterscheiden. Erstens fanden sie nicht w¨ahrend der Protestwelle statt (2010-2012), sondern davor bzw. danach, und auch wenn Ausl¨aufer der Kampagne von 2009 und Vorbereitungen f¨ ur die Initiative 2013 w¨ahrend der Protestwelle stattfanden, so waren sie nicht direkt mit dieser verbunden. Zweitens handelt es sich nicht um Protest: Die Aktionen finden zwar außerhalb der formal-politisch vorgesehenen Kan¨ale statt und zielen auf politische Ver¨anderungen ab, aber sie sind nicht konflikthaft, und die Akteure verorten sich nicht unbedingt in einem gr¨oßeren politischen Kollektiv (vgl. Taylor und Van Dyke 2004: 268ff. Della Porta und Diani 2006: 165, s. 7.1). W¨ahrend Protest als eine Ressource der Machtlosen” (Lipsky ” 1968, Della Porta und Diani 2006: 166f. s. 3.1.4) zu verstehen ist und somit eher von Akteuren verwendet wird, die anderweitig keine Chance auf politisches Geh¨or h¨atten, haben die in diesem Exkurs zu besprechenden Akteure sehr gute Zug¨ange zur Macht. Gerade dieser letztgenannte Punkt aber weist darauf hin, dass die Aktionen von 2009 und 2013 in einer Analyse der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 mit behandelt werden m¨ ussen. Sie stellen ebenfalls antikonfessionelle Aktionen nicht-staatlicher Akteure dar und bilden durch ihre grundlegend unterschiedliche Konfiguration eine Vergleichsfolie zu den Aktionen der Protestwelle. Die Inhalte dieses Exkurses werden daher unten in Kapitel 7.3 wieder aufgegriffen werden, wenn die Logiken bestimmter Repertoires auch in Abgrenzung von anderen Logiken besprochen werden. Die formale Anerkennung der Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister und der zivilen Eheschließung im Libanon wurde von bekannten Pers¨onlichkeiten vorangetrieben (s. auch 5.2.5). Zu den zentralen Akteuren z¨ahlten vor allem Talal Husseini, Bruder des fr¨ uheren Parlamentssprechers Hussein Husseini, sowie Nasri Sayegh senior und Gr´egoire Haddad (s. 6.1.3.2). Talal Husseini ist Gr¨ under und Pr¨asident der NGO al-Markaz al” Madan¯ı Li-l-Mub¯adara al-Wat.an¯ıya” (dt. Ziviles Zentrum f¨ ur nationale Initiative”), die ” den organisatorischen Rahmen der Aktionen bildete. Es bestehen Kooperationen mit dem Civil Society Movement, auch wenn Talal Husseini dort kein Mitglied ist. So beschrieb ein Aktivist des CSM im Interview, dass im Markaz Madan¯ı Intellektuelle, Leute mit ” Macht, und Journalisten” t¨atig sind, aber, anders als im CSM, nicht viele junge Leute, dass allerdings im Rahmen der Kampagne 2009 intensive Kooperation sowohl mit dem Civil Society Movement als auch mit ULDY bestand (Experteninterview). Die Gruppe um Talal Husseini argumentierte den Beh¨orden gegen¨ uber, dass die Streichung der Konfession nach bestehendem libanesischen Recht bereits legal sei und daher m¨oglich sein m¨ usse. Das juristische Schlupfloch besteht in einem Gesetzestext aus der Mandatszeit, Erlass 60 Artikel 25 der Lois et R`eglements” (L.R.) von 1936. Dieser spricht ” den Angeh¨origen der verschiedenen anerkannten Konfessionen gewisse an die Konfession gebundene Rechte zu und erkennt zugleich analoge Rechte von Libanesen außerhalb konfessioneller Zugeh¨origkeiten an (vgl. Al-Husseini 18.01.2013). Die Existenz dieses Erlasses im libanesischen Recht und die M¨oglichkeit, ihn in einem antikonfessionellen Sinne auszulegen, war Aktivisten bekannt, so argumentierten etwa bereits die Aktivisten der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsgesetz mit der bestehenden Rechtslage (s. Zalzal 1997: 37), und bereits im Jahr 1969 hatte ein Anwalt und Aktivist versucht, ebenfalls unter Verweis auf L.R. 60 seine Konfession aus dem Zivilregister streichen zu lassen (vgl. CHAML 2009b). Die explizite Best¨atigung in Form einer formalen Drucksache, dass die Streichung der Konfession aus dem Zivilregister rechtm¨aßig ist, wurde allerdings erst 2009

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

erreicht. Talal Husseini hatte bereits Jahre zuvor eine juristische Studie zur M¨oglichkeit der Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister auf der Basis von L.R. 60 erstellt, die juristische Implikationen von Konfessionslosigkeit und L¨osungen f¨ ur damit einhergehende Probleme, etwa in den Bereichen des passiven Wahlrechts und des Personenstandsrechts, behandelte (Experteninterview). Diese Studie war bereits seit l¨angerem in der Diskussion, und antikonfessionelle Aktivisten arbeiteten seit 2003 an der Thematik (Experteninterview), als die Idee aufkam, dass prominente s¨akulare Intellektuelle die Konfessionsstreichung beantragen sollten: The main person is Talal Husseini. This idea came from here [Civil Society Movement]. He [Talal Husseini] was in the preparatory committee of the seminar of 2005, and he said: Why not do that?” And Gr´egoire Haddad said: ” Go for it, I am the first who will do that.” (Experteninterview) ” Im Jahr 2007 beantragte eine Reihe Intellektueller und Aktivisten, darunter Gr´egoire Hadˇ c b, Rajaa Hachem, dad, Nasri Sayegh senior, die S¨akularismus-Expertin von H.arakat Sa und die Juristin Nayla Geagea, bei den zust¨andigen Beh¨orden die Konfessionsstreichung (Experteninterview; vgl. auch Corm 22.07.2008). Der Vorgang wurde mit Hilfe von Talal Husseinis Kontakten im Justizministerium und im Innenministerium gepr¨ uft. Sie lag dem Innenministerium bereits vor, als im Juli 2008 Ziad Baroud zum Innenminister ernannt wurde. Ziad Baroud, der als fr¨ uherer Vorsitzender der NGO Lebanese Association for Democratic Elections (LADE) selbst im zivilgesellschaftlichen und s¨akularen Aktivismus verortet wird, u ¨bernahm die Initiative zur Streichung der Konfession und best¨atigte sie im Februar 2009 mit einem Memorandum. Damit wurde die Legalit¨at der Konfessionsstreichung formal kodifiziert und durch einen Verwaltungsakt abgesichert. Das Memorandum stellt keine Gesetzes¨anderung dar, sondern eine Kl¨arung der bestehenden Rechtslage, verbunden mit der Aufforderung an die zust¨andigen Beamten, die Konfessionsangaben von B¨ urgern aus dem Zivilregister zu streichen, wenn diese es w¨ unschten (vgl. Kawzally 22.02.2009). Eine formale Regelung, wie die Konfessionsstreichung vorzunehmen ist, existiert allerdings bis dato nicht. Die Initiative von 2013 argumentierte ebenfalls mit Verweis auf Erlass L.R. 60. Im Rahmen der Initiative kam es erstmals im libanesischen Staatsgebiet zu einer zivilen Eheschließung, also einer Eheschließung unter Mitwirkung staatlicher Institutionen und außerhalb der religi¨osen Rechtssysteme der konfessionellen Gemeinschaften. Auch hier umfassten die Vorbereitungen eine Studie von Talal Husseini und Kooperation mit dem Civil Society Movement, in dessen R¨aumen Vorbereitungstreffen und Informationstreffen f¨ ur interessierte Hochzeitspaare stattfanden. Analog zur Initiative 2009 wurde ein Pr¨azedenzfall geschaffen: Ein Paar ließ zun¨achst die Konfessionen beider Partner aus den Eintr¨agen im Zivilregister streichen und unterzeichnete danach einen Ehevertrag. Der Unterzeichnung gingen mehrere formale Schritte voraus, vor allem zur Bezeugung der Ehef¨ahigkeit, wobei diese Schritte und die Ausgestaltung des Ehevertrags aus bestehenden Gesetzen abgeleitet wurden (vgl. Al-Husseini 18.01.2013; Majed 03.02.1013). Nach der Eheschließung gingen Talal Husseini, das Ehepaar und weitere an der Initiative beteiligte Akteure an die ¨ Offentlichkeit, worauf intensive Medienberichterstattung folgte und es zu einer heftigen Debatte um die tats¨achliche Legalit¨at des Vorgangs kam. In der Folge wurde auch dieser Pr¨azedenzfall durch das Justizministerium und das Innenministerium gepr¨ uft und in

7.2 Exkurs: Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister 2009 und Zivilehe 2013

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beiden Ministerien als rechtm¨aßig eingestuft und somit in den Augen der ¨offentlichen Verwaltung anerkannt (El-Hage 18.07.2013; Elali 06.04.2013; s. auch Sengebusch 26.09.2013). Auch in diesem Fall wurde allerdings keine formale Regelung f¨ ur zuk¨ unftige zivile Ehen geschaffen. Obwohl die Ergebnisse der Initiativen von Talal Husseini zwei Kernforderungen des antikonfessionellen Aktivismus entsprachen – Anerkennung der libanesischen B¨ urger durch den Staat ohne Ansehen der Konfession und Anerkennung ziviler Eheschließung im Libanon – sind sie unter antikonfessionellen Aktivisten umstritten. Ein kontroverser Punkt betrifft die geringe Reichweite der Aktionen. So wurden zwar seit 2013 einige weitere zivile Ehen im Libanon geschlossen, aber nur in geringer Zahl. Konfessionsstreichungen wurden seit 2009 sch¨atzungsweise von einigen hundert” Libanesen ” vorgenommen (Experteninterview), aber Aktivisten beschrieben den Schritt im Interview als schwierig und kompliziert (Experteninterview). Nach Einsch¨atzung einer interviewten Aktivistin h¨angt diese geringe Resonanz zudem damit zusammen, dass die begleitende ¨offentliche Kampagne zu begrenzt gewesen sei (Experteninterview). Diese Einsch¨atzung ist verbunden mit weiteren Kontroversen, die sich sowohl auf die Ebenen der Akteure als auch auf die Ebene der Aktionen beziehen. Sie betreffen die N¨ahe von Talal Husseini und dem Markaz Madan¯ı zum formal-politischen System und ihrer Distanz zu den Akteuren und Repertoires der Zivilgesellschaft. Nachdem die Aktivisten um al-Markaz al-Madan¯ı 2009 und 2013 die jeweiligen Pr¨azedenzf¨alle geschaffen und diese ¨offentlich bekannt gemacht hatten, wurden in beiden F¨allen in der Folge Demonstrationen veranstaltet, bei denen Aktivisten ihre Unterst¨ utzung f¨ ur die Initiativen artikulierten, aber diese ¨offentlichen Aktionen waren kaum mit den Akteuren der Initiative koordiniert (vgl. Elali 14.04.2009; Nash 04.02.2013). Eine Juristin, die sowohl mit dem Markaz Madan¯ı als auch mit anderen s¨akularen Akteuren kooperiert, beschrieb im Interview diese Diskrepanz: He [Talal Husseini] has his strategy. Talal works in a very different way than other NGOs. [...] He had a very specific, particular strategy how to do the work which had nothing to do with [...] how usually NGOs lead campaigns. (Experteninterview) So war die Initiative zur Konfessionsstreichung nicht getragen von einer breiten Masse zivilgesellschaftlicher Unterst¨ utzer, sondern von wenigen Mitgliedern der libanesischen Elite. Sie arbeiteten dabei bewusst mit ihrer prominenten Rolle und mit den ihnen als Vertretern der Elite zur Verf¨ ugung stehenden spezifischen Repertoires, wie einer der beteiligten Intellektuellen im Interview erl¨auterte: Je suis ´ecrivain [...], je fais mon devoir comme intellectuel. Je m’implique beaucoup. Et j’ai fait beaucoup de travail avec d’autres ´elites pour travailler pour la citoyennet´e au Liban. Avec Hussein et Talal Husseini. [...] Nous [l’]avons fait ensemble, mais pour lui c’´etait l’id´ee, c’est lui qui avait formul´e le fait. (Experteninterview) Auch ein weiterer Aktivist des Markaz Madan¯ı erl¨auterte im Interview die Strategie, die auf gezielter Kooperation innerhalb der Elite aufbaute. Er legte dar, wie die in der Initiative zur Konfessionsstreichung verfolgte Strategie von selbstbewusstem Umgang mit der eigenen N¨ahe zur formalen Politik gepr¨agt ist. So nutzte er zum einen die Schw¨ache des politischen Systems zur Zeit der Regierungskrise 2006-2008 aus:

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Der erste Schritt ist, die Verfassung gegen die Administration arbeiten zu lassen. [. . . ] Die Administration ist zur Zeit am zusammenbrechen, darum m¨ ussen wir ausnutzen, dass sie schwach ist, und wir tun etwas in ihrem Inne¨ ren. (Experteninterview, im Original arabisch, meine Ubersetzung) Zum anderen wurden pers¨onlichen Kontakte zu Ministern genutzt: Die Idee ist, dass es in der bestehenden Herrschaft Gesetzesl¨ ucken gibt. Wir m¨ ussen mit diesen L¨ ucken arbeiten und etwas machen. Und wir haben etwas auf schlaue Weise gemacht. Nicht auf eine Weise, als w¨aren wir verzweifelt. [. . . ] Der Plan war die Verwendung unserer politischen Verbindungen in die Admi¨ nistration. (Experteninterview, im Original arabisch, meine Ubersetzung) Talal Husseini betonte, dass die Initiativen sich innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens abspielen, und lehnte es ab, sie zu politisieren” (Elali 14.04.2009). Die Initiati” ven zielten also nicht auf Systemver¨anderung. Einige interviewte Aktivisten der Protestwelle, die an den Initiativen des Markaz Madan¯ı nicht beteiligt waren, kritisierten diese Zielsetzung: When the ULDY started their campaign about the right to erase your sect [. . . ], many said: It is something big.” No, it is not big. It is something good, ” but it is not going to turn down the sectarian system. (Experteninterview) But when Ziad Baroud did this law, there should have been more laws after it. But they did not allow it. [...] It is like a needle of morphin to calm us down. 91 ¨ (Experteninterview, kursiv: im Original arabisch, meine Ubersetzung) Obwohl die staatlichen Best¨atigungen der Legalit¨at der beiden Pr¨azedenzf¨alle außergew¨ohnlich konkrete Ergebnisse im Sinne antikonfessioneller Forderungen sind, sehen viele Aktivisten sie also kritisch. Dies erscheint nur auf den ersten Blick paradox, denn die Einsch¨atzungen der Aktivisten, welche Themen, Organisationsweisen und Aktionsformen ¨ zielf¨ uhrend und legitim sind, h¨angt von ihren jeweiligen Uberzeugungen, Zielen und Logiken ab. 7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen Welche Aktionsformen ein Bewegungsakteur verwendet, wird, wie oben erl¨autert, weitgehend durch bestehende Repertoires bestimmt. Zudem werden, wie das folgende Kapitel zeigen wird, die Aktionsformen auch dadurch beeinflusst, wie die Akteure die Ziele ihrer Aktionen definieren. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl fr¨ uhere Erfahrungen, Konventionen und interne Regelungen als auch die Zieldefinition die Wahl der Aktionsform beeinflussen, dass in der Erkl¨arung von Aktionsformen der Repertoire-Ansatz und der Ziel-Ansatz also komplement¨ar sind (s. Abschnitt 3.3.2). 91

Die beiden Zitate zeigen beispielhaft, dass die Initiative zur Konfessionsstreichung in der offentlichen Wahrnehmung auch unter antikonfessionellen Aktivisten h¨aufig mit ULDY und mit ¨ ¨ Innenminister Ziad Baroud assoziiert wird. Der Grund hierf¨ ur ist, dass die Offentlichkeitsarbeit der begleitenden Kampagne zur Initiative in weiten Teilen von ULDY geleistet wurde, und dass Ziad Baroud als Innenminister der Politiker war, der das entsprechende Memorandum herausgab. Die Rolle von Talal Husseini, dem Markaz Madan¯ı und den weiteren beteiligten Intellektuellen ist hingegen vor allem den sehr etablierten und gut informierten Aktivisten bewusst.

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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Die Annahme, dass Formen und Ziele von Protesten eng miteinander verbunden sind, wird sowohl durch die Theorie als auch durch die Empirie dieser Arbeit gest¨ utzt. So beruhen einige in der theoretischen Literatur entwickelten Typologien von Aktionsformen auf Variablen, die sich auf die Ebene der Forderungen beziehen, etwa in der Definition von Bewegungstypen als strategieorientiert” versus identit¨atsorientiert” oder instrumentell” ” ” ” versus expressiv” (J. L. Cohen 1985; Offe 1985: 829f. s. auch Taylor und Van Dyke 2004: ” 266f.). Dabei wird angenommen, dass die Ausrichtung des Aktivismus auf ein bestimmtes Ziel, also etwa auf eine strategische oder eine identit¨atsbezogene Forderung, sich in der Wahl der Aktionsform spiegelt. So wird die Wahl einer Aktionsform, innerhalb der durch die Verf¨ ugbarkeit von Repertoires und von Ressourcen bestehenden Beschr¨ankungen, auch durch das verfolgte Protestziel bestimmt: How and why is one form of protest chosen ” rather than another? A first answer can be sought in the complexity and multiplicity of the objectives protest is meant to achieve” (Della Porta und Diani 2006: 178). Auch Taylor und Van Dyke (2004: 264) formulieren eine vergleichbare Annahme: [C]ertain tac” tical repertoires might be better suited to one type of outcome rather than the other” und Meier (2015: 187) stellt mit Blick auf die antikonfessionelle Protestwelle im Libanon fest: Means to mobilize refer to a vision of the world”. In Interviews mit Aktivisten ” der antikonfessionellen Protestwelle best¨atigt sich diese Annahme der Verbundenheit von Aktionsformen und Zielen92 , wenn diese in einem Atemzug genannt werden. Beispielhaft ¨ seien hier zwei kritische Außerungen erfahrener Aktivisten u ¨ber La¨ıque Pride zitiert: I belong to them, unfortunately I want to say. Sometimes I feel I belong more to the sectarian audience rather than to the secular audience. Because they deal with more practical issues, more day-to-day issues, than these people who are like, just drumming, and chatting, and singing, but nowhere in the whole march – this one and the one before – can you hear concrete things about what they want. (Experteninterview) Der interviewte Aktivist konzipierte in diesem Zitat bestimmte Aktionsformen ( trom” meln, plaudern und singen”) als Gegensatz bestimmter Forderungen ( praktische, all” t¨agliche Themen” bzw. konkreten Dinge, was sie wollen”). Diese Verkn¨ upfung zwischen ” der Aktionsebene und der Zielebene spiegelt sich in a¨hnlicher Weise in einem weiteren Interviewzitat: There are some people who have a problem with the La¨ıque Pride and also accuse it of [being] gayish, because the problem with La¨ıque Pride is, it is not really demanding anything. It is not even a demonstration. (Experteninterview) Auch in diesem Zitat wird eine Aussage u ¨ber die Aktionsform ( not even a demonstra” tion”) mit einer Aussage u ¨ber die Protestziele ( it is not really demanding anything”) ” verkn¨ upft, indem der Interviewpartner berichtet, dass beide Ebenen unter Aktivisten Befremden verursacht h¨atten. Die Ausgestaltung von Repertoires wird auch durch weitere Faktoren beeinflusst (s. 3.1.4), so f¨ uhren Taylor und Van Dyke (2004) eine Reihe m¨oglicher auf Repertoires wirkender Faktoren auf, worunter nur der Bereich der Rahmung (s. auch 3.1.2; 6.3.2) die 92

Bei der Diskussion von Protestaktionen und Protestzielen in der theoretischen Literatur wird beispielsweise von Kriesi u. a. (2003: 38) die Terminologie Mittel” (means) und Ziel” (ends) ” ” verwendet.

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Frage nach Zusammenh¨angen zwischen Zielen und Aktionsformen direkt ber¨ uhrt. Die Entscheidung, in diesem Kapitel prim¨ar den Aspekt der Ziele zu diskutieren, liegt in Eigenheiten des untersuchten Falls begr¨ undet, denn die Diskussion von Zielen, Erfolgen und Effektivit¨at insbesondere unkonventioneller Aktionen in der Protestwelle wies ein besonders hohes Maß an Kontroversit¨at auf. Diese Kontroversit¨at soll in den folgenden Abs¨atzen dargelegt werden, bevor die einzelnen Zielebenen der antikonfessionellen Aktionen analysiert werden. Kontroverse Punkte bez¨ uglich der Ziele verschiedener Akteure der antikonfessionellen Protestwelle bezogen sich insbesondere auf die Konkretheit und die realistische Umsetzbarkeit der Ziele. Die in den oben zitierten Interviewausschnitten belegten Artikulationen des Befremdens u ¨ber bestimmte Protestereignisse der Welle bezogen sich h¨aufig auf die Konkretheit der Ziele. Die Kritik von Aktivisten und Beobachtern richtete sich nicht gegen ein bestimmtes, thematisch definiertes Ziel, sondern die interviewten Aktivisten konstatierten, dass ein solches definiertes Ziel nicht erkennbar w¨are. So lauteten Vorw¨ urfe einiger etablierter Aktivisten an andere Akteure der Protestwelle, dass sie nicht wissen, was sie wollen” und ” keinen klaren Aktionsplan” sowie unrealistische Ziele” verfolgten (Sikimic 21.02.2011; ” ” zitiert nach Association pour un Liban La¨ıque 2011). Auch in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı wurde eine Konkretisierung von Forderungen zun¨achst vermieden, so dass die Formulierung von Zielen erst in der Transformationsphase der Protestwelle stattfanden: c

They [new participants in organizational meetings] were coming with ideas which were not very much appreciated by the original callers. For instance, new people would be like: We don’t want civil marriage, we only want non” sectarian elections.” [...] So for us, it was like: Oh, wait a minute, they are ” from the Islamists.” [...] Another [thing], confessional leaders, like Nabih Birri and Jumblat and others, started supporting us on the media. And some of their followers, you saw them coming to our meetings. So we had to be more firm about what do we want and how do we want it. [. . . ] We started to put like main lines and it became almost impossible to find a point where everyone agrees. If we had done it before, before the first or at least before the second demonstration [...], it would have been much easier. (Experteninterview, kursiv: ¨ im Original arabisch, meine Ubersetzung) Das Fehlen konkreter Forderungen w¨ahrend der Expansionsphase hatte in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı insofern programmatische Qualit¨at, als Aktivisten damit eine prinzipielle Offenheit f¨ ur vielerlei Themen und Akteure erhalten wollten (s. 6.2.3). Die Konkretisierung der Forderungen in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı erfolgte erst als Reaktion auf die Versuche der Systemparteien, sich an der Koalition zu beteiligen. Im bewegungsexternen Bereich hingegen f¨ uhrte das Fehlen von konkreten Forderungen in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı durchaus zu problematischen Situationen, insbesondere in Gespr¨achen zwischen Aktivisten und Medienvertretern. So konnten Aktivisten, die in Interviews mit libanesischen Massenmedien als Repr¨asentanten der Koalition auftraten, die Frage, welche Alternative zum System sie anstrebten, nicht beantworten (Experteninterview), bzw. nur darauf verweisen, dass die Ziele von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht formuliert waren (Experteninterview). Es wird deutlich, dass der Mangel an konkreten Forderungen ein h¨aufiges Thema von Kontroversen um Ziele der Protestwelle war. Damit verbunden bezogen weitere Kontroversen sich auf die Frage, inwieweit die von bestimmten Akteuren innerhalb der Protestwelle c

c

c

c

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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genannten Ziele als realistisch einzusch¨atzen seien. Dies betraf etwa die in der Protestwelle prominenten Forderungen nach der Einf¨ uhrung der Zivilehe und dem Sturz des ” Systems”. So zeigt sich die Kontroverse in Erkl¨arungen verschiedener interviewter Aktivisten zu ihren Haltungen in der Frage, ob sie die obligatorische oder die fakultative Zivilehe fordern: A civil [society] activist always asks for what he wants, accepts the little, but asks for more. [...] A woman came to the tent [...] and asked me: Why ” do you ask for the law to be optional?” I said: Because maybe it will pass if ” it is optional. It is not what I want.” [...] Later, maybe, it will be obligatory.” (Experteninterview) They said they want optional civil laws. We say: No, there should be unified ” civil laws, for everyone. And the option should be the religion, not the other way round.” (Experteninterview) Beide zitierte Aktivisten forderten die Einf¨ uhrung eines Gesetzes f¨ ur die Zivilehe, aber w¨ahrend der zuerst zitierte Aktivist eine Version unterst¨ utzte, die er zwar nicht f¨ ur w¨ unschenswert, aber f¨ ur realistisch hielt, wies der zweite zitierte Aktivist diese Argumentation zur¨ uck und fordere eine radikalere Version. Der zuerst zitierte Aktivist argumentierte zudem in der ¨ahnlichen Debatte um die Forderung nach dem Sturz des Systems” ” ebenfalls mit der Wahrscheinlichkeit der Umsetzbarkeit von Forderungen: [Some said:] This is our hope, we want to change everything”, these 5,000 ” persons. I told them: Please, you can change the law with 5,000 persons, but ” you can not change the system. If you had 10,000 persons, go for one law [...], and then move to the other.” (Experteninterview) Die in diesem Zitat repr¨asentierte Strategie der NGO CHAML, auf der Ebene von Gesetzes¨anderungen Schritt f¨ ur Schritt vorzugehen, wurde von anderen an der Protestwelle beteiligten Aktivisten abgelehnt, welche die radikalere, aber weniger konkrete und weniger realistische Forderung nach dem Sturz des konfessionalistischen Systems” unterst¨ utzten ” (vgl. zu dieser Kontroverse auch 7.2). Neben den Kontroversen u ¨ber die Konkretheit und die realistische Umsetzbarkeit der Ziele wurde auch diskutiert, inwieweit die Ziele erfolgreich erreicht wurden. Einige Aktivisten ¨außerten in der Kontraktionsphase der Protestwelle explizit die Einsch¨atzung, dass die Bewegung ihre Ziele nicht erreicht h¨atte. So ist in der Literatur vom Scheitern” ” der Protestwelle die Rede (Idriss 2011a; Al Salim 06.12.2011; s. 6.3), auch nannten einige Aktivisten ihre Desillusionierung u ¨ber die M¨oglichkeit des Erreichens antikonfessioneller Ziele als Grund, weshalb sie dem dritten La¨ıque Pride im Mai 2012 fernblieben. Auch in wissenschaftlichen Artikeln wird ein Scheitern der Protestwelle konstatiert und nach den Ursachen dieses Scheiterns gefragt. So stellt Mikdashi (2013: 273) fest, Lebanon remai” ned, surprisingly, a status quo in a revolutionary Arab world” und Fakhoury (2011: 1) fragt: Why has the 2011 Arab Spring euphoria not spread to Beirut?” ” Die Erfolge sozialer Bewegungen sind allerdings schwer messbar. Wie Charles Tilly (2008: 28) anmerkt, sind Fragen nach Ergebnissen und Effektivit¨at” problematisch: ” Without evidence on outcomes we can rarely judge effectiveness, but reports of contentious episodes often stop as the participants disperse. It usually takes

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

more work to determine how authorities, competitors, spectators, and objects of claims responded, and an even greater effort to discern the impact of an episode on the general public. Thin documentation of outcomes, in its turn, renders judgments of effectiveness risky. It has never been easy to trace the effectiveness of contention, especially when the presumed effects lie outside the action itself, concern multiple actors, and occur incrementally.” (Tilly 2008: 28) Selbst wenn es nach Ende der Protestwelle zu Reformen im Sinne der von Aktivisten verfolgten Ziele kommt, sind kausale Verbindungen zu den Protesten schwierig nachzuweisen. So entsprach beispielsweise die in 7.2 er¨orterte staatliche Anerkennungen der im Libanon geschlossenen Zivilehe einem Ziel der Protestwelle, aber inwiefern die Proteste als Grund f¨ ur die Anerkennungen gesehen werden k¨onnen, ist nicht zweifelsfrei zuzuordnen und daher fraglich. Die Bewertung von Protesten anhand der erreichten Ziele ist also in mehrfacher Hinsicht schwierig, sowohl auf Grund der teilweisen Unkonkretheit der Ziele, als auch auf Grund der methodischen Probleme, Vorg¨ange in bewegungsexternen Bereichen außerhalb der ” Aktion selbst” (Tilly 2008: 28) dem Einfluss der Bewegung belastbar zuzuordnen. Diese Schwierigkeit in der Einsch¨atzung der Effektivit¨at von Protesten ist Aktivisten durchaus bewusst, so dass eine Organisatorin von La¨ıque Pride, als sie von einer Journalistin nach den Ergebnissen ihrer Aktionen gefragt wurde, in ihrer Antwort auf die Existenz unterschiedlicher Ebenen verwies, auf denen m¨oglicherweise Effekte auftreten k¨onnen: [NOW Lebanon: What has the movement been able to achieve till now?”] ” Yalda Younes: It’s too early to measure achievements. At this level, it was able to gather a huge number of participants without being called on by a political leader. It gathered many organizations under one umbrella. It made citizens aware that they were responsible for changing their lives. It inspired some other similar movements, and it raised awareness on the definition of citizenship, on our rights and duties. Through our campaigns, people have understood that we are defending secularism in the name of equality and pluralism to celebrate our differences. (Y. Younes und Elali 04.05.2012) Die interviewte Organisatorin von La¨ıque Pride weist einerseits die Frage zur¨ uck, mit dem Hinweis, es sei zu fr¨ uh, um Erfolge zu messen”. Dennoch nennt sie zwei Arten von ” Erfolgen, zum einen die bewegungsinternen Erfolge der Mobilisierung und Kooperation, zum anderen bewegungsexterne Erfolge auf Ebene der Bewusstseinsschaffung, also der Etablierung einer Rahmung diverser Missst¨ande als konfessionalistisch bedingt. Die Diskussion von Zielen und Erfolgen eine Protestwelle bietet einen breiten Interpretationsspielraum. Zus¨atzlich zu den diskutierten Schwierigkeiten in der Bewertung von Protestergebnissen ist zu beachten, dass die von Tilly diskutierte Frage nach der Effektivit¨at von Protesten von vielen Akteuren selbst als nebens¨achlich erachtet wird. Wie Gundelach (1989: 427) illustriert hat, weisen Aktivisten zuweilen die Frage nach den tats¨achlich erreichten Zielen von Protesten als irrelevant zur¨ uck: Effektivit¨at sei laut diesen Aktivisten relevant f¨ ur Unternehmen, nicht f¨ ur Bewegungen” (Gundelach 1989: 427, s. 3.1.4). ” Diskussionen um Erfolg oder Misserfolg von Protesten k¨onnen folglich nicht anhand von messbaren bewegungsexternen Transformationen entschieden werden. Auch bewegungsinterne Ergebnisse k¨onnen unter Umst¨anden als Erfolg gewertet werden. Die Beurteilung von Protesten als erfolgreich oder erfolglos beruht somit auf subjektiven Einsch¨atzungen.

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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Das entscheidende Kriterium f¨ ur die Frage nach Erfolg liegt dabei in dem Vergleich zwischen Ergebnissen und Zielen, es basiert also auf den von den Aktivisten verfolgten Zielen bzw. den von ihnen erkl¨arten Erfolgen. Davon ausgehend sind auch die deutlichen Unterschiede in der Einsch¨atzung der Erfolge der antikonfessionellen Protestwelle erkl¨arbar, denn sie beruhen auch auf dem unterschiedlichen Verst¨andnis der Ziele. Die Ziele der Protestwelle sollen in den folgenden Abschnitten analysiert werden. Dabei ist bei der Analyse der Protestziele zu beachten, dass der Aktivismus der Protestwelle keinem zentralisierten Programm und somit keinen ausformulierten, f¨ ur die ganze Protestwelle einheitlich g¨ ultigen konkreten Reformzielen folgte. Wenn die verschiedenen Akteure konkrete Ziele verfolgten, so waren diese vielmehr vielf¨altig und nicht zentral abgestimmt. Diese Vielfalt der Protestziele betonten Aktivisten in Abgrenzung von der s¨akularen Parteipolitik der Vorkriegszeit: [Activism has] completely changed. Today you are talking about small groups, very diverse small groups working alone, you have sometimes small campaigns. You don’t have one big centralized program run by huge parties like the SSNP and the Communist Party in the 60s and 70s. [...] Even in the NGOs, you have different agendas, some of them are leftist NGOs, some are centrist NGOs. [...] It is extremely diverse, it is completely different. (Experteninterview) Die in der Protestwelle verfolgten Ziele sind vielf¨altig, beziehen sich auf mehrere Ebenen und sind in komplexer Weise miteinander verbunden. Dabei kann eine Protestaktion ¨ durchaus auf mehrere Ziele ausgerichtet sein, so dass die drei in den Uberschriften der Abschnitte genannten Protestziele lediglich Schwerpunkte setzen sollen, welche die Analyse strukturieren. Die Protestziele und ihre Einfl¨ usse auf die Protestformen werden jeweils unter R¨ uckgriff auf mehrere theoretische Konzepte analysiert. Die Grundlage der folgenden Analyse von Zielen und Formen der Protestwelle beruht dabei einerseits auf den oben herausgearbeiteten Kontroversen, die sich unter den Akteuren und Beobachtern der Protestwelle in Bezug auf die Aktionsformen ergaben, sowie auf deren Aussagen u ¨ber erkl¨arte Ziele und Erfolge der Proteste, andererseits auf theoretisch informierten Typologien der Ziele und Logiken (s. Abschnitte 3.1.4, 3.3.2). Es soll untersucht werden, wie verschiedene Protestziele und Protestlogiken die Wahl der Aktionsformen beeinflussen. Damit verbunden wird auch diskutiert, welche politischen Wirkungen die Akteure den verschiedenen Aktionsformen zuschreiben. Zun¨achst wird in 7.3.1 diskutiert, inwieweit das erkl¨arte Ziel der S¨akularisierung bzw. der Entkonfessionalisierung die Proteste pr¨agte, wobei auch auf das weitere erkl¨arte Ziel der Staatsb¨ urgerschaft eingegangen wird. Zur Analyse der unterschiedlichen Ebenen, auf die sich die Ziele der S¨akularisierung” und der Staatsb¨ urgerschaft” beziehen k¨onnen, ” ” wird zur¨ uckgegriffen auf theoretische Ans¨atze zur Kategorisierungen von Protestzielen (vgl. Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 278f. s. auch Della Porta und Diani 2006: 79) und zur Entgrenzung von Politik im Sinne der Entwicklung neuer Protestthemen und -ziele (Hitzler und Honer 1994: 449; U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 16; vgl. auch Celikates und Jaeggi 2006). Nach der Diskussion dieser expliziten politischen Ziele werden Kategorien von Zielen betrachtet, die in den Slogans der Proteste nicht genannt wurden, aber sowohl aus Interviews als auch aus theoretisch informierten Analysen von Protestpraktiken heraus erkennbar sind. Dies ist zun¨achst das Ziel der ˇ zek 2009b), also der Anerkennung als politisches Subjektivierung” (Ranci`ere 2002; Ziˇ ”

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Subjekt durch die formal-staatlichen Institutionen (7.3.2). Dabei st¨ utzt sich die Analyse ˇ zek 2009b; Ranci`ere insbesondere auf Theorien der politischen Differenz” (Bedorf 2010; Ziˇ ” 2002; Celikates 2010a,b). Schließlich wird das Protestziel der Mobilisierung diskutiert, also das Ziel, eine große Anzahl an Aktivisten zu rekrutieren und zu halten (7.3.3). Dabei wird unterschieden zwischen der bewegungsinternen und der bewegungsexternen Ebene (Della Porta und Diani 2006; Tilly 2008) und die strategische Auswahl von Aktionsformen (Della Porta und Diani 2006; Rochon 1998) wird diskutiert. 7.3.1 S¨akularisierung und Staatsb¨ urgerschaft als politische Ziele der Protestwelle Das zentrale erkl¨arte Ziel der Protestwelle war S¨akularisierung, bzw. das Ende des Konfessionalismus93 . Die Zentralit¨at des Ziels wird auch darin deutlich, dass es als namensgebendes Element der Protestwelle pr¨asent war. So ist es im Namen des gr¨oßten Akteurs der Protestwelle, der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, enthalten, und sowohl Interviewpartner f¨ ur diese Arbeit als auch Beobachter und Journalisten verwendeten zur Bezeichnung der Protestereignisse 2010-2012 die Begriffe s¨akulare” oder antikonfessionelle ” ” Bewegung” (z.B. Abbas und Yaakoub 2011; Lebanonwire 2011). Diese Nennung eines zentralen Ziels durch die Aktivisten steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch zu der oben in 7.3 herausgearbeiteten geringen Pr¨asenz konkreter Reformziele: In der Protestwelle erf¨ ullten die unspezifische Forderung nach S¨akularisierung” ” bzw. die unspezifische Kritik am Konfessionalismus” in ihrer Vagheit die Funktion eines ” Masterrahmens. Die konkrete Ausgestaltung, was einzelne Protestakteure unter diesen Begriffen verstanden, war dagegen divers, so dass die Nennung des Ziels S¨akularismus” ” durch verschiedene Akteure nicht unbedingt bedeutet, dass diese Akteure einheitliche konkrete Ziele verfolgten (zur vagen Semantik dieser Begriffe vgl. 2.1, 5.1, 6.3.2). Das Ziel der S¨akularisierung bezieht sich auf mehrere Ebenen: Der Aktivismus zielt sowohl auf politische Ergebnisse” als auch auf kulturelle Ergebnisse” (vgl. Staggenborg ” ” 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 278f. s. auch Della Porta und Diani 2006: 79): Auf der Ebene der kulturellen Ergebnisse forderten die Aktivisten der Protestwelle die Ver¨anderung von Einstellungen und Meinungen, etwa die Akzeptanz von Konfessionslosigkeit und S¨akularit¨at oder die Verbreitung von Bewusstsein u ¨ber kritische Punkte des Konfessionalismus. Bei Aktionen, die auf die Ebene der politischen Ergebnisse zielen, ist hingegen der Staat besonders deutlich als Gegner (object of claim, Tilly 2008) definiert. Dies zeigte sich insofern in den Aktionsformen, als diese sich zum Teil an konkreten Symbolen des Staats orientierten, etwa bei der Wahl des Standorts von Protestzelten vor Regierungsgeb¨auden und dem Einreichen von Gesetzentw¨ urfen ins Parlament. Dabei zielten Forderungen auf der Ebene der politischen Ergebnisse auf formal-politische Reformen, vor allem in den Bereichen Wahlrecht und Personenstandsrecht. Diese Forderungen nach Gesetzes¨anderungen waren von unterschiedlicher Radikalit¨at: Einige Aktivisten forderten bloß einzelne Gesetzesreformen, etwa im Bereich des Personenstandsrechts (Experteninterview, s. 7.1.3), andere erhoben die radikalere Forderung nach einer vollst¨andig neuen Verfassung (Experteninterview). c

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Die Definition dieser Ziele durch die diversen an der Protestwelle beteiligten Akteure war kontrovers, da sowohl S¨ akularit¨ at als auch Konfessionalismus uneindeutige Begriffe sind. Ihre prinzipielle Vieldeutigkeit wurde oben in Kapitel 5.1 ausf¨ uhrlich diskutiert und in 6.3.2 wurden die entsprechenden Debatten unter Aktivisten der Protestwelle analysiert. Daher werden die dort diskutierten Aspekte an dieser Stelle nicht erneut rekapituliert.

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

227

Diese Forderungen nach Gesetzesreformen wurden von einigen Aktivisten der antikonfessionellen Protestwelle als Einfordern ihrer Rechte” gerahmt. Interviewte Aktivisten ” erkl¨arten, dass sie ein einheitliches Rechtssystem f¨ ur alle Libanesen ohne Ansehen der Konfession forderten, in dem s¨akulare, nicht an eine Konfession gebundene Libanesen die gleichen Rechte genießen sollen wie Angeh¨orige einer Konfession (Experteninterviews). Moi, j’ai mes droits. Je suis d´ej`a un citoyen laique. J’ai des droits. Je veux des droits. Je veux un mariage civil. Je veux avoir un quota dans le parlement car je suis laique. [...] Quand vous les confessionels avez des quotas, j’ai besoin d’un quota. (Experteninterview) Der hier zitierte erfahrene Aktivist war auch an den Initiativen f¨ ur die Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister und die Anerkennung der im Libanon geschlossenen Zivilehe beteiligt, deren Argumentation ebenfalls auf dem Einfordern von Rechten basierte94 . Aber auch Aktivisten, welche die Kooperation mit formal-staatlichen Institutionen ablehnten, verwendeten das Konzept der Rechte in ihrer Argumentation. So erkl¨arte eine Organisatorin von La¨ıque Pride im Interview bez¨ uglich ihrer Motivation zur Organisation des Marschs, sie verstehe es als meine Pflicht als Staatsb¨ urgerin, meine Rechte als ” Staatsb¨ urgerin einzufordern” (Experteninterview, s. auch 7.1.2). Die interviewte Aktivistin verkn¨ upfte das Konzept der Rechte mit dem Konzept der Staatsb¨ urgerschaft (engl. citizenshi p, frz. citoyennet´e, ar. muw¯a.tana; vgl. 3.2.1). Dieses wurde neben dem erkl¨arten Ziel der S¨akularisierung von Aktivisten als weiteres Ziel der Protestwelle genannt. Insbesondere die Organisatoren von La¨ıque Pride betonten im Interview, dass sie selbst als ” Staatsb¨ urger” aktiv sind und dass sie Teilnehmer als Staatsb¨ urger” mobilisieren wollen ” (s. auch 7.1.2): Our aim is to all become Lebanese citizens, and once we do, there will no longer be a minority and a majority. La¨ıque Pride is demanding secularism as part of a total reform toward more democracy, more freedoms and more civil rights. (Y. Younes und Elali 04.05.2012) [In Arabic we call it] The Seculars’ March towards Citizenship”. Because ” before having a secular state it is citizenship. [...] We need to act for citizenship. [. . . ] I think that we should talk to everybody. Because if they accept to come under the banner of secularism, and as citizens, and leave their flags of the parties at home, this is a win, a success. [...] But as citizens, as nonaffiliated political activists. (Experteninterview, kursiv: im Original arabisch ¨ bzw. franz¨osisch, meine Ubersetzung) Die zitierten Aktivisten beziehen sich mit ihrem Anspruch an Staatsb¨ urgerschaft” auf ” ¨ die Uberwindung der politischen und sozialen Segmentierung. W¨ahrend Yalda Younes auf die konfessionelle Segmentierung anspielt ( Minderheit und Mehrheit”), fordert der zweite ” zitierte Aktivist, dass alle libanesische Staatsb¨ urger werden” und dass Teilnehmer der ” M¨arsche als nicht-(partei)gebundene Staatsb¨ urger” auftreten, er bezieht sich also auf die ” Segmentierung zwischen den Anh¨angern der unterschiedlichen Parteien und politischen 94

Die Forderungen der genannten Initiativen bezogen sich allerdings nicht auf die Forderung nach der Einf¨ uhrung von Rechten, wie sie etwa in der zitierten Forderung nach der Gleichstellung nichtkonfessioneller Libanesen im Wahlrecht artikuliert wird. Vielmehr forderten die Initiativen die Umsetzung von bereits bestehendem positivem Recht (s. 7.2).

228

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Bl¨ocke. Das in den Zitaten skizzierte Konzept von Staatsb¨ urgerschaft” meint also gleiche, ” aber auch individuelle B¨ urger, die direkt mit dem Staat interagieren, ohne die zwischengeschaltete vermittelnde Instanz einer Konfession oder Partei. Dabei unterschieden die interviewten Aktivisten selbst nicht explizit zwischen konfessioneller und politischer Segmentierung. Hierin spiegelt sich die Bedeutungsfacette des Begriffs Konfessionalismus”, ” wonach dieser von Aktivisten durchaus zuweilen als Synonym f¨ ur die Spaltung zwischen den Lagern 8. M¨arz und 14. M¨arz verwendet wurde (s. 5.1.1). Es wird deutlich, dass Aktivisten der Protestwelle die Protestziele S¨akularismus und Staatsb¨ urgerschaft diskursiv verkn¨ upften. Die Verkn¨ upfung zwischen den Protestzielen ¨ besteht darin, dass das Uberwinden der konfessionellen Grenzen als Voraussetzung f¨ ur Staatsb¨ urgerschaft gesehen wird. Damit sollen die konfessionellen Trennlinien ihre unhinterfragte Stabilit¨at verlieren. Sie sollen gewissermaßen zu Gestaltungsr¨aumen des Politi” schen” (Hitzler und Honer 1994: 449, s. 3.2.2) werden, d.h. es werden Bereiche politisiert, die vormals als nat¨ urlich” oder als privat” galten (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: ” ” 16; vgl. auch Celikates und Jaeggi 2006): So gilt den Aktivisten die Konfession nicht als naturgegebene soziale und politische Einheit, sondern als verhandelbar; und auch die Ehe gilt nicht als reine Privatsache, sondern als m¨oglicher Gegenstand politischer Debatten. Zu den Zielen des antikonfessionellen Aktivismus mit Blick auf das Personenstandsrecht geh¨orte folglich nicht nur dessen Ausgestaltung, sondern, dem vorgeschaltet, auch die Politisierung des Themas. So erkl¨art ein erfahrener Aktivist, wie er das Schaffen eines Bewusstseins f¨ ur die Problematik als wichtigen Teil seines Aktivismus ans¨ahe: Now the ways that we work are different ways. Sometimes there are direct things, like a campaign, for civil marriage, and we take part of it, we play in it, we work on it. Or workshops, about secularism, trying to raise awareness about the idea [...]. But there is always something indirect we do. [...] So, on terms of secularism, our work is divided in two ways. One is, sometimes you try to achieve some demand, or some change, some law, a concrete thing. [...] And sometimes [it is] just about awareness raising. [...] For us, it is work that you have to do at the same time. (Experteninterview) Eine vergleichbare Einsch¨atzung spiegelt sich in einem Interviewzitat einer weiteren erfahrenen Aktivistin: And the third step was to start a campaign, to work on the misconcep” tion about civil marriage, and to start pushing for the [civil marriage] law” (Experteninterview). Die beiden zitierten Aktivisten beschrieben, dass sie einerseits versuchen, etwas ” konkretes zu erreichen”, beispielsweise das Gesetz vorantreiben”, dass sie aber zugleich ” komplement¨ar dazu Bewusstsein schaffen, was es ist” und an falschen Vorstellungen ” ” arbeiten” (Experteninterviews). Sie verwenden mit Blick auf ihr Ziel eines zivilen Personenstandsrechts mehrere Mittel, darunter sowohl der Gesetzentwurf als auch o¨ffentliche Aktionen zur Bewusstseinsschaffung wie Workshops und Publikationen. Die Initiativen des Markaz Madan¯ı (s. 7.2) hingegen erhoben zwar ebenfalls politische Forderungen, aber in ihrer Strategie war die Schaffung eines ¨offentlichen Bewusstseins irrelevant. Die Initiativen zielten ausschließlich auf die formal-politische Anerkennung der Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister und die Anerkennung einer im Libanon geschlossenen Zivilehe und waren bez¨ uglich des Erreichens dieser Ziele erfolgreich. Die Kritik anderer Aktivisten an den Initiativen erkl¨art sich folglich auch aus Diskrepanzen in der Definition der Protestziele: So implizierte die klar abgegrenzte Fokussierung des

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

229

Markaz Madan¯ı auf bestimmte Ziele innerhalb des formal-politischen Systems, dass sie andere Protestziele, wie etwa die Bewusstseinsschaffung oder die Artikulation fundamentaler Kritik am libanesischen politischen System, nicht verfolgten. Aktivisten, welche die letztgenannten Ziele als zentral definierten, konnten daher aus ihrer Protestlogik heraus die Initiativen des Markaz Madan¯ı nur kritisch sehen. Zudem standen die Aktionen der Protestwelle in unterschiedlichen Verh¨altnissen zu dem erkl¨arten Ziel der S¨akularisierung” bzw. der Kritik am Konfessionalismus”. ” ” Die Protestaktionen waren zu einem großen Teil instrumentell, es handelte sich um Mittel, als deren Ziel das Erreichen der genannten Protestziele definiert war (zur Terminologie Mittel” (means) und Ziel” (ends) s. Kriesi u. a. 2003: 38, s. 7.3). So sind etwa die ” ” von den oben zitierten Aktivisten erw¨ahnten Kampagnen Mittel f¨ ur das Ziel der Zivilehe. Ebenso war das Zeigen ausschließlich libanesischer Nationalflaggen bei Demonstrationen und M¨arschen, verbunden mit dem Ausschluss von Parteiflaggen, ein Instrument, das mit ¨ dem politischen Ziel der Uberwindung von Segmentierung eingesetzt wurde. Auch ein interviewter Aktivist und DJ konstatierte w¨ortlich, dass er Musik als Instrument” seines ” Aktivismus verwende: I’ve been using it as a tool, actually, as an eye-opening. There ” are many artists who have excellent lyrics, for change, for social change, and for mental change” (Experteninterview, s. auch 7.1.1). In einigen F¨allen allerdings wurde das Ziel bereits mit der Durchf¨ uhrung der Proteste erreicht, so dass in diesen F¨allen Mittel und Ziel zusammenfielen. So waren etwa in der Protestlogik des Zelts von CHAML beide Aspekte enthalten: Das Zelt war einerseits insofern instrumentell, als das Zelt Teil einer Kampagne war, welche die zivile Reform des Personenstandsrechts forderte. Andererseits fielen in der Protestlogik dieses Zelts Mittel und Ziel zusammen, so dass ein Aktivist im Interview betonte, das Zelt sei in sich ein ” Akt des Ungehorsams” gewesen (Experteninterview, s. 7.1.3). In ¨ahnlicher Weise zeigt sich das vielschichtige Verh¨altnis von Mittel und Ziel in Pro¨ testaktionen am Beispiel eines zentralen Protestziels, namentlich der Uberwindung konfessioneller und politischer Trennlinien. Diese wurde sowohl gefordert als auch praktiziert: Wie Haugbolle (2013) in seinem Artikel u ¨ber den S¨akularismus der libanesischen Linken ¨ darlegt, ist die Uberwindung sozialer Grenzen” f¨ ur viele antikonfessionelle Aktivisten ein ” ¨ zentrales Ziel, wobei sie sich nicht darauf beschr¨anken, die Uberwindung dieser Grenzen einzufordern. Vielmehr versuchen sie auch, dieses Ziel durch Praktiken in ihrem eigenen Leben voranzutreiben, etwa durch das Schaffen u ¨berkonfessioneller R¨aume, etwa Treffpunkte wie Caf´es oder Diskussionsforen wie Zeitungen, und durch das Ignorieren” der ” konfessionellen Trennlinien (Haugbolle 2013: 428). Dabei fallen etwa im Fall der Caf´es Mittel und Ziel zusammen, denn die Trennlinien werden durch das Schaffen und Frequentieren dieser Caf´es f¨ ur den Moment u ¨berwunden. Das symbolische Ignorieren von Trennlinien kann aber auch als Protestform ein Mittel zum Ziel der Entkonfessionalisierung sein: Diese Logik liegt etwa der Wahl der Routen antikonfessioneller Demonstrationen und M¨arsche der Protestwelle zugrunde, welche demonstrativ die gr¨ une Linie” u ¨berquerten (vgl. 7.1.1) ” und somit zwar einerseits selbst die r¨aumliche Segregation symbolisch u ¨berwanden, dabei aber andererseits vor allem f¨ ur das Ziel der Entkonfessionalisierung demonstrierten. 7.3.2 Das Protestziel der Subjektivierung Bei zahlreichen Aktionen der Protestwelle waren allerdings keine konkreten, expliziten Forderungen erkennbar, die u ¨ber abstrakte Bekenntnisse zum S¨akularismus” hinausge”

230

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

gangen w¨aren. Beispielhaft zeigte sich dies, wenn Vertreter der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı Fragen von Journalisten nach dem Programm der Koalition nicht beantworten konnten (s. 7.3). Sie konnten kein positives Ziel nennen, weil sie in einem eher unspezifischen Sinn auf den Sturz des Systems” zielten, ohne dass dieser genauer definiert ” w¨are, und ohne dass sie eine konkrete Alternative vorgeschlagen h¨atten. Wie Meier (2015: 181) analysiert, verstand Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı sich als Vertreterin einer schweigen” den Mehrheit”, welche sich der Politik gegen¨ uber herausfordernd verhielt, und zog aus diesem Selbstverst¨andnis durchaus St¨arke. Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı war nicht darauf ausgerichtet, Reformvorschl¨age oder sonstige konkrete Forderungen zu formulieren, sondern fokussierte auf Artikulation von Kritik am bestehenden System. So riet ein erfahrener Aktivist den weniger erfahrenen Vertretern der Koalition, in Medieninterviews nicht u ¨ber ihre Vision eines s¨akularen oder nichtkonfessionalistischen Libanon zu sprechen, sondern einfach nur den Konfessionalismus anzugreifen” (Experteninterview). ” Auch ein ¨alterer erfahrener Aktivist thematisierte das Fehlen eines konkreten politischen Programms im Interview, als er u ¨ber seine Meinungsverschiedenheiten mit seinem Sohn, einem Organisator des ersten La¨ıque Pride, berichtete: c

c

c

Il m’a dit: Nous, nous sommes la¨ıques. Nous voulons dire seulement que ” nous sommes la¨ıques au Liban.” J’ai dit: Mais quel est votre programme ” politique?” Il m’a dit: Je ne veux pas un programme politique. Moi, je veux ” simplement dire que je suis un la¨ıc au Liban.” Il avait raison. [. . . ] Ce n’est pas le temps de faire des programmes d´etaill´es. C’est le programme de rassembler les la¨ıques. De leur dire que vous ˆetes la¨ıques. (Experteninterview) In diesem Interviewzitat beschreibt der erfahrene Aktivist und anerkannte Intellektuelle, wie er sich von der Protestlogik der Organisatoren von La¨ıque Pride u ¨berzeugen l¨asst, kein detailliertes Programm” zu formulieren, sondern als politisches Programm das Ziel ” zu definieren, die S¨akularen zu versammeln. Ihnen zu sagen, dass ihr s¨akular seid.” Das ” Protestziel besteht demnach in der Sichtbarkeit und der Artikulation der Identit¨at als s¨akulare Libanesen95 . Die Vagheit des Ziel spiegelt sich darin, dass die Organisatoren von La¨ıque Pride ihre gew¨ahlte Aktionsform explizit als Marsch” (arabisch mas¯ıra) be” zeichneten und nicht als Demonstration” (arabisch muz.¯ ahara, s. 7.1.2) und betonten, ” dass nicht konkrete Forderungen, sondern der festliche Charakter der Veranstaltung im Zentrum standen (Experteninterview). Diese Analyse spiegelt sich auch in den Aussagen weiterer erfahrener Aktivisten u ¨ber die Protestwelle: There is a difference in our mentality between a La¨ıque Pride and a demonstration for secularism. At the demonstration we would go: This is my ” right, I want it.” A La¨ıque Pride is: See me, I am here.” Some of the [...] ” activists have a problem with that fact. [...] They want more anger into it. (Experteninterview) Die Leute, die auf die Straße gingen, sind nicht dumm. Sie wissen, dass sie das konfessionalistische System heute nicht st¨ urzen k¨onnen. [...] Sie wissen das. Aber warum gingen sie auf die Straße? Sie gingen auf die Straße, um 95

Die Feststellung, dass La¨ıque Pride kein politisches Programm formulierte, ist insofern zu erg¨anzen, als La¨ıque Pride die formulierten Programmziele kooperierender Akteure u ¨bernahm. So unterst¨ utzte La¨ıque Pride aktuelle Kampagnen verschiedener NGOs, die ihrerseits durchaus konkret formulierte Gesetzes¨ anderungen forderten (vgl. Y. Younes und Elali 04.05.2012).

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

231

ihre Meinung auszudr¨ ucken und zu sagen: Wir sind auch gegen das System.” ” ¨ (Experteninterview, im Original arabisch, meine Ubersetzung) Wenn die mit den Aktionen von La¨ıque Pride und – wie unten zu zeigen sein wird – teilweise auch von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı verfolgten Ziele in Sichtbarkeit und Artikulation bestehen, dann ist das Fehlen eines politischen Programms folgerichtig. Das Protestziel bestand an diesen Stellen weder in konkreten Forderungen noch in Kritik an politischen Details, sondern in einer fundamentaleren Kritik. Wie Heil (2010: 9) in seiner Erl¨auterung ˇ zek treffend formuliert, geht es bei derartiger funder Werke des Philosophen Slavoj Ziˇ damentaler Kritik nicht um ein Nein zu etwas’, sondern um das Nein zu allem”’ (s. ” ’ ’ 3.2.1). Das Nein zu allem” ist eine Reaktion antikonfessioneller Aktivisten darauf, dass ” sie sich in Staat und Gesellschaft des Libanon nicht repr¨asentiert f¨ uhlen. So dr¨ uckte ein Aktivist von La¨ıque Pride seine Desillusionierung u ¨ber den libanesischen Staat aus, der ihm nichts gibt”: Il faut que j’oublie ce mot peut-ˆetre, citoyen’. Je ne suis pas citoyen ” ” ’ ici. [...] L’´etat du Liban actuel ne me donne rien” (Experteninterview, kursiv: im Original ¨ englisch, meine Ubersetzung). Die Feststellung des hier zitierten Aktivisten, man sei hier ” kein Staatsb¨ urger” bezieht sich auf das explizite Ziel der Staatsb¨ urgerschaft” (s. 7.3.1), ” dr¨ uckt diesem gegen¨ uber aber Resignation aus. Derartige Einsch¨atzungen von Aktivisten, durch die formal-politischen Institutionen nicht repr¨asentiert zu werden, beziehen sich auf den staatlichen Konfessionalismus, in dem die Existenz s¨akularer, nicht an eine Konfession gebundener Libanesen nicht vorgesehen ist (s. 5.1.1). Die Institutionen adressieren in einigen Teilbereichen nicht die einzelnen B¨ urger, sondern die konfessionellen Gemeinschaften. Wer es, wie viele antikonfessionelle Aktivisten, verweigert, sich selbst eine prim¨ar konfessionelle Identit¨at zuzuschreiben, ist folglich in diesen Bereichen des formal-politischen ˇ zek, zitiert Systems nicht als politisches Subjekt adressierbar (zur Adressierbarkeit vgl. Ziˇ nach Heil 2010: 67ff. s. 3.2.1). F¨ ur viele Aktivisten, die sich vom Konfessionalismus distanzieren, bildet ihr S¨akularismus die Basis ihrer politischen Identit¨at. Nach ihrer Distanzierung von den Konfessionen entwickeln sie eine politische Identit¨at als Antikonfessionelle. Diese Entwicklung folgt den Schritten der Entstrukturierung” und Restrukturierung” (U. Beck 2008, s. 3.2.3), denn ” ” wer die konfessionalistische Struktur verl¨asst, verbleibt nicht als vereinzeltes Individuum ohne kollektive Zugeh¨origkeit. Er entfernt sich zwar vom sch¨ utzenden, das Dasein ” u ¨berw¨olbenden, kollektiv und individuell verbindlichen Sinn-Dach” (Hitzler und Honer 1994, s. 3.2.3) des Konfessionalismus, begibt sich aber im n¨achsten Schritt unter das restrukturierende Sinn-Dach” das S¨akularismus. Somit sind auch Libanesen, die eine Zu” geh¨origkeit zu den konfessionellen Institutionen ablehnen, keineswegs nur als durch die eigene Ratio geleitete Individuum zu sehen, sondern sind auch in einer politischen Gemeinschaft verortet, n¨amlich der Gemeinschaft der S¨akularen (s. 3.2.3; vgl. Haugbolle 21.03.2012; I. Harik 2003). Diese politische identit¨are Gemeinschaft der s¨akularen Libanesen kann durchaus Analogien zu den konfessionellen Identit¨aten aufweisen und wird deshalb von einigen Aktivisten als s¨akulare Konfession” (secular sect) kritisiert. ” c

These campaigns, including the La¨ıque Pride thing, it’s pretty sectarian, I think. [...] It’s sectarian in the larger sense of the word. Have you been to the last demonstration? You feel that they all belong to either AUB [American University of Beirut], or something similar. [...] Sectarian in the sense that everybody outside the secular sect’ is out, completely out. He or she has no ’ room to enter. (Experteninterview; s. auch Muhanna 20.02.2013, 13.02.2009)

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

¨ Auch diese Außerung deutet an, dass die expressiven Aktionsformen von La¨ıque Pride das Ziel der Zurschaustellung der s¨akularen Identit¨aten reflektieren. In dem zitierten Interviewausschnitt ¨außert ein erfahrener Aktivist hierzu die Einsch¨atzung, die zur Schau gestellte s¨akulare Identit¨at der Organisatoren oder Teilnehmer von La¨ıque Pride sei zum einen ebenso exklusiv wie die von den Aktivisten so sehr kritisierte konfessionalistischen Identit¨aten, und weise zum anderen elit¨are Z¨ uge auf ( sie geh¨oren alle zur AUB, oder ” so ¨ahnlich”). Dies ist insofern treffend, als die Aktivisten, die sich als Angeh¨orige der s¨akularen Konfession” verstehen, sich in der Tat in einem Spannungsfeld zwischen politi” scher Marginalit¨at im Konfessionalismus und sozio¨okonomischer Privilegiertheit bewegen, wie Haugbolle (2013) analysiert: For the Lebanese Left, secularism is such a core concept. And secularism, as we shall see, engenders liminality. I use the term liminality and not marginality, because unlike many other accounts of the Left I do not view their position as excluded from wider society and influence [...]. (Haugbolle 2013: 429) Dennoch konstatierten Aktivisten der Protestwelle, die s¨akularen Libanesen seien politisch unsichtbar: The problems are there, and the need is there, and we just realized that we never moved. [..] We never have an official face to secular Lebanese who are asking for their rights. You don’t see them. These people are hidden. They are very rarely elected, they very rarely say anything. (Experteninterview) Die zitierten Aktivisten beschreiben die s¨akularen Libanesen als versteckt” (Experten” interview) und als keine Staatsb¨ urger” (Experteninterview). Um diese Selbstverortung ” der Aktivisten als außerhalb der staatlichen Institutionen stehend zu verkn¨ upfen mit Erkl¨arungen zu den Zielen und Formen von Protestereignissen, soll im Folgenden auf Theorien der politischen Differenz” und insbesondere der Anteillosigkeit” zur¨ uckgegriffen ” ” werden. Die Aktivisten konzipieren die Gruppe der S¨akularen somit als Anteillose”, al” so als Akteure, die im formal-politischen System nicht vorgesehen sind (Krasmann 2010; ˇ zek 2009b; s. 3.2.1). Unter R¨ Ranci`ere 2002; Ziˇ uckgriff auf Theorien der politischen Differenz (3.2.1, s. auch 3.3) l¨asst sich hier argumentieren, dass Teile der antikonfessionellen Aktivisten sich als ausgeschlossen von der Politik, also dem formal-politischen System, verorten. Sie sind desillusioniert u ¨ber die M¨oglichkeit, durch die formal vorgesehenen Kan¨ale der Politik ihren Zielen n¨aher zu kommen, und handeln daher im Sinn des Politischen, zielen also nicht darauf ab, Regeln nicht anzuwenden, sondern zu ver¨andern (vgl. U. Beck 1986; Bedorf 2010: 19; s. auch Balibar 1993; Celikates 2010a,b). Diese Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass die formal-politischen Institutionen erstarrt und reformunf¨ahig sind, w¨ahrend gesellschaftlicher Wandel sich nur in Lebensbereichen außerhalb der Politik zeigt (vgl. U. Beck 1986: 300ff. s. 3.2.1). F¨ ur die Analyse der Protestziele und Protestlogiken ist dabei weniger relevant, inwieweit die Aktivisten tats¨achlich versteckt” (Experten” interview) waren, denn zentral ist ihr subjektives Selbstverst¨andnis, in dem sie sich als Anteillose außerhalb der libanesischen Politik verorten. Dieses Selbstverst¨andnis erkl¨art, dass einige Protestformen das Ziel der politischen Subjektivierung verfolgten: Proteste, die kein expliziert politisches Ziel formulieren, sind, wie die Philosophen Ranci`ere (2002) und ˇ zek (2009b) zeigen, zuweilen auf Subjektivierung und Sichtbarkeit” (Ziˇ ˇ zek 2009b: 65) Ziˇ ” gerichtet. So zielen die Protestaktionen einiger Akteure der Protestwelle darauf, zun¨achst in ihrer politischen Identit¨at als s¨akulare Libanesen sichtbar zu werden und sich in der

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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Folge als Subjekte an der Politik beteiligen zu k¨onnen. Sie fordern nicht nur konkrete Ver¨anderungen, sondern ihre Forderung betrifft in einem vorgelagerten Schritt auch die Erm¨oglichung von Ver¨anderungen, bzw. die Wiederkehr des Politischen (s. 3.2.2). Die auf dieses Ziel ausgerichteten Aktionsformen sollen nicht nur die s¨akularen Libanesen als eine quantitativ relevante gesellschaftliche Gruppe zeigen, sondern vor allem die Sichtbarkeit der S¨akularen, unabh¨angig von deren Anzahl, f¨ordern. An dieser Stelle folgen die Aktionen also nicht nur der Logik der Zahlen, sondern auch der Logik der Zerst¨orung, wobei die Zerst¨orungslogik in diesem Fall nicht auf physischen Schaden zielt, sondern auf die Unterbrechung von vorgesehenen Abl¨aufen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 171ff.). So besteht etwa eine Wirkung der Schablonen-Graffiti, die w¨ahrend der Protestwelle gespr¨ uht wurden, in der Unterbrechung der vorgesehenen Nutzung des ¨offentlichen Raums. Auch die Protestzelte sollten nicht nur Aufmerksamkeit und Bewusstsein erregen (s. 7.3.1), sondern wurden von den Akteuren als als Akte des zivilen Ungehorsams” ver” standen (Experteninterview; s. 7.3.1) bzw. sollten sowohl Punkte des Dialogs und der ” Sensibilisierung sowie Dornen im Fleisch dieses Systems” darstellen (Facebook 2011c), ¨ im Original arabisch, meine Ubersetzung; s. 7.1.1), indem der ¨offentliche Raum besetzt wurde. Auch die Beteiligung von Clowns an La¨ıque Pride folgte dieser Logik: What is the goal of this [clown walks]? To raise the street art in Lebanon, to make people laugh, to get them out of their routine, to make them feel something really new in this country. (Experteninterview) Inwieweit Aktionsformen wie Zelte, Clown Walks oder die M¨arsche von La¨ıque Pride als politische Artikulation wahrgenommen werden, wird durch das formal-politische System geordnet (vgl. Ranci`ere 2002). In dem Modell von Ranci`ere (2002) nimmt die Politik Unterbrechungen der vorgesehenen Abl¨aufe und Artikulationen von Anteillosen zun¨achst ¨ nur als L¨arm” oder St¨orung” wahr. Ziel der Protestierenden ist, dass ihre Außerungen ” ” nicht mehr als St¨orung”, sondern als politische Artikulation wahrgenommen werden, dass ” sie also zu politischen Subjekten werden. In der antikonfessionellen Protestwelle trat ein Moment der Subjektivierung, in dem die antikonfessionellen Aktivisten als politische Subjekte sichtbar wurden, mit der Expansion der Protestwelle ein. Erst nach der ersten Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı wuchs die mediale Aufmerksamkeit, und Politiker positionierten sich zu den Protesten. So ¨außerte eine interviewte Organisatorin von La¨ıque Pride: The march got media attenti” on. It could grow into something bigger if we stick to our demands and to our credibility“ (Experteninterview). Auch ein Aktivist von CHAML nannte das Ziel der medialen Aufmerksamkeit: c

Let’s get back to the wedding: Why did we do it? Because we wanted the media to cover the cause. And we did it, we succeeded, we not only succeeded, it was a big success. [...] This is what we wanted, that means, we succeeded. (Experteninterview) Die in den Zitaten erw¨ahnten Protestaktionen wurden von den interviewten Aktivisten als erfolgreich eingesch¨atzt, weil sie mediale Aufmerksamkeit generierten. Zudem erhielten sie die Aufmerksamkeit von Passanten, die sich etwa darin zeigte, dass die dritte Veranstaltung von La¨ıque Pride von Passanten kommentiert und fotografiert wurde (s. 7.1.1).

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Dabei ist anzumerken, dass Aktionsformen wie die M¨arsche von La¨ıque Pride und der gespielten Hochzeiten von CHAML, mit denen die vorgesehenen, routinierten Abl¨aufe unterbrochen wurden, nicht kontinuierlich stattfinden, sondern punktuell. Dies stellt einen Kritikpunkt einiger etablierter Aktivisten etwa an La¨ıque Pride dar (Experteninterview, s. 7.1.3). Wenn das Protestziel allerdings nicht in Gesetzesreformen besteht, sondern in Unterbrechung und medialer Aufmerksamkeit, ist fehlende Kontinuit¨at kein strategischer Nachteil: Size, novelty, and militancy are newsworthy. Critical perspectives are not” ” (Rochon 1988: 102; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 181). Folglich galt die mediale Aufmerksamkeit den Organisatoren als Erfolg der hier diskutierten Protestereignisse, unabh¨angig von politischen Ergebnissen. Ein interviewter Aktivist definierte mediale Aufmerksamkeit sogar als zentrales Ziel einer Protestaktion (Experteninterview, s. oben). Aktionsformen wie gespielte Hochzeiten und die M¨arsche von La¨ıque Pride stellen insofern eine Unterbrechung der vorgesehenen Abl¨aufe der Politik dar, als sie sich von den etablierten Aktionsformen unterscheiden und somit Irritation hervorrufen. Die Irritation besteht darin, dass die Veranstaltungen im Unterschied zu konventionellen Demonstrationen weder konkrete Forderungen stellen noch w¨ utend” sind, sondern fr¨ohlich” (Exper” ” teninterview, La¨ıque Pride) bzw. es um Liebe” und Gl¨ uck” geht (Experteninterview, ” ” CHAML). Somit stellten diese Aktionsformen zwar durchaus Unterbrechungen vorgesehener Abl¨aufe dar, waren aber bez¨ uglich ihrer Radikalit¨at nicht vergleichbar mit den ˇ zek (2009b) ihre theoretischen Banlieue-Aufst¨anden, anhand derer Ranci`ere (2002) und Ziˇ ˇ zek (2002: ¨ Uberlegungen entwickeln. Diese Harmlosigkeit der Proteste, die mit dem von Ziˇ 20) formulierten Begriff der risikofreien Feierabendrevolte” (zitiert nach Heil 2010: 93f.) ” gefasst werden kann, war unter Aktivisten der anti-konfessionellen Protestwelle durchaus umstritten, wobei einige Aktivisten radikalere direkte Aktionen forderten (s. 7.1.3). 7.3.3 Das Protestziel der Mobilisierung Ein erkl¨arter Erfolg der Protestwelle betraf die Mobilisierungsergebnisse”, die deutlich ” sichtbarer waren als politische” oder kulturelle Ergebnisse” (zur Unterscheidung dieser ” ” Ergebnisebenen vgl. Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 78, 266f. s. auch Della Porta und Diani 2006: 79; s. 7.1.2). Mobilisierungsergebnisse lassen sich zudem einfacher nachweisen als politische oder kulturelle Ergebnisse, weil sie nicht außerhalb ” der Aktion selbst” (Tilly 2008: 28) verortet sind, sondern direkt in den Aktionen oder Akteuren der Bewegung (s. 7.3). So wertete ein interviewter Aktivist die Mobilisierung neuer Aktivisten explizit als Erfolg: There are more people who believe in this kind of principles, but they are not participating with us because they lost hope [...]. [KS: Why have you not lost hope?] Because I saw that we can change things. Last year, when we organized that huge march, and we saw people coming from their streets... People did not hear of us before, they just saw us in the streets, and they believed that we are right, and they believed that they should be with us, and they started going out of their homes and joining us. (Experteninterview) Der zitierte Aktivist nannte die hohe Zahl von Teilnehmern auch aus vorher in den Protesten wenig pr¨asenten Stadtvierteln als Beleg daf¨ ur, dass die Aktivisten Dinge ¨andern ” ¨ k¨onnen”. Die von ihm konstatierte Anderung” besteht in der Mobilisierung neuer Teil” ¨ nehmer. Es handelt sich folglich nicht um eine Anderung in bewegungsexternen Bereichen

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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wie dem formal-politischen System oder der ¨offentlichen Meinung, sondern um den bewegungsinternen Bereich: Was sich ¨andert, ist die Anzahl der Aktivisten. Hier wird die Wahl der Aktionsform dadurch beeinflusst, dass Mobilisierung als Ziel definiert ist. Dabei hat das Ziel der Mobilisierung nicht nur bewegungsinterne, sondern auch bewegungsexterne Bedeutung. Die bewegungsexterne Relevanz besteht darin, dass die Mobilisierung zahlreicher Teilnehmer es erm¨oglicht, den Gegnern der Bewegung (objects of claim, Tilly 2008) eine große Zahl an Unterst¨ utzern zu pr¨asentieren. Die große Bedeutung von Mobilisierung f¨ ur die Strategien der Protestwelle liegt somit darin begr¨ undet, dass Proteste h¨aufig einer Zahlenlogik” folgen (Della Porta und Diani 2006: ” 170ff. s. 3.1.4). Nach dieser Logik sollen Protestaktionen prim¨ar demonstrieren, dass eine hohe Zahl an Unterst¨ utzern vorhanden ist. Die Zahlenlogik liegt typischerweise der Aktionsform der Demonstration zugrunde, also in der Protestwelle etwa den Veranstaltungen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, auf die der Aktivist in dem oben zitierten Interviewausschnitt sich bezog. Mit dem Ziel der Mobilisierung betraten Organisatoren w¨ahrend dieser Demonstrationen Wohnh¨auser entlang der Route, um die Bewohner zur Teilnahme an der Demonstration zu bewegen (Experteninterview, s. 7.1.1). Auch andere in der Protestwelle pr¨asente Aktionsformen zielten direkt auf Mobilisierung. So mobilisierten die Organisatoren f¨ ur die Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı etwa u ¨ber Flyer, Plakate, Facebook und Blogs. Die zahlreichen w¨ahrend der Expansionsphase eingerichteten Facebook-Seiten, -Gruppen und -Veranstaltungen zielten dabei sowohl auf die Mobilisierung neuer interessierter Teilnehmer als auch auf die Demonstration einer großen Anzahl an Unterst¨ utzern. Auch im Ausland lebende Libanesen wurden dazu mobilisiert, ihre Unterst¨ utzung f¨ ur die Protestwelle zu artikulieren, indem sie auf einschl¨agigen Facebook-Seiten aktiv wurden. Zudem dienten die Protestzelte, insbesondere das Zelt am Innenministerium, als Ausgangspunkt zur Mobilisierung weiterer Teilnehmer an Veranstaltungen der Protestwelle, indem dort im ¨offentlichen Raum kulturelle und politische Veranstaltungen stattfanden und Flugbl¨atter an Passanten verteilt wurden (s. 6.1.3.1). Dabei wurden in der antikonfessionellen Protestwelle nicht nur Teilnehmer, sondern auch Organisatoren aktiv mobilisiert. So waren die Organisationstreffen von Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı offen f¨ ur neue Mitglieder des Organisationsteams (s. Kapitel 6), und auch eine Vertreterin von La¨ıque Pride beschreibt die Etablierung einer starken, festen ” Arbeitsgruppe” als Ziel: Right now our primary objective is to build a strong, solid ” working team to be able to put our dreams into action” (Y. Younes und Elali 04.05.2012). Die starke Mobilisierung von Teilnehmern und Organisatoren war somit mehr als ein beil¨aufiges Ergebnis der Protestwelle. Sie wurde in einem Experteninterview zumindest ex post auch als Ziel bezeichnet: c

c

c

This is basically the aim that we envision in the campaign for the demos. It is a space where you pass through popular areas where people feel safe to demonstrate as independent of both wings of the ruling class. (Experteninterview; vgl. Interviewzitate in 7.1.1) In diesem Interviewzitat wird die Teilnahme von Bewohnern einfacher” (popular ) Stadt” viertel an den Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı betont. Die Mobilisierungsstrategie f¨ ur die Demonstrationen zielte demnach auf die Erh¨ohung der sozialen Inklusivit¨at der Teilnehmerschaft und auf die Minimierung von Risiken der Teilnahme, so dass die Teilnehmer sich sicher f¨ uhlen” sollten. Ein zitierter Aktivist bezeichnete die ” c

236

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

Mobilisierung weiterer Teilnehmer als Ziel der Kampagne f¨ ur die Demonstration”, also ” nicht als Ziel der Demonstration selbst.96 Andere interviewte Aktivisten schrieben der Mobilisierung einen h¨oheren Stellenwert zu und beschrieben sie als Ziel”. So zielte die ” Mobilisierung aus der Perspektive eines anderen Aktivisten nicht nur auf die erfolgreiche Ausgestaltung von Protestereignissen, sondern stellte selbst ein politisches Ziel dar: That is why I am distinguishing between organizational people who really think strategically. They think that we want to build a generation of people who participate everywhere, who are mobilised everywhere, in each place, rather than just doing campaigns to make the yearly contract with the funders. I believe our aim should be at least to make secular people active wherever they are. (Experteninterview) Der Aktivist beschrieb es als anzustrebendes strategisches Ziel, die vorhandenen s¨akularen Libanesen zu politischem Aktivismus zu bewegen. Einen noch h¨oheren Stellenwert schrieb ein weiterer erfahrener Aktivist der Mobilisierung zu, indem er sie, ebenfalls als zentrales Ziel der Protestwelle bezeichnete, aber sie zugleich explizit dem Ziel der politischen Ver¨anderung u ¨berordnete. In dieser Logik stellt Mobilisierung das prim¨are Ziel der Protestwelle dar: Wir wollen nicht und wir k¨onnen nicht das System ver¨andern. [KS: Was ist das Ziel?] Das Ziel ist als erstes das Versammeln der 25.000 Personen, und das ist es, was die Bewegung getan hat. [...] Wenn wir meinen w¨ urden, dass das Ziel der Bewegung der Sturz des konfessionalistischen Systems ist, dann w¨ urden wir sagen, dass sie gescheitert ist. [...] Nein, sie war erfolgreich mit der Versammlung der 25.000. (Experteninterview, im Original arabisch, ¨ meine Ubersetzung) Der hier zitierte Aktivist bezeichnete die Protestwelle als erfolgreich” und erkl¨art die ” Teilnehmerzahl der gr¨oßten Demonstration zum Ziel, das erreicht wurde. Zugleich stellt er allerdings fest, dass keine realistischen Aussichten auf politische Ver¨anderungen bestehen. Die Erkl¨arung von Mobilisierungsergebnissen zum Protestziel ist somit das Ergebnis einer Desillusionierung u ¨ber die Erreichbarkeit von politischen Ergebnissen. Diese Desillusionierung zeigt sich auch in einem Interviewzitat eines Organisators von Clown Walk ” for Laughter”: They [La¨ıque Pride] know they can’t change anything. They [March 8 and March 14] have been in this for like six years. Nothing’s going to change. So let’s have fun. Let’s do something, maybe people think it is going to change. [...] So they think maybe: If people see that, they are like... Make them have ” fun in this country, like, enjoy the life here in Lebanon”. (Experteninterview) In diesem Zitat werden die Ziele von La¨ıque Pride dahingehend interpretiert, dass die Schlussfolgerung aus der Desillusionierung u ¨ber Einflussm¨oglichkeiten auf die Politik laute: Lasst uns Spaß haben.” Diese Strategie der spaßorientierten Aktionsformen spiegelt ” sich etwa in den unernsten, fr¨ohlichen” (Y. Younes und Elali 04.05.2012), positiven” ” ” c

96

Die Demonstrationen von Isq¯ at. an-Niz.¯ am at.-T.¯ a if¯ı und andere Aktionen der Protestwelle verfolgten der von dem interviewten Aktivisten erkl¨ arten Logik zufolge nicht nur das Ziel der Mobilisierung, sondern prim¨ ar das Ziel, grundlegende Kritik am Konfessionalismus zu artikulieren (s. Interviewzitate in 7.3.2).

7.3 Ziele und Logiken antikonfessioneller Aktionsformen

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(Ilcinkas 07.05.2012) M¨arschen – die dezidiert nicht als Demonstration” bezeichnet wur” den – von La¨ıque Pride, aber auch in weiteren Aktionsformen wie etwa den gespielten ” Hochzeiten” von CHAML (s. 7.1.2, 7.1.3). Diese Betonung freudiger Erlebnisse f¨ ur die Teilnehmer bei einer Protestaktion ist aber nicht ausschließlich Ergebnis von Desillusionierung, sondern dient insofern auch weiteren bewegungsinternen Zielen, als es Motivation und Zusammenhalt und somit letztlich wiederum die Mobilisierung f¨ordert. Diese Ziele werden von Organisatoren sozialer Bewegungen bei der Auswahl von Aktionsformen h¨aufig bewusst ber¨ ucksichtigt: [M]ovement strategists are fully aware that at least some of their tactics must widen the pool of activists and develop solidarities’, rather than merely’ ’ ’ having an impact on politicians. (Rochon 1998: 159; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 179) Demnach ber¨ ucksichtigt eine ideale Bewegungsstrategie” auch die Legitimit¨at der Bewe” gung unter m¨oglichen Teilnehmern, Anerkennung f¨ ur bereits beteiligte Aktivisten und die Effekte der Aktionsformen auf das Gruppengef¨ uhl (Rochon 1998: 109, 115; zitiert nach ¨ Della Porta und Diani 2006: 179). Derartige Uberlegungen spiegeln sich deutlich in der Erkl¨arung eines antikonfessionellen Aktivisten: I think we should do something appe” aling. People must think: These are cool guys, this is cool; we want to be like them”’ ’ (Experteninterview). Mit Bezug auf die großen Demonstrationen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı diskutierten Organisatoren im Interview die Frage, inwieweit Teilnehmer nicht nur aus politischen Gr¨ unden, sondern auch aus identit¨aren Gr¨ unden kommen, n¨amlich f¨ ur Facebook-Fotos”: ” For some, it is just fun. They come for facebook photos: Look, I am in a revolution. ” It is a sort of fashion” (Experteninterview). Ein erfahrener Aktivist antwortete auf die Frage nach der Rolle von Facebook-Fotos in der Mobilisierung mit einer strategischen Einsch¨atzung: c

[Fancy Facebook pictures] might be a good reason for some people [to participate], but this does not bring 25,000 people to the streets. [...] But even for that reason, I am ok with it, I am actually fine and I will encourage more people to come to the demo and take pictures of themselves, not because they come to the demo, because this sense of I will be part of something that might ” bring something” tells you of a shift in consciousness. (Experteninterview) Die Teilnahme an Protestereignissen und die Dokumentation dieser Teilnahme auf dem eigenen Facebook-Profil kann ein Instrument zur Best¨atigung der eigenen politischen Identit¨at als s¨akularer Aktivist sein. In dem Fall ist die Teilnahme an einer Protestaktion nicht strategieorientiert” sondern identit¨atsorientiert” (vgl. Taylor und Van Dyke 2004; J. L. ” ” Cohen 1985). Diese Identit¨at als s¨akulare, weder an Konfessionen noch an Systemparteien gebundene, junge und nicht vom B¨ urgerkrieg belastete Aktivisten ist f¨ ur das Selbstbild vieler Aktivisten der Protestwelle bedeutsam (s. 6.3.4, 7.1.2). Dabei ist diese Identit¨at nicht unbedingt nur politisch motiviert, sondern zuweilen auch emotional motiviert, wie Haugbolle (2013) in seiner Ausf¨ uhrung u ¨ber die affektive Politik” der libanesischen Lin” ken darlegt: Affective politics of the Left manifests itself as lifestyle choices, spatial behaviour, marriage partners, clothing, language and other social habits that

238

7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

seek to avoid the set patterns of sectarian exclusiveness. Such identifications are activated in political mobilization and in the formation of new institutions like social movements against sectarianism. (Haugbolle 2013: 429) In der emotionalen Dimension der Mobilisierung f¨ ur die Protestwelle verbinden sich politische Ansichten mit Lebensstilen [...] und anderen Gewohnheiten”. Die von einer er” fahrenen Aktivistin ge¨außerte Kritik an Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die Proteste der Koalition seien gut als Emotion, aber schwach als Strategie” gewesen (Experteninterview) ” spiegelt somit die große Bedeutung, welche einige Aktivisten der Protestwelle dem Ziel der Mobilisierung beimaßen: Die erreichten politische Ergebnisse sind gering, aber die Mobilisierungsergebnisse sind sichtbar, sowohl bez¨ uglich der demonstrierten Anzahl an Unterst¨ utzern als auch bez¨ uglich der Emotion”, mit der Teilnehmer und Organisatoren ” ihre Identit¨at als s¨akulare Aktivisten artikulierten. c

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen Das vorliegende Kapitel untersucht die Ebene der Aktionen (zur Operationalisierung sozialer Bewegungen in die Ebenen Akteure”, Aktionen” und Themen” vgl. Tilly 1978 ” ” ” und Kriesi 1989) und behandelt somit die verschiedenen Aktionsformen, die in der antikonfessionellen Protestwelle 2010-2012 zur Anwendung kamen. Die Analyse wird geleitet durch die in der Einleitung (Kapitel 1.1) entwickelten Fragen, welche Aktionsformen verwendet und wie diese ausgew¨ahlt wurden. Damit verbunden gilt das Interesse zudem den Fragen nach den strukturellen, strategischen und organisatorischen Dynamiken, welche zu Transformationen der Aktionsformen f¨ uhrten, und nach den Zielen der verschiedenen Aktionsformen bzw. danach, inwieweit die Ziele sich in der Auswahl der Aktionsform spiegeln und welche politischen Wirkungen den einzelnen Aktionsformen zugeschrieben werden kann. Die gr¨oßten und sichtbarsten Aktionen der Protestwelle bestanden in den Demonstrationen und M¨arschen von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und La¨ıque Pride. Diese Veranstaltungen sind zur analytischen Strukturierung des Verlaufs der Protestwelle geeignet, denn auch interviewte Aktivisten nennen diese Veranstaltungen als Referenzpunkte, um bestimmte Ereignisse im Verlauf der Protestwelle zeitlich zu verorten. Den quantitativen H¨ohepunkt bildete dabei mit etwa 20.000 Teilnehmern die Demonstration von Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı am 20. M¨arz 2011. Zu den weiteren w¨ahrend der Welle verwendeten Aktionsformen z¨ahlten Protestzelte, Workshops, Vortr¨age, Diskussionsveranstaltungen, Facebook-Diskussionen, Kunst und Musik. Dar¨ uber hinaus wurden im vorliegenden Kapitel zwei Initiativen ber¨ ucksichtigt, die kurz vor bzw. kurz nach der Protestwelle stattfanden. Dabei schuf eine Gruppe von Angeh¨origen der intellektuellen und politischen Eliten um den Aktivist Talal Husseini Pr¨azedenzf¨alle f¨ ur die Streichung der Konfession aus den pers¨onlichen Eintr¨agen im libanesischen Zivilregister im Jahr 2009 und f¨ ur eine im Libanon geschlossene Zivilehe im Jahr 2013 und setzte die staatliche Anerkennung dieser beiden Pr¨azedenzf¨alle durch. Die Methoden der Initiativen unterschieden sich gravierend von den oben genannten Aktionsformen der Protestwelle. Dennoch ist festzustellen, dass Akteure einerseits der Initiativen von 2009 und 2013 und andererseits der Protestwelle sich in Erl¨auterungen zu ihren jeweiligen strategischen Entscheidungen f¨ ur bestimmte Formen durchaus aufeinander bezogen c

c

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen

239

bzw. sich voneinander abgrenzten. Die Initiativen von Talal Husseini unterscheiden sich schon darin deutlich von der Protestwelle, dass die verwendeten Aktionsformen nicht als Protest” zu klassifizieren sind. ” Sie erf¨ ullen nicht das von Taylor und Van Dyke (2004: 268ff.) herausgearbeitete Kriterium, wonach Protest durch Streit” (contestention) gekennzeichnet ist, denn diese Initiativen ” arbeiteten gerade nicht mit Konfrontation, sondern mit Lobbyismus und Verhandlungen. In der Strategie der genannten Initiativen wurde zudem zumindest in der Phase vor der erfolgreichen Durchf¨ uhrung der Konfessionsstreichung (2009) bzw. der zivilen Eheschlie¨ ßung (2013) jegliche Offentlichkeitsarbeit vermieden, w¨ahrend Protestaktionen sozialer ¨ Bewegungen in der Regel auf das Erreichen von Offentlichkeit zielen. Wie Lipsky (1968) herausgestellt hat, k¨onnen derartige Unterschiede zwischen den Strategien verschiedener Akteure darauf zur¨ uckzuf¨ uhren sein, dass diese Akteure im politischen System unterschiedlich positioniert sind: Die Akteure der Protestwelle griffen demnach auf Formen von Protest zur¨ uck, wobei Protest eine Ressource der Machtlosen” (Lipsky 1968; s. auch ” Della Porta und Diani 2006: 166f.) darstellt, w¨ahrend Talal Husseini als Bruder eines hochrangigen Politikers u ugt und diese in seinen In¨ber direkte Zug¨ange zur Macht verf¨ itiativen strategisch nutzte. Es kann also angenommen werden, dass die Wahl von Protest ¨ als Mittel politischen Handelns nicht nur auf Uberzeugungen der Aktivisten beruht, sondern auch darauf, dass ihnen in ihrer machtfernen Position die Mittel der formalen Politik schlicht nicht zur Verf¨ ugung stehen. Obwohl die Initiativen f¨ ur die Konfessionsstreichung und f¨ ur die Zivilehe außergew¨ohnlich konkrete Erfolge im Sinne klassischer antikonfessioneller Forderungen erzielten, wurden ihre Aktionsformen von Aktivisten der Protestwelle kritisch betrachtet. Dies zeigt, dass die Legitimit¨at eines Bewegungsakteurs und seiner Aktionsformen nicht nur von seinen konkreten Erfolgen abh¨angt, sondern dass f¨ ur das Verst¨andnis von Konflikten und Kritik ¨ unter Bewegungsakteuren ein komplexes Geflecht von Uberzeugungen, Zielen und Logiken zu ber¨ ucksichtigen ist. Innerhalb der Protestwelle ist die Gesamtheit der Aktionsformen, die von den verschiedenen Akteuren verwendet wurde, im Anschluss an ein von Charles Tilly (1979, 2005, 2007, 2008) entwickeltes Modell als Repertoire” analysierbar. Tilly weist zu Recht darauf ” hin, dass Repertoires von Bewegungsakteuren einen gewissen Grad an Standardisierung aufweisen und sich nur schrittweise ver¨andern, wobei Innovation der Repertoires durch bestimmte Kontexte wie etwa ver¨anderte politische Gelegenheitsstrukturen beg¨ unstigt wird (vgl. Tilly 2008: 12). So wies die Protestwelle ein erkennbares Repertoire an Aktionsformen auf, welche in der Tradition des fr¨ uheren s¨akularen und antikonfessionellen Aktivismus ¨ im Libanon verwurzelt sind, so dass starke Ahnlichkeiten zu den Aktionsformen fr¨ uherer Kampagnen beobachtbar sind. Zugleich waren die Gelegenheitsstrukturen im Kontext der Protestwelle g¨ unstig f¨ ur Innovation der Repertoires, insbesondere durch spillover -Effekte aus dem Arabischen Fr¨ uhling” und durch die Mobilisierung neuer Aktivisten (vgl. Tilly ” 2008; s. auch Whittier 2004; Meyer und Whittier 1994). Die beobachtbaren Ver¨anderungen der Repertoires stellen allerdings keinen totalen Bruch mit etablierten Aktionsformen dar, sondern, wie von Tilly (2008: 12) postuliert, eine graduelle Weiterentwicklung. Dies gilt etwa f¨ ur der Einf¨ uhrung von M¨arschen” anstelle von Demonstrationen” durch La¨ıque ” ” Pride, bei der die etablierte Aktionsform der Demonstration durch spaßbetonte Elemente und die betonte Vermeidung von Konfrontation modifiziert wurde. Die Repertoires der verschiedenen Bewegungsakteure innerhalb der Protestwelle sind,

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

trotz des beobachteten Grads der Standardisierung, nicht als homogen zu bezeichnen, sondern es bestehen durchaus Unterschiede zwischen den verschiedenen Repertoires. Dabei ist die Wahl unterschiedlicher Aktionsformen auch als Abgrenzung verschiedener Akteure voneinander zu verstehen, denn welche Aktionsform ein Akteur w¨ahlt, ist nicht nur ein Ergebnis der Verf¨ ugbarkeit von Repertoires, sondern auch von der Identifikation des politischen Gegners (bzw. claimant und object of claim, Tilly 2008: 14) sowie von ideo” logischen Visionen” und kollektiven Identit¨aten” (Taylor und Van Dyke 2004: 277). Wo ” diese Einsch¨atzungen differieren, sind Unterschiede in der Ausgestaltung der Aktionsformen wahrscheinlich. Die unterschiedlichen Aktionsformen des antikonfessionellen Aktivismus wurden unter Aktivisten und Beobachtern kontrovers diskutiert. Ein wiederkehrendes Thema der Kontroverse bestand in Einsch¨atzungen u ¨ber Ziele und Erfolge und somit letztlich u ¨ber die Effektivit¨at der verschiedenen Aktionen. So wurde etwa von Beteiligten an den oben genannten Initiativen von Talal Husseini der Aktivismus der Protestwelle als ineffektiv und erfolglos eingesch¨atzt, w¨ahrend andererseits einige Aktivisten der Protestwelle die Initiative f¨ ur die Konfessionsstreichung dahingehend kritisierten, dass ihr die radikale Forderung nach dem Umsturz des konfessionalistischen Systems fehlte. Im Zusammenhang mit solchen Debatten muss darauf hingewiesen werden, dass die Effektivit¨at sozialer Bewegungen, wie Tilly (2008: 28) herausgearbeitet hat, ¨außerst schwierig zu messen ist. Zudem hat Gundelach (1989: 427) festgestellt, dass die Aktivisten, deren Aktionen als ineffektiv kritisiert werden, ihrerseits die Frage nach Effektivit¨at h¨aufig als irrelevant einstufen. Unabh¨angig von dieser These, wonach viele Aktivisten die Frage nach Effektivit¨at, also nach dem tats¨achlichen Erreichen eines Ziels, nicht stellen, ist dennoch die Definition eines Ziels von Relevanz f¨ ur die Analyse der Aktionsformen. So wurde von Aktivisten der Protestwelle in Interviews ein Zusammenhang zwischen Zielen und Aktionsformen hergestellt (Experteninterviews, s. 7.3). Aufbauend auf einerseits dieser Einsch¨atzung von beteiligten Aktivisten, und andererseits auf den Thesen von Della Porta und Diani (2006: 178), die ebenfalls davon ausgehen, dass eine Antwort auf die Frage nach der Wahl von Aktionsformen in der Komplexit¨at und Vielfalt der Ziele, die der Protest erreichen soll” ” bestehe, ist anzunehmen, dass die Ziele des Aktivismus ein zentraler Faktor sind, der die Auswahl von Aktionsformen beeinflusst (s. auch Taylor und Van Dyke 2004: 264), bzw. dass die Vielfalt der Typen von politischen [...] Aktionen” als Selbstzweck” gesehen wird ” ” (s. auch J. L. Cohen 1985: 670). Drei u ¨bergeordnete Ziele der Protestwelle sind identifizierbar: Erstens wurden in Slogans, Aufrufen und Gespr¨achen die expliziten Ziele von S¨akularisierung, Entkonfessionalisierung und Staatsb¨ urgerschaft genannt. Diese expliziten Ziele sind allerdings nicht konkret: Sie bildeten vielmehr einen Masterrahmen” (Snow 2004), ” der Mobilisierung und bewegungsinterne Kooperation f¨orderte, w¨ahrend die unter den Masterrahmen subsumierten konkreten Forderungen divers waren. Wie Maya Mikdashi (25.03.2011) darlegt, ist der S¨akularismus-Slogan, sofern er sich auf die Verurteilung des Konfessionalismus beschr¨ankt und auf die Spezifizierung von Reformforderungen verzichtet, als leerer Slogan” zu verstehen. Er repr¨asentiert eine Utopie (vgl. Bro” wers 2006; Joseph 2011; Mikdashi 25.03.2011, 29.03.2011). Auch die Forderung nach ¨ Staatsb¨ urgerschaft”, die hier als Uberwindung der politischen und sozialen Segmentie”

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen

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rung konzipiert war, ist in diesem Kontext eher als mobilisierender und integrierender Masterrahmen einzuordnen denn als konkretes Reformziel. Die verschiedenen konkreten Forderungen, welche in den Masterrahmen integriert waren, bezogen sich auf uneinheitliche Zielebenen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 79; s. auch Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 266f., 278ff.). Die Auswahl von Aktionsformen hing bez¨ uglich des erkl¨arten Ziels des S¨akularismus” folglich davon ab, welcher Aspekt dieses ” ¨ Ziels jeweils gemeint war: So zielte etwa die Ubergabe eines Gesetzentwurfs an Politiker auf die Einf¨ uhrung ebendieses Gesetzes, Informationsveranstaltungen zielten auf das Schaffen von Bewusstsein u ¨ber die Problematik des Konfessionalismus, und das ostentati¨ ve Uberschreiten der Demarkationslinie zwischen West- und Ostbeirut in den Routen von ¨ Demonstrationen und M¨arschen zielte auf die symbolische Uberwindung konfessioneller Trennlinien. c

Vor allem innerhalb der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı hatte der anfangs praktizierte Verzicht auf konkrete Forderungen allerdings auch programmatische Qualit¨at, weil er die Offenheit der Koalition f¨ ur die Integration eines breiten Spektrums an Themen erm¨oglichte. Diese programmatische Offenheit und Vagheit wurde erst in dem Moment eingeschr¨ankt, als Systemparteien Schritte unternahmen, um sich an der Koalition zu beteiligen. Diese Schritte bedrohten eine weitere programmatische Ausrichtung der Koalition, n¨amlich ihre Unabh¨angigkeit, so dass in der Folge die Offenheit und Vagheit eingeschr¨ankt wurden, indem die Aktivisten in Organisationstreffen der Koalition Konkretisierungen ihrer Ziele beschlossen. Mit diesen Konkretisierungen wurden allerdings auch Widerspr¨ uche zwischen den Zielen einzelner Akteure innerhalb der Koalition deutlich, so dass es zu Konflikten und Abspaltungen kam. Zweitens erkl¨arten Aktivisten in Interviews, dass sie mit ihren Aktionen die Ziele verfolgten, die s¨akularen Libanesen zu versammeln”, sich in ihrer Identit¨at als s¨akulare ” Libanesen ¨offentlich zu zeigen, zivilen Ungehorsam” zu praktizieren oder Leute aus ” ” ihrer Routine zu holen”. Diese Art von Protestzielen wurde von anderen Aktivisten zuweilen als unpolitisch” eingestuft. Die Logik, die derartigen Zielen dennoch zugrunde ” liegt, l¨asst sich mit Hilfe der theoretischen Konzepte der politischen Differenz” heraus” arbeiten, insbesondere in dem Ansatz, die der Philosoph Jacques Ranci`ere (2002, 2008, 2012) vertritt. Danach sind Aktionsformen, die nicht auf konkrete politische Reformen abzielen, nicht darauf ausgerichtet, innerhalb der formal-politisch vorgesehenen institutionellen Wege der Politik” zu agieren, sondern außerhalb davon, in der unterbrechen” den, informellen, radikalen Sph¨are des Politischen” (s. z.B. Bedorf 2010; Br¨ockling und ” Feustel 2010a). Einige Aktionsformen zielten auf St¨orung” und Unterbrechung” (vgl. ” ” Ranci`ere 2002): Die spaßbetonten Elemente der M¨arsche” von La¨ıque Pride beispiels” weise unterbrachen die gewohnte Aktionsform der Demonstration”, und die Protestzelte ” vor Regierungsgeb¨auden st¨orten die vorgesehene Aufteilung des ¨offentlichen Raums. In dem Modell von Ranci`ere (2002) zielen solche St¨orungen” wiederum auf Subjektivierung ”ˇ und auf Sichtbarkeit” der Aktivisten (s. auch Ziˇ zek 2009b: 65). Diese These besitzt auch ” Erkl¨arungspotenzial f¨ ur einige Aktionsformen der Protestwelle: Wie insbesondere Aktivisten von La¨ıque Pride in Interviews selbst herausstellten, zielten ihre Proteste darauf, die s¨akularen Libanesen zu versammeln, sie in ihrer s¨akularen Identit¨at sichtbar zu machen und politisch zu subjektivieren”, ihnen also einen Subjektstatus innerhalb der libanesi” ˇ zek schen Politik zu verschaffen (vgl. Ranci`ere 2002: 47; s. auch Krasmann 2010: 84f. Ziˇ 2009b). Ranci`ere (2002) bezeichnet die Akteure des Politischen”, die in ihren Aktionen ” auf St¨orung” zielen, als anteillos” (Ranci`ere 2002: 40ff., 132ff.), also als exkludiert von ” ”

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

der im formal-politischen System vorgesehenen Ordnung. Die Aktivisten, die mit ihren Aktionsformen auf St¨orung” zielen, verorten sich selbst aus dem Grund als marginali” siert und somit als anteillos”, weil s¨akulare Libanesen in der konfessionell segmentierten ” Politik nicht vorgesehen sind, und erachten deshalb die Erm¨achtigung dieser Gruppe im Sinne einer politischen Subjektivierung” als Ziel ihrer Proteste. ” Das dritte u ¨bergreifende Ziel der Protestwelle bestand in Mobilisierung. So bezeichneten Aktivisten in Interviews die Mobilisierungsergebnisse als zentrale Erfolge der Protestwelle. Die Identifikation von Mobilisierung als Protestziel setzt die von Taylor und Van Dyke (2004) formulierte Annahme voraus, dass Proteste sich nicht nur auf Ver¨anderungen im bewegungsexternen Bereich richten k¨onnen, sondern auch in die Bewegung hinein. Dabei ist den Bewegungsakteuren, wie Rochon (1998: 159) festgestellt hat, die Bedeutung von Mobilisierungseffekten durch bestimmte Aktionsformen vollst¨andig bewusst” , so dass ” ¨ bei der Auswahl von Aktionsformen Uberlegungen zur Mobilisierung neuer Aktivisten sowie zur Motivation der bereits beteiligten Aktivisten in der Regel einen relevanten Faktor darstellen. In der antikonfessionellen Protestwelle wurden Mobilisierungserfolge nicht nur ex post als Erfolg benannt, sondern Mobilisierungsziele spiegelten sich an einigen Stel¨ len deutlich in den erkl¨arten Uberlegungen zur Auswahl der Aktionsformen. So zielten die spaßbetonten, unterhaltsamen Aktionsformen nicht nur auf Unterbrechung, sondern auch auf die Mobilisierung von Teilnehmern, die Spaß an der Aktion hatten. Auch erkl¨arten Aktivisten in Interviews, dass ihre Aktionsformen ansprechend” und cool” sein ” ” m¨ ussten, um weitere Teilnehmer zu mobilisieren, oder stellten fest, dass Teilnehmer der großen Demonstrationen im sozialen Netzwerk Facebook stolz Bilder von ihrer Teilnahme ver¨offentlichten. An dieser Stelle soll erneut auf das obige Zitat von Tilly (2008) verwiesen werden, wonach die Effektivit¨at von Bewegungen schwer messbar sei. Tilly (2008) f¨ahrt fort, dass die Messung besonders problematisch sei, wenn die Effekte schrittweise eintreten” oder au” ” ßerhalb der Aktion selbst liegen” (Tilly 2008: 28). Im Umkehrschluss sind Effekte, die in der Aktion selbst liegen, leichter messbar: Daher sind die Mobilisierung einer großen Anzahl von Teilnehmern oder die Versammlung zahlreicher S¨akularer als Ziele zu verstehen, die einfach zu operationalisieren und somit gut messbar sind. Bez¨ uglich Zielen auf der Ebene konkreter politischer Reformen ist der Effekt von vorausgegangenen Protesten weniger eindeutig. So haben etwa die Initiativen f¨ ur die Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister und f¨ ur die im Libanon geschlossene Zivilehe ihre erkl¨arten Ziele unbestreitbar erreicht, so dass dahingehend eine hohe Effektivit¨at dieser Initiativen feststellbar ist. Diese messbare Effektivit¨at liegt deutlich h¨oher als im Fall von Kampagnen, die ihre s¨akularen Forderungen, darunter die Forderung nach der Zivilehe, mit Formen von ¨offentlichem Protest verfolgten, wie etwa die antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 oder auch die Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht in den 1990er Jahren. Wenn allerdings, wie von Tilly (2008) suggeriert, auch Effekte denkbar sind, die schrittweise eintreten”, so kann vermutet werden, dass die genannten ” Protestwellen die politische Stimmung f¨ ur die Umsetzbarkeit der Konfessionsstreichung bzw. der Zivilehe vorbereiteten. Die antikonfessionelle Protestwelle und die Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht h¨atten somit die politischen Gelegenheitsstrukturen mittelfristig beeinflusst und folglich durchaus einen politischen Effekt erzeugt – dieser bleibt allerdings indirekt und daher schlecht messbar, so dass Thesen u ¨ber die Bedeutung der ¨offentlichen Proteste f¨ ur den Erfolg der genannten Initiativen keine Ergebnisse von

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen

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¨ ¨ empirischer Uberpr¨ ufung sind, sondern von politischen Uberzeugungen. Wie gezeigt wurde, sind einige in der Protestwelle identifizierbare Ziele, etwa St¨orung und Mobilisierung, untrennbare und unmittelbare Bestandteile der jeweiligen Aktionsform selbst. Sie werden in dem Moment erreicht, in dem die Protestaktion durchgef¨ uhrt wird: Eine Demonstration beispielsweise ist ohne Mobilisierung nicht durchf¨ uhrbar, und zugleich wird das Ziel der Mobilisierung – anders als etwa das Ziel einer politischen Reform – nicht als zeitlich versetzte Wirkung zu einem Zeitpunkt nach der Aktion erreicht, sondern genau w¨ahrend der Aktion. Aus dieser Feststellung, dass einige Protestziele untrennbare Bestandteile der Protestform darstellen und somit im Moment der Durchf¨ uhrung unmittelbar erreicht werden, folgen mehrere Thesen u ¨ber die Ziele und Repertoires der Protestwelle: So ist die Verortung von Protestzielen in der Protestaktion selbst zum einen als Artikulation von Abgrenzung gegen¨ uber den Repertoires der etablierten politischen Akteure zu sehen. Wenn etwa Aktivisten von La¨ıque Pride und von CHAML erkl¨arten, dass ihre Aktionsformen Spaß” anstelle von Wut” artikulieren sollten, so zeigt dies ihre explizi” ” te Abgrenzung von konventionellen Aktionsformen. Die Wahl neuer Aktionsformen stellt eine Erprobung von Alternativen zur konventionellen Politik dar. Zudem resultieren Innovationen der Repertoires auch daraus, dass etablierte Aktionsformen als erfolglos betrachtet wurden. Dies wird durch einen vergleichenden Blick auf den NSB-Ansatz best¨atigt: Offe (1985: 855) hat f¨ ur den Bereich der neuen sozialen Bewegungen gezeigt, dass die Hinwendung zu neuen oder ver¨anderten Aktionsformen als ein Ergebnis der Frustration u ¨ber konventionelle [Protest-]Praktiken und ihre Begren” zungen” zu verstehen ist. So artikulierten einige interviewte unabh¨angige Aktivisten der Protestwelle, die eher unkonventionelle Aktionsformen w¨ahlten, deutliche Desillusionierung dar¨ uber, inwieweit antikonfessionelle Ziele mit den Aktionsformen von Parteien oder NGOs erreichbar sind. Sie sahen also das Erreichen eines politischen Ergebnisses” als il” lusorisch an und zielten mit ihren Aktionsformen stattdessen auf kulturelle Ergebnisse” ” und Mobilisierungsergebnisse” (die Unterscheidung dieser Ergebnisebenen folgt Staggen” borg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 278ff. s. auch Della Porta und Diani 2006: 79). Diese These l¨asst sich auch unter Verwendung von Kategorien aus Theorien der politischen Differenz” formulieren (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und ” Feustel 2010a; Ranci`ere 2002): Wenn die Durchf¨ uhrung einer Aktion – bzw. ein Aspekt dieser Durchf¨ uhrung – zum Ziel erkl¨art wird, so liegt dem die Desillusionierung u ¨ber die Erreichbarkeit von Zielen auf der Ebene der Politik” zugrunde. ” Die Betonung von Mobilisierungsergebnissen als Erfolg der Protestwelle ist somit auch ein Ergebnis von Desillusionierung und Frustration u ¨ber die potenzielle Wirkung des Aktivismus. Mit der Resignation u uckt das ¨ber die Erreichbarkeit politischer Ergebnisse r¨ Mobilisierungsergebnis gewissermaßen an die Stelle eines Ersatzziels: Das politische Ziel antikonfessioneller politischer Reformen gilt Aktivisten zumindest im R¨ uckblick als nicht erreichbar, so dass einige Aktivisten die außerordentlichen Mobilisierungserfolge der Protestwelle nicht nur als Erfolg nennen, sondern auch als zentrales Ziel bezeichnen. Die Verwendung alternativer Protestformen ist somit nicht ausschließlich, aber auch als Selbstzweck zu analysieren: Solche Aktionen waren in der Protestwelle zum einen Mittel zum Ziel politischer Reformen (die Verwendung der Kategorien Mittel” und Ziel” ori” ” entiert sich an Kriesi u. a. 2003: 38), aber sie erf¨ ullten insofern auch einen Selbstzweck, als sie in dem Moment ihrer Durchf¨ uhrung die Abgrenzung von etablierten Aktionsfor-

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

men artikulierten, formal vorgesehene Abl¨aufe st¨orten, eine große Zahl von Aktivisten mobilisierten und Identit¨aten als s¨akulare Libanesen und als Aktivisten ¨offentlich darstellten. Analog zu den von Schulze (2012, 2013) untersuchten Aktivisten des Arabi” schen Fr¨ uhlings” stellten sie mit diesen ¨offentlichen Aktionen ihre Lebenswelten dar und zielten damit weniger auf ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel” als auf die Schaffung ” ” von sozialen M¨oglichkeitsr¨aumen, in denen der Einzelne seine individuellen Lebenspl¨ane verwirklichen k¨onnte” (Schulze 2013: 236). Die Soziologen U. Beck, Hajer und Kesselring (1999) haben mit Blick auf unkonventionelle politische Aktionsformen in Europa festgestellt, dass sich darin die Krise eines Politikkonzepts manifestiere, welches im politischen System die zentrale Schaltstelle der ” Gesellschaft sieht” (U. Beck, Hajer und Kesselring 1999: 8). Dies spiegelt sich in den Innovationen der antikonfessionellen Repertoires, mit denen unkonventionelle, spaßbetonte, auf St¨orung, Identit¨atsdarstellung und Mobilisierung zielende Aktionsformen eingef¨ uhrt wurden. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit die zitierte These von U. Beck, Hajer und Kesselring (1999) und andere im Kontext von Europa und Nordamerika entwickelte theoretische Perspektiven im libanesischen Kontext anwendbar sind97 . Oben wurde dargelegt, dass bestimmte Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle, deren Effektivit¨at unter Aktivisten und Beobachtern umstritten waren, unter Heranziehung der Denkfiguren der politischen Differenz” (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; ” Br¨ockling und Feustel 2010a) und der Anteillosigkeit” (Ranci`ere 2002; s. auch Krasmann ” ˇ 2010; Ziˇzek 2009b) verst¨andlich werden. Demnach ist aus Sicht derjenigen Aktivisten, die sich strategisch f¨ ur die entsprechenden Aktionsformen entscheiden, in der Tat ein be” stimmtes Verh¨altnis, das im politischen System die zentrale Schaltstelle in der Gesellschaft sieht”, in der Krise. Anders als im Kontext der Bundesrepublik Deutschland, auf den sich U. Beck, Hajer und Kesselring (1999) beziehen (s. Wohlrab-Sahr 1997: 24), fand die antikonfessionelle Protestwelle im Libanon allerdings unter Bedingungen von politischer L¨ahmung, Patronage, unvollst¨andiger Staatlichkeit und einer Geschichte von Kolonialismus und B¨ urgerkrieg statt. Die zitierten Bewegungsforscher, Soziologen und Philosophen ¨außern sich zu einem Kontext von Postdemokratie” (Jochem 2013; Ranci`ere 2002, 2008, ” 2012; Ritzi 2014: vgl.), w¨ahrend im Libanon eher von defekter Demokratie die Rede sein kann. W¨ahrend [d]ie Postdemokratisierungsthese besagt, [...] dass moderne, westliche ” Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien und unterst¨ utzt durch das Hegemonialwerden neoliberaler Denkweisen zunehmend von Eliten kontrolliert werden” (Ritzi 2014: 2), sich also auf eine aus normativ-demokratietheoretischer Perspektive konstatierte Verschlechterung der politischen Situation bezieht, handelt es sich im Libanon weniger um eine Verschlechterung der Situation als eher um das Konstatieren eines dauerhaften Demokratiedefizits. Daher ist insbesondere zu diskutieren, inwieweit die oben zitierten Thesen von Ran97

Diese Frage ist von besonderer Relevanz bez¨ uglich derjenigen hier zitierten theoretischen Perspektiven, welche den politischen Kontexten zentrale Bedeutung zuschreiben (s. U. Beck, Hajer und Kesselring 1999; Bedorf und R¨ ottgers 2010; Br¨ ockling und Feustel 2010a; Kriesi u. a. 2003; Offe ˇ zek 2009b). Bei theoretischen Ans¨atzen, welche Protest definie1985; Ranci`ere 2002, 2008, 2012; Ziˇ ren (s. Lipsky 1968; Taylor und Van Dyke 2004), unterschiedliche Ebenen von Bewegungen bzw. von Bewegungszielen operationalisieren (s. Della Porta und Diani 2006; Kriesi 1989; Taylor und Van Dyke 2004; Tilly 1978) oder Thesen zur Stabilit¨ at von Repertoires entwickeln (s. Tilly 1979, 2005, 2007, 2008), ist der politische Kontext von vergleichbar geringerer Relevanz, so dass diese Ans¨ atze ohne ausf¨ uhrliche Diskussion der Kontexte herangezogen werden k¨onnen.

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen

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ˇ zek (2002, 2009b) aus dem Kontext der Postdemokratie ci`ere (2002, 2008, 2012) und Ziˇ transferierbar sind auf den Kontext einer defekten Demokratie. Oben wurde die These aufgestellt, dass einige Aktivisten der Protestwelle Aktionsformen von Unterbrechung” ” und St¨orung” w¨ahlen, weil sie sich selbst als Anteillose” konzipieren und auf Subjek” ” ” ˇ tivierung” zielen (Ranci`ere 2002; Ziˇzek 2009b; s. auch Krasmann 2010). Anteillos” im ” Sinne von Ranci`ere (2002) sind Subalterne, Arme und Illegale. Die Organisatoren der antikonfessionellen Protestwelle hingegen geh¨oren in der Regel der gut ausgebildeten Mittelschicht an. Dies gilt auch f¨ ur die Aktivisten von CHAML und La¨ıque Pride, in deren Aktionsformen und strategischen Erl¨auterungen die Ziele von St¨orung und Subjektivierung und die Selbstverortung als anteillos” besonders deutlich erkennbar waren. Diese ” Selbstverortung von Angeh¨origen privilegierter Schichten als Anteillose” entspricht nicht ” ˇ zek (2009b). Die genannten den Modellen von Ranci`ere (2002) und Ziˇ libanesischen Aktivisten aber verstehen sich als nicht konfessionell gebundene B¨ urger in einem konfessionell dominierten System und verorten sich daher dennoch als politisch anteillos, unabh¨angig von ihrer ¨okonomischen Situation (dies wird beispielsweise herausgearbeitet in Sayegh 2007b). F¨ ur die s¨akularen und antikonfessionellen Aktivisten gilt somit sinngem¨aß, was Sune Haugbolle f¨ ur die libanesische Linke festgestellt hat: [U]nlike many other accounts ” of the Left I do not view their position as excluded from wider society and influence, but rather as a position between fixed places and hierarchies” (Haugbolle 2013: 429). Es handelt sich folglich nicht um objektive, sondern um subjektive Anteillosigkeit. Diese subjektive Anteillosigkeit motiviert Protestformen der St¨orung, wobei diese St¨orungen ˇ zek (2009b) analysierten Aufst¨ande deutlich weniger radikal ausfallen als etwa die von Ziˇ ˇ zek (2002) tats¨achliche anteilloser Jugendlicher aus den Pariser Banlieues. W¨ahrend Ziˇ Unterbrechung” durch Proteste von Anteillosen” abgrenzt von absolut risikofreien Fei” ” ”ˇ erabendrevolten, in denen sich die radikale‘ Welt [...] gef¨allt [...]” (Ziˇ zek 2002: 20), wurden ’ etwa die genannten Aktionen von CHAML und La¨ıque Pride auch durch Akteure der Protestwelle als risikofrei und harmlos eingestuft. Die diskutierten Protestaktionen zielten zwar auf Unterbrechung” und Subjektivie” ˇ” zek (2009b) rung”, aber nicht auf totale Destruktion. Ebenso wie die Aktionen der von Ziˇ untersuchten Banlieue-Aktivisten zielten sie nicht darauf, eine L¨osung anzubieten”, aber ” anders als jene war es nicht ihr Ziel, zu signalisieren, dass sie ein Problem sind, das ” ˇ zek 2009b: 66), sondern vielmehr, das subjektive nicht l¨anger ignoriert werden kann” (Ziˇ Ignorieren durch ¨offentliche, aber nicht problematische Pr¨asenz zu bek¨ampfen. Sie zielten auf Subjektivierung und ¨offentliche Pr¨asenz nicht durch Destruktion, sondern, wie es Schulze (2012, 2013) mit Bezug auf den Arabischen Fr¨ uhling” formuliert hat, durch ” Ver¨offentlichung ihrer Lebenswelt. Das Erkl¨arungspotenzial von Theorien der politischen Differenz und der Anteillosigkeit im Rahmen dieses Kapitels besteht somit darin, die subjektive Anteillosigkeit bzw. die Position der Aktivisten gegen¨ uber den formal-politischen Institutionen mit Formen, Logiken und Zielen von Protestaktionen zu verkn¨ upfen. Ausgehend von diesem Zusammenhang k¨onnen zudem Thesen u ¨ber die Effektivit¨at von Aktionsformen formuliert werden. Verschiedene Aktionsformen sind auf unterschiedliche Ziele ausgerichtet und unterliegen somit unterschiedlichen Logiken von Effektivit¨at. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass Proteste auf unterschiedliche Zielkategorien ausgerichtet sein k¨onnen (vgl. Della Porta und Diani 2006: 79; s. auch Staggenborg 1995; zitiert nach Taylor und Van Dyke 2004: 266f., 278ff.). So zeigt der oben gef¨ uhrte Ver-

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7 Die Aktionsformen der antikonfessionellen Protestwelle

gleich zwischen den Zielen der unkonventionellen Proteste von CHAML und La¨ıque Pride einerseits und der Initiativen f¨ ur Konfessionsstreichung und Zivilehe andererseits, dass Formen von Protest, insbesondere unkonventionelle Aktionsformen, tendenziell st¨arkere und direktere Effekte bez¨ uglich der Ziele von Unterbrechung und Mobilisierung erreichen, w¨ahrend die direkte Verhandlung von Pr¨azedenzf¨allen mit Ministerien deutlichere Effekte bez¨ uglich politischer Ziele zeigen. Die beiden genannten F¨alle antikonfessioneller Aktionen k¨onnen als Beispiele f¨ ur zwei Seiten der politischen Differenz” (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel ” 2010a; Marchart 2010) verstanden werden. Es handelt sich um unterschiedliche Logiken politischen Handelns, also verschiedene Aggregatzust¨ande” von politischer Praxis (vgl. ” Celikates und Jaeggi 2006: 60), die sich prim¨ar danach unterscheiden, wie sie sich gegen¨ uber den formal-staatlichen politischen Institutionen verorten und verhalten. Diese Unterscheidung zwischen der Logik der Politik” und der des Politischen” tr¨agt zur ” ” Erkl¨arung der Pr¨asenz von h¨ochst disparaten Aktionsformen bei den verschiedenen antikonfessionellen libanesischen Akteuren bei. Die Initiativen f¨ ur die Konfessionsstreichung und die Zivilehe agierten innerhalb der Politik”, also der politischen Ordnung und der ” staatlichen Verwaltung, w¨ahrend die spaßbetonten Proteste von La¨ıque Pride, die unter Verzicht auf ein konkretes politisches Programm alternative politische Artikulationsformen erprobten, in der Logik des Politischen” agierten, also ausgerichtet auf Ereignis und ” Unterbrechung (zu diesen Definitionen der Politik” und des Politischen vgl. Br¨ockling ” ” und Feustel 2010a: Klappentext). Es f¨allt auf, dass die Protestlogiken der Politik” bzw. des Politischen” in verschie” ” denen Phasen des Protests unterschiedlich pr¨asent sind. Hier bietet es sich an, Theorien zur politischen Differenz zu verkn¨ upfen mit dem theoretischen Modell der Protestwelle” ” (Della Porta und Diani 2006; Koopmans 2004; Rucht 2004; Tarrow 1993). Tarrow (2011) hat festgestellt, dass ungewohnte, konfrontative und unterbrechende Aktionsformen mit h¨oherer Wahrscheinlichkeit in der Expansionsphase einer Welle auftreten als zu anderen Zeitpunkten (vgl. Tarrow 2011: 112; s. auch Kriesi u. a. 2003: 124; Taylor und Van Dyke 2004). Der H¨ohepunkt einer Protestwelle stellt einen ’heißen’ Moment politischen Han” delns” dar, in dem alles gleichzeitig ver¨anderbar und m¨oglich” erscheint (Celikates und ” Jaeggi 2006; s. auch Tarrow 1993: 281, 302). Praktiken des Politischen”, welche das eta” blierte Gef¨ uge der formal-politischen Institutionen in Frage stellen und die Anteillosen” ” zu Wort kommen lassen, sind somit w¨ahrend dieser Phase außergew¨ohnlich stark. Die Chance auf das Erreichen konkreter politischer Reformen allerdings ist w¨ahrend des H¨ohepunkts der Protestwelle und in Verbindung mit Praktiken des Politischen” eher ” gering. Jacques Ranci`ere weist in einem Interview darauf hin, dass eine effektive Politi” sierung [...] der Gr¨ undung eines gemeinsamen Sprach- und Handlungsrahmens [bedarf], der die einfache Alternative zwischen der nackten Gewalt der Revolte und dem Einschreiben in die Wahllogik aufbricht” (Ranci`ere, Celikates und Keller 2006). Diese effektive ” ¨ Politisierung” geschah w¨ahrend der Protestwelle nur in Ans¨atzen98 . Ahnliches hat Asef Bayat (2013b) mit Blick auf den Arabischen Fr¨ uhling” festgestellt, indem er zwischen ” Ausnahmeepisode” und Post-Revolution” unterscheidet: Demnach w¨ urden Trittbrett” ” ” fahrer”, welche sich an den Aktionen der Ausnahmeepisode” kaum beteiligten, aber u ¨ber ” 98

Weiterf¨ uhrend w¨ are an dieser Stelle zu u ¨berlegen, inwieweit die Kampagnen You stink” gegen die ” M¨ ullkrise 2015 und Beirut Madinati” zur Beiruter Kommunalwahl 2016 als langfristige Ergeb” nisse einer effektiven Politisierung” zu sehen sind, in welcher die Protestwelle 2010-2012 als eine ” Vorstufe zu verstehen ist.

7.4 Zwischenfazit: Repertoires, Logiken und Effektivit¨ at antikonfessioneller Aktionsformen

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etabliertere Ressourcen, Strukturen und Netzwerke verf¨ ugten, zum Zeitpunkt der Post” ¨ Revolution” nach der Protestwelle formal-politische Anderungen durchsetzen, w¨ahrend die in der Ausnahmeepisode aktiven Akteure in ihre Position als machtferne Minderheit zur¨ uckfielen (Bayat 2013b: 594f.). So wurden im antikonfessionellen Aktivismus konkrete, aber abgegrenzte politische Reformen – die Konfessionsstreichung und die Zivilehe – in Phasen der Latenz” (Melucci ” 1984; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 149) außerhalb der Protestwelle erreicht, w¨ahrend die Effekte der Aktionen der Protestwelle eher in den Bereichen von Mobilisierung und Sichtbarkeit lagen. Dass Akteure beider Bereiche ihre jeweiligen Aktionen als erfolgreich beurteilen, ist als Ergebnis unterschiedlicher Protestlogiken zu verstehen, welche mit den jeweiligen Phasen der Protestwelle verkn¨ upft sind.

8 Fazit Diese Arbeit hat die libanesische antikonfessionelle Protestwelle 2010-2012 untersucht und ging dabei den Fragen nach, wie die Aktivisten ihre Organisations- und Aktionsformen w¨ahlten, und welche politische Wirkung mit diesen Organisations- und Aktionsformen jeweils verbunden war. Die in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Antworten auf diese Fragen sollen im Folgenden rekapituliert werden. Die Thesen der Teilkapitel werden jeweils zu Beginn stichwortartig zusammengefasst und in der Folge ausgef¨ uhrt. Dies wird erg¨anzt durch einen Ausblick auf die weitere Entwicklung des s¨akularen Aktivismus im Libanon seit dem Ende der Protestwelle (und somit nach dem Ende des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit), insbesondere mit Blick auf die zivilgesellschaftlichen Kampagnen gegen die M¨ ullkrise im Jahr 2015 und die u ¨berraschend erfolgreiche Teilnahme der Liste Beirut Madinati” an den Beiruter Kommunalwahlen im Jahr 2016. ” Beobachtungen zu diesen beiden Ereignissen werden auf Thesen zur Protestwelle 20102012 bezogen, um diese als Episode des antikonfessionellen Aktivismus in ihrer Bedeutung f¨ ur die politische Lage des Libanon einzuordnen. Vorangestellt werden zusammenfassende Bemerkungen u ¨ber die Ertr¨age der Kombination aus mehreren theoretischen Ans¨atzen f¨ ur die Analyse der antikonfessionellen Protestwelle. 8.1 Bemerkungen zur Theorie-Kombination: Die Verbindung von Theorien sozialer Bewegungen mit Theorien politischer Differenz • Theorien sozialer Bewegungen erm¨oglichen die Analyse verschiedener Einflussfaktoren auf die Wahl von Organisations- und Aktionsformen innerhalb sozialer Bewegungen. Theorien der politischen Differenz f¨ uhren ein intermedi¨ares Konzept ein, das die Wahl einer Organisations- oder Aktionsform auch als Ergebnis der Verortung in der Logik der Politik bzw. des Politischen begreift, welche wiederum ein Ergebnis verschiedener weiterer Einflussfaktoren darstellt. • Die Konzepte der Politik und des Politischen strukturieren die Untersuchung dar¨ uber, welche Praktiken aus Sicht der verschiedenen Akteure jeweils sinnvolles und legitimes politisches Handeln darstellen. • Die Politik umfasst nicht nur staatliche Institutionen, sondern jegliche Praktiken, die innerhalb des etablierten und funktionierenden Rahmens stattfinden. Diese Konzeption erlaubt es, nicht nur staatliche und zivilgesellschaftliche Handlungslogiken gegen¨ uberzustellen, sondern auch die politische Herausforderung der innerhalb einer sozialen Bewegung etablierten Akteure als einen ¨ahnlichen Prozess der Distanzierung zu begreifen. Dichotome und graduelle Unterschiede zwischen den Aktivismusformen Eine Dichotomisierung des antikonfessionellen Aktivismus in formale” und informel” ” le” Organisationsformen bzw. konventionelle” und unkonventionelle” Aktionsformen ” ”

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Sengebusch, Die Proteste gegen den libanesischen Konfessionalismus, Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26538-0_8

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8 Fazit

kann nur ansatzweise konstatiert werden. Die Dichotomisierungen sind aus der Innenperspektive von Relevanz, wie sich daran zeigt, dass einige interviewte Aktivisten Abgrenzungen verschiedener Akteure und Aktionsformen innerhalb der Protestwelle als dichotome Gegens¨atze beschrieben und erkl¨arten. Die Abgrenzungen verschiedener Akteure und Aktionen untereinander ist allerdings zumeist nicht absolut, sondern graduell. Auch die Auflistung und Beschreibung der in der Protestwelle pr¨asenten Akteure und Aktionen hat gezeigt, dass die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Organisations- und Aktionsformen durchaus facettenreich sind. Die empirisch beobachtbaren Unterschiede zwischen verschiedenen Akteuren und Aktionen bez¨ uglich ihrer formalen Organisiertheit bzw. Konventionalit¨at sind also nicht nur dichotom, sondern h¨aufig graduell, dynamisch und vielf¨altig. Dies zeigt sich besonders eindr¨ ucklich anhand der in der Protestwelle verwendeten Organisationsformen, die von stark formal organisierten Parteien u ¨ber weniger formale NGOs bis hin zu kaum formal organisierten Graswurzelorganisationen reichten. Innerhalb dieses Spektrums wurden die Grenzen zwischen Kategorien von Organisationsformen unterschiedlich verortet: W¨ahrend etwa einige Interviewpartner formale Organisiertheit (von Parteien und NGOs) der Informalit¨at der Graswurzelorganisationen und anderen Unabh¨angigen gegen¨ uberstellten, verorteten andere Interviewpartner das zentrale Unterscheidungskriterium von Organisationstypen zwischen Parteien und Nicht-Parteien (s. 6.2). Des Weiteren waren die Strategien bestimmter Akteure nicht unbedingt konstant, sondern zeigten sich im Verlauf der Protestwelle dynamisch. So wurde etwa w¨ahrend der Transformationsphase der Protestwelle die Organisationsweise der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı von ausgepr¨agter Informalit¨at und Offenheit hin zu st¨arkerer Hierarchisierung modifiziert, indem arbeitsteilige Gremien eingerichtet und politische Beschr¨ankungen des m¨oglichen Teilnehmerkreises erkl¨art wurden. Zudem kann die Einordnung von verschiedenen Akteuren und Aktionen als konventionell” oder unkonventionell” auf den verschiedenen Analyseebenen99 unter” ” schiedlich ausfallen. Die NGO CHAML beispielsweise wies einerseits eine relativ stark formale und hierarchische Organisationsweise auf und kooperierte offensiv mit Parlamentsabgeordneten, also Repr¨asentanten der formal-politischen Institutionen, w¨ahrend sie andererseits zugleich unkonventionelle Aktionsformen wie gespielte Hochzeiten” und ” Protestzelte verwendete. ¨ Bei diesen Uberlegungen ist allerdings zu ber¨ ucksichtigen, dass die Konventionalit¨at” ” von Aktionsformen als relationales Konzept zu verstehen ist: Wenn Unkonventionalit¨at konstatiert wird, muss erkl¨art werden, was als konventionell” gilt. Wenn Aktionen sym” bolisch und an Selbstdarstellung orientiert sind, wie im Fall der Protestwelle etwa die M¨arsche von La¨ıque Pride und die Protestzelte, dann gelten sie im Sinn der neuen sozialen Bewegungen per definitionem als unkonventionell (vgl. J. L. Cohen 1985; Della Porta und Tarrow 1986; Melucci 1985, 2001; Offe 1985; Tilly und Wood 2012). Dem ist insofern zuzustimmen, als sich derartige Protestaktionen dezidiert außerhalb der formal-politischen Institutionen bewegen. Im Kontext der Protestwelle ist allerdings nicht nur die Positionierung gegen¨ uber den staatlichen Institutionen relevant, sondern auch die Positionierung gegen¨ uber anderen Akteuren innerhalb der Protestwelle. Unter diesem Gesichtspunkt kann etwa die Aktionsform der gespielten Hochzeit”, bei der als Hochzeitspaare verkleide” te Demonstranten symbolisch zivil heiraten”, nicht ausschließlich als unkonventionell” ” ” eingeordnet werden: Es handelt sich zwar um eine symbolische, selbstdarstellerische Akc

99

Der Aktivismus wurde operationalisiert entlang der Ebenen Akteure”, Aktionen” und Themen” ” ” ” (Kriesi 1989; Tilly 1978), wobei die beiden erstgenannten Ebenen systematisch untersucht wurden.

8.1 Bemerkungen zur Theorie-Kombination

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tion jenseits der formal-politischen Institutionen, aber die Aktionsform wird sp¨atestens seit der Kampagne f¨ ur ein ziviles Personenstandsrecht der 1990er Jahre praktiziert und ist somit nicht unkonventionell im Sinn von neu”. ” Dies f¨ uhrt zu der weiteren Feststellung, dass, mit Blick auf soziale Bewegungen, dichotome Gegen¨ uberstellungen von verschiedenen Formen politischen Handelns auf zwei verschiedenen Ebenen geschehen: Zum einen werden Staat und soziale Bewegungen gegen¨ ubergestellt, zum anderen verschiedene Formen des Aktivismus innerhalb einer sozialen Bewegung. So bezogen sich im Fall der Protestwelle gef¨ uhrte Debatten u ¨ber Organisations- und Aktionsformen sowohl auf Abgrenzungen zwischen Aktivismus und staatlichen Institutionen wie dem Parlament als auch auf Abgrenzungen zwischen den jeweiligen Organisations- und Aktionsformen verschiedener Bewegungsakteure. Die Politik und das Politische in den Theorien sozialer Bewegungen Um die genannten Gegen¨ uberstellungen verschiedener Organisations- und Aktionsformen, die zuweilen als Dichotomie gedacht werden, strukturiert zu analysieren, wurden sowohl Theorien sozialer Bewegungen als auch Theorien der politischen Differenz verwendet (s. Kapitel 3.3). In Theorien der politischen Differenz besteht die zentrale analytische Dichotomie zwischen den Polen der Politik und des Politischen: Verweist der Begriff der Politik auf die institutionelle Ordnung, die staatliche Verwaltung des Gemeinwesens, so betont der Begriff des Politischen die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses und der Unterbrechung. (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext, s. 2.3) Die Positionierung gegen¨ uber der institutionellen Ordnung stellt somit das relevante Unterscheidungskriterium zwischen diesen beiden Polen dar: Die Politik bezeichnet formalpolitische Institutionen und Abl¨aufe und die Verwaltung des Status quo, w¨ahrend das Politische St¨orungen, Herausforderungen und Neuerfindungen dieser Institutionen meint ˇ zek 2009a,b). (vgl. Celikates 2010b; Marchart 2007; Ranci`ere 2002; Ziˇ Diese Denkfigur der politischen Differenz weist einige Parallelen zu bestimmten Ans¨atzen aus Theorien sozialer Bewegungen auf. Diese Parallelen lassen sich im Fall der Protestwelle beispielhaft daran zeigen, dass die Aussagen einiger interviewter Aktivisten u ¨ber die Protestformen der alten Aktivisten” sowohl anhand von Theorien sozialer Bewegungen ” als auch anhand von Theorien der politischen Differenz analysierbar sind. So kann die betonte Abkehr einiger Aktivisten – etwa der Gr¨ under von La¨ıque Pride sowie junger Unabh¨angiger am Protestzelt vor dem Innenministerium und in der Koalition Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı – von den Organisations- und Aktionsformen alter” Aktivisten (so die ” Formulierung in mehreren in dieser Arbeit zitierten Interviews mit Organisatoren der Protestwelle) einerseits durchaus als Ergebnis eines Wechsels der politischen Generationen” ” (Whittier 1997; s. auch Mannheim 1929) analysiert werden. In dem Fall steht im Zentrum der Analyse, dass es sich bei der Abgrenzung zwischen den Akteuren um ein Ergebnis politischer Sozialisation handelt, wobei die jungen” Aktivisten andere Erfahrungen teilen ” als die alten” Aktivisten (vgl. Mannheim 1929; Whittier 1997). Zugleich impliziert die” se Abgrenzung von der alten Generation” aber auch eine Distanzierung von deren als ” formalistisch und staatsnah eingestuften Strategien. In der Folge sind die Handlungslogiken der j¨ ungeren unabh¨angigen Aktivisten gekennzeichnet durch Herausforderung und Infragestellen der etablierten Praktiken sowie radikale und zuweilen unrealistische Forderungen. Diese Herausforderung der etablierten Institutionen ist wiederum typisch f¨ ur die c

252

8 Fazit

Logik des Politischen, so dass sich die Abgrenzung zwischen den Akteuren auch als Differenz bez¨ uglich der Positionierung in der Logik der Politik oder des Politischen analysieren l¨asst (vgl. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; Offe 1985). Zudem bildet die Perspektive der politischen Differenz eine analytische Verbindung zwischen einerseits den Strategien und Zielen der Protestwelle und andererseits den politischen Gelegenheitsstrukturen (s. Koopmans 1998; Kriesi u. a. 2003; Rucht 1996), innerhalb derer die Protestwelle stattfand. Der Zusammenhang besteht darin, dass eine Verortung in der Logik der Politik bzw. des Politischen insbesondere aus der Einstellung der Aktivisten gegen¨ uber den formal-politischen Institutionen resultiert: Wenn die Strukturmerkmale” ” (Koopmans 1998: 223) der formalen Institutionen als ineffizient f¨ ur s¨akulare Anliegen beurteilt werden, resultiert dies in der Ablehnung dieser Institutionen und in der Tendenz hin zu Handlungslogiken, welche diese Institutionen eher herausfordern, als – vergeblich – innerhalb der Institutionen zu agieren. Diese Beispiele verdeutlichen die Relevanz von Theorien der politischen Differenz f¨ ur die Analyse einer Protestbewegung. Sie zeigen, dass sich etwa die Abgrenzungen zwischen verschiedenen politischen Generationen und die Einstellung von Aktivisten gegen¨ uber formalpolitischen Institutionen als politische Differenz” abbilden lassen. Daher ist Br¨ockling ” und Feustel (2010a) zuzustimmen, die die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen als eine, wenn nicht DIE Leitdifferenz zeitgen¨ossischer Sozialphilosophie” ” bezeichnen (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext, Hervorhebung im Original): Die Differenz zwischen der Integration in die Ordnung der Politik und dem Widerstand gegen diese Ordnung besitzt Erkl¨arungskraft f¨ ur verschiedene Momente der Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Organisations- und Aktionsformen, welche innerhalb einer sozialen Bewegung auftreten. Theorien der politischen Differenz erm¨oglichen es dabei, in der Analyse die Konzeptionen der Akteure dar¨ uber, was ihnen als sinnvolles und legitimes politisches Handeln gilt, zu ber¨ ucksichtigen, denn die beiden verschiedenen Logiken beruhen auf disparaten Einstellungen gegen¨ uber formal-politischen Institutionen und ziehen unterschiedliche Handlungslogiken nach sich: Die Positionierung der Aktivisten gegen¨ uber den etablierten formalen Institutionen, also ihre Verortung in der Logik der Politik oder des Politischen, beeinflusst die Wahl der Organisations- und Aktionsformen. Die Verwendung der dichotomen Konzepte der politischen Differenz als Erg¨anzung von Theorien sozialer Bewegungen hat somit, wie gezeigt, einen intermedi¨aren Charakter, der zwischen Einflussfaktoren auf Bewegungen und daraus resultierende Handlungslogiken geschaltet ist. In dieser Arbeit wurden Konzepte der politischen Differenz zudem auch in einem erweiterten Verst¨andnis gebraucht: Die Politik wurde nicht auf die staatlichen Institutionen im engeren Sinn beschr¨ankt, sondern auf alle Akteure und Aktionen bezogen, welche innerhalb der von der institutionellen Ordnung vorgegebenen Kan¨ale agieren. Diese theoretische Erweiterung des Begriffs der Politik u ¨ber die staatlichen Institutionen hinaus korrespondiert mit den empirischen Ergebnissen in den Debatten innerhalb der antikonfessionellen Protestwelle: Diese bezogen sich nicht nur auf m¨ogliche Kooperationen mit Regierung und Parlament, sondern auch auf Kritik an etablierten Akteuren wie Parteien und teilweise auch NGOs und auf etablierte Aktionsformen wie Demonstrationen und Gesetzentw¨ urfen. Die Logik des Politischen, also Momente des Dissenses, des Widerstreits, des Ereignisses ” und der Unterbrechung” (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext, s. oben) bzw. nicht ”

8.2 Die Struktur des antikonfessionellen Aktivismus

253

einfach etwas, das innerhalb des Rahmens der existierenden Verh¨altnisse gut funktioniert, ˇ zek 2009a: 37), wird dabei nicht sondern etwas, das genau diesen Rahmen ver¨andert” (Ziˇ nur auf die Herausforderung der staatlichen Institutionen bezogen, sondern auch auf die Herausforderung der etablierten Institutionen innerhalb der Bewegung. 8.2 Die Struktur des antikonfessionellen Aktivismus: Organisations- und Aktionsformen der Protestwelle • Die Zunahme informeller Organisationsformen und unkonventioneller Aktionsformen in der Protestwelle hatte vom Umfang her nicht den Charakter einer Z¨asur, sondern einer Tendenz. • Distanzierungen von Parteien und von NGOs, welche insbesondere von unabh¨angigen Aktivisten artikuliert wurden, beziehen sich auf partei- bzw. NGO-kritische Diskurse, die bereits in vorangegangenen Protestwellen pr¨asent waren. • Das Verh¨altnis zwischen formalen und informellen Akteuren – etwa zwischen Unabh¨angigen und der Libanesischen Kommunistischen Partei (LCP) – ist gepr¨agt durch die Ambivalenz zwischen einerseits Distanzierung und andererseits Kontinuit¨at und Nostalgie. Die Entschiedenheit, mit der verschiedene Akteure die Innovation ihrer Repertoires betreiben, spiegelt die Distanz dieser Akteure zu etablierten Akteuren und deren Repertoires. • Die Tendenzen einer Transformation hin zu informelleren und unkonventionelleren Formen sind nicht nur Ergebnis aktiver Entscheidungen, sondern auch ein Ausdruck von Frustration und Resignation. Die Aktivisten, welche sich von formaler Politik distanzieren, stufen erstens formale Organisations- und Aktionsformen als erfolglos und unwirksam ein, und erkennen zweitens f¨ ur sich keinen realistischen Zugang zur Ebene der Politik. • Die Protestwelle 2010-2012 war weder hierarchisch noch f¨ uhrungslos, sondern seg” mentiert” und mehrk¨opfig” (Della Porta und Diani 2006; vgl. auch Rucht 2004). ” Die Mehrk¨opfigkeit der Protestwelle erleichterte zum einen die breite Mobilisierung, bef¨orderte aber zum anderen auch die Spaltung der zentralen Koalition Isq¯at. anNiz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı. c

Informalisierung und Unkonventionalisierung des antikonfessionellen Aktivismus vor und w¨ahrend der Protestwelle An der Protestwelle waren neben Parteien und NGOs auch unabh¨angige Akteure wie Graswurzelorganisationen aktiv beteiligt100 . Informelle und unkonventionelle Organisations100

Der Klassifizierung der Akteure wurde eine Skala der Organisiertheit zugrunde gelegt, auf der Akteure an verschiedenen Punkten zwischen den Polen der stark formal organisierten Parteien und den kaum formal organisierten Unabh¨ angigen eingeordnet werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich auch bei der abgestuften Kategorisierung in Parteien”, NGOs”, Graswurzelorganisationen” ” ” ” und Unah¨ angige” um Idealtypen handelt, so dass die empirisch beobachtbaren Akteure zuweilen ” hybride Eigenschaften aufweisen. Hybridit¨ aten zwischen den Idealtypen zeigen sich etwa in der Analyse des feministischen Kollektivs Nasawiya, dass sich explizit nicht als NGO, sondern als Mitglieder-gesteuertes Kollektiv” bezeichnet, aber dennoch bei den Beh¨orden als NGO registriert ” ˇ c b, die sich als Partei versteht, aber erkl¨art, keine Beteiligung ist, und in der Analyse von H . arakat Sa

254

8 Fazit

und Aktionsformen waren pr¨asent, allerdings handelte es sich bei der Informalisierung w¨ahrend der Protestwelle nicht um eine deutliche Z¨asur gegen¨ uber fr¨ uherem Aktivismus, sondern vielmehr um eine Tendenz. Zentrale Schritte in der Transformation des s¨akularen Aktivismus im Libanon weg von Parteien und hin zu NGOs bzw. in der Folge auch zum unabh¨angigen Aktivismus hatten bereits in den Jahren vor der Protestwelle stattgefunden. Sie sind historisch mit der Geschichte des Libanon seit Ende des B¨ urgerkriegs verkn¨ upft, in der einerseits insbesondere die Libanesische Kommunistische Partei (LCP) w¨ahrend der B¨ urgerkriegsjahre und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion an politischer Bedeutung verlor, und andererseits auch der NGO-Sektor nach den Massendemonstrationen gegen die syrische Besatzung im Jahr 2005 zun¨achst expandierte, in der Folge dieses Booms aber an Legitimit¨at einb¨ ußte. Zudem sind hier insofern deutliche Parallelen zu Entwicklungen in der Region erkennbar, als auch f¨ ur benachbarte Staaten der R¨ uckgang von Parteien, der Aufstieg von NGOs und sp¨ater die Verschiebung hin zu informellem Aktivismus konstatiert wurden (vgl. Duboc 2011; Haugbolle 2013). Die von unabh¨angigen Aktivisten artikulierten Distanzierungen von Parteien und von NGOs sind somit nicht ausschließlich als mit der Protestwelle verbundene Br¨ uche zu verstehen, sondern beziehen sich auf partei- bzw. NGO-kritische Diskurse, die bereits in vorangegangenen Protestwellen und Kampagnen pr¨asent waren. Dennoch wurden im Kontext der Protestwelle Debatten um das Verh¨altnis des antikonfessionellen Aktivismus zu Parteien, NGOs und den mit diesen Organisationen assoziierten Aktionsformen gef¨ uhrt. Die Pr¨asenz informeller Organisationsformen und unkonventioneller Aktionsformen in der Protestwelle wurde bewegungsintern explizit diskutiert. Dies betrifft in h¨oherem Maß die Ebene der Organisationsformen als die Ebene der Aktionsformen: So sind einige zentrale Akteure als Graswurzelorganisationen” zu klassifizie” ren (Della Porta und Diani 2006: 145ff. Rucht 1996: 188ff.), etwa La¨ıque Pride und die Aktivistengruppe um das Protestzelt am Innenministerium. Aktivisten dieser genannten Gruppierungen sowie der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı betonten in Interviews die Informalit¨at ihrer Organisationsweise. Auf der Ebene der Aktionsformen ist ebenfalls eine Tendenz zu unkonventionellen Aktionen feststellbar, aber diese war deutlich schw¨acher. So betonten insbesondere interviewte Aktivisten von La¨ıque Pride die Bedeutung von Kunst und Spaß f¨ ur ihre Aktionen, und artikulierten in diesem Zusammenhang insbesondere Abgrenzung von den Repertoires der Parteien. c

Restrukturierung des antikonfessionellen Aktivismus: Unabh¨angige Aktivisten als Partei-Nachfolger Parteien und NGOs haben ihre vormals dominante Rolle im s¨akularen Aktivismus des Libanon in gewisser Weise eingeb¨ ußt, aber sie sind dennoch aktiv und nahmen innerhalb der Protestwelle zentrale Positionen ein. Die in 1.1 formulierten Thesen bed¨ urfen somit an dieser Stelle der weiteren Modifizierung: Anders als dort vermutet, sind Parteien und NGOs als effektive und legitime Mittel von zivilgesellschaftlichem Protest” nicht durchgehend ” gescheitert”, sondern sie nehmen durchaus weiterhin relevante Positionen im s¨akularen ” und antikonfessionellen Aktivismus ein. Ihre Legitimit¨at hat allerdings abgenommen und ihre Effektivit¨at wird unter Aktivisten angezweifelt. Das Verh¨altnis zwischen unterschiedlichen Akteuren und zwischen unterschiedlichen Aktionsformen ist aber nicht ausschließlich durch Distanzierung gepr¨agt. Insbesondere an formal-politischen Institutionen anzustreben (s. 6.1.3.1).

8.2 Die Struktur des antikonfessionellen Aktivismus

255

das Verh¨altnis zwischen Akteuren, die innerhalb der Skala der Organisiertheit an den entgegengesetzten Polen angesiedelt sind, also zwischen den kaum formal organisierten, h¨aufig erst seit kurzer Zeit politisch aktiven Unabh¨angigen und den relativ stark formalisierten, seit Jahrzehnten aktiven Parteien, ist vielmehr hybride und ambivalent: Die Positionierung unabh¨angiger Aktivisten gegen¨ uber Parteien wie insbesondere der LCP ist einerseits durch Distanzierung gepr¨agt, andererseits zugleich durch Kontinuit¨aten, die sich sowohl in weitgehender Stabilit¨at der Repertoires als auch in nostalgischen R¨ uckbez¨ ugen manifestieren. Die neueren unabh¨angigen Akteure der Protestwelle grenzen sich also von den abgestiegenen Parteien und teilweise auch von NGOs einerseits ab und orientieren sich andererseits zugleich an ihnen. Sie nehmen somit eine Position als deren Nachfolger ein. Es handelt sich um eine Restrukturierung” (U. Beck 1986, 2008) des antikonfessionellen und s¨akularen ” Aktivismus: Der Aktivismus entstrukturiert sich, indem bestimmte Organisations- und Aktionsformen verlassen werden. Auf diese Herausl¨osung folgt aber der Schritt der Wie” dereinbindung”, indem neue Gruppierungen gegr¨ undet werden (vgl. U. Beck 1986; Kron und Hor´acek 2009), der antikonfessionelle Aktivismus restrukturiert sich in neuen Formen. Diese Akteure bestehen somit in Teilen aus restrukturierten Fragmenten der ¨alteren Akteure und sind somit in deren Geschichte historisch verwurzelt. Die historischen Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren spiegelt sich, wie Tilly ¨ (2008: 27f.) gezeigt hat, auch in der Ahnlichkeit ihrer Repertoires”. In der Protestwelle ” war dies beispielhaft an der Ausgestaltung von Demonstrationen und M¨arschen durch verschiedene Akteure zu beobachten: Sowohl Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı als auch La¨ıque Pride veranstalteten derartige Aktionen, aber La¨ıque Pride arbeitete aktiver und expliziter an der Weiterentwicklung dieser Aktionsform, indem die Organisatoren Clowns und Trommelgruppen gezielt anfragten und die Veranstaltung dezidiert nicht als Demonstration”, ” sondern als Marsch” bezeichneten. Hier wird deutlich, dass Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı we” sentlich enger mit Parteien und deren Repertoires verbunden ist als La¨ıque Pride. Letztere zeigte hingegen bei der Innovation der Repertoires st¨arkere Aktivit¨at, womit sie sich letztlich auch expliziter und entschiedener von der etablierten Aktionsform Demonstration”, ” wie sie auch von Parteien verwendet wird, abgrenzte. c

c

Informalisierung und Unkonventionalisierung als Ergebnis von Resignation und Frustration u ¨ber konventionelle Politik Die Wahl informeller Organisationsformen und unkonventioneller Aktionsformen wurde von Aktivisten in Interviews h¨aufig negativ begr¨ undet, also nicht durch Verweise auf die Vorz¨ uge der gew¨ahlten Formen, sondern auf ihre Distanzierung von formalen Organisationsformen oder konventionellen Aktionsformen. Die Tendenzen einer Transformation des s¨akularen und antikonfessionellen Aktivismus hin zu informelleren und unkonventionelleren Formen ist nicht nur Ergebnis aktiver Entscheidungen, sondern auch ein Ausdruck von Frustration und Resignation: Die Distanzierung insbesondere junger unabh¨angiger Aktivisten von Parteien (und teilweise NGOs) sowie von deren Organisations- und Aktionsformen ist nicht nur ein Ergebnis einer Entscheidung, bei der mehrere Alternativen zur Verf¨ ugung stehen. Vielmehr ist die Distanzierung von etablierten Akteuren auch Ergebnis von Resignation und Frustration mit Blick auf die eigene Position gegen¨ uber den formal-politischen Institutionen sowie von geringer Ausstattung mit Ressourcen, welche das Agieren innerhalb der formal-politischen Institutionen erm¨oglichen w¨ urden.

256

8 Fazit

Die formale Politik gilt den Aktivisten, die sich von ihr distanzieren, als korrupt und somit als abzulehnen sowie als erfolglos und untauglich f¨ ur nennenswerte Reformen. Zugleich aber besteht f¨ ur die betroffenen Aktivisten keinerlei realistischer Zugang zum System der formalen Politik, so dass ihr R¨ uckzug auf Organisations- und Aktionsformen im Bereich des Politischen, also außerhalb der formal-politischen Institutionen ein folgerichtiges, aber passives Ergebnis dieser Exklusion darstellt. Welche Formen von Organisation und Aktion die Aktivisten w¨ahlen, h¨angt demnach auch davon ab, ob sie sich in der Logik der Politik oder der Logik des Politischen verorten – diese Verortung h¨angt wiederum davon ab, welche Zug¨ange zu formal-politischen, staatlichen Institutionen bestehen und als wie erfolgreich und legitim diese Institutionen beurteilt werden. Die Mehrk¨opfigkeit der Protestwelle Schließlich ist bez¨ uglich der Struktur der Protestwelle auch zu beachten, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren bestanden. Hier treffen Thesen von Della Porta und Diani (2006) u ¨ber die Struktur sozialer Bewegungen zu: Die Protestwelle war gepr¨agt von Mehrk¨opfigkeit” und Segmentierung” (Della Porta und Diani 2006: 157ff.). Es ist ” ” keine hierarchische F¨ uhrungsstruktur zu erkennen, aber auch kein unverbundenes Nebeneinander homogener Akteure, sondern die verschiedenen Akteure und Akteursnetzwerke bildeten Segmente, die untereinander in vielf¨altiger Weise interagierten (vgl. Rucht 2004). Sie kooperierten miteinander, blieben aber letztlich autonom. Da die einzelnen Segmente einer Bewegung also voneinander relativ unabh¨angig sind, k¨onnen innerhalb einer Bewegung mehrere parallele F¨ uhrungszentren existieren. So hatten innerhalb der Protestwelle mehrere Akteure f¨ uhrende und zentrale Positionen inne, insbesondere die Graswurzelorganisation La¨ıque Pride, die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı und die Kommunistische Partei (LCP). Aus dieser Mehrk¨opfigkeit folgten mehrere Implikationen f¨ ur die Struktur der Protestwelle: Im R¨ uckblick bestehen Unklarheiten und widerspr¨ uchliche Erz¨ahlungen u ¨ber entscheidende Schritte, welche die Expansion der Protestwelle steuerten, da durch das parallele Agieren mehrerer autonomer Akteure keine eindeutige F¨ uhrungsrolle zugeordnet werden kann. Zudem bef¨orderte das Vorhandensein mehrerer unterschiedlicher F¨ uhrungszentren die Mobilisierung, da unterschiedliche Themen und Stile angesprochen wurden, aber die Autonomie der Segmente, ihre Konkurrenz untereinander und das Fehlen u ¨bergreifender F¨ uhrungshierarchien bef¨orderten zugleich die Spaltung. So resultierten Kontroversen zwischen mehreren K¨opfen” u ¨ber angemessene thematische, organisatorische und aktions” bezogene Strategien in der Spaltung der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, welche die Kontraktionsphase der Protestwelle pr¨agte. c

c

8.3 Die diachrone Perspektive: Transformationen der Organisations- und Aktionsformen vor, w¨ ahrend und nach der Protestwelle • Die Fragmentierung der s¨akularen libanesischen Zivilgesellschaft kann nur in Ausnahmef¨allen so u ¨berwunden werden, dass es zu breiter und gemeinsamer Mobilisierung kommt. • Die Formierung neuer Akteure und die Innovation der Repertoires in der Expansionsphase der Protestwelle wurden beg¨ unstigt durch mehrere kontingente mobili” sierungsf¨ordernde Ereignisse” (Koopmans 1998). Dies sind eine libanesische Regie-

8.3 Die diachrone Perspektive

257

rungskrise, spillover -Effekte (Whittier 1997, 2004) durch den arabischen Fr¨ uhling” ” und die Verf¨ ugbarkeit eines integrierenden Masterrahmens” (Snow 2004; Snow und ” Benford 1992). • Auch Transformationen der Organisations- und Aktionsformen im Verlauf der Protestwelle wurden entscheidend durch bewegungsexterne Ereignisse auf der Ebene der formal-politischen Institutionen beeinflusst, insbesondere durch die Z¨asur des Arabischen Fr¨ uhlings”. ” • Ein zentraler Effekt der Protestwelle bestand in der Transformation bewegungsinterner Strukturen (vgl. Tilly 2008), welche in nachfolgende Protestwellen hineinwirkten. Die Konfiguration des antikonfessionellen Aktivismus stellte sich zu verschiedenen Zeitpunkten der Protestwelle unterschiedlich dar. Um diese diachrone Perspektive in der Analyse zu ber¨ ucksichtigen, wurden anhand des theoretischen Modells der Protestwelle” (Ko” opmans 2004; Kriesi u. a. 2003; Tarrow 1989, 1991, 1998) mehrere Phasen unterschieden. Dies sind nach dem Modell von Koopmans (2004: 22ff.) die Phasen der Expansion”, ” Transformation” und Kontraktion”. Phasen¨ ubergreifend wurde zudem der H¨ohepunkt ” ” ¨ der Mobilisierung, der am Ubergang zwischen Expansionsphase und Transformationsphase zu lokalisieren ist, als Ausnahmeepisode” (Bayat 2013b; s. auch Tarrow 1993, 2011) ” bezeichnet. Die Phasen vor und nach der Mobilisierung stellen Phasen der Latenz” (Me” lucci 1984; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 149) dar. ¨ Uberwindung der Fragmentierung f¨ ur die Dauer der Protestwelle Die entscheidende Annahme u ¨ber eine Latenzphase (vgl. Melucci 1984; zitiert nach Della Porta und Diani 2006: 149) besteht darin, dass zwischen Protestwellen die Strukturen des Aktivismus nicht verschwinden, sondern latent vorhanden bleiben. So bestand die antikonfessionelle und s¨akulare Zivilgesellschaft bereits vor 2010 und besteht auch nach 2012 weiter, wobei allerdings w¨ahrend der Latenzphasen zahlreiche Teilnehmer inaktiv werden und zahlreiche Organisatoren und Organisationen mit geringerer Intensit¨at aktiv sind als w¨ahrend einer Welle. Die s¨akulare libanesische Zivilgesellschaft ist durch so starke Fragmentierung gekennzeichnet, dass es zur gemeinsamen Mobilisierung nur in Ausnahmef¨allen kommt”, wurde ” best¨atigt. Der in dieser Arbeit untersuchte Ausnahmefall der Protestwelle ist als Zusammenspiel von strukturellen und diskursiven Faktoren analysierbar. Der eine zentrale Faktor bestand auf der Ebene der politischen Gelegenheitsstrukturen: W¨ahrend die Struk” turmerkmale” (Koopmans 1998: 223) f¨ ur antikonfessionellen Aktivismus durch einen versperrten Zugang zum formal-politischen System gepr¨agt sind, wurde dies zu Beginn des Jahrs 2011 durch die kontingenten mobilisierungsf¨ordernden Ereignisse” (Koopmans ” 1998: 223) des Arabischen Fr¨ uhlings” sowie einer libanesischen Regierungskrise aufge” weicht. Ein weiterer zentraler Faktor, welcher die Mobilisierung beg¨ unstigte, bestand in der Konstruktion eines Masterrahmens” (Snow 2004; Snow und Benford 1992), der durch ” spillover -Effekte (Whittier 1997, 2004) des Arabischen Fr¨ uhlings” inspiriert war: Dabei ” wurde der bereits pr¨asente Rahmen der allgemeinen Kritik am Konfessionalismus erg¨anzt durch die Forderung Sturz des Systems”, die durch den Arabischen Fr¨ uhling” als Rah” ” mung verf¨ ugbar war.

258

8 Fazit

Transformation des Aktivismus im Verlauf der Protestwelle als Reaktion auf interne und externe Faktoren Die diachrone Analyse der Protestwelle in ihren verschiedenen Phasen zeigt dar¨ uber hinaus, dass die Organisations- und Aktionsformen der Protestwelle sich im Verlauf der Phasen ver¨anderten. Die sichtbarsten Unterschiede zeigen sich im Bereich der Verbindungen, die zwischen den einzelnen Segmenten der Protestwelle bestanden: So waren die Expansionsphase und insbesondere die Ausnahmeepisode gepr¨agt von Enthusiasmus und Koali” tionsarbeit” (Rucht 2004: 203f.), w¨ahrend es in der Transformationsphase zur Abspaltung neuer Akteure sowie zur Polarisierung” zwischen den Tendenzen von Radikalisierung” ” ” und Institutionalisierung” kam (McAdam, Tarrow und Tilly 2001: 314, 322; Kriesi u. a. ” 2003: 124). Auch mit Blick auf die Handlungslogiken der Aktivisten zeigten sich im Lauf der Protestwelle Ver¨anderungen. Die Logik des Politischen, also der Ver¨anderung, Herausforderung und Neukonstituierung (s. Bedorf und R¨ottgers 2010; Br¨ockling und Feustel 2010a; ˇ zek 2009a), war w¨ahrend des H¨ohepunkts der Mobilisierung, der Ausnahmeepisode” Ziˇ ” (Bayat 2013b), pr¨asenter als in der Anfangs- und Endphase der Protestwelle. Das Politische ist in der Logik einiger Akteure grundlegend eingeschrieben, aber im Rahmen des Kontinuums [...] m¨oglicher Aggregatzust¨ande”’ (Celikates und Jaeggi 2006) zwischen ” ’ den Polen der Politik und des Politischen ist die Verschiebung hin zum Politischen unter g¨ unstigen Kontextbedingungen besonders stark ausgepr¨agt. Wie Celikates und Jaeggi (2006) mit Blick auf verschiedene Formen politischer Praxis feststellen, erscheint in Mo” menten euphorisch-kollektiven Handelns [...] alles gleichzeitig ver¨anderbar und m¨oglich”. Ein solcher Moment bestand w¨ahrend der Ausnahmeepisode: Hier war ein Anstieg unkonventioneller Organisations- und Aktionsformen innerhalb des Aktivismus beobachtbar, etwa in Experimenten mit offenen und ahierarchischen Organisationsstrukturen und in den Kulturveranstaltungen am Protestzelt vor dem Innenministerium. Die beschriebenen Transformationen der Kooperationen und Handlungslogiken der Aktivisten, die w¨ahrend der Protestwelle stattfanden, wurden durch mehrere Faktoren beeinflusst. So sind sie erstens als normaler Verlauf von Protestwellen zu verstehen, wie sie etwa von Koopmans (2004) postuliert wurden. Zweitens sind sie Ergebnisse strategischer Entscheidungen von Aktivisten, wobei diese Feststellung insofern zu relativieren ist, dass diese strategischen Entscheidungen, wie oben gezeigt, wiederum durch Strukturen eingeschr¨ankt sind. Drittens zeigen sich in der Analyse der antikonfessionellen Protestwelle deutliche Einfl¨ usse von bewegungsexternen Faktoren, also von verschiedenen kontingen” ten mobilisierungsf¨ordernden Ereignissen” (Koopmans 1998: 223) und spillover -Effekten (Whittier 1997, 2004). Die Interpretation der Protestverl¨aufe durch die Akteure und die Analyse der zeitlichen Zusammenh¨ange zwischen bewegungsinternen Transformationen und externen Ver¨anderungen der politischen Gelegenheitsstrukturen zeigt, dass der antikonfessionelle Aktivismus in hohem Maße von der formal-politischen Ebene abh¨angig ist: So fand das erste Ereignis der Protestwelle, der Marsch von La¨ıque Pride 2010, noch zu einem Zeitpunkt relativer politischer Stabilit¨at statt, w¨ahrend einige Monate sp¨ater die Ereignisse ¨ des Arabischen Fr¨ uhlings” in Tunesien und Agypten als Anschub f¨ ur die Expansion der ” Protestwelle wirkten. Die beschriebenen Transformationen, die schließlich der Kontraktion vorausgingen, waren ebenfalls maßgeblich durch externe Ereignisse beeinflusst, indem im Zusammenhang mit Debatten um angemessene Reaktionen auf die Versch¨arfung des Konflikts in Syrien die befriedeten Konfliktlinien” (Kriesi u. a. 2003: 5ff.) zwischen den ”

8.3 Die diachrone Perspektive

259

politischen Lagern auch innerhalb der Protestwelle an Relevanz gewannen und den Aktivismus l¨ahmten. Nachwirkung der Protestwelle auf die Akteure und Strategien der s¨akularen Zivilgesellschaft Die Fragmentierung der s¨akularen Zivilgesellschaft kennzeichnete nicht nur die Latenzphase vor der Protestwelle, sondern auch die Latenzphase, die nach der Protestwelle folgte. Die Struktur des latenten Aktivismus in den beiden Phasen vor und nach der Welle weist allerdings Unterschiede auf, da die Protestwelle strukturelle Ver¨anderungen bewirkte. Die These von Tilly (2008), die dauerhafteste Wirkung einer Protestwelle bestehe in ver¨anderten Beziehungen zwischen beteiligten Akteuren, die in folgenden Kampagnen ” kooperieren” (Tilly 2008: 90), ist kongruent mit Einsch¨atzungen zur Protestwelle, die eine Beobachterin bereits 2011 vorausschauend formulierte: [I]t will have succeeded in inspiring thousands of people across Lebanon and its diaspora. It will have succeeded in being the impetus for the formation of networks that will last far beyond these weekly protests. (Mikdashi 25.03.2011). Tilly (2008: 28) weist zu Recht darauf hin, dass die politischen und sozialen Effekte von Protest h¨aufig schrittweise auftreten und somit nicht eindeutig zuzuordnen sind. Dennoch lassen sich mit nunmehr mehreren Jahren Abstand zur Protestwelle durchaus schrittweise Effekte feststellen, welche sich auf die angesprochenen Beziehungen zwischen Bewegungsakteuren bzw. die Formierung von [dauerhafteren] Netzwerken” (Mikdashi 25.03.2011) ” beziehen. Die Kampagnen gegen die M¨ ullkrise im Jahr 2015 und die Teilnahme der Liste Beirut Madinati” (Bayr¯ ut mad¯ınat¯ı, dt. Beirut ist meine Stadt”) an den Beiruter ” ” Kommunalwahlen 2016101 bauten auf den bestehenden Strukturen des Aktivismus auf, in deren Entwicklung ein deutlicher Einfluss der antikonfessionellen Protestwelle erkennbar ist. So wurde mit Blick auf die Kampagne gegen die M¨ ullkrise festgestellt: The mobilization and commitment of today’s protestors grows and builds upon previous networks of activism. [...] Each protest is increasingly larger and more diverse than its predecessor, and is met with escalating violence by armed forces. (Mikdashi 26.08.2015) Vor diesem Hintergrund stellt der relative Wahlerfolg von Beirut Madinati”102 einen ” Ausdruck der vermehrten Sichtbarkeit der unabh¨angigen, s¨akularen Zivilgesellschaft im Libanon dar: Kandidaten von Beirut Madinati” bezeichneten die Liste als Graswurzel” ” bewegung” (Koubaissy und D. Beck 23.05.2016; s. auch Altaner 20.05.2016), sie distanzierten sich explizit von den in Parlament und Regierung vertretenen Systemparteien und 101

102

Hier best¨ atigt sich, dass die s¨ akulare und antikonfessionelle Zivilgesellschaft im Libanon, trotz der außergew¨ ohnlichen Mobilisierungserfolge in den Provinzen w¨ahrend der Protestwelle, als urban zu charakterisieren ist, denn auch bei den beiden hier zu nennenden nachfolgenden Protestwellen handelte es sich um Kampagnen, die auf die Hauptstadt Beirut bezogen waren. Im Mai 2016 erhielt die Liste Beirut Madinati bei den Kommunalwahlen in Beirut mehr als 30% der abgegebenen Stimmen; ein bemerkenswertes Ergebnis, weil Beirut Madinati gegen die gemeinsame Liste der etablierten Parteien und Patrone antrat. Da allerdings das Wahlsystem der Stadt Beirut einer personenbezogenen Mehrheitswahl entspricht, errangen keine Kandidaten der Liste einen Sitz im Stadtrat.

260

8 Fazit

insbesondere von den politischen Bl¨ocken 8. M¨arz” und 14. M¨arz”, und die Kandidaten ” ” der Liste sind keine Angeh¨origen der etablierten politischen Elite, sondern gr¨oßtenteils in der parteiunabh¨angigen s¨akularen Zivilgesellschaft verortet. Als ein Vorl¨aufer von Beirut ” Madinati” gilt das Netzwerk You stink” (vgl. Altaner 20.05.2016; Elsady, El Khazen und ” Kobaissy o.D.), das 2015 gegen die M¨ ullkrise protestierte; als eine Wegbereiterin f¨ ur You ” stink” gilt wiederum Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı (vgl. Mikdashi 26.08.2015; Atallah 2016). Organisatorische Transformationen des s¨akularen und antikonfessionellen Aktivismus, die in der Protestwelle geformt wurden, wirkten also in die darauf folgende Latenzphase sowie in nachfolgende Protestwellen hinein. Die Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, die w¨ahrend der Protestwelle ein zentrales Bewegungsnetzwerk verschiedener Akteure darstellte, war allerdings in den genannten sp¨ateren Protestwellen nicht mehr aktiv. Auch die f¨ ur die Koalition namensgebende Forderung nach dem Sturz des konfessionalistischen Systems” war als Masterrahmen auf die Pro” testwelle 2011-2012 beschr¨ankt, w¨ahrend bei den sp¨ateren Kampagnen eher der Begriff der Staatsb¨ urgerschaft in den Fokus r¨ uckte103 . Der Masterrahmen der Protestwelle diente ¨ zur Uberbr¨ uckung verschiedener Anliegen, zu denen ein grundlegendes diffuses Unbehagen mit der politischen Situation, die Kritik an der Lagerbildung zwischen den Bl¨ocken 8. M¨arz und 14. M¨arz und eine allgemeine Frustration gegen¨ uber Parteien z¨ahlten. Diese Anliegen wurden in den Kampagnen von You stink” 2015 und von Beirut Madinati” ” ” 2016 weiterhin behandelt, aber unter andere Rahmungen gefasst. c

c

8.4 Ziele, Erfolge und politische Wirkung des antikonfessionellen Aktivismus: Die Logiken verschiedener Organisations- und Aktionsformen • Die Auswahl von Organisations- und Aktionsformen wird durch die verf¨ ugbaren Ressourcen und Repertoires beschr¨ankt, und innerhalb dieses Rahmens durch Ziele und Politikkonzepte der Akteure bestimmt. • Einige Organisations- und Aktionsformen waren nicht auf konkrete Reformziele im Sinne politischer Ergebnisse” (vgl. Staggenborg 1995) ausgerichtet, sondern be” saßen in sich programmatische Qualit¨at. Sie zielen nicht nur auf ein Programm, sondern sind das Programm. • Einige informelle Organisationsformen der Protestwelle sind insofern als programmatisch zu bezeichnen, als sie Abwendung von formal-politischen Praktiken und Hinwendung zu organisatorischen Alternativen verk¨orperten. • Einige Aktionsformen sind insofern als programmatisch zu bezeichnen, als ihr Ziel im Moment der Durchf¨ uhrung bereits erf¨ ullt wird. Dies gilt insbesondere f¨ ur die 103

So wurde etwa die Kritik am Konfessionalismus bei der Liste Beirut Madinati” zur Beiruter Kom” munalwahl zwar thematisiert, aber nicht an prominenter Stelle, wie eine Aktivistin und Kandidatin in einem Medieninterview erl¨ autert: Das war kein Hauptpunkt unserer Kampagne, aber es war eine Strategie, um ” das Vertrauen der B¨ urger innen zu gewinnen, indem wir sagten, als Kampagne repr¨ asentieren wir die Vielfalt in Beirut, ob nun auf einem intergenerationellen Level, dem konfessionellen oder wenn es um Gender geht, etc.” (Koubaissy und D. Beck 23.05.2016)

8.4 Ziele, Erfolge und politische Wirkung des antikonfessionellen Aktivismus

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Ziele von Mobilisierung” (Staggenborg 1995) und Unterbrechung” (Ranci`ere 2002; ” ” ˇ zek 2009b). Ziˇ • Ob Aktivismus als erfolgreich zu bezeichnen ist, h¨angt von der jeweiligen Zieldefinition ab. Wenn der Erfolg der Protestwelle bzw. bestimmter Akteure oder Aktionen an verschiedenen Stellen stark unterschiedlich bewertet wird, so liegen dem disparate Zieldefinitionen zugrunde. • Einige unterbrechende Aktionsformen zielen auf die politische Subjektivierung (vgl. ˇ zek 2009b) der libanesischen S¨akularen, die sich als anteillos” Ranci`ere 2002; Ziˇ ” (Ranci`ere 2002) konzipieren. Sie verorten sich selbst als exkludiert vom konfessionalistischen formal-politischen System und sind somit als subjektiv anteillos” zu ” verstehen. • Die konkretesten antikonfessionellen Reformen der letzten Jahre wurden von Akteuren erreicht, die sich in einer machtnahen Position befinden. Protest ist hingegen eine Ressource der Machtlosen” (Lipsky 1968; Della Porta und Diani 2006: 166f.). ” Die Ausrichtung auf Mobilisierungs- und Unterbrechungsziele ist somit auch ein Ergebnis der Einsch¨atzung, das politische Ergebnisse aus der machtfernen Position der Aktivisten heraus nicht erreichbar sind. Mobilisierung und Unterbrechung werden dabei als Ersatzziele” des Aktivismus konstruiert. ” Die Wahlm¨oglichkeiten der Akteure f¨ ur bestimmte Organisations- oder Aktionsformen in sozialen Bewegungen sind nicht beliebig breit. Sie werden beschr¨ankt durch die verf¨ ugbaren Ressourcen sowie, wie unter R¨ uckgriff auf Tilly (2008) oben gezeigt wurde, durch die verf¨ ugbaren Repertoires. Innerhalb dieser strukturellen Rahmenbedingungen stellt sich die strategische Auswahl der Organisations- und Aktionsformen von Akteur zu Akteur unterschiedlich dar. Organisations- und Aktionsformen als politisches Programm Zusammenh¨ange zwischen Formen und Zielen konnten sowohl auf der Ebene der Organisationsformen als auch auf der Ebene der Aktionsformen identifiziert werden. Auf der Ebene der Organisationsformen wurde etwa in der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, also bei einem der zentralen Akteure, mit informellen, offenen und ahierarchischen Organisationsformen experimentiert. Die Wahl einer Organisationsform war dabei nicht nur ¨ ¨ durch praktische Uberlegungen geleitet, sondern auch durch politische Uberzeugungen. Wie Bewegungsforscher mit Blick auf neue soziale Bewegungen bzw. globalisierungskritische Bewegungen gezeigt haben, muss die Wahl einer Organisationsweise insbesondere bei Protestbewegungen, die sich von den etablierten Institutionen deutlich abgrenzen, auch als Selbstzweck” gesehen werden (J. L. Cohen 1985: 670, 689; s. auch Graeber 2004: 212). ” Diese Perspektive erkl¨art, warum zahlreiche Aktivisten in Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı bereit waren, Chaos, Ineffizienz, Unverbindlichkeit und Instabilit¨at zu akzeptieren: Die dadurch gepr¨agten offenen Organisationsformen sind ihre Ideologie” (vgl. Graeber 2004: ” 212). Hier geschah auch bewegungsintern eine deutliche Abgrenzung von den Institutionen der Politik, also der institutionellen Ordnung” (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappen” text) der etablierten Parteien und NGOs, w¨ahrend im Sinne des Politischen, also des ” c

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8 Fazit

Ereignisses und der Unterbrechung” (Br¨ockling und Feustel 2010a: Klappentext) die internen Abl¨aufe neu erfunden” (Graeber 2004: 212) werden sollten. Die offenen Organisa” tionsformen dienten der Betonung interner Demokratie und der Offenheit f¨ ur ein breites Spektrum von Themen und Akteuren, und somit der Legitimit¨at, die mit der Abgrenzung von etablierten formalen Akteuren wie Parteien und NGOs verbunden war. In der Transformationsphase der Protestwelle entwickelte sich zwischen dem Prinzip der Offenheit und dem Prinzip der Abgrenzung vom formal-politischen System eine Konkurrenz: Als an den offenen Organisationstreffen der Koalition Vertreter der Parteien Amal und SSNP teilnahmen, wurden in der Folge die Offenheit und Informalit¨at der Organisationsformen eingeschr¨ankt, um die Abgrenzung von den Systemparteien aufrecht erhalten zu k¨onnen. Auch die Ebene der Aktionsformen in sozialen Bewegungen wird beeinflusst durch die jeweiligen Ziele, etwa durch ideologische Visionen” und kollektive Identit¨aten” (Taylor ” ” und Van Dyke 2004: 277). Dabei reflektieren die Aktionsformen, die ein Akteur w¨ahlt, seine jeweiligen Protestziele (vgl. Della Porta und Diani 2006: 178). Die Ziele, welche durch verschiedene Akteure und verschiedene Aktionen in der Protestwelle verfolgt wurden, waren divers. Diese Beobachtung erkl¨art die Diskrepanzen in der Einsch¨atzung der Protestwelle bzw. einzelner Aktionen als erfolgreich oder erfolglos: Ob eine Aktion als erfolgreich oder als effektiv eingestuft wird, h¨angt maßgeblich von der jeweiligen Zieldefinition ab. In der Protestwelle zielten die meisten Aktionen auf politi” sche Ergebnisse”104 von Entkonfessionalisierung und Staatsb¨ urgerschaft und waren somit 105 Mittel” f¨ ur das Erreichen eines politischen Ziels” (Staggenborg 1995) . Zugleich aber ” ” wurden bei einigen Aktionen durchaus auch Ziele verfolgt, die nicht mittelbar auf po” litische Ergebnisse” ausgerichtet waren, sondern Ziele, welche unmittelbar im Moment der Durchf¨ uhrung einer Protestaktion erreicht werden, etwa Mobilisierungsergebnisse” ” ˇ zek (Staggenborg 1995) oder Unterbrechung und Subjektivierung (vgl. Ranci`ere 2002; Ziˇ 2009b). Insbesondere Aktionen, welche die letztgenannten Ziele verfolgen, kann programmatische Qualit¨at zugesprochen werden – f¨ ur sie gilt, dass die Protestaktion selbst das Programm ist. Bestimmte Aktionsformen der Protestwelle verfolgten nicht unbedingt ein politisches Ziel im engeren Sinn, sondern sind als eine Art Selbstzweck zu betrachten. Manche Protestaktionen verfolgen keine Ziele auf der Ebene konkreter formal-politischer Reformen, sondern bestimmte Protestziele werden bereits durch die Durchf¨ uhrung der Protestaktion erreicht. In diesem Sinn kann die Wahl von Aktionsformen – ebenso wie die Wahl von Organisationsformen – programmatische Qualit¨at besitzen. Dabei ist allerdings der Terminus programmatisch” gegen¨ uber dem oben verwendeten Terminus Selbstzweck” ” ” (J. L. Cohen 1985: 670, 689) zu bevorzugen, um die abwertende Konnotation des Begriffs Selbstzweck” zu vermeiden. Die Einsch¨atzung als programmatisch” impliziert vielmehr ” ” politische Relevanz, so dass die von einigen interviewten Aktivisten als unpolitisch” oder ” nicht effektiv” eingesch¨atzten Formen aufgewertet werden. Sie sind politisch” in dem ” ” Sinn, dass sie staatliche Politik thematisieren und Dissens artikulieren.

104 105

Zur Unterscheidung zwischen politischen Ergebnissen, Mobilisierungsergebnissen und kulturellen Ergebnissen s. Staggenborg (1995), Taylor und Van Dyke (zitiert nach 2004: 278ff.). Die Verwendung der Kategorien Mittel” und Ziel” orientiert sich an Kriesi u. a. (2003: 38). ” ”

8.4 Ziele, Erfolge und politische Wirkung des antikonfessionellen Aktivismus

263

Mobilisierung und Subjektivierung als Protestziele der Machtlosen So erl¨auterten Aktivisten von La¨ıque Pride in Interviews, dass ihre M¨arsche” nicht auf ” ein konkretes politisches Programm ausgerichtet seien, sondern in einem fr¨ohlichen, festlichen und außergew¨ohnlichen Rahmen die Pr¨asenz s¨akularer Libanesen demonstrieren sollten. Derartige Aktionsformen, welche prim¨ar auf ¨offentliche Pr¨asenz einer bestimmten Gruppierung ausgerichtet sind, k¨onnen unter R¨ uckgriff auf das Konzept der Anteil” ˇ zek 2009b). Die Aktivisten losigkeit” von Ranci`ere (2002) analysiert werden (s. auch Ziˇ verorten sich selbst als S¨akulare in einer Position, welche vom konfessionalistischen formalpolitischen System exkludiert ist. Diese Selbstverortung als politisch Anteillose motiviert ˇ zek 2009b) zielen, also Aktionsformen, welche auf Subjektivierung” (Ranci`ere 2002; Ziˇ ” auf Erm¨achtigung als Subjekte innerhalb des formal-politischen Systems. Die antikonfessionellen Aktivisten der Protestwelle, die sich im Zusammenhang mit Diskussionen um die Aktionsformen von La¨ıque Pride als anteillos verorten, sind allerˇ zek (2009b) behandelten Anteillosen”, dings, anders als die von Ranci`ere (2002) und Ziˇ ” keineswegs subaltern, sondern Angeh¨orige der akademisch gebildeten Mittelschicht. Die beschriebene Selbstverortung ist daher zu analysieren als subjektive Anteillosigkeit, die unabh¨angig von ihrer ¨okonomischen und sozialen Situation besteht. Folgerichtig sind mit dem Ziel der Subjektivierung gew¨ahlte Aktionsformen wie die M¨arsche” von La¨ıque Pride ” zwar unterbrechend und rufen Irritationen hervor, da sie von der etablierten Aktionsform der Demonstration” abweichen, und nicht mit einem konkreten Programm verkn¨ upft ” ˇ zek (2009b) analysierten Aufst¨ande sind. Sie bleiben dabei aber, anders als etwa die von Ziˇ der anteillosen Pariser Banlieue-Jugend, harmlos, nicht radikal und nicht destruktiv. Trotz ihrer subjektiven Anteillosigkeit sind die Aktivisten von La¨ıque Pride und ¨ahnlichen Aktionen nicht in einem Maß exkludiert, dass ihnen nur der radikale und destruktive Protest ˇ zek (2002: 20) bleiben, eher um risikofreie Feierbliebe, sondern es handelt sich, um bei Ziˇ ” abendrevolten”. Das Ziel der Subjektivierung wird hier nicht verbunden mit Sichtbarkeit durch Destruktion, sondern mit der ¨offentlichen Zurschaustellung s¨akularer Lebenswelten. Es handelt sich um eine Ver¨offentlichung von Lebenswelten” (Schulze 2012: 41) bzw. um ” performing the frame” (Gamson 2004), also um das Zurschaustellen von s¨akularen, nicht ” konfessionell orientierten Lebensstilen und Praktiken. Aus dieser Perspektive ist verst¨andlich, dass Aktivisten die M¨arsche von La¨ıque Pride und weitere Aktionen der Protestwelle als erfolgreich bewerten, indem sie die Mobilisierungserfolge und die Breite der Medienberichterstattung als Erfolge bezeichnen. Im Bereich politischer Ziele hingegen blieb die Protestwelle ohne konkretes Ergebnis. Die konkreten, durch Erlasse oder ministeriale Anerkennungen abgesicherten antikonfessionellen Reformen der letzten Jahre – die Anerkennung der Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister 2009 und die Anerkennung einer im Libanon geschlossenen Zivilehe 2013 – wurden außerhalb der Protestwelle erreicht. Die Initiativen, welche diese Reformen durchsetzten, verwendeten keine Methoden des Protests, sondern bedienten sich ihrer juristischen Kenntnisse, ihrer Prominenz und ihrer Kontakte zu hochrangigen politischen Institutionen. Dies legt die These nahe, dass der entscheidende Faktor f¨ ur das Erreichen antikonfessioneller politischer Ergebnisse nicht in der Aktionsform liegt, sondern im Verh¨altnis zu den formal-politischen Institutionen: Wer, wie die Protagonisten der Initiativen f¨ ur die Anerkennung der Konfessionsstreichung und der Zivilehe, Zug¨ange zur Macht innerhalb der Politik besitzt, kann diese zur Durchsetzung von Reformen nutzen. Protest hingegen ist eine Ressource der Machtlosen” (Lipsky 1968; Della Porta und Diani 2006: 166f.). ”

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8 Fazit

¨ Diese Uberlegung erkl¨art eine unter Aktivisten gef¨ uhrte Kontroverse um die Anerkennung der Konfessionsstreichung aus dem Zivilregister. Das politische Ergebnis” (Stag” genborg 1995) der Konfessionsstreichung entspricht zwar antikonfessionellen Forderungen, aber die Initiative geschah innerhalb des konsolidierten Rahmens der Politik, den sie nicht radikal herausforderte. Sie fand innerhalb der formal-politischen Institutionen statt, wobei Institutionen stets den Zweck [haben], revolution¨ares Handeln zu verhindern und ” die Ordnung zu erhalten” (Celikates 2010a: 60). Demgegen¨ uber steht eine unter Aktivisten ebenfalls pr¨asente Argumentation, welche die staatlichen Institutionen der Politik als Mittel des antikonfessionellen Aktivismus grunds¨atzlich infrage stellt. So bezeichneten Aktivisten in Interviews die Initiative zur Konfessionsstreichung als Beruhigungsspritze” ” oder als nichts Großes”, weil es das System nicht st¨ urzen wird” (s. 7.2) und kritisierten ” ” somit die fehlende Radikalit¨at der Initiative. Hingegen erzielen Aktionen des Politischen zwar in der Regel keinen konkreten Reformerfolg, aber diese Artikulation von Dissens kann in derartigen F¨allen als Protestziel verstanden werden. In einem weiteren Fall außerhalb der Protestwelle, dem u ¨berraschend hohen Wahlergebnis der Liste Beirut Madinati” bei der Beiruter Kommunalwahl 2016, finden sich hingegen ” sowohl Logiken des Politischen als auch der Politik, so dass dieses Beispiel zeigt, wie die flexible Kombination von Verortungen in beiden Logiken Ergebnisse generieren kann, die von den beteiligten Aktivisten als erfolgreich beurteilt werden. Beirut Madinati” artikulierte ” einerseits entschiedene Distanz zu den Systemparteien und verwendete im Wahlkampf die unkonventionellen Aktionsformen, welche die Kandidaten aus ihren jeweiligen Graswurzelorganisationen mitbrachten (vgl. Koubaissy und D. Beck 23.05.2016). Zugleich bewegte die Liste sich mit ihren Zielen – dem Einzug in das Beiruter Stadtparlament und konkret formulierten Reformforderungen (vgl. Koubaissy und D. Beck 23.05.2016) – innerhalb der formal-politischen staatlichen Institutionen und somit innerhalb der Logik des Politik 106 . Obwohl kein Kandidat der Liste einen Sitz im Stadtparlament erhielt, bezeichneten Aktivisten und Kommentatoren die Kampagne als Erfolg. Ein erkl¨arter Erfolg bestand in der Sichtbarwerdung von Alternativen eine[r] s¨akularen Politik, jenseits des etablierten ” Parteienspektrums” (Altaner 20.05.2016). Es handelt sich also um Erfolge der Subjektivierung alternativer politischer Akteure jenseits der etablierten Institutionen, und um Erfolge bei der Mobilisierung von Unterst¨ utzern und W¨ahlern. Damit verbunden, lag ein weiterer, zentraler erkl¨arter Erfolg darin, die Institutionen der Politik herauszufordern: It is worth noting why this is a political victory. For one, a group of experts and activists who are largely amateurs in electoral politics managed to challenge fourteen governing parties and religious representatives at the polls. (Atallah 2016) W¨ahrend also die Mittel der Kampagne – die Teilnahme an einer Wahl und die Formulierung eines konkreten Wahlprogramms – innerhalb der Politik verortet waren, wurden 106

Dies mag einerseits darauf zur¨ uckzuf¨ uhren sein, dass Kommunalwahlen sich sehr von Parlaments” wahlen unterscheiden, weil sie n¨ aher an der Bev¨ olkerung sind” (Koubaissy und D. Beck 23.05.2016), so dass das Bed¨ urfnis der radikalen Distanzierung von der Politik auch bei unabh¨angigen Aktivisten weniger ausgepr¨ agt ist. Andererseits stellt ein Beobachter fest, dass die Aktivisten der Liste sich mit ihren Handlungslogiken der Politik durchaus bewusst von den Logiken vorhergegangener Protestwellen distanzierten: Anders als die YouStink-Bewegung wollten sie nicht mehr nur ” gegen das politische Establishment sein. Sie wollten selbst Politik machen” (Altaner 20.05.2016: Hervorhebung im Original).

8.4 Ziele, Erfolge und politische Wirkung des antikonfessionellen Aktivismus

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ihre Ergebnisse und Erfolge – die Subjektivierung exkludierter politischer Akteure und die Herausforderung der erstarrten Institutionen – aus der Logik des Politischen interpretiert. Ob Aktivisten sich in der Logik der Politik oder des Politischen verorten, ist ein Ergebnis der Erfahrungen, die sie mit der Politik gemacht haben. Diese Erfahrungen beeinflussen die Konzepte von sinnvollem politischen Handeln, welche die Akteure annehmen. An dieser Stelle ist die Relevanz politischer Generationen erkennbar: Aktivisten, welche dieselben Erfahrungen teilen (vgl. Mannheim 1929), etwa bez¨ uglich der wahrgenommenen Erfolglosigkeit bestimmter Akteure und Aktionen, bilden eine neue politische Generati” on” (Whittier 1997), die mit neuen Formen experimentiert, welche teilweise außerhalb der Institutionen der Politik verortet sind. Komplement¨ar dazu ist auch die Rolle der ¨alteren politischen Generation zu ber¨ ucksichtigen, welche als Organisationsged¨achtnis” (Whittier ” 1997: 775) Informationen u ¨ber Praktiken des Aktivismus weitergibt. In der antikonfessionellen Protestwelle lassen sich die unterschiedlichen Organisationsformen, Aktionsformen und Themen jeweils zur¨ uckverfolgen und in bestimmten historischen Kontexten verorten, auf welche sich antikonfessionelle Aktivisten auch in der aktuellsten Protestwelle beziehen: So ist etwa das Politikkonzept von La¨ıque Pride gepr¨agt durch die explizite Distanzierung von formal-politischen Organisationen wie Parteien und durch die Einf¨ uhrung k¨ unstlerischer Artikulationsformen. Des Weiteren zeigen sich Effekte der unterschiedlichen Sozialisation verschiedener politischer Generationen etwa innerhalb der Koalition Isq¯at. an-Niz.a¯m at.-T.a¯ if¯ı, in der interne Konflikte u ¨ber sinnvolle Strategien auch dadurch ausgel¨ost wurden, dass zwischen den Vorstellungen der LCP-Aktivisten und der erstmals aktiven Unabh¨angigen große Unterschiede bestanden. Politische Strategien der verschiedenen Akteursgruppen innerhalb der Protestwelle waren gepr¨agt durch ihrer jeweilige politische Sozialisation. Zudem kann die These aufgestellt werden, dass die Verortung in der Logik der Poli¨ tik bzw. des Politischen nicht nur durch Uberzeugungen gesteuert wird, sondern auch eine passive Reaktion auf strukturelle Gegebenheiten darstellt. Die Verschiebung von Zielen des Aktivismus weg von politischen Ergebnissen und hin zu Zielen in den Bereichen Mobilisierung, Unterbrechung und Subjektivierung, die im Moment der Durchf¨ uhrung einer Aktion erreicht werden, ist auch ein Ergebnis von Frustration. Sowohl die Analyse der Protestwelle 2010-2012 als auch der Blick auf Beirut Madinati” best¨atigen diese ” These: Da politische Ergebnisse f¨ ur antikonfessionelle Aktivisten in sozio¨okonomisch privilegierten, aber machtfernen Positionen nicht erreichbar sind, werden Mobilisierung und Subjektivierung als Ersatzziele konstruiert. c

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