Inszenierung und Politik: Szenografie im sozialen Feld [1. Aufl.] 9783839431054

Scenographic draft specifications offer compositional and behavioral guidelines for interpretation and administration in

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Inszenierung und Politik: Szenografie im sozialen Feld [1. Aufl.]
 9783839431054

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINFÜHRUNG. OB POLITISCHER SCHEIN TRÜGEN MUSS
DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION. POLITIK „NACH DEM DEMOS“
LÜGEN, TARNEN UND TÄUSCHEN ALS ERKENNTNISMITTEL. DIE SCHÄRFSTEN KRITIKER VON INSZENIERUNGSLÜGEN SIND SELBER AHNUNGSLOS
UNBEQUEME BAUDENKMALE. ZWISCHEN VERSCHLEIERUNG, PRAGMATISMUS UND ERINNERUNGSKULTUR(EN)
SZENOKRATIE DER ERREGUNGSKULTUR. ZUR RE-INSZENIERUNG UND APPROPRIATION DER GEGENWÄRTIGEN GLOBALEN PROTESTKULTUR IN DEN ZEITGENÖSSISCHEN KÜNSTEN
KURATORISCHE STEUERUNG KULTURELLER DISKURSE: DOCUMENTA, 1955
NEUE NORMEN UND ALTE ANSPRÜCHE ANS AUSSTELLEN
DO YOU LIKE IT? DIE INSZENIERUNG DES SOZIALEN
INSZENIERUNG VON „PROTEST“ DURCH FOTOGRAFIE
HETÄREN IN DER BIBLIOTHEK ODER: EIN HÄPPCHEN SEX FÜR ZWISCHENDURCH
ZUR FUNKTION DER REINSZENIERUNG „POLITISCHER URSZENEN“
DER SOUVERÄN DES ANDEREN. ÜBERLEGUNGEN ZUM APORETISCHEN ZUSTAND DER INSZENIERUNGSPOLITIK
DIE AUTOREN

Citation preview

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Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Politik

Szenografie & Szenologie

Band 11

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Editorial Die Reihe »Szenografie & Szenologie« versammelt Aufsätze und Monografien zur praktischen und theoretischen Szenografie, zur Inszenierung und Inszenierungskritik. Im Kontext neuer Medien und Medientechniken, seltsamer Objekte, ungewohnter Erzählweisen und innovativer Auftrittsformen analysieren die Beiträge beispielhaft wie verallgemeinernd, historisch wie systematisch die Auseinandersetzung um eine Kultur des szenischen Ereignens und Gestaltens in Alltag und Kunst, Politik und Gesellschaft. Die Reihe fördert den transdisziplinären Austausch der beteiligten Wissenschaften. Sie wird herausgegeben von Ralf Bohn und Heiner Wilharm. Sie lehren an der Design-Fakultät der FH Dortmund. Im wissenschaftlichen Beirat der Reihe vertreten sind Martina Dobbe, Universität der Künste Berlin, Petra Maria Meyer, Muthesius Kunsthochschule Kiel, sowie Hajo Schmidt, Emeritus der Fern-Universität in Hagen.

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Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) INSZENIERUNG UND POLITIK Szenografie im sozialen Feld

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar unter htttp://dnb.d-nb.de. © transcript Verlag, Bielefeld, 2015 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung der Copyright-Inhaber urheberwidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagfoto: © Dirk Gebhardt: Frankfurt, Occupy Zeltlager 2014 Korrektorat: Tanja Jentsch, 7Silben Redaktion, Lektorat und Satz: Ralf Bohn Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3105-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3105-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALTSVERZEICHNIS 7 29

EINFÜHRUNG HEINER WILHARM

Die Inszenierung der Legitimation. Politik „nach dem demos“ 91

BAZON BROCK

Lügen, Tarnen und Täuschen als Erkenntnismittel Die schärfsten Kritiker von Inszenierungslügen sind selber ahnungslos 99

CHRISTINE SCHRANZ

Unbequeme Baudenkmale Zwischen Verschleierung, Pragmatismus und Erinnerungskultur(en) 121

PAMELA C. SCORZIN

Szenokratie der Erregungskultur Zur Re-Inszenierung und Appropriation der gegenwärtigen globalen Protestkultur in den zeitgenössischen Künsten 145

KAI-UWE HEMKEN

Kuratorische Steuerung kultureller Diskurse: documenta, 1955 187

HANS-JÜRGEN HAFNER

Neue Normen und alte Ansprüche ans Ausstellen 197

MARCEL RENÉ MARBURGER

Do you like it? Die Inszenierung des Sozialen 215

DIRK GEBHARDT

Inszenierung von „Protest“ durch Fotografie

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URSULA LAGGER, PETER MAURITSCH

Hetären in der Bibliothek oder: Ein Häppchen Sex für Zwischendurch 257

RUDOLF HEINZ

Zur Funktion der Reinszenierung „politischer Urszenen“ 281

RALF BOHN

Der Souverän des Anderen Überlegungen zum aporetischen Zustand der Inszenierungspolitik 341

DIE AUTOREN

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HEINER WILHARM, RALF BOHN

EINFÜHRUNG 0B POLITISCHER SCHEIN TRÜGEN MUSS

Politik ist ein Mediengeschäft. Das gilt nicht erst seit Erfindung der Massenmedien. Was früher den Gazetten und davor der geschulten Stimme des Rhetorikers, des Boten oder schlicht Wind und Rauch aufgetragen wurde, von der Macht Kunde zu verbreiten, verlangte die Kenntnis der Botschaft und deren Inszenierung. Was davon Wahrheit ist, ist der Urteilskraft anheimgestellt. Sie muss unterscheiden lernen zwischen präsentischer Situativität, Szenifikation und repräsentativer Form. Der Fernwirkung der Macht korrespondiert die Volatilität der Ware, die Universalität der Tauschakte, die ihren Wert bestimmen. Die Aktualisierung der Inszenierungsperspektive und ihre Befreiung aus der Diaspora des Theaterwesens erlauben, die Diskussion um die Selbstbestimmung der de verbo Legitimation spendenden Subjekte demokratischer Vergesellschaftung auf Zeithöhe zu führen. Frequenz und Rhythmus des Tauschs sind hier bestimmend, nicht mehr die Illusion, die Defizite der Teilnahme müssten zur Hebung der Probleme in einen direkten Dialog aller mit allen münden oder gar die Debatte selbst durch tatkräftiges politisches Engagement für ernstzunehmende Alternativen emotional und konzeptuell energetisch unterfüttert werden. Wer also beim Begriff „Inszenierung“ immer noch Scheinhaftes vermutet, das sich entweder problemlos im Rahmen von Kunst und Medien, Unterhaltung und Vergnügen goutieren lässt oder als illegitime Usurpation politisch medialer Manipulation genereller Verdächtigung aussetzt, sollte sich von der Entfaltung einer Logik korrigieren lassen, die aufräumt mit der Topografie von Vorder- und Hinterbühne und dem Täuschungsgeschäft, das dabei so oder so vermutet wird. Die elementaren Gesetze kapitalistischer Produktion und Warenzirkulation müssen niemandem verborgen bleiben; zugleich darf jeder sich von seinen Gadgets verzaubern lassen. Warum das so ist, wie das Politische der Politik mit der Frage des Wirtschaftens, der Reproduktion der Gesellschaft wie des Einzelnen, mithin mit dem Problem des Eigentums umgeht, die Antworten auf diese Fragen sind freilich selbst zu Darstellungen geronnen. Die sedimentierten Erfahrungen immer schon vergangener Praxis müssen folglich re-szenifiziert werden, um sie anschaulich zu machen und politisch zu aktualisieren. Ökonomisch betrachtet gründet die gesellschaftliche Voraussetzung von Inszenierungsbewusstsein auf einer hierarchischen Differenzierung des Verausgabungs- und Aneignungsprozesses durch Arbeit als wert- und werteschaffend.

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Die Schwierigkeiten der strategischen Überführung von Repräsentation in kollektive wie individuelle Handlungsoptionen auszuloten beinhaltet die Aufgabe, mehr zu tun als sie als repräsentative Darstellung zu wiederholen. Zu fragen, wer das Recht hat, jemand anderen in Arbeit zu nehmen, impliziert die Bereitschaft, das relevante soziale Feld anzuvisieren und ereignisspezifisch zu ventilieren. Nicht zur Bilanzierung vergangener Ereignisse, sondern zur Stiftung neuer aufgrund erstmaliger Begegnung. Stiftung bedeutet zugleich Intervention und Treue zum Stiftungsereignis, das eine neue Spur begründet. Qua Voraussetzung verläuft sie nicht entlang ausgetretener Wege. Soweit sie sich im Gegenteil als der bessere Weg empfehlen möchte, kann sie die Kontroverse darum nicht scheuen, wird sie stattdessen provozieren und auf dem Recht bestehen müssen, dies tun zu dürfen, ja dazu aufgefordert zu sein. Das Recht wie seine Delegation gilt dabei sowohl für die darstellungsspezifischen Akte, die Arbeit der Bedeutungskonstitution wie die sie begründenden Handlungsoptionen im sozialen Feld. Solcher Arbeit widersetzt sich das inszenierungsgesellschaftliche Feld, in dessen Grenzen der geregelte Wettkampf um den besseren Weg zugunsten konsensuell friedlicher Verhältnisse und deren „Alternativlosigkeit“ mit Tabu belegt ist. – Aus Freude am Spiel, dass Medien und Technik zur erfüllenden Dauerbeschäftigung werden oder aus Verzweiflung darüber, dass sich hinter der ökonomisch-politischen Globalinszenierung keine Alternative als „wahrhaftig“ ausmachen lässt. Die Götter hinter dem Theater der Menschen haben sich zurückgezogen, die Tauschmaschine läuft, ohne dass jemand den Kopf dafür hinhalten muss. Konjunktur­prognosen liquidieren den Verantwortungshaushalt. Virtuelle oder quasi-virtuelle Entwurfsszenarien künden vom jederzeitigen Ungeschehenmachen von Realisierungsfolgen. Inszenierungsanalyse ist also Desillusionierungsmittel, vor allem wo sie die politische Differenz des Gründungsereignisses gegenwärtiger Vergesellschaftung ins Spiel bringt, die Differenz, deren Austrag das Leben in Gesellschaft beherrscht. Dem entgegen arbeitet die Ideologie des Einheitskörpers und mit ihr die technologisch-technische und mediale Bewirtschaftung des physischen und psychischen Metabolismus seiner Glieder und Organe. Je länger die Vermittlungswege in Politik, Wissenschaft und Kunst sind, desto integrativer müssen Inszenierungen wirken, mithin die Techniken der Präsentifikation sich multimedial überbieten, um eine allgemeine Befrie(dig)ung sicherzustellen. Man denke, wie viel Mühe es macht, dem Publikum die Zusammenhänge der hochkomplexen und hochspekulativen Finanzwelt plausibel in Szene gesetzt vor Augen zu führen. Nicht der geringsten Anstrengung bedarf es, um alles Entfernte (das meiste also) massenmedial aufbereitet in die Nähe eines kollektiven Blicks zu bringen. Wird damit ein jeder Zuschauer auf die Nähe und Intensität seiner sinnlichen Affekte verpflichtet, als wären, umgekehrt, die Organe allgemein menschliche Einheitsbekundungen, lässt sich denken, dass

EINFÜHRUNG

nicht der unbedeutendste Teil medialer Inszenierungsbemühungen der Erzielung genau dieses Effekts gilt. Evidenz gilt dabei als höchster Zauber vergemeinschaftender Teilhabe. Bewusstseinspolitik reproduziert sich als Kunstform und wird auf eben diese Weise konsumiert. Wenn die theatrale Illusion verfliegt, Akteure und Publikum nicht mehr in oben und unten getrennt auftreten, erscheint die Differenz von Anstrengung und Widerstand, Dissoziation als Bedingung aller Assoziation als unausweichlich. Die Szenifikationen des Kampfes oder Agons sind diejenigen, aus deren Erfahrungen und Folgerungen heraus überhaupt etwas als veranlasst oder legitimiert erscheinen kann. Das Situativ-Szenische, ereignisorientiert, wie treu der aufgenommenen Spur, kontrolliert die Inszenierung, egal ob Krise oder Untergang einer volonté generale oder einer Konvention namens „Bedeutung“. Eben d.h., dass Inszenierungsstrategien stets im Bezug auf das Politische in seiner Differenz zur Politik als Bewirtschaftung von Bevölkerungen zu denken sind. Das Exil der Kunst, auf dessen Problemlösungskompetenz noch Schiller im politischen Geschäft zu hoffen wagte, entlarvt sich als Aufschub bzw. obligater Perspektivwechsel einer durch Krisen bestimmten Ordnungsfunktion. Noch die 1968er sprechen selig von der oppositionellen Allianz. Das Umschlagsgeschehen im Prozess gesellschaftlich akzeptierter Überführung von allgemeinen Legitimationsrechten von einem souveränen Körper auf einen anderen, von einer besetzten auf eine leere Stelle und schließlich von einer leeren Stelle auf eine andere leere Stelle zu verfolgen bedeutet, der Inszenierung von Legitimation nachzuspüren, den Schauspielen offenbarer Darbietungen genauso wie den Surrogaten der verschwinden gemachten Kämpfe. Es gibt keinen Winkel, keine logischen und diskursiven Wendungen, keine „Diskursereignisse“, die als uneinbezogen in dieses Spiel gelten könnten. Nur unter dieser Bedingung wird man verstehen, warum ein einziges Veto gegenüber einem derart anfälligen Legitimierungsprozess das Gemeinsame des Unternehmens infrage stellen, die fragilen Zuständen erreichter Legitimität tatsächlich zum Zerbrechen bringen kann. Allemal da allen Legitimationen eigene Inszenierungskonventionen zugrunde liegen müssen und nicht nur rohe Gewalt, Naturzustände. Zu inszenieren heißt, strategisch, im Entwurf vorgreifend zu denken und die Folgen seines Handelns derart zu kalkulieren, dass sie dem aufgebürdet werden, der handelt, nicht dem, der die Handlung veranlasst. Für das Politische heißt die Konsequenz, dass das Verantwortungsbewusstsein dafür, Politik zu treiben, leidet. Überzeugender (der Entwurf sagt „gerechter“) scheint, alle Teile der Nation partizipieren zu lassen. Das geschieht bekanntlich am einfachsten durch Arbeit, die jedem Bürger als Anteil am nationalen Interesse aufgegeben ist. Arbeit gerät so selbst zur Inszenierungsform, die am besten durch solche Personen veranlasst gilt, die nicht im Geruch der Macht stehen – was für sie zum Problem werden lässt, dass sie sich dafür selbst legitimieren müssen. Erst seit Ende des

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19. Jahrhunderts etabliert sich ein ‚politisches‘ Metier, das von Inszenierungsspezialisten oder ‚Szenografen‘ dominiert wird, die sich nicht hauptberuflich dem Theater oder der Oper verpflichtet fühlen, sich, was die Strategien der Inszenierung angeht, viel eher in der Erbfolge Macchiavellis und Hobbes, Robespierres und Napoleons sehen. Das Geschäft heißt, zwischen der gesellschaftlich faktischen Legitimation und dem Ideal der Selbstlegitimation durch Inszenierung von Legitimation zu vermitteln, d.h. in zureichendem Maße für Szenen der Präsenz, der Teilhabe am arbeitsenthobenen Genuss zu sorgen, wie er heutzutage auch die Massen erreicht, zumindest solange, wie sie ein zahlungskräftiges Bedürfnis ausweist. Die politische Inszenierungsstrategie macht ihrerseits notwendig, dass Politik beständig ihre Arbeitsamkeit inszenieren muss. Dies geschieht, um von der Tatsache abzulenken, dass der Wille des Volkes, so er unvermittelt sich verpflichtet Bahn bricht, die Gewalt erinnern könnte, um deren gerechte Zwecke willen schon das vergessene oder verschüttete Gründungereignis der Vergemeinschaftung eine andere als die bekannte Zukunft antizipieren ließ. Auf diese Weise enttarnt sich der Entwurfscharakter einer Politik, die das, was sie heute veranlasst, morgen unter dem Gebot der Sachzwänge wieder zurücknimmt, stets aber auf dem Boden nicht diskutabler Alternativlosigkeit. Es ist also nachvollziehbar, dass man annimt, es gäbe jederzeit auch eine Politik, die auf der ‚Hinterbühne‘ spielt. Doch ist sie dieselbe. Nur wird sie gerde noch als ‚Politik von morgen‘ angerichtet. Seit zweihundert Jahren wird die die ‚bürgerliche‘ Revolution mit einer notwendigen zweiten, der Revolution des ‚Proletariats‘ zusammengebunden. Diese ‚Vollendung‘ erscheint heute erfolgt: in der Verlagerung der Krise in die Arbeit selbst. Zu kurz greift also die Unterscheidung von Arbeit und freier Zeit. Zu kurz auch greift demnach auch die Bestimmung, dass Inszenierung nur im Rahmen eines Spiels Platz greifen kann. Die Durchdringung der Arbeitssphären als Datendurchsatz vollzieht den Kurzschluss, dass die Bewegung der Daten und deren Ausbeutung sich nicht selbst szenifizieren können, als Wert ohne Wert. Der Datenware als solcher fehlt allerdings jede sinnliche Präsenz. Die Vorstellung von Szenifikation versagt sich hier, die Vorstellung von Inszenierung nicht, wenn ihre strategischen Kalküleigenschaften offengelegt sind. Die Inszenierung gilt dann einer „Schlacht“, eine Aufführung zwischen situativen Präsenzen und praktischen Evidenzen, zwischen technischen Handlungsnormierungen und sich sperrenden Szenifikationen, die sich ein Motiv des Außen zu eigen machen, das ihnen gegenläufige Anstrengungen auferlegt. Wer in eine Inszenierung gerät oder dabei mitmacht, akzeptiert, von anderen Bedeutungsen mit auf den Weg bekommen zu haben und zur weiteren Bedeutungsstiftung veranlasst worden zu sein. Damit tritt die besondere Qualifikation der performativ Inszenierenden auf den Plan. Sie handeln szene- und akteurbezogen und lenken auf diese Weise ihr

EINFÜHRUNG

Bedeutenlassen. Nicht unbedingt sind sie wie Politiker darin geschult, Zukünftiges in aktuelles Bühnengeschehen zu verwandeln und schon auf diese Weise im Szene zu setzen. Zukünftiges muss sich stattdessen durch die Akteure – im Feld des Politischen durch eine große Menge von Akteuren – allererst als Mögliches ins Auge fassen lassen. Dafür steht die gemeinsame Begegnung mit einem Ereignis, das sich als Stiftung einer möglicherweise alternativen Zukunft aus dieser her für die Vergangenheit des Jetzt empfiehlt. Die Politik der Inszenierung, die das Politische nicht verleugnet, interessiert sich demnach nicht zuletzt dafür, wer zu welcher Zeit wem unter welchen Bedingungen die Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung zuspielt. Mit hermeneutischer Textexegese allein ist dies nicht zu bewerkstelligen –ob wohl sie im Einzelfall sehr hilfreich sein kann. Die Frage nach dem Sinn von Situativität und Szenifikation, nach dem Wechselspiel, nach Rhythmus, Takt und Choreografie des Bedeutens und Bedeutenlassens, der dafür gewählten Gestaltung und Ausdrucksform, all dem, was sich darum herum für jeden kompetenten Sprecher heute unter dem Begriff der „Inszenierung“ versammelt, gehört zum Gegenstand einer „Szenologie“, das heißt der Reflexion des Verhältnisses zwischen szenografischen Entwürfen und Inszenierungsperformances. In dem Moment, in dem die großen Autoritäten und die großen Mythen ihr Recht verlieren, einzige Repräsentanten der Inszenierungskunst zu sein und jeder Mensch zum Künstler erklärt ist, muss die Frage nach der inferioren Differenz von Akteur und Publikum gestellt werden. Wenn sie gestellt wird, wird man auf die nervösen Unbilden einer hysterisch-schizoid sich ausbrennenden Epoche verwiesen, in der die kunstgemäße Antwort darin besteht, sich aus dem Zirkus der ökonomischen Zwangshandlungen in die vielfältigen Spiele der Selbstinszenierung zurückzuziehen. Doch was heißt dies mehr, als den normierenden Dinggebrauch im Kostüm ‚scheinbar‘ zu sabotieren, in der Tat aber nur zu reproduzieren. „Intervention“ heißt das im Jargon der Szenografen. Für die immer noch marktsoziale Restpolitik ist damit die Aufgabe gestellt, Spielräume der Travestie zu eröffnen. Doch der dem Artefakt oder Gegenstand beigemessene Wert beruht auf ‚Gesichtspunkten‘, die sich allein im Anblick eines „Vor-sich-Hingestellten“ (Heidegger) als Realität darbieten, darin aber keinen Bestand haben. Viel eher ist es der Gesichtspunkt, der zum Bild führt und seinen Wert macht. Folglich liegt das Wesen des Wertes darin, Gesichtspunkt zu sein, wie Heidegger sagt. Die Perspektive des Blicks ist mithin immer eingebunden in einen Tauschprozess des Bedeutenlassens mit dem Bedeuten. Beherzigt man diese Relationalität von Wert und Blick unter dem Aspekt, das alle Dinge „Gestelle“ (Heidegger) von Blickhandlungen sind, stellt sich die Frage der Inszenierung nicht mehr als die einer bedingten Täuschung, hinter der die politische oder ökonomische Wahrheit im Register einer Wahrheit des Volkes (der wissenschaftlichen Evidenz

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fatalerweise) hervorzuziehen wäre. Die Veranlassung von Inszenierung selbst ist die einzige Möglichkeit, das Selbstbewusstsein als vom Anderen aus konstituiert anzuerkennen. Deshalb wird immer wieder die Kunst als Handlungsform für solche binnensubjektiven und damit beispielhaften Legitimationsrekursivitäten herhalten. Kunst, Wissenschaft und Politik unterliegen aber gleichermaßen der Logik der Inszenierung und ihrer Negationsunmöglichkeit. Man kann Unvermitteltheit nicht vermitteln. Sie muss ausgetragen werden. Es gibt mithin kein Rezept, nicht einmal eine Richtung zu zeigen, von der aus man das Repräsentationsproblem eines unsichtbaren Repräsentanten namens Volk oder Nation lösen könnte. Es bleibt, den Streit, die Schlacht, den Agon gegen den Identitätszwang zu kultivieren. Das meint nichts weniger als eine Entzauberung des revolutionären Prozesses und seiner historischen Zwangsläufigkeit. Der Blick wird auf das gelenkt, was tatsächlich neu ist, auf das Feld der elektronisch informationellen Vermittlung der Subjekte: die Selbstdesavouierung der politischen Klasse, die es verabsäumt, den Mythos der Vernunft zusammen mit dem des Sozialen zu dekonstruieren. Stattdessen sind Politiker zu Inszenatoren ihrer selbst, zu Figuren der Wahrheitsreklame geworden. Doch nicht das undurchsichtige Verhältnis von Wahrheit und Inszenierung, sondern der öffentliche Streit, der Wettbewerb um das, was als legitim gelten soll, muss den gleichgeschalteten Proporzdebatten der Political Correctness unter die Nase gehalten werden. Das fordert der aporetische, zugleich motivierende und antreibende Grundwiderspruch demokratischer Konstituierung. So wie Evidenzen nach ReInszenierung verlangen, so verlangen die Inszenierungen nach Re-Politisierung, nach Berücksichtigung des Politischen der Politik – nicht zuletzt dort, wo sie der Bourgeoisv or zweihundert Jahren in die Bereiche von Kunst und Künstlichkeit als denjenigen Refugien exilierte, in denen die Revolution nur noch dem Einzelnen in seiner Andersheit aufgegeben ist. ASPEKTE SOZIALER UND ÄSTHETISCHER HANDLUNGSFELDER

Es graft sich angesichts der Beiträge, die im Folgenden in aller Kürze vorgestellt werden sollen, ob es sich bei Inszenierungen die als „politischW gelten, um Entwürfe solcher Utopien handelt, die „die Politik“ aus aporetischen Gründen gerade nicht realisieren kann. Politische Inszenierung hieße einzuräumen, dass politisch adminstrativ gelenktes Handeln in Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens, der Bekämpfung des Hungers auch nicht weiterhelfen kann. Da indes jede Inszenierung sich anderen öffnen muss, um wirksam zu werden, müßte man allerdings zugeben, dass jede Inszenierung per se politisch ist. Handelt es sich also bei dem Begriff „politische Inszenierung“ um eine Tautologie? Um diese

EINFÜHRUNG

Tautologie zu vermeiden, soll als „Inszenierung der Politik“ gelten, wenn sich die notwendige Inszenierung von Politik und die notwendige Politisierung jeder Inszenierung selbst und gegenseitig thematisieren. Das gilt dann auch z.B. für Intrigen einer Hinterzimmerpolitik, die sich zur Öffentlichkeit abwendend verhält. Denn auch Abwendung ist ein Verhältnis zum anderen, das sich als solches in einem szenischen Rahmen („Hinterzimmer“) aufführt. Als aporetisch stellt sich für Politik die Unhintergehbarkeit des anderen dar und somit eine dialektische Beziehung zur Macht. Gerade weil Herrschaft und Gerechtigkeit dialektisch nicht aufgehoben werden können, ist Inszenierung die angemessen gerechte Antwort auf die Aporien und Utopien politischer Handlungserfüllung. Der Politiker weiß das. Folglich wählt er eine Handlungssimulation, die unangemessenes Handeln annullieren kann: Er handelt mit den Mitteln der Rhetorik: Versprechung, Beeidung, Beschwörung sind die magischen Formeln dieses inszenatorischen Handelns. In Fällen der Handlungsdelegation und der Bedeutungsinitiation werden Mechanismen messianischer Zeit, wie sie Benjamin aufgefasst hat, verkündet: Auf diese Weise bleibt das wichtigste Gut jeder Gemeinschaft erhalten: die Vision einer Zukunft, die Freiheit eröffnet. Vergemeinschaftung kann geschehen, wenn Inszenierung als ein Ereignis von Bedeutenlassen und Verstehenkönnen wechselseitig anerkannt wird. Die Formel für diesen Zustand hat man bezüglich paradiesischer Gerechtigkeit „real existierend“ genannt und damit auf die Aporie einer anderen Existenzmöglichkeit verwiesen, in der Inszenierungen als vorläufige nicht mehr notwendig wären, da (nach sozialistischer Lesart) das Verhältnis von „Politiker“ und „Bürger“ nicht mehr als Rollenspiel zu verstehen ist. Nach kapitalistischer Variante würde dann auch das Verhältnis von Produzent und Konsument indifferent werden. Das ist nun aber genau der Zustand, den gegenwärtige Inszenierungen, Events und Darstellungen unter den Begriffen Demokratisierung und Teilhabe anstreben: Hier handelt es sich um eine Indifferenzpolitik jenseits strategischer Darstellung. Ob ein Sprecher oder Schreiber eine Bedeutung intendieren, ein Regisseur sie aktualisiert und ein Publikum sie versteht, Rollenakzeptanz und -tausch funktionieren, das muss und soll weiterhin eine Frage des ständigen Streits sein, denn ohne Streit keine Tauschmöglichkeit, sprich: Reziprozität als Dynamik der Vergemeinschaftung. „Real existierend“ ist die Etappe der Politik, in der Entwürfe auf den Tisch kommen und situativ verhandelt werden, bevor gehandelt wird. Der diplomatische „Tisch“ ist ein Ort provisorischer Gewalt, in der Situationen zunächst akzeptiert werden, bevor an eine inszenatorische Rotation der Tauschpositionen gedacht wird. Die (erstrittene) Einsicht in eine propädeutische Stabilität ermöglicht die Beweglichkeit im Streit oder Agon. Der Wechsel von situativen und szenifikativen Momenten schafft das eigentliche Movens von politischem Handeln – im Gegensatz zu solchem von diktatorischer Gewalt, in welcher der

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szenifkatorische Übergang vermieden werden soll. Hier geht es nur um Selbstinszenierung, nicht um Selbstironisierung. Interessanter als die Frage der Gewalt ist die der Veranlassung: Wer denn wen veranlassen kann, am Tisch Platz zu nehmen. Immer müsste man zuvor eine Ordnung etablieren, eine Ordnung der Ordnung und so fort. Den Zirkel zu durchbrechen gelingt nur, indem man einen Ort akzeptiert, der als Nichtort, Zone des Tabus von allen gleichermaßen anerkannt werden muss, weil er nicht von dieser Welt ist: Gott oder das Paradies – Orte, die eben deswegen von der Politik verheißen werden können, weil sie sich der Offenbarung und Darstellung grundsätzlich entziehen. Genau hier hat die Inszenierung ideologischer Pfründe ihr Moment, die eines sozialistischen (oder katholischen) Paradieses der Gleichheit oder die eines kapitalistischen der Tauschgerechtigkeit. Dies anzuerkennen heißt aber, dass als ‚Gegenwelt‘ von Inszenierung nicht eine Art befriedeter Natur, sondern eine Situativität steht, in der Gewalt (Natur!) tabuisiert ist. Von „Situativität“ wird also gerade dann geredet werden könne, wenn die Hierarchien, die Erzählungen und die Genesen stillschweigend akzeptiert werden, d.h., wenn die Politik der Inszenierung den höchsten Grad an Erfüllung erreicht hat. Mehr an Negation von Gewalt geht nicht. Neben dem wechselseitigen Bedeutenlassen und Verstehenkönnen ist eine dritte Dimension einzubeziehen, um das Verhältnis von Inszenierung und Politik zu spezifizieren: die Eröffnung eines Zeitraums (der Aufführungsdauer), in welchem das synchrone Nebeneinander nicht sofort okkupiert wird, narrativ, kausal oder genealogisc. Demokratien sollten diesen Zwischenzustand der suspendierenden Abwägung von Macht aushalten. Nicht zuletzt zeigt es die Rechtsprechung, die ein eminent hermeneutisches Geschäft ist. Durch sie wird das allgemeine Gesetz (‚Situativität‘) wieder in individuelles Recht (‚Szenifikation‘) zurückverwandelt: durch Inszenierung (re-)situiert. Die Beiträge des Bandes versuchen einen möglichst großen „runden Tisch“ zu bespielen, um die divergierenden Momente politischen Handelns und politischer Rhetorik zu Wort kommen zu lassen: solche, die ein Votum für synchrone Ansichten geben, die sich also interpretierend oder dokumentierend vor allem auf künstlerische Verfahren verlegen, und solche, die sich der Bedeutungsverschiebung auf philosophischem und wissenschaftlichem Gebiet widmen. Dass der Übergang zwischen Sprechen und Handeln fließend ist, macht ja gerade den Reiz des Diskurses unter dem Begriff politischer Inszenierung aus. Es wird erstreitbar, was nur als tauschbar gilt. Mit der Bedeutungsverschiebung beschäftigt sich der erste, längere und programmatische Beitrag von Heiner Wilharm. Die Choreografie, in der Mediatisierungen Spielräume disponieren, untersucht er in vier Etappen. Zu Beginn steht die Exposition dessen, was außerhalb der Theatermetaphoriken und -para-

EINFÜHRUNG

digmen als Szene – öffentliche Szene, der Politik und dem Politischem zu verstehen ist. Es folgt – ausgehend von Überlegungen Kants – eine kulturantropologische Perspektive, die an der Darstellung der Gründungsgeschichte von Vergemeinschaftung und des Mimesisprogramms u.a. bei Rousseau und an der Französischen Revolution orientiert ist. Damit sind vor allem Fragen nach der Selbstlegitimation des „Volkes“ als heterogener Gruppe angesprochen. Ein weiterer Teil beschäftigt sich mit den Legitimationverfahren derer, die über den Status des allgemeinen Willens und die leere Stelle der Repräsentation, also über den Spielcharakter oder den fiktionalen Charakter im Diskursgeschehen zu entscheiden beanspruchen. Diskurs wird dabei als Raumgeben von Dispositiven verstanden, als Verhandlungsmasse, die nicht existenzielle Positionen betrifft. Wenn von „Choreografie“ der Vermitteltheiten die Rede ist, also dem Rhythmus von „Präsenz und Dauer“ muss auch auf das Verhältnis der „Longe durée“ von Mentalitäten und Habitus eingegangen werden. Hier wird das Problem z.B. der Überwindung der Feudalität durch „das Volk“ und sein gleich darauf erfolgtes Verschwinden untersucht. Wilharm expliziert die These, dass das Problem einer „natürlichen“ Bestimmung des Volkes als legitimierender Instanz durch die Heterogenität der Individuen zur Einsicht in den Antagonismus jeder Selbstlegitimierung führt. Als Ersatz bieten sich Medialisierungsformen an, also agonale Formen, die wegen ihrer Unauflösbarkeit ein Außenselbst fingieren. Der abschließende Teil von Wilharms Untersuchung beschäftigt sich zunehmend mit den theoretischen Momenten der Darstellung der „Politischen Differenz“: Die Unterscheidungsfähigkeit von Politischem und Politik, die Erkenntnis des Antagonismus, der Feindschaftsverhältnisse, des gleichermaßen befriedeten wie kriegerischen Ausnahmezustandes, also der mythologischen Konfliktfiguren im Streit zwischen Agon und Konsensgesellschaft. Sie führt schließlich zum Votum, unsere Gesellschaft als eine durch Inszenierung geregelte aufzufassen, in der nicht eine verdeckende Befriedung, sondern eine konfliktbetont agonale, eine des fruchtbar offenlegenden Streits präferiert werden soll. An Inszenierung muss nicht der Schein-, sondern ihre Wahrheitscharakter betont werden, nämlich im Antagonismus wechselseitiger Legitimation die Frage zu stellen, wie man die notwendige Illegitimität einer jeden Selbstlegitimation als Disposition beständig infrage stellt. Dass die Bedeutungsformen durch die Weisen, wie zu interpretieren sind, unter dem Gesichtspunkt des stets subjektiven Blicks fließend werden, und dass wir die Gezeiten dieser Verschiebungen als Genese von Sinn und nicht als Betrug moralisieren sollen, zeigt der zweite Beitrag. Er geht vom aporetischen Zustand als Streitmotiv aus, also beständiger Umbesetzung (Politisierung) von Bedeutungshandeln.

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HEINER WILHARM, RALF BOHN

Bazon Brock untersucht Inszenierungslügen vom Standpunkt ihrer Notwendigkeit aus. Er fragt sich in seinem Beitrag „Lügen, tarnen, täuschen als Erkenntnismittel“, ob es nicht eine Art Selbstbetrug sei, von den politisch Handelnden zu verlangen, dass sie für jedes Problem eine Lösung parat haben, wo doch ein wesentliches Moment einer auf Zukunft hoffenden Gesellschaft darin besteht, die Aporien des menschlichen Zusammenlebens als nicht finalisierbar zu heiligen. Die Lösung einer mathematischen Aufgabe ist in diesem Sinne nicht politisch diskutabel, die Lösung von Fragen der Gerechtigkeit und des Glücks allerdings schon – nicht aber so, dass nach einem Verursacher der Ungerechtigkeit und nach einer Aufhebung derselben gefragt werden darf. Das zu tun, hieße aus Politik eine Maschine der Macht abzuleiten. Umgekehrt stellt Brock am „Fall Wagner“ die Frage, was wäre, wenn Politik unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet würde, als Projekt, das erst einmal den Rahmen dafür schafft, dass frei inszeniert werden kann. Dabei stellt sich nämlich die Erkenntnis ein, dass Wirklichkeit für ein Subjekt darin besteht, ständig an selbstphantasmatisierten Wirklichkeiten zu scheitern. In diesem Bild ist Politik als inverse Form des Kabaretts zu verstehen. Die Wechselwirkung von Demokratie und Kritik besteht darin, Lösungen im sicheren Glauben an ihre Uneinlösbarkeit zu fordern. Politiker betrügen und täuschen im festen Glauben, dass die Wahrheit niemand hören will. Es stellt sich nur die Frage, mit welcher charmanten Raffinesse sie das tun. Brock fragt also danach, wie es kommt, dass alle Arten von Ästhetisierung des Politischen dazu verdammt werden, hinter der Politik eine wahre, authentische und tatsächliche Möglichkeit von Gerechtigkeit zu wittern, die nur Dank dunkler Mächte, fauler Kompromisse und seichter Gleichgültigkeit nicht (wieder-)hergestellt werden kann, so, als wäre jeder ursprüngliche Zustand auch schon paradiesisch gerecht. Wenn man sich – wie Brock – etwa die List des Kunstgroßfälschers Wolfgang Beltracchi ansieht, wird verständlich, dass es gerade die Selbstinszenierung von Wahrheit, Authentizität und Redlichkeit der Kunstbranche ist, die von Beltracchi entlarvt wurde und zwar als das einzig noch Wahre: „Das als Solches erkannte Falsche.“ Täuschbarkeit oder Subjektivität ramponieren auf diese Weise die Epoche des „Selbstbewusstseins“ als Spitzenleistung eines bürgerlichen Selbstinszenierungspathos. Auch hier hat Wagner durchaus ironische Spitzenleistungen zur Gegenaufklärung komponiert. Allerdings gibt es unter den Täuschungsmanövern auch solche, die sich kaum ironisieren lassen, weil sie damit die Geltung des Anderen und somit die Öffentlichkeit diskreditieren. Christine Schranz zeigt in ihrem Aufsatz „Unbequeme Baudenkmale“ Probleme mit der Inszenierung faschistischer Erinnerung: dem Leugnen, Vertuschen, Verschweigen. Ausgehend von einem im Faschismus diskreditierten Raumbegriff zeigt Schranz, wie durch Ausweitung des szenografi-

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schen Diskurses eine Verräumlichung des Geschichtsbildes, eine Reszenifikation politischer Handlung und Gewalt aktualisiert werden können. In ihrem Beitrag macht Schranz deutlich, dass Historiendarstellung als narrative Ableitung der vollständigen Auflösung und Auslöschung von Biografischem nicht gerecht wird. Wenn nämlich der Faschismus das sofortige Hier und Jetzt der Problemlösungen von Ich und Anderem verlangt, so bezieht sich seine Gewalt auf die Exekution aller Lebensentwürfe in reiner Präsenz, reiner Tat. Der Raum des Faschismus gibt außer ausgeborgten, armseligen Ideologienfragmenten keiner Erzählung Platz, sondern ist der (leider gelungene) Versuch, Produktion und Konsumation kriegsförmig implodieren zu lassen. Je geschichtsloser der Diskurs, umso unsäglicher die imperiale Gebärde, also die Verlagerung von Zeit in Raum. Schranz problematisiert, dass die skriptuale Verfassung von Geschichtsbewusstsein zu einer Verharmlosung des unvermittelten Ausnahmezustands kommt. Wenn es gilt, Erinnerung des faschistischen Terrors erlebbar zu machen, müssen die Orte als Präsenzräume wiederbelebt werden. Wie das im Einzelnen gelingt und nicht gelingt, verdeutlicht Schranz an der Nutzung von Kasernenanlagen, Erinnerungstafeln, Konversionsprojekten und künstlerischen Interventionen, die den unaufhaltsamen Verlust der Erfahrungen wie den Widerstand gegen das Vergessen der Traumatik durch Entnarrativierung verständlich werden lässt: durch eine Balance erneuter Traumatisierung. Vor allem partizipative Strategien zeigen, dass Erinnerung nicht einfach Zeit kontinuiert, sondern dass es gelingen muss, neue Zeitbrücken überhaupt erst zu bahnen. Nun kann man von der unaufhörlichen Kette der Ereignisse verlangen, dass sie ihre Erinnerungsaktualisierungen selbst vorsorglich betreiben. Sie aktualisieren sich, um erinnert zu werden. Die entsprechenden Affekte auf dieses Dilemma sind Hysterisierungen. Pamela C. Scorzin untersucht daraufhin Momente affektiver Nachspielungen eines nicht wiederholbaren Ereignisses, die magische Anverwandlung von Ereignissen in Empörungs- und Erregungskultur. In ihrer Darstellung der „Szenokratie der Erregungskultur“ bezieht sie sich auf Verkörperungen in der Kunst als Inszenierung von Inszenierung. Die Affekte sind hier geplant, die Empörung ritualisiert als Merkmale der Erinnerung an Erinnerung. Kunst spricht vom Signum des Authentischen, vom Original und von Einzigartigkeit, während der Verwertungsbetrieb von einer popkulturellen Übernahme und Vermarktung spricht, in der die Wiederholung als Signum des Einzigartigen (seit Warhol; in der Musik aber seit je) sich szenokratischer Subkultur überlegen weiß. Ein Zeichen der Erregungskultur ist ja ihre kalendarische Ritualisierung, z.B. als Montagsdemo oder als Freitagsgebet. Wo die politische Aktion anfängt und wo die künstlerische beginnt, ist in diesem Spiel der feindlichen und freundlichen Übernahmen auf den ersten Blick nicht auszumachen. Wiederho-

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lung zielt nicht auf ein Primat, sondern auf Intensivierung. Sieht man sich einzelne Werke diesbezüglich an, wird schnell deutlich, dass von unterschiedlichen Strategien der Übernahme oder der Veranlassung im Sinne der Bedeutungsgenerierung ausgegangen werden kann. Die Erregungskultur („Szenokratie“) geht demnach von einer Intensivierung, nicht von einer Primatur der Ereignisse aus. Von dieser (pseudoreligiösen) Basis aus wird deutlich, dass Erregung einen Zustand der Memorialisierung von Affektivität anstrebt. Kunstwissenschaftlich ist dieses Verfahren der Hegel’schen Ästhetik als „Appropriation“ bestimmt: Die vorläufige und vorzeitige Tat gilt es für einen kommenden Moment der Erfüllung zu bewahren und rituell weiterzuführen. Die szenokratischen Formen des Protestes verstehen sich demgemäß nicht als Vorstufe der Revolution, als tatsächliche Gewalt, sondern als vergegenwärtigende Verweisung einer Rettung von Zukunft. Der Beitrag von Kai-Uwe Hemken versetzt uns in eine konkrete Inszenierung – die der ersten documenta 1955, in der der Begriff „Szenografie“ noch gar nicht geläufig war. Hemken zeigt im Vergleich mit späteren Ausgaben dieser Kasseler Universalausstellung, wie es gelingt, eine „kuratorische Steuerung kultureller Diskurse“ an einem jährlich stattfindenden Eventformat zu verifizieren, dessen Aufgabe die Selbstmythisierung ist. Strategien dieser Selbstmythisierung treten dort zutage, wo in Absetzung von nationalsozialistischer Kunstpolitik auf die der Moderne umgestellt werden soll: Aus welcher Tradition heraus soll sich das Neue mit mythischer Kontinuität versorgen? Wie im Beitrag von Pamela C. Scorzin geht es auch hier um Ritualisierung. Hemken untersucht detailreich die politischen Voraussetzungen, unter denen „eine Art autonome Kunstevolution“ (unabhängig von individuellen Kunstpersönlichkeiten) sich durch Kuratoren vorgeben ließ. Deren Weit- und Durchblick erlaubt es, einen historischen Weg der Kunst zu visionieren und damit den Deutungsanspruch kuratorischer Selektion zu begründen und bürgerlich zu integrieren: Narration als Legitimation. Ver- und Entfremdung, Partizipation und Selbst-Verunsicherung als tatsächlich disparate Aufgaben moderner Kunst waren damit gleichgeschaltet und knüpften so an den Mythos der Internationalen Kunstausstellung in Dresden 1926 bis in szenografische Details an. Auch 1926 galt es, ein Konzept der kontinuierlichen Evolution von Kunst zu etablieren. Das Projekt einer gesamteuropäischen Kunstgeschichte wurde hierarchisierend autoritär als nationaler Agon aufgefasst. Wenigstens was die autoritären Momente angeht, scheute sich auch die documenta 1 nicht, mittels eines versachlichenden „Pathos des Reduktionismus“ auf normative Wertungen und Vergleichbarkeiten zu setzen. Gerade die im Hinblick auf das Bauhaus wieder aufgenommene Formel objektiver Bewertbarkeit ästhetischer Funktionen macht letztlich die Konjunktur des Gesamtkunstwerkes damals und der gesamtheitlichen Inszenierung im Ausstellungswesen der

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damaligen Zeit unter ein gemeinsame „Raster“ möglich. Vergleichbarkeit und Bewertbarkeit bringen pädagogisierbare „gesteuerte Kunstanschauung“ ohne Widerspruchspotenzial hervor. Solche „Natürlichkeit“ der Kulturentwicklung entsprach den Vorgaben von „Politik und Wirtschaft“ Mitte der 1950er Jahre: Kontinuitätserfindungen als Verdrängung des Ausnahmezustandes. Hans-Jürgen Hafner geht dann in seiner Analyse der Bewertung des Kunstmarktes und der Kunstproduktion ab den 1960er Jahren von veränderten Ansprüchen des Ausstellens aus, die sich an die Kunst des Kuratierens durch den Künstler selbst richten. Der Künstler erringt den Anspruch, die Bedingungen des Erscheinens seiner Werke auf dem Markt und den Markt selbst bestimmen zu können – wie auch immer Großkünstler ohne Ausstellung als Marktpräsentation Bilder gleich in Auftragsarbeit fertigen, die ungesehen in die Tresore der Großkäufer wandern. Spezifischer widmet sich Hagen jedoch den „Ausstellungskünstlern“, die nicht nur auf Öffentlichkeit angewiesen sind, sondern diese zu gestalten wissen und deren Formierung auch als Bestandteil ihrer Arbeit ansehen. Die primäre Frage, die sich dabei stellt, lautet: Wie behandelt der Begriff „Kunstausstellung“ die Reflexivität seiner selbst, wenn die Ausstellung und das Ausstellen (Teil der) Kunstproduktion werden? Die Verschiebung vom musealen Ausstellen zum Herstellen durch Zeigen als Form der Politisierung ist evident und betrifft nun jeden Raum, in dem publikatorische Präsenz möglich ist. Unpolitische Kunst wird damit nicht mehr möglich. Auffallend ist, so Hafner, dass dabei die Komplizenschaft zwischen Künstler und Arrangeur der Ausstellung nicht mehr über den Umweg kritischer Interpretation verläuft. Zudem begegnet man nun auch einem Phänomen der „Ausstellung über Ausstellungen“, d.h. einer Sekundärplatzierung von Präsenz­ ereignissen – unabhängig von der möglichen Sekundärverwertung in „Sequels“, „Remakes“ und „dokumentarischen Rekonstruktionen“. Wie auch immer die Binnenverhältnisse des Tausches von Ort und Präsenz ausfallen, so konstatiert Hafner für Ausstellungen grundsätzlich ein paritätisches politisches Verhältnis von Kunst als das sich Aussetzen einer Öffentlichkeit und interventionistischer Provokation einer solchen. In Fragen der Politisierung von Ästhetikproduktion schon bei Schiller und dann in der Arts-and-Crafts-Bewegung spielt die Grundlegung der sozialen Dimension ästhetischer Urteile eine wichtige Rolle, zumal wenn es sich um die unparitätische Konzeption einer ästhetischen Beurteilung, also um deren normative Geltung handelt. Man braucht dabei nicht bis auf den Nationalsozialismus und dessen moralisierende Gestaltästhetik zurückgehen, um die Phrasen einer sich als vermeintlich zweckfreien Kunst verstehenden Anschauung zu verifizieren. Dass das Schreckliche und das Hässliche ebenso inszeniert wird wie das Schöne,

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Wahre, Gute verdrängt nachgerade nicht, dass Urteilslogik immer auch Ausgrenzungslogik ist, wenn sie nicht das Gemeinsame ihrer Medialität berücksichtigt. Wenn Marcel René Marburger sich der Inszenierung des Sozialen unter dem Titel „Do you like it?“ widmet, wird klar, worum es in der Fabrikation und Inszenierung von Massengesellschaften und Massenästhetik geht: um Inklusion und Exklusion, nicht mehr um ein differenzierendes Urteilsvermögen. Es geht um eine gesteuerte Hierarchisierung von Gemeinschaft durch Verteilung von ästhetischem Kapital – z.B. „Likebuttons“. Damit ist immerhin klar, dass es um selbstbewusste Vergemeinschaftung in den sogenannten „sozialen Netzwerken“ nicht gehen kann, sondern um schneeballhafte Politik, die die „freiwillige“ Arbeit von Milliarden Nutzern für den Profit von einer Handvoll oligarchischer Unternehmer zum Zwecke der Mobilmachung brachliegenden Konsumkapitals arrangiert. Das kann man Industrialisierung von Öffentlichkeit nennen. So weit die Standardkritik an transnationale Sozialdienstleister. Marburger argumentiert sehr viel differenzierter. Er untersucht an Hand der Marketingdarstellung eines Films, den die Elektronikmarke Apple über sich in Abgrenzung zu Orwells 1984 in Auftrag gegeben und gesendet hat, wie rückständig unsere politische Begriffsbildung in Bezug auf oligopole Systeme ist. Vor allem in der Genese und der Konkurrenz dieser Oligopole im Internetmarkt zeigt sich eine Inszenierung von Wettbewerbern, die das gleiche Ziel haben, nämlich Monopole zu generieren ohne Kartellwächter aufzuscheuchen. Im Unterschied zur globalen Realität von IBM und Apple kann man nämlich bemerken, so Marburger, wie gerade technisch lizensierte Monopolstrukturen sich zunehmend abhängig machen von den technischen Entwicklungen, die sie provozieren. Das sensible Produkt ist nämlich nicht die Marke, sondern das Patent. Hinzu kommt, dass die Position „I like it“ traditionell nicht dem Platzhirschen gehört, sondern dem Underdog. „In“ ist man, wenn man „out“ ist. Monopole sind allseits unbeliebt. So müssen die Oligopole unentwegt ihre Extension in sich selbst hereinnehmen, indem sie die Urteile provozieren – etwa wenn Facebook die Frage „Do you like it?“ auf sich selbst angewendet sähe. Das Monopol inszeniert sich als hemdsärmeliger Underdog. Die Strategie erkennt man, seit Bill Gates dem vormals fast Pleite gegangenen Konkurrenten Apple unter die Arme griff, um nicht als Monopolist zerschlagen zu werden; oder Bayern München Pleitevereine wie Borussia Dortmund unterstützt, damit überhaupt noch ein angemessener Gegner gefunden wird. Das genau ist die Botschaft des Slogans „Power to the People“, die in der Benutzung des Wortes „share“ unter dem Terminus Partizipation hier wie auch andernorts Demokratie inszeniert. Folgt man dem Exkurs, den Marburger zu Flusser aktualisiert, so versteht man, dass gerade unter diesen Schlagworten das „Pyramidensystem“ der scheinbaren Delegation von Macht einer Vergemeinschaftung entgegensteht. Die Verführung von Partizipation ist so angelegt, dass der Nutzer des Netzwerks

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glaubt, er halte das System am Leben. Innerhalb des sozialen Netzwerks sind also die Negationsverhältnisse eines bloßen „Zuschauers“ nicht durchführbar. Offensichtlich braucht man aber Facebook-Nutzer nicht auf den Umstand hinzuweisen, dass Sozialisierung statistisches Kapital generiert. Die Inszenatoren geben offen zu, dass ihr Interesse nur an der Verwertung der Nutzerdaten hängt, nämlich dann, wenn sie sich an ihre tatsächlichen Kunden wenden: Werbetreibende und globale Unternehmen, die gleichzeitig ihre Aktionäre sind. Kein Mensch wird heute die Wahrheit einer Werbeaussage für bare Münze nehmen: Sie ist weder wahr noch falsch, sie gehört überhaupt nicht mehr der Logik einer Aussage an, sie gehört zum Handlungskonzept von Intensivierungen durch statistische und algorithmische Wiederholung. Es sind die ritualisierten Suchoptionen, die von strategischem Interesse sind. Dass diese Optionen im digitalen Gedächtnis weder zu löschen noch zu verdrängen sind, generiert eine besondere Form von Macht: die über eine Ewigkeit, wie sie vorher nur durch die Halbwertszeit der Atomstrahlung denkbar war. In seinem Bildbeitrag zur Inszenierung der Protestkultur zeigt Dirk Gebhardt mit fotografischen Mitteln an Hand der Frankfurter Occupy-Bewegung, dass nicht nur die vorgeblich affektive Kultur des Protestes ihr ritualisiertes und strategisches Bewusstsein erlangt hat, sondern dass sie sich auf unterschiedlichen Ebenen diversen Medienanforderung gegenüber gerüstet zeigt. Dies gilt insbesondere auch gegenüber fotografischer Berichterstattung, d.h. der massenwirksamen Organisation von „spontaner“ Aufmerksamkeit, bei der dem Fotografen die Rolle eines dokumentarischen Berichterstatters, die eines kritischen Publikums unterschoben wird. Dass nicht immer große Politik im Spiel sein muss, wenn Inszenierungen öffentlich wirksam sind, zeigen Ursula Lagger und Peter Mauritsch im Zuge ihrer Ausstellungsstrategie und deren Resultate zum Thema „Hetären“. Im Schnittfeld zwischen Dokumentation wissenschaftlicher Arbeit, professioneller Ausstellungsgestaltung und ironisch-moralisierender Exhibition zeichnen sie detailreich den Prozess der Politisierung von Wissenschaft im Gefolge ihrer Öffentlichkeitsarbeit nach. Sie machen das exemplarisch am Bereich der Altertumsforschung, genauer, antiker Diskursforschung, indem sie gleichsam unter der Hand die Vorurteilslogik von Prostitution und Voyeurismus, die im Ausstellungswesen fundamental ist, in Wissenschaft neutralisieren, ohne dem Affekt gegenüber diesen Themen gegenzusteuern. Kaum ein anderes System der Gesellschaft ist so sehr darauf angewiesen, öffentliche Kontroversen mit dem Ziel des Konsenses zu Beglaubigung durch Versachlichung zu leisten, wie die Wissenschaft. Das Problem der Versachlichung bei gleichzeitiger Aufmerksamkeitssteigerung hat auch Hemken schon

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in seinem Beitrag über das Eindringen der Neuen Sachlichkeit im Bereich von Gestaltung in Bezug auf die documenta 1 aufgeworfen. Sind Inszenierungen dann, wenn sie sich als versachlichte Form, als „Nichtinszenierung“ geben, keine mehr? Oder ist die Abstraktion von situativen Bezügen das Motiv, auf das es ankommt, um Inszenierungen zu neutralisieren? Gerade an der Schnittstelle der Versachlichung wird die Dialektik von Inszenierung deutlich. Das Ausstellungsthema „Hetären“ bildet das Schanier zwischen der wissenschaftlichen Versachlichung altgriechischer „Sexualtechniken“ und einer affektiven Darstellung. In der Ausstellung, die Lagger/Mauritsch im Eingangsbereich der neuen Grazer Universitätsbibliothek als publikumswirksamen Durchgangsort präsentierten, ist nämlich durchaus zwischen Techniken sexueller Mechanik und solchen der Verführung, also der Erotik zu unterscheiden. Inszenierungen sollen verführerisch sein, sprich: sie sollen die Aufmerksamkeit auf die Fremdheit der eigenen Affekte lenken, und dies im Mantel der wissenschaftlichen Darstellungssprache tun. Was hat die Darstellung von antiken Hetären mit der Systematik von Wissenschaft zu tun? – so fragt sich im Vorfeld schon die Verwaltung des recht unerotischen Durchgangsortes der Bibliothek. Schon das Denken in solchen moralisch divergierenden Ordnungen (der Erotik und der Wissenschaft), zeigt, dass die Verführung als Vorführung von Vorurteilslogik gelingt. Die Ausstellung selbst, in deren Vorfeld sich der Widerstand artikuliert, muss dann ihrerseits die Kraft besitzen, die Verführung rückgängig zu machen und zugleich den Verführten als Opfer seiner selbst (hetärisch entzaubert) zu enttarnen. Wie dies durch Differenzierung und Wiedergabe der antiken Diskurse in zeitgenössischen Texten und Bildwerken gelingt, zeigt sich in der professionellen Beratung und Zusammenarbeit mit dem Masterstudiengang „Museums- und Ausstellungdesign“ des FH Joanneum, Graz. Die Ausstellung findet an einem denkbar ungeeigneten und dennoch sehr belebten Übergangsbereich statt, der für gewöhnlich mit den üblichen Neuheitenvitrinen der Bibliothek ausgestattet ist. Nicht der Raum, sondern der Verkehrsort war entscheidend. Damit wird noch einmal darauf hingewiesen, dass inszenieren nicht nur heißt, Räume zu schaffen, sondern Verweisungstechniken gegen ihren Gebrauch zu nutzen, sie in ihren Besetzungen, Blickverhältnissen und Vernetzungen zu pervertieren und damit der „nicht-inszenierten“, situativen Praxis eine szenifikatorische Einsicht in Möglichkeiten zu geben, d.h. die selbstvergessene Praxis in Mehrdeutigkeiten zu verwandeln. Das ist aber ein ganz anderer Begriff der Perversion, als der, der von manchen Besuchern betreffend des erotisch aufgeladenen Themas intendiert wird: Perversion heißt, den anderen Blick wagen – eben auch auf jene zu Unrecht ins Abseits geratenen Begriffe von Erotik und Verführung zurückzugreifen, die in medientechnoider Szenografie allzu oft zu kurz kommen und technischer Versachlichung unterliegen.

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Der Beitrag von Rudolf Heinz „Zur Funktion der Reinszenierung ‚politischer Urszenen‘“ zielt aufs Ganze der Problematisierung verweisender Autorschaft. Wenn man die Funktion der Urszene – die als „ursprüngliche Szene“ sich immer schon von der „ursprünglichen Situation“ (Natur etc.) hat absetzen müssen – thematisiert, so ist damit ein philosophisches und psychoanalytisches Grundverhältnis angesprochen, in dem szenische Gleichzeitigkeit als genalogischer Vorzustand beschrieben werden kann. Jeder durch Praxis neutralisierte Zustand menschlicher Begegnung beginnt lebendig zu werden, wenn eine Hierarchisierung (sprechen – hören z.B.) oder Genese (später – früher) in Arbeit gerät. Kurz gesagt stabilisiert sich das menschliche Bewusstsein in dem Vermögen, selbst sein eigener Ursprung („Selbstbewusstsein“) zu werden. Heinz versteht den Vorzustand „Ur-“ nicht im zeitlichen Sinne, sondern in dem der szenischen Verdichtung, genauer im Übergang von „Situationen in offen-sichtliche Szenarien“. „Szene wird so zum Inbegriff von Repräsentation.“ Als politische Urszene wird der „Allsog“ aufgefasst, dem szenische Präsenz mit situativer Verunbewusstung droht, die eben als technische Praxis universalnormiert desituiert werden kann. Dieses in die Dinge gewanderte Bewusstsein (das „Unbewusste der Dinge“), das überhaupt erst das Funktionieren komplexer Praxis ermöglicht, wird in der Urszene sowohl als Bewusstwerdung wie als Verunbewusstung latent und zwar in der Gleichzeitigkeit von Vatergeltung und Sohnesusurpation. In der Szene wird also der Status des Bewusstseins (und der damit verbundenen Geltungsnormen) verhandelbar – was einen grundlegenden Politikbegriff intoniert. Problematisch im Wechselspiel von Situation und Szenifikation ist nun für Heinz die daraus folgende Instabilität von Vaterschaftsverhältnissen, die der Sohn, gleichsam auf den Schultern des Vaters, visioniert. Das Christophorusverhältnis (der Sohn des Herrn auf den Schultern des Propheten des Übergangs) zeigt an, dass Präsenz und Repräsentation (vertikale und horizontale Mensuren) nur traumatisch fusionieren, erstens als Verdrängung, zweitens als Paranoia einer Vatergestalt – Memorialität als beständige Einflüsterung. Deutlich macht Heinz das Problem des Übergangs in die Allsicht der Szene an einem persönlichen Erlebnis mit dem vom Krieg heimkehrenden „geschlagenen“ Vater, wobei deutlich zwischen der Szene und der Erinnerung an das Bild des Vaters unterschieden wird. So ist nämlich die nicht zu verdrängende Traumatik dieses Bildes ein patriarchaler Agent wider den Untergang des Vaters, der im Krieg tot geglaubt, plötzlich vor Sohn und Frau erscheint. Hier wird mit Händen greifbar, welche Funktion Szenifikationen haben: nämlich die Beglaubigung der Erinnerung als Eigenleistung. Reinszenierung als permanenter Akt der vergegenwärtigenden Erinnerung tritt anstelle des Vaters, ist aber mit der steten Anrufung des Vaters konfrontiert und schafft eine oszillierend instabile Dauerpräsenz, die als Verhältnis von Autor in Regisseur spezifiziert werden kann. Dieses Verhältnis gilt es als „Selbstbewusstsein“ zu denken.

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Szenifikation ist entgegen psychoanalytischer Konvention keine Wiederholung, sondern stets schon Umarbeitung in genealogischer Rücksicht, auf die hin die Verlebendigung des Toten (das Dingunbewusste) im Gedächtnis geschehe als mein durch mich „göttlich“ begleitetes Leben. Urszene ist folglich Szene nur in dem Sinn, als hier das Bewusstwerden selbst zum Bewusstsein kommt, was christtheologisch dem Charakter der ewigen und andauernden Offenbarung in der Eucharistie entspricht: Tod und Wiederauferstehung des Sohnes zur Zähmung des zürnenden Vaters. Wird daraus der Selbstbehauptungsanspruch der Vernunft, marginalisieren die Vaterfiguren. Das Ende von Kaiser, König, Vaterland (und in der von Heinz geschilderten Szene, der Untergang der Nazidiktatur) scheint Erinnerung als Patrimonium zu quittieren. Das geschieht insbesondere an den Aktualitätsfronten globaler „Solidaritätsbettelei“, etwa in den Mediennetzwerken. Präsenz als Dauerinszenierung beklagt die Selbst-Losigkeit. Wenn Repräsentationsverhältnisse zugunsten von Dauerpräsenz ausfallen, bricht Krieg als Vernichtung von Vergangenheit durch. Fazit für die Szenografiekonjunktur: Sie ist Beschwörung der Rückkehr patriarchaler Autorschaft, die die Großökonomie nur noch der Form halber im Bild einer beliebigen Marke aufrecht hält. Deren Selbstverantwortung ist an ein Präsenzsystem namens Markt und Medien mütterlicherseits delegiert: Autodestruktion von Gedächtnis – kultureller Alzheimer. Von Rettung kann in der Allinszenierung – so Heinz – nicht die Rede sein, solange die Durcharbeitung ausfällt und Partizipation Propaganda bleibt. Die anschließende Diskussion der Thesen von Heinz u.a. in der Replik von Ralf Bohn nimmt den Widerstreit zwischen den Vorgaben von Heinz und dem Wunsch, sich von dieser Allsicht zu befreien, in filiale Arbeit auf. Deutlich wird das am Zynismus der von Bohn noch annoncierten Rettung einer Sohnesposition, die sich Vaterschaft entsagt – ebenfalls demonstriert an einer persönlichen Urszenendramatik, die eine Kriegsfolgengeneration zu tragen hat, in der die Väter die Erinnerungsreste eben nicht szenisch verarbeiten. Weswegen die Diskussion an sich auch permanent um einen leeren Platz schreitet, gleichsam auf der leeren Probenbühne philosophischer Literarisierung. Man täusche sich aber nicht: Gehört doch wissenschaftliches Zitieren und das Graben nach Quellen geradezu zu den manischen Selbstinszenierungskünsten derjenigen, die sich ihre Väter entleihen und ihre Autoritäten erschaffen. Auch Textualisierungen sind szenisch durchsetzt. In Betreff der Szenografie ist die Vermittlung und Inversion von Vater-/Autorschaft das zentrale Motiv ihrer Selbstreflexion. Auf die Anerkennung des „Souveräns des Anderen“ geht Ralf Bohn dann in seinem Aufsatz ein. Es geht um das Motiv der politischen Vaterschaft und Autorschaft in einer Inszenierung. Wobei der „Inszenator“ in der seltsamen Zwischenposition steht, einerseits Vorgaben des Autors weiterzugeben, andererseits

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besser und zeitgemäßer verstehen und aktualisieren zu können, was der Autor sich „ursprünglich“ gedacht hat. Diese Unterstellung der Ursprünglichkeit entlarvt sich schnell als hermeneutische Paranoia, Lösungskampf der Aporie von Präsentation und Repräsentation. Bohn bestimmt das Zentrum der Bewegung als Aporie, ähnlich wie der Beitrag von Brock. Sie bedingt eine konstruktive Täuschung und Versicherung der Unabschließbarkeit menschlicher Arbeit. Dazwischen, als Interim oder Übergangsort, erscheint nun die inszenatorische Geste als Refugium relativer Beruhigung, in dem niemand wirklich stirbt. Seinen politischen Ort hat dieser Raum in den Ideologien: Sie werden stets als unerfüllbare Versprechen (Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit) so gewählt, dass sie notwendig generationsübergreifende Projekte sind, unter dem Motto: Die Ahnen werden nicht umsonst gestorben sein. Aus dieser retroaktiven Position, der Umwertung dessen, was geschehen war, ergeben sich Funktionen einer Umkehrbarkeit bzw. Stillstellung von Zeit. Zwei solcher Dispositionen widmet sich Bohn in seinem Aufsatz explizit: Die Diplomatie versucht Handlungen auszusetzen, der Agon versucht Handlungsfolgen auszugrenzen. Beide Bereiche haben ihren szenifikatorischen Höhepunkt im Fest des Barock. Sein seit der Antike bekanntes Signet ist der Triumphbogen, die Entmaterialisierung von Macht, die sich im Übergang zwischen Präsenz und Repräsentation halten kann. Körperopfer wird zum Tanz. Wie die Szenen tanzen lernen, zeigt jeder mechanische Filmprojektor: als Kontinuität der Diskontinuität. Im Hinblick auf die Geschichte erweisen sich die Übergangsräume jedoch eskalierend als schneckenförmige Arabesken paranoischer Selbstverfolgung. Eine Aufführung stellt, anders als Literatur, nicht die Frage des Verstehens väterlicher Autorschaft, sondern die der Legitimität von Autorschaft überhaupt und damit die der Aneignung und Moderation von Gewalt.

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DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION. POLITIK „NACH DEM DEMOS“ Zu Recht gilt ‚das Szenische‘ als menschlich überschaubares Maß. Doch wächst und wirkt es zunehmend ins Große, stößt, verstärkt durch Technik und Medien, in transpersonale Dimensionen vor. Dass ein „Individuum“, ein einzeln Ungeteiltes, angesichts dessen danach strebt, dem gewachsen zu bleiben, sich darum gezwungen sieht, sich ebenfalls als Teil unter Teilen zu begreifen und dergestalt zu größerem Verbund zu assoziieren, kann nicht erstaunen. Es ist ein Motiv schon ursprünglicher Vergesellschaftung, die Regelung solcher Verhältnisse fordert; sie wird als „politisch“ qualifiziert. INSZENIERUNGSDISPOSITIVE & INSZENIERUNGSPOLITIK

Während Überschaubarkeit sich niederschlägt in der Überzeugung der Akteure, Bühne und Spiel zu kennen und entsprechende Gefühle der Sicherheit hinterlässt, bedeutet Unübersichtlichkeit, dass die Überzeugung sich verliert in vielfachen Spiegelungen von Bühne und Aufführung, Skepsis und Ratlosigkeit hinterlässt. Dass, was sich bietet, nicht zuletzt Resultat ist von Medialisierungs- und Mediatisierungseffekten, ist ebenso einsichtig wie die Tatsache1, dass die Effekte im Licht ihrer Handhabung erscheinen. Pragmatische Verfügungen wechseln in Abhängigkeit zu den Insze­nie­ rungsdispositiven. Im Dispositiv tritt zutage, was oder worüber per ‚Disposition‘ entschieden wird. „Dispositiv“ ist im juristischen und ökonomischen, im politischen und militärischen Kontext verwendbar, aber ebenso in ästhetischer Hinsicht. Dispositiv- oder dispositionsbezogen zu beschreiben realisiert, dass damit keine Aussage über ein ‚Sein‘ – oder einen Zustand – getroffen, sondern über Vorhaben gesprochen wird. Unterschiedliche Inszenierungsdiskurse wird man deshalb als Bestandteile unterschiedlicher Dispositive und damit verbundener Projekte aufrufen können. Inszenierungsdiskurse moderieren und modulieren unterschiedliche, je spezifische Verfügungen. Aufgrund dieser Bedingungen 1 „Mediatisierung“ ist keineswegs synonym mit „Medialisierung“, kein technischer Prozess der Zerstreuung in mediale Genres, Darstellungstypen oder Kanäle. Mediatisierung ist vielmehr ursprünglich ein Rechtsbegriff und bezeichnet die „Mittelbarmachung“ eines zunächst unmittelbaren direkten Verhältnisses. Insofern unterscheiden sich mediatisierte von nicht mediatisierten Verhältnissen, wie die Medialität der Sinnesausstattung im Verhältnis zur medialen Erweiterung durch Werkzeuge, Instrumente, Maschinen oder institutionellen Komplexe auf deren Grundlagen, zu Dingen wie denen, die wir „Massenmedien“ nennen.

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handelt es sich bei der Darstellung der Dispositionsakte in allen Fällen des Verfügens (und Verfügt-Werdens) nicht allein um die Realisierung verschiedener Drehbücher, sondern zugleich um eine Darstellung des strategisch logistischen Reglements und Managements. Ihr korrespondiert die szenografische Dimension der Inanspruchnahme von Inszenierungsdispositiven. Werden Inszenierungsdiskurse aufgerufen, um herauszufinden, welche szenischen und szenografischen Dispositive mit ihrer Hilfe zu erhellen wären, bestimmen nicht epistemologische Feinheiten das Unternehmen. Denn dass es Zweck und Ziel aller ‚Kunst‘ des Inszenierens sein muss, auf eine Szene zu zielen, liegt im Begriff der Inszenierung. Was hingegen die Reichweite und Ausdehnung, die Gestaltung der ‚szenografisch‘ medialen Initiative oder Intervention angeht, ist dies ein Ding der ‚Politik‘: der Medien- oder Inszenierungspolitik. ‚Politik‘ bestimmt sich von hier aus als Dispositionsprozess: Verfügungs-, Organisations-, Gestaltungs-, Deutungskontexte schaffend und kontrollierend. Der Inszenierungsbegriff ist janusköpfig. Er schaut auf Plan und Präsenz, kann als Äquivalent für die szenografische Gestaltung dienen, aber auch anstelle des szenischen Agierens gebraucht werden. Es gehört zu unseren Gewohnheiten, in Geschichten, szenischen Ambientes und Atmosphären vorzustellen und zu erinnern. Ebenso zur Gewohnheit gehört, sich in solchen Szenen einzurichten, realiter oder phantastisch, gleichviel. Die Theateraffinität der Wortfamilie „Szene“ hat nicht daran gehindert, Szene“ und „Inszenierung“ auch außerhalb der „Kunst“ zu verwenden. Im Gegenteil. Zwar wird der Gebrauch im engeren Verständnis für die Performative von Theater und Kunst, Gestaltung und Medien reserviert. Doch sind „Szenen des Privaten“ ebenso geläufig wie „Szenen des Öffentlichen“, „Szenen der Praxis“ ebenso wie „Szenen der Theorie“. Man identifiziert Szenen der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, Szenen des Profanen und Szenen des Heiligen. ‚Szenisch‘ lassen sich die Räume der Wissenschaften erfassen, und auch uns selbst setzen wir in Szene, verorten und erkennen uns in den Bildern, die wir von solchen Ansichten mit uns tragen. Der Sprachgebrauch korrespondiert den unbegrenzten Möglichkeiten, unsere Existenz, unser Tun und Denken an Räume und Zeiten zu binden, die wir gleichsam wie ein Stück in einer Kulisse, auf einer Bühne vorstellen. Dabei nimmt die Verwendung gewöhnlich keine Rücksicht auf die Differenz von Performanz und Repräsentation, szenischem Agieren (‚Szenifikation‘) und ‚szenischer‘ oder szenebezogener Darstellung (‚Szenografie‘). Es verhält sich gewissermaßen wie mit der Unterscheidung von fact und fiction, der Welt und der Vorstellung davon. Wobei es genügend Anlass gibt, Schlüsse daraus zu ziehen, dass Tatsachen und Fiktionen weit näher beieinander liegen als vielfach vermutet.2 2 Um Peirce zu zitieren: „Fiktionale Tatsachen oder Fiktionen unterscheiden sich wie reale Tatsachen.

Zu den realen Tatsachen gehören nämlich nicht allein die wirklichen, sondern eben auch die, die das

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Unterscheiden wir entsprechend dem, was zunächst als überschaubar oder nichtüberschaubar charakterisiert wurde, zweierlei, wenn auch aufeinander bezogene ‚Politiken‘ der Inszenierung, erhellt auf der einen Seite die Pragmatik szenischer Einrichtung, auf der anderen Seite der Pragmatismus medial expansiver Inszenierungspolitik. Es sind gerade ihre Ambitionen und Ausprägungen, die im wirklichen Leben als wenig übersichtlich gelten. Man könnte eine dritte Ebene der Betrachtung isolieren: den ‚Pragmatizismus‘, der sich weniger als der Pragmatismus auf die Effizienz der Pragmatik (Handlungen und Gestaltungsunternehmen) bezöge, als auf deren Konzeptualisierung, Textualisierung (oder überhaupt Expression) und Dramaturgie, auf die den Entwürfen eigene Dimension vielfältig möglicher Verwirklichung. Auf eine Formel gebracht: Der Inszenierungspragmatiker braucht zum Stück nicht unbedingt noch Konzept, Buch und Dramaturgie, dem ‚pragmatistischen‘ Szenografen dagegen ist sehr daran gelegen, handelt es sich doch um seine Steuerungs- und Verfügungsinstrumente. Der ‚Pragmatizist‘ beschäftigt sich mit dieser Differenz als Differenz.3 Aus der Differenz selbst folgt nicht, dass die vermeintlichen oder in gewissen Grenzen zu Recht als ‚Regisseure‘ adressierten Planer generell oder überhaupt mehr Überblick für sich reklamieren könnten als irgendwelche Spieler. Eher ist es so, dass auch diejenigen Akteure, die zu den ‚Szenografen‘ (‚Szeneplanern‘) gerechnet werden, wie alle Akteure zu den Aktiven und den Passiven, den Tätern und den Opfer gehören. Denn natürlich gibt es Opfer. Die Wechsel von Funktion und Rolle sind fließend, hängen nicht weniger ab vom jeweiligen Geschehen als von den Beurteilungen, den Entscheidungen und Maßnahmen der einzelnen Beteiligten. Die meisten haben Erfahrungen mit dieser wie jener Rolle, ganz wie sie Erfahrungen haben mit überschaubaren und weniger bis nicht mehr für sie kalkulierbaren Stück- und Spielkonstellationen. Den Unterschied als solchen ins Spiel zu bringen bedeutet, eine relativistische Einstellung zu empfehlen. Nur statistisch summiert wird sich der Pragmatizismus auf die Empirie beziehen lassen, weswegen seine Domäne eher der Diskurs ist, der die Ereignisse integriert. Dies heißt anzuerkennen, dass zwischen den Ereignissen und Erlebnissen der übersichtlichen respektive der unübersichtlichen Art keine Welten liegen müssen. Angesichts dieser Diagnose zeigt sich die Allgegenwart der Szene als problematisch. Einem Inszenierungsdispositiv ausgesetzt zu sein ist nicht nur existenziell von Belang, hat nicht allein mit den konkreten Ausprägungen des szenischen Fühlens, Erlebens und Agierens zu tun. Es ist ebenso epistemisch relevant, Zeug haben dazu, wirklich werden zu können. Darunter fiktionale Tatsachen.“ Charles S. Peirce: Die Grundlagen des Pragmatizismus. Drei Entwürfe zu einem Aufsatz (MS 282-284; 1905), 3. Entwurf MS 284. In: Ders.: Semiotische Schriften. Bd.2. Hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt am Main 1990, 3.2, S.313. 3 Siehe Peirceens Programmschrift: Peirce, Grundlagen des Pragmatizismus, a.a.O., Anm.2.

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hängt ab von den Umständen und Graden des Wissens – oder vermeintlichen Wissens – in medial je unterschiedlich ‚instituierten‘ sozialen Umgebungen. Fokussiert man schließlich die Ereignisse, erfahrungs- wie überzeugungsgeleitet, in beiden Perspektiven zugleich, erhellt darüber hinaus die ontologische Problematik, eine ontologische Differenz, die freilich nicht unbeding pragmatizistisch ausgelotet werden muss. Die Entscheidung dafür, allerdings, akzeptiert auch für diesen Bereich die Existenz von Inszenierungsgewohnheiten und -dispositiven. ‚SCHAUSPIEL‘ ODER ‚INSZENIERUNG‘?

Dass ‚Szenen‘ überall dort assoziiert werden, wo von ‚Bühnen‘ die Rede ist, gleichviel ob realen oder metaphorischen, Bühnen des Theaters oder Bühnen des Alltags, des Handelns, des Wissens oder des Ichs, birgt die Schwierigkeit, dass erlebnis- wie beurteilungsbezogen keineswegs immer klar ist, was vom Schein der Bühne, in deren Licht die Szenen mehr oder weniger erhellen, zu halten ist. Insbesondere außerhalb des Theaters. Im Allgemeinen gilt für die Bühnen offensichtlicher Inszenierung die Verabredung über die Art des Umgangs der Beteiligten miteinander, insbesondere den Modus der Konfliktregelung für den Fall, dass sie benötigt wird. Vereinbart wird, dass, wie es erscheint und was sich ereignet, samt und sonders als „täuschender Schein“ willkommen ist und illusionieren darf. Doch muss sich der Schein als „schöner Schein“ verbürgen. „Schön“ impliziert unanstrengend. Das Theater wird bestimmt durch die Grenze zwischen Bühnengeschehen und Zuschauerdasein. Zuschauer sein bedeutet Nichteinmischung als Konfliktpartei, selbst wenn auf der Bühne die Schlacht tobt. Dafür versprochen ist eine privilegierte Position. Alles darf der Zuschauer sehen, was sich seinem Blick bietet, und dies ganz ohne eigene Gefährdung. Der schöne Schein gilt als Schein ohne Doppel, Spiegelung, Zerstreuung. So ist, was die Inszenierung aufführt, für alle die, die nicht aktiv daran teilnehmen, vor allem Schauspiel, legitime Unterhaltung. Fürs „Spiel“ im engeren Sinne, Spiel in dem selbst Verwundete und Gefallene nicht auf dem Platz bleiben, gilt verabredet, dass das Spiel gefällt, vor allem aber nur so lange währt, bis der Vorhang fällt. Die theatralen, ins Leben übertragen „theatrischen“ (Klossowski) Konventionen realisieren auf diese Weise eine für einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit sanktionierte Form sozialen Umgangs. Der Inszenierungspragmatiker kann dies guten Gewissens akzeptieren und sich selbst einlassen, auch ohne kritischen Rekurs auf die zugrunde liegende Politik der Szenografie. Trotz des Bühnenscheins sind die genannten Konventionen offensichtlich nicht ursprünglich ästhetischer Natur, auch wenn sie, institutionenspezifisch manifest, auf Dauer einen spezifischen ästhetischen und medialen Ausdruck herausbilden: Man hat sich nicht nur auf einen bestimmten Stil, sondern

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auch auf eine bestimmte Politik geeinigt, eine Politik der Ausgrenzung oder – was dasselbe ist – der Privilegierung des Inszenierten. Geltung und Garantie positiver wie negativer Sanktionen hängen dabei ab von der Qualität der derzeit autorisierten Legitimationsinstanzen solcher Übereinkunft, von Autorität und Macht der Gesetze, die Einhaltung der Verabredungen auch zu gewährleisten, im Zweifel zu erzwingen. „Vereinbarung“ heißt demnach gemeinsame Konstituierung der zugelassenen Spiele, Spielfelder und Spielregeln durch eine relevante Anzahl an derartigen Unternehmungen Interessierter. Soll die Methode gemeinsamer Verabredung und Sanktionierung das Politische der ‚Politiken‘, die partikular zugelassenen Strategien im Rahmen der Gesellschaft insgesamt definieren, setzt dies voraus, dass die Gemeinschaft derer, die hier eine Vereinbarung treffen, so zahlreich und potent ist, dass sie die Macht hat, tatsächlich zu verfügen und durchzusetzen, dass in Inszenierungskontexten alle Gewalt tabuisiert ist. Quod est demonstrandum. Denn dies gebieten zu können, muss im Sinne einer wirklichen, nicht einer fiktionalen Tatsache gesichert sein. Angesichts der Realitäten ist dies in der Tat so viel, wie über den Ausnahmezustand gebieten zu können. Nur normativ akzeptierte Geltungsansprüche zu artikulieren dürfte nicht genügen. Denn ein allgemein anerkanntes Gesetz gehört vielleicht zu denjenigen Tatsachen, die „das Zeug haben“, der Wirklichkeit ihren Stempel aufzudrücken. Kraft bloßer Existenz ist das Gesetz indes nicht mehr als ‚Gesetz‘. TRANSPARENZ UND ORIENTIERUNG, DEMOKRATIEPOSTULATE, KOMMUNIKATIONSDESASTER

Verständlicherweise gehört zu den Garantien souveräner Gewalt, der daran gelegen ist, die Konventionen des Umgangs für ‚inszenierte Verhältnisse‘ sicherzustellen, die Gewährleistung von Transparenz. Denn undurchsichtige Verhältnisse fördern Unsicherheit und ungute Affekte. Gilt „Transparenz“ als Ausdruck eines epistemischen Kriteriums, markiert er doch zugleich einen ästhetisch sinnlichen Indikator für eine ungefährdete soziale Interaktion. Ästhetisches Wohlgefallen vereinigt sich mit Wohlbefinden aufgrund pausierender Aufforderung zu Anstrengung und Widerstand. Der instantanen szenischen Durchschaubarkeit des Scheinenden korrespondiert die Überschaubarkeit der Inszenierungshandlungen aus Sicherheitsmotiven – in beiderlei genanntem Ver­ständ­nis von „Inszenierung“. Das Zuschauerdasein soll sich ausbreiten auf alle Bereiche der Konfrontation mit Inszenierung. Ein beliebiges Beispiel der aktuellen öffentlichen Debatte: Zu den notorischen Monita der breiten zivilgesellschaftlichen Opposition gegen das gegenwärtig zur Verhandlung stehende Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der EU und den USA gehört, dass die Legitimation der mit den Ver-

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handlungen beauftragten Repräsentanten nur so weit gilt, wie sie das Publizitätsgebot achten. Die Gesellschaft sei, so ein einschlägiger kritischer Kommentar, keine „Dritte Partei“, sondern unmittelbar betroffen. „Demokratische Systeme, die solche einfachen Einsichten ‚vergessen‘ haben, arbeiten tendenziell an ihrer Delegitimierung [...,] politischer Sprengstoff.“4 Als locus classicus entsprechender Transparenzgebote politischer Theorie gilt unter anderen Quellen Kants Schrift Zum ewigen Frieden. „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“5 Diesen Satz könne man, so Kant, „die transcendentale Formel des öffentlichen Rechts nennen“, ein Prinzip, mithilfe dessen die Möglichkeit, Ethik und Recht zu verklammern, vernünftig abgeleitet werden kann.6 Allerdings lautet die Bedingung, die erfüllt sein muss, dass das Verlangen nach Transparenz seinerseits rechtens und gerechtfertigt erscheint. Dies ist nun aber keineswegs nur dann der Fall, wenn ein mehr oder weniger plausibler Verdacht auf Verheimlichung (eine Handlung, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt) besteht, sondern vor allem dann, wenn die Geheimhaltung von der „Exekutive“ selbst zugegeben, womöglich gar begründet und öffentlich wird („Opazitätsbegründung“). Im Allgemeinen bewegt sich die Rechtfertigung dabei auf dem Boden eines allgemein gehaltenen Verdachts gegen mögliche Konkurrenten oder Kontrahenten außerhalb des eigenen Einflussgebiets, die aus dem Bekanntwerden von Hintergründen einen unlauteren Vorteil ziehen könnten. Doch richtet sich der Verdacht ebenso bei Bedarf gegen das eigene Staatsvolk, das in diesem Fall nicht mehr als Souverän betrachtet, sondern von seiner Repräsentation abgespalten und als unkalkulierbare Multitude behandelt wird. Dass auch das Parlament oder seine Ausschüsse, gegebenenfalls mit denselben Argumenten, keine Einsicht in die Essentials erhalten, ist gewöhnlich mit der autoritativen Variante der Missachtung des Transparenzgebots verbunden. – Allerdings sind hier auch Verwerfungen innerhalb der Repräsentationsstruktur zu beobachten. Die tatsächlich Hand­ lungs­ bevoll­ mächtigten werfen den parlamentarischen Kontrollorganen mehr oder weniger ausgesprochen vor, der Entwicklung hinterherzulaufen, sich nicht wirklich in Kontakt mit der Bevölkerung – in diesem Fall dem gesamten EU-Volk – zu befinden. So der zur Zeit erster öffentlicher Auseinandersetzungen um die Verträge verantwortliche EU-Kommissar, der die Präsentation von rund einer halben Million Protestunterschriften mit einem ironischen Glückwunsch zur Popularität der Anti-TTIP-Bewegung quittierte und zugleich für irrelevat 4

Günther Hirsch: Geheim geht gar nicht. In: FAS Nr.42 vom 19.02.2015, S.8.

5 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Anhang II. „Von der Einhellig-

keit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe (ATA). Bd.VIII. Berlin 1968, S.381 (Hervorhebung ATA). 6 Vgl. ebd.: Das Gegenteilige anzunehmen nämlich, die Verbergung, würde in keinem anderen Grundsatz gegründet sein können, als in der „apriori einzuehende[n] Gegenbearbeitung, [...] von der Ungerechtigkeit her [...], womit sie jedermann bedroht.“

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erklärte: „Herzlichen Glückwunsch. Aber ich spreche für 500 Millionen Europäer.“ Der Kommissar (Karel De Gucht) galt ab dann als einer „der Hauptschuldigen am Kommunikationsdesaster des Freihandelsabkommens“.7 Ganz anders liegt der Fall, wenn es hinreichend umfängliche und detailreiche ‚politische‘ Verlautbarungen gibt und ebenso eine darauf bezogene öffentliche Diskussion inklusive obligater Kontroverse. Niemand wird sich unter solchen Umständen intensiver Medialisierung und Mediatisierung der (unterstellten) ‚Ereignisse‘ seriöserweise erlauben können, mehr Transparenz zu fordern und dafür das Publizitätsgebot ins Feld zu führen. Auch diese These erhärtet das Beispiel: Bemerkenswerterweise nämlich reiben sich die politisch erstzunehmenden Einlassungen zur TTIP-Kontroverse, die die Öffentlichkeit erreichen, weniger an einem gegnerischen Verhandlungsstandpunkt, wägen nicht Argumente und Gegenargumente und legen Hintergründe für diese oder jene Option offen. Vielmehr beklagen sie die ungeschickte Medialisierung einer absehbar anstehenden Kommunikation im Vorfeld der jetzt akuten öffentlichen Debatte. Es hätte, so die Argumentation, zur Expertise der Verhandlungsführer hüben wie drüben gehören müssen, dafür zu sorgen, dass die öffentliche Meinung umfänglich ‚ins Bild gesetzt‘ und entsprechend positiv konditioniert würde. „Da läuft doch etwas aus dem Ruder“ lautete der gemeinsame Nenner politischer Besorgnis. Der so betitelte Artikel im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) erschien schon einige Wochen vor der staatsrechtlich traszendentalphilosophischen Intervention gegen die Verletzung des Öffentlichkeitsgebots völkerrechtlicher Vereinbarungen in derselben Zeitung. Der Satz bringt das Problem, wie es die Politik behandelt, auf den Punkt. In der stillschweigenden Übereinkunft, gewissermaßen im Schulterschluss von Politik und Medien, das Timing der politischen Öffentlichkeitsarbeit anzuprangern, verbindet Verwunderung mit Publikumsbeschimpfung ob der Reaktionen bestimmter, eigentlich bekannter ‚Gruppen‘ und ‚Lager‘ im Innern der Gesellschaft, mehr noch ob des positiven Widerhalls solcher Opposition in der Bevölkerung: Schließlich habe sich doch bisher nie eine ernstzunehmende Öffentlichkeit für völkerrechtliche Abmachungen im Kontext weltweiter Wirtschaftspolitik interessiert. Wieso jetzt?

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Ralph Ballmann/Lisa Nienhaus: Da läuft etwas aus dem Ruder. In: FAS Nr.8 vom 22.02.2015, S.18f.; Hervorhebung – HW.

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DOPPELTE DIFFERENZ 1: STRATEGISCH, BEDEUTUNGSTHEORETISCH-SEMIOTISCH

Vermeintliche Transparenz und daraus rührendes Vertrauen in den eigenen Überblick ist, das lehrt das Exempel, in vielen Fällen weit besser geeignet als offensichtliche „Gegenbearbeitung“ (Kant), deren tatsächliche oder vermeintliche Unbilligkeit womöglich auffliegt – oder sich aber zur Disposition stellt. Denn das könnte in eine wahrhaftige, keineswegs konfliktfreie Auseinandersetzung münden und in ihrem Verlauf wirkliche Alternativen zum bisher mehrheits- und konsensfähigen Meinungsmodell aufzeigen und dafür werben. Es erscheint hier eine Differenz der strategischen Option, nicht im Sinne der Politik der Politik – welche die Alternative als solche gerne zum Verschwinden bringen möchte –, aber im Sinne einer Geltendmachung des Politischen als der Differenz politischer Maßnahme und Philosophie. Inszenierungstheoretisch betrifft dies die Dimensionen manifester Bühnenperformanz, aber ebenfalls die Ausdehnung aller Hinterbühnen, insbesondere im „Entwurfsbereich“ (Heideg­ger8), in narrativer und gestalterischer, medialer und technischer Disposition: die Inszenierungsdispositive. Die Anmahnung „mangelnder Transparenz“ kann immer Veranlassung finden, wird indes, wenn radikal habituell, im Allgemeinen zurückgewiesen, ganz wie der radikale philosophische Skeptizismus durch den Pragmatizismus der Sprachphilosophie (Wittgenstein). Man entzieht dem notorischen Skeptiker den Mitspieler. Allgemeiner Skeptizismus als politische Einstellung des Souveräns gegenüber den politischen Legitimationsverhältnissen stellt sich hingegen erst ein, wenn die Konstitutionsbedingungen der Legitimationsinstanzen und -prozesse empirisch wie praktisch zunehmend weniger Vertrauen einflößen. Epistemische und ästhetische Hinsichten fallen angesichts der Privilegierung des Gesichtssinns (des Schauens) oder überhaupt der Wahr­nehmungs­ fähigkeit zusammen. Doch auch in energetisch praktischen Verwicklungen des Beurteilungsprozesses im Zuge szenischer Orientierung bleiben Rationalität und Sinnlichkeit beieinander im Kontext damit verbundener Artikulation, Argumentation und Schlussfolgerung. Schließlich bedürfen diese selbst der Darstellungs-, das ist einer Gestaltungs- oder Inszenierungsform. Wenn man es recht bedenkt, rekurriert ‚die Szene‘ an dieser Stelle des Bedeutens und Bedeutenlassens ganz automatisch auf ‚die Szenografie‘ oder, soweit sie es nicht aus erster Hand tut oder tun kann, auf eine Quasi-Szenografie, einen Quasi-Entwurf. Obwohl es sich hier also um eine pragmatische Einstellung handelt, gehört auch zu ihr, sich, wenn nötig, eine passende Kausalität zurechtzulegen, die im Zweifelsfall – wenn 8

Vgl. Martin Heidegger: Zeit des Weltbildes. In: Ders.: Holzwege (d.i.: Heidegger Gesamtausgabe Bd.5. Frankfurt am Main 1977). Hgg. von Friedrich Wilhelm von Hermann. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1972, S.92.

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nicht so gut wie ausschließlich – intentionaler Art ist, also Handlungsgründe, die eigene Zwecke und Strategien privilegiert. Dass sich solche Kausalität gerne in repräsentativerem Gewand zeigt, steht auf einem anderen Blatt. Die Dekon­ struktion des jeweiligen Verhältnisses legt die Ontologien frei, ihrer selbst wie die ihres Untersuchungsobjekts. Es korrespondiert der Verflechtung von Sinnlichkeit, Praxis und Einsicht der Konvergenz epistemischer und ästhetischer, empirischer und ontologischer Positionierung, die (im Zweifel multi-)perspektivische Einrichtung und Relativierung des Kriteriums Sichtbarkeit im Rahmen des Kriteriums Überschaubarkeit. Wie „Sichtbarkeit“ angesichts einer performativen Darstellung oder Aufführung (einer exekutiven oder expositiven Repräsentation/ Inszenierung9) empirisch in eine Ausdrucksform des Scheinens überführt wird und epistemisch in eine Ausdrucksform des Bedeutenlassens, die verantwortlich ist für die Qualifikation der praktischen Situation, ganz so relativiert sich die topologische Schärfe des Begriffs, die topografische Schärfe der Zeichen, die diagrammatische Präzision der Anweisungen für den jeweiligen Gebrauch des Ausdrucks „Überschaubarkeit“. „Sichtbarkeit“ ist wie „Überschaubarkeit“ szenifikations- oder handlungsabhängig, wie Szenifikation oder Handlung (‚Szene‘) abhängig sind von Konzeptualisierung und Szenografie der Sichtbarkeit. Folgt die Analyse einem relativistischen oder statistischen Konzept, finden sich die Zustände der Unsichtbarkeit und Nichtüberschaubarkeit als Perspektiven des Sichtbar- und Überschaubarmachens und -machenwollens – und umgekehrt. Die Pointe des Pragmatikers ist mithin, was seine Bezeichnung besagt. Mit den Dingen geht er um als Geschäftsmann und Advokat.10 Keineswegs aber heißt das, dass er nicht jederzeit Gründe genug dafür vorbringen könnte, den Evidenzen, mit denen er handelt, skeptisch gegenüberzutreten. DOPPELTE DIFFERENZ 2: PRÄSENZ & REPRÄSENTATION, SCHÖNER & PROBLEMATISCHER SCHEIN

Die Konsequenzen für die Qualifikation des Inszenierungsbegriffs und der Varianten der Inszenierungsstrategien liegen auf der Hand. Auszugehen ist auch hier von einer doppelten Differenz. Zum einen wird unter „Inszenierung“ sowohl das szenische Ereignen, Geschehen und Tun als auch die ‚szenografische‘ (narrative, dramaturgische, choreografische, mediale und technische) Konzeptualisierung, Planung und Erprobung möglicher Szenifikation gefasst. „Inszenierung“ in diesem Verständnis fokussiert die künstlerische Regie und Dramaturgie eines temporären Bühnengeschehens, die Produktion der Variablen der Scheinerzeu9

Als Ausdrücke für die ‚ausführenden‘ bzw. die ‚ausstellenden‘ Künste. Vgl. den entsprechenden Gebrauch in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. 10 Beide Übersetzungen sind üblich für den „pragmatikos“.

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gung in einem szenisch medialen Rahmen. Zum anderen wird der Ausdruck (im Deutschen) seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebraucht, um das Künstliche eines womöglich mit Bedacht arrangierten und vortäuschenden Auftritts in einem beliebig indizierten Bühnen-, Performanz- oder Installationsraum zu charakterisieren. Typischerweise bleibt es dabei meist bei der Behauptung möglicher Täuschung. Ohne diese Täuschung in ihrem ganzen vermuteten Ausmaß auch belegen zu können gilt sie als dem Schein beigegeben, der sein ganzes Ausmaß indes nicht offenbart. „Inszenierung“ fungiert aufgrund dessen paradoxerweise im Gefüge einer alltäglichen, hinsichtlich bestimmter Inszenierungsqualitäten ganz unmarkierten Medienmechanerie: Problematischer Schein wird aus individuellen und kollektiven Erfahrungs-, von daher ‚politischen‘ oder ‚pragmatischen‘ Gründen, nicht aus Begriffsgründen, abgegrenzt vom ‚schönen Schein‘, für den paradigmatisch der Schein der Schönen Künste steht. Die Erfahrung dagegen zeigt alle Tage, dass weder ausgeschlossen werden kann, dass problematischer Schein sich als äußerst attraktiv und betörend erweist noch, dass schöner Schein mit problematischem Glanz einhergeht. Vereinfachenderweise aber gehört es stattdessen zum Common Sense und einer Politik, die ihm genügt, davon auszugehen, dass kein Anlass besteht, den Inszenierungsvorbehalt gesellschaftlich zu generalisieren. In der Konsequenz erscheinen Welt und Leben geteilt in Spiel und Ernst, vulgo: „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.“ Die Räume von ‚Kunst‘ und Gestaltung, Unterhaltung und Vergnügen sind dabei vorgesehen, der freien Entfaltung eines jeden Gelegenheit zu geben. Die Uhren werden zurück auf ‚Null‘ gesetzt, wenn Bedarf besteht: „Neues Spiel, neues Glück“ – keine Treue des Erlebens also gegenüber dem Ereignen. Der Effekt ist offensichtlich: Alle anderen Felder des sozialen Austauschs, insbesondere diejenigen der individuellen Subsistenzsicherung und der gesellschaftlichen Reproduktion, können derart als tragfähig, belastbar und echt in Differenz gesetzt werden. Sich dort zu bewegen heißt dann aber auch, dass es anstrengend ist, wo es um den tatsächlichen Überlebenskampf geht. Die empiristische Version lautet: „What you see is what you get“ – oder umgekehrt, je nachdem. Doch ob positiv oder negativ gedeutet, klar ist eines: Der Schuldenschnitt nach absolvierter Runde ist ausgeschlossen. Es kann nicht verwundern, wenn die Räume der Arbeit, der ernsthaften Auseinandersetzung in Tun und Denken generell und vorderhand als ‚uninszeniert situativ‘ deklariert werden. Simuliert (vorgespielt) oder mediatisiert (durch Zubereitung verändert) soll hier nichts erscheinen. Ähnlich wie im Transparenzgebot besagt die intellektuelle Direktive, dass alle Szenen außerhalb der privilegierten künstlichen Räume im Sinne originaler Szenifikationsprozesse vorzustellen seien, Ereignisse eines mehr oder weniger spontan aus Situationen aller Art heraus entwickelten ‚Szene-Machens‘ und ‚Szene-Erleidens‘. Spontaneität, allerdings, gilt nicht als Freiheitsindiz im Sinne irgendeiner Art von Ungebun-

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denheit oder Unverbindlichkeit. Im Gegenteil: „Freiheit“ wird reklamiert als „Verantwortung“. Sollten die Szenen, die sich in solch gewohnt gewöhnlicher Umgebung ergeben, nicht nur als beabsichtigt, sondern womöglich auch als formal wie inhaltlich geplant gelten, sollen trotzdem, paradoxerweise, auch dafür szenografisch durchsichtige Entwurfskontexte angenommen werden, völlig in Einklang mit einer unproblematischen szenischen Performance. Dass das, was Du siehst, verlässlich ist, erhält gerade daher, dass es mit Bedacht geplant wurde, seine Beglaubigung. Da, dies Konstrukt vorausgesetzt, keine Differenz zwischen Intention, Plan, Entwurf auf der einen und Aufführung oder Vorstellung auf der anderen Seite anzunehmen wäre, versteht sich von selbst, wenn der Common Sense die Existenz manifester Entwürfe im Allgemeinen auf sich beruhen lässt, ja den Blick auf den Entwurfsbereich als wenig hilfreich zur Beurteilung der Performative und generell für entbehrlich hält. Die Integrität der ‚Herrschenden‘ – der Planer, Entwerfer, ‚Sozial-Szenografen‘ – steht außer Frage, wenn als ausgemacht gilt, dass der Souverän in dieser Sphäre nicht weniger am Werk ist wie in den Szenarien der alltäglich gewohnten Verrichtungen. Das freilich ist ein Quidproquo, verantwortet von der Eskamotierung der Souveränität im Übergang vom König auf das Volk. Die Stelle der Repräsentation ist leer. Also kann sie beliebig besetzt werden. Im Unterschied zu Zauber und Grusel, zu „Ängsten, Jammer und Mitempfinden“ (wie es in der Poetik des Aristoteles heißt) der theatralen, dezidiert künstl(er)ischen Inszenierung, von denen jeder, der sich auf die Aufführung einlässt, weiß, dass sie gespielt sind, verlangt die ‚uninszenierte Szene‘ offenbar eine Choreografie ganz ohne Inszenierungstrug und Spielschein: Szenen ‚ohne Theater‘. Denn leicht lässt sich erkennen, dass die Bannung aller Inszenierung hinter die Demarkationslinien von Erbauung, Unterhaltung, Werbung selbst ein Darstellungs-, ein Inszenierungseffekt ist, der die Kaschierung inszenierungsgesellschaftlicher Verhältnisse erlaubt. Dienstbar den medialen Eingriffen einer ‚unsichtbaren Hand‘, vermittelt die ‚profane Szenografie‘ verständlicherweise nur ungern mit der Botschaft auch die Inszenierungs-Expertise und was sie treibt. Im Gegenteil gehört es hier zu den Grundsätzen der Kommunikations­­und Präsentationsplanung, die tatsächlichen Absichten der Intervention mit gestalterischen Mitteln zu überspielen und alle ‚Inszeniertheit‘ verschwinden zu machen. Darin unterscheidet sich die profane szenografische Strategie von der in den sakralisierten Bezirken von Kunst, Gestaltung oder Medien, dort wo das Publikum sich auf eine gute Inszenierung freut. Die kollektive Erinnerung aber kennt die der Proklamation freier Eigenverantwortung angemessene Haltung seit alters her: „Was immer du tust, tu’ es klug und bedenke die Folgen.“11 11 „Quidquid agis prudenter agas et respice finem!“ In: Gestae Romanorum 103. In der Literatur meist mit Referenzen bei Äsop: Fabulae, zum Beispiel 45 oder 78, der Fabel, die wir heranziehen.

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Zwar ist dem Common Sense geläufig, dass verlässliche und sichere Verhältnisse kosten. Doch stiftet dies Wissen nur bedingt Vertrauen. Das gemeine Bewusstsein neigt zur unheroischen Deutung der Beziehung zwischen Erleben, Erwarten und Bekommen (zukünftigem Erleben): What you get is what you (will) see. Wie auch immer man liest, die Bedeutung des Satzes hinterlässt den Eindruck einer Kippfigur. „DER AFFENKAISER“. DIE PROJEKTION DES ANDEREN Zu Äsops Geschichten, die die schon biblische Maxime kluger Voraussicht illustrieren, gehört die Fabel vom Affenkaiser. Sie thematisiert die Frage eines angemessenen Verhaltens, wenn man verhindern möchte, dass die Kosten für die allgemein als billig geltende Sicherheit und den in ihrem Rahmen zugestandenen Überblick individuell nicht mehr bezahlbar geraten. Erstaunlich ist, dass wer das wissen möchte, obwohl durchaus nicht ins Theater unterwegs, sondern mitten im gesellschaftlichen Leben stehend, nichtsdestotrotz in eine Theaterszene gerät. Äsop holt uns für sein Exempel in eine autokratisch verfasste Welt. Die Verantwortung dafür wird indes nicht in einer Gründungsgeschichte fixiert. Die Dinge bleiben flexibel. Was Staat macht im Affenreich, beruht auf Mimesis, nicht auf selbstbestimmter Konstituierung. Es sei denn, man denke an Goethes Genietheorie, dass die Nachahmung zwar das ursprüngliche Verhältnis von Künstler und Natur geprägt haben mochte, jede wahre Kunst indes die Loslösung aus dieser Naturbindung gebietet, Mimesis zur Selbsttätigkeit werden lässt.12 Sinnvollerweise versteht man unter „Kunst“ in der Übertragung auf den gesellschaftlichen Bereich schlechthin in Kant’scher Tradition diejenigen „Künste“, die nicht nur darauf beruhen, dass jemand „vieles kennt und weiß“, sondern vor allem darin, dass jemand „etwas zu machen versteht“. Denn von hier eröffnet sich das relevante Objekt, das, worum es sich dreht, als Projekt.13 Bleiben wir bei den Affen, erübrigt sich die Problematisierung. Den Gewohnheiten dieser Spezies gemäß, so will es Äsop, ist alles abgeschaut, insbesondere die Szenografie für die Zeremonien des Affenkaisers. Allerdings findet der Herrscher der Affen das Vorbild seiner Nachahmung nicht in der Natur, sondern unter den Menschen. Er arrangiert alles, „wie er es beim Kaiser gesehen hatte“, dem wahren Kaiser, versteht sich. So wird die Affenhorde in langer Reihe zur Linken und zur Rechten zum Defilee vor den Monarchen kommandiert, 12

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe/Friedrich Schiller: Paralipomena: Über den sogenannten Dilettantismus oder Die praktische Liebhaberei in den Künsten. In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe (FA), I.18, S.739-785. 13 Kant, Anthropologie, a.a.O., S.224; Kant spricht von einer „projectirten Einheit“. Siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders., Werke, a.a.O., Bd.IV, 674/675, S.429.

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während er selbst auf erhöhtem Thron davor residiert. Vorgeführt werden zwei Wanderer, die, „während sie ihres Weges zogen“, ins Land der Affen gerieten und dort festgehalten wurden. Von ihnen will der Fürst erfahren, was sie – die vorgeblich nicht Partei sein können – vom äffischen Regiment hielten. – Anzunehmen ist, dass die beiden Fremden nicht zuletzt deswegen ihre Meinung kundtun sollen, weil sie dem Affenherrscher, als Menschen erkannt, als Experten gelten müssen, vertraut mit den ‚wahren‘ Verhältnissen eines monarchischen Regiments. – Die Fragen des Kaisers geraten nichtsdestotrotz rudimentär. Es sind nur zwei, gleichsam philosophischer Natur: „‚Wer bin ich?‘“, fragt der Herrscher und „‚Die anderen, die vor mir stehen, was sind die?‘“ Welche Antwort der Oberaffe erwartet, lässt sich erraten. Der Monarch wird nicht zufrieden sein mit einem einhelligen, weil kaum zu bezweifelnden Eingeständnis der beiden Reisenden, dass sie noch nie einer so perfekten Zeremonie wahrer Herrschaftsausübung beigewohnt hätten wie anlässlich ihres Besuchs im Affenland. So gilt die Geschichte dem Test der Reaktion des Potentaten auf disparate Einlassungen. Zwar unterscheidet Äsop deshalb den Wahrheitsliebenden vom Verlogenen, doch wird die ganze Geschichte trotz offensichtlich alternativer Konsequenzen dominiert vom moralischen Impetus. Der Fabel ist es nicht zu tun um epistemische, sondern um ethische Einsichten. Denn tatsächlich übt sich der Verlogene, von dem es am Ende heißt, dass er dem Kaiser „geschmeichelt“ und „alle anderen betrogen“ habe, weniger in Verlogenheit als in Zurückhaltung. Man könnte sagen, dass er es bei dem, was er im Rahmen der einmaligen Inszenierung zu sehen bekommt, bewenden und weitere Schlussfolgerungen – aus eigener Erfahrung oder ‚besserem‘ Wissen – auf sich beruhen lässt. Seine Antwort ist so bündig wie die an ihn gerichtete Frage: „‚Du bist der Kaiser‘„, gibt er Bescheid. Und auf die zweite Frage nach der Identität derer, die vor dem Thron angetreten sind, reicht es ihm ebenfalls, schlicht zu bestätigen. Er wiederholt den Inhalt der Frage, akzentuiert nur die Pragmatik der Grammatik: „‚Das sind deine Paladine, Würdenträger, Feldherren und andere Chargen‘“. Der Erfolg solch zurückhaltender Replik bleibt nicht aus. Die auf den Schein der Situation sich beschränkende Einlassung wird gern gehört und unverzüglich belohnt. Dass die Fabel den Pragmatiker als „Lügenbold“ diskreditiert, will angesichts der Weisheit, dass der Kluge das mögliche Ende (s)einer Geschichte zu bedenken habe, nicht recht einleuchten, macht demnach nur Sinn im Verständnis der aufgesetzten Moral.14 Dem Wahrheitsliebenden bleibt, nüchtern betrachtet, allenfalls die Rolle einer möglichen Falsifikationsinstanz. Umso erstaunlicher ist, dass er sich angesichts des Geschehens, dem er beiwohnt, Hoffnungen macht, mit einer alternativen Reaktion doch noch zu punkten und zwar besser zu punkten als sein 14 Wobei

daran zu erinnern ist, dass die Version der Gestae Romanorum explizit auch nicht bei Äsop zu finden ist.

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Gefährte. Doch obwohl er Gelegenheit hat, die Reaktion auf die von Vorsicht und Klugheit motivierte Antwort zu verfolgen, lässt er sich vom Enthusiasmus der Wahrheit hinreißen. Denn dieser Wanderer, so will es der Dichter, gibt den Part desjenigen, „der immer die Wahrheit liebte und stets die Wahrheit sagte“. Doch glaubt er, nicht allein seine Liebe zu dem, was er für die Wahrheit hält, zum Maßstab der ihm abgerungenen Beurteilung machen zu müssen. Mehr noch projiziert er die eigene Affektlage auf die Fremden. – Würde er sie als solche, als ‚Tiere‘ oder ‚Wilde‘ betrachten, wie es dem eigenen Weltbild eigentlich angemessen wäre, müsste er annehmen, dass sie weder von der Wahrheit noch von der Wahrheitsliebe in seinem Sinne irgendetwas verstünden, bestenfalls die hohle Form gewisser Konventionen goutieren und abschauen könnten. Denn würden sie mehr verstehen, hätten sie die Antwort seines Genossen nicht begrüßen und nicht belohnen können. Womöglich hätte es sich dann bei dieser, den Wanderern fremden Art gar nicht um Affen gehandelt, sondern um eine unbekannte Spezies, vielleicht der Art Homo sapiens in Affenkostüm, die ihresgleichen daraufhin prüfen wollte, ob sie vielleicht doch allzu schnell nach dem Äußeren, nach dem ersten Anschein urteilten. Tatsächlich aber spricht die Fabel ausdrücklich davon, dass es zur besonderen Affenart gehöre, die „Täuschung“ zu lieben wie diejenigen, die sie übten. Es ist diese Eigenschaft, die die beiden Reisenden „Verschlagenheit“ nennen. Die Affen zumindest machen sich nichts vor über ihren Umgang mit der Nachahmung, halten sie schlicht für original, möchten aber, dass die Aufführung funktioniert. (Wenn denn, wofür nichts spricht, die ganze Maskerade nicht allein eine Idee des Hordenführers ist.) – Alle diese Überlegungen kommen dem Wahrheitsfreund indes nicht in den Sinn. Er hat genug damit zu tun, sich mit der Spiegelung seines Selbst zu befassen. Worüber der Affenführer, ebenfalls der Spiegelungslogik folgend, sich täuschen müsste, wenn er – pragmatistisch veranlagt – neben dem eigenen Auftritt den ursprünglichen ‚Entwurf‘ für seine Inszenierung erinnerte, ist die Verleugnung der Mimesis durch die Menschen in Situationen, in denen es ihnen um die Beurteilung der eigenen Originalität und Schaffenskraft geht. Unterstellen wir diesen theoretisch interessierten Affen, dürfte er es für so selbstverständlich wie vernünftig halten, dass Inszenierungen als bloße Schauspiele gelten, Aufführungen, wie es sie immer schon gab. Dass man die mimetische Herkunft, zu Gewohnheiten sedimentiert, vergessen kann, wird der Affenchef vielleicht einräumen. Dass man sie verleugnet, um die Nachahmung stattdessen als singuläre Begegnung mit einem inspirierenden Ereignis zu behaupten, wird ihm nicht in den Sinn kommen. Er wird das Schauspiel für natürlich, in diesem Sinne original behaupten, folglich überhaupt nicht auf den Unterschied zu sprechen kommen. Wenn er aber darauf gestoßen würde, könnte es sein, dass gerade dies seinen Zorn provozierte.

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

Tatsächlich kommt eine entsprechende Haltung in der Antwort des wahrheitsverliebten Wanderers zum Ausdruck. Er behauptet eine Tatsache, erzählt nichts aus Hörensagen oder bloßem Dafürhalten. Seine Bestrafung könnte, vorausgesetzt die Prämissen wären erfüllt, auch von daher Sinn machen. Wo doch jeder aufgeklärte Affe Bescheid darüber weiß, dass alle Art, ein Schauspiel zu geben, schlechthin mit Repräsentation zu tun hat, würde der Fremde der Überheblichkeit wegen, seinesgleichen als originalschöpferisch auszugeben, zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Abb.1 „Elementares Mimesis-Programm“. 2001: Odyssee im Weltraum / 2001: A Space Odyssey. Regie: Stanley Kubrick, USA/GB 1968 (Quelle: 2001.wikia.com/wiki/Moon-Watcher).

Bei Äsop spricht auch nichts dafür, dass der Affenkaiser sich der Spekulationen hingäbe. Dem Dichter ist der Nachahmungszwang im Gegenteil diskriminierendes Merkmal der äffischen Art. Bestraft vom Affenrenegaten wird deshalb derjenige der Reisenden, der den Affen die Identität als eigene Spezies (als ‚Nicht-‘ oder ‚Wenigmenschen‘) bestreitet. Die Moral der Fabel dagegen sieht gerade dies als untrügerisches Indiz des Gutmenschtums („Wahrheitsliebe“, „Ehrenhaftigkeit“ und „Güte“). Dabei hätte es anstelle dessen darum gehen können, die Verfassung und Gebräuche der Affen angemessen zu beurteilen. Auch wenn es hieße, möglicherweise anzuerkennen, dass sich ‚die Fremden‘ zu bestimmten Bedeutungen und deren kollektiver Praktizierung entschlossen hatten (wenn dies denn situativ, zum Beispiel aus bestimmten Indizien zu entnehmen wäre). Im gegebenen Fall wären die beobachteten Verhaltensweisen den eigenen, menschlichen Usancen typischerweise gar nicht so fremd gewesen, will die Geschichte doch, dass gerade dieser Umstand (die Wanderer kommen aus einem Land mit einem anderen Herrscher) ein Argument für den Affenhäuptling ist, ausgerechnet diese beiden Reisenden zu Gutachtern zu bestellen. Die umstandslose biologistische Fixierung auf eine fremde Spezies schließt dagegen Gleichheit als mögliches Prinzip von Verständigung und Umgang apriori aus. Die Ausgrenzung könnte im Übrigen statt in biologischen Termini genauso gut gemäß religiöser oder politischer Kategorien erfolgen.

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Wie bekannt inszeniert Hollywood die Geschichte mit umgekehrter Adressierung sehr gern als Horrorstück gegen Ende einer mutmaßlich zukünfgen Menschheitsgeschichte. WAHRHEITSLIEBE, NARZISMUS, SOZIALES PROJEKT. URSPRÜNGLICHER ANTAGONISMUS

Der Wahrheitsverliebte der beiden Reisenden in Äsops Fabel ist nun aber trotz seiner Fixierung weder wahrhaft moralisch noch philosophisch ambitioniert. Die Wahrheit interessiert ihn nur, soweit er sie als persönliches Steckenpferd und zu eigenem Nutzen reiten kann. Denn das eigentliche Motiv dafür, dass er trotz des Einverständnisses, das sein Weggefährte mit dem Fürst der Affen erzielt und dessen Zeuge er wird, daran festhält, seine abweichende Antwort noch geben zu wollen, ist durch und durch egoistisch, hat mit den vermeintlich essenziell anthropogenen Zwecken Wahrheitsverbundenheit, Ehrenhaftigkeit, Güte wenig zu tun. Anders gesagt: Seine Zwecke sind ähnlich motiviert wie die seines Gesellen. Dass der Wahrheitsverliebte glaubt, ein Pfund zu besitzen, mit dem noch zu wuchern sei, dass es ihm tatsächlich eine noch größere Belohnung als dem Freund einbringe, korrespondiert dem Motiv des Affen, der ihn zum Urteil bewegen möchte. Doch betrifft die Überzeugung, deren Äußerung dieser provoziert, nicht die möglichen Ereignisse oder die Umstände und Weiterungen der Begegnung, sondern allein ein bestimmtes Bild, das zu erzeugen der Gutmensch so versessen ist wie sein tierisches Gegenüber. Es geht um das Selbstbild der beiden im Blick des jeweils anderen, an deren Stelle sie sich zu setzen suchen. Dass die eigenen Artgenossen zur Anerkennung des Selbstbildes bereit sind, wenn sie erkennen, dass ein darum Bemühter sich in dem, was er dafür tut, offenbar als einer ‚Gemeinschaft‘ verpflichtet erweist, gehört zu den Erfahrungen des Liebhabers von Wahrheit und Ehre, ganz wie bei seinem Widerpart, der seinen Status als Fürst beglaubigt sehen möchte. Andernfalls wäre das Selbstbild nichts wert. Das engagierte Selbst hätte keine Evidenzen für eine anerkannte Zugehörigkeit – egal fürs Erste ob zu seinesgleichen oder als Herrscher zu seinen Untertanen –, könnte die Mühen um seine Projektion, sein Bild nicht genießen. Mithin unterwirft der in die Tugenden, in Wahrheit, Ehre und Güte Verliebte sein symbolisches Kapital ganz wie der Affenkaiser sein Gewaltmonopol als Monarch den eigenen Phantasmen. Doch können die Beziehungen nur symmetrisch gelesen werden, wenn die Prämissen dekonstruiert sind. Dann allerdings erkennt man, dass die Fabel nicht in den Widerspruch zu einem imaginären Natur- oder tierischen Zustand setzt, sondern anhand derartiger Projektionen Alternativen humanen Verhaltens ventiliert. Die Frage der Führerschaft wird in der Affenhorde keine diskursspe-

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

zifische Legitimationsfrage, sondern eine Frage der Anerkennung des Rechts des Stärkeren sein. Doch spielen die Affen in Äsops Geschichte kein eigenes Spiel. Sie äffen nur nach, was sie an nützlich scheinendem menschlichen Verhalten abgeschaut haben. Was der tugendhafte Reisende wirklich will, ist „Ansehen“ und zwar noch größeres als sein Weggefährte, mehr Reputation als seinesgleichen. Projiziert findet sich die Figur bestätigt. Sie erläutert, was „seinesgleichen“ bedeutet: Gleichheit kann logischerweise nicht vorausgesetzt, sondern nur erschlossen werden, wenn einem Glied ein weiteres nachfolgt. Das aber ist ein rein prozessuale Betrachtung. Soll sie als Schluss dargetan werden, kann sie als solcher, rein formal, die empirische Adäquatheit der Prämissen nicht garantieren, wenn die Umgebungsvariablen, die Hinsichtlichkeiten, nicht geklärt sind. Gesetzt ein Affe, wird ihm ein zweiter, der nur als solcher verkleidet ist, nicht gleich sein, wenn es um die biologische Art geht. Geht es ums äußere Aussehen, kann er ihm durchaus gleichen. Wird der andere aber, egal in welcher Hinsicht, als gleicher schon in die Voraussetzung genommen, versteht sich, wenn er als gleicher jederzeit auch gefolgert werden kann – ein ‚sohistischer‘ Scheinschluss.15 Tatsächlich verfährt die vermeintliche ‚Logik‘ auf diese Weise in der politischen Praxis: Der andere soll gleichgemacht werden und wird gleichgemacht, indem man sich ihm (vermeintlich) gleichmacht, was ihn gleich erscheinen lässt. URSPRÜNGE DER UNGLEICHHEIT

Beide menschliche Protagonisten in Äsops Affenkaiser wünschen sich, dass ein wertschätzender Blick auf sie gerichtet und dieser Blick das Bild, das sie von sich selbst haben, objektivieren möge. Das Eigenbild haben beide nicht selbst erfunden, könnte es als Bild doch Bild von vielen anderen sein. Aber sie haben es als Bild des Selbst angeeignet. Sie haben die Begegnung mit dem anderen als Ereignis der Bildstiftung angenommen und sind dem damit bezeichneten Projekt gefolgt: dem eigenen Ansehen als dieser oder jener treu zu sein. Dies aber gelingt nur mittels Akzeptanz des Unternehmens durch eine Instanz, die bereit ist, die Gleichmacherei als berechtigt, so gut wie einen Schluss zu nehmen. Diese Berufungsinstanz darf nicht von der gleichen Art sein. Bezeichnenderweise möchten beide, Wahrheitsfreund wie Affenkaiser, dass es der Blick der anderen ist, der sie bestätigt, der andere, der im selben Atemzug ausdrücklich als ‚ungleich‘, von fremder Art definiert wird. ‚Ungleich‘ meint in diesem Fall also nicht irgendein anderes Individuum aus der Menge einer Gemeinschaft, die sich als solche schon durch gemeinsame Anerkennung der Zugangsberechtigung (Rifkins access) ein15

Vgl. Heiner Wilharm: Die Ordnung der Inszenierung. Bielefeld 2015, III, 1.4, S.354-361 zur ‚scheinbaren Schlüssgikeit‘ in logischen und Handlungsdingen.

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zelner Prätendenten konstituiert hat. ‚Ungleich‘ bezeichnet vielmehr tatsächlich den Status eines Angehörigen anderer ‚Art‘, nicht im biologischen Verständnis, sondern im politischen: Als wesentlich ‚ungleich‘ stehen sich die beiden Seiten eines antagonistischen Verhältnisses gegenüber oder, um mit Carl Schmitt zu sprechen: zwei Protagonisten im Feindschaftsverhältnis. Liest man die Ambitionen der beiden Parteien in der Äsop’schen Fabel über den Affenkaiser politisch, wären sie Kontrahenten in einem Kampf um die Anerkennung ihrer jeweiligen Machtansprüche und deren Legitimationsbasis, um die Begründungsfähigkeit künftig möglicher Herrschaft durch eben diese Anerkennung qua ‚Ansehen‘, wie im Bild oder, eingedenk der Projektion, auf dem „Schirm“ (écran bei Lacan). Beispielhaft, Ansprüche und Territorien möglicherweise erobernd wie sichernd, wird dieser Kampf im Außenverhältnis ausgetragen. Die einmal durch Anerkennung pazifizierte Verfassung im Inneren kann sich demgegenüber auf die rituelle Wiederholung der Einsetzungsereignisse beschränken. Man tut es zu ihrem Gedächtnis. Die gewaltsame Konfrontation aus Stiftungstagen muss nicht mehr als solche in Erscheinung treten. Die Feier der Gemeinschaft (genitivus objectivus wie subjectivus) geschieht nicht nur im religiösen Totenkult auf den Gräbern. Freilich sind sie heutzutage, in gemäßigten Breiten, zumeist planiert oder überbaut. Die relativistische Moral des „Verschlagenen“ in Äsops Geschichte er­scheint im Unterschied zu der seines Artgenossen, soweit situativ scheinbar (noch) nicht verstetigt, allein szenifi­katorisch, singulär präsent. Das ist nicht befrie­digend für alle diejenigen, die an der Repräsentation, am Bild hängen und aus sind aufs Bild. Denn die Vorteile der Bild­politik sind offensichtlich: Das Bild eines Sujets lässt sich aus der Modellierungs­szene herausnehmen und vom Platz entfernen, nicht nur nach Zeiten noch als Indiz eines authentischen Geschehens vorweisen, sondern auch, wie bemerkt, als Wiederholung und ohne den Kampf der Stiftung erleben. Der Pragmatiker, so sieht es aus, verweigert sich mit seiner Einlassung der Produktion von symbolischem oder ästhetischem Mehrwert: „I get what I see. I see what I get. So what?“ – „Ahmen wir nicht alle nach!?“ Folglich kann er anerkennen, was um Anerkennung bemüht ist, allemal, wenn er dafür auch noch belohnt, zur Gemeinschaft der anerkanntermaßen Zu-Recht-Anerkennenden gezählt und entsprechend honoriert wird. Natürlich ist der pragmatische Positivismus nur haltbar, soweit er die kritische Besinnung auf seine eigene Ontologie verweigert. Diese selbst ist keine etwa nur epistemologische, zum Beispiel transzendentalphilosophische Option: „Angesichts der Tatsache, dass ich in jedem Fall ein Bild erzeuge, ob ich es nunNachahmung nenne oder nicht, bleibt mir keine andere Möglichkeit, als anzunehmen, dass, was ich an Eindrücken bekomme, tatsächlich mit der Realität übereinstimmt.“ Die offenbar für viele Situationen durchaus nicht unvernünftig erscheinende Einstellung desavouiert sich selbst, wenn sie fundamentalistisch

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

überanstrengt wird. Dies ist der Fall, wenn die Beurteilung von Umgebungsvariablen der Beurteilung qua Bildproduktion und Schlussfolgerung, die perspektivische Öffnung oder Schließung des Blicks, die Kadrierung des Bildes, möglicherweise musterverändernde Phänomene oder Ereignisse unbeachtet bleiben oder ausgeschlossen werden, Situationen und Szenen der Begegnung, der emotionalen, energetischen und intellektuellen Einstimmung darauf die Anschlüsse versagt bleiben.

Abb. 2/3 „Perspektivische Öffnungen/Schließungen“. (Rechts erkennbar die Abtrennung und Abschirmung der Politiker-Elite für den Medien-Termin. Quelle: AP; © Foto: Philippe Wojazek; Netz u.a.: www.usatoday.com).

Die Motive liegen entsprechend komplex, sind keineswegs einseitig rational kalkulatorischer Natur. Gewohnheiten setzen sich in vergleichbarer Weise und nicht nach Art separiert voneinander im ‚Gemütsleben‘ fest. Sie wohnen in den Reaktionen der Gefühle wie in der Produktion von Affekten und äußern sich im Nachvollzug von Verhaltens- und Handlungsmustern. Entsprechend liegen die Motive möglicher Restriktionen des Pragmatikers. Mithin kann er sich mit einem Bild zufriedengeben, es möglicherweise lancieren, um dessen Rahmung er genau weiß, weiß, dass es bei schon nur leichter Veränderung der Kadrierung für jeden Betrachter ein völlig neues ‚Szenario‘16 bieten würde. Dass Ethik und Ästhetik der Mimesis von Handlungsgründen bestimmt werden, gilt mithin nicht im Besonderen der Bildproduktion und nicht nur dann, wenn Werte und Normen für den Umgang miteinander in Gesellschaft tatsächlich geachtet werden. Die Verletzung setzt im Gegenteil die allgemeine Verbindlichkeit voraus, den Maßstäben gerecht zu werden. Ansonsten ließe sich kaum jemand täuschen und fiele es schwer, jemanden zu täuschen. Die Erkenntnis selbst fällt demnach unter ihren Gebrauch. 16

Ein Ausdruck, mit dem wir folglich die Perspektive auf szenische Anschlüsse bezeichnen.

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SPIELRAUM UND AGENCIES, RELATIVISTISCH BETRACHTET

Wenn es den Pragmatiker auszeichnet, die unterschiedlichen Dimensionen der Entwurfs- und Produktionslage eines szenischen Geschehens auf den szenifikatorischen Kontext zu beschränken und den Rest außen vor zu halten, ist dies kein sicheres Kriterium für die Beurteilung der Szene. Zunächst ist der Zuschauer oder Rezipient nicht involvierter Akteur, sondern konfrontiert mit einer externen Darstellung. Entsprechend fehlt ihm ein persönlicher Eindruck vom kompletten Auftritt, der gesamten gebotenen Geschichte, die präsentiert wird. Was die Beurteilung der Darstellung betrifft, ist für ihn zudem nicht zu erkennen, ob der für das gezeichnete Bild verantwortliche Protagonist, der sich als Mitspieler ausgibt, allein auf die Seite der szenischen Akteure oder Agenzien gehört, und ob er dort (eventuell aufgrund dessen) hauptsächlich Betroffener einer möglichen Disposition ist oder selbst verantwortlicher Disponent. Der unterstellte pragmatisch sich gebende Ko-Akteur könnte Einsichten haben in Bedingungen, Umgebungsvariablen und Zusammenhänge, auch selbst an ihrer Herstellung beteiligt sein, eventuell sehr konkret als Regisseur, Autor, Dramaturg, Choreograf des Stücks, in dem er eine Rolle spielt. Im Zweifelsfall nämlich entfaltet sich die Szene selbst zu einem Stück, in dem die ihr gewidmete Planungs- und Entwurfstätigkeit nicht mehr in zeitlich räumlicher Distanz zum Spielraum vorzustellen ist, sondern handlungs- und gestaltungsintegriert erscheint. Ein entsprechendes Bild repräsentierte deren Darstellung. Der Musterraum nähme, verglichen mit einer restriktiven pragmatischen Kommunikationsmaxime (die nicht zwangsläufig an der Spärlichkeit der Informationen abzulesen ist, sondern durchaus in gegenteiliger Ausstattung auftreten kann) auf jeden Fall ganz andere, neue Ansichten und Dimensionen an. Zu fragen wäre spätestens hier, ob die ‚Bild‘-Metapher, die sich am gerahmten Gemälde orientiert, beibehalten werden kann, welche Alternativen zur Diskussion und Disposition stünden.17 Denn wird die Perspektive auch nur hypothetisch aufgezogen, zeichnet sich ab, dass die vermuteten Bedingungen, Umgebungsvariablen und Anschlüsse sich selbst nicht zwangsläufig situativ oder szenisch präsentieren und gewöhnlich auch nicht einzig in vordergründig damit verbundenen Repräsentationsformen (‚Szenenbildern‘). Resümiert man die Aspekte, wären unter anderem die konzeptuellen und theoretischen, die genealogischen und historischen Voraussetzungen zu berücksichtigen, die konstitutiven politischen Bedingungen der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Einrichtung, die prozeduralen Formen der damit verbundenen Verrechtlichung, Verwaltung und Bewirtschaftung, die diversen ästhetischen, 17

Dies ein zentrales Thema für Die Ordnung der Inszenierung. Siehe unter den verschiedensten Gesichtspunkte der Fragestellung und insbesondere Teil III, „Raumstrategie & Entwurfsdiagrammatik“, in: Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., S.314-481.

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

religiösen, kommunikativen Konventionen, die ökonomischen Grundlagen und Verfahrensweisen der wirtschaftlichen Reproduktion des gesellschaftlichen Ensembles insgesamt wie die Auswirkungen von Arbeit, Eigentum und Teilhabe auf das Verhältnis von Arm und Reich im Rahmen der materialen wie der symbolischen Reproduktion und Mehrwerterzeugung durch die einzelnen Gesellschaftsglieder. Mithin: Verhalten und Aussagen des Pragmatikers können völlig unverdächtig sein, ebenso seine pragmatistischen Bekundungen. Er kann womöglich sogar eine pragmatizistische Ontologie favorisieren, ohne sie, wo überflüssig, kundzutun oder zu propagieren. Umso eher kann er ein gefährliches Spiel spielen. Zumindest dann, wenn er die logischen Implikationen der Einlassung auf das zukünftig Nützliche außer Acht lässt. Ist man bereit, die Darstellungsanalyse semiotisch und derart informationstheoretisch zu lesen, offenbart die Perspektive der „Darstellung“ das „Wirken eines Zeichens oder seine Relation auf das Objekt für den Interpreten der Darstellung“. Die Interpretation der ZeichenEffekte folgt: Das Zeichen stellt dar; insofern sind die Objekte vorstellungsvermittelt. Gelingt die Vorstellungs- oder Wahrnehmungsoperation, nutzt das Denken die Chancen, weiterhin auf Zeichen zu reagieren, wie es bisher auf Zeichen reagierte. Die „einzige Rechtfertigung“, so zu denken, sagt Peirce, liege darin, „daß es sich in der Folge als nützlich erweist“.18 Mit anderen Worten: Wenn wir das Gegenwärtige zum Beispiel nehmen für „ein Sein, das so verstanden wird, daß sein Subjekt auf andere Objekte einwirkt“, dann wirkt das Gegenwärtige [!] Ereignis [...] auf alle folgenden Zeiten ein und bestimmt oder bestimmt teilweise die folgenden Ereignisse. Der einzige verständliche Inhalt der Aussage, dass vergangene Ereignisse wirklich stattgefunden haben, ist, gemäß der Logik des Pragmatizismus [...], daß die Zukunft so bestimmt wird, als ob die Vergangenheit wirklich der Fall war; denn allein die Zukunft enthält das kontrollierbare Verhalten, in dessen Steuerung der verständliche Gehalt der Begriffe liegt.19

Das heißt, dass die wie auch immer bewerkstelligte oder erlebte Täuschung, die kurzfristig für individuell attraktiv und vorteilhaft beurteilt wird, zwar im Einzelfall für eine Weile erfolgreich scheinen mag, in the long run aber mit einem verständigen Umgang mit Begriffen und von ihnen gedeckten Bedeutungen in Konflikt geraten muss, deshalb kollektiv mit großer Wahrscheinlichkeit ins Chaos führt.

18

Siehe Charles S. Peirce: Kategoriale Strukturen und graphische Logik (H). Logischer Traktat Nr. 2 und zwei Teile der dritten Lowell-Vorlesung (1903). In: Ders.: Semiotische Schriften, a.a.O., S.98-165, Zitat S.163 (Großschreibung und Hervorhebungen CSP.). 19 Charles S. Peirce: Notizen zu Teilen von Humes „Traktat über die menschliche Natur“ (MS 939; 1905): In: Ders., Semiotische Schriften, a.a.O., S.269.

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DIE INSZENIERUNG POLITISCHER WAHRHEITSVERPFLICHTUNG

Dem Grundsatz- und Ursprungstreuen, der nicht bereit ist, das Politische der Politik aus rein opportunistischen Gründen unter den Teppich zu kehren, sollte es nicht nur idealiter um die Wahrheit zu tun sein. Schauen wir auf die Fabel, gibt sich der Protagonist dieses Standpunktes traditionell: als Philosoph, Liebhaber der Wahrheit. Freilich handelt er nicht nach sokratischem Vorbild. Die Liebe des Wahrheitsfreundes lenkt sein Begehren aufs Selbstbild. Das Verhältnis, das der Liebhaber zur Wahrheit unterhält, wird vom Narzissmus regiert. Die Begegnung mit der Wahrheit gilt keinem Ereignis, auf dessen Spuren es Anlass gäbe, aufzubrechen zu neuen Ufern. Die Wahrheit zu verteidigen ist kein Projekt, vielmehr gehört die Wahrheit zur Ausstattung, wird verwaltet wie ein Eigentum durch den, der damit zu rechnen versteht. Die Aufblähung des privaten Gebrauchs zum Universalismus der Wahrheitsorientierung, gültig für die Gemeinschaft derer, die darüber verfügen und Aspekt eines jeden ‚politisch‘ bemühten Humanismus, die propagandistische Universalisierung auch des für den Umgang mit der Wahrheit spezifischen Affekts und seiner Verwandten, alles dies ändert nichts am Fundamentalismus der Gemütslage, der von dort ausgehenden Einstimmung der eigenen Handlungsziele auf eine communio, die Auflösung in der unitas sancta von Liebe und Wahrheit. Szenen auf den „Bühnen der Zwei“20 (eine Figur, mithilfe derer Allain Badiou Liebe und Wahrheit hinsichtlich der in ihr waltenden politischen Differenz miteinander verknüpft) sucht man vergebens. Emotionale und epistemische Einstellung erscheinen aus der Perspektive der aufgedeckten politischen Differenz als zwischenmenschlich affektive, energetische und intellektuelle Verhaltensweisen und Handlungen. Die Bestimmungsmerkmale der zugrunde liegenden Differenz der Zwei lassen sich auf die empirischen zwei Glieder einer Zweierbeziehung ebenso anwenden wie auf die empirische Multitude, in deren singulären sozialen Affären die ursprüngliche Differenz der Zwei nicht durch temporär strategische Überformung, durch ein Gleiches der Vielen, zum Verschwinden gebracht werden kann.21 Umgekehrt ist es gerade die Leugnung der Differenz, die der ‚Politik der Gemeinschaft‘ ihren Erfolg bescheren soll. Womit der Wahrheitsfreund sich empfehlen möchte, ist ein solcher Auftritt auf der ‚Bühne der Vergemeinschaf20 Vgl. Kap. „Das Begegnungsereignis und die Konstruktion der Bühne der Zwei“ in: Allain Badiou/

Fabien Tarby: Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Einführung in die Philosophie Alain Badious. Wien/Berlin 2010, S.51ff.; zum Kontext siehe das gesamte Kap.2 des Buchs zum Zusammenhang der Konstruktionsprinzipien von politischen und Liebesbeziehungen: „Die Bühne der Zwei“ öffnet die Perspektive einer „als einzige(m) Weg akzeptierten Differenz [...]. Die Politik geht von der Differenz zum Gleichen. Die Liebe führt die Differenz in das Gleiche ein.“ (Ebd., S.51) 21 Vgl. dagegen Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main/ New York 2002.

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

tung‘. Der Irrtum des Äsop’schen Pseudophilosophen ist allein, dass er glaubt, seine Wette auf ein das Ansehen förderndes Wahrsagen ließe sich aufgrund der beobachteten Ähnlichkeiten der Rituale auf ein ihm ansonsten völlig fremdes Wahrheitskalkül beziehen. Es spiegelt die Fehlkalkulation seines herrschaftlichen Gegenübers. In seiner langjährigen Vorlesung zur Anthropologie gibt Kant eine schonungslose Beschreibung des von der Optimierung des Selbst- im Fremdbild Besessenen (der nach der europäisch orientierten Diagnose des Weisen aus Königsberg vorzüglich ein Landsmann ist). Die Affekte, die dieser um sein Ansehen Bemühte im Zusammenhang vorspiegelt, überdecken nur, dass er selbst dann methodisch und kalt vorgeht, wenn er „das Schöne mit dem Edlen verbindet“. Es hilft ihm, „um seinen Kopf mit den Überlegungen des Anstands, der Pracht und des Aussehens zu beschäftigen“. Verstand genug, diese Kalkulation anzustellen, hat er. Wo er bewusst und zu seinem Nutzen indifferent bleiben möchte, wird er sein Verhalten als Bescheidenheit ausgeben. Wichtig ist ihm durchweg, wie die Dinge und besonders er selbst in Erscheinung treten: das Aussehen an der Oberfläche. Vorzüglich ist ihm dies in Sachen „Familie, Titel und Rang [... ,] sowohl im bürgerlichen Verhältnisse als auch in der Liebe von großer Bedeutung“. Kant vermutet, dass der Einsatz fürs persönliche Ansehen die Schwäche eines nicht existenten Selbstvertrauens kaschieren soll, die Angst, in Wahrheit nicht „original“ zu sein. Kants Anthropologie bietet hier eine Psychologie der verleugneten Mimesis. Dabei möchte der Philosoph dem Deutschen das Talent zur Originalität durchaus zubilligen. Die Abwehr aller genealogischen Herkünfte indes macht die Freisetzung eines Eigenschöpferischen unmöglich. Stattdessen ist es bezeichnend für den ‚Charakter‘, den Kant im Auge hat (im engeren Sinne wohl nicht einmal ein Deutscher schlechthin, sondern eine preußische Spezies zwischen Berlin und Königsberg), dass er, weit mehr als irgend ein Angehöriger einer anderen Nation, danach frage, „was die Leute von ihm urtheilen möchten“. Soweit er die Gefahr nicht scheut und ihm in der Regel auch gelingt, sich hineinzubegeben, neigt der beschriebene Typ viel eher zur „Hoffahrt“ als zur Bescheidenheit, gemischt mit Stolz und Eitelkeit. Das Betragen im Umgang wird, wie Kant beobachtet, regiert von der „Ceremonie“, einer verbreiteten Neigung zur Inszenierung des Selbst und seiner engeren Umgebung. Demgegenüber bliebe nur zu hoffen, räsonniert der Philosoph, „daß der falsche Schimmer, der so leicht täuscht, uns nicht von der edlen Einfalt entferne“, die Deutschen noch mehr als andere Völker gänzlich daran hindere, sich gemeinschaftlich zu bewähren „sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sittlichen“.22 22 Immanuel Kant: Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Ders., Werke, a.a.O., Bd.II: Vorkritische Schriften II. 1757-1777, S.205-256, Zitat S.248f; siehe auch ebd., S.256.

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POLITISCHE VERGESELLSCHAFTUNG, KONSTITUIERUNG BÜRGERLICHER GESELLSCHAFT UND DES VOLKES

Was das intendierte Kollektiv in politischer Hinsicht angeht, stellt „die Nation“ für Kant auch zu Zeiten der Revolution verständlicherweise keine Alternative zur Assoziation in privaterem und kommunalem Kreis nach Modell seiner „Tischgesellschaft“ dar.23 In Ermangelung von Realitäten mangelt es an Begriffen in modernem Verständnis. Ob „Gesellschaft“ oder „Politik“, das „Gesellschaftliche“ („Soziale“) oder das „Politische“, alle Bedeutungen stehen im Umbruch. Kants Politikbegriff ist von der ständischen Vergangenheit und Gegenwart geprägt, freilich orientiert auf eine die bürgerliche res publica privilegierende republikanische Verfassung. ‚Politik‘ meint dabei die Ordnungsvorstellungen und -maßnahmen eines herrschaftlichen Regiments, welches das Volk, auf „gemeinsame Abstammung“ gegründet, „vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen“. In einem solchen Gemeinwesen kann man Republikaner sein, doch in der konkreten Perspektive Kants nur idealiter, als Bewohner der Gelehrtenrepublik. Die zeitgemäße Beschränktheit gesellschaftlicher Tätigkeit lässt sich von hier aus am besten dadurch überwinden, dass man sich unmittelbar zu kosmopolitischen Ideen bekennt, um derentwillen, so Kant, jeder „Nationalwahn auszurotten“sei.24 Weniger nach Kriterien existierender Politik, die vormodern25 (zum Beispiel in Preußen) sowohl mit Blick auf die Außen- als auch die Innenverhältnisse Macht- als Zwangs- und Polizeieffekte privilegieren, durchaus aber – avant la lettre – nach Kriterien des Politischen, die aus kulturanthropologischer Expertise rühren, betrachtet Kant die „Affectation eines Charakters“ nicht primär individualpsychologisch, sondern vornehmlich als Ausprägung bestimmender Eigenschaften eines Kollektivkörpers und von daher verantwortlich für die Symptombildung an Organen und Gliedern. Auch und allererst in solcher Vergemeinschaftung erfolgt demnach die phantasmagorische Kontamination. Das Eigenbild des Kollektivs ist gleichermaßen produziert, um in der Repräsentation für andere zu glänzen wie das Selbst im Spiegel der Anerkennung durch die anderen anzustrahlen. Dies führt dazu, dass im Allgemeinen Abgebildetes und 23

Vgl. Ursula Pia Jauch: Friedrichs Tafelrunde & Kants Tischgesellschaft. Ein Versuch über Preußen zwischen Eros, Philosophie und Propaganda. Berlin 2014. 24 Art. „Nationalität“ in: Rudolf Eisler: Kant-Lexikon. Hildesheim 1964, S.376. In der Anthropologie sieht Kant den Kosmopolitismus allerdings durchaus nicht unproblematisch, da die Einstellung geeignet sei, die Befassung mit der nationalen Perspektive schlicht zu marginalisieren und entsprechende Affekte gewissermaßen durch Menschheitsliebe zu ersetzen. Als typischerweise deutsch gilt der „Großhändler in der Gelehrsamkeit“, auf Invention gebucht in den Wissenschaften. Aber genau „er hat keinen Nationalstolz, hängt gleich als Kosmopolit auch nicht an seiner Heimath.“ Verantwortlich nicht zuletzt dafür ist sein auf Expansion bedachter Geschäftssinn: Der Deutschen Fleiß dominiert nämlich ihr Genie – „welches letztere auch bei weitem nicht von der Nützlichkeit ist, als der mit gesundem Verstandestalent verbundene Fleiß der Deutschen.“ Kant: Anthropologie, S.311-318. 25 Bezogen auf die von Koselleck sogenannte „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850.

DIE INSZENIERUNG DER LEGITIMATION

Gespiegeltes von jedem Einzelglied mittels Nachahmung reproduziert werden, der Einzelne den „allgemeinen Charakter eines Volkes, zu dem er selbst gehört“, repräsentiert. Im selben Bild, im selben Spiegel aber findet das politisierte Individuum – genügend tagesaktuelle Ereignisse illustrieren, was gemeint ist – konsequenterweise die „Verachtung aller Auswärtigen“.

Abb.4/5 Am Außen des Politischen. Freund oder Feind? „Mare nostrum, in ioco vite umane“? (Quellen: links: UNHCR; Netz: www.unhcr.de; © Foto: A. Damato; rechts: Corriere Italiano;  © Foto: Ansa; Netz:www.coriereitaliano.com, 29.04. 2014).

Dass die Rechtmäßigkeit gerade durch das Bild der anderen Anerkennung erfährt, liegt vor allem daran, dass der Einzelne „sich allein einer ächten, staatsbürgerlichen Freiheit im Innern mit Macht gegen Außen verbindenden Verfassung rühmen zu können glaubt“. Allerdings, so Kant, sei das nur verbreitete Meinung, medienverstärkt und vom individuellen Spiel vieler unterstützt. Was Kant zurückhaltend als „stolze Grobheit“ charakterisiert, beschönigt er nicht in seinen Konsequenzen: Die „beständige Fehde“ auch der „civilisirtesten Völker auf Erden“ bleibt nicht aus.26 Kant gibt zu, dass solche Beurteilung am Ende Sache der empirischen Wissenschaft sei, Gegenstand eher für den Sozialgeografen als den Philosophen, sofern die unterstellten Verhaltensregeln der einzelnen Nationalcharaktere ohnehin nur „aufgepfropften Maximen“ entsprächen. Immerhin bestätigt der Überblick – „in schwarzer Kunst, doch nach dem Leben gezeichnet“ –, was sich für Kant schon Mitte des 18. Jahrhunderts abgezeichnet hatte. Wo unter den Losungen von Aufklärung, Les lumières oder Enlightenment vor geraumer Zeit vermeintlich noch gegenseitige Nähe und Sympathie herrschten, zumindest in der Gelehrtenrepublik, ließen sich nun, im Schatten der Revolution, ungeahnte Distanzen erkennen. Umso drastischer wird klar, dass auch diese Konzepte kein wirklich Gemeinsames bezeichnen, trotz der Ähnlichkeit der Begriffe in Übersetzung. Europäische Geschichte(n), Ereignisse und Charaktere treten auch in dieser 26 Womit Kant insbesondere den Jahrhunderte währenden europäischen Zwist zwischen England und Frankreich fokussiert. Kant, Anthropologie, a.a.O., S.311, des Weiteren bis S.318.

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Hinsicht auseinander. Deutsche Aufklärung setzt andere Akzente als französische oder englische Lichtkunst – auch bei Kant, dessen Auffassung keine Einzelmeinung darstellt. Die Revolution der Nachbarn beruhe, so die Anthropologie, auf „nicht genugsam [sic!] durch überlegte Grundsätze gezügelte[r] Lebhaftigkeit und bei hellsehender Vernunft [...] [dennoch] Leichtsinn“. Kein Wunder, wenn „ein ansteckender Freiheitsgeist, der auch wohl die Vernunft selbst ins Spiel zieht und in Beziehung des Volks auf den Staat einen alles erschütternden Enthusiasm bewirkt, der noch über das Äußerste hinausgeht“, dann doch in allem ein Zuviel des Guten darstellt, zumal für solche Menschen, die gemäß einem Hang zu „Ordnung und Regel gemäß [derer sie] sich eher despotisiren als sich auf Neuerungen (zumal eigenmächtige Reformen in der Regierung) einlassen“. Die longue durée des ständischen Bewusstseins spiegelt sich in den gegenseitig anerkannten Selbstdarstellungsgesten auch dann, wenn das politisch definierte Band der staatlichen Gemeinschaft dem Bürger die Aufhebung von Stand und Rang verordnet hat. Kant bedauert den Umstand, den er als Zeichen politischer Unreife deutet. Für die idealischen Vorstellungen ist es nicht hinnehmbar, sich mit den übrigen Staatsbürgern nicht etwa nach einem Princip der Annäherung zur Gleichheit, sondern nach Stufen des Vorzugs und einer Rangordnung peinlich classificiren zu lassen und in diesem Schema des Ranges [...] unerschöpflich und so aus bloßer Pedanterei knechtisch zu sein [...].

Doch charakterisiert es den „Geist der Nation“ wie den „natürlichen Hang“ zwischen dem, der herrschen, bis zu dem, der gehorchen soll, eine Leiter anzulegen, woran jede Sprosse mit dem Grade des Ansehens bezeichnet wird, der ihr gebührt, und der, welcher kein Gewerbe, dabei aber auch keinen Titel hat, wie es heißt, Nichts ist; welches denn dem Staate, der diesen ertheilt, freilich was einbringt, aber auch, ohne hierauf zu sehen, bei Unterthanen Ansprüche, anderer Wichtigkeit in der Meinung zu begrenzen, erregt, welches andern Völkern lächerlich vorkommen muß und in der That als Peinlichkeit und Bedürfniß der methodischen Eintheilung, um ein Ganzes unter einen Begriff zu fassen, die Beschränkung des angebornen Talents verräth.27

Offenbar liegt die intellektuelle Schwäche nicht zuletzt im mangelnden Beur­teilungsvermögen der tatsächlich relevanten Wertverhältnisse, im Ökonomischen wie im Symbolischen. UMORI, FORTUNA, VIRTÙ. DAS MACCHIVELLI’SCHE MOMENT

Betrachten wir den sozialen Systemwechsel. Allein aus unserem Beispiel zweier autokratischer Parallelwelten, in denen sich das eine Universum als das wahre andere erweist, obwohl sich das andere von dem einen scheinbar unterscheiden 27

Ebd., S.319.

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lässt wie Natur von Gesellschaft, Wildheit von Kultur, ergibt er sich nicht. Invariabel allerdings bleibt der Antagonismus wie seine Dissimulation als abwesende Anwesenheit im Gewand der Gemeinschaft als Präsenz des Abwesenden. Auch der Wechsel von einer zur anderen Gesellschaftsordnung gehört zu den Großen Geschichten. Eine erstmals vergleichsweise große Zahl Privilegierter, wenn auch nicht selbst schon zur Herrschaft Bemächtigter, tritt unter dem Namen ‚Bürger‘ auf die Bühne der Geschichte. Als solche repräsentieren sie eine mit besonderen Freiheiten ausgestattete Gruppe im Gefüge einer ständischen Ordnung. Freilich ist ihre soziale und politische Erfahrung heterogen. Gelten als relevante Bürgerschaft die Notablen einer herrschenden Oligarchie, wie in der griechischen Polis oder in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance, hat der Bürger seine Machtbefugnisse nicht – hypothetischerweise – per Vertrag an den „Leviathan“ abgetreten, an den Körper, der „Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens“28 zur Darstellung bringt. Tatsächlich zerfällt dieser Körper in die „zwei Körper des Königs“. Der heilige Körper repräsentiert, ähnlich wie der Corpus Christi die Kirche, die Gesellschaft als eine einzige mystische Gemeinschaft und verschafft dem Leviathan eine transzendente Legitimation, die Hobbes durch imaginären Vertrag zwischen Herrscher und Untertanen bekräftigt versteht. Der natürliche Körper des Königs führt die Geschäfte des Staates, steht an der Spitze des Regiments über alle einzelnen Untertanen.29 Statt des absolutistischen Souveräns herrscht in der Republik ein Bürger­ adel. Sein Gegenüber ist das Volk, mit dem zusammen die Notablen das Gemeinwesen als „res publica“ instituieren, freilich in einer Repräsentativverfassung wie sie schon die römische Republik kannte, mit Namen verbunden wie Cato oder Cicinnatus, Agrippa oder Brutus, die sich der Diktatur widersetzten. Auch hier gilt eine Vertragskonstruktion: Die herrschende Bürgerklasse der nobili übernimmt die Wohlfahrt der ihr anvertrauten, tatsächlich von ihr unterworfenen niederen Schichten des populo. Macchavelli liefert die Theorie zur Überwindung des ursprünglichen Gegensatzes zwischen unterschiedlichen, sich gegeneinander ausschließenden Interessen Einzelner wie bestimmter Parteiungen und zur Integration von Volk und Herrschaft in einem einzigen Gemeinwesen im Principe (1513 verfasst, Druckerlaubnis 1532). Es ist die Programmschrift für die kluge Herrschaft eines starken Herrschers nach Art des späteren Hobbes’schen Souveräns, doch gibt sie auch Rat dem Regenten eines „bürgerlichen Fürstentums“.30 Die Discorsi, 28

So der Untertitel des Hobbes’schen Leviathan (London 1651). Siehe Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Stuttgart 1992 (Princeton [N.J.] 1957). 30 Del Principato Civile („Vom bürgerlichen Fürstentum“) in: Niccolò Macchiavelli: Il Principe, Der Fürst. Übersetzt von Gottlob Regis. Stuttgart/Tübingen 1842, Überschrift Kap.IX. 29

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„Die Abhandlung über die zehn Bücher des Titus Livius“ (parallel verfasst 15131519, veröffentlicht 1531), werden zur Bibel des urbanen Republikanismus der frühen Neuzeit: „Republiken sind Staaten, in denen das Volk Fürst ist!“ Die Ausschließungs-, Spiegelungs- und Schirmprojektionen, die den Antagonismus zweier souveräner autokratischer Systeme beschreiben, in denen die Außenbeziehungen ähnlich drastisch als Feindschaftsverhältnis dargestellt werden wie in Äsops Affenkaiser, bestimmen auch in der frühneuzeitlich republikanischen Ausprägung die politische Differenz. Der Antagonismus nimmt hier allerdings die Form sozialer und politischer Binnenverhältnisse an. Das spezifisch „Macchiavelli’sche Moment“31 des gesellschaftskonstitutiven Widerspruchs wird auch in der Republikkonzeption des Florentiners als quasi gattungsspezifische Differenz gemäß unterschiedlicher physio-psychischer Ausstattung und Ausprägung derselben transportiert. Die Integration der Anlage- und Mentalitätsdivergenzen in einen einzigen zivilgesellschaftlichen Kontext, der politisch als solcher gewollt ist und nach Steuerung (durch einen „städtischen Fürsten“) verlangt32, verbietet die einseitige Verteilung der Volk und Notable charakterisierenden Eigenschaften gemäß einer Unterscheidung von Kultur und Natur. Das Kriterium der umori leistet gleichermaßen die Möglichkeit, zu nivellieren wie zu diskriminieren, ist demnach bestens geeignet für die politische Argumentation. Nivellierend ist die Tatsache, dass jeder umore eine Art Saft oder Körperflüssigkeit, eine materiale Substanz darstellt, die den Organismus des Einzelnen oder eines Kollektivs durchströmt, zugleich aber mit ganz unterschiedlichen „Stimmungen“, Ausdrucksformen einhergehen kann und sowohl positive als auch negative Affekte freisetzt. Derart ist die Frage des Obsiegens der einen oder anderen Partei, der Großen (il grandi) oder des Volkes (il populo), mit denjenigen zivilgesellschaftlich relevanten Handlungs- und Gestaltungskonsequenzen verbunden, die sich als die insgesamt für die Republik nützlichsten erweisen. Die Darstellung dessen wiederum ist, wie immer, nicht in die Hand derer gegeben, die solche Darstellung a priori gar nicht leisten können. Die aus entsprechenden Erfahrungen gezogenen Schlüsse bestimmen die Qualifikation der ‚politischen Säfte‘, von denen die Parteien sich bewegen lassen nach Utilitaritätsgesichtspunkten. Sind sie vorteilhaft, gelten sie womöglich als Zeichen von politischer Tugend (virtù), sind sie unstet und unverlässlich wie meist, gelten sie eher als Zeichen des Zufalls (fortuna), je nachdem mit glücklichen oder auch unglücklichen Konsequenzen für das Gemeinwesen. Umgekehrt bemächtigt sich die politische Ideologie der virtù zur Charakterisierung staatsbürgerlich allzeit empfehlenswerter Haltung 31 Siehe John Greville Agard Pocock: The Macchiavellian Moment. Florentine Politic Thought and the

Atlantic Republic Tradition. Princeton 1975; ders.: Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefely in the Eighteenth Century. Cambridge 1985. 32 Macchiavelli, Der Fürst, a.a.O., Kap.IX.

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gegenüber dem Gemeinsamsein in der Republik, ohne indes große propagandistische Verve. Als ein Effekt der positiven Art wird fortuna an solche Koexistenz unmittelbar anknüpfbar: Bürgertugend befördert das Glück der Republik. Virtù ist demnach keine empirische Eigenschaft nach Art der selbst hypothetischen, aber quasi naturwissenschaftlich abgeleiteten umori. Die umori, allerdings, spielen tatsächlich eine begründende Rolle für die Existenz des Gemeinwesens als Zusammenschluss aller citadini. Die Säfte und Stimmungen haben den Vorteil, als bewegt oder fließend vorgestellt werden zu können, deshalb als in unterschiedlicher Weise ausgerichtet wie richtungweisend bei Volk und Noblen. In der Konsequenz lässt sich ein grundsätzliches auf Gegenseitigkeit gegründetes Anstrengungs- und Widerstandsverhältnis feststellen.33 Die oben wollen die unten beherrschen und unterdrücken; die unten wollen von denen oben nicht unterdrückt und beherrscht werden. Die beiden Gemütslagen sind folglich statuskoextensiv. Es ist einsichtig, dass unter diesen Voraussetzungen die Register der Beurteilung politischer Opportunität und gesellschaftlichen Wohlergehens nach gusto wechseln können. Die Orientierung an einem vorauszusetzenden politisch moralischen Prinzip der virtù ist jedenfalls nicht vorgesehen. Das Etikett wird nur post factum verteilt und wirkt auf diese Weise aus der Vergangenheit. Vergleichbar steht es mit der Einrichtung in den Registern der fortuna. Ob sich die Göttin zum Wohle der Stadt entschieden hat, kann erst beurteilen, wer es erlebt. Die Kriterien, die dafür herangezogen werden, sind je nach Herkunft und sozialer Zugehörigkeit, entsprechend den je eizelnen Zwecken und Zielen, aber auch gemäß ihrer politischen Vereinnahmung zum Vorteil des Standes, dem man zugehört, verschieden. Der eine, der noble Bürger, wird eher nach der Herrschaft schielen, die ihm dann sicherer erscheint, wenn sie von seinesgleichen, die zu den Eliten zählen, repräsentiert wird. Die dazugehören sind vergleichsweise wenige an Zahl und deshalb verlässlicher als der große Haufe des Volks. Die anderen, die Abhängigen, konzentrieren sich naturgemäß auf die Freiheit, wenn es um das geordnete Zusammenleben geht. Nichts nämlich fürchten sie mehr als den Druck ständiger Unterwerfung. Sie müssen sich dagegen wehren, wenn sie nicht erdrückt werden wollen. Konsequent lautet die goldene Regel Macchiavellis für die politische Lenkung des Ganzen: „Setze auf den Erfolg schlauer Einfälle und Entscheidungen!“ („un’ astuzia fortunata“). Auch modern übersetzt würden wir die Wendung nicht einseitig auf die negativen Konnotationen von astuzia festlegen, als erfolgreiche List, gelungener Trick oder geglückte Täuschung, verbunden womöglich mit Gerissenheit oder Spitzfindigkeit (ebenfalls Übersetzungen des italienischen Ausdrucks) sondern – inszenierungsgesellschaftlich geschult und selbstbewusst – als politisches Geschick. Einzig wenn sich der Gegenspieler außerhalb der eigenen Sozialsphäre vergleich33 Zum logischen und politischen Kontext von Anstrengung und Widerstand siehe Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., IV, 2.3.

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bar verhielte, müsste sich die Beurteilung nicht mehr unbedingt hinter der Contenance der Diplomatie verstecken. Allerdings benutzt die Ästhetisierung von Form und Ausdruck des Auftritts alle Farben der zur Verfügung stehenden Palette. Auch hier ein aktuelles politisches Beispiel: Die Vertreter der neuerdings links gefärbten linken Regierung Griechenlands müssen es sich nicht zuletzt von ihren ‚Partnern‘ vorhalten lassen, dass sie den Ratschlag Macchiavellis beherzigen. Der so zum Kontrahenten avancierte Partner wiederum – in der Rolle des offensichtlich Unterdrückten – mahnt die notwendige Freiheit innerhalb einer Beziehung an, in der ein ‚Partner‘ nicht an der Oppression ersticken sollte. Folglich bestreitet er dem Gegner jede staatsmännische Klugheit und entlarvt ihn seinerseits als Friedensbrecher und grundsätzlich der Gewalt verpflichtet, nicht nur in seinen außenpolitischen Aktivitäten. In offenen, nicht (mehr) von Verabredungen und Übereinkünften zu heilenden Konkurrenz- oder Feindschaftsbeziehungen gehört es gewöhnlich zur medial akzeptierten Qualifikation des Gegners, dass seine „Schlauheit“ dem Erhalt des Verhältnisses nicht (mehr) dienen kann. Auch nicht auf der minimalen Basis anerkannter Koexistenz, im Rahmen einer gegenseitig geduldeten Andersheit in Fragen des Wirtschaftens, der Herrschaft und des Regiments, des Glaubens oder der Vorlieben. Freilich gilt der dazugehörige Auftritt in jedem Fall als inszenierungsbedürftig. Entsprechend ist die mediale Arbeitsteilung zwingend. Die von einem der Kontrahenten selbst zum Ausdruck gebrachte Feindschaftsbeziehung darf nie als beidseitig, auf der eigenen Seite ebenso existent dargestellt werden, soll die Rechtskonformität der gesellschaftsinternen Bannung von Gewalt als konstitutives Verhältnis auch aller denkbaren Außenbeziehungen (zum Beispiel durch völkerrechtliche Bestimmungen) darunter nicht leiden und die Herrschaft desavouieren. Entsprechend wird die ‚Partei‘, die Republik, der Staat, die sich in einer solchen Lage befinden, das eigene Tun grundsätzlich und jederzeit allein friedlichen Strategien des ‚kooperativen Wettbewerbs‘ verpflichtet darstellen müssen. Die wirkliche Schlacht, den Krieg, kann nur der Feind aufnötigen, vor dem es sich zu schützen gilt. Schlacht und Krieg überhaupt derart alternativlos antagonistisch zu denken kann indes für den Fall, die Schlacht tatsächlich zu schlagen, den Krieg tatsächlich zu führen, nur die Konsequenz zeitigen, die behauptete Nichtexistenz eines koexistierenden Feindes durch seine Vernichtung zu beweisen. DIE AKZEPTANZ POLITISCHER DIFFERENZ ALS POLITIKPRINZIP

Angesichts dieser Aussichten liegt das Maccialvelli’sche Moment darin, den Antagonismus schon als gesellschaftsstiftend im Inneren anzuerkennen, die Handhabung der fortuna indes der astuzia zu überlassen. Dies jedenfalls gilt beim

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Autor des Principe als Alternative dazu, allein auf autorità („Gewalt“, „Autorität“) zu setzen. Von den Herrschenden, das heißt den derzeit Stärkeren würde diese sich selbst zugeschriebene auctoritas („Ermächtigung“, „Machtvollkommenheit“) natürlicherweise am ehesten mit „lasterhaft frevelhaftem Handeln oder anderer Gewaltanwendung“ („scelleratezza o altra violenza“) zu verbinden. So der politikkritische Analytiker. Was demnach berechtigt, auf fortuna oder fortune zu setzen, ist nicht das Glück der Einzelnen, das in der US-amerikanischen Verfassung als Ziel der bürgerlichen Vergesellschaftung zu finden ist, sondern das Glück, nicht in die Barbarei gewaltsamer Konfliktlösung zu geraten. Römisch-lateinisch betrachtet, ist fortuna die „Agentin der Situation“34. Versteht man von daher das dieser Göttin gefällige Verhalten als die gemeinsame Festlegung auf eine Bedeutung von einem überschaubaren Bezugspunkt aus (im politischen Kontext zum Beispiel, einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe die Bedeutung eines „Gegners“ oder „Wettbewerbers“ zu verleihen), dann wird sich der Austrag des mit der Bedeutung konstatierten Konflikts dennoch nicht mit der Beibehandlung des Standorts, der situativen Beurteilung und Einrichtung in solcher Bedeutung managen lassen. Wer es doch tut, wird nicht agieren können, sondern reagieren müssen. Strategisches Handeln erübrigt sich, wenn die Zukunft durch frühere Fixierungen der Bedeutung festliegt, sich nur als das undurchschaubare Walten eines Fremden erfahren lässt. Die Alternative beinhaltet, von der Situation zur Szenifikation zu wechseln, sich derart vorbereitet auf kommende Szenen der Auseinandersetzung einzustellen und flexibel einzulassen. Macchavelli macht die spätantik-christliche Kontamination des Fortuna-Begriffs mit einer teleologisch-theologischen Bedeutung im Sinne von „Schicksal“ oder „Vorsehung“ rückgängig.35 Ist fortuna die „Agentin der Situation“, muss sie im Interesse ihrer Zukunft den Geist der Szenifikation beflügeln, Ereignisse ermöglichen. „Ereignisse“ in diesem Sinne sind Anlässe, womöglich von minimaler Reizstärke, die darauf fußen, gewohnte Bedeutungen aufzubrechen und, die Gewohnheiten ändernd, neue Bedeutgen zu generieren, sie auszuprobieren und ihnen gegebenenfalls treu zu sein.36 Den „Bürger“ wie 34

Vgl. Kari Palonen: Das ‚Weber’sche Moment‘: zur Kontingenz des Politischen. Opladen/Wiesbaden 1998, S.29. 35 Grundsätzliches zum dynamischen Verhältnis zwischen Situation und Szene in Verbindung mit der antiken theatralen Exposition im Verhältnis von Szene und Chor siehe Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., I,4.3, S.124-129. 36 Insofern hat der Begriff der „Treue“, wie er von Allain Badiou ins Verhältnis zu dem des „Ereignisses“ gebracht wird, um die Wahrheitsprozedur zu kennzeichnen, die mit der Gewohnheitsveränderung im Blick auf die Dynamik der Semiose (das Bedeutenlassen) verbunden ist, nicht zwangsläufig zu tun mit einem der Analyse des Politischen aufgesetzten Ethizismus, mittels dessen „die Spezifik und Autonomie des Politischen auf das Ethische reduziert“ wird. (Zitat Marchart, siehe unten.) Das „Ereignis“ geht seinerseits hervor aus einer Situation, wird durch sie ermöglicht, allerdings nicht als solches, sondern als eine in der Situation (noch) leere Stelle, die später, unter Umständen sehr viel später, mit einem

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Macchiavelli, Hobbes oder Kant schon in der frühen Neuzeit bis hin ins 18. Jahrhundert zu identifizieren macht Sinn, um seinen mit dem Namen der „Französischen Revolution“ als Ereignis verbundenen Siegeszug in der Folgezeit nicht als Wunder erscheinen zu lassen. Bis dahin war die republikanische Version politischer Einrichtung sozialer Koexistenz ohnehin jederzeit von monarchisch konstitutionellen oder absolutistischen, überhaupt konstitu­tionell wenig verlässlichen Gewaltverhältnissen und Herrschaftsformen umgeben wie durchdrungen. Die Republik stellte nur eine und nicht die verbreitetste unter etlichen Varianten politischer Verfassung einer mehr oder weniger tief gegliederten und mit Institutionen versehenen ständischen Gesellschaft. Immerhin verstand man unter „das Volk“ immer noch die nach Kopfzahl größte Bevölkerungsgruppe. An Wert rangirte sie nicht nur numerisch nach wie vor am Boden der Gesellschaftspyramide. Die „Bürgerschaft“ zu kennen, mit dieser Bezeichnung gleichwohl über „Untertanen“ zu sprechen ist geläufiger Sprachgebrauch am Vorabend der Revolution. Nicht umsonst heißt sie die „bürgerliche“. Bürgerlicher Status ist über Zeiten mit ‚gesellschaftlichen Restriktionen‘ verbunden, derart reglementiert zwar anerkannt ‚von oben‘ – und nur deshalb aber auch selbst zur Anerkennung der Freiheiten des eigenen Standes mit Blick auf jeden Einzelnen seiner Angehörigen berechtigt und verpflichtet. Außerhalb der bürgerlichen Standesgrenzen sind die Einzelheiten seiner Vergesellschaftung innerhalb derselben so wenig zu erkennen wie die Spezifika individueller Freiheiten der dazu gezählten oder sich dazu zählenden Individuen. Denn das visuelle verschwimmt mit dem mentalen Bild und die Mischung mit dem, was das zentrale Regiment als Rahmung dafür vorgesehen hat. Je nach Zeit und Ort verschieden, meint dies die „Freiheiten“,die der so adressierten Bevölkerungsgruppe polizeilich, verwaltungstechnisch, ökonomisch wie ideologisch zugestanden oder abgesprochen werden. Wenn also Ereignis-Namen belegt wird. Dieses Verständnis von „Treue“ fasst den Begriff nicht ethisch oder moralphilosophisch. Ohne solche ‚Reduktion‘ ließe es sich blendend (z.B.) mit der Peirce’schen Ereignisund Handlungs-, Zeichen- und Bedeutungstheorie und ihren logischen Voraussetzungen verbinden, wie ich in Die Ordnung der Inszenierung gezeigt habe. Vergleichbare Affären der Dekonstruktion von ‚Politik‘ mit der Logik von Zeichen und Bedeutung – allerdings mit der Referenz Saussure bzw. Wittgenstein – finden sich bei Ernesto Laclau. Vgl. Ernesto Laclau: Ideology and Post-Marxism. In: Journal of Political Ideologies, 11/2, 2006, S.103-114; dt.: Ideologie und Post-Marxismus. In: Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernest Laclau und Chantal Mouffe. Hgg. von Martin Nonhoff. Bielefeld 2006, S.25-54; zur Relationenlogik in Verbindung mit Saussure siehe ebd., S.28ff. Siehe auch Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Ders.: Emanzipation und Differenz. Wien 2002, S.65-78. Reduktion auf oder Überformung durch „Ethizismus“ oder gar Theologie braucht der Rekurs auf den Wahrheitskontext der Bedeutung im Feld von Situation und Szene nicht, sie zu behaupten will nicht überzeugen. Siehe Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Frankfurt am Main 2010, Kap.6.5: „Die Gefahr des Ethizismus“, S.172-177; Zitat oben S.177. Ebenfalls zur Liberalismuskritik aus Perspektive der „postliberalen politischen Philosophie“ (Böttger) siehe Felix Böttger: Postliberalismus. Zur Liberalismuskritik der politischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt am Main 2013, Teil IV (zu Laclau, Mouffe, Ranciere und Agamben).

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Abb.6 „‚Je suis Charlie‘. Gemeinschaft, politisch ins Spiel gebracht“. Anti-Islamismus-Demonstration Paris 2015 (Quelle: AP; © Foto: Peter Dejong; Netz u.a.: www.grazia.fr, 12.01. 2015).

„das Politische“ – im Unterschied zum politischen Management und den mit ihm verbundenen Maßnahmen – „der Ort ist, an dem Gemeinschaft als solche ins Spiel gebracht wird“37, dann erhellt, dass mit „Dritter Stand“ keine „Gemeinschaft“ in einem von seinen Angehörigen selbst ausgehenden gemeinsamen ‚politischen‘ Verständnis gemeint sein kann. Soweit diese Gemeinschaft, was sie eint, nicht anhand der Etikettierung durch die Dispositionen der Herrschaft zu identifizieren bereit ist, wird sie nicht deckungsgleich sein können mit derjenigen ‚Gesellschaft‘, die ‚politisch‘ im Sinne politischer Direktive als ‚Gemeinschaft‘ „ins Spiel gebracht“ wird. Legitimiert wird die ständische Gesellschaft, in deren Grenzen die Koexistenz gesellschaftlicher Gruppen durch ordnungspolitisches Regiment gesichert wird, durch die herrscherliche Zentralgewalt, nicht durch eine Gruppierung, die sich nach Maßstäben eines Politischen definiert, das die Allianz womöglich

37 Jean-Luc Nancy: The Inoperative Community. Hgg. von Peter Connor. Minneapolis/Oxford 1991,

Einleitung, S.XXXI. Vgl. ders.: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart 1988. Zur Diskussion des Gemeinschaftsbegriffs Nancys vgl. Marchart, Politische Differenz, a.a.O., Kap.II, 4.4.

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als „trennenden Zusammenschluss von Kräften, Bedürfnissen und Zeichen“38 verstünde. Solange allerdings ein sozialer Zusammenschluss dieser Art selbst als noch fernes Projekt nicht zu erkennen ist, gilt die von außen adressierte ‚Gemeinschaft‘ im operativen Verständnis der Politik als partikular. Auch als ‚Gesellschaft‘ steht sie nicht auf der Höhe des Allgemeinheitsanspruchs der Herrschaft. Dasselbe gilt für jede vergleichbar partikulare ‚Sozialität‘. Von innen aufzubrechen ist dieses beschränkte gesellschaftliche Dasein nur im Interesse und in der Artikulation eines sozial Allgemeinen. In seinem Begriff müssen die Untertanenbedürfnisse zur Gänze Berücksichtigung finden. Mit einer entsprechenden Einflussnahme auf die Bedeutungen verbunden ist die Bündelung der Kräfte, die sich dahinter versammeln und gegen die herrschenden Mächte stellen. Der Leitbegriff aufgebrochener Partikularität spiegelt die zerteilte Gesellschaft unterhalb des Dritten Standes und der dort anzutreffenden Bevölke­rungs­ teile als „Volk“. Die von diesem Teil der Gesellschaft ausgehende Politik wird sich im Zuge der zu erwartenden Kämpfe entscheiden müssen, ob es bei dem ausgegrenzten Feind bleibt und die Differenzen der Koalition eingeebnet werden oder ob die Konfliktbereitschaft beinhaltet, auch die Widersprüche im Inneren auszutragen. Dies hieße im Übrigen, die gesellschaftlichen Strebungen auf ‚mikrosoziologischen‘ Skalen zu realisieren, nicht mehr nur im Sinne der Indikation durch die bisherigen Herrscher über die Bedeutungen. Mit anderen Worten: Die revolutionäre Politik hätte das Politische zu respektieren. Solange dagegen das Politische von indifferent konsenzinteressierter Politik durchtränkt ist, erwächst diese Politik materialiter aus der Partikularität spezifischer Interessen. Das ist nur vordergründig paradox. Die zum Feind erklärte, bisher herrschende feudale Politik demonstriert beispielhaft, wie dieser „Egoismus“ von einer Minderheit mit äußerst schmaler sozialer Basis praktiziert wird. Sich allgemein zu setzen ist deshalb einerseits die Bedingung der Anerkennung von Herrschaft, die mehr ist als andauernde Gewaltausübung. Andererseits muss der Agon im Inneren der Koalition, soll das Politische eine Chance behalten, akzeptiert bleiben und gefördert werden. Das historische Resümee zum Verlauf der bürgerlichen Revolution indiziert, dass dies zu versuchen nur für kurze Auftritte und wenige Szenen der Revolution reichte. DAS POLITISCHE & DIE POLITIK – DIE GEMEINSCHAFT & DAS GEMEINSAME – DIE GESELLSCHAFT & DAS SOZIALE

Vorerst systematisch insistierend, sollte man die Konsequenzen der Unterscheidung von „das Politische“ und „die Politik“ (im Französischen von le politique 38 Vgl.

Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O., S.30 (Hervorhebung HW).

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und la politique, im Angelsächsischen von the political und politics) auf die damit indizierte Differenz auch im Begriff der „Gemeinschaft“ und dem der „Gesellschaft“ ausdehnen. Die Differenzbegriffe können aufgrund ihrer Ambivalenz semantisch invertiert gebraucht werden, wie beispielsweise ihre Verwendung bei Giorgio Agamben zeigt.39 Das Politische der Politik repräsentiert in diesem Fall gerade ‚die Politik‘, insofern sie sich politisch verhält: im Sinne der Bewirtschaftung der Gesellschaft mittels der Biopolitik und der damit verbundenen Konsequenzen auch für den Prozess der Medialisierung, der die Permanenz des Ausnahmezustands befeuert. Umgekehrt bleibt für Politik invertiert die Bedeutung vorbehalten, mit der Agamben das ereignisspezifisch Unwahrscheinliche des Auftauchens eines nicht per se zum Scheitern verurteilten revolutionären Aufbruchs kennzeichnet: ‚Politik‘ als Anstrengung, „die Enteignung des Gemeinsamen“ rückgängig zu machen – ein eher utopisches Endziel politischer Besinnung40 – oder was bei Laclau oder Mouffe gerade „das Politische“ geltend zu machen hätte: die Momente der Einsetzung und in der Folge der Unterwanderung des vergesellschafteten ‚Subsystems Politik‘. Kommen wir zur Frage nach dem Verhältnis von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Das Politische, le politique, the political (im Weiteren im nicht invertierten, erläuterten Verständnis) in Relation zu „Gemeinschaft“ zu setzen, bringt die Schwierigkeit mit sich, dass der dem Politischen korrespondierende Begriff von Gemeinschaft mit einem Schwinden von ‚Gesellschaft‘ einhergeht. Dem zunehmenden Einfluss des Politischen wiederum korrespondiert das Schwinden von Politik – verstanden als Reglement und Gouvernement, Bürokratie und Verwaltung und deren Inszenierung als gesellschaftliche Normalität.41 Im Effekt möglicher Gesamtbewegungen der Fronten im Kampf um das Politische sehen wir demnach „die Politik“ in einer Bewegung der Vergesellschaftung, was die Besonderheit ihrer partikularen Interessen und Zwecke betrifft. Politik und Gesellschaft wachsen zusammen: „Alles ist politisch (Politik)“; „alles ist Gesellschaft (gesellschaftlich)“. „Gemeinschaft“ kann demnach, wenn nicht fundamentalistisch oder totalitär überhöht, „Gesellschaft“ durch „Nation“ oder „Volksgemeinschaft“ ersetzend, nur als Ko-Existenz politisch staatlich, ökonomisch und bewusstseins­ industriell vergesellschafteter Konsumenten verstanden werden. Das Gemein39

Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002; ders.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main 2003; ders.: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004. Es sollte klar sein, dass die Extension der Begriffe in invertiertem Gebrauch (im Vergleich zur Verwendung in diesem Aufsatz) auch anders als bei Agamben ausfallen kann. 40 Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg/Berlin 2011. 41 In Die Ordnung der Inszenierung habe ich dies beispielhaft am Öffentlichen Dienst demonstriert. Laclau verweist unter anderem auf Beispiele wie das Verhältnis der Einzelnen zum Postdienst oder zu den Angeboten des Kulturbetriebs. Siehe Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of our Time. London/New York 1991; darin der gleichnamige Aufsatz Laclaus (S.3-85).

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same der Zusammenlebenden beruht dabei auf vergleichsweise abstrakten rechtlichen Vereinbarungen, die die Abgrenzung der Individuen gegeneinander im Wesentlichen mittels Negation regeln. Was ihnen gemeinsam ist, ist demnach auf die Freiheit eines jeden Einzelnen orientiert. Darum avanciert sie anstelle alternativer Leitwerte der bürgerlichen Fassung des Allgemeinen zum Zeichen der Gemeinschaft. Gelingt es, den Frontverlauf aufgrund von Erfolgen bei der stets Herausforderung bleibenden Instituierung von Politik zugunsten des Politischen zu verschieben, verschieben sich damit alle Bedeutungen, zuerst die von Politik, Gesellschaft, Gemeinschaft. Da es sich um ein Feld ununterbrochener Auseinandersetzung handelt, kann die Bedeutung selbst nur theoretisch, in repräsentativer Darstellung, situativ fixiert werden, um sich sogleich wieder, szenifikatorisch befreit, neuen Projekten des Bedeutenlassens zuzuwenden. Von daher erhellt, dass die positivistische Einrichtung und Abgrenzung einer ‚Ontologie des Politischen‘ – oder, invertiert und mit Lukacs, einer „Ontologie Politik“ – durch essenzialistisch gewählte Kategorien äußerst problematisch wäre. Dasselbe gilt für die Ontologisierung der Differenz der Differenz durch gepaarte Begriffe. Mithin gibt die Begrifflichkeit, mit der wir operieren, nur einen Hinweis auf bestimmte der Kontingenz nicht zu entreißende Momente. Nur in diesem Verständnis ließe sich der Begriffsreihe „die Politik“, „die Gesellschaft“, „die Gemeinschaft“ die Begriffsfront „das Politische“, das Soziale“, „das Gemeinsame“ entgegenhalten. Wie erwähnt, ließe sich in derselben Absicht auch die Unterscheidung in einen jeweils „falschen“ und einen „wahren“ Gebrauch der Begrifflichkeit denken, was freilich nicht-fundamentalistischen Ambitionen das Leben nicht einfacher macht und nach einer epistemologischen Klarstellung im Umgang mit den „Interpretanten“ verlangt.42 Was ebenfalls gegen diese Unterscheidung spricht, sind die Prinzipien, die als Occam’s razor bekannt sind: Angesichts der Problematik von Schein- und Spiegelverhältnissen, die auf den genannten Frontbegriffen aufruhen und sich im Fall der Ausgestaltung der strategisch entgegengesetzten Positionen lediglich am formalen Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ orientierten und deshalb in semantischer Auslegung zu einer Ausweitung der Raum- bzw. Schein-Dimensionalitäten führen müssten, angesichts all dessen heißt es, auf diese Art Darstellung der Disjunktion zu verzichten. Dass es Grund gibt, entsprechenden begrifflichen Verwirrungen vorzubeugen, zeigt sich schon bei Betrachtung der Differenzbegriffe insbesondere in ihrer dynamischen Fassung auf Seiten eines politischen Impulses, der nicht auf ein isoliertes „Politikfeld“ (Bourdieu43) beschränkbar ist. Wie steht das Politische 42 In Peirce’scher Diktion. Kurz gesagt also mit den Bedeutungshinsichten. Ausführlich dazu Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., Teil IV,2. 43 Zum Spannungsfeld der hier einschlägigen Theoriebildung bei Bourdieu, Foucault und Lacan vgl. Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., Teil III,3: „Raumstrategien und soziales Beziehungsfeld“, S.420-458.

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zum Sozialen? Führt die Dynamik hier ebenfalls wie im Fall des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft zur Nivellierung und gegenseitigen Durchdringung mit ‚allgemeingesellschaftlicher‘ Oberfläche im Sinne der Analysen Heideggers, Sartres oder Debords? Offenbar nicht. ‚In Wahrheit‘ wäre im Gegenteil ein Überkreuzverhältnis anzunehmen: Das politische Moment würde das Soziale zu durchdringen und sich anzuverwandeln suchen, möglichst repräsentationsfern, doch durchaus mit ‚politischer Oberfläche‘. Das heißt, sein Auftritt zeichnete sich aus durch transparente Inszenierungsformen, ohne Spektakel; bestenfalls als beeindruckendes, vielleicht wohlgefälliges Schauspiel. Die Metapher der Aufweichung von gesellschaftlich, sozial Sedimentierten, gewissermaßen situativ Angetrocknetem (Gewohnheitsstrukturen mit Peirce) durch – nach Vorstehendem offenbar – ‚politische‘ Szenifikation, trifft gut, worum es zu tun ist. Dass es in der Bilanzierung solch politischer Initiative dazu kommen kann, dass tatsächlich ein Ereignis konstatiert wird, setzt voraus, dass es auf seiner Spur zu begleitenden Gewohnheitsveränderungen gekommen sein muss. Sie drängen sich auf schon in der Konfrontation mit den Zeichen und den geltenden Bedeutungen, ermöglichen in dieser Hinsicht unübliche Schlussfolgerungen, die freilich auch emotional und handlungspraktisch durchlaufen werden wollen. Spricht man wie Laclau vom „Primat des Politischen gegenüber dem Sozialen“44, kann dies nur eine Losung zur Verständigung im Getümmel sein, ein Appell zur Aufweichung der Gewohnheiten. Es zeigt sich, dass die Topologie des Frontverlaufs doch zu anderen Vorstellungen führen muss als den mit der Rede von der Begriffsfront möglicherweise naheliegenden. Dass sich an der Grenze zweier Territorien, der Politik und des Politischen, in vorderster Reihe die Bannerträger dieser Reiche gegenüberstehen und die Insignien und Farben ihres Glaubens zeigen, ist ein Bild, das irreführt. Es gehört nur zu einer der Bühnenshows im Medienland. Viel eher trifft zu, dass es auf einem extensiv bewirtschafteten, allgemein aber gefestigten und ertragreichen Boden vereinzelt zu Schädlingsbefall, Überdüngung, Brachfall und Ertragseinbrüchen kommt, zu Ermüdungserscheinungen bei der gewohnten Kultivierung. Aufgrund dessen lässt sich vorstellen, dass es hier ‚leere Stellen‘ geben wird, die sich womöglich anbieten, mit ihnen zu experimentieren, auf neue und ungewohnte Weise Erfahrungen mit der Bewirtschaftung des Bodens zu machen. „Politik“, „Gesellschaft“, „Gemeinschaft“ stünden mithin unter gewissen Voraussetzungen im Zwischenraum eines leergeräumten Platzes und hätten unter günstigen Umständen die Chance, ihren projektiven handlungs- und gestaltungsspezifischen Charakter samt den dazu passenden Bedeutungen unter Beweis zu stellen. 44

Laclau, New Reflections, a.a.O., S.33.

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Allerdings, das muss klar sein: Die Tatsache der Dynamisierung und Ereignisorientierung allein bietet keinerlei Gewähr dafür, dass sie nicht in den Dienst einer undurchschauten Inszenierung genommen wird, deren Ziele, abseits der glänzenden Bühnenpräsenz verfolgt, erst im Nachhinein, „zu spät“, wie es meist heißt, wahrgenommen wurden. In dieser Gefahr stehen die Freunde des revolutionären Aufbruchs eher noch als die Gesellschaft der Konsumenten, die auf ‚Militarisierung‘ – um den Charakter der „Dynamisierung“ in der Terminologie der Strategen und der Kriegsführung auszudrücken – erst reagieren, wenn sie dadurch abgehalten werden von Konsum und Unterhaltung. Dies aber erfordert nicht nur eine andere Inszenierung, sondern auch ein weitaus ausgedehnteres Spektakel als das, worauf die politisch Sensiblen reagieren. Sie haben viel eher das Problem, allzu bereitwillig auf Zwischenräume, die sich in der Erosion von „Gemeinschaft“ zeigen, zu reagieren und sie als Angebote, nicht zuletzt des Gedankens, an ein mögliches Gemeinsamsein, nach dem sie sich sehnen, zu werten. Was passiert, wenn die Politik und die sie gleicherweise legitimierende wie mediatisierende Gesellschaft durch ‚Eigenverdauung‘ (Mediatisierung und Medialisierung auf Ding-, Handlungs- und Tauschebene) ungebremst auf die Nivellierung und damit Ununterscheidbarkeit von Politik und Gesellschaft zusteuern, die Bewirtschaftung der Bevölkerung wie der individuellen Bewusstseine gleicherweise perfektionierend? Logischerweise bedeutet es nicht die endgültige Schließung jeglicher weiteren Aussicht. Denn es leuchtet ein, dass solche Schließung zumindest theoretisch einen Wendepunkt definiert. Von ihm aus ist nur mehr die Öffnung der Perspektive möglich; in der Pathosformel: das Wiedererscheinen der Befreiung aus der „Kolonisierung des Politischen (in Form von Gemeinschaft) durch das Soziale (in Form von Gesellschaft)“.45 LEGITIMATION DES VERSCHWINDENS

Dass der politisch gouvernementale Zwang auf eine Selbstverabredung der Beteiligten, insbesondere der Beherrschten zurückzuführen ist, und diese Ver45 Marchart, Politische Differenz, a.a.O., S.100, mit Blick auf Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-La­

barthe, die Gründer des Centre de recherche philosophique sur le politique an der ENS Paris, ausgehend von einer Konferenz in Cerisy-la-Salle, in deren Mittelpunkt Derridas Les fins de l’homme stand. Die Veranstaltungen, Diskussionen und Stellungnahmen, die das Zentrum in der Folge erarbeitete, fielen in die Zeit zwischen 1980 und 1984 und beschäftigten sich intensiv mit der Problematik des Politischen. (Zu den Personalien der im Rahmen des Zentrums aktiven Philosophen siehe Marchart, Politische Differenz, a.a.O., S.88ff.). Die Beurteilung möglicher Öffnung der Perspektive angesichts fortschreitender Globalisierung von Verhältnissen in kapitalistisch post-demokratischer Sozialität wird man historisch relativieren und Beurteilungen aus den 1980er Jahren und früher (Nancy/LacoueLabarthe) anders motiviert sehen, als es 25 bis 30 Jahre später der Fall gewesen wäre oder auch war. Zur Sache siehe: Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O., S.30.

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abredung nicht mehr nur, in welchen Kategorien auch immer, als essenzieller Grund jeder gesellschaftlichen Vergemeinschaftung im Sinne einer metaphysischen communio in sakral-profaner Allianz unterstellt wird, sondern tatsächlich auch geschichtlich als Ereignis mit Folgen in die Realität drängt, verändert das Bild bisheriger Gründungsereignisse. Die veränderte Ansicht betrifft die Legitimierung und daraus folgende Legitimität generell mit solcher Gründung verbundener Gewaltanwendung. Versuchen wir eine Formanalyse des ‚Umsturzes‘ mit Blick auf die ‚bürgerliche Revolution‘. Zuerst ist die Revolution Bürgerkrieg. Erst wenn die Würfel im Innern gefallen sind, kann sich die Gewalt des neu legitimierten Gemeinwesens (der Nation) gegen den äußeren Feind wenden. Im Inneren wird die Gegengewalt von einer Reihe oppositioneller ‚Lager‘ repräsentiert.46 Die Verbindungen der zu solchen Kreisen Gerechneten untereinander beinhalten zunächst nur lose und vorübergehende Zweckgemeinschaften ohne gewöhnlich auch schon ausdrücklich umstürzlerische Ambitionen.

Abb.7/8 „Akzeptieren, gemeint zu sein“. (Quellen: links: AP/ Il Giornale.it, Fabrizio Ravoni, 12.10. 2013; Netz: www.ilgiornale.it; rechts: Radio Hamburg, © Foto: Radio Hamburg/Oldie95; Netz: www.hamburg-zwei.de).

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Eine bekanntlich von Agamben im Kontext des Politischen analysierte Kategorie. Soweit der Ausdruck formal topologisch konnotiert, darf er in diesem vergleichsweise allgemeinen Sinne auch verschoben werden. Unprätentiös ist der Begriff so auch im Deutschen zu verwenden, auch im Rahmen der Politik. Beispielsweise spricht man von „politischen Lagern“ oder von „Lagerwahlkampf“ zur Kennzeichnung der politischen Topografie. Dass die ‚Lagerhaltung‘, die zu den Voraussetzungen revolutionärer Erfahrungen gehört, von den Revolutionären selbst benutzt wird, um eigene Ansprüche auf politische Totalisierung durch Anschauung zu unterstreichen, und als Erste die Feinde im Innern ‚interniert‘ werden – sozusagen in ein Inneres des Innen gesperrt, wo es bekanntlich weit schlimmer zugeht als in den Kriegsgefangenenlagern –, muss bei der Verwendung dieses Begriffs (anstelle von weniger aufgeladenen Alternativen) nicht verschwiegen werden. Die Existenz von Kriegsgefangenen widerspricht erst nationaler Gemeinschaftsideologie, wenn sich das ‚Innere‘ des Gemeinsamen nicht mehr an das nationale Territorium gebunden sieht. Dann werden auch jenseits der Grenzen keine Gefangenen mehr gemacht, vielmehr wird, was sich in Widerspruch setzt, vernichtet.

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Erst mit der Zeit und in Abhängigkeit von den Kooperationserfahrungen, von Erfolgen und Misserfolgen, kommt es zu einer Identifikation mit den Gemeinsamkeiten der Bündnisse. Eher versuchsweise und ideologisch reichern sich die Bedeutungen an, wie immer keineswegs unter Mitwirkung aller Beteiligten und keineswegs nur selbstbestimmt. „Selbstbestimmt“ meint dabei, wie erörtert, zunächst nicht mehr als abgekoppelt von der zugrundeliegenden Mimesis. Erst wenn die Rollen zwischen den Vertretern des Partikularen und denen des Universellen getauscht sind, darf die Erinnerung zurückkehren, dann aber ebenfalls nicht auf Nachahmung gegründet, sondern, wie die neuen Rituale demonstrieren, in der Manier souveränen Umgangs mit dem Erbe, wie er sich in der Definition vorzüglich alternativer Erbschaft und Wahlverwandtschaft niederschlägt. Einen weiteren Aspekt mangelnder Selbstbestimmung der heranwachsenden Kommunität markiert die Tatsache, dass erste Identifizierungen bestimmter Lager (zuweilen auch ihre Institutionalisierung) gewöhnlich von außen besorgt werden. Entweder müssen die Gemeinten gezwungenermaßen akzeptieren, gemeint zu sein, oder sie akzeptieren es, auch ohne von ausdrücklich an den Einzelnen adressierter Gewalteinwirkung betroffen zu sein und positivieren die Fremdindikation, oder sie lehnen sie ab, sei es ausdrücklich, was zu ‚negativer Akzeptanz‘, das heißt zu Widerstand führt, sei es, dass sie der Indikation gleichgültig gegenüberstehen, sodass der Zusammenschluss sich jederzeit auflösen und zurück in die Zerstreuung wechseln kann. Wie auch immer: Erste Identifikationen erfolgen gewöhnlich von außen. Stets aber kommt es im Partikularen zu einem Erfahrungs- und Lernprozess der Vergemeinschaftung. Die Identifikation des Kollektivs ist demnach ein sich selbst verstärkender Effekt, einerseits der faktischen Assoziation einzelner Individuen oder kleinerer zu größeren Gruppen, andererseits der Vereinnahmung solcher, möglicher­­weise temporär und funktional begrenzter Verbindungen als Willensbekundung eines Kollektivs. Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, kann das Kollektiv, identifizierbar an einem eigenen Namen, ins politische Leben treten. Die Identifikation der Individuen mit der auf diese Weise ‚öffentlich‘ werdenden Vereinigung dürfte demnach umso größer sein, je mehr die einzelnen Mitglieder davon überzeugt sind, dass die kooperativen Szenifikationen, an denen das Kollektiv als beteiligt gilt, unmittelbar mit der eigenen Person zu tun haben. Dies gilt für die faktische Kooperationserfahrung wie die Bewertung der Überschaubarkeit des Feldes realisierter oder antizipierter Zusammenarbeit, formal in räumlicher wie zeitlicher Ausdehnung, inhaltlich mit Blick auf die Machbarkeiten ‚vor Ort‘. Es ist offensichtlich, dass sich die als ‚Partei‘ formierenden Oppositionellen im kleinen wie größeren Kreis aufgrund heterogener Herkunft und Erfahrungen deutlich voneinander unterscheiden. Dissoziation ist die Bedingung aller Formen von Assoziation. Wichtiger ist der Schluss, dass die Dissoziation nicht ‚aufgehoben‘ werden kann, vielmehr ausgetragen wird

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in Permanenz. So ist die aus einem ‚Lager‘ sich befreiende Gewalt immer auch Gegengewalt, Erwiderung auf äußere wie innere Krafteinwirkung. Der soziale Körper zeigt die Verhaltensweisen des Individualkörpers. Soweit Aktion und Reaktion einhergehen mit der Anstrengung, angesichts einer doppelten ‚Einsperrung‘ die Energie, den Platz zu behaupten, aufrecht zu erhalten, sind sie selbst widerständig. Die freigesetzte Gewalt rechtfertigt sich als Gegengewalt. Szenifikationsferne Sympathisanten und Mitläufer, allerdings, können womöglich an dieser Legitimation nur ungenügend teilhaben, laufen deshalb Gefahr, alsbald zu einem neuen Lager, dem großen Lager der Verdächtigen gezählt zu werden. Der Konflikt bricht lokal auf, zieht von dort her seine Kreise. Das Feindverhältnis entfaltet sich symmetrisch. Bestimmte Individuen und Gruppen der überkommenen Ordnung werden als erste zu „Feinden“ erklärt, gegen die zu kämpfen sich die zunächst eher von außen als von innen als Kollektiv Reklamierten aktiv zusammentun. Als Feinde gelten bald nicht mehr nur die alten Eliten, sondern ebenso alle diejenigen des vertrauten ständischen Gesellschaftskörpers, die weiterhin auf den gewohnten Metabolismus setzen, seine Lebensberechtigung, ob Haupt, ob Glieder – aus welchen Gründen auch immer – nicht in Zweifel ziehen mögen. Die Rechtfertigung dafür, diesen Körper zu zerstören, beruft sich indes nicht – oder nicht nur – auf das Faktum des Obsiegens aus purer Stärke: „Weil wir es konnten, durften wir es.“ – Tatsächlich stimmt diese Begründung in vielen Fällen auch nicht mit den Tatsachen überein.47 Die sich stiftende Gemeinschaft begründet ihr Tun daher vor allem dadurch als legitim,dass sie ihr nach wie vor empirisch begrenztes Gemeinsamsein als wahrhaftes Sein einer neuen Allgemeinheit proklamiert, deren wesentlich teleologische Bestimmung als solche nun endlich zur Wirklichkeit gefunden hat. Im revolutionären Aufbruch des Dritten Standes indes geschieht die Inklusion breiter Schichten der traditionell Unterdrückten nicht nach dem Motto: „Wir kümmern uns um das Volk, damit es unsere Herrschaft anerkennt als gemeinsame Existenzgarantie.“ Der Slogan heißt vielmehr: „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk.“ – „Was ist der dritte Stand? Alles!“48 Die Essentials dieser Strategie muss der neue Souverän freilich nicht erst erfinden.49 Dabei meint 47

Einer der bekanntesten Fälle dieser Art ist der Initiationsakt der Französischen Revolution selbst, die sogenannte „Erstürmung der Bastille“. Dass die Tatsachen im Laufe siegreicher Revolutionen gerne auch anders dargestellt werden, als die Beteiligten sich erinnern, ist ebenso selbstverständlich. 48 Josef Emmanuel Sieyes: Was ist der dritte Stand? Flugschrift. Paris 1789. Sieyes: „Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach. Wir haben uns drei Fragen vorzulegen. 1. Was ist der dritte Stand ? Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der staatlichen Ordnung gewesen? Nichts. 3. Was verlangt er? Etwas darin zu werden.“ – Offenbar heißt die Strategie, Antwort 3 durchzusetzen, der Antwort 1 zu folgen. 49 Vgl. als eines unter beliebigen Beispielen die erfolgreichen Anstrengungen bestimmter Fraktionen fränkischer „Warlords“ (Bertau) und in der Folge der von ihnen begründeten Dynastien im Nordwesten Europas, sich als legitime Erben zunächst der weströmischen, dann auch der oströmischen Kaiser und Reiche durch- und festzusetzen. Auf diese Weise gelang es den neuen Einheitsstiftern, welt- wie

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„alles“ tatsächlich alles. Der Anspruch gilt dezidiert auch für diejenigen früheren Gesellschaftsglieder, die im Prozess der Auseinandersetzung mit dem alten Regime zu Feinden erklärt werden mussten. Sie werden nun selbst ‚interniert‘, können sich bewähren oder werden vernichtet. BÜNDNIS, BRÜDERSCHAFT, UNTEILBARE EINHEIT. DIE POLITISIERUNG VON GEMEINSAMKEIT

Der historische Prozess spiegelt die Metamorphosen des schnell sich kräftigenden Gemeinschaftskörpers. Das antizipierte ‚Ansehen‘ der in einem ersten Schritt eines gemeinsamen Kampfes bloß „Föderierten“ gebietet weiterreichende Vereinigung. Auf das erste große Revolutionsfest (Fête de la Fédération) zum Jahrestag des Bastille-Sturms im Juli 1790, das die Verbündeten und ihr Bündnis feiert50, folgt im September 1792 das „Fest der Einheit und Verbrüderung“. Kein einzelner Bürgerleib darf jetzt mehr von alter Ordnung geheiligt erscheinen. Es würde die neuen Weihen des Volkes wie den Verfassungsgrundsatz allgemeiner Gleichheit konterkarieren. Spätestens jetzt müssen deshalb alle diejenigen, deren Zugehörigkeit zur alten Ordnung ihnen gleichsam anhaftet, wenn nicht innewohnt, gottgegeben oder ‚von Natur‘, von ihrem irdischen Leib befreit werden. Auch wenn sie bisher glauben konnten, die formale Akzeptanz der Verfassung könne sie schützen. Folgerichtig sind die ersten, die es treffen muss, diejenigen, die, aufgrund der absolvierten Konstitutionsrituale vermeintlich sicher, hatten abtauchen wollen, allen voran „der Bürger Capet“ und seine Familie. Bürger zu heißen allein reicht nicht mehr aus, sich zum Ganzen der Gleichen zählen zu dürfen. „Liberté. Égalité, Fraternité ou la Mort!“ Dennoch: Die Losung „Einheit und Verbrüderung“, die zum Leitthema der Inszenierung von 1792 erhoben wird, indiziert eine soziale Stoßrichtung der Politik. Man könnte meinen, dass es der revolutionären Politik noch darauf ankommt, gesellschaftliche Veränderungen von unten herbeizuführen, der ständischen „Enteignung des Gemeinsamen“ entgegenzuwirken und Erfahrungen heilsgeschichtlich am Mythos Roms teilzuhaben und an ihm fortzuweben. Eine vergangene Macht konnte so im Sinne materialer wie spiritueller Herrschaft ereignishaft wie geschichtlich als wirkmächtig durch die Zeiten auftreten und sich dennoch erneuern oder modernisieren. Vgl. Karl Bertau: Deutsche Literatur und europäisches Mittelalter. 2 Bde. München 1972, Bd.I, Teil I. 50 „Deputationen aus allen Departements waren erschienen; jeder 200. Mann der Bürgerwehren, jeder 200. der Regimenter war zu diesem Fest abgeordnet. Man veranschaulichte also deutlich die bewaffnete Nation. Es war eigentlich ein Militärfest. Talleyrand zelebrierte die Messe mit 200 Priestern in Meßgewändern, mit der Trikolore als Gürtel. Alle sprachen unter Kanonendonner den Eid […] Zur gleichen Zeit wurde in allen Teilen Frankreichs der gleiche Eid gesprochen. Und es gab gleichzeitig Feiern in London, in Hamburg und in anderen deutschen Städten. Der König nahm mit dem üblichen stillen inneren Widerstand, äußerlich lässig und halb desinteressiert teil.“ (Ernst Schulin: Die Französische Revolution. 4. Aufl. München 2004, S.106)

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der Gleichheit als soziale Erfahrungen zu initiieren, nicht nur als Erfahrungen mit Politik. Freilich: Die ritualisierte Form der Festlichkeit spricht dafür, dass die Gestaltung der politischen Absicht altbekannte Wege geht. Entsprechend reserviert reagiert das Publikum. Immerhin gibt es einige Evidenzen dafür, dass das Programm nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, da zumindest die städtische Bevölkerung vergleichsweise hochorganisiert ist und sich selbst um die Gleichheit kümmert. Dass die soziale, auf ‚Brüderlichkeit‘ hin orientierte Politik vielleicht im Horizont, aber nicht in der politischen Konsequenz des Stiftungsereignisses liegen sollte, wie manche erhofft hatten, erhellt die dritte programmatische Massenveranstaltung im vierten Revolutionsjahr, 1793. Sie gilt jetzt ganz dem politischen Körper der Revolution, der sich zunehmend von äußeren Mächten herausgefordert sieht und an dieser Front um sein Überleben kämpfen muss. Gefeiert wird konsequenterweise die „Einheit und Unteilbarkeit der Republik“ (Fête de l’Unité et Indivisibilité de la Republique). Was der Staat jetzt braucht, ist nicht die Gemeinsamkeit ziviler Kollektive zum Aufbau neuer sozialer Einrichtungen und Umgangsformen, sondern einen die Unteilbarkeit der Nation repräsentierenden Kampfkörper: ein Volksheer, wie es die levée en masse aus dem Boden stampfte. Mithin liegen die Ziele der Inszenierungsstrategie auf einer Linie mit der militärischen Organisation der tatsächlichen Kriegsstrategien, zumindest hinsichtlich des zu diesem Zeitpunkt lebenswichtigen Aspekts nationaler Präsenz und nationalen Überlebens der Volksrepublik. Die fortbestehende Feindperspektive nach innen ist dem vergleichbar. Auch sie propagiert die Unteilbarkeit der Republik, doch wird die Propaganda selbst begleitet von dem noch keineswegs siegreichen Kampf gegen den Adel, vor allem aber auch den verbliebenen Klerus, die Inkarnationen alternativer Souveränität, konstitutionalisiert oder nicht. Die Lebensumstände der verarmten oder überhaupt sinistren Ränge der gleichzumachenden Stände machen eine soziale Reintegration auf Basis des Verfassungseides vielleicht möglich. Fraglich aber ist, ob und wie die Einzelnen mit zwei Herren leben und den Revolutionszielen ergeben sein können. Je radikaler die Vorstellung von der Gleichheit umso unmöglicher muss der Kompromiss erscheinen. So gehört der Klerus bei der Einheitsfeier der unteilbaren Republik zum ersten Mal in der Geschichte der großen Bühnenauftritte der revolutionären Avantgarde nicht zu den Abgeordneten des vereinigten Volkes. Die Revolution versucht sich gottlos, macht sich allerdings sogleich daran, dem propagierten Atheismus adäquaten Ersatz zu schaffen. Auch hierfür sollte wiederum eine paradigmatische Inszenierung Zeichen setzen. Dem militärischen Körper der Nation sollte ein passender spiritueller Körper an die Seite gestellt werden. Ein weiterer Irrtum in Hinsicht der longue durée von Mentalitäten und Habitus. Denn mit den Feiern „zu Ehren des Höchsten Wesens“ (Fête de l’Etre suprême) im Juni 1794 entfernt sich der geschäftsführende Ausschuss

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der Jakobiner, der „Berg“ endgültig von der Ebene, auf der das Volk sich bewegt. Trotzdem: Wo genau im Feld zwischen ‚sozialer‘ und ‚politischer Politik‘, in welcher Abstraktion, in welchem Bild, auf welcher Bühne auch immer die Politik ihren Charakter offenbart, kein Zweifel konnte darüber aufkommen, dass die anerkannt einzige Legitimationsinstanz für alle mit der Instituierung einhergehenden Maßnahmen „das Volk“ ist, das Volk sich darum berechtigterweise um seine Belange kümmern muss. Es hat das Recht wie die Verpflichtung dazu. Solange es hierin Ziel und Aufgabe sieht und tatsächlich eine dementsprechende Bilanz politischer Gestaltungspraxis vorweisen kann, wird das Volk den Makel, nichtoriginal und enteignet zu sein, von sich weisen. Die Präsenz des Politischen gewährleistet die politische Debatte in Permanenz. Garantiert wird sie indes nicht allein von den Institutionen und Gremien der Berufspolitiker und Funktionäre. Vorwärtsgetrieben vielmehr wird sie in der commune und von den selbstorganisierten Initiativen. Sie stellen sicher, dass sich der revolutionäre ‚Diskurs‘ auf den Spuren der mit ihm verbundenen Ereignisse bewegt, die Politik die praktisch sozialen Initiativen und Interventionen nicht aus dem Auge verliert, die sich in offensichtlicher Konkurrenz zur Politik der Geschäftsführung der Revolution bewegen.51 So ersetzt die Debatte nicht Konflikte und Feindschaften, die mittlerweile beigelegt sind, ruht vielmehr auf dem Grund des Austrags eines andauernden Streits um den besten Weg. Jedenfalls so lange, wie sich die bürgerliche Nation nicht von ihrer Gründungsgeschichte abnabelt und Ruhe zur ersten Bürgerpflicht erklärt wird. Die Konkurrenz der Eigeninitiative der Kommunitäten nicht untereinander, sondern in ihrem Verhältnis zur Politik der Zentralmacht abzuschaffen bedeutet folglich, der freien Assoziation die Legitimität als Repräsentanten des Volkes zu bestreiten, sie als egoistisch zu desavouieren und dem von alters her bekannten Gewaltmonopol der Zentralmacht zu unterwerfen. Die wie natürlich übernommene Repräsentationsmechanerie sorgt im Gegenzug dafür, dass auf der Bühne der Politik stets das ganze Volk zugegegen ist, in allen Belangen als maßgeblicher Akteur in Erscheinung tritt. Jede Staatsfeier gerät zur Selbstfeier des Volkes. In der Tat: Wo sollten die Zuschauer herkommen, wenn sich das ungeteilte Ganze der Nation selbst zur Schau stellt? Es kann sich nur um Menschen handeln, die nicht dazugehören. Der gesamte öffentliche Raum ist jetzt Bühne, dient Auftritt und Szene, ein perfektes Ambiente für Performance-Theoretiker. Die revolutionären Inszenierungen gehen ideologisch wie szenografisch einher mit der kategorischen Ablehnung aller überkommenen Repräsentationskonzepte – und präsentieren sich doch zugleich in grandioser Variation der 51 Immer wieder ist an die Foucault’sche Kopplung von Diskurs und Ereignis und die Kategorie der

„Diskursereignisse“ zu erinnern. Eigene Äußerungen dazu zusammenfassend siehe: Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de Françe 1970-1971. Frankfurt am Main 2012, S.250.

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Abb.9 „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Einheitsdenkmal Berlin. (Quelle: Deutsche Gesellschaft e.V.: „Freiheits- und Einheitsdenkmal. Der Sieger-Entwurf“. Netz: Freiheits- und Einheitsdenkmal.de/Der Siegerentwurf; © Foto: Büro Milla und Partner, Stuttgart/Berlin).

alten Repräsentation. Das Dementi kann nicht ausbleiben und muss umso unbedingter erfolgen, je mehr der Verdacht sich bestätigt, dass die Idee legitimer Stellvertretung oberster Herrschaft nur abgeschaut, eine der Großen Erzählungen ist. Viel muss man deshalb darum geben, die Besonderheiten der eigenen Erfindung herauszustellen. DAS UNTERGEHENDE VOLK52

Das erhoffte „Reich der Gleichheit“, wie es sich in den Berichten über das große Föderationsfest des Jahres 1790 noch mit Leben zu erfüllen scheint, der Anbruch eines goldenen Zeitalters nach dem endgültigen Sieg über Feudalgewalten und Gegenrevolution, solche eschatologischen Traumbilder bleiben schon zeitgenössisch illusionär. Zumal sich als Gleichheit tarnt, was ab sofort für alle Gleichen die Unterwerfung unter den Willen von Nation (Staat) und neuen Eigentümern bedeutet. Derselbe Le Chapelier, der 1791 die historische Sitzung der Nationalversammlung leitet, in der die Auflösung aller feudalen Bindungen beschlossen wird, bringt knapp zwei Jahre später die Gesetzesvorlage zum Verbot aller „intermediären Interessen“ ein: Die Loi Chapelier untersagt 52 Zum folgenden Abschnitt vgl. die ausführliche Darstellung des historischen Kontextes in: Wilharm, Die Ordnung der Inszenierung, Teil I, Kap. 2.1

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alle Korporationen und Parteiungen politischer oder ökonomischer Art, die, wie etwa das Zunftwesen, noch nicht vollständig liquidiert sind oder, gefährlicher, sich gerade erst neu erfunden haben. Die Befreiung der Arbeit wird unmittelbar an die Atomisierung der Arbeitskraft gebunden. Bei Strafe des Verlusts der Bürgerrechte und erheblicher Geldbuße wird jedem einzelnen Bürger verboten, sich zu anderen Zwecken als solchen des „Allgemeininteresses“ zusammenzuschließen: „Es gibt nur noch das Partikularinteresse und das Allgemeininteresse“, kein Dazwischen. Das eine gilt tendenziell als unpolitisch, egoistisch, privat, deshalb tendenziell verdächtig; das andere ist definitionsgemäß politisch, altruistisch, öffentlich. Petitionen beispielsweise dürfen ab jetzt nur noch Individuen stellen, nicht etwa Clubs oder Abordnungen der Kommunen. – „Intermediäre Interessen“, so das Gesetz, sind staatsfeindlich. Marats L´Ami du Peuple, „Anwalt des Volkes“, verfolgt die Debatte und Verabschiedung des Gesetzes äußerst kritisch. Doch selbst die Radikalen vom ‚Berg‘ kippen das Gesetz nicht, als sie die Macht dazu haben. Der Revolutionshistoriker Albert Soboul hält die Loi Chapelier für das „grundlegende Gesetz des Kapitalismus“. Marx beurteilt das Gesetz ähnlich und kann sich dabei auf Hegel berufen. Der Revolutionsfreund gibt in seinen Vorlesungen zur Philosophie des Rechts eine gesellschaftstheoretisch bemerkenswerte Analyse. Noch die Streikverbote in Kaiserreich und Restaurationszeit bis Mitte der 1860er Jahre, das Gewerkschaftsverbot bis Mitte der 1880er Jahre bewegen sich auf den Spuren des revolutionären Korporationsverbots. Im ersten Rausch aber ist der Enthusiasmus für das Allgemeine groß. Seine Abstraktheit ist Beweis einer großen Idee. Sollte die Vernichtung des Feindes auch Pause machen können: die Aufgabe, ihn zu unterwerfen, niemals. Keineswegs dachte die Revolutionsregierung auf die terreur zu verzichten, als sich die Möglichkeit einer faktischen Beendigung des Kriegszustandes erstmals andeutete. Allein die Herrschaft der Guillotine schien vielen nach siegreicher Eindämmung der Konterrevolution von außen verzichtbar zu werden. Der Einsatz von Wissenschaft und Technik hatte ein zukunftsweisendes Signal gesetzt. Die Rückkehr zur Normalität war dennoch nicht erst ausgemacht, als man, als schöne Konsequenz einer ersten bürgerlichen Ausbeute der Produktivkräfte Mensch und Wissenschaft, den Sieg über den äußeren Feind errungen hatte. Schon zuvor verlor die Koalition von terreur und vertu (auch hier) ihre Legitimation. Der Bogen war überspannt worden. In dem Augenblick, da sie beginnt, das revolutionäre Pathos der großen Zahl, die Tugend der Volksbewegung gegen deren Lebensforderungen auszuspielen, gerät die Mischung aus Schrecken und gutem Willen zwischen zwei Fronten. Der Forderung nach gerechter Versorgung, nach dem „Maximum“, das Insistieren auf einem Recht auf Subversion, die sich jeder autoritären Bevormundung zu entziehen gedenkt, all dem ist nicht mit Inszenierungen, QuasiErsatzhandlungen, beizukommen. Dasselbe gilt für den Wunsch, sich in den

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Sektionen frei zusammenzufinden, Feste und Feierlichkeiten der Straße ohne staatliche Lenkung zu begehen. Die Repräsentation trifft auf Widerstand von unten und von oben, von gestern und von morgen, von Armen und von Reichen, jede Partei im Glauben, die andere könne die Waagschale zu ihren Gunsten beeinflussen. Die arme Bevölkerung weiß bald Bescheid, versteht, dass sie arm bleiben wird. Auch wenn man zur gleichen Zeit – und obwohl es nicht um Theater geht – durchaus nicht abgeneigt ist, auf die Bühne zu klettern. In der Sektion Marat fordert man, die Menschenrechte zu verhüllen, bis der Lebensmittelmangel beseitigt ist und die Aufkäufer bestraft sind. Die Patrioten, die im Frühjahr 1794 den Konvent um Unterstützung für die „Sache des Volkes“ bitten wollen, schließen nicht aus, dass man auf sie schießen lässt. In der Regierung beschleunigt die volonté générale derweil ihre eigene Partikularisierung, vor allem – und nur scheinbar paradox –, solange sie sich allgemeiner Vernunft verschreibt. Es ist die Aporie der politischen Aufklärung, „die sich selbst überbieten will“, diagnostiziert Marx. „Tugend“, Robespierres vertu, Machiavellis virtù, gilt als Synonym für persönliche Askese und Altruismus. Oder, wie Robespierre erläutert: Tugend heißt „Liebe zum Vaterland und zu seinen Gesetzen, die großherzige Ergebenheit, die alle persönlichen Interessen dem Gemeinwohl einordnet“; Tugend ist „Liebe zur Gleichheit“.53 Aus der Perspektive des Staates bedeutet Tugend Bündelung der Kräfte, Stärke des Gemeinwesens, ganz wie beim Autor des Principe. Robespierre probiert ein theoretisches Konzept, in dem der Wille zur unbedingten politischen Durchsetzung (terreur) mit individueller Selbstlosigkeit (vertu) zusammengeschweißt erscheint. Das Klebemittel ist die Selbstverpflichtung eines jeden Individuums auf die Grundsätze politischer Moral, welche die Gewalt begleitet. Alle Rhetorik, alle Inszenierung des revolutionären Staates konzentrieren seine Szenografen (Kant spricht von den „politische[n] Künstler[n]“54) auf diese Gehirnwäsche. Dabei gilt als Prinzip der Moral ihre „Nützlichkeit für das Allgemeine“: Die einzige Grundlage der Gesellschaft ist die Moral. [...] Die Amoralität ist die Basis des Despotismus, wie die Tugend das Wesen der Republik ist. [...] In den Augen des Gesetzgebers ist alles, was den Menschen nützlich und in der Praxis gut ist, die Wahrheit.55 53

Maximilien Robespierre: Über die Prinzipien der politischen Moral. Konventrede vom 5. Februar 1794. In: Reden der Französischen Revolution. Hgg. von Peter Fischer. München 1974, S.341ff. 54 Und zwar ausdrücklich mit Bezug auch auf die französischen Revolutionäre: „Übrigens kann ein politischer Künstler, eben so gut wie ein ästhetischer, durch Einbildung, die er statt der Wirklichkeit vorzuspiegeln versteht, z.B. von der Freiheit des Volks [...], die (wie die im Englischen Parlament), oder des Ranges und der Gleichheit (wie im französischen Konvent), in bloßen Formalien besteht, die Welt leiten und regieren [...]; aber es ist doch besser, auch nur den Schein von dem Besitz dieses die Menschheit veredelnden Guts für sich zu haben, als sich desselben handgreiflich beraubt zu fühlen.“ Kant, Anthropologie, a.a.O., S.181. 55 Konventrede vom 7. Mai 1794, zit. in: Walter Markov: Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789-1799. Bd.1: Aussagen und Analysen. Leipzig 1982, S.431.

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Dabei ist, was „nützlich“ meint, durchaus ambivalent. Nützlichkeit wird einerseits dem Prinzip der Souveränität, der Nation, die das Volk ersetzt, untergeordnet. Andererseits ist Nützlichkeit für die Menschen, im ökonomischen, im Produzenten- und Konsumentensinn, selbst Prinzip. Angesichts der Alternative von inhaltlichen Gerechtigkeits- und abstrakten Tugendpostulaten setzt die Regierung, im Unterschied zu Macchiavellis Diskurs, politisch radikal auf die bürgerlichen ‚Tugenden‘, wählt, worin auf Dauer tatsächlich Allgemeinheit nicht nur versprochen, sondern tatsächlich möglich scheint: die Souveränität eines Willens zur Macht. Die Gesellschaft wird aufgerufen, die Moral zu erfüllen. Konkrete soziale, wirtschaftliche und kulturelle Maßnahmen zur Durchsetzung gesellschaftlicher Gleichheit geraten dabei zunehmend in den Hintergrund. Hier ist die Souveränität des politischen Willens indes nicht etwa bloß politisch beschränkt, sondern erheblich gehandicapt durch die selbstbeglaubigt erneuerten Eigentumsverhältnisse. Die eigentümliche force de chose, nicht zuletzt der „Geldverhältnisse“, die schon Rousseau für die Ungleichheit von Arm und Reich dort, wo formell Gleichheit herrschen sollte, verantwortlich macht56, zwingen auch hier. So wird den Bedürftigen wie vordem entgegengehalten, der ‚politischen Moral‘ zu genügen entspreche zugleich dem „Willen der Natur“, der „Bestimmung der Menschheit“ und dem „Versprechen der Philosophen“, kurz gesagt, der Vernunft, demjenigen Prinzip, das an die Stelle der Instanzen gerückt ist, welche die Vernunft in der alten Ordnung erfolgreich in Schach gehalten hatten. Glückseligkeit auf Erden wird konsequenterweise nicht versprochen. Man gibt sich zufrieden damit, „Glück“, erlebbar in Gesellschaft, als „neue Idee“ zu propagieren.57 Die Menschen sollen sich mit der Hoffnung begnügen, mit der Hoffnung, dass das Morgenrot allgemeiner Glückseligkeit irgendwann schon aufscheinen werde. Währenddessen grassieren die Theatertexte, die die Inszenierung der Idee und der daraus abgeleiteten Prinzipien aufsagen lassen. Keiner der Akteure aber hätte zugegeben, dass Phantasmen das Spiel beherrschen. Da es um die Konfrontation mit dem Feind geht, lassen sich die Neubesetzungen im Einzelnen nachvollziehen, darunter allerdings auch einige Irrtümer über die Inszenierungen des alten Regimes. Wie auch immer: es erscheint ein riesiges Repertoire an Ersetzungen, Kostümen für zukünftigen politischen Gebrauch. Egoismus werde gegen Moralität vertauscht, verkündet Robespierre, Ehre gegen Redlichkeit, Gebräuche gegen Grundsätze, Manieren gegen Pflichten, die Tyrannei der 56

Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Frankfurt am Main 1978, S.168, Anm.5 zu Kap.9 des ersten Buches: „Unter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur scheinbar und trügerisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem widerrechtlich erlangten Besitz zu erhalten. In Wahrheit sind die Gesetze immer nur für diejenigen wohltätig, die etwas besitzen, und den Besitzlosen schädlich, woraus folgt, daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur so lange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat.“ 57 Zit. in: Markov, Revolution im Zeugenstand, a.a.O., S.402.

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Mode gegen die Herrschaft der Vernunft, die Verachtung des Unglücks gegen die Verachtung des Lasters, die Liebe zum Geld gegen die Liebe zum Ruhm, die gute Gesellschaft gegen gute Menschen, Kabale gegen Verdienst, der Schein gegen die Wahrheit, der Überdruss der Wollust gegen den Reiz der Glückseligkeit, die Kleinheit der Großen gegen die Größe des Menschen. Da capo.58 DIE BEFRIEDUNG DES ANTAGONISMUS

Die politische Legitimation der dominierenden Ideologie, die sie beflügelnden Träume sind zweifellos echt, wenn man die verschiedenen, Staatsstreichen ähnlichen Momente in diesem Drama vorübergehend euphemistisch behandelt. Auch die Restauration kann das neue Rechts- und Rechtmäßigkeitsverständnis nicht gänzlich aushebeln. Mit dem Ende des neuen Jahrhunderts wird die demokratische Konstitution schließlich auch dort verbrieft, wo einst ihre entschiedensten Gegner zu finden waren. Allerdings dauert es nicht lange, bis sie erneut zu den Akten gelegt wird. Nicht zuletzt in Deutschland wird es keine dem Nachbarland im Westen vergleichbare Revolution geben, keine revolutionär demokratischen Inszenierungserfahrungen einer ganzen Nation. Und wo sich der geeinte Volkskörper schließlich in große Szene gesetzt erlebt, fehlen der Aufführung die demokratischen Botschaften. Dabei folgen die totalitaristischen Konsequenzen aus denselben Prämissen der Totalisierung, die die Idee eines generalisierten Willens dem Ganzen der Nation als demokratische Option adäquater Besetzung der freigewordenen Stelle seiner Repräsentation versprochen hatte. Die Feiertage der antinapoleonischen Befreiungskriege, der Siegesfeiern und Gedenktage des deutsch-französischen Krieges mochten das Zeug dazu gehabt haben, zu Feiern der Gemeinschaft zu geraten, nur galten sie nicht der Volkssouveränität, auch nicht in ihrer ritualisierten Ausgestaltung. Hier war gesellschaftlich überkommenes Theater angesagt – freilich, wie sich zeigen sollte, gut brauchbar auch in modernisierter Form. Zwar versuchten der soziale Widerstand, der Auftritt der oppositionellen Parteien von links, auch die Kunst – nicht zuletzt in der Form individueller Lebenskunst – immer wieder, der demokratischen Tradition von unten ein Gesicht zu geben. Doch lässt die Beurteilung klar denkender Zeitgenossen schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum Zweifel: Das Volk ist unter die Räder gekommen; wer sich zu den gesellschaftlich relevanten Spielern zählt, gehört in Wahrheit zu „eine[r] Gemeinde unbewusster Schauspieler“ (Nietzsche), empfänglich für alles, was der persönlichen Performance förderlich scheint.59 58

Robespierre, Über die Prinzipien der politischen Moral, a.a.O., S.343. Die Ordnung der Inszenierung, a.a.O., II,4.1, S.282-292.

59 Vgl. Wilharm,

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Erstaunlicherweise greift auf dem sondierten Terrain nichtsdestotrotz eine alternative Idee von Inszenierung Raum, eine, die die jakobinische Opposition und ihre Klientel nicht zu formulieren gewusst, aber vielleicht geahnt hatte. Es ist die Revolution, die der Bourgeoisie zum Durchbruch verhilft, doch sind es auch bürgerliche Verhältnisse, die die Konterrevolution beschleunigen und beenden. Einmal freigesetzt, sein ökonomisches Potenzial zu entfalten, kommt das Bürgertum auch in Deutschland wie anderswo gut, wenn nicht besser ohne Revolution aus, jedenfalls ohne politische Revolution. Von den Vorteilen eines gemeinsamen Willens der Volksgemeinschaft sind die bourgeois dennoch überzeugt, wenn dieser Wille denn adäquat repräsentiert wird. Auch wenn der ursprüngliche Impuls ‚politischer‘ Natur gewesen sein mochte, dem manch einer aus den bürgerlichen Schichten in den deutschen Staaten, soweit vorstellbar, gefolgt war – die Äußerungen der „Gelehrtenrepublik“ zeugen davon –, die Reaktion auf den Großen Schrecken und Napoleon sucht Ruhe: Ruhe zur Erholung der Gemüter, Ruhe für den Aufbau gesunder Geschäfte. Und deshalb sucht sie die trans- und überpolitische, die Zerrissenheit der Parteiungen überwindende Gemeinschaft, den Konsens der Gesellschaft. Nur ungern zeigt sich der aufgeklärte Bürger öffentlich in Hausschuhen, lieber trägt er Schulterstücke oder Ordensband, so lange zumindest, wie vom Tragen solcher Mode nichts zu befürchten steht. Als Staatsbürger kapriziert er sich nicht auf egoistisch individuelle Bedürfnisse und damit verbundenes Auftreten als Zuschauer oder Zaungast. Dabei ist die Haltung unabhängig davon, ob er sich als Gesinnungsgenosse einer eher radikalen oder eher gemäßigten Demokratie versteht oder als ihr konservativer Gegner. Zu repräsentieren gehört schließlich zur politischen wie zur geschäftlichen Existenz. Dem Souveränitätsbedürfnis der Akteure stehen, so gesehen, mehr als die Bühnen von Staat und Politik zur Verfügung. Auf diesem Feld geht die Gewalt ohnehin bald in die Hand bürokratischer und administrativer Expertise und ihrer Art von Repräsentation über. Und sollte dem Bürger in der Rolle von Politiker oder Staatsmann, Wirtschaftsweisem oder Konzernlenker, Wissenschaftler von Rang oder Ausnahmekünstler die staatsbürgerliche Aner­kennung dieses fundamentalen quid pro quo versagt bleiben, wird er wohl oder übel auf die realen Tendenzen der verheißenen Universalisierung, auf die globalen Aussichten des Geschäftes setzen müssen, ganz ohne seine Prinzipien zu verletzen: „Kein Zugang, es sei denn fürs Business“, kommentiert Marx. In seinem ersten ‚eigenen‘ Jahrhundert beginnt der freie Mann bald auf festen Füßen zu stehen, in einer Welt zwischen Kapital und Arbeit. Obwohl bestenfalls eine „Stütze“ der Gesellschaft, wird er den Erfolg seiner Arbeit zur Feier der eigentlichen Überparteilichkeit und Toleranz seinesgleichen geraten lassen. Und selbst in den Niederungen solcher Tätigkeit wird er lernen, den Horizont seines Erlebens um den Bereich des ‚gesellschaftlichen und politischen Lebens‘

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zu erweitern, und sei es auf dem Weg, sich diese attraktive Öffentlichkeit durch allerlei mediale Vernetzung ins Haus zu holen. Idealisch – oder ideologisch – gilt immer noch die Selbstdefinition des Dritten Standes, generell und global unterwegs zu sein, faktisch überall, wo er es für angebracht hält. Die Freiheit des modernen Individuums besteht bekanntlich darin, die Freiheit des Eigentums an sich selbst und dessen Ertrag auf dem Markt verkaufen zu dürfen, als Lohnabhängiger oder als Eigentümer. Die Freiheit dieses Homo faber im Kostüm des Homo politicus, die ihrer Herkunft nach selbst nicht politisch ist, reicht dennoch weiter als die des Marktes und der Ökonomie. Sie trifft in ihrer Universalität auf alle seine Lebenslagen zu, seine körperlichen wie seine seelischen Zustände. Wo auch immer es gilt, so lautet die Devise der neuzeitlichen Selbstermächtigung, den öffentlichen Raum zu okkupieren, ist das bürgerliche Individuum, das zugleich Subjekt seiner Selbsterkenntnis ist, grundsätzlich legitimiert, dies zu tun. Was die einzelne raumgreifende Initiative betrifft, freilich, gelten je nach Art der Praktiken, um die es geht, spezifische Regelungen und Einschränkungen für die Konkurrenz der Akteure. Da der Selbstermächtigung, so sie wirklich allgemein ist oder wird, gezwungenermaßen eine ebenso allgemeine Opfermasse gegenübersteht, die sich der Bemächtigung ausgesetzt sieht, trifft es auch auf diejenigen zu, die aufgrund derselben Freiheit mit dieser Rolle sich abfinden und sie leben oder aber sich gegen sie wenden und um des Eigenen willen Widerstand leisten. „Verwundung, Sieg oder Niederlage, Tod“, schreibt Foucault, ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusammenstoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch dieser Effekt ist selbst niemals etwas Körperliches, er ist eine ungreifbare, unzugängliche Schlacht, die unzählige Male um Fabricius tobt und über den verletzten Prinzen Andreas hinwegrast.60

Das Drama ist Theater, eine mediale Inszenierung. Und doch findet der Zusammenstoß, die Vermischung oder Trennung von Körpern statt, lässt daran Anteil nehmen. Die Schlacht fordert Mut und Einsatz, zuzeiten Verwundung und Tod. Nur ist selbst diese Wirkung den Darstellungen und Bildern entnommen, in deren Szenarien vorgestellt und vorstellbar wird, was überhaupt es bedeutet, eine Schlacht zu schlagen, die doch so oft als Metapher bemüht wird. Das Wissen ist dem Tun einbeschrieben wie das Tun dem Wissen. In der wirklichen Schlacht stehen die Gefallenen nicht wieder auf. Hier liegt die Grenze. Wo sie überschritten ist, spielt kein Theater, vor dessen Kulissen etwas aufgeführt wird, von dem alle Beteiligten wissen, dass es ein Spiel ist – auch die, die es in Szene setzen, angestellt, Illusionen zu erzeugen. Wenn es so wäre, niemand könnte das Theater verlassen, um sich abseits dem Frieden zu widmen. 60

Michel Foucault: Theatrum philosophicum. In: Ders.: Schriften. Bd.II (1970-1975). Frankfurt am Main 2002, S.100f.

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Die Geschichte des Abendlandes verlief anders. Erst nach gewonnenem Treffen werden feste Bühnen, stehende Theater errichtet, wo noch einmal erlebt werden kann und ohne Risiko, was vordem den Kopf hätte kosten können. Was dagegen in Friedenszeiten den Kopf kostet, ohne dass ein wirklicher Feind ausgemacht wäre, der es verdiente, bleibt besser im Dunkeln. Bürgerkrieg ist selten zu rechtfertigen. Und überhaupt würde es, würde er sehr irritieren. Solches Tableau in Szene zu setzen, ist Inszenierung gut, ein angesagtes Spiel mit ungeahnten Folgen für die, die nur die gut ausgeleuchteten Bühnendar­bietungen zu Gesicht bekommen. Inszenierung nicht wie auf dem Theater, sondern ‚ohne großes Theater‘. Zu fahnden ist nach dem Paradigma und der Differenz. REPRÄSENTATION & INSZENIERUNG – ZWISCHEN POLITIK & KUNST

Mit der Epochenwende erscheint die ‚Wissensform Bühne‘ im Einsatz der politischen Emanzipation des Bürgertums. Für sie selbst bedeutet dies einen Prozess der Delegitimierung und zugleich neuer Legitimation durch ein einiges Volk. Unglücklicherweise geht der Souveränitätstransfer mit einer tiefen Spaltung des sakrosankten Körpers des Herrschers einher. Das Volk, zur Nation geeint im Willen zur Macht, steht sich im Kräftespiel der Mächte selbst als Protagonist gegenüber. Viele wirkliche Körper und Seelen sehen sich konfrontiert mit dem Phantasma ihres corpus communis. Der freilich kann nur bildhaft und besungen in Szene gesetzt erscheinen, beispielhaft und stellvertretend. Doch erfährt der Auftritt der Repräsentation auf den Bühnen der revolutionären und postrevolutionären Politik nicht nur die ästhetische Legitimation der Inszenierungskünste. Die Repräsentation der Bühne erhält außer den Weihen der Kunst auch die legitimer Politik. Die Recht setzende Verfassung des politischen Gemeinschaftskörpers selbst ist es, welche die Stellvertreterschaft in Gestalt ausgewählter Körper der Volksgemeinschaft sanktioniert. Ihr Konsens ist der Konsens des Volkes. In den gewählten und deputierten Repräsentanten aller Angehörigen der Nation verleiht sich die Repräsentation, die mithilfe der medialen Installation sonst nur bekannt ist aus Bildern und Worten, selbst reale Gestalt und Ausdruck. So ist die neue Gewalt dreigeteilt. Vereint erscheint sie im Bild eines gemeinsamen Körpers, alltäglich verbirgt sie sich in den vielen zerstreuten Körpern der Bevölkerung, als Bild wie auch als Mitbürger erscheint sie schließlich in den Repräsentanten und ihrer Repräsentation. Die dringende Frage mithin ist: Worin und woran lässt sich der Charakter der Stellvertreterschaft festmachen? Es leuchtet ein, dass dies eine Frage an die Szenografie ist, an diejenigen Ideen und Entwürfe, Inszenierungen und Choreografien, die sich den beispiel-

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haft stellvertretenden politischen Präsentationen widmen, auf alle Arten medialen Transfers und gestalterischen Könnens. Offenbar lässt sich die Aufgabe unter bestimmten gesellschaftlichen für Kunst und Künste bindenden Legitimationsbedingungen allein ästhetisch, rein fiktional nicht erfüllen. Also erhellt ein Zweites. Die Sichtung von Inszenierungsleistungen in einzelnen gesellschaftlichen Sphären wird kaum mehr als ein archivalisches Bedürfnis befriedigen können, wenn sie nicht auch nach den die Entwürfe leitenden Bildern und Szenen, den darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen fahndet und nach deren Potenzialen, die Wirklichkeit zu gestalten. Mag sein, dass solche Recherche in vielen Fällen erfolgreich nur darin ist, dass sie den Entwurf allein in seiner Realisierung aufspürt, selten rekonstruieren, und ‚nachreichen‘ kann. Doch wird man hier und da auf Entwürfe treffen, auf Ideen und Konzepte, die ihnen zugrunde liegen. Darunter finden sich die Dispositive der ‚Inszenierungsgesellschaft‘. Die paradoxe Figur steht für die politische Negation der Zerstreuung in die Vielheit individueller Ausstattung, Motivation und Strebung, die Verleugnung der agonistischen Grundlage eines stattdessen als „homogen“ positivierten gesellschaftlichen Verkehrs, ‚positiviert‘ (oder doppelt negiert) von einer Kunst des Verschwindenmachens. Es erscheint nur mehr die Kehrseite dieser Dissimulation: die Simulation einer politisch konsensuell verfassten gesellschaftlichen Oberfläche ‚ohne Alternative‘. Es verschwindet die politische Differenz, auf der die Volkssouveränität und ihre Repräsentation beruhen. Was das zweite, das erste erweiternde, indes keineswegs klarere Bild im fernen Spiegel der neuen Legitimation glauben machen will, wird demnach zweifelhaft, wenn die Szenarien und Szenen des Herkommens erinnert bleiben. Es scheint Magie im Spiel – wo es sich doch nur um die lange Dauer einmal konzipierter Aufführungsmodelle handelt, nicht der Aufführungen wohlgemerkt, sondern ihrer Evolution. So betrachtet, wird es die damit verbundene Homogenisierung von Raum und Zeit sein (im Sinne der Zirkulation der Wirkungen und der dafür angesetzten Dauer der einwirkenden Kräfte), welche die ‚Magie‘ einer solchen Szenografie erzeugt. Zuerst macht die Inszenierung sich und ihre Adressaten blind, dann empfiehlt sie sich als friedfertige Unternehmung, angesichts derer aller Widerspruch verstummt. Mit anderen Worten: Die Inszenierung dissimuliert und simuliert sich zum Theater im gewöhnlichen Verständnis, nichts ist ernst, alles ist Spektakel. Diese Logik aufzubrechen gilt es, der Geschichte auf die Spur zu kommen, in der die Idee allseitiger Inszenierungsermächtigung nicht nur ebenfalls auftaucht, sondern sich allererst erfindet. Dabei von einer existierenden Diskussion der Thematik ausgehen zu können, in der die Verallgemeinerung des Phänomens mit Blick auf das Theatralitätskonzept selbst ausgesprochen und heftig debattiert wird, ist vorteilhaft. Ansonsten müsste man suchen, wo diese Arbeit getan wird.

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Die Verkettung mit dem Theatralitätsmodell und vergleichbaren rollen- oder stiltheoretisch soziologischen Vorstellungen markiert indes die massive Schlagseite eines Erkenntnisinteresses, das diese Verkettung sachlich voraussetzt. Symptomatisch dafür ist die ausschließliche Orientierung auf diejenigen Handlungs-, Kommunikations- und Spielkontexte, in Hinsicht der Formen wie der Inhalte, die den unterschiedlichen Willensbekundungen zu derartigem sozialen Austausch innewohnen und öffentlich ausagiert werden. Selbst die bewusste Artikulation der Ansprüche der psycho-physischen Komplexität in Körperbezug und leibhafter Präsenz erscheint in dieser Fixierung als abgeleitete Größe. Verstanden wird sie als resultierend aus einem historisch datierbaren Selbstversicherungsunternehmen, das am Grunde einer jeden Handlung ein intentionales, handlungsdominierendes Selbst identifiziert. Körper und Leib treten derart als Subjekte auf die Bühne. Als solche können, ja müssen sie andere Körper und Leibhaftigkeiten notgedrungen ebenfalls als Objekte definieren – wobei „Objekt“ hier in neuzeitlicher Verwendung gebraucht wird, im Verständnis eines Objektivität, Wirklichkeit versichernden ‚Konstitutionsrestes‘. Mit dieser philosophischen Kehre wird ein Tausch vollzogen, der offensichtlich nicht rückgängig zu machen ist. Die Schwierigkeiten mit den Konsequenzen lassen sich identifizieren an den Bemühungen um eine Performanz- oder Präsenz-, das heißt eine Erlebniskultur. Von dieser Diagnose ausgehend, ist es nicht schwer, den Missing Link der Diskussion zu benennen. Zu fahnden ist nach Körpern, die nicht per se naturwüchsig als „Objekte“, als „Dinge“ im modernen Warenverständnis definiert sind. Es geht nicht zuletzt um die Differenz der Dinge, auch die der „Erde“, wie Heidegger physis übersetzt, der die Dinge gleicherweise verbunden sind wie der „Welt“. Dass damit die ‚Kunst‘ und mit ihr die ‚Technik‘ (techne) ins Blickfeld geraten müssen, stellt keine Intervention dar. Doch was demonstriert der Auftritt? Im gesamten Kontext der theatralen Inszenierung treten Dinge, die etwas anderes wären als bloß sie selbst, nicht auf. Die alte Repräsentation hatte allen Grund, ‚Dinge‘, die derart Verwendung finden sollten, gegebenenfalls von vornherein als ‚Bild‘ zu konzipieren. Die Geschichte des sprachlichen Ausdrucks für diesbezügliche Praktiken legt davon hinreichend Zeugnis ab. Im Dispositiv des bürgerlichen Theaters werden nicht nur Bilder zu Akteuren. Vielmehr wandeln sich auch alle Akteure zu lebenden Bildern, was vordem nur ausgesuchten Souveränitäten vorbehalten blieb. Doch entspricht das der Verheißung, ihre leere Stelle beliebig vertreten zu dürfen. Nun stellen alle etwas anderes vor als das, was sie sind oder: Alle stellen, was sie sind, medialiter vor. ‚Medialiter zu sein‘ bedeutet, wie ein Zeichen zu fungieren und behandelt zu werden, in allen Funktionen der Semiose. Anders gesagt: Die Semantik leistet hier nicht, was man gemeinhin von ihr erwartet, Identifikation, Bestimmung, Bedeutungsfixierung. Insofern sich solche Theaterlandschaft, in der „all the men and women merely players“ sind, wie es bei Shakespeare heißt, auf

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den gesamten Inszenierungsraum ausdehnt und nicht an den Türen des Theaters Halt macht, wird die Lage kompliziert. Wie Dinge medial überhaupt als solche zu identifizieren wären, wie ein Ding als Ding zu erkennen oder wie überhaupt zu haltbaren Bedeutungen zu gelangen wäre, ist nicht mehr bündig zu entscheiden. Aus Sicht der alten Repräsentation betrachtet, erscheint die neue als generell vervielfacht zur multiplen Repräsentation aller möglichen Gegenstände, Dinge und deren Medialitäten, die zu eigenen Objekten reifen. Ist die Aussicht auf eine weltumspannende Inszenierungsgesellschaft, ausdifferenziert in alle denkbaren ihr zugehörigen Dispositive, mit den Erwartungen eines sogenannten „mündigen Bürgers“ kompatibel? Noch hat die Erschaffung kompletter Scheinwelten nicht zu völliger Opazität geführt, zu einer Überformung des Realen, die die perfektionierten Simulations-Dissimulations-Spiele entfalteter Technik und Medialität nicht mehr identifizierbar machten. Wo es ernst wird, in wirtschaftlichen oder politischen Dingen, führt die aufgedeckte Inszenierung zu Vertrauensverlust, die nicht entdeckte Inszeniertheit zu Konsequenzen, welche kaum zu übersehen sind. Insbesondere wird die Frage des cui bono gestellt: Wer profitiert, wem nutzt die Schau? Dies, letztlich, ist eine Frage der Wertbestimmungen in allen Registern des Begriffs. Inszenierungspolitik, so scheint es, läuft auf eine homöostatische Regulation auf dem Niveau allgemeiner Medialisierung und Mediatisierung hinaus: eine Ordnung der Selbstregulation auf dem Niveau erfolgreicher „Eroberung der Welt als Bild“61, welche die Eroberung der Welt als Revenue begleitet. Was die ökonomische Unterfütterung der Inszenierungsstrategien betrifft, meint dies nicht allein die der von Bildeigentümern und Bildmächtigen betriebenen Bemächtigung vergleichbar expansive materielle Eroberung der Welt, sondern auch deren Kehrseite: die Aussicht für die große Mehrheit, das wirkliche Volk, sich in Verhältnissen einer korrespondierend sich ausbreitenden, mal positiv, mal negativ besetzten allgemeinen Prekariarität einzurichten. SOUVERÄNITÄTSTRANSFER AN DIE WARENWELT

Anstrengung und Widerstand sind mit ins „post-heroische Zeitalter“ gewechselt.62 Die sogenannte „Wendung zum Subjekt“ gerät im Blick solcher Programmatik des ‚Post‘ leicht zu einer Alternative. Doch werden Paradoxa wie die 61

„Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.“ Vgl. Heidegger, Zeit des Weltbildes, a.a.O., S.87. Vgl. Heiner Wilharm: Weltbild und Ursprung. Für eine Wiederbelebung der Künste des öffentlichen Raums. Zu Heideggers Bildauffassung der 1930er Jahre. In: IMAGE 17/2013, S.99-137. 62 Siehe Colin Crouch: Post-Democracy. Oxford 2004 (dt.: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008).

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„Helden des Alltags“ zur Normalität – können ihre legitimatorische Grundlage gleichwohl nicht verleugnen. Die Träume politischer Gestaltung des Widerstands, die den ‚Freimut‘ des Einzelnen und seine Bereitschaft zum Leben als ‚soziale Plastik‘ (Foucault/Beuys) mit dem politischen Willen einer zur Veränderung von Gewohnheiten entschlossenen Assoziation von Individuen verband und zu einer historischen Figur herausbildete, verblassen gegen die Bilder auf den Displays der sozialen Netzwerke. Was bleibt, ist der schöne Schein einer sich verselbstständigenden medialen Oberfläche ohne Tiefe. Man muss an den Grund der historischen Inszenierung zurückgehen, die der Grund der Inszenierungsgeschichte ist, um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Doch die Materie ist sensibel. Infrage steht nicht weniger als die Legitimation der Legalität- und Legitimität schaffenden Gewalt des Volkes. Rousseau schon skizziert die Quadratur des Kreises, die hier gefordert ist, in aller Deutlichkeit: ‚Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor‘. Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt.63

Dass die behauptete Lösung keiner wirklichen Lösung gleichkommen kann, wenn sich herausstellt, dass angesichts der Bedingungen radikaler Kontingenz mit Lösungen nicht mehr zu rechnen ist, leuchtet ein. Dass Legalität und Legitimität auseinandertreten, ist eine elementare Erfahrung aller, die sich um Lösung bemühten, ist nicht erst eine Erkenntnis des 19. Jahrhunderts. Die Restauration, allerdings, bringt ihre eigene Legitimität ins Spiel, um der res publica vorzuschreiben, was als rechtmäßig zu gelten hat. Der Status der Volkssouveränität ist labil, dem Streit der Parteien anheimgestellt. Legitimitäten gibt es viele, beherrscht von unterschiedlichen Prinzipien, die darum konkurrieren, die politische Ordnung gemäß ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit zu prägen. Nur muss solche Ordnung, wie die Propheten des Liberalismus bekunden, als „konform mit der ewigen Vernunft“ dargetan werden.64 Da dies bekanntermaßen nicht anhand im Volk verbreiteter Vorstellungen abgeglichen werden kann, empfiehlt sich der positivistische Umgang, wie ihn Hegel vor Augen führt, während Nietzsche die politischen und sozialen Ansichten des unmodern gewordenen Meisterdenkers dekonstruiert und für moderne Verhältnisse anpasst. Gründet „die Legitimität“ der „positiven Verfassungs- und Rechtsord63

Rousseau, Gesellschaftsvertrag, a.a.O., I,6. Einschlägig die Vorlesungen François Guizots (Innenminister 1830, Bildungsminister zwischen 1830 und 1837 und Außenminister Frankreichs in der Juli-Monarchie 1840-1848), die er schon in den 1820er Jahren gehalten hatte: Siehe François P.G. Guizot: Histoires des origines du gouvernement représentatif en Europe. 2 Bde. Brüssel 1851; Zitat („la conformité avec la raison éternelle“) siehe ebd., Bd.2, S.152. Siehe auch Robert Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. 2. Aufl. Stuttgart 1998 (München 1959).

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nung“ in „geschichtlich geltenden, dem Staat und seinem Recht transzendenten Werten“65, verstehen sich nicht nur die Pluralität konkurrierender Legitimitätsansprüche und somit auch verschiedene „Grade von Legitimität“, sondern auch der Rechtspositivismus als allgemein verbindliche Grundlage einer staatlichen ordre légal. Euphemistisch handelt es sich hier um eine ‚Versachlichung‘: Wie das „Nationalitätsprinzip“ von seiner „Legitimitätsfunktion überspielt wird“, so wird das „Souveränitätsproblem im vermittelnden Begriff der Staatssouveränität [...] schließlich versachlicht, d.h. seines Charakters als Inbegriff persönlicher Herrschaftsberechtigung entkleidet.“66 DIE AUSHÖLUNG DER LEGITIMITÄT

Bekanntlich widerspricht Carl Schmitt in seiner Kritik am Weimarer Parlamentarismus diesem Rechts- beziehungsweise Staatspositivismus.67 Er sieht die Legitimitätskonzepte seiner Zeit losgelöst von jeder politisch verbindlichen Rechtsgründungsvorstellung, gleichviel ob nach Maßgabe des französischen Parlamentarismus des Juli-Königtums oder in der Nachfolge der vorausgehenden revolutionären demokratischen Verfassungen. Der positive Rechtszustand, so Schmitt, sei aufgrund „der politisch blind den Status quo heiligenden Auffassung der Rechtsordnung als eines sich nur durch sich selbst und daher letztlich überhaupt nicht als Recht ausweisenden, folglich labilen und als formales Instrument ausweisenden Legalitäts-Systems“ weder legitim noch legitimierbar. „Legitimität“ werde damit zum „bloßen Funktionsmodus staatlicher Bürokratie“ abgewertet.68 An seine Stelle müsste folglich ein neuer verbindlicher politischer Mythos treten, von der Art her vergleichbar den Narrativen, an die Max Weber in seiner Typologie legitimer Herrschaft denkt oder denjenigen, die Ulrich Beck als bezeichnend für die überkommene Politikorientierungen hält und deshalb zu den zu überwindenden Grundüberzeugungen der politischen Wissenschaften zählt. Die Kategorien polity, policy und politics differenzieren die Programmatik: Die Gründungs- und Legitimationsgeschichten, die angeboten werden, beziehen sich auf die Konstitution, auf die inhaltlichen Programme der Politik oder den Streit der Parteien um die Macht. Immer aber wird der kollektive politische Körper als 65

Rudolf Smend: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze. 4. Aufl. Berlin 1994, S.215. Vgl. Hasso Hoffmann: Art. „Legalität, Legitimität“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hgg. von Joachim Ritter u.a. Bd.5. Darmstadt 1980, S.163f. 67 Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 8. Aufl. Berlin 1996 (zurst Berlin 1926); ders.: Legalität und Legitimität. 7. Aufl. Berlin 2005; ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. 4. Aufl. Berlin 2003 (Berlin 1958), dort S.264ff; vgl. auch Hoffmann, Legalität, a.a.O., S.165f. 68 Zitat ebd. 66

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„Volk“ angesprochen; denn die Individuen bleiben, so die Kritik, „politikunfähig“.69 Es kann nicht überraschen, dass die systemtheoretische Sicht der „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann) keine Sympathie hegt für die Berufung auf eine inhaltliche Legitimationsgeschichte. Die normativen Vorstellungen, die vielleicht verständlich machen könnten, warum die bestimmten Herrschaftsverhältnissen Unterworfenen diese Verhältnisse insgesamt ohne sachliche Qualifizierung im Einzelnen hinnehmen sollten, treten zurück gegenüber einer formalen, gewissermaßen ästhetisch sich empfehlenden „Unterstellbarkeit des Akzeptierens“. Die Akzeptanz des Systems und seines Funktionierens ist zu unterstellen, da die Artikulation von Alternativen ausbleibt, so sie selbst nicht in Sicht sind. Zu wählen ist verzichtbar, wenn nur inakzeptable oder wünschenswerte Zustände sich anbieten: Die Möglichkeiten gewaltsamer Regelung der politischen Ordnung erscheinen mithin systemimmanent so ausgeschlossen wie die Verfahrensbeteiligung der Betroffenen wünschenswert. Der notwendige „Geltungsglaube“ (Hoffmann) hängt damit ab von der Leistungsfähigkeit des Systems.70 Es muss dem System gelingen, Vertrauen ihm gegenüber aufzubauen, am besten in der Form eines begründeten Selbstvertrauens der Akteure, die im Verfahren oder am Verfahren beteiligt sind. Alles hängt ab von der Beruhigung möglicher Erregung infolge allgemeiner Verunsicherung. Die ‚post-demokratischen‘ Strategien neoliberaler bis sozialdemokratischer Provenienz schließen hier reibungslos an. Staats- als Systempositivismus korrespondiert dabei dem bürokratischen als Verfahrenspostivismus. Rancières Diagnose der post-demokratischen Legitimationsproble­ me charakterisiert die „Regierungspraxis nach dem demos“ als zweckrationales Systemhandeln jenseits antagonistischer Positionen und ohne die Kräfte („den Streit des Volks“), die sie geltend machen könnten. Auf diese Weise ist jede eigentlich politische Praxis, Politik unter Berücksichtigung des Politischen, liquidiert. Alles erscheint reduziert „auf das alleinige Spiel der staatlichen Dispositive und [die] Bündelung von Energien und gesellschaftlichen Interessen“. Die ‚Demokratie ohne Volk‘ ist das Programm einer Praxis und eines Denkens der „restlosen Übereinstimmung zwischen den Formen des Staates und dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Die Grammatik ist so ambivalent, dass man sie 69

Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit textkritischen Erläuterungen hgg. von Johannes Winckelmann. 3 Bde. Bd.1. Zur Kritik der genannten Gründungsmythen siehe Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. 5., rev. Aufl. Frankfurt am Main 1993 (Tübingen 1976), S.57-163. Zur moderaten Anknüpfung an Carl Schmitt in marxismusdekonstruktiver Programmatik siehe Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 1991 (engl. Hegemony and Socialist Strategy. London 1984); Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken. Frankfurt am Main 2014. 70 Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren (Neuwied 1969/Frankfurt am Main 2013). Ders.: Rechtssoziologie. Bd.2. Reinbek 1972, S.259ff.

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vorwärts wie rückwärts entschlüsseln kann. Fallen einem in der einen Richtung die westlich-demokratischen Verhältnisse ein, so in der anderen, den Sinn erst vervollständigend, die volksdemokratisch totalitären.71 „POST-DEMOKRATIE“. DISSIMULATION & RESTITUIERUNG DES POLITISCHEN

Die Programmatik solcher Übereinstimmung sollte man freilich nicht verwechseln mit dem tatsächlichen Erregungszustand der gesellschaftlichen Kräfte, auch wenn sie liberaldemokratisch als grosso modo befriedet gelten. Ob dies kompromisslogisch qua Aggregationsmodell vorgestellt wird, die Politik also dem Marktgeschehen nachgebildet werden soll, oder kommunikationslogisch gedacht wird nach Art eines auf Beratung, (moralischen) Werten und rationaler Argumentation beruhenden Konsensmodells, ist dabei vergleichsweise zweitrangig. Entscheidend ist eins: Elementare Gegnerschaften auf Grundlage konkurrierender Hegemonialansprüche auf die Macht im Staat (governance nicht governement 72) werden sich diesen Modellen so lange konzeptuell entgegenhalten lassen, wie ernsthafte Gegnerschaft ihre Ansprüche tatsächlich zu artikulieren vermag, noch nicht zugunsten der einen oder anderen Harmoniesimulation erfolgreich zum Verschwinden gebracht wurde. Nicht nur auf der Spur von Nine Eleven wird man schnell fündig. Erfolgreich sind die Strategien der Leugnung aller nicht zum „Wir“ Gehörigen freilich nur solange, wie es den medialen Gestaltungs- und Vermittlungsinstitutionen gelingt, den Kampf um die Macht als gemeinsames Ringen der Bevölkerung(en) (citizens) und ihrer Einrichtungen um gemeinsame Ziele darzustellen. Solange Regierungspraxis und begriffliche Legitimation derselben allein für diese Übereinstimmung stehen, werden die Dissimulations- respektive Inszenierungsanstrengungen scheitern, wird der behauptete Kompromiss oder Konsens sich nicht nur von den Bekundungen der unterlegenen Parteien und ihren Bündnispartner, sondern auch von der Mani71 Siehe Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main 2002, S.111. 72 Eine Differenz, die insbesondere auch zur Idee eines überstaatlichen Welt-Regiments gehört, wofür

der Begriff der Global Governance steht. Die Grundsätze einer sozialdemokratischen Weltregierung sehen mithin ein einziges Verwaltungsmodell und nicht verschiedene konkurrierende Hegemonial­ modelle vor. „Governance“ in diesem Sinne kommt der „Sozialtechnologie“ nahe, mit der Habermas in der Debatte der 1960er Jahre die Luhmann’sche Strategie, das Politische zu steuern, apostrophierte. Zur Global Governance vgl. David Held: Democracy and Global Order. Cambridge 1995; siehe auch die Beiträge in: Cosmopolitan Democracy. An Agenda for a New World Order. Hgg. von Daniele Archibugi und David Held. Cambridge 1995. Des Weiteren vgl. David Held: Global Governance: The Social Democratic Alternative to the Washington Consensus. Cambridge 2004 (dt: Soziale Demokratie im globalen Zeitalter. Frankfurt am Main 2007); Daniele Archibugi: The Global Commonwealth of Citizens: Toward Cosmopolitan Democracy. Princeton (NJ) 2008; Global Democracy: Normative and Empirical Perspectives. Hgg. von Daniele Archibugi, Mathias Koenig-Archibugi und Raffaele Marchetti. Cambridge 2012. Zur Diskussion siehe schon Mouffe, Über das Politische, a.a.O., S.135-140.

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festation konkurrierender Machtansprüche der Lüge bezichtigen lassen müssen. Jede politische Praxis, die das Politische ernst nimmt als agonistisches Unternehmen um Macht- und Führung antretender Parteien wird aus den Gegnern des politischen Wettbewerbs keine bis zur Vernichtung zu bekämpfenden Feinde machen müssen. Unterlegene Machtansprüche werden sich im selben Geist mit den Resultaten der mehrheitlichen Willensbildung, mit der damit legitimierten, aber auf Zeit begrenzten Herrschaft abfinden und nicht ihrerseits den Kriegszustand erklären. Der Antagonismus, der Kampf um die Hegemonialgewalt, stellt sich deshalb als Kampf um die Medien oder vielmehr um die Definition der medialen Konzepte und Praktiken hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Politischen dar. Zumindest auf dem Boden stabiler demokratischer Überzeugungen wird man darin übereinstimmen: Die Feindschaftserklärung stellt die Grenze des Politischen dar. Von diesem Außen her artikulieren sich die Handlungs-, Gestaltungs- und Geltungsansprüche im Rahmen der Ordnung des gesellschaftlichen Verkehrs hegemonial, indes unter kontingenten Umständen. Trotzdem hat die hegemoniale Intervention „konstitutive[n] Charakter“, denn, obwohl den Umständen entsprechend zugeschnitten, werden die „hegemonialen Artikulationen“ die „sozialen Verhältnisse in einem primären Sinn instituieren, unabhängig von irgendeiner apriorischen sozialen Realität“.73 Es verhält sich wie mit Szene und Situation: Die vergangenen Institu­ ierungen, die aus ehemaligen szenischen Auseinandersetzungen rühren, bleiben in den Sedimenten des Situativen eingekapselt wie die Handgriffe der Maurer und Zimmerleute in den Werken der Baukunst. Niemals können darum im aktuellen szenischen Agon die vor Zeiten verhandelten und zu stabilen Formen geronnenen Dispositionen allesamt infrage gestellt werden. Im Kampf um die Hegemonie allerdings wird der Wettstreit offenbar, ohne indes seine Bedeutung auch schon über das Anliegende hinaus kundzutun. Erst in seinen Konsequenzen offenbart er seine gesellschaftsprägenden Wirkungen, nun aber ohne dass das Gesellschaftsfeld selbst von einem dauernden Kampf aller gegen alle um alles verwüstet würde. Zu vieles liegt beruhigt. Was demnach obsiegt, bleibt vielleicht nicht mehr der schnell getilgten Zufälligkeit eines vergangenen Erfolgs verhaftet, dafür aber der Kontingenz wechselnder Gegnerschaften und Konflikte ausgesetzt, ständigen Sicherungsunternehmen, Verabredungen und Neuverhandlungen anheimgestellt, der Handlungsvariabilität politischer Grenzziehungen. Indem derart eine Ordnung errungen und errichtet wird, sich durchsetzt und konsolidiert, werden die Möglichkeiten alternativer Gestaltung zumindest für eine Zeit blockiert und verhindert. Es ist Homer, der die „Große Geschichte“ über den Trojanischen Krieg mit einem politischen Statement beginnen lässt, heroisch in seiner Art, versteht 73

Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz. Wien 2002, S.132f. (Hervorhebung HW).

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sich. Achill hält es Agamemnon, dem „Herrscher des Volks“ wie „Volksverschlinger“ entgegen, wenn er ihm ins Gedächtnis ruft, dass jeder hegemoniale Anspruch sich im Agon (gleich welcher Art) zu bewähren und zu rechtfertigen habe, die soziale Instituierung der Herrschaft auf diese Weise stets für alle sichtbar sein müsse, ihre Legitimität nicht einfach mit Hinweis auf diesen oder jenen Stiftungsmythos als alternativlos behauptet werden könne. „Denn mir verhaßt ist jener, so sehr wie des Aïdes Pforten, / Wer ein andres im Herzen verbirgt, und ein anderes redet.“74 Nur unter diesen Voraussetzungen darf die Einrichtung der Ordnung wahrhaft „politisch“ genannt werden. „Politisch“ kann demnach nur heißen, sich und der eigenen Partei ebenso wie den Gegnern, ja auch den Feinden vor Augen zu führen und bewusst zu machen, dass die Herrschaft, die die Verhältnisse des Gemeinwesens derzeit definiert, auf einem Projekt unter anderen beruht, die Verhältnisse, wie sie sind, daher jederzeit auf dem Spiel stehen.75 Dass an dieser Stelle die Inszenierungsstrategen dafür werben, dem dauernden Kampf durch seine Abschaffung ein für alle Mal ein Ende zu machen, dazu raten, alle tatsächliche Gegnerschaft anhand der Vorführung gegenteiliger Evidenzen und mithilfe geeigneter Affektmodulation bei den Gefährdeten auszuhebeln, wird niemanden wundern. Dazu gehört in der liberalen Fassung, die „Gesellschaftsgestaltung von unten“ (Beck) zu propagieren und die Ansprüche der Individuen zu bedienen durch „Subpolitik“. Subpolitik setzt nicht mehr auf kollektive Akteure, wie „Volk“, „Klassen“, „Parteien“ oder relevante soziale Korporationen, wie sie vor kurzem etwa noch in Gestalt von Gewerkschaften auftraten. Subpolitik unterscheidet sich von Politik, dadurch, daß (a) auch Akteure außerhalb des politischen oder korporatistischen Systems auf der Bühne der Gesellschaftsgestaltung auftreten [...]; und (b) dadurch, daß nicht nur soziale und kollektive Akteure, sondern auch Individuen mit jenen und miteinander um die entstehende Gestaltungsmacht des Politischen konkurrieren.76

Die Zerstreuung der Akteure und Agenzien wird die Sicherheitslage nicht vorteilhafter erscheinen lassen, ganz abgesehen von der ökonomischen Dissoziation, die der Politik-Diskurs oft genug an den Rand drängt. Doch scheint es in liberaler Perspektive ein gutes Zeichen, wenn sich die Allgemeinheit ‚allgemein‘ skeptisch zeigt. Wer zweifelt, wird Sinn haben für die Notwendigkeit von Kompromissen, wer stets und überall zweifelt, wird den Kompromiss jederzeit und angesichts jeder Aufgabenstellung für die Lösung der Wahl halten, die genauso gut aber angezweifelt werden kann. Umgekehrt wird der Kompromiss, die Erwartung eines Gewinns, der sich am Markt auch erzielen lässt, als 74

Homer: Ilias, I, 5-245, dort der gesamte Streit, der den Feldzug gegen die Troer um ein Haar abgebrochen hätte, bevor er noch begonnen hatte. 75 Vgl. Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. 2. Aufl. Wien 2010; dies.: Agonistik. Die Welt politisch denken. Frankfurt am Main 2014. 76 Beck, Erfindung des Politischen, a.a.O., S.162 u. 164. Mouffe, Über das Politische, a.a.O., S.53f.

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realitätsgerecht beurteilt, weil keinesfalls blauäugig, sondern stets mit gehöriger Vorsicht, in Kenntnis der Schwankungen des Marktes herbeigeführt. Hier setzt die Bewirtschaftung der Lebensführung der Bevölkerung an, wie sie die sozialdemokratischen Vordenker empfehlen und als empowerment verkaufen, Ermächtigung aufgrund einer positiven Gemütslage, insbesondere sich dazugehörig und deshalb geschätzt zu fühlen.77 Die „Politik der Lebensführung“ (Giddens78) tritt an die Stelle einer ‚Politik der Emanzipation‘. Das liberaldemokratische Programm, das der Heidegger’schen Analyse der Eroberung der Welt als Bild, wenn auch kontrakritisch, nachempfunden sein könnte, ist verständlicherweise besonders erfolgreich in der Mobilisierung kosmopolitischen Gedankenguts. Der globalisierte Raum wird hier nicht als gefurcht, multipolar und heterogen besetzt gedacht, sondern als homogenisierte verwestlichte Welt. Man fühlt sich an Kants optimistisch aufklärerischen Kosmopolitismus erinnert, den er wider jede Evidenz des Umgangs der Staaten miteinander dafür brauchte, die Gemüter angesichts der inneren Konflikte der Herrschaft in einem Gemeinwesen ruhiger zu stimmen.

Abb.10/11 „Kontrahegemoniale Verfahrensweisen“. Aleppo, Syrien / Mossul, Irak (Quellen: links: AFP/DIE WELT, 19.01.2015; netz u.a. www.welt.de; rechts: AP/Rai News, 09.07.14; Netz u.a.: www.rainews.it).

Nach Nine Eleven und dem offensichtlichen Zusammenbruch des Marktmodells, ebenfalls auf globaler Ebene, werden die Konsequenzen auf die staatlich geordneten Sozialverhältnisse der lokalen und regionalen Einheiten, 77 Exemplarisch schon die Position des New Labour, heute aber gewissermaßen – unter Voraussetzung

traditioneller politischer Legitimationsprinzipien weit unpolitischer – arrangiert um ein Programm des „individual empowerment“: „helping people to feel involved and appreciated“ (Ed Miliband). 78 Anthony Giddens: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Hgg. von Ulrich Beck, Frankfurt am Main 1997; ders.: Die entfesselte Welt: Wie Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt am Main 2001. Auch diese Äußerung noch vor dem Einbruch liberaldemokratischer Strategien infolge von Nine Eleven.

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die nationalen und für unsere Breiten europäischen Zustände und ihre Widersprüche zurückwirken. Dies wird die Empire-Fiktionen vom Schlag der Hardt-/ Negri’schen Globalisierungsutopien in den Bereich der Literatur zurückdrängen. Die „Befreiung“ der „Multitude“ aus den territorial begrenzten Staatlichkeiten und die Abschaffung der nationalen Souveränitäten wird sich nicht an der schönen Welt globalisierter Verhältnisse orientieren können, weil es sie ganz offensichtlich nicht gibt.79 Es erübrigt sich, überhaupt einzelne Beispiele dafür anführen zu wollen. Viel eher werden sich – umgekehrt – schon narkotisierte Mitspieler in den überschaubareren Szenen und Szenarios eigenen Ansprüchen gegenüber sensibilisieren und darauf besinnen, dass sie möglicherweise nur in dezidierter Gegnerschaft zur derzeitigen ‚lokalen‘ Herrschaft und den Maßgaben des von dort gestützten Gesellschaftsentwurfs eine Chance auf Realisierung haben. Dies wird unheroisch und ganz pragmatisch vonstattengehen (können). Die Anstrengung allein, die es kostet, an dieser Gegnerschaft programmatisch wie praktisch zu arbeiten, ist geeignet, jedes Pathos des Widerstands vollständig zu ersetzen, allemal, wenn Erfolge für sich sprechen, Gewohnheitsveränderungen eintreten. Der Pragmatismus, der hier gefragt ist, sollte zu den Spielregeln gehören, heißt es nicht selten auch bei denen, die die offene agonistische Konkurrenz nachdrücklich befürworten. Weder dürfe die politische Gegnerschaft zur Feindschaft umgedeutet und mit Vernichtung bedroht werden, noch dürfe die Gegnerschaft geleugnet, dissimuliert und auf diese Weise jeder nicht befriedete, sich gewissermaßen selbst zur Friedlichkeit zwingende Kontrahent zum vernichtungswürdigen Feind erklärt werden – die eine Variante virulenter im Inneren begrenzter Ordnung, die andere auf dem Vormarsch eher bei der globalen Eroberung. Womöglich aber gehört diese unterschreibenswerte Maxime zu den normativen Vorstellungen vom Politischen, der eine Politik jenseits des Politischen, namentlich die seiner bloßen Inszenierung statt Würdigung, nicht gehorchen mag. Nicht überzeugen wird das Programm nämlich, wenn die Dramaturgie die Rolle des Hegemons mit Erfolg auf die Bühne bringt, „kontrahegemoniale Verfahrensweisen“ (Mouffe) und Ansprüche sich aber auf die Anerkennung eines Rechtsrahmens für den Austrag des Agons nicht einlassen. Schmitts Kritik am Liberalismus galt der Marktdoktrin als Staatsdoktrin; liberale Ideen gegen restaurative und konservative Positionen in Anschlag zu bringen, ist nicht der erste Zweck der Kritik. In ihrem Zentrum steht vielmehr die Politik, die das Politische zerstört, eine Politik, bei der an die Stelle eines einsichtigen Agons die allgemeine Skepsis gegenüber einem kaum mehr durchschaubar inszeniertem ‚Gesellschaftlichen‘ tritt. Schmitt kritisiert ein 79 Vgl. Hardt/Negri, Empire, a.a.O. Dazu siehe die Diskussion in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/ Serhat Karakayali/Vassilis Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende: Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri. Frankfurt am Main/New York 2007; der gleichnamige Aufsatz der Herausgeber ebd., S.293-310.

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Denken, das sich „in einer typischen, immer wiederkehrenden Polarität von zwei entgegengesetzten Sphären, nämlich von Ethik und Wirtschaft, Geist und Geschäft, Bildung und Besitz“ bewegt, nicht aber auf die „realen Möglichkeit[en] der Freund- und- Feindgruppierung[en]“ Bezug nimmt, „gleichgültig, was für die konfessionelle, moralische, ästhetische, ökonomische Bewertung des Politischen daraus folgt.“80 Wenn es darum geht, um der Bewahrung des politischen Wettkampfs willen auf dem Politischen der Politik zu beharren und der theatergerechten Uminszenierung aller Szenen des Sozialen zu widerstehen, wird man die Kritik am Marktkompromiss oder am Konsensmodell kaum mit der Güte einschlägiger wahrscheinlichkeitstheoretischer Prognosen oder deliberativer Verfahren verteidigen. Eher empfiehlt sich, die Strategeme einer derartigen Dekonstruktion – Dekonstruktion durch Simulation und Dissimulation, durch Inszenierung der verschiedenen Art – zu studieren und anwenden zu lernen für eine selbstbestimmte Instituierung des Gesellschaftlichen durch Politik. Wenn denn die Evolution der Bedeutung sich inszenierungsgesellschaftlich als darwinistisch erweist, bleibt nur, den Kampf auf diesem Feld aufzunehmen, den Kampf um die Medien und die Bedeutungen und folglich das Politische. Das Ganze offenbar auf der Basis eines mimetischen Programms, das nicht wirklich dissimuliert werden kann.

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Schmitt, Begriff des Politischen, S.18 u. 51; vgl. Mouffe, Über das Politische., S.18f.

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LÜGEN, TARNEN UND TÄUSCHEN ALS ERKENNTNISMITTEL DIE SCHÄRFSTEN KRITIKER VON INSZENIERUNGSLÜGEN SIND SELBER AHNUNGSLOS 1

Gewidmet den Kuckuckseiern des kommenden Frühlings Warum sitzen Sie hier, meine Damen und Herren, warum gehen Sie ins Theater, warum gehen Sie in Ausstellungen – doch wohl nicht, um Maler zu werden, um Schauspieler zu werden, um Dramatiker zu werden, sondern Sie sehen und hören sich das an im Hinblick auf den Nutzen für sich selbst als soziale Existenz. Das ist seit Nietzsche eine bekannte Umkehrfigur des künstlerischen Adres­saten, denn er sagte: Wagner hat dafür gesorgt, dass das Publikum im Bayreuther Kunsttempel interessanter ist als das, was dort auf der Bühne passiert. In der Tat zielte Wagner auf die Formierung der Kraft der Zeitgenossenschaft. Denn sein Vorhaben, einen „blonden Christus“ zu stiften, beschränkte sich ja nicht auf die Erfindung eines Bühnenereignisses, sondern beabsichtigte die Neuausrichtung des sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Lebens der Deutschen. Und dazu wollte er sein Publikum heranbilden. Das heißt, er realisierte sich nicht auf der Bühne als der Bühnenmeister, sondern er wollte partout auf die Politik in München und in Berlin einwirken, was ja auch gelungen ist. Denn zum Beispiel die jährlichen 9. November-Feiern der Nationalsozialisten waren strikt nach Bayreuther Vorbild angelegt. Sogar die Kulissen wurden von Bühnenbildnern aus Bayreuth geschaffen. Ich hatte noch Ende der 1950er Jahre Gelegenheit, mit zwei Mitarbeitern aus Bayreuth zu sprechen, die für die NaziDemonstrationen am 9. November die Inszenierung beeinflusst hatten. Es ist ja bekannt, dass die Nationalsozialisten sehr häufig die Nachtstunden für ihre Aufmärsche nutzten, weil in der Dunkelheit die Bühneneffekte, die sie von Bayreuth her kannten, auch tatsächlich umgesetzt werden konnten. Man brauchte dazu eine gewisse Abschattung, epoché nennt man das, eine Ausblendung: Dunkelheit ist die bekannteste Form der Abschattung und Ausblendung dessen, was wir nicht unmittelbar sehen sollen, um auf anderes umso intensiver die Aufmerksamkeit zu fokussieren. 1 Publikation des Vortrags vom 29.11.2013 zum 5. Szenografie-Symposium „Inszenierung und Politik

– Politik der Inszenierung“. Veranstaltet vom Zentrum für Kunst-, Medien- und Designwissenschaften am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund.

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Es ist eine der großen Wirkungen Wagners, dass er tatsächlich Millionen von Menschen von der Bühne weg auf öffentliche Plätze locken konnte. Viele haben das verstanden und in den Bayreuther Blättern, den Wagner-Vereinen, Wagner-Bünden, Wagner-Gesellschaften nachhaltig propagiert. Der WagnerSchwiegersohn Houston Stewart Chamberlain kennzeichnete Wagner als den großen Zuchtmeister der wilhelminischen Ära; er habe das Publikum zur Nation erweckt. Wer nach Bayreuth ging, war Profi in der deutschen Ideologie, Profi in der Mythologie, Profi der deutschen Ikonografie. Kurz: Das Bayreuther Publikum stiftete die Brücke zwischen der „heil’gen deutschen Kunst“ und der ebenso heiligen deutschen Weltmission aus der Sicht des Wilhelminismus und der Hitlerei. Ab 1900 entstand als Reaktion auf diesen friedlosen Wagner-Wahn die Kabarettbewegung in München und Berlin und das ist die Aufklärung in der eigentlichen Form der Rationalität des 20. Jahrhunderts. Kabarettistische Ironie ist immer schon reflexiv, immer schon Form und Dynamik der Selbstkorrektur und der Selbstkritik jenseits von Dialektik. Bedenklich ist das leichtfertige Verständnis von sozialer Wirklichkeit als Transformation des Vormachtheaters ins Nachahmungslernen. Was man auf der Bühne hört, sieht oder sich sonst wie aneignet, soll erst in der Übertragung auf das tatsächliche Leben bedeutsam werden. Das ist in der Tat ein entscheidendes Kriterium, denn wenn es, wie heute üblich, heißt, jeder bastele sich seine Wirklichkeit selbst und das sei Erfüllung des Anspruchs auf Autonomie, dann ist ja wohl gemeint, dass jeder Zuhörer, Betrachter das Gehörte und Geschaute nach eigenen Bedürfnissen in die jeweils eigene Lebenswirklichkeit überträgt. Damit bestimmt er aber nicht seine Lebenswirklichkeit, sondern interpretiert sie und erfährt dabei umso unausweichlicher, dass das Wirkliche nur das ist, was sich dem Willen/Mutwillen des Einzelnen gerade nicht fügt. Die kabarettistische Ironie zielt auf die Verwechslung von Autonomie der Subjekte und deren Belieben, sich ihr Leben selber zusammenzustückeln. Das heißt, der Wirklichkeitsbegriff steht (statt der Letztbegründungen, denen wir nicht mehr mit Wahrheit, Gott, Zukunft, Vaterland gerecht werden können) für den Verzicht auf die Gleichsetzung von individuellem Verständnis der eigenen mit der Akzeptanz der sozialen Gegebenheiten jenseits des je individuellen Wünschens und Wollens. Man mag es nun mit Aristoteles oder Lessing oder dem Thomas Mann der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ für tragisch, also den Individuen als Schuld nicht zurechenbar halten, wenn sie der Intervention von Ironie ausweichen wollen und sich lieber dem Pathos des Opfers fürs Allgemeine ergeben. Nicht nur der Tod fürs Vaterland, sondern der Tod für die Verwirklichung der Bayreuther Mission sei ehrenvoll gerade im Scheitern; da helfe keine kabarettistische Vertauschung des lateinischen dulce mit dem italienischen dolce, um sich durch Gelächter von dem stillen Vorwurf zu entlasten, man habe feigen Egoismus als Aufgeklärtheit über weltmissionarische Phrasendrescherei ausgegeben.

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Wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluss haben. Das heißt, wirklich ist alles, woran unser Belieben, unser Wille, unsere großen Ideen und Taten, unsere Parteiprogramme, unsere religiösen Vorstellungen scheitern. Was aber bedeutet das für das Wirksamwerden, also das Übertragen von Bühnen- oder Vortragskonzepten auf die soziale Wirklichkeit – was also heißt das für unsere Absicht, die auf Bühnen, in Hörsälen, Parlamenten und an Biertischen gewonnenen Einsichten zumindest für das Verständnis des eigenen Lebens „anwenden“ zu wollen? Es könnte heißen, vor der Wirklichkeit in Phantasmagorien zu fliehen, was allerdings ziemlich unsinnig erscheint, weil die eigenen Phantasmagorien immer viel schwächer ausfallen als die von den Dichtern, den Filmern, Politprogrammatikern oder Professoren professionell vorgetragenen. Das könnte auch heißen, man spiele selber Theater, wir alle spielten immerzu nur Theater. Aber dann wird doch schnell klar, wie schlechte Schauspieler selbst mächtigste Politiker sind, wie doof ihre Stücke-/Redenschreiber und wie provinziell verkümmert die Claque der Kritiker. Wir müssen wohl langsam zu akzeptieren lernen, dass der Einsichtsgewinn beim Betrachten, Zuschauen, Zuhören, Nachahmen als Erfahrung des Scheiterns zum Beweis ex negativo verstanden wird und verstanden werden muss. Der größte Wagnerianer aller Zeiten, der GRÖWAZ Adolf Hitler, teilt der Nachwelt in seinem Testament mit, dass ihm die Verwirklichung von Bayreuth in der sozialen Existenz eines Volkes in der Perspektive der Evolution auch dann gelungen sei, wenn das Volk dabei zugrunde gegangen ist. Hitler argumentiert, er habe der sozialen Evolution im Wettkampf der Systeme sinnvoll genützt, indem durch seine Taten bewiesen worden sei, dass die Zukunft der Weltkulturen von Asiaten und nicht mehr von Europäern bewerkstelligt werden wird. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges sei der von ihm erbrachte Beweis dafür. Der Volkswitz rechnete immer schon mit dieser Psychodynamik des Scheiterns – dafür steht der grausame Witz, den man über eine Berliner Göre im bitteren Winter erzählt: „Es geschieht meiner Mutter ganz recht, wenn mir die Hände erfrieren – warum gibt sie mir keine Handschuhe!“ Viel verbreiteter als man annehmen möchte ist die Einstellung von outcasts, von Existenzen am Rande des noch Erträglichen, also des untersten Sozial­ standards. Sie weisen häufig auf ihre stille Genugtuung hin, mit ihrem Schicksal den Beweis der Unmenschlichkeit des Systems erbracht zu haben und mit diesem demonstrierten Erkenntnisgewinn ihr Leben als sinnvoll zu empfinden. Heikel wird dieser Beweisgang, wenn man als Opfer Anspruch auf Fürsorge oder Entschädigung bei denjenigen erhebt, deren Regime für sie Inbegriff totalitärer Bösartigkeit ist. Mit welchem Siegerinfantilismus haben die Deutschen beziehungsweise die Europäer und Amerikaner geglaubt, der Mauerfall 1989 und der Zerfall der Sowjetunion 1991 hätten bewiesen, dass die uneingeschränkte Macht des

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Kapitals nach Belieben der Kapitalbesitzer die Wirklichkeit zu prägen vermöge. Das Ende der Geschichte sei gekommen, was bedeute, dass von nun an keinerlei Einspruch der Wirklichkeit als dem unserem Willen nicht Gehorchenden zu erwarten sei. Längst hat der Weltlauf die noch so machtvollen Erzwingungsstrategien im Irak, in Afghanistan, im Libanon, in Syrien, in Georgien oder Moldawien zuschanden werden lassen. Mit all dieser Macht war nichts getan, außer sie selbst in Ohnmacht zu verwandeln. Wenn aber prätendierte Macht des Westens sich als tatsächliche Ohnmacht erweist, besteht die Hoffnung, dass die Einsicht in diese Ohnmacht uns intelligenter werden lässt. Anstatt den prinzipiell unlösbaren Problemen ewigen Streitens um Vorherrschaft durch gottgefälligen Verzicht auf die Teilnahme an den Konflikten entgehen zu wollen, wenn man sie schon nicht zu eigenem Nutzen beherrschen kann, gilt es, Wege zu finden, wie man angemessen mit ihnen umgehen kann. Anstatt weiterhin mit ungeheurem Aufwand Wetterzauber zu betreiben und sogar durch Menschenopfer zu beglaubigen, entwickelte man sinnvollerweise wirksamen Regen-, Kälte- und Sonnenschutz. Die Lehrsammlungen für derartige Strategien dürften die zahllosen Fälle erkannter Fälschungen, Lügen, Tarn- und Täuschmanöver in ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Feldern sein, die angeblich unseren Glauben an Rechtsstaat, an Moral, an Kennerschaft und Marktlogik erschüttern. Wer den Bankern pathetisch mit der Anklage entgegentritt, sie hätten sich gegen Moral und Anstand versündigt, wird über dieses lächerliche Lamento nicht hinauskommen und vor allem nicht hinauskommen wollen. Was wir tatsächlich aus dem Scheitern des Allmachtwahnsinns von Investmentbankern zu lernen haben, ist die Einsicht, dass wir selbst mit der Behauptung, die Gesetze des Marktes regelten quasi als Naturgegebenheit die ökonomischen Austauschprozesse, einem ideologischen Popanz beziehungsweise einer Ideologie als Popanz gehuldigt haben. Wir sollten den Investmentbankern dankbar dafür sein, uns unsere eigene Dummheit unabweisbar und unentschuldbar demonstriert zu haben. Wer als Wähler eben jene Politiker ins Amt rief, die ihn mit dem Zynismus intellektueller Überlegenheit die Bankenrettung für 15 Billionen Euro als alternativlose Politik, als schicksalsgegebene Notwendigkeit verkaufen, ist doch der eigentlich Verantwortliche für Rechtsbrüche am laufenden Band. Nicht mehr Merkel & Co, die internationale Mafia der Banker sind für die Misere seit 2007 haftbar zu machen, sondern die Wähler, die dieses Regime ausdrücklich legitimiert haben und ja nun auch tatsachengemäß ihre Verantwortung akzeptieren, indem sie auch für ihre Kinder und Kindeskinder die Bereitschaft beweisen, für alle Kosten des ideologischen Verblendungszusammenhangs „Marktmacht“ zu zahlen. Gibt es einen noch besser begründeten Triumph der Entlastung von Tätertypen aller Provenienzen, seit die rot-grüne Regierung mutwillig und bedenkenlos die Maastricht-Verträge gebrochen hat?

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Das lächerliche Spektakel um die sogenannten Kunstfälscher-Affären der jüngeren Vergangenheit belegt, wie weit wir noch von der Einsicht entfernt sind, allein das als solches erkannte Falsche verweise uns auf die Wahrheit; wie wenig wir bisher den doch allseits geübten, sogar raffinierten Techniken des Lügens, Täuschens und Tarnens zutrauen, uns zu intelligenterem Rechnen mit der Beschränktheit unseres eigenen Könnens zu veranlassen. Gegenwärtig werden in den Kinos „Werke und Tage“ (ein ehrwürdiger griechischer Titel für Leben und Wirken) des Herrn Beltracchi gezeigt. Er wird als Großfälscher weit unter Wert dessen gehandelt, worum es bei ihm tatsächlich geht. Die guten Leutchen, die das Nachdenken immer noch den sogenannten Experten, den durch erfolgreiche Machtbehauptung legitimierten Politikern, den durch Reichtum interessant gewordenen Zeitgenossenen glauben, dankbar überlassen zu dürfen, sehen in Beltracchi einen Verbrecher, der etwas Falsches als echt verkauft habe. Man diskreditiert ihn als Fälscher, als könnten diese Ärmsten sich selbst betrogen fühlen. Damit ersparen sie aber all denjenigen die Anstrengung des Begriffs, die mit dem Kauf von Kunstwerken glauben beweisen zu können, dass sie auch Kunstkenner seien und als realitätstüchtige Marktteilnehmer genau wüssten, was seinen Preis wert sei. Wer aber durch die Marktgläubigkeit anderer Hunderte Millionen Euro für sich persönlich zu vereinnahmen weiß, sollte den Verlust von ein paar Millionen für angebliche Fälscherware, auf die er hereingefallen sei, so verschmerzen, wie unsereiner den Verlust des Portemonnaies mit 150 Euro darin. Zum anderen ist doch wohl klar, dass diejenigen, die die Kriterien der Unterscheidung zwischen Echt und Falsch gar nicht kennen, schwerlich ein interessantes oder gar geliebtes Bildwerk plötzlich nur deswegen nicht mehr zu schätzen vermöchten, weil es nicht von Max Ernst, sondern von Wolfgang Beltracchi erarbeitet worden sei. Derartige Fragen muss man nicht für systemrelevant halten. Wenn aber ausgewiesene Fachleute objektiv nicht in der Lage sind, Originale von Fälschungen zu unterscheiden, obwohl sie die Kriterien der Unterscheidung kennen – weil es da nichts zu unterscheiden gibt –, dann erreicht der Fälscherprozess die Höhe exquisiter philosophischer Erkenntnistheorie, statt Privileg niederkriminalistischer Entdeckungsfreude zu sein, womit die Enthüller glauben, über jeden Zweifel an ihrem Begriffsvermögen sich erheben zu können. Erkenntnistheoretisch hochrangig ist nämlich die Frage nach der Unterscheidung im Ununterscheidbaren. Denn in der Tat wurde Beltracchi nur als Fälscher „enttarnt“, weil die Provenienzen der Bilder fragwürdig waren, nicht aber dadurch, dass irgendwer und schon keiner der Skandalschreier an irgendeiner Leinwand objektiv die Differenz zwischen einem originären und einem „gefälschten“ Max Ernst oder Heinrich Campendonk erwiesen hätte. Den Begriffsstutzigen ist es gar nicht möglich zu denken, dass jemand besser in Komposition und Technik eines Max Ernst malen könnte als dieser selbst.

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Denn sie sind kindliche Fetischisten oder primitive Reliquienverehrer geblieben, denen die Kraft des Glaubens schon durch eine irritierende Behauptung genommen werden kann. Ein Picasso hingegen bekannte mehrfach (zu unserem größten Vergnügen in Orson Welles’ legendärer Fälscherstudie „F wie Fake“ von 1973/1976), dass andere ihn mindestens genauso gut fälschen könnten wie er sich selbst. Einer derartigen Aussage sollten die autoritätsgläubigen BeltracchiAnkläger intellektuell zu entsprechen versuchen, die Aussage also als Wort eines wirklichen Kenners der Wahrheit des Falschen akzeptieren. Die Künstlerautorität des Orson Welles ist ja gerade durch dessen eigene Versuche bestärkt worden, mit der Wahrheit als dem für falsch Erkannten sozialpsychologische Aufklärung zu betreiben. Seither sprechen die Informierten nicht mehr über Fälschen, sondern über Faken, wenn sie mit der Differenz zwischen wahr und falsch, originär und imitiert oder primär und sekundär rechnen. Ich gebe zu, dass gerade den Begriffsstutzigen die Wahrheit manchmal nicht zumutbar ist, sodass pädagogisch raffiniertere Eltern, Priester, Ärzte, Künstler und Politiker immer wieder genötigt sind, ihre bessere Einsicht in die Wahrheit des als falsch Erkannten mit einer frommen Lüge zu tarnen; aber immerhin mit einer Lüge erreichen sie das wohlmeinend Beabsichtigte. Wann solche frommen Lügen im Interesse der Kranken oder Dummen zu unfrommem Betrug pervertieren, lässt sich im Einzelnen sehr gut herausfinden. Schwieriger wird es, wenn man zu bewerten hat, was die Bekundungen von Falschheit bewirken, wenn es sich tatsächlich um Echtheiten handelt. Immer wieder gibt es Berichte über Bildwerke, die auf Flohmärkten oder bei Entrümpelungen erstanden wurden von Leuten, die sehr wohl den wahren Wert der Billigware einzuschätzen vermochten. Auch solche Streitfälle sind ohne Überanstrengung richterlicher Fähigkeiten gut zu lösen. Seit Beginn der Moderne gilt: Wer kauft, muss sich nicht rechtfertigen, er ist per se der Herr des Verfahrens; er kauft ja, weil er das Erstandene für bedeutsam, begehrenswert, in jedem Fall aber den Preis für angemessen hält. Er ist nicht einmal verpflichtet und hat es nicht nötig, uns seine Gründe mitzuteilen. Er braucht nicht einmal Argumente. Wie kam es zu dieser Überhöhung des Käufers zum König? Als ich einst im lockigen Haar beim Galeristen Alfred Schmela in Düsseldorf zu erkunden versuchte, wie er beliebige Besucher seiner Galerie zu Käufern von Werken machen konnte, wurde mir der entsprechende Psychomechanismus schnell klar. Herren mit Staubmantel, Hut und Regenschirm wurden unter Argumentationsdruck gesetzt, dem sie als prätendierte Bildungsbürger nur entgangen wären, wenn sie aus wahrer Kennerschaft heraus die Argumentation selbst hätten bestimmen können. Gegenüber aktuellster Kunstproduktion war es um 1960 herum für einen Kaufmann extrem schwierig, Sachkennerschaft zu erwerben, weil er dazu viel zu wenige Voraussetzungen erfüllen konnte. Also entzog er

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sich dem Argumentationsdruck durch Kauf der infrage stehenden Resultate der Arbeit zeitgenössischer Künstler. Ich habe es nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand genötigt worden wäre, seinen Kauf zu rechtfertigen; im Gegenteil, dem Käufer wurde von allen Seiten unverhohlen überlegene Kennerschaft und Entscheidungsvermögen zuerkannt. Man bewunderte ihn geradezu, obwohl außer der Kaufsumme keinerlei Beleg für seine Urteilskraft vernehmbar geworden war. Ich bin heute mehr denn je überzeugt, dass die fulminante Entwicklung des Kunstmarkts mit Blick auf die individuellen Käufer dadurch zustande kam, dass man im Kunstbetrieb Entscheidungen gerade ohne Begründung und damit ohne Rechtfertigung höher schätzte als das mühselige Hin und Her der Abwägungen in den üblichen Führungsfunktionen. Zusammengefasst: Nur das als Solches erkannte Falsche ist noch wahr, die Lügner retten die Wahrheit, nicht mehr die Propheten, nicht mehr die absolutistischen Herrscher, nicht mehr die Akademiepräsidenten, nicht mehr die Herren, die über die Wahrheitsverfahren verfügen, die Philosophen schon gar nicht. Das heißt aber, die Fälscher muten uns die Herausforderung zu, im selbst für Fachleute Ununterscheidbaren zu unterscheiden nach Kriterien, die mit dem eigentlichen Sachverhalt nichts zu tun haben. Mit dieser Verschiebung auf unsachgemäße Argumente verlieren wir die Sache selbst aus dem Blick oder erheben Marginalien zu Strafprozessaffären. Damit erwecken aber die Debatten in der Öffentlichkeit notwendigerweise den Eindruck, sie verliefen alle gleichermaßen am Problem vorbei und blieben ohne jede Konsequenz. Erstaunlicherweise hält uns dieser Eindruck nicht davon ab, jederzeit wieder an Veranstaltungen teilzunehmen, deren Resultate uns von vornherein als die üblichen Vergeblichkeiten erkennbar sind. Wie kommt diese Faszination zustande? Wir entwickeln, ohne es zu bemerken, ein Interesse für den Grad der Könnerschaft, mit der sich die Teilnehmer wechselseitig als uninformiert, unreflektiert, unselbstständig, rückständig etc. ausstellen. Wenn Politkaliber wie Franz Joseph Strauß oder Herbert Wehner auftraten oder Zauberkünstler uns unverschämterweise als Naivlinge erscheinen lassen, ist das Vergnügen an der eigenen Intelligenz, Falschheit zu durchschauen, Grund genug, uns immer wieder denen anzuvertrauen, die ihre Souveränität im Umgang mit dem Falschen demonstrieren, anstatt denen zu folgen, die uns die Gewissheit der Wahrheit aufnötigen wollen. Strauß signalisierte: Achtung, ich werde lügen und ihr müsst intelligent genug sein, das zu erkennen. Der Zauberer signalisiert: Ich biete euch eindeutigen Augenschein der Zauberei gegen euer besseres Wissen, dass niemand zaubern kann. Die angeblich immer wieder enttäuschten Zuschauer genießen das meisterhafte Jonglieren zwischen Evidenzerweis und Evidenzkritik in immer weitergehender Öffnung der infrage stehenden Problematik. Das veranlasst uns, der nächsten Diskussion doch wieder Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl wir wissen, dass bei der auch nichts

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anderes herauskommen kann als eine erneute Eröffnung der Problemlage ohne jede Aussicht auf Problemlösung. Derartiges intellektuelles Vergnügen bei der Bewegung im erkennbar Falschen boten im 17. Jahrhundert, der Epoche des zum Selbstbewusstsein erwachenden Bürgertums, Künstler ihrem Publikum in höchster Raffinesse mit der „Augentäuschermalerei“. Bis heute kann man nachvollziehen, wie Trompel’Œil-Malerei zum Erkenntnismittel werden konnte. Der Betrachter entdeckte seine eigene Täuschbarkeit, die ihn eigentlich in Zweifel über sein Weltvertrauen stürzen sollte und ihm doch seine intellektuelle Fähigkeit zu beweisen vermochte, eben dieses Getäuschtwerden zu erkennen. Das ist die Ebene, auf der wir die Inszenierungen der Programmatiken und Skandale in Politik, Kunst, Pädagogik, Technoevolution und Marktgeschehen oder das Drama der notwendig falschen Rankings zu bewerten lernen sollten. Das ist gar nicht so schwer. Eine ganze Generation ist durch e-Gurus verführt worden, von Zeichenwelten als virtual realities zu sprechen und Gebrauch zu machen. Aber eine Wirklichkeit ist eben keine, wenn sie virtuell ist. Simple Begriffsarbeit würde die Richtigstellung ermöglichen, dass es sich bei den besagten Zeichengebungsverfahren um realisierte Virtualität, also um materiell repräsentierte Gedanken, Vorstellungen, Begriffe und dergleichen innerpsy­chische Operationen handelt. Wir stehen von Natur aus unter Vergegenständlichungszwang, fachwissenschaftlich heißt das, wir sind auf embodiment, also Verkörperung geistiger, seelischer, emotionaler und anderer intrapsychischer Kräfte angewiesen, da sich diese Kräfte ja nur dann als gegeben erweisen, wenn sie sich als wahrnehmbare Elemente, als Entitäten unserer Welt beweisen. Mit ein bisschen Aufmerksamkeit für die Begriffe verstehen wir dann, dass es um realisierte Virtualität, also realized virtuality statt um virtual realities geht, um sich der Verhexung des Verstandes durch das Zeichengebungsbrimborium nach Kräften zu erwehren. Ich hoffe, Ihnen mit diesem Vortrag ein hinreichendes Vergnügen dadurch bereitet zu haben, dass Sie bemerkten, wie außerordentlich problematisch und deshalb interessant meine Gedankenführung war. Lernen Sie selber zu lügen mit den Philosophen und Künstlern, dann können Sie sich als aufgeklärt genießen, anstatt sich über die Zumutungen der Lügen anderer aufzuregen.

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UNBEQUEME BAUDENKMALE1 ZWISCHEN VERSCHLEIERUNG, PRAGMATISMUS UND ERINNERUNGSKULTUR(EN)2

GRUNDLAGEN FÜR EINE ALTERNATIVE ERINNERUNGSPRAXIS

Der deutsche Historiker Karl Schlögel hat auf die Tabuisierung des Raumes angesichts der Expansionspolitik, Territorialansprüche und Herrschaftsideologien des NS-Regimes hingewiesen. Er vertritt die These, dass unter anderem der Raum nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland lange Zeit negativ besetzt war: „Der faschistische Raum-Diskurs hat nicht nur einen behutsam-reflexiven Umgang mit einem bestimmten Vokabular produziert, sondern auch Befangenheit, ja Angst.“3 Und weiter: „Raum und alles, was mit ihm zu tun hatte, war nach 1945 obsolet, ein Tabu, fast anrüchig.“4 Die deutsche Soziologin Martina Löw macht darauf aufmerksam, dass dadurch – über Deutschland hinaus – die theoretische Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff lange Zeit unterbrochen war.5 Mit der Postmoderne und der vermehrten Zuwendung zum Raum6 wurden neue Raumbetrachtungen und -konzepte wichtig. Dieser Para1

Der Begriff Unbequeme Baudenkmale ist Norbert Huse entliehen.

2 Dieser Beitrag ist Teil meines Post-Doc-Forschungsvorhabens Nach der Kaserne. Szenografische Ver-

mittlungsstrategien für Bauen im Bestand, in welchem ich wissenschaftlich-künstlerisch das Bauvorhaben der Zeppelin Universität in Friedrichshafen begleitete, welche auf dem ehemals militärisch genutzten Fallenbrunnen-Areal ihren neuen Hauptcampus errichtet. 3 Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. In: Heinz Dieter Kittsteiner: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004, S.261-283, hier S.266. 4 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München/ Wien 2003, S.52. 5 Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, S.11. 6 Der sich abzeichnende Paradigmenwechsel (vgl. Jörg Döring: Spatial Turn. In: Stephan Günzel [Hg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S.90-99; Jörg Döring/ Tristan Thielmann [Hg.]: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008; Stephan Günzel [Hg.]: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007; Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne/ Stephan Günzel [Hg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S.317-329; Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. In: Jörg Dünne/ Stephan Günzel, Raumtheorie, a.a.O., S.330-342; Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988) wird von den Kultur-, Sozial und Geisteswissenschaften schnell aufgegriffen und schon bald in den einzelnen Disziplinen thematisiert: für die Soziologie Martina Löw mit Raumsoziologie (2001), für die Geschichtswissenschaft Karl Schlögel mit Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (2003) und für die Literaturwissenschaft Hartmut Böhme mit Topographien der Literatur (Hartmut Böhme [Hg.]: Topographien der Literatur: Deutsche Literatur im transnationalen Kontext

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digmenwechsel rückt den Raumbezug auch in den Künsten in den Mittelpunkt, worüber seitdem interdisziplinär weiter diskutiert wird. Dies gilt insbesondere auch für die Szenografie, die ursprünglich auf den Theaterkontext zurückzuführen ist, und heute für eine umfassende Gestaltungspraxis steht.7 Zentral für die Begriffsverlagerung sind inszenatorische, performative, transformative, partizipa­tive und kollaborative Aspekte und dass dabei verschiedene Medien und Strategien zum Einsatz kommen. Vor diesem Hintergrund konnte sich die Disziplin Szenografie reformieren und nimmt heute eine wichtige Stellung in der Raumdebatte8 ein. Schlögel sieht durch den Paradigmenwechsel eine „gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Dimension geschichtlichen Handelns und Geschehens“.9 Da Geschichte immer an einem Ort stattfindet (history takes place), plädiert er für eine Verräumlichung des Geschichtsdenkens. Darunter versteht er, die Geschichte nicht im Buch nachzulesen (textlich), sondern am Ort (räumlich) zu erleben. Leitend für diesen Beitrag ist die Szenografie, welche Resonanzräume schafft und Geschichte zu rekonstruieren vermag. Der Raum wird hierbei als soziales Konstrukt verstanden, als Austragungsort kreativer Prozesse und als Ort des Diskurses und der Diskurssteuerung. Unter den Aspekten Inszenierung und Partizipation werden nachfolgend Konversionen von Kasernenanlagen betrachtet, welche heute Hochschulstandorte sind. Mit Inszenierungsstrategien können diese Orte zum Gedächtnisraum werden, welche Erinnerungen hervorbringen. Solche Strategien sind meist partizipativ angelegt, d.h., sie gehen aus der Beteiligung der neuen Nutzerinnen hervor und richten sich auch an diese sowie an Besucherinnen. Durch diese Herangehensweise wird die Überprüfung bestehender Denk- und Handlungsmodelle von Erinnerungskultur(en) möglich. Unter Erinnerungskultur werden „alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische [...] Prozesse“ verstanden, „seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“.10 Zugleich wird die Deutungshoheit von Geschichte durch wissenschaftliche Disziplinen sowie ein Erinnerungsimperativ hinterfragt. Darüber hinaus inszeniert die Beschäftigung mit den Kasernen Kommunikationsgelegenheiten und regt zur politischen Auseinandersetzung an. DFG-Symposion 2004. Stuttgart 2005). 7 Der Begriff Szenografie leitet sich etymologisch vom Wort ‚skene‘ her – dem bemalten Bühnenhintergrund des antiken griechischen Theaters –, der heutigen ‚mise en scène‘. 8 Die Anthologien Raumtheorie (Jörg Dünne/Stephan Günzel a.a.O.) sowie Raum (Stephan Günzel, a.a.O.) und Raumwissenschaften (Stephan Günzel (Hg.), Frankfurt am Main 2009) geben einen guten Überblick zur Relevanz und Bedeutung von Raum und Räumlichkeit sowie eine ausführliche Darstellung zu den einzelnen Forschungsfeldern, Positionen und Methoden innerhalb der betreffenden Disziplinen. 9 Schlögel, Kartenlesen, Augenarbeit, a.a.O., S.264. 10 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54/2003, S.548-563, hier S.555.

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In postmodernen Gesellschaften ist das kulturelle Gedächtnis (Jan Assmann) ein „ästhetisch-politisches Handlungsfeld [...] mit zahlreichen Akteuren, pluralistisch organisiert und mit ausdifferenzierten kulturellen Medien, Diskursstrategien und politischen Funktionen“.11 Die öffentliche Erinnerungskultur wird mehrheitlich in Archiven, Museen, Denkmälern und Gedenkstätten organisiert. Neben dieser institutionalisierten Erinnerungskultur gibt es mit den Konversionen militärischer Standorte Bestrebungen und ein Engagement seitens der neuen Nutzerinnen, ihre eigenen Konzepte und Methoden zu betreiben und zu verfolgen. Die Erinnerungsstrategien und medialen Vergegenwärtigungen der heutigen Nutzerinnen beinhalten Identifikations- und Deutungsangebote. Sie bieten die Möglichkeit, die Erinnerungsorte als szenografisches Handlungsfeld zu begreifen und zu bespielen. Dadurch wird der Zugang „zum kulturellen Gedächtnis und die Beteiligung an seiner Erinnerungsproduktion“ demokratisiert.12 Die Szenografie schafft inszenatorische und partizipative Möglichkeiten im Sinne einer Teilhabe und Einflussnahme. Geschichte ist gedeutete Zeit (gegenwärtige oder mit Medien vergegenwärtigte Erinnerung). Während die Geschichtsschreibung dazu neigt, „Vergangenes ortlos, abstrakt und emotionsfrei zu vermitteln“, lenken „Denkmäler und Erinnerungstafeln die Aufmerksamkeit vom Ort auf sich selbst als repräsentierendes Symbol“.13 Wohingegen eine ästhetische Dimension ein sinnlich anschaubares Geschichtsbewusstsein schafft. Unter Geschichtsbewusstsein wird hier die Bedeutung sowie der öffentliche Umgang mit Geschichte in der Gegenwart verstanden. Seit einigen Jahren spricht man bei historischer Erinnerungs(-Leistung) in der Öffentlichkeit eher von Geschichtskultur und folgt damit einem allgemeinen Trend „im Blick auf den Menschen und seine Welt von der Gesellschaft zur Kultur“.14 Damit gemeint ist ein „übergreifende[r] gemeinsame[r] Umgang[ ] mit der Vergangenheit“.15 Der deutsche Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen definiert eine solche Geschichtskultur „als praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben und [in der] Gesellschaft“.16 Der Fokus liegt auf der alltäglichen Erfahrung und Wahrnehmung und nicht auf der wissenschaftlich-geschichtlichen Aufarbei11 Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalistische Vergangenheit. München/Wien 1995, S.25. 12 Ebd., S.24. 13 Winfried Nerdinger: Ort und Erinnerung. In: Ders.: Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. Salzburg/München 2006, S.8. 14 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen: Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S.3-26, hier S.3. 15 Ebd., S.4. 16 Ebd., S.5.

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tung. Anders gesagt: In modernen Erinnerungskulturen stehen die kulturelle Praxis und das ästhetische Verständnis im Vordergrund. Da der französische Historiker Pierre Nora den von ihm entwickelten Begriff lieux de mémoire (dt. Erinnerungsort)17 sehr breit fasste und dieser auch in Anschlussforschungen breit angelegt ist, herrscht bis heute eine gewisse Beliebigkeit, wie sich ein Erinnerungsort definiert. Gemäß Nora sollen Erinnerungsorte drei Aspekte beinhalten: einen materiellen, einen symbolischen und einen funktionalen Sinn. Sie dienen der Verankerung des kollektiven Gedächtnisses und sind Schnittstellen zwischen Gedächtnis und Geschichte.18 Zurzeit gehen kulturwissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen in Richtung „Hybridisierungen zwischen einem eher raumorientierten Gedächtnis und einer eher zeitverwiesenen Erinnerung“.19 Das Konzept des Erinnerungsortes eignet sich für die Szenografie insofern, da es einen alternativen Zugang zu den wissenschaftlichen Ansätzen der Gedächtnisforschung bietet. Durch die Inszenierungen und partizipativen Eingriffe werden die Kasernen als Erinnerungsorte hervorgehoben und wieder erfahrbar. Nach der deutschen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann sind Erinnerungsorte geprägt von „Diskontinuität“ und einer Diskrepanz von „Vergangenheit und Gegenwart“20. Sie zeichnen sich gerade dadurch aus, dass eine Geschichte hier nicht weitergegangen ist oder unterbrochen wurde. Dieser Bruch wird in den Relikten und baulichen Überresten sichtbar, welche auf die (hier) stattgefundenen Ereignisse hinweisen. Im Falle der Kasernen sind dies die militärischen Anlagen, soweit sie unter Denkmalschutz stehen und weitergenutzt werden, sowie Gegenstände, welche beim Verlassen der Orte durch die Militäreinheiten zurückgelassen wurden oder bereits während des Betriebs auf dem Areal entsorgt und bei Umbauarbeiten zum Vorschein kamen.21 Diese Überreste stehen beziehungslos zur neuen Nutzung und der Gegenwart und können infolge fehlendem oder mangelndem Geschichtsbewusstseins oftmals nicht gelesen und verstanden werden. Die Orte „sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten kollektiven Gedächtnisses“ und werden dadurch „erklärungsbedürftig“.22 17

Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris 1984-1992.

18 Erinnerungsorte müssen nicht zwingend konkret-dinglich sein, sondern ihre Bedeutung kann auch

in ihrem referenziellen Charakter liegen. Für Deutschlands lokale Erinnerungsorte siehe: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2001-2002. 19 Harald Tausch: Architektur. In: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S.156-164, hier S.163. 20 Aleida Assmann: Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften. In: Hanno Loewy/Bernhard Moltmann: Erlebnis Gedächtnis Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt am Main/ New York 1996, S.13-30, hier S.16. 21 Die bei Umnutzungsarbeiten notwendigen Dekontaminierungen der Areale bringen oft Fundgegenstände zutage. 22 Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, a.a.O., S.16.

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Die ehemals militärisch genutzten Orte halten das Geschehen fest und werden dadurch zum Archiv, die Gebäude und Fundgegenstände sind die Quellen. Sie beinhalten immaterielle und materielle Werte der Nutzungsgeschichte, welche in ihnen gespeichert und archiviert sind. „Während die Zeit unsichtbar macht, indem sie raubt und zerstört, halten die Orte das vergangene Geschehen fest.“23 Wichtig ist dabei ein Überlieferungszusammenhang, ohne den die Kommunikation des Ortes nicht möglich ist. Denn wenn der „Erinnerungs- und Überlieferungszusammenhang [...] abbricht, werden damit auch die Gedächtnisorte unlesbar“.24 Durch die Lokalisierung werden die militärischen Ereignisse und Situationen dinglich-konkret. Durch die Betonung und Dokumentation können sich die Erinnerungen an die Orte und an den Orten entfalten. Szenografie vermag dieses kultur-geschichtliche Wissen sichtbar zu machen, auszulegen und zu ordnen und dadurch „die Orte als stumme Zeugen der Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, ihnen ihre verlorenen Stimmen wiederzugeben“.25 Damit leistet Szenografie einen wesentlichen Beitrag zur Tradierung der Nutzungsgeschichte und zur Konstruktion von Erinnerungsräumen. Die in den Relikten und Fundgegenständen archivierten und gespeicherten Erinnerungen werden wachgerufen und in ein kulturelles Gedächtnis überführt. Der Ort wird dadurch zum Medium für die Erinnerungen; er besitzt die Fähigkeit, eine authentische Erfahrung zu ermöglichen. DER STRUKTURWANDEL IN DEUTSCHLAND UND SEINE FOLGEN

Mit dem Ende des kalten Krieges und dem damit verbundenen Abrüstungsprozess wurden in Deutschland immense Grundstücksflächen mit umfangreichen Bauvolumen frei. Gemäß Schätzungen betrug 1996 das gesamte Flächenpotenzial rund 275.000 Hektaren. Davon entfallen etwa 10% auf Kasernen, was 1.400 Anlagen entspricht.26 Seit dem Auszug der deutschen und ausländischen Streitkräfte werden viele dieser aufgegebenen militärischen Standorte einer zivilen Nutzung zugeführt. Eine erste Konversionswelle gab es in den 1990er Jahren, welche mit den europäischen Förderprogrammen KONVER I und II angekurbelt worden ist. Mit weiteren Truppenabzügen und -reduzierungen steht zurzeit eine zweite Welle bevor, welche auf die Erfahrungen und Grundlagen der ersten Phase aufbauen kann. Die aufgegebenen Standorte eignen sich sowohl 23 Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte. In: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter: Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt am Main/New York 1999, S.59-77, hier S.65f. 24 Ebd., S.68. 25 Ebd., S.66. 26 Vgl. Jutta Kirchhoff/Bernd Jacobs/Johannes Mezler: Kostengünstige Umnutzung aufgegebener militärischer Einrichtungen für Wohnzwecke, Wohnergänzungseinrichtungen und andere Nutzungen. Stuttgart 1996, S.I.

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geografisch als räumlich besonders für Hochschulzwecke. Sie befinden sich häufig an verkehrstechnisch gut erschlossenen Lagen und in der Nähe besiedelter Gebiete. Die oftmals unter Denkmalschutz stehenden Kasernenanlagen sind Relikte des NS-Regimes – was sie erst zu den sogenannten ‚unbequemen Baudenkmalen‘27 macht – und stehen in Bezug mit „einer öffentlichen Auseinandersetzung [...] im Sinne einer Erinnerungskultur, die den Einzelnen zwingt, sich damit auseinander zu setzen, sich zu informieren und Position zu beziehen.“28 Der Strukturwandel bedeutet für die neuen Nutzerinnen deshalb auch eine Chance, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. „Die ‚Tilgung‘ des ‚Unbequemen‘ [Herv. i.O.] pendelt zwischen Verdrängung, Gleichgültigkeit und Veralltäglichung auf der einen, angestrengter Mahn- und Erinnerungsarbeit auf der anderen Seite.“29 „Die Anschauung bedarf aber auch [...] der Unterstützung durch das Wissen.“30 Denn ohne Erklärung bleiben die Relikte oftmals unverständlich. Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Kasernen findet eine Arbeit am Speicher 31 statt, welche sich in Inszenierungsstrategien und partizipatorischen Prozessen entfaltet. Mit der Szenografie kann am Speicher der Relikte gearbeitet und die materiellen und immateriellen Werte (Nutzungsgeschichte) in die Gegenwart geholt werden; beispielsweise durch die Hervorhebung gesellschaftsrelevanter Aspekte wie Raumtabuisierung oder Territorialansprüche. Die Arbeit am Speicher ermöglicht zugleich das Aktivieren, Konstruieren und Aneignen kollektiver Erinnerungen. Dadurch kommt der Szenografie in der Erinnerungsarbeit und für die Erinnerungskultur eine große Bedeutung zu. Innerhalb der Denkmalpflege ist der Konsens über Methoden und Werte von Denkmalen brüchig geworden. Der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905) stellte einst den Alterswert bzw. Stimmungswert vor den historischen Wert, um eine breite Masse anzusprechen.32 Der österreichische Kunsthis27

Vgl. Norbert Huse: Unbequeme Baudenkmale. Entsorgen? Schützen? Pflegen? München 1997; Marion Wohlleben: Ungeliebte Denkmäler. Ein Plädoyer für das Einfache, das Schwierige und das Andere. In: Achim Hubel/ Hermann Wirth: Denkmale und Gedenkstätten. (Dokumentation der Jahrestagung 1994 in Weimar) Weimar 1995, S.157-166. 28 Bernd Meyer: Von der Schwierigkeit des Erinnerns: Städte und Zeitgeschichte. In: Helmut Lange: Denkmalpflege in den Städten. Stadtbaukunst, Stadtökologie, Stadtentwicklung. (Neue Schriften des Deutschen Städtetages, Heft 83) Berlin 2003, S.213-218, hier S.216. 29 Wilfried Lipp: Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege. Wien/Köln/Weimar 2008, S.304. 30 Huse, Unbequeme Baudenkmale, a.a.O., S.37. 31 Zu Arbeit am Speicher als szenografischer Leitbegriff siehe auch: Christine Schranz: Von der Dampfzur Nebelmaschine. Szenografische Strategien zur Vergegenwärtigung von Industriegeschichte am Beispiel der Ruhrtriennale. (Szenografie & Szenologie, Bd.8) Bielefeld 2013, S.147f. 32 Vgl. Alois Riegl: Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung. Wien/Leipzig 1903.

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toriker Wilfried Lipp spricht im aktuellen Kontext von Schauwert: „Denkmäler sind – in einer postmodernen Denkmalkultur – Speicher; nicht nur für Ästhetik, Geschichte, Bildung, Erinnerung, sondern auch für ganz andere triviale, alltagsbezogene oder fiktionale hinausträumende Wertfrachten.“33 Lipp konstatiert, dass der Schauwert, der auch als Bildwert verstanden werden kann, „im Zeitalter des Designs, das die Postmoderne ist, einen außerordentlichen Schub erleben“ wird.34 Dabei bezieht er sich auf „Medienfassaden, die digitale Visualisierbarkeit von Historie, die Hyperillusion einer virtual reality, die Welt der moving images“ die zu einer „Erweiterung des Denkmalpflegehorizonts zu befinden sein“.35 Durch verstärkte Überlegungen zur Wahrnehmung und Bilder von Denkmalen soll der emotionale Zugang zum Denkmal erleichtert werden. Gerade im Hinblick auf die Architekturen des Nationalsozialismus, welche als unliebsame Denkmale gelten, kann dies für die Akzeptanz wichtig sein. In einer zunehmend fragmentierten und pluralisierten Welt kommen verschiedene Gedächtniskonzepte zum Einsatz. Dadurch werden auch Konzepte und Methoden relevant, wie kulturelles und geschichtliches Wissen tradiert werden kann und Eingang in das kulturelle Gedächtnis findet. Nachfolgend wird kurz in die Gedächtniskonzepte eingeführt, welche im Umgang mit den Kasernen fruchtbar gemacht werden können. Während das kommunikative Gedächtnis durch die individuelle Erinnerung geprägt ist, trägt das kulturelle Gedächtnis zu einem Erinnerungsrahmen bei, welcher das Spezifische einer Kultur beinhaltet. Das Konzept geht auf den deutschen Kunsthistoriker Aby Warburg (18661929) zurück, wurde in den 1920er Jahren von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945) geprägt und durch Jan und Aleida Assmann maßgeblich weiterentwickelt. Das kulturelle Gedächtnis wird „durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten“.36 Zwei Modi sind für das kulturelle Gedächtnis bedeutend: Archiv sowie Aktualität bzw. eine aus der Gegenwart heraus aktualisierte Perspektive (Gegenwartsbezug). Aleida Assmann beschreibt dafür zwei Gedächtnistypen: Das Speichergedächtnis und das Funktionsgedächtnis. Unter Speichergedächtnis sind Aufbewahrungsorte wie Denkmäler und Erinnerungstafeln zu verstehen. Sie verkörpern eine staatliche Erinnerungs- und Geschichtspolitik durch Deutungseliten und sichern dadurch die Erinnerung an politische Herrschaft und Geschichte für die nachfolgenden Generationen. Das Funktionsgedächtnis dagegen beinhal33

Lipp, Kultur des Bewahrens, a.a.O., S.177. Ebd., S.175. 35 Ebd. 36 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Tonio Hölscher: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S.9-19, hier S.12. 34

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tet geordnete Erinnerungen, welche von Personen und Institutionen genutzt werden können. Durch die Arbeit am Funktionsgedächtnis kann die Szenografie die abgebrochene Geschichte der ehemals militärisch genutzten Areale in die Gegenwart holen. Dadurch können vergangene Werte in ein kulturelles Gedächtnis überführt und somit aktualisiert werden. Zunehmend zeichnet sich Erinnerungsarbeit durch die Arbeit am Speicher respektive weg vom Gedächtnis als Aufbewahrungsort aus. Szenografie kann hier als Strategie verwendet werden, um die oft nicht mehr erlebbaren oder fehlenden Erinnerungswerte von Bauten wiederherzustellen und/oder wach zu halten. Ausgehend von der Kritik am Konzept des kollektiven Gedächtnisses, welches den Wandlungsprozess nicht berücksichtigt und die Funktion von individuellem und sozialem Gedächtnis gleichsetzt, wurden die Social Memory Studies (Olick/Robbins)37 begründet. Diese gehen auf die Studien zum kulturellen Gedächtnis zurück und fragen, weshalb einige genuine soziale Umstände überdauern und andere nicht. Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer geht in seinen Studien zum sozialen Gedächtnis vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis und der unbewussten oder nicht-intentionalen Überlieferungen von Vergangenheit aus: „Die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe.“38 Welzer nennt „vier Medien der sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung“, nämlich „Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume“.39 Insbesondere mit Räumen setzt Welzer einen interessanten Bezugsrahmen zu szenografischen Handlungspraktiken und Denkfeldern und ermöglicht einen Anschluss an die Raumtheorie. Welzer schreibt, dass die soziale „Erinnerungspraxis [Herv. i.O.] mit wissenschaftlichen Mitteln nur äußerst schwer zu erfassen ist“, und sie aufgrund der Komplexität und ihres ephemeren Charakters Künstlern „viel eher zugänglich scheint als Wissenschaftlern“.40 Die seit der Antike geltende Tendenz von Vergessen und Vergeben41 ist mit Ende des Zweiten Weltkrieges einem „Erinnern, Aufarbeiten und Bestrafen“42 gewichen, worauf sich auch die heutige Erinnerungsarbeit konzentriert. Nach Auschwitz und den Gräueltaten des NS-Regimes wurde das Vergessen obsolet, ja es wurde geächtet und gilt als Schwäche, Defizit oder gar Schuld. Diese Form 37

Vgl. Jeffrey K. Olick: Das soziale Gedächtnis. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung. a.a.O., S.110. 38 Harald Welzer: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S.15. 39 Ebd., S.16. 40 Ebd., S.11. 41 Zum Thema vergessen statt erinnern vgl. Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010; Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur?, a.a.O., S.548. 42 Helmut König: Das Politische des Gedächtnisses. In: Gudehus/Eichenberg/Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, a.a.O., S.115-125, hier S.121.

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von ‚Gedächtnispolitik‘ hat in eine beinahe schon inflationäre Erinnerungskultur zur Aufklärung und Berichtigung der NS-Vergangenheit geführt, wie dies der deutsch-französische Historiker Etienne François und sein deutscher Kollege Hagen Schulze in der Einführung zu Deutsche Erinnerungsorte feststellen: „[D] ie Beschwörungen und Bemühungen des Gedenkens, seine Kommerzialisierung und Instrumentalisierung reichen bis zum Überdruß.“43 Als programmatisch für das Erinnern galt der Historismus, der durch ein Übermaß an Erinnerung auch zu einem pragmatischen Umgang führen kann. Friedrich Nietzsche (1844-1900) hatte in seiner Kritik am Historismus Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) auf die Kraft und reinigende Wirkung des Vergessens und eine „Uebersättigung einer Zeit in Historie“44 und „die grosse und immer grössere Last des Vergangenen“45 hingewiesen. Auch bei Konversionen von militärischen Standorten stellt sich im Verlauf des Prozesses die Frage nach der Erinnerungsbereitschaft der neuen Nutzerinnen. Diese haben die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und zu überlegen, wie sie mit der Geschichtlichkeit des jeweiligen Standorts umgehen: Ist es überhaupt ein Ziel, die Vergangenheit präsent zu machen? Für wen und an was soll erinnert werden? Wäre es besser, wenn die Orte anstelle der militärischen Vergangenheit bewusst den Friedensprozess thematisieren? Soll das Gedenken vor Ort stattfinden oder in Form von Interventionen in der Stadt? UMNUTZUNGEN ALS METHODE UND STRATEGIE FÜR DIE ERINNERUNGSKULTUR(EN)

Um die obigen Fragen zu beantworten und eine Übersicht auf die szenografischen Konzepte und Methoden zum Umgang nachgenutzter Kasernenanlagen zu bekommen, habe ich eine vergleichende Analyse durchgeführt.46 Für die Bestimmung der Universitäten und Hochschulen, welche Kasernen als Standort nutzen, wurden Erhebungen vorgenommen, Gespräche mit Projektverantwortlichen geführt sowie bestehende Literatur konsultiert. Da es während der militärischen Nutzung kaum zugängliche Unterlagen gab und die Anlagen der Geheimhaltungspflicht unterlagen, fehlt es bis heute weitgehend an Inventarisationen – was die Arbeit aufwändig gestaltet.47 Diese Erhebung ist entsprechend 43

François/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, a.a.O., S.9. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart 2009, S.45. 45 Ebd., S.9. 46 Für die Untersuchung kamen freigegebene Kasernen, insbesondere solche, welche durch den Abzug der Alliierten frei wurden, infrage. Ausgeschlossen waren Militärflug- und Luftlandeplätze, militärische Übungsplätze, Militärdepots sowie Raketenstellungen und Nachrichtenanlagen, da sich diese aufgrund ihrer Lage, Größe und Struktur nicht für Hochschulstandorte eignen. 47 Militärische Einrichtungen waren nicht vom klassischen Baurecht erfasst und sind es auch 44

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nicht abschließend und erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ging vielmehr darum, eine Übersicht und exemplarische Sichtweise auf Typen von Erinnerungskultur(en) zu erarbeiten. Die Ermittlung der Objekte erfolgte in drei Schritten: In einem ersten Schritt wurden die fünf Geschäftsstellen der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) angeschrieben.48 Mithilfe der Geschäftsstellen konnten vier Konversions-Projekte ausgemacht werden (Magdeburg-Stendal, Osnabrück, Bremen, Weimar). In einem zweiten Schritt wurden die einschlägig vorhandenen Studien zu den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg durchgearbeitet.49 Dadurch konnten vierzehn weitere Projekte bestimmt werden (Münster, Detmold, Soest, Iserlohn, Bielefeld, Trier, Zweibrücken, Birkenfeld, Koblenz, Worms, Frankfurt (Oder), Potsdam, Lausitz, Brandenburg). In einem dritten Schritt erfolgte eine breit angelegte Webrecherche, in welcher weitere zwölf Projekte festgemacht werden konnten (Pirmasens, Fulda, Saarbrücken, Wuppertal, Cottbus, Berlin, Würzburg, Aschaffenburg, Baden-Baden, Lüneburg, Göttingen, Oldenburg). Um die erarbeiteten Angaben zu überprüfen sowie eine Vorauswahl bezüglich räumlicher und partizipativer Inszenierungsstrategien zu treffen, wurde den Universitäten und Hochschulen per E-Mail einen Fragebogen50 zugestellt. Von den angeschriebenen Universitäten und Hochschulen besuchte ich auf einer anschließenden Forschungsreise ausgewählte Standorte für eine vertiefte Recherche. Ziel der Recherche war eine szenografische Hermeneutik räumlicher Vermittlungsstrategien zu Erinnerungskultur(en), wobei nach möglichst verschiedenen Inszenierungsstrategien gesucht wurde. Dazu untersuchte und dokumentierte ich die szenografischen Methoden und Strategien, wie an den besuchten Standorten die Militärvergangenheit inszeniert, gezeigt und heute nicht (§70, Abs. 3 Landesbauordnung Baden-Württemberg). E-Mail von Hr. Wocher am 21.03.2014. 48 Seit 2005 vermarktet die BImA als Immobiliendienstleister der Bundesrepublik Deutschland freigewordene Militärflächen der Bundeswehr und der ausländischen Streitkräfte. Ziel ist, in Zusammenarbeit mit den Kommunen und gegebenenfalls auch mit den Investoren, die Liegenschaften so schnell wie möglich einer zivilen Anschlussnutzung zuzuführen. 49 Vgl. Bernd Wuschansky: Zivile Nutzungen ehemaliger Kasernen. In: DABregional 04/2009, S.15-18; Ministerium für Wirtschaft des Landes Brandenburg (Hg.): 15 Jahre Konversion im Land Brandenburg. Drucksache 4/4063. Potsdam 2007; Ministerium der Finanzen des Landes Rheinland-Pfalz (Hg.): Rheinland-Pfalz Konversion im Hochschulbau, 5 Projekte. Mainz 2004; Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Zehn Jahre Truppenabzug und Konversion in Nordrhein-Westfalen. (Konversionsbericht Bd.IV) Düsseldorf 2000. 50 Die Universitäten und Hochschulen wurden unter anderem gefragt, ob es ein Konzept im/zum Umgang mit der militärischen Vergangenheit gibt und ob repräsentierende Objekte wie Architekturen, Denkmäler, Tafeln etc. angebracht sind. Mehrheitlich haben die Institutionen auf diese Fragen mit Nein geantwortet. Daher kann der Schluss gezogen werden, dass bis anhin Informationen zur ehemaligen Nutzung eher selten sind.

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dokumentiert oder auch verschleiert, de-thematisiert und verschwiegen wird. Die nähere Betrachtung beschränkte sich auf Objekte, welche räumlich die militärische Vergangenheit inszenieren oder gerade explizit darauf verzichten. Dabei wurden sowohl die Erinnerungsprozesse wie auch das Vergessen oder Verdrängen einbezogen. Einige der Standorte haben die Vergangenheit in Form von wissenschaftlichen Studien, Dokumentationen und Hinweisen mit Bildern und historischen Dokumenten auf ihren Websites publik gemacht. Da das Forschungsvorhaben explizit nach räumlichen Inszenierungsstrategien fragt, wurden diese Methoden und Strategien bei der Auswertung nur marginal berücksichtigt. PRÄSENTATION DER STANDORTE – INSZENIERUNG ALS ANALYSE-MITTEL FÜR SZENOGRAFISCHE RÄUME

Seit den 1980er Jahren gibt es eine Ausbreitung und Zunahme des Inszenierungsbegriffes. Dies ist insbesondere der Erlebnis- und Spektakelkultur geschuldet. Zu einer ersten Verbreitung des Inszenierungsbegriffes kam es bereits in den 1950er Jahren: „In Anlehnung an das Theater wurde der Begriff auf gesellschaftliche Situationen übertragen.“51 Seit den 1980er Jahren findet eine Ausweitung des Begriffs „vom Theater auf andere Kontexte und damit vom enger gefassten Bereich der Hochkultur auf die Populärkultur und schliesslich zum Alltag“ statt.52 Dadurch wurde die Inszenierung zu einem Leitbegriff in der Kulturtheorie. Spezifische Merkmale einer Inszenierung sind Absicht, Gegenstand sowie ein Publikum. Dabei handelt es sich um das öffentliche Einrichten eines Ereignisses oder einer Situation, einen bewussten Handlungsvorgang, um ‚etwas in Szene zu setzen‘ bzw. ‚Zur-Erscheinung zu bringen‘. Das Publikum muss nicht zwangsläufig anwesend, sondern kann auch abwesend sein. Inszenierungen sind medien- und gestaltungsspezifische Strategien der Einflussnahme, der Überzeugungs- und Affektsteuerung und insofern auch immer politisch zu verstehen. Grundsätzlich konnten an den besuchten Standorten drei Kategorien zum und im Umgang mit der militärischen Vergangenheit und Formen der Erinnerungen festgemacht werden: (1) Erinnerungen in Form von Denkmälern (Gedenktafeln), (2) Erinnerungen in Form von Fundgegenständen sowie (3) Erinnerungen in Form von Interventionen. Exemplarisch werden nachfolgend solche szenografischen Strategien und Methoden an einzelnen Beispielen vorgestellt: 51

Bernadette Fülscher: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02. Baden 2009, S.31. 52 Ebd., S.32.

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(1) Erinnerungen in Form von Denkmälern (Gedenktafeln) Die Streichhan-Kaserne in Weimar, eine Infanterie-Kaserne, wurde 1854-1859 von Carl Heinrich Ferdinand Streichhan im historistischen Stil errichtet und von sowjetisch-russischen Alliierten bis 1993 genutzt. Seit 2001 dient sie als sogenanntes Hochschulzentrum am Horn der Hochschule für Musik FRANZ LISZT. An die militärische Vergangenheit erinnert einzig eine Gedenktafel zum Dank an die Sponsoren mit folgendem Text: Der Umbau der Streichhan-Kaserne zu einem Lehr- und Übungsgebäude der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar wurde von der Europäischen Gemeinschaft kofinanziert.

Es scheint fast so, als ob die militärische Vergangenheit bewusst verschwiegen und die Information auf der Tafel nur preisgegeben wird, um den Geldgebern zu danken. Dieser Eindruck bestätigt sich im Gespräch mit Vertretern der Hochschule, welche darauf hinweisen, dass die jungen Leute, die hier studieren, kein geschichtliches Bewusstsein haben und man mehr Wert auf Infrastruktur, Fortschritt und Begegnungen für die Musiker legt. Ob die Studierenden diese Aussage teilen, konnte nicht überprüft werden. Trotz dem allgegenwärtigen Imperativ des Erinnerns, betonen einzelne Repräsentanten der besuchten Institutionen immer wieder auch die Wichtigkeit des Vergessens. Für sie gilt die Vergangenheit „als eine Last, der man sich nicht entziehen kann, denn als eine ‚Wahl des Vergangenen‘ [Herv. i.O.]“.53 Vielleicht liegt es daran, dass die Kasernen zwar Teile des NS-Systems, jedoch meist nicht direkt Schauplatz der Verbrechen waren. Vielleicht liegt es in der Präsenz und Erinnerung an die Besatzungsmächte nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Vielleicht liegen die Gründe auch einfach im Wunsch, nach vorne zu schauen. Darüber können hier nur Mutmaßungen erfolgen. Es drängt sich eine Nähe zu Verschleierungsstrategien auf. Diese können in Zusammenhang mit der sogenannten mentalen Dimension (Astrid Erll) von Erinnerungskulturen gebracht werden. Dies sind die „Vorstellungen und Ideen, Denkmuster und Empfindungsweisen“54 der Institutionen gegenüber ihrem Gebäude bzw. dessen Nutzungsgeschichte. Diese Gegebenheit näher zu vertiefen wäre aufschlussreich, entspricht jedoch nicht der Absicht der Studie, welche verschiedene Inszenierungstypen untersucht. Parallelen zu Verschleierungsstrategien in künstlerischen Interventionen sind vorhanden, man denke an Jochen Gerz’ Platz des unsichtbaren Mahnmals (1993). Auf den Pflastersteinen des Vorhofs des Schlosses in Saarbrücken wurden in einer anfangs geheimen Aktion die 2.146 Ortsnamen jüdischer Friedhöfe eingemeißelt und anschließend mit der beschriebenen Seite nach unten 53 54

Die Besichtigung und die Gespräche haben am 19.09.2013 stattgefunden. François/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, a.a.O., S.10.

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wieder eingesetzt. Dadurch werden das Werk bzw. die Namen für die Passanten unsichtbar. Die Absicht hier ist wohl eher dem Unvermögen bzw. der NichtDarstellbarkeit des Unvorstellbaren oder Abwesenden geschuldet als einer Verschleierung. Ein anderes Beispiel zum Umgang mit Gedenktafeln ist die Gelbe Kaserne in Frankfurt (Oder), eine ehemalige Grenadier-Kaserne, welche 1878-1881 gebaut und von der sowjetisch-russischen Besatzungsmacht bis 1992 genutzt wurde. Seit 1999 befindet sich hier das Seminargebäude der Europa-Universität Viadrina. An der Kaserne ist eine Tafel mit den historischen Zeitabschnitten angebracht: 1878-1881 als Infanteriekaserne errichtet; bis 1919 Grenadierregiment Prinz Carl von Preussen (2. Brandenburgisches) Nr. 12, das am 01.01.1814 an der Spitze der Schlesischen Armee unter Marschall Blücher bei Kaub den Rhein überschritt; ab 1920 Stab und 1. Bataillon des 8. Preussischen Infanterieregiments; 1931-1933 Kommandeur Oberst Erwin von Witzleben, Beteiligung am Attentat auf Hitler, hingerichtet am 08. August 1944; im Krieg Bombentreffer im Westteil; 1945-1947 Hauptlazarett für deutsche Kriegsgefangene aus sowjetischer Gefangenschaft; bis 1992 Haus der Offiziere der Sowjetarmee; 1993-1999 Umbau der gelben Kaserne durch das Landesbauamt Frankfurt (Oder) in drei Bauabschnitten zum Seminargebäude der Europa-Universität Viadrina.

Hier dient die Gedenktafel als ein Aufbewahrungsort für Erinnerungen an die Geschichte des Standortes. Solche Tafeln dienen der staatlichen Erinnerungs- und Geschichtspolitik als Speichergedächtnis in der Öffentlichkeit. Der deutsche Politikwissenschaftler Helmut König dazu: „Der Ort des politischen Gedächtnisses ist in pluralistischen Gesellschaften grundsätzlich der öffentliche Raum.“55 Das politische Gedächtnis ist immer mediengestützt und zeigt sich in öffentlicher Form wie Gedenktafeln oder Denkmäler (anschauliche Darstellungsform). Das bedeutet, dass das politische Gedächtnis tendenziell immer gewollt ist und nicht unbewusst wie das soziale Gedächtnis geformt wird. „In modernen Gesellschaften und demokratischen politischen Systemen ist die Gestalt der Erinnerungskultur normalerweise das Resultat [...] öffentlicher und für alle zugänglicher Debatten und Diskurse.“56 In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu fragen, wer über die Auswahl, die Verbreitung und den Anspruch der Deutungsangebote entscheidet. Mit dem Auszug und Abzug der Truppen aus den militärisch verwalteten Gebieten kommt es zu Umbrüchen. Diese haben Einfluss auf die kulturelle Identität und das kollektive Gedächtnis. Geografische und politische Räume 55 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2005, S.102. 56

König, Das Politische des Gedächtnisses, a.a.O., S.115.

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werden wieder zugänglich und neu angeeignet, neue Gedächtnisräume entstehen. Areale und architektonische Einrichtungen werden umbenannt, alte Relikte entfernt und neue zugefügt. Es kommt zu einem Funktionswandel bzw. die Orte mit militärischer Vergangenheit bekommen durch die Umnutzung eine Bedeutungsverschiebung. Beispielhaft für eine künstlerische Umsetzung im Kontext von Gedenktafeln ist The missing house (1990) des französischen Künstlers Christian Boltanski. In dem Werk verräumlicht er die Geschichte eines Gebäudes im Scheunenquartier in Berlin, welches kurz vor Kriegsende bombardiert wurde und wo bis heute eine Baulücke klafft. In Archiven ermittelte er Name, Wohndatum sowie Beruf der ehemaligen Bewohner. Die Informationen ließ er auf emaillierte Metalltafeln auf den Brandmauern angrenzender Häuser in Höhe der Etage, in der die Bewohner lebten, anbringen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Tafeln bringt er dadurch zusätzlich eine emotionale Ebene hinein. (Abb.1 u. 2)

Abb.1 The missing house (1990) von Christian Boltanski veranschaulicht die Abwesenheit eines ehemaligen Wohnhauses anhand von Informationen zu den Personen, welche hier wohnten. (© Christine Schranz)

(2) Erinnerungen in Form von Fundgegenständen Die Kürassier-Kaserne in Brandenburg wurde von 1877-1881 errichtet und von der sowjetisch-russischen Besatzungsmacht genutzt. Seit 1996 befindet sich hier die Fakultät der Wirtschaftswissenschaften der Fachhochschule Brandenburg. In der Bibliothek wurde eine Vitrine mit Schriftstücken und Fotografien zur militärischen Nutzung und dem Umbau zum Hochschulstandort eingerichtet.57 Ein weiteres Beispiel ist die Jäger-Kaserne in Aschaffenburg, welche 1896 gebaut und von amerikanischen Alliierten genutzt wurde. 1995 wurde das Areal zum Campus der Hochschule Aschaffenberg umgenutzt. In einer Vitrine wer57

Ebd., S.118.

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den aus Grabungen Gebrauchsgegenstände wie Helm, Feldflasche, Gasmaske etc. ausgestellt, die während den Bauarbeiten zum Vorschein kamen. Beide Standorte inszenieren Gegenstände der ehemaligen Kasernen. Beim ersten Beispiel handelt es sich um historische Dokumente und Quellen, beim zweiten Beispiel um Gebrauchsgegenstände. Sowohl die historischen wie alltäglichen Objekte verkörpern individuelle Zeugnisse ehemals vor Ort stationierter Soldaten. Durch die Erinnerungsobjekte werden Einzelschicksale erlebbar und der Kasernenalltag bekommt eine Gestalt. Im beschriebenen Umgang mit der militärischen Vergangenheit durch die neuen Nutzerinnen wird die materielle Dimension (Astrid Erll) von Erinnerungskulturen sichtbar. Für eine solche Form der Erinnerungskulturen sind die Medien sowie die Inszenierungsstrategien wirksam. „Erst durch die Kodierung in kulturellen Objektivationen [...] werden Inhalte des kollektiven Gedächtnisses“ für die Rezipienten zugänglich.58

Abb.2 The missing house (1990). (© Christine Schranz)

Bekanntes Beispiel und Vorbild für ein solches Vorgehen ist das mediale Gedächtnis von Warburg, welches auf das Konzept des kollektiven Gedächtnisses bzw. das Bildgedächtnis zurückgeht. Dabei ist es zentral, wie die Gegenstände, die Rezipienten sowie der Ort zusammenkommen. Durch szenografische Strategien kann der Blick gelenkt und eine intendierte Bedeutungsverschiebung erzeugt werden. Wichtig sind dabei die Präsentations- und Vermittlungsform, die Auswahl der Gegenstände sowie der Standort der Objekte. 58 Die Geschichte der Kaserne wurde zusätzlich in einer Festschrift aufgearbeitet. Vgl. Wolfgang Kusior: Zur Geschichte der Kürassierkaserne und ihrer Truppenteile in Brandenburg (Havel). In: Rainer Janisch (Hg.): 15 Jahre Fachhochschule Brandenburg. Brandenburg 2007, S.17-52.

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Im obigen Kontext steht auch die Arbeit Fired but Unexploded (2013) von Zsolt Asztalos, welche im ungarischen Pavillon auf der 55. Biennale in Venedig gezeigt wurde. In einer Videoinstallation zeigt er nicht explodierte Bomben (Blindgänger), welche er durch Umgebungsgeräusche in die Gegenwart holt. (3) Erinnerungen in Form von Interventionen Die Tauentzien-Kaserne in Stendal wurde 1936-38/39 errichtet und von den sowjetisch-russischen Alliierten genutzt. Sie ist Teil der Hindenburg Kaserne (drei Kasernenkomplexe) und wird seit 2001 von den Fachbereichen Wirtschaft und Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal genutzt. Im Kellergeschoss von Haus 3 (ehemaliges Unterkunftsgebäude) wurde vom Lehrkörper und den Studierenden ein kleines Museum eingerichtet. Ein eigentliches Ausstellungskonzept gibt es nicht und das Museum ist mit einer ständig wachsenden Sammlung von Erinnerungen vergleichbar. Entsprechend gehört dieses Beispiel eigentlich in die obige Kategorie ‚Erinnerungen in Form von Fundgegenständen‘. Da das Museum jedoch mit großem Engagement von der gesamten Hochschule initiiert, konzipiert und betreut wird, wird es hier mit Fokus auf eine partzipative Intervention angeschaut. Das grobe Konzept beinhaltet zwei parallel laufende Zeitstrahlen von Kaserne und Hochschule, welche sich überschneiden, kreuzen und fortgeführt werden. Dabei wird mit Bildern, Texten und Gegenständen über die Entwicklung der Hochschule sowie über die Geschichte der Kaserne informiert. Auf Anfragen werden öffentliche Führungen durch die Anlage und das Museum durchgeführt. Im Gespräch mit Vertretern der Hochschule betonen diese die Absicht dahinter, die Geschichte Ostdeutschlands zu erhalten. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist

Abb.3 Im Keller des ehemaligen Mannschaftshaus wurde von dem Lehrkörper und den Studierenden ein Museum zur Geschichte der Kaserne eingerichtet. (© Christine Schranz)

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ihnen wichtig, da diese verschwindet und sichtbar bleiben soll. Hier sei man stolz, dass eine ehemals militärische Anlage eine friedliche Bestimmung bekommen hat. Entsprechend gibt es auch keine Vorbehalte gegenüber der Vergangenheit.59 (Abb.3) Ein anderes Beispiel ist die Von-Einem-Kaserne in Münster, eine Kavallerie-Kaserne, welche zwischen 1898-1901 errichtet und von den britischen Alliierten bis 1994 genutzt worden ist. Im Jahr 1994 kaufte das Land NordrheinWestfalen das Areal, um es als Hochschulstandort zu nutzen (Fachhochschule Münster, Kunstakademie Münster und Westfälische Wilhelms-Universität). Zu diesem Zweck wurde das gesamte Gebiet zu dem heutigen Leonardo-Campus umgebaut. Neben der Renovierung der denkmalgeschützten Gebäude wurden auch Neubauten errichtet. In den alten Stallungen – der heutigen Bibliothek – erinnert der künstlerisch-architektonische Eingriff Das Pferd an der Decke (2010) an die frühere Nutzung als Reiterkaserne. Das Dach der Bibliothek steht auf drei Stützen, deren Form eine Momentaufnahme galoppierender Pferde (-Beine) festhalten, die früher hier standen. Die Grundlage für die Arbeit wurde in einem studentischen Seminar gelegt. (Abb.4 u. 5)

Abb.4 Das Pferd an der Decke (2010) von Zauberschön verweist auf die Nutzung als Reiterstall der heutigen Kunstakademie Münster. Als Ausgangslage dienten die Studien des britischen Fotografen Eadweard Muybridge (1830–1904) The Horse in Motion von 1878, welche in eine eigene Formsprache übersetzt wurden. (© Roland Borgmann, Quelle: Zauberschön)

Der Umgang der beschriebenen Strategien und Eingriffe entspricht einer sozialen Dimension (Astrid Erll) von Erinnerungskultur. Eine solche beinhaltet, dass „die Trägerschaft des Gedächtnisses: Personen und gesellschaftliche Institutionen“ an der „Produktion, Speicherung und dem Abruf des für das Kollektiv relevanten 59

Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.102.

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Abb.5 Das Pferd an der Decke (2010). (© Roland Borgmann, Quelle: Zauberschön)

Wissens beteiligt sind“. Solche Erinnerungsformen stehen im Zusammenhang mit einem partizipatorischen Selbstverständnis des Szenografiebegriffes. Sie stehen im Blickwinkel mit dem Teilhaben und Teilnehmen, einer Akteur-NetzwerkTheorie (gesellschaftliche Interaktion) sowie der Macht/Wissen-Komplexe60. Der Lehrkörper und die Studierenden sind dadurch nicht nur Nutzerinnen sondern auch Expertinnen für die Nutzungsgeschichte ihres Standortes. Dabei interessiert nicht die wissenschaftlich-standardisierte Aufbereitung des Materials, sondern die eigene Teilhabe an Gestaltungsprozessen sowie die „demokratische[n] Planungs-, Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse“61 durch szenografische Strategien. Im obigen Kontext partzipatorischer Interventionen kann auch Zermahlene Geschichte (1997-2003) von Horst Hoheisel und Andreas Knitz gelesen werden. Aufgrund der Sanierung und unterirdischen Erweiterung des Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar am Marstall, mussten im Innenhof platzbedingt zwei denkmalgeschützte Gestapo-Gebäude weichen. Bei den Gebäuden handelt es sich um eine ehemalige Wagenremise und späteres Gefängnis sowie eine Verwal60 61

Die Besichtigung und die Gespräche haben am 20.09.2013 stattgefunden. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.102.

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tungsbaracke der Gestapo Leitstelle Weimar, eine Sammelstelle für Deportationen. In einer öffentlichen Performance zermahlten die beiden Künstler mithilfe des Publikums die beiden Baracken und kennzeichneten nach den Umbauarbeiten die Grundrisse mit dem geschredderten Material, indem sie die Späne in Form eines Bodenbelages als feste Installation ausbreiteten. (Abb.6 u. 7)

Abb.6 u. 7 Die Installation Zermahlene Geschichte (1997-2003) von Horst Hoheisel und Andreas Knitz erinnert an den geschichtsträchtigen Ort des heutigen Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. (© Christine Schranz)

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AUSBLICK ZU EINER KRITISCHEN SZENOGRAFISCHEN PRAXIS

Umgenutzte Kasernen sind heute in erster Linie Orte der Bildung. Trotz der Umnutzungen lastet den Standorten eine mehr oder weniger sichtbare Vergangenheit an. Die Orte strahlen eine besondere Atmosphäre aus. Nach dem deutschen Philosophen Gernot Böhme sind Atmosphären räumlich ergossene Gefühle.62 „Räume besitzen ebenso wie Dinge eine Aura, so dass sich eine Atmosphäre [...] zwischen Subjekt und Objekt bilden kann.“63 Die Atmosphäre ist an die Situation, an den Ort gebunden. Die Räumlichkeiten (Erika Fischer-Lichte) können dadurch eine eigene Raumwirkung entfalten. Darüber hinaus weisen sie verschiedene Zeit- und Nutzungsschichtungen auf, welche mit den Schriftüberlagerungen eines Palimpsests vergleichbar sind. Die Konversionen – oftmals eine pragmatische Lösung für ein Ressourcendefizit – eröffnen jedoch auch die „Steuerung der Prozesse des Erinnerns und Vergessens in einer Gesellschaft“.64 Nämlich dadurch, wie die neuen Nutzerinnen mit der Vergangenheit umgehen. Der Umgang mit den teilweise geschützten Anlagen widerspiegelt die aktuelle Haltung einer Gesellschaft.65 Mit der Szenografie kann ein möglicher Diskurs über die Vergangenheit beeinflusst werden. Die Inszenierungen können auch als Gesten für Sicherheit und Vertrauen sowie zur Aktivierung von Friedensprozessen verstanden werden. Die aufgegebenen militärischen Standorte sind Teil der Geschichte, als Teil dieser Geschichte vermitteln sie diese auch. Sie können zwischen Vergangenheit und aktuellem Zeitgeschehen eine Verbindung schaffen und in die Gegenwart geholt werden. Vergangenheit erhält seine Form und Deutung in der Gegenwart, im Falle der Konversionen durch die neuen Nutzerinnen. Durch szenografische Strategien werden einzelne Aspekte ihrer Geschichte räumlich inszeniert und dargestellt. Nebst der Inszenierung ist die Partizipation ein zentraler Aspekt. Die neuen Nutzerinnen können aktiv in das Zeitgeschehen eingreifen und sich daran beteiligen. Sie tragen dadurch zur Verantwortung der Deutungshoheit bei und stehen somit „vor der Aufgabe zu entscheiden, was sie bewußt tradieren möchte[n] und was sie dem Vergessen und dem zufälligen Wiederentdecken anheim“ geben.66 62 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977. 63 Claudia Mareis: Wer gestaltet die Gestaltung? Zur ambivalenten Verfassung von partizipatorischem

Design. In: Claudia Mareis/Matthias Held/Gesche Joost: Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs. Bielefeld 2013, S.9-20, hier S.20. 64 Vgl. Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. München 2006, S.16. 65 Gertrud Lehnert: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S.15. 66 König, Das Politische des Gedächtnisses, a.a.O., S.117.

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Es ist virulent, wie die Geschichtsschreibung fortgesetzt und die Vergangenheit thematisiert wird. Was für die Geschichtsschreiber und Archive richtig erscheint, mag für die Bildungsstätten weder sinnvoll noch praktikabel sein. Jedes Areal hat seine eigene Geschichte und schreibt durch die neuen Nutzerinnen diese weiter. Dadurch rückt (rücken) die Erinnerungskultur(en) in den Fokus der Umnutzungen. Die Standorte sind halb-öffentliche Orte67, die eine publikumswirksame Ausstrahlung in die umgebende Stadt haben. Offene Veranstaltungen machen sie zu öffentlichen Versammlungsorten. Auffallend ist, dass im Gegensatz zum anerkannten kulturellen Erbe, welches die Orte meist in Form von Tafeln präsentieren bzw. näher bringen, es bis auf wenige Ausnahmen an solchen Informationsmaßnahmen fehlt. Durch die Analysen der szenografischen Räume konnten zwei Tendenzen im und zum Umgang mit militärischen Orten festgestellt werden: ‚Inszenierte Erinnerung‘ oder ‚keine Erinnerung‘ (Nicht-Inszenierte Erinnerungen). Diese Feststellung entspricht derjenigen der deutschen Philosophin Sybille Krämer, welche sagt: „Die Erinnerung ist kultivierbar, das Gedächtnis ist inszenierbar. Das Vergessen aber stößt uns zu; es ist dasjenige, was sich jedweder Inszenierung entzieht.“68 Durch die Inszenierungen und partizipativen Strategien wird das Aufarbeiten der (Nutzungs-)Geschichte selbst zur Erinnerungsleistung bzw. zum szenografischen Eingriff. Mit den szenografischen Konzepten können die Erinnerungen an die Orte wachgehalten und aktualisiert werden.

67 Vgl. Wilfried Lipp: Einleitung. In: Ders.: Denkmal Werte Gesellschaft. Zur Pluralität des Denkmalbegriffs. Frankfurt am Main 1993, S.24f. 68 Klaus Kornwachs: Entsorgen von Wissen. In: Michael Petzet/Uta Hassler (Hg.): Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft. (ICOMOS, Hefte des Deutschen Nationalkomitees 21) 1996, S.26-33, hier S.32.

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PAMELA C. SCORZIN

SZENOKRATIE DER ERREGUNGSKULTUR ZUR RE-INSZENIERUNG UND APPROPRIATION DER GEGENWÄRTIGEN GLOBALEN PROTESTKULTUR IN DEN ZEITGENÖSSISCHEN KÜNSTEN

Anhand von ausgewählten sparten- und medienübergreifenden Beispielen, verschiedenen aktuellen Mixed-Media-Installationen und einem populären Musikvideoclip diskutiert dieser Beitrag zur Politik der Inszenierung aus der Perspektive des Kunstwissenschaftlers ein besonderes kulturelles Phänomen der Zeitgeschichte, das hier mit dem Neologismus ‚Szenokratie‘ umschrieben wird. Gemeint ist damit zunächst die schiere Ausweitung der Szene als neue kreative Protestform. Neben karnevalesken Aufführungen und Clownerien, etwa in Paraden, Maskeraden oder in einem improvisierten Straßentheater, lässt sich weit über die eigentliche Theaterbühne hinaus gegenwärtig die vermehrte kreative Generierung von spektakulären Schauplätzen für Dramen, Auftritte und symbolische Handlungen der politischen Demonstration und des gesellschaftlichen Protests in den verschiedensten Weltregionen beobachten. Es gilt heute das Credo, ohne Szene keine Sichtbarkeit und Wahrnehmung in der globalen Mediengesellschaft. Die theatralische Effektivität dieser neuen globalen Szenokratie als ein wirkungsvolles taktisches Instrument zur Darstellung der Unzufriedenheit, der Empörung, der Entrüstung und des Widerstands von unten führt jedoch, medial erfahren, auch in eine dauerhafte neue Erregungskultur. Denn am Ende geht in ihr die vorherrschende Ökonomie einer allgegenwärtigen permanenten Aufmerksamkeits- und Eventkultur nun inszenatorisch in einer weiteren Stufe mit der eruptiven und ereignishaften Produktion von Affekten eine völlig neue Wirksamkeitsmacht und Nachhaltigkeit ein. Was bedeutet es weiterhin, wenn diese medienwirksame neue Inszenierungsform der Szenokratie, die ihre auffallende Erscheinung zuvörderst den Geschehnissen und Ereignissen sowie den emotional befrachteten Bildern von Protestlern, Demonstranten und Aufständischen der globalisierten Gegenwart – in ihrer kreativen Rolle als Bürgerkünstler und zivile Performer – verdankt, und dabei formalästhetisch wie inhaltlich noch an den kunst-avantgardistischen Aktionismus der 1960er und 1970er (i.e. Aktionskunst, Fluxus, Event, Happening, Body Art, Performance Art u.a.m.) erinnert, von der professionalisierten Disziplin Szenografie umgehend adaptiert respektive appropriiert wird bzw. kreative Ausdrucksformen, inszenatorische Darstellungsmittel und schlagkräftige Bilder der allgegenwärtigen medienorientierten Szenokratie innerhalb der

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aktuellen kollektiven Protestkultur sofort im werksignatur-orientierten und kommerzialisierten Betriebssystem Kunst und Populärkultur recycled respektive weiter ästhetisiert werden? Darüber hinaus stellt sich außerdem die generelle Frage, ob es denn heute in einer umfassend technologisch vernetzten und globalisierten Medienkultur wirklich noch ohne die spontane Affektproduktion der wirksamen Effekte von medienorientierten Inszenierungen und Performanzen politische Aufstände und Unruhen, gesellschaftliche Massenproteste, Rebellionen oder Revolutionen in den verschiedensten Gesellschaften und Kulturen der Gegenwart überhaupt noch vorstellbar wären? Ohne wirklich gute Szenen und eindrucksvolle Bilder wird heute schließlich kaum mehr berichtet und wahrgenommen. Zum allgemeinen theatralisch-affektiven und performativ-aktionistischen Formenvokabular der weltweiten zeitgenössischen Protestkultur gehören heute zumindest ebenfalls immer ausgewählte Schauplätze, besondere Bühnen und überschaubare Settings, auf denen Akteure und Charaktere als Regisseure, Dramaturgen und Atmosphärenmanager Gruppen und Massen strategisch formieren, dynamisch choreografieren wie symbolisch orchestrieren, oder selbst als gefeierte Protagonisten und Helden auf den eingerichteten Bühnen der lokalen wie globalen Sichtbarkeit wirken.

Abb.1 „Occupy Frankfurt“, 2013. (Foto: © Dirk Gebhardt, Köln)

Wer für politische Kundgebungen oder zum Demonstrieren mit Fahnen, Bannern, Plakaten, Flugblättern, Transparenten und anderen visuellen Zeichen auf die Straße, die Plätze oder in die Parks und andere städtische Freiräume geht, weiß, dass heute immer auch eine Live-Kamera dabei ist, die instant ihre Aufnahmen an weitere Rezipienten als nur die Partizipienten versendet, und damit

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gleichzeitig eine enorm größere Öffentlichkeit schafft. Die lokalen Szenen weiten sich damit virtuell in den globalen Medienraum. Zum Spiel des öffentlich wirksamen Aufruhrs und der medienorientierten Protestaktionen gehören dabei nicht nur Körperrhetoriken in ritualisierten Bewegungen, Gesten und Mimiken, sondern gerade auch Kostüme, Uniformen und Masken, etwa demonstrativ charakterisierende Verkleidungen zum weiteren individuellen Schutz und zur Anonymisierung. (Abb.1) Mit der gegenwärtig dramatischen Ausweitung der theatralischen Szene auf die Straßen und in den Stadtraum, die in unseren Beispielen aus inszenierten Performances und kreativen Interventionen jeweils ein Stück von spontaner Entrüstung, Empörung, von Aufstand, Protest und Widerstand behandeln, vergrößert sich jedoch nicht nur lokal der öffentliche Zuschauerkreis, der unweigerlich die Rezipienten zu affizierten Partizipienten in das erregte gesamte Geschehen involviert. Die temporäre Perzept- und Affektproduktion der direkten lokalen Inszenierungen eruptiver Massenproteste und spontaner Massenmobilisierungen erfahren durch die digitalen Kommunikationsmittel einer umfassend technologisch vernetzten und globalisierten Kultur dabei auch eine schier unbegrenzte massenmediale Sichtbarkeit und Wahrnehmung mit potenziell hoher Virulenz und nachhaltiger Wirksamkeit. Aus direkter, spontaner Entrüstung, Empörung und Erregung mit punktuell lokalen Aktionen und anonymen zivilen Inszenierungen entsteht über ihre instante massenmediale Visualisierung in global distributierten digitalen Bildern und Filmen weltweit seit 2011 vielmehr der Eindruck eines Zustands indirekter permanenter Erregung mit rasant wechselnden revolutionären Schauplätzen und explosiven Gewalteskalationen: u.a. in Tunesien, Libyen, Kairo, Großbritannien, Athen, Madrid, Manhattan, Frankfurt, Stuttgart, Istanbul, Kiew, Thailand oder Syrien. Digitale Kameras, internetfähige Smartphones und Photo Apps wie Camera+, Instagram oder Hipstamatic revolutionieren dabei als verbreitete aktuelle Kommunikationstechniken in diesen Prozessen einer von der Szenokratie beherrschten weltweiten Erregungskultur derzeit auch unser Verständnis vom Wesen und Charakter der Fotografie als Medium der Dokumentation und Kommunikation von politischen Geschehnissen und revolutionären Ereignissen. Diese befindet sich seit der technologischen Revolution und umfassenden Digitalisierung im 20. Jahrhundert sowie dem Aufkommen zahlreicher neuer und unterschiedlicher fotokünstlerischer Praxen in den Bildenden Künsten ohnehin bereits längst in einem Zustand der Post-Photography. Und sie untersteht dabei zugleich neuen mächtigen Wettbewerben, denn die grundlegendste Veränderung liegt im Zeitalter des Web 2.0 wohl in der Emanzipation der User, iReporter und citizen photojournalists, vormals Dilettanten und Amateure genannt, die heute in Konkurrenz zu den professionellen Fotografen und Filmern ihre eigenen Aufnahmen

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ohne redaktionelle Instanzen und offizielle Nachrichten-Kanäle instant weltweit miteinander austauschen und global miteinander teilen können. Wer heute nur Zugang zu den bedienungsleichten technologischen Gerätschaften und vorhandenen Netzwerken einer weltweiten digitalen Kommunikation hat, kann im Grunde genommen auch zum Sender von Bildern und Botschaften mit potenziell globaler, d.h. viraler politischer Wirksamkeit werden. Mit der damit einhergehenden Inflation der gesellschaftlich wirksamen fotografischen wie filmischen Bilder sind aber Fragen und Aspekte der konventionellen Bild- und Medienkompetenzen offensichtlich erst einmal außen vor. Wichtiger als formal-ästhetische Kriterien allein scheint nun beispielsweise dagegen vorrangig die soziale Mitteilungsart und der emotionale Grad der heute weltweit verbreiteten (audio-)visuellen Aufnahmen, d.h. ihre strategische Intentionalität, und die Erwägung, ob sie zunächst überhaupt für Irgendjemanden von irgendwelcher Relevanz sein könnten. Die spontane Kreativität des Fotografierens und Filmens ist heute damit umso stärker rezipientenorientiert und steht jeweils immer in bestimmten gesellschaftlichen wie politischen Handlungszusammenhängen. Über (audio-)visuelle Aufzeichnungen, und immer weniger über Sprache und Schrift, werden in diesen globalen wie transkulturellen schnellen digitalen Kommunikationsprozessen vorrangig die Affekthaushalte der internationalen Gesellschaften sinnlich-emotional adressiert und wirkungsvoll modelliert. Emotional befrachtete Bilder von politischen Protestaktionen und gewalt­tätigen Rebellionen der Zeit beispielsweise, die von sogenannten iReporters und neuen citizen journalists über einschlägige Social-Media-Plattformen als authentische (Augen-)Zeugnisse im Internet verbreitet werden, sind dabei häufig weniger Informationsträger als vielmehr reine Emotionserreger, die jeweils stark politisch Partei nehmen. Je szenisch schlagkräftiger, desto weniger scheinen sie auch wirklich objektiv zu informieren, desto weniger lassen sie sich als anonyme Dokumentationen verifizieren. Dabei entstehen gleichzeitig in einer aktuellen Ära der von der Szenokratie beeinflussten Post-Photography auch neue Vorstellungen darüber, was den eigentlichen Content (Inhalt) und dessen Impact (seine Wirkungskraft und Nachhaltigkeit) auf ein bestimmtes Zielpublikum betrifft und gemeinhin charakterisiert. Denn auch darüber entscheiden heute schließlich nicht mehr allein etwa nur etwa die Profis wie etablierte Redakteure, Kritiker, Theoretiker oder Experten, sondern vielmehr auch die Masse der unentwegt Bilder-Schießenden und -Versendenden selbst auf ihren dafür eigenen, selbst geschaffenen digitalen Plattformen im World Wide Web. Wie stellen sich nun aber diejenigen, die sich heute noch photo professionals oder dokumentarische Bilderproduzenten nennen wollen, und dabei oftmals

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lediglich auf ihre zertifizierten akademischen Ausbildungswege verweisen, sowie die akademischen Bildkünstler dieser neuen Konkurrenz der aktuellen großen photo communities einer digitalen und technologisch vernetzten, globalisierten Weltgemeinschaft? Hat sich die Fotografie dabei nicht auch schon selbst längst zu Tode geschossen? Und das nicht nur, weil sie mit der umfassenden Digitalisierung und technologischen Vernetzung ohnehin heute oftmals nur noch als ein hybrides Artefakt der Intermedialität einer convergence culture zu erfahren ist. Und sind wir dennoch nicht gleichzeitig auch dabei, ihre phänomenale Wiederauferstehung in Form neuer vitaler post-fotokünstlerischer Praktiken und heterogener Experimente zu erleben, als eine reflexive Post-Photography der Spätmoderne, nicht zuletzt als aufklärerische multi-mediale Meta-Inszenierungen? Ob dies nur allein unter den Konditionen der Beobachtung und Analyse, der Kommentierung, Adaption und Zitation, (De-)Kontextualisierung und Dekonstruktion zeitgenössischer Fotografie-Praktiken möglich ist, mag immerhin noch dahingestellt sein, stellt aber durchaus ein Phänomen der gegenwärtigen postmodernen visuellen Kultur insgesamt dar, auf das auch schon Peter Geimer in seiner Besprechung der aktuellen Münchner Ausstellung „BILDGEGEN-BILD“ unlängst hingewiesen hat: Längst ist der Glaube an einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit gebrochen, und seit beinahe einem halben Jahrhundert bezieht sich die bildende Kunst deshalb immer stärker auf die Bildwelten der Medien. Das aktuelle Geschehen begegnete den meisten Beteiligten bereits in medial aufbereiteter Form, und wer als Künstler hier Position beziehen will, hat es folglich nicht mit den Ereignissen selbst, sondern immer schon mit ihrer Verwandlung in Bilder zu tun.1

Ein gelungenes, weil in seiner Originalität und Wirksamkeit höchst eindringliches und aufklärerisches Fallbeispiel hierfür liefert eine szenografierte Mixed-Media-Installation von Rabih Mroué (*1967 in Beirut), die nach ihrer Premiere 2011 im Walker Art Museum in Minneapolis (USA) sowie im Frühjahr 2012 im Berliner Haus der Kulturen der Welt überdies prominent auf der dOCUMENTA (13) im Südflügel des Kasseler Kulturbahnhofs ausgestellt worden ist. Sie dient im Weiteren auch als ein kontrovers diskutiertes jüngeres Beispiel dafür, wie das allgegenwärtige Affektmanagement der medialen Szenokratie heute es selbst für die Künstler erforderlich macht, nicht nur unterschiedlichste digitale Formate souverän zu beherrschen, sondern dabei auch noch eine metaszenografische Kompetenz zu entwickeln, die es ermöglicht, auf einer künstlerischen Meta-Bühne ganze Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume zum aktuellen Regime der allgegenwärtigen Inszenierungskultur zu entwerfen und darin ein 1 Peter Geimer: Kunst im Zeichen der Gewalt. Das Unsichtbare fest im Blick. in: FAZ vom 07.08.2012,

im Internet abrufbar unter der URL: http://www.faz.net/-gsa-71uym (Zugriff 9.5.2015)

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konkurrierendes aufklärerisches Wahrnehmungsangebot in der gegenwärtigen Erregungskultur für das Publikum zu gestalten. Rabih Mroués szenografierte Lecture-Performance-Installation trägt be­zeich­­­nen­­­derweise den sehr allgemeingültigen Werktitel „The Pixelated Revo­ lu­tion“, der jedoch sofort seine doppeldeutige Bedeutung erkennen lässt, wenn man nicht nur das Abstract zu dieser vielbesprochenen dOCUMENTA (13)-Arbeit liest: Die Lecture-Performance The Pixelated Revolution von Rabih Mroué handelt vom Einsatz von Mobiltelefonen während der syrischen Revolution. Der Vortrag untersucht die zentrale Rolle, welche die mit diesen Geräten aufgenommenen Fotografien aufgrund ihrer Fähigkeit, über virtuelle und virale Kommunikationsplattformen geteilt und verbreitet zu werden, bei der Information und Mobilisierung der Menschen während der revolutionären Ereignisse spielten.

Abb.2 Internet-Karikatur aus dem Arabischen Frühling 2011.

Nun wird von Kulturwissenschaftlern schon eine geraume Zeit lang über den strukturellen Zusammenhang etwa zwischen den politischen Geschehnissen des sogenannten Arabischen Frühlings (Arabellion) und den neuen globalen digitalen Kommunikationstechnologien respektive Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter nachgedacht und heftig spekuliert – beide werden dabei als noch nicht abgeschlossene revolutionäre Ereignisse und transformatorische Entwicklungsprozesse der kulturellen Gegenwart eingestuft, die kulturgeschichtlich gesehen miteinander eng in struktureller Wechselwirkung und in gegenseitiger Bedingung stehen könnten. (Abb.2) Denn politische Aktivisten, Aufständische, Rebellen, Opfer, Demonstranten oder Protestler haben offenkundig nun zum ersten Mal in der Geschichte sich eine ungleich größere

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Möglichkeit geschaffen, Nachrichten und Botschaften, und hier insbesondere einschlägige Bilder gesellschaftlich revolutionärer Ereignisse, selbst zu generieren und auch instant global zu distributieren, d.h. ‚Geschichte‘ live über alle Grenzen und Zensuren hinweg für eine interessiert beobachtende und parteiisch zu affizierende Weltgemeinschaft zu dokumentieren und global zu kommunizieren. Im Gegensatz zu den professionellen Dokumentar- und Reportagefotografen sind sie dabei in der Regel weder offiziell respektive institutionell dazu beauftragt, sondern vielmehr aus eigenem Interesse dazu motiviert und dabei auch aktiv in das aufzuzeichnende Geschehen direkt involviert. Sie sind darin offensichtlich auch nicht auf der Suche nach ästhetisch anspruchsvollen und sinnbildlich aussagekräftigen, technisch perfekten Aufnahmen und tradierten Pathosformeln, wie etwa die professionellen Fotografen und Reporter, sondern nach selbst erfahrenen, emotional ergreifenden Aufzeichnungen. Schwere Zeiten also allemal für all jene, die sich bislang sicher in tradierten Hegemonien und sozialen Hierarchien wähnten! Nun führt aber auch die Inflation der vermeintlich authentischen Bilder aus den verschiedensten gegebenen revolutionären Ereignissen dieser Welt nicht nur zu einer ausgeprägten Rivalität mit den quasi offiziellen (d.h. oftmals auch staatlich sanktionierten) und ‚professionellen‘ Medienbildern der institutionellen und politischen Berichterstattungen, sondern vielmehr auch zu einer fatalen gegenseitigen Konkurrenz, die wiederum auch zu einer gewissen Wirkungslosigkeit im globalisierten medialen Aufmerksamkeitswettbewerb und in der Effektivität heutiger bildlicher Ästhetiken wie Rhetoriken führt, und die Rezipienten damit auch unter dem Regime der Szenokratie eher weiter perzeptiv-affektiv abstumpft als vielmehr nachhaltig emotionalisiert oder gesellschaftspolitisch agitiert. Mit dem Medienkünstler Rabih Mroué gesprochen gilt in der Erregungskultur der allgegenwärtigen Szenokratie daher vielmehr: „Wir sehen (plötzlich mit einem Mal) alles und nichts. Wir sind blind.“2 Damit eröffnet sich auch ein Diskurs, der für viele reflektierte Bilderproduzenten und -theoretiker gegenwärtig zunehmend zentral wird: Wie könnten die Bilder einer von der Szenokratie dominierten Post-Photography generell wieder eine nachhaltigere Wirksamkeit und kulturelle Reflektiertheit erreichen, die die Rezipienten emotional berührt, gleichzeitig intellektuell anregt und wirkungsvoll aufklärt sowie zum ethisch verantwortungsvollen gesellschaftspolitischen Handeln aktiviert, anstelle schlimmstenfalls lediglich weiterhin einen kommerzialisierten, konsumistischen Voyeurismus an der revolutionären Gewalt zu bedienen. Wie auch sinnlich-ästhetisch dabei nicht alles bloß ins Pathos inszeniert respektive die notorisch passiven Zuschauer in eine apathische 2 Vgl. Rüdiger Schaper: „Wir sehen alles und nichts. Wir sind blind“ . In: Der Tagesspiegel vom 31.05.2012,

im Internet abrufbar unter der URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/dokumente-der-gewalt-wirsehen-alles-und-nichts-wir-sind-blind/6691686.html

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Lethargie des empathischen Mitleidens und emotionalen Überwältigens (ver-) führt, die die erzwungene direkte Augenzeugenschaft der vermeintlich authentischen Bilder aus den verschiedensten revolutionären Geschehnissen und gewaltvollen Ereignissen der Gegenwart bei ihnen häufig lediglich auszulösen vermag. Der in New York lebende Chilene Alfredo Jaar (*1956 in Santiago de Chile)3 hat sich daher entschieden, seine eigenen Aufnahmen vom unvorstellbaren Genozid der letzten Jahre in Ruanda dem Publikum als thematisch wie konzeptuell gegenwärtig, aber als optisch unsichtbar zu präsentieren4 – seine bildjournalistischen Aufnahmen der unmittelbaren Gräuel und Gewalt, die grausam verstümmelten und brutal getöteten Opfer aus dem afrikanischen Bürgerkriegsgebiet, werden auch nicht mehr für vermeintlich ‚gute Zwecke‘ weiter visuell – d.h. im Medium und Format der klassischen Dokumentarfotografie – einer größeren, distanzierten Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Seine Bürgerkriegsaufnahmen existieren zwar als authentische historische Zeugnisse in Form sinnlich-ästhetischer Artefakte und werden dennoch nicht mehr weiter optisch sichtbar für ein größeres Publikum ausgestellt und museal inszeniert: Für seine in München gezeigte Installation ‚Real Pictures‘ wählte er einige der Fotos aus, versenkte sie in schwarze Archivboxen und versah deren Außenseiten mit detaillierten Beschreibungen der verborgenen Bilder. Jaars Friedhof der Bilder changiert zwischen Zeigen und Verbergen. Die Fotos sind gegenwärtig, aber man sieht sie nicht. Sie werden dem Blick entzogen, aber aufgrund ihrer Beschreibung baut sich zugleich ein Vorstellungsbild auf, das uns die Personen und Ereignisse möglicherweise näher bringt als das tatsächliche Foto dies vermocht hätte, welches die Dargestellten der restlosen Sichtbarkeit preisgibt.5

Einen dazu völlig konträr anderen Weg, dabei noch einen doppelten Diskurs eröffnend, geht dagegen der libanesische Theaterregisseur, Schauspieler, Publizist und Bildende Künstler Rabih Mroué. Indem er der medialen Bilderflut zu den aktuellen gewaltvollen Konflikten im gegenwärtigen syrischen Bürgerkrieg nicht noch weitere, eigene, d.h. werksignaturhafte Aufzeichnungen hinzuzufügen will, durchkreuzt und verweigert Mroué somit ebenfalls eine vom Publikum traditionell erwartete visuelle und künstlerisch komponierte, originelle Produktion zum Thema. Aber nicht wie Alfredo Jaar über den Weg des scheinbar ethisch verantwortungsvollen Rückzugs wie visuellen Entzugs, sondern auf vielmehr provokativ-drastische Weise durch eine Hyper-Visualisierung und subtile szenografische Meta-Inszenierung, indem sich der Künstler bereits spektakulärer wie sinnlich-emotional berührender fremder wie emotionalbefrachteter anonymer Aufnahmen zum Thema für die Konzeption und Gestaltung einer zeitgenössischen Mixed-Media-Installation bedient und durch diese 3

Siehe die Website des Künstler im Internet unter der URL: http://www.alfredojaar.net/ Siehe hierzu Steffen Haug: Rwanda. In: Eine Ästhetik des Widerstands. Alfredo Jaar. The Way it is. An Asthetics of Resistance. Katalog NGBK. Berlin 2012, S.297-305. 5 Geimer, Kunst im Zeichen der Gewalt, a.a.O. 4

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konzeptuelle Kontextverschiebung auf ihre bildliche Wirksamkeit und gesellschaftspolitische Bedeutung hin diskutiert. Aus einem schier unerschöpflichen Pool von visuellem Found Footage, d.h. von Mroué gezielt recherchierten, zufällig gefundenen und intentional ausgewählten vorhandenen, fremden und anonymen Bilddateien aus dem weltweiten Internet, gestaltet der Medienkünstler im Folgenden einen atmosphärisch erfahrbaren und sinnlich-ästhetisch wahrnehmbaren szenografierten Bilderraum als unmittelbar begehbaren Denkraum zu einem frappierenden immateriellen Bilderphänomen der digitalisierten und globalisierten Gegenwart, die derzeit in mehrfacher Hinsicht von weltweiten Krisen und großen Revolutionen bewegt wird. Die vom Publikum erwartete künstlerisch-schöpferische Produktion des Neuen, Überraschenden, Individuellen und Originellen verschiebt sich hier weg von der eigentlichen (handwerklichen und technischen) Fabrikation hin zu einer inszenatorischen Kombination und kuratorischen Präsentation von bereits vorhandenem Bildmaterial anderer, fremder Produzenten, die insgesamt einer strategischen Intention folgt und der ein originäres kreatives Konzept zugrunde liegt. Mithilfe der Gestaltung eines szenografischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum für die (vermeintlich) authentischen Fremdbilder in der Mixed-Media-Installation „The Pixelated Revolution“ fokussiert der Künstler nicht nur die Aufmerksamkeit seines Publikums auf den darin thematisierten zeitgeschichtlichen politischen Gehalt, sondern eben gerade auch auf die inhärente Phänomenalität der medial inszenierten Kommunikation dieses politischen Inhalts in Zeiten des Internets. Rabih Mroué, hier in der Rolle und Funktion als wirkungsvoller Arrangeur, visueller Regisseur und strategischer Atmosphärenmanager, bekennt frei und legt dabei auch vorneweg für das Publikum offen: I’m not the one who recorded or produced them (the images). And this came out of my belief that it’s now very difficult for artists to produce images, especially with the glut of imagery in the media. The question seems simple enough: What images can artists produce and is it possible to confront these images that we receive every day with yet more images that we produce? These are the questions that I pose in many of my works. And I agree with some intellectuals that maybe the role of artists and even intellectuals is not to produce images but to take iconic images and try to deconstruct them. To ‚de-sacralise‘ them. There are a lot of images that have become icons that have in turn become untouchable. For example, when I talk about the street posters of martyrs, it’s a taboo to talk about them – these images impose themselves on society and it’s difficult to question their presence and impact on our daily lives. As in the media or on the Internet, there are millions of images that come to us every day but only some become famous and a model and are followed by other images and videos. And they become iconic and get used by all political positions and in various different discourses. My work is trying not to produce new images but to find and take these images and deconstruct them through reflection and by re-reading them in a human, personalised manner.6 6 Rabih Mroué zit. nach: Anthony Downey: Lost in Narration: A Conversation between Rabih Mroué and Anthony Downey. 05.01.2012, im Internet abrufbar unter der URL: http://www.ibraaz.org/interviews/11

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Wobei die Frage nach dem Grad der Authentizität des dabei verwendeten respektive angeeigneten anonymen, vermeintlich authentischen Bildmaterials aus dem Internet für die künstlerische Dekonstruktion im Sinne der vom Künstler intendierten De-Sakralisierung ihre hohe emotionale Befrachtetheit, also das, was gerne mit Begriffen wie Echtheit, Direktheit, Wahrheit oder Glaubhaftigkeit bezeichnet wird, aber doch völlig unklar und am Ende offen, weil sowohl für den Künstler als auch für die späteren Rezipienten letztlich weitgehend unüberprüfbar und nicht verifizierbar bleibt. Wichtig allein ist dabei für den Künstler aber, dass es als zeitgenössisches Bilderphänomen mit einem breiten Repertoire an sinnlich-ästhetischen Effekten en gros als solches heute im World Wide Web zirkuliert und für Jedermann einfach leicht vorfindbar ist, und als dieses, das machtvoll im globalen Maßstab Affekte, Emotionen und Erregungen über bildliche Ästhetiken und Rhetoriken zu generieren vermag, in der künstlerischen Adaption und Zitation konzeptuell reflektiert wird. Es geht dabei folglich für Rabih Mroué mehr um die rationale Dekonstruktion und analytische ‚De-Ikonisierung‘ respektive ‚De-Sakralisierung‘ von künstlerisch dekontextualisierten zeitgenössischen Bilderphänomenen, deren spezifisches Thema hier eben nur zufällig die Darstellung von Protest, Gewalt und Tod in politischen Krisen und sozial explosiven Revolutionen der Gegenwart wäre, als lediglich um ihre erneute voyeuristische Wiederholung bzw. -aufführung.

Abb.3 Rabih Mroué: „The Pixelated Revolution“ Ausstellungsansicht dOCUMENTA (13), Kassel 2012. (Foto: © Fabian Fröhlich)

„The Pixelated Revolution“ (2011-2012) von Rabih Mroué besteht dabei aus mehreren, miteinander flexibel räumlich arrangierbaren Installationskomponenten: Neben einem Wandtext, der zunächst Instruktionen zur Verwendung von kamerafähigen Smartphones in revolutionären Geschehnisse, inspiriert durch die dänischen Dogma’95-Regeln für Kameraleute, bereithält, sieht der Installationsbesucher an einer Ausstellungswand sieben großformatige Prints, die als ‚Porträtreihe‘ in – nicht nur dem Blow-up-Verfahren geschuldeter – digital verpixelter wie verwackelter Unschärfe und pastellfarbiger Verschwommen-

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heit, frontal aufgenommene Personen mit im Anschlag gehaltenen Waffen und Gewehren zeigen. (Abb.3) In der Betrachtung der Rezipienten sind diese tödlichen Gerätschaften nun scheinbar auch auf sie selbst ausgerichtet. Diesen konfrontativ aufgenommenen anonymen Heckenschützen (Snipers) im Ausstellungsraum gegenüber befindet sich eine lebensgroßen Videoprojektion, die im endlosen Loop die anonymisierende dunkle Silhouette eines durch einen peitschenden Waffenschuss Getroffenen, dabei immer wieder mit der Handycamera zu Boden fallend, vor einem indifferenten, jedoch dramatisch rötlich eingefärbten, leuchtenden Hintergrund zeigt. Ergänzt wird sie von einer weiteren, längeren Videofilmprojektion in einem Nebenraum, die eine zuvor aufgezeichnete, thematisch begleitende Lecture-Performance zu den Ereignissen von Rabih Mroué präsentiert. Dazu des Weiteren ein 83-sekündiger YouTube-Videoclip mit dem Titel „Double Shooting“ und mehrere Flipbooks (d.h. kleine Daumenkinos), die im gedämpften Licht des Installationsraums auf einem mit hellen Spots beleuchtenden, langgestreckten Stehpult ausgelegt, die dazugehörigen Handyfilmchen aus verschiedenen Internetquellen wie beispielsweise YouTube in analoger Technik nachstellen und akustisch unterstützt durch einen abrufbaren O-Ton hier

Abb.4 Rabih Mroué: The Pixelated Revolution, Ausstellungsansicht dOCUMENTA (13), Kassel 2012. (Foto: © Haupt & Binder)

analog ein fotofilmisches Format der digitalen Internetplattformen simulieren, wobei das Publikum sich bei jeder Betrachtung mit einer davon abfärbenden Druckfarbe auch gleichzeitig im wörtlichen wie übertragenen Sinne die Hände ‚schmutzig‘ macht. (Abb.4-6)

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Abb.5, 6 Details aus Rabih Mroué: The Pixelated Revolution, Ausstellungsansicht dOCUMENTA (13), Kassel 2012. (Fotos: © Pamela C. Scorzin)

Die dabei auf dem Pult zahlreich von den Betrachtern hinterlassenen blauen Fingerabdrücke erinnern überdies noch an kriminologische Beweisaufnahmen und polizeiliche Identifizierungsbemühungen. Die Suche nach Verantwortlichen und Schuldigen scheint hier aber am Ende völlig in die Leere zu laufen. Die gesamte Mixed-Media-Installation „The Pixelated Revolution“ handelt damit von Menschen, die in akuten politischen und revolutionären Konflikten, wie dem aktuellen syrischen Bürgerkrieg, ihr Erschießen durch eine auf sie tödlich gerichtete Waffe mit dem Schuss ihrer Kamera aufgezeichnet und damit fatalistisch beantwortet haben. Eine Kamera gegen eine Waffe – diese Konstellation verschärft den Krieg der Bilder (image wars) gegenwärtig in einen direkten Krieg gegen die Bilder (war against the image). Als hoch viraler Bildtypus einer global und technologisch vernetzten Welt sind die appropriierten Aufzeichnungen aus Syrien als ein charakteristischer wie verstörender visueller Bestandteil medial inszenierter politischer Protestkulturen der Gegenwart zu sehen. An diesem Umstand interessiert Rabih Mroué aber offensichtlich zuallererst, dass all dies en gros als zeitgenössisches Bilderphänomen im weltweiten Internet existiert und als solches in der künstlerischen Adaption und Zitation konzeptuell mittels einer installativen Inszenierung im Ausstellungsraum thematisiert und durch eine begleitende reflektierende ‚poetische Vorlesung‘ dekonstruiert wird. Rabih Mroué bringt dafür auch das Digitale im Ausstellungsraum in einen analogen, realen Aggregatzustand zurück, verwandelt das wirkungsmächtige Virtuelle wie Immaterielle unserer Medienkultur in ein anschauliches Materielles zurück: Aus digitalen Filmen entstehen beispielsweise haptisch-taktile, kleinformatige Daumenkinos. Zeitlich eingefrorene Stills aus im Internet vor-

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gefundenen hektischen Videoclips der anonymen Amateure transformieren zu einer meditativen künstlerischen Porträtreihe, die an der Wand eines konventionellen Ausstellungsraums betrachtet werden kann. Szenografisch gesehen, stellen Mroués begleitende Ausführungen in einer Lecture-Perfomance dabei noch eine Art Aktualisierung der Tradition der Geschichtenerzähler auf arabischen Märkten dar. Es geht Rabih Mroué darin aber mehr um eine nüchtern-objektive Dekonstruktion und aufklärerische ‚DeIkonisierung‘ eines vorgefundenen, stark emotional befrachteten zeitgenössischen Bilderphänomens, dessen Thema und Inhalt hier die unmittelbare Darstellung von konfrontativer Gewalt und die Repräsentation des Todes in den virtuellen Sphären des weltweiten Internets ist. Eine reale, direkte und ereignisförmige Gewalt der revolutionären Geschehnisse und politischen Konflikte der unmittelbaren Gegenwart, die sich jedoch in ihrem Modus als direkte und authentische bildliche Dokumentation mittels der künstlerischen Isolierung und Kontextverschiebung durch ihr szenografisches Arrangement in eine von der Realität nun im Wesentlichen geschiedene indirekte, symbolische Gewalt wandelt. Die szenografische Repräsentation von Tod bringender Auseinandersetzung und revolutionärer Gewalt in medialen Zeichensystemen bringt dabei gleichzeitig immer auch ein Potenzial an darstellerischer und narrativer Fiktionalisierung mit sich, die auch Rabih Mroués szenografischen wie performativen Part in Form der integralen Performance-Lecture begründet. Die narrativwissenschaftliche Einbettung und sinnliche Ästhetisierung werden dabei umso notwendiger, damit sich die Adressaten mit der extrem emotionalisierenden Thematik als solcher überhaupt kognitiv auseinandersetzen können und nicht selbst auch von den dargestellten fatalen Ereignissen ganz emotional überwältigt werden. Es ist somit mitnichten trivial, an dieser Stelle eigens zu betonen, dass es einen gewaltigen Unterschied für das subjektive Erlebnis ausmacht, einem Todesschützen (Sniper) etwa real gegenüber zu stehen oder diese Konfrontation über ein künstlerisches Medium zu erfahren. Im zweiten Fall ist es ein szenografisches Konzept, das über visuelle Effekte der Inszenierung wirkungsvoll auf die Affekte des involvierten Publikums zielt, und dessen Schock dann die nachhaltigere, weil freilich nicht tödliche oder traumatisch lähmende, kathartische Wirkung entfaltet. Wir brauchen, so zynisch und paradox es auch hier klingen mag, im Widerspruch zu Alfredo Jaar folglich auch die volle, gleichwohl ethisch verantwortungsvolle Sichtbarkeit von Bildern des Todes und der Gewalt in unserer Visuellen Kultur, mit denen sich hier Rabih Mroué künstlerisch-gestalterisch auf beispielhafte Weise auseinandersetzt. Die kreative Arbeitsweise liegt hier offenkundig bei Rabih Mroué als künstlerischem Szenografen zunächst in der Recherche, der Auswahl und der (Re-)Kom-

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bination, d.h. in der strategischen wie intentionalen Zusammenstellung des von ihm im Internet vorgefundenem fremden Bildermaterials der Gegenwart, das durch seine Ent- und Neukontextualisierung, d.h. durch das kalkulierte Setzen in einen neuen ästhetischen Rahmen und seine kuratorische Auf- respektive kreative Nachbereitung, hier im Setzen in die gewählten formalen Dispositive und neuen Displays der atmosphärischen Gesamtinstallation im größeren Ausstellungskontext, erst wirklich sprachfähig wird. Allerdings möchte Rabih Mroué dabei mehr Fragen als Antworten für sein Publikum initiieren. Wie auch die aus ihrem ursprünglichen Kontext genommenen Aufnahmen von unbekannten Todesschützen als stark emotional befrachtete Bilder tatsächlich kaum etwas über die jeweils politischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe faktisch zu vermitteln vermögen. Sie erhalten vielmehr nun eine symbolische Allgemeinheit, die für bestimmte Rezipientengruppen problematisch erscheint und zum Beispiel die kritische Rezeption der Arbeit im Nahen Osten im Gegensatz zur westlichen Kunstszene erklärt. Darin liegt freilich heute aber auch der Unterschied zwischen dem Bildenden Künstler, dem (Bild-)Journalisten und dem politischen Aktivisten: Der Erste bleibt eher skeptisch, analysierend und dekonstruierend, zitierend und reflektierend, der Zweite informiert lediglich distanziert mit vermeintlich objektiven Fakten und der Letzte will vielmehr nur über massenmediale Inszenierungen emotionalisieren, agitieren oder mobilisieren, wie Rabih Mroué – quasi in einem Seitenhieb auf eine zeitgenössisch politisierte und propagandatisierte Kunst, wie sie beispielsweise auf der letzten Berlin Berlinale von Artur Zmijewski zu sehen war – im Interview mit U.G. Lambert auf www.premierartscene.com am 6. Juni 2012 in Kassel – ausdrücklich festhielt: Of course, when I create a work of art, I don’t expect to change anything. For me art can basically open a platform for debate, or ask questions about everything. So, what I expect is that my installation makes people talk and reflect. In this sense, I am not at all an activist or promoting any specific political concept. I think activism is very good, but not in arts. For me, a lot of bad art had been done by political activists (in a very narrow definition).

Wenn es also auch für den zeitgenössischen Bildkünstler wie für den Bildjournalisten immer noch gelten sollte, sich mit keiner Sache, wenn auch mit einer noch so guten, zu sehr parteiisch zu machen, so bleibt doch die unmittelbare perzeptiv-affektive Betroffenheit der ersten Begegnung mit diesen effektvoll schockierenden, authentisch gewaltvollen fotofilmischen Bildern der Zeit im Raum hängen, die schließlich gerade umso mehr auch für den Bildenden Künstler als den ersten Betrachter gegolten hat, und zur Motivation für einen engagierten bildnerischen Kommentar gerät:

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As we talked about the situation in Syria, there were only two different sources: Official regime TV and the internet, where the protestors had been uploading their videos. If you want to follow seriously, what is happening, you have to go to both sources. What struck me was a video, where you see a (cell phone) cameraman filming a regime soldier with a gun, and then, suddenly, this person fires his gun at the cameraman and the camera falls and the video ends. After I found this first video, I found many more videos like that in the internet. I was shocked. It is like a war against the camera, or against the image. The installation is about these videos mainly: I started to deconstruct the videos. I separated the sound from the images. I made large prints of the shooters. I made small-scale flipbooks from the videos. This way, the visitors have to try to reconstruct the quick internet video in their heads. My deconstruction is a kind of obstacle in order to find out, what is really happening there. But we don’t know what is really happening there.7

Es scheint also folglich, je mehr wir in einem globalisierten und technologisch vernetzten Medienzeitalter in der Szenokratie von Jedem und Allem zu sehen bekommen, desto weniger sehen und verstehen wir wirklich? Oder sind die neuen emotional befrachteten Bilder einer Post-Photography in ihren sinnlich-ästhetischen Effekt- und Affekt-Produktionen, bereits völlig losgelöst von Realität und Kontext, doch lediglich nur ein reiner Selbstzweck und ein strategisch unpolitisches permanentes Erregungsinstrument geworden? Bedienen diese hier lediglich auch nur weiterhin das Sensationelle, das Spektakelhafte und das Voyeuristische in einer weitgehend konsumistischen Aufmerksamkeitsund Eventkultur, und das nunmehr mit einer viralen Geschwindigkeit? Werden spontane authentische Inszenierungen gesellschaftspolitischer Bewegungen durch szenografische Appropriation und ihre wie auch immer geartete Re-Inszenierung und kommerzielle Ausbeutung vielleicht bewusst aseptisch und apolitisch gemacht? Wenn emotional befrachtete Bilder von inszenatorischen Situationen häufig bereits ein zutiefst szenisch-theatrales Potenzial mitbringen, zum Beispiel das in der Gegenwart virulente Motiv ‚Schuss und Gegenschuss‘, was bedeutet es dann für ihre künstlerischen Re-Inszenierungen? Aus dem mehrdeutigen fotofilmischen Spiel des „Double Shooting“, wie es uns beispielsweise Andy Warhol in den 1960er Jahren noch mit einem ironischen Augenzwinkern beispielhaft in seiner „Elvis“-Siebdruck-Reihe nach den populären „Flaming Star“-Filmstills vorführte, ist zwischenzeitlich in der Wirklichkeit tatsächlich ein wahrer Todernst geworden. Und nur mehr noch die globalisierte zeitgenössische Street Art mag darin motivisch, vielleicht noch kokettierend und mit einem zynischen Augenzwinkern, eine ironische Bild-Pointe sehen wollen. (Abb.7) „They’re shooting their own deaths!“ – zutiefst von der Betrachtung dieser Art der in Form von Digitalfoto und -film dokumentierten gegenseitigen Shoots dennoch tief emotional berührt, hinterfragt Rabih Mroué das in der Kunst 7

http://premierartscene.com/magazine/rabih-mroue-interview/

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Abb.7 Street Art Graffiti-Template: „Double Shooting“, Banksy – Style, o.J.

und Kultur bislang gerne romantisierte und virale „Double Shooting“. Welche Rolle spielt dabei die digitale Technik des ubiquitären Smartphones mit seiner digitalen Handycamera – nämlich dahingehend, dass Menschen, anstelle sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, heute vielmehr ihre Todesschützen augenscheinlich face to face fotografieren oder filmen. Valorisieren sie wirklich damit ihre Handycamera zu wirksamen, wertvollen Waffen für ein Medienzeitalter, wofür es notfalls sogar das eigene Leben, das einzige, was man wirklich besitzt, zu opfern gilt? Es dreht sich darin folglich alles um das heutige Verhältnis von Technik und Körper. Denn werden die aktuellen technologischen Gerätschaften, Gewehr und Kamera, hier nicht beide im Sinne von kulturellen Waffen, in diesem besonderen situativen Verständnis, nicht auch zu machtvollen technischen wie inszenatorischen Extensionen der biologischen Körper? Sind die internetfähigen Smartphones der syrischen Demonstranten und aller anderen politischen Aufständischen der Gegenwart für sie tatsächlich eine (vermeintlich) wehrhafte Erweiterung, eine wirksame Bewaffnung ihrer Körper? Und ist das ins World Wide Web gestellte und damit veröffentlichte fotofilmische Bildmaterial vielleicht etwa nur ein kleiner Bruchteil einer Masse von solch tragischen Aufzeichnungen, die niemals ins globale Netz gelangten? Dort, wo professionelle Bildjournalisten heute jedenfalls aus vielen verschiedenen Gründen abwesend bleiben, werden zumindest die direkten Aufnahmen der involvierten Akteure und politischen Aktivisten selbst wiederum zum unverzichtbaren Teil offizieller Berichterstattungen – siehe Sender wie CNN oder Al Jazeera. Wirkt die Handycamera des Smartphones dabei für die Aufzeichnenden wie ein magischer Schutzschirm (Screen), ein vermeintlicher Panzer, der dem Opfer gleichzeitig

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das Gefühl von (medialer) Unsterblichkeit gibt oder nur lediglich eine seltsame und fatale Realitätsverschiebung produziert – das Als-Ob eines Filmes? Was bewirken diese fotofilmischen Todestestimonien wiederum im Betrachter? Und welche Bedeutung haben sie etwa für die syrische oder arabische Rebellion insgesamt? Verstehen wir wirklich diese amateurhaften Fotografen, die hier ‚ihren eigenen Tod schießend‘, sich für eine Sache mit ihrem Leben zu opfern scheinen, im Nachhinein vielleicht als moderne Märtyrer und Helden auf der Bühne der Weltgeschichte? Dabei ist doch in diesen dramatischen Momenten authentisch dokumentierter und durch die mediale Veröffentlichung erzwungener höchster Augenzeugenschaft in diesen emotional befrachteten Bildern oftmals tatsächlich nicht wirklich viel für die Betrachter zu sehen oder faktisch zu erkennen. Die Imagination und Einbildungskraft der Rezipienten füllt die kruden und simplen, noch stark verpixelten und bewegt verwackelten Handybilder vielmehr erst mit emotionalisierender Bedeutung und einem erweiterten politischen Sinn. Unruhige wie hektische Bewegungen einer anonymen Handycamera, ihre fotografischen Unschärfen und bislang noch kruden digitalen Ästhetiken, das vergrößerte Auspixeln der gezoomten Aufnahmen durch die digitale Handykamera des Smartphones liefern schließlich keine eindeutigen, beweiskräftigen Fotodokumente im eigentlichen Sinne. Das direkte Involviertwerden in einen aktuellen gewaltsamen gesellschaftspolitischen Konflikt, den es mit einer unmittelbaren Augenzeugenschaft zu dokumentieren gilt, duldet in der Tat offensichtlich auch kein ruhiges Fotostativ mehr und wird dabei zugleich zum ästhetischen Marker seiner vermeintlichen Wahrhaftigkeit. Umso mehr verstärkt jedoch der gleichzeitig mit diesen Bildern aufgezeichnete O-Ton, der digitale Sound noch ihre bildliche Authentizität: Tatsächlich hören wir mehr als sähen wir das abrupte Fallen der Handycamera nach dem peitschenden Schuss aus einer auf den Fotografierenden respektive auf den blickenden Betrachter gerichteten Waffe. Rabih Mroué zeigt uns im Übrigen ausschließlich die Perspektive der Opfer, ohne sie dabei selbst im Bild zu zeigen. Deshalb bleiben am Ende der Betrachtung dieser emotional befrachteten Bilder dann doch noch viele Fragen offen und stehen sinngemäß im (Ausstellungs-)Raum: Ob der Getroffene beispielsweise tot, verwundet oder im Nachhinein doch noch gerettet wurde. Die Bilder der Mixed-Media-Installation hinterlassen bei den Rezipienten daher einen beunruhigend nachhängenden, beklemmenden und verstörenden Eindruck. Vielleicht war aber alles auch nur eine theatrale Inszenierung, ein Fake?! Im höchsten Moment der Darstellung der direkten, ereignishaften Gewalt endet also der Film, friert hier das digitale Fotobild zum stummen Dokument und vermeintlich sprachfähigen bildlichen Zeugnis ein. Erstirbt, um im anschließenden

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Diskurs aber wieder aufzuerstehen und weiterzuleben – wie die inszenierende Fotografie als eine neue Post-Photography insgesamt. Angesichts der allgegenwärtigen szenischen Kreativität der gegenwärtigen Protestkulturen müssten sich folglich auch die zeitgenössischen Künstler und Szenografen in ihrem Rollenverständnis neu befragen. Peter Weibel, Kurator der Karlsruher Ausstellung „global aCtIVISm“8 (14.12.2013-30.03.2014), polemisierte dazu mit der rhetorischen Frage „Facing Contemporary Protest Culture, has Art to be something else, like, for example, some ARTIVISM?“ 9, um aber darauf zugleich auch andernorts dazu noch ein prognoseartiges Statement abzugeben: Es scheint, auch die Kunst könnte mehr und mehr zum öffentlichen Raum werden, in dem das Individuum autonom agieren kann und die Versprechungen des Rechtsstaates und der Demokratie, von der Menschenwürde bis zur Freiheit, einfordert. Durch Aktionen von Kleingruppen wie Pussy Riot und Femen oder Massenbewegungen wie Occupy u.v.a. sind in letzter Zeit wiederholt spektakuläre Protestbewegungen in den Fokus einer weltweiten Öffentlichkeit gerückt, die auf völlig verschiedene aber immer eindrucksvolle Weise gezeigt haben, was im weitesten Sinn bürgerschaftliches (lat. civis, der Bürger) Engagement bewirken kann. Obwohl die Kuratoren von Kunstgroßveranstaltungen wie die documenta 13 oder die Biennale di Venezia 2013 sich in unzeitgemäße Esoterik und Okkultismus flüchten, gibt es daher auch im Kunstsystem eine große Bewegung von non-governmental art (NGA). Kritik an Politik, Wirtschaft, Kirche, Institutionen zu äußern, ist auch im vermeintlich aufgeklärten und liberalen 21. Jahrhundert noch immer weder selbstverständlich noch auf breiter Ebene akzeptiert – auch nicht in der westlichen Welt. Artes liberales – die Kunst freier Bürger erhält heute eine neue globale Bedeutung. [...] Aktivismus und nicht Performance ist die Kunstform der Protestbewegung, die außerhalb von Institutionen stattfindet und die einen sozial motivierten Ausgangspunkt hat, sich aber als künstlerische Ausdrucksform versteht. [...] Art und Agency münden daher in einer neuen Form des Aktivismus. Die Künstlerfunktion ändert sich vom Werkproduzenten zum Systemflüchtling oder Systemkritiker, der gelegentlich die Aufgaben übernehmen kann, die bisher den staatlichen Instanzen, der Justiz, der Ökonomie, der Verwaltung oblagen. Die Kunst bildet gewissermaßen ähnlich wie die Philosophie und die Medientheorie das Exil, in dem grundlegende zivile Aufgaben noch wahrgenommen werden. Mit der Funktion des Künstlers ändern sich auch die sog. Werke des Künstlers. Statt Ölgemälden entstehen Flugblätter, Plakate, Graffiti. Statt Holzskulpturen entstehen Onlineportale, Transparente, Medienauftritte. Statt Kunstfilmen entstehen Youtube-Videos.10

Doch jenseits der Bestrebungen, die Urban Performances11, Happenings, Interventionen, Street Art, Body Art und Aktionskünste der hoch politisierten 1960er und 1970er Jahre nun nochmals in nostalgischer Rückschau und 8

Siehe die Website zur Ausstellung im Internet: http://www.global-activism.de/

9 Peter Weibel: ARTIVISM: TAKING THE OFFENSIVE. In: Global Activism. Hgg. von Daniel Mützel

und Joulia Strauss. (Sonderheft Kryptyka Polityzcna Warsaw) Berlin 2014, S.9. 10 Peter Weibel: Global aCtIVISm: global citizen. Im ZKM-Internetblog unter der URL: http://blog. zkm.de/blog/editorial/global-activism-global-citizen/ 11 Siehe hierzu auch die beiden Kunstforum International-Themenbände: Bd.223: Urban Performance I. 2013, passim, und Bd.224: Urban Performance II. 2014, passim.

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romantischer Verklärung für die globalen Herausforderungen der Gegenwart zu reaktivieren, lassen sich vielmehr inflationär Appropriationen, Re-Enactments, Rekonstruktionen, Re-Inszenierungen und formalästhetische Adaptionen und Zitationen der performativen Ausdrucksformen, inszenatorischen Formensprache und einschlägigen signalhaften Requisiten der aktuellen globalen Protestkultur beobachten, die wiederum problemlos und umgehend in die internationalen Galerien und Museen einzuziehen scheinen.

Abb.8 Osman Bozkurt: Foggy, 2013, Ausstellungsansicht global aCtIVISm im ZKM Karlsruhe, 2013-2014. (Foto: Pamela C. Scorzin)

So baute Osman Bozkurt (*1970 in Istanbul) für „global aCtIVISm“ im Museum für Neue Kunst des ZKM Karlsruhe das Zeltlager eines Protestcamps mittig in den Ausstellungsraum hinein, wie es in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit den verschiedensten öffentlichen Platzbesetzungen von Madrid, Lower Manhattan und Frankfurt bis Istanbul zu sehen war. (Abb.8) Bozkurts Formation aus bunten Zelten beinhaltete zudem iPads mit authentischem Filmmaterial aus dem Demonstrationsgeschehen des Jahres 2013 in Istanbul. In ihrem entkontextualisierten und aseptischen, weil ungenutzten und ausgestellten Modus gewinnen die Versatzstücke eines zeitgenössischen Besetzungs- oder Flüchtlingscamps hier als nunmehr reine Anschauungsobjekte innerhalb des Betriebssystems Kunst jedoch eine völlig andere Repräsentationsfunktion. Besetzung, Blockade, Demonstration, Protest und Widerstand finden hier nicht statt, sondern werden von der Kunst nur symbolisch dar- und ausgestellt. Die Zelte verweisen nunmehr auf die im Mai 2013 erfolgte spontane zivile Okkupation des Gezi-Parks als Protest gegen ein städtisches Großbauprojekt und auf die danach erfolgten gewaltvollen Ausschreitungen im Zuge der staatlichen Räumung, „bei denen noch in der ersten Nacht der Besetzung des Parks

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Abb.9 Mark Wallinger: State Britain, 2007, Ausstellungsansicht im ZKM Karlsruhe 2013/2014 (Detail). (Foto: Pamela C. Scorzin)

die Zelte der ParkbesetzerInnen von der Polizei eingesammelt und verbrannt wurden. Das Video-Material, das in den Zelten zu sehen ist, dokumentiert das Geschehen während der Proteste.“ (So die Legende der Mixed-Media-Installation in der ZKM-Ausstellung). Im nächsten Ausstellungsraum von „global aCtIVISm“ war sodann von dem Kuratorenteam um den Hauptinitiator der Themenschau, Peter Weibel, eine bezeichnenderweise dazu bereits längst zur Ikone avancierte Mixed-MediaInstallation zum Thema zeitgenössische Protestkultur im Original aufgebaut: Mark Wallingers State Britain (2007). (Abb.9, 10) Dieses ‚Original‘ ist jedoch vielmehr die künstlerische Rekonstruktion einer zeitgenössischen Anklagemauer, die der britische Friedensaktivist Brian Haw (1949-2011) von 2001 an bis zu ihrer weitgehenden Räumung und Zerstörung am 23. Mai 2006 durch die englische Polizei auf dem Parliament Square in London gegenüber dem Palace of Westminster, dem Sitz des britischen Parlaments, über Jahre hinweg sukzessiv aufgebaut hatte. Mit Schrift und Bild, Spruchbannern, Flaggen und Bildtafeln, Objekten und Reden demonstrierte Brian Haw über einen langen Zeitraum hinweg persönlich vor Ort gegen die Beteiligung Großbritanniens am Irak- und Afghanistan-Krieg. Dabei ist weniger das formale, prozessuale Arrangement als vielmehr die beständige Akkumulation emotional befrachteter Fotografien und schriftlicher Parolen zum Thema für den Betrachter affizierend. Mark Wallinger (*1959) stellte eine authentische Rekonstruktion der ursprünglich mehr als 600 Bestandteile umfassenden Ansammlung des Haw’schen Original-Friedenscamps 2007 als variable Mixed-Media-Installation in den Duveen Galleries der Tate Britain aus und wurde dafür mit dem renommierten Turner-

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Abb.10 Mark Wallinger: State Britain, 2007, Ausstellungsansicht im ZKM Karlsruhe 2013/2014 (Detail). (Foto: Pamela C. Scorzin)

Prize ausgezeichnet. Das 2013 im Thames & Hudson Verlag erschiene Kompendium „100 Works of Art That Will Define our Age“ von Kelly Grovier kanonisiert „State Britain“ zum Meisterwerk der Gegenwartskunst, obgleich es sich lediglich mit der künstlerischen Re-Inszenierung einer typischen Inszenierung eines individuellen Engagements und persönlichen Protests begnügt. Dabei verzichtet Mark Wallinger als Künstler jedoch auf eine größere Ästhetisierung, formale Stilisierung und weitere Emotionalisierung wie zwiespältige Spektakulisierung der vorgefundenen kreativen Ausdrucksformen des demonstrativen Protests zum puren Konsum und Entertainment – wie es sich im Gegensatz dazu vielfach und viel deutlicher in Beispielen szenografischer Auf(be)arbeitungen der zeitgenössischen Protestkultur, etwa in konsumistischen Formaten der zeitgenössischen popkulturellen Produktionen, finden lässt. Ein im doppelten Sinne höchst eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert Romain Gavras’ kontrovers diskutiertes Musikvideo für Jay-Z & Kanye West’s Track „No Church in the Wild“ 12 (2012). (Abb.11) Darin appropriiert, re-inszeniert, instrumentalisiert und signiert die Szenografie des Videoclips mit einer konsumistischen Überwältigungsästhetik die zeitgenössische Protestkultur in einem nahezu cineastischen Ausmaß. Zu den Beats und Lyrics von „No Church in the Wild“ ist in diesem herausragenden 12

Siehe im Internet auf VIMEO unter der URL: http://vimeo.com/43051867

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Abb.11 Still aus dem Musikvideo No Church in the Wild von Jay-Z & Kanye West (USA 2012, Regie: Romain Gavras).

popkulturellen Gesamtkunstwerk das gesamte Gefühlsdrama einer gewaltvoll eskalierenden Demonstration und brutalen Straßenschlacht zu sehen. Die Dramaturgie bietet dabei das volle visuelle Spektrum der bekannten Motive und stereotypen Bildformeln eines sozial ritualisierten, zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Konflikts zwischen staatlicher Macht und Aufständischen, die in einer direkten und ereignisförmigem gewaltvollen Konfrontation endet: Physis/ Violentia/Individuum kontra Nomos/Potestas/Körperschaft. Zwischen die klischeehaften Szenerien der explosiven Revolte und des erregten wie gewaltvollen Straßenkampfes, von massiven Knüppelattacken über das Molotov-Cocktail-Werfen bis hin zu einer Selbstverbrennung, hat der französisch-griechische Filmemacher und Videoregisseur Romain Gavras (*1981) zudem dramatisch ausgeleuchtete Revolutionsplastiken aus der Kunstgeschichte in die Dynamik seiner expliziten Videobilder zwischengeblendet. Das im schauspielerischen Maße höchst realistisch dargestellte explosive Demonstrationsgeschehen auf den Straßen und Plätzen wird u.a. von François Rudes monumentalem „Auszug der Freiwilligen von 1792 (La Marseillaise)“ (183336, Paris: Arc de Triomphe de l’Etoile) assoziativ wie konnotativ unterstrichen und künstlerisch valorisiert. Alles im Dienste einer konsumistischen Verzauberung der gegenwärtigen Protestkultur durch effektvolles Re-Enactment und filmische Ästhetizismen, die hier aber dem Overkill einer theatralischen Affektproduktion gleichkommt. Die professionalisierte Szenografie dieses kommerziellen Musikvideos droht so letztlich die Entpolitisierung des politischen Protests zu betreiben – anstelle ihr szenokratisches Potenzial zu diskutieren. Trotz des enormen Verkaufserfolgs gab es daher in den einschlägigen Internetblogs bisweilen vernichtende Kritiken der Musikvideofreunde gerade

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ob dieser ästhetisierenden Überinszenierung der pathetischen Filmsprache Romain Gavras’, der derzeit zu den wohl weltweit gefragtesten Videoregisseuren einer jüngeren Generation zählt: Vacant of any political message, the video shows a riot purely for the sake of a riot. This is nothing more then an exercise in style – dig deeper and you won’t find anything of substance here. Rather distastefully Gavras has decided to shoot this video in and around the same streets of Prague that once held the Velvet Revolution – a non-violent revolution in 1989 that protested against the one-party government of the Communist Party of Czechoslovakia. Unlike this video, the protestors didn’t hold molotov cocktails, instead they held flowers and candles and successfully brought about the dismantling of the single-party state. Gavras’ video feels disingenuous, superficial, irresponsible and perhaps even misogynistic. This is nothing more then an attempt to capitalize on the ‚revolution dollar‘. It exploites legitimate protests and revolution simply because revolution is the current cool. Lets not forget – Jay-Z and Kanye West are the 1%. Despite the impressive visuals on display, this video feels as though Gavras has cashed-in on the causes of others and churned out something hollow and vacant. Check out the video above and make up your own mind.13

Vielleicht sind es am Ende dann doch die satirischsten Inszenierungen einer vermeintlichen Protestbewegung, die auf kontroverse Weise mit affirmativer Strategie zeigen und subversiv offenlegen, wie der Kapitalismus und die gegenwärtige Konvergenzkultur aus Kunst, Design und Konsum jede noch so szenisch auf nachhaltige Wirksamkeit und politische Wirkungsmacht bedachten gegenkulturellen kreativen Ausdrucksformen und inszenatorischen Darstellungsmittel der gegenwärtigen globalen Protestkulturen umgehend und mühelos sich strategisch einvernehmen und dabei kommerziell ausbeuten. Und diese gleichzeitig zur kreativen Genererierung eines bloßen modischen Rebellion Chic vermarkten. Dafür inszeniert beispielsweise das frappierende Design- und Kunstprojekt RLF_Das richtige Leben im falschen14, unter der Leitung von Friedrich von Borries (*1974), seit 2013 eine Luxus-Revolutionsbewegung nach den gängigen erfolgreichen Marketing-Regeln eines durchökonomisierten, liberalisierten Marktsystems. In diesem Sinne wäre auch das Revolution Branding dieses fortlaufenden RealLife-Projektes als eine multi-mediale Gesamtinszenierung des heute weitverbreiteten Design Thinking in der Gesellschaft – selbstverständlich in sich hochkommunikativ mit obligatorischer Website15, aktivem Twitter-Account und Facebook-Seite16 – vielleicht am Ende doch wirklich die bessere meta-szenografische Antwort und künstlerisch-gestalterische Lösung für die Schattenseiten einer Szenokratie: RLF verkauft den Protest an 13 Philip Kennedy am 04.06.2012 im Internetblog unter der URL: http://www.thefoxisblack. com/2012/06/04/romain-gavras-directs-a-controversial-video-for-jay-z-x-kanye-west/ 14 Siehe dazu auch den Roman von Friedrich von Borries: RLF. Das richtige Leben im falschen. Frankfurt am Main 2013. Darin auch eine Szene mit der zynischen Übernahme von Rabih Mroués „The Pixelated Revolution“ zu reinen Marketing-Zwecken. 15 Im Internet unter der URL: http://www.rlf-propaganda.com/ 16 Im Internet unter der URL: https://www.facebook.com/rlfpropaganda

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Abb.12 Still aus dem Mockumentary RLF: Kunstprotest aus Berlin von Alexander Dluzak (D 2013, 52 Min.) Im Bild RLF/Friedrich von Borries bei den 1.-Mai-Demos 2013 in Berlin. (© ZDF/ © RLF)

den Kapitalismus und seine gefräßige Konsumkultur. (Abb.12) Denn mit dem Erwerb von überteuerten Kunst- und Designprodukten der Marke RLF kann schließlich jeder auch (selbstironisch) zum Shareholder dieser Revolutionsbewegung werden ... Man kann die Szenokratie der Gegenwart eben am besten nur mit ihren eigenen Mitteln und Strategien dekuvrieren, oder die Rituale der allgegenwärtigen Protestkultur mit ihrem szenokratischen Regime einfach im Sinne einer affirmativen, modischen Vereinnahmung, als hochästhetisierten Radical Chic auf den im schillernden Medienlicht stehenden Laufsteg unseres Zeitgeistes schicken, wie es zuletzt höchst prominent Karl Lagerfeld, ausgerechnet in Paris und unter revolutionären Klängen, für die spektakuläre Szenografie der CHANEL Spring/Summer 2015 Fashion Show getan hat. (Abb.13)

Abb.13 Fashion Show CHANEL Spring/Summer 2015, Foto: © Lea Colombo für http://www.dazeddigital.com/fashion/gallery/18634/5/chanel-ss15

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KURATORISCHE STEUERUNG KULTURELLER DISKURSE: DOCUMENTA, 1955 Die documenta des Jahres 1955 gilt – trotz kritischer Stimmen insbesondere der Forschung – bis zum heutigen Tage als Fanal der Kunstentwicklung und Ausstellungsgeschichte der Moderne.1 Die zahlreichen Kunstwerke höchsten Niveaus und die Rechtschaffenheit seines Initiators Arnold Bode gelten als Garanten für eine Pioniertat, die sowohl für das Ausstellen von Gegenwartskunst als auch für den Berufsstand des Kurators Zeugenschaft für heroische Initiativen ablegt. Bereits die zeitgenössische Presseresonanz scheint diese Wertschätzung zu bestätigen, die Sekundärliteratur der Folgejahre weiß in gleichem Tenor der Huldigung zu Lebzeiten zu folgen und die überlieferten Dokumentarfotos der pseudosakralen Ausstellungseinrichtung verheißen auch noch Jahrzehnte später, dass es sich bei dem damaligen Geschehen um ein Ereignis ersten Ranges gehandelt haben muss. Die historischen Umstände, d.h. das Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die Gräueltaten des Holocaust und die beginnende Rekultivierung und Demokratisierung einer bis vor kurzem noch totalitär geführten Gesellschaft mögen all jenen Recht geben, die der documenta eine Schlüsselrolle in der Kunst- und Kulturentwicklung nach 1945 in Deutschland beimessen. Die programmatischen und öffentlich verkündeten Zielsetzungen, wie die Wiedergutmachung an jenen von den Nationalsozialisten als ‚entartet‘ bezeichneten und verfolgten Künstlern wie auch der Anschluss an die internationale Zivilisation nach zwölf Jahren Schreckensherrschaft und kultureller Isolation bestärken so manchem in dem Glauben, es mit einem heroischen Kraftakt in der Kunstentwicklung zu tun zu haben. Untergründig wird dieser konzeptionelle Schwerpunkt bis in die Gegenwart hinein aufgesucht, will man der aktuellen und zukünftigen documenta kunstkritisch begegnen wollen. 1 Die Literatur zur documenta ist schier unübersichtlich geworden. Als Überblick und Einstieg seien

folgende Titel genannt: Walter Grasskamp: documenta. Kunst des XX. jahrhunderts. internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel. 15 juli bis 18. september 1955. In: Bernd Klüser/ Katharina Hegewisch (Hg.): Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts. Frankfurt am Main/Leipzig 1992, S.16-125; Marianne Heinz (Hg.): Arnold Bode. Leben und Werk (1900-1977). Ausst.-Kat. Kassel 2001; Harald Kimpel: Documenta: Mythos und Wirklichkeit. Köln 1997; ders.: Documenta: die Überschau, fünf Jahrzehnte Weltkunstausstellung in Stichwörtern. Köln 2002; Manfred Schneckenburger (Hg.): documenta. Idee und Institution. Tendenzen, Konzepte, Materialien. München 1982; Karin Stengel/Heike Radeck/Friedhelm Scharf (Hg.): Zwischen Inszenierung und Kritik. 50 Jahre documenta. Hofgeismar 2007. Ansonsten werden im Rahmen der folgenden Ausführungen nur argumentationsrelevante Quellen angeführt.

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Doch bei genauerer Betrachtung der allgemeinen wie besonderen, der öffentlichen wie halböffentlichen Aktivitäten im Nachkriegsdeutschland muss man der Faszinationsgeschichte, die die documenta alsbald zu einem Mythos werden ließ, mit Skepsis begegnen. Die zentralen Zielsetzungen des Projektes betreffend, die nach einer Wiedergutmachung und einer Akzeptanz durch die internationale Zivilisation strebten, kann die documenta 1 keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen. Das großangelegte und vielgepriesene Unternehmen ‚documenta‘ steht vielmehr am Ausgang einer mehrjährigen, äußerst facettenreichen, vielschichtigen wie spartenübergreifenden und erfolgversprechenden Kunst-, Kultur- und Politikentwicklung. Die einzelnen Verfahrensschritte, die die Ausstellungsgestaltung als einen unter mehreren aber wichtigen Schritt einbezieht, liest sich wie eine Dramaturgie, die Marketingkonzepten heutigen Zuschnitts ähnelt und einer sich formierenden demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Öffentlichkeit, die Mitte der 1950er Jahre erstmals Gestalt annimmt, geschuldet ist. Hierbei zeigt sich, dass den Konzepten bestimmte Argumentationsfiguren innewohnen, die späterhin in eine besondere Ausstellungsästhetik münden und von der Presseöffentlichkeit willentlich aufgegriffen werden. Bode hat es verstanden, seine Argumentationsfiguren durch eine geschickte Marketingstrategie in der Öffentlichkeit diskursiv verhandeln zu lassen, um schließlich eine Bestätigung seiner Ausstellung auf hohem Niveau zu generieren.2 Denn die documenta-Reihe erlangt bereits mit ihrer ersten Veranstaltung im Jahre 1955 eine geradezu mythische Aufladung, die die nicht wenigen unmittelbar vorausgehenden und zeitgleichen Ausstellungsprojekte durch eine wenig bis gar nicht ausgereifte Öffentlichkeitsarbeit keinesfalls erreichen konnten. Zunächst von einem individuellen Engagement getragen, erwuchs die Realisierung dieser Ausstellung zur internationalen Kunst alsbald zu einem selbsterteilten ‚öffentlichen Auftrag‘, so wurde es durch eine geschickte Steuerung des Öffentlichkeitsbildes suggeriert. Bodes strategisches Vorgehen weist ihn als einen modernen, d.h. auf die Strukturen einer demokratischen Öffentlichkeit bauen2 Die Diskursanalyse bzw. -theorie ist ein relativ unübersichtliches Forschungsterrain: Die Analyse von öffentlichen Äußerungen und deren Regelsystemen zu Themen, die für die Allgemeinheit und Eliten zumeist temporär relevant sind, auf der Grundlage von Text, Bild, Film und Handlungen und deren mediale Präsenz ist wohl die formalste Definition eines höchstkomplexen Forschungsfeldes. Der hier skizzierte Gedankengang geht von einer Mischform aus, die als Grundlage nicht das freie Spiel von gesellschaftlichen Kräften im Rahmen kommunikativen Handelns vorsieht, sondern die gelenkte wie eigendynamische Steuerung gesellschaftlicher Prozesse durch Strukturen und Machtkonstruktionen. Der Ausgangspunkt sind hierbei die sichtbaren wie unsichtbaren Diskurspraktiken und deren mediale Erscheinungsformen, sodass hierfür relevante Positionen der literaturwissenschaftlichen Textanalyse unterstützend wirken. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1973; der.: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1971; ders.: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1973; Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main 1985; Friedrich A. Kittler/Heinrich Turk: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt am Main 1977.

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den Ausstellungsmacher aus, auch wenn sein Ausstellungskonzept konservative Züge aufweist. Ein genauer Blick auf die damaligen Verfahrensschritte, überlieferten Dokumente der Ausstellungsmacher und der zeitgenössischen Presse und nicht zuletzt auf die Ausstellungsästhetik mag diese Einschätzung erhellen. DAS KONZEPT UND SEINE DISKURSIVE AUSRICHTUNG Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, es hat sich in diesen Tagen in Kassel ein Personenkreis zusammengefunden und eine Gesellschaft gegründet unter dem Namen „Abendländische Kunst des 20. Jh. e.V.“ Zweck dieser Gesellschaft ist Vorbereitung und Durchführung einer großen Ausstellung Abendländischer Kunst des 20. Jh. anlässlich der Bundesgartenschau 1955 in Kassel. Es ist beabsichtigt, alle seit Anfang des 20. Jh. bedeutenden Künstler des abendländischen Kulturkreises (Maler, Bildhauer, Architekten) mit 2 oder 3 für ihre Entwicklung charakteristischen Meisterwerken vorzustellen. Zwar sind heute Kunstausstellungen nicht selten, ein derartiger Überblick aber von europäischem und außereuropäischem Ausmaß ist bisher weder im In- noch im Ausland konsequent gegeben worden. Wir sind sicher, dass aus ihm außergewöhnliche Eindrücke, Erkenntnisse und Anregungen resultieren werden, und dass es geradezu eine Notwendigkeit ist, dass diese von Deutschland ausgehen.3

Mit diesen knappen wie vollmundigen Worten eröffnet der Initiator der documenta, Arnold Bode, gemeinsam mit seinen Mitstreitern ein Gesuch an den damaligen hessischen Ministerpräsidenten, für das geplante Ausstellungsprojekt öffentliche Mittel bereitzustellen. Entsprang die Idee einer solchen Überblicksschau über die Kunstentwicklung seit der Klassischen Avantgarde auch einem persönlichen Engagement Bodes, so wurde die späterhin documenta genannte Ausstellung zu einem Projekt von öffentlichem Interesse. Denn die angeführte kurze Passage umreißt die zentralen explizit wie implizit genannten Merkmale dieses Unterfangens einerseits und der beteiligten Personen andererseits: Es hat sich ganz im urdemokratischen Sinne eine Gruppe von Personen gleichen Interesses zusammengefunden, um ein gemeinsames Projekt von nicht weniger öffentlichem Interesse zu realisieren. Sind solche Gruppenbildungen bereits aus kuratorischen Großunternehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt (Sonderbund-Ausstellung 1912 in Köln, Pressa 1928 in Köln, Hygiene-Ausstellung 1930 in Dresden usw.), so ist dies in Kassel mit einem besonderen Duktus versehen. Denn die Vorgängerprojekte verpflichteten eine Vielzahl von Personen des öffentlichen, d.h. politischen, wirtschaftlichen und administrativen Lebens, um sich deren Unterstützung im Verlauf der Projektrealisierung vorab zu sichern, etwa wenn rechtliche, administrative oder finanzielle Probleme in Erscheinung traten. In Kassel versammelte man eine Reihe von Persönlichkeiten, aus den Hochämtern der Kultur, Politik und Verwaltung, um der geplanten Ausstellung den Charakter eines öffentlichen Auftrags zu verleihen. Genauer betrachtet war 3

Schneckenburger, documenta, a.a.O.

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man jedoch als Privatperson mit kultureller Neigung zusammengekommen. Ein Indiz für diese Annahme stellt die frühe Veröffentlichung von Personen und Konzept dar. Somit verbleiben die Würdenträger nicht als graue Eminenzen im Hintergrund, die anonym ihre schützende Hand über die organisatorische Realisierung des Projektes legen sollten, sondern wurden Bestandteil einer öffentlichen Argumentation. Mit Blick auf das Personal der documenta ist weiterhin eine Auffälligkeit zu vermelden, die sich als Argumentationsfigur durch interne wie veröffentliche Schriftsätze der Konzepteure zieht: Es wird behauptet, dass sich eine Kunstentwicklung, die durch den Nationalsozialismus ausgebremst, nicht aber zerstört werden konnte, vollziehe, die sich als eine Art autonome Kunstevolution erweise. Die Hauptvertreter, verschiedene von Bode genannte Künstler der Klassischen Avantgarde, sind zwar von einer Souveränität und einem Eigensinn und damit als Individuen gekennzeichnet, doch scheint sich ihre Exklusivität aus einer großen Nähe zu jenen kulturellen Großkräften, die die Kunstevolution vorantreiben, zu speisen: Das Sonnen- und Höhlengleichnis eines Platon assoziierend, wurden Künstler wie Paul Klee, Pablo Picasso oder Oskar Schlemmer des Lichtes der Erkenntnis angesichtig und konnten sich nach ihrer Rückkehr zu den Normalsterblichen nur bedingt verständlich machen. Denn ihre ‚profane Erleuchtung‘, die ihren Widerhall in der eigenen avantgardistischen Kunst erfährt, ist für die allgemein gebildete Bevölkerung nur bedingt nachvollziehbar.4 Diese Selbst- und Fremdstilisierung des Künstlers, die sich als Konstante in verschiedenen Einkleidungen und Facettierungen in der Kunstentwicklung der Moderne5 zeigt (u.a. Gustave Courbet, Lenbach, James Ensor, Salvadore Dali, Timm Ulrichs, Cindy Sherman, Jonathan Meese) scheint sich auf den Kurator übertragen zu haben. Denn es ist nun Bode, der die eigendynamische Kunstentwicklung geradezu seherisch zu erkennen glaubt und ihr durch eine Ausstellung zum Vorschein verhelfen will. Ist zwar zwischen den Zeilen eine Art Demut des Kurators gegenüber der Kunstevolution zu vernehmen, so erweist er sich im gleichen Atemzuge als Heroe, der mit Diplomatie, Organisationsgeschick und Sendungsbewusstsein seiner seherischen Eingebung folgt. Es wurde dem Avantgardekünstler bescheinigt, dass er trotz Drangsal seiner Unterdrückung und Verfolgung im Nationalsozialismus in den Untergrund ging: „Aus seinem 4 Georg Bollenbeck: Tradition Avantgarde Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945. Frankfurt am Main 1999. 5 Die Publikationen zur (Selbst-)Inszenierung des Künstlers, die Auskunft über die allgemeinen wie individuellen Beweggründe, die Formen und Folgen der öffentlich inszenierten Künstlerexistenz sind zahlreich. Vgl. hierzu Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Frankfurt am Main 1999; Alexis Joachimides: Verwandlungskünstler. Der Beginn künstlerischer Selbststilisierung in den Metropolen Paris und London im 18. Jahrhundert. München/Berlin 2008; Alexis Joachimides/Verena Krieger/ Sabine Fastert (Hg.): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/ innenforschung. Wien/Köln 2011.

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Auftrag trat er [= Künstler, K.-U.H.] nicht heraus, denn er stand mit seinem ganzen Wesen in einer unveräußerlichen Folgerichtigkeit, die der allgemeinen Strukturwandlung im Geiste der Epoche selbst zugrundelag.“6 Die Beharrlichkeit des Avantgardisten, die in einer positiven Referenz zu einem entsprechenden „Epochengeist“ stand, war für die Kuratoren Verpflichtung genug, den von Individuum gesteuerten und sich als Strukturprozess zeigende Entwicklung mit einer Überblicksschau moderner Kunst gerecht zu werden: Ganz Europa war daran tätig, in Ruf und Gegenruf die Ausdrucksweisen zu schaffen, in denen der bildnerische Ausdruck der zeitgenössischen Weltvorstellung möglich werden konnte. Als Deutschland da heraustrat, geriet es in die unfruchtbarste und verächtlichste Form der Isolierung – ins Renegatentum. Es durfte also jetzt bei der Frage nach Sinn und Absicht einer, zehn Jahre nach dem Ende des deutschen Totalitarismus und in Deutschland unternommenen großen Kunstschau, sollte sie Wert fürs Allgemeine haben, gerade der seit Jahrzehnten währende Entwicklungsprozeß der modernen Kunst unter keinen Umständen übergangen werden, um die verbreitete geschichtslose Vorstellung, nach der eine Handvoll [...] Individualitäten das Gesicht der Kunst so entscheidend veränderte, durch jene andere, richtige zu ersetzen, nach der eine allgemeine und legitim heraufwachsende Bewußtseinswandlung jene Veränderungen begründete, ja nahezu erzwang.7

Noch deutlicher formulierte es der Kunsthistoriker Werner Haftmann, den Bode für wissenschaftliche wie kuratorische Aufgaben des Projektes gewinnen konnte. Haftmann agierte an der Seite Bodes als Kurator auf Augenhöhe. Ein Jahr vor der Eröffnung der documenta erschien ein opulentes Werk aus der Feder Haftmanns, das die Malerei im 20. Jahrhundert erschöpfend darzustellen suchte und wohl als Grundlagenwerk für die documenta 1 gedient haben muss. In der Einleitung wird seine Einschätzung der Kunstentwicklung seit dem Impressionismus deutlich: Haftmann geht von der Vorstellung aus, dass es ein kollektives Bemühen um einen einheitlichen künstlerischen Stil der Epoche ‚Moderne‘ existiere und die unterschiedlichen Innovationen der Länder Europas gewissermaßen nur Dialekte dieser kollektiven Formensprache darstellen. Getragen sei dieses Streben von einem Ausgleich der Individuen und einem neuen Verhältnis zur Wirklichkeit („voraussetzungslose Seherfahrung“, Haftmann), wobei der Impressionismus erstmals deutliche Anzeichen einer ästhetischen Umsetzung dieser Aufgabenstellung aufweise. Zwar seien die diversen künstlerischen Bemühungen seit den französischen und deutschen Impressionisten auf individuelle Vorstellungen und Aktivitäten zurückzuführen, doch insgesamt handele es sich letztlich um einen quasi selbstbestimmten Prozess, der bis in seine Gegenwart reiche. Bezogen auf die Kapitelstruktur seines Bandes schreibt er: Auf eine chronologisch übersehbare Darstellung im Sinne der klassischen Geschichtsschreibung wird keineswegs verzichtet. Doch sollte das organische Wachstumsgesetz, dem bei 6 7

Schneckenburger, documenta, a.a.O., S.34. Ebd., S.35.

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aller chaotischen Überfülle, die nun einmal ‚Gegenwart‘ kennzeichnet, auch die moderne Kunst unterliegt, klar und deutlich profiliert werden.8

Im Konzept der documenta 1 findet sich nun eine ‚säkularisierte Fassung‘ dieser Art von Kunstgeschichtsschreibung, wenn nicht mehr von einem organischen Wachstum, sondern von einer chronologischen und gruppen- wie individuenorientierten Darstellung die Rede ist: Die Dreiteiligkeit der Ausstellung, wie sie Bode und Haftmann für die documenta vorsahen, entsprach der Vorstellung einer im o.g. Sinne zwangsläufigen Entwicklung der modernen Kunst und ihrer künstlerischen Protagonisten: Neben einem „dokumentarischen Teil“, der in einem Überblick die „großen europäischen Gruppenbewegungen des 20. Jahrhunderts“9 präsentieren sollte, waren Räume für die Altmeister der Avantgarde vorgesehen. Auf diesem Fundament sichtbarer künstlerischer Qualität sollte sich eine Auswahl an zeitgenössischer Kunst erheben, die der Avantgardetradition ihren Tribut zollte. Geradezu plakativ wurde der Brückenschlag zwischen alter und junger Moderne inszeniert, wenn ein großformatiges Tafelbild des jungen Malers Fritz Winter einem solchen von Pablo Picasso gegenübergestellt wurde. Es formiert sich im Konzeptionellen eine rhetorische Argumentationsfigur, die die Annahme eines fremdbestimmten und ‚organischen‘ Fortgangs der Kunst mit der Stilisierung von Auserwählten, die mit seherischen Fähigkeiten ausgestattet scheinen, verschränkt. Es bedarf keiner großen Fantasie, um die Folgeschritte der Akteure zu rekonstruieren: Angesichts der ‚Monumentalität‘ dieser erkannten Prozesse in der Kunst ist es nur sinnfällig, die höchsten Instanzen in der ‚profanen‘ Alltagswelt (Politik, Wirtschaft, Verwaltung) aufzurufen, um die Bevölkerung an den Erkenntnissen mit öffentlicher Bedeutsamkeit in Gestalt einer Ausstellung teilhaben zu lassen. Während bei verschiedenen vergleichbaren historischen Vorgängern in der Ausstellungsgeschichte ein allein pragmatischer Hintergrund bei der Rekrutierung von potenten Unterstützern vorlag und die damaligen Kuratoren entweder eine Leistungsschau oder einen nüchternen Querschnitt durch die unübersichtliche Avantgardekunstszene beabsichtigten, überhöht Bode seine Überblicksausstellung mit einem Verweis auf das Metaphysische. Die Politik scheint dieses Ansinnen zu begrüßen, ist doch ein solch bürgerliches Engagement und die Aussicht auf eine Leistungsschau besonders der vormals verfemten Kunst ganz im Sinne der offiziellen politischen Programmatik. So lassen sich die Ziele einer Wiedergutmachung an die vormals verfolgten Künstler und die Bemühungen um ein Anknüpfen an die internationale Zivilisation als Ziele sowohl der Ausstellungsmacher als auch der Politik ausmachen. Die größte anzunehmende Bedeutung, die die documenta aus Sicht Bodes für 8 Werner 9

Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert. München 1954, S.10. Schneckenburger, documenta, a.a.O., S.32.

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sich in Anspruch nehmen konnte und sich mit einer quasi metaphysischen Aufladung wiederfindet, erfährt eine weitere Bestätigung in der Wissenschaftlichkeit dieses Ausstellungsunternehmens, womit erneut auf die Rolle des Kunsthistorikers Haftmann und seiner Publikation über die „Malerei im 20. Jahrhunderts“10 hingewiesen sei: In der Einleitung zum Katalog der documenta 1 führt Werner Haftmann zunächst eine Genealogie der herausragendsten deutschen (!) Kunstausstellungen gleicher Programmatik ins Feld, um die Notwendigkeit der documenta zu belegen. Die Vergleichbarkeit besonders einer deutschen Ausstellungstradition führt er auf ein „Anliegen des deutschen Geistes“ zurück, „sich jeweils Rechenschaft in breiter Form abzulegen“.11 Solcherlei Handlungsimpulse aus einer vermuteten Kollektivmentalität abzuleiten, verwundert ob seines Sprachgebrauchs wie seines Inhalt besonders mit Blick auf ähnliche Argumentationen nur wenige Jahre zuvor an andere Stelle allerdings mit ideologischer Ausrichtung. Haftmann entgegnet seinen Kritikern, die sich gegen eine großformatige Präsentation der zeitgenössischen Avantgardekunst aussprachen und den KoKurator offenbar im Vorfeld mit ihren skeptischen Stimmen behelligten, dass eine „besondere deutsche Lage“ bestehe: „Diese [= die besondere deutsche Lage; K.-U.H.] verlange vielmehr einen breiten Ansatz, aus der Geschichte her, damit jener flüchtige, in ständiger Wandlung begriffene, aus sich allein nicht bestimmbare, eindimensionale Punkt ‚Gegenwart‘ wieder Breite, Tiefe, das Vieldimensionale gewinnt.“12 Diese kulturtheoretischen Ausführungen eines Kunstwissenschaftlers bestätigen mit anderen Worten die Sichtweise Bodes, dass man es sich bei der von Bode und Haftmann ausgewählten Gegenwartskunst – wie bereits erwähnt – um eine zwar aktuelle Innovation aber dennoch um Bestandteile einer kontinuierlichen Kunstentwicklung handele. Individuelle Handlungsaktivitäten in der Gegenwart werden bei aller sichtbaren Unorthodoxie letztlich als Reflexe einer quasi autonomen Traditionslinie betrachtet. Es gelte für die Ausstellungsmacher, die zeitübergreifende Essenz der Gegenwartskunstszene herauszuarbeiten und in der Ausstellung für alle sichtbar werden zu lassen. An dieser Stelle werden erneut die Kuratoren zu Sehern stilisiert, die mit Blick auf die Avantgardegeschichte und die heroischen Avantgardisten der ersten Stunde einer Berufung nachgehen. Im Zuge dieser Argumentation wird ebenso ein verpflichtendes Moment angeführt, dass die Verfolgung der Avantgardekunst im Nationalsozialismus betrifft. Sieht man einmal von Haftmanns verharmlosender Beschreibung der nationalsozialistischen Verfolgung ab, so wird der Heroismus der Opfer und die vormals gemeinschaftliche Zusammenarbeit der fortschrittlichen Länder Europas auf dem Wege zu einer modernen Kunst angeführt, um 10

Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, a.a.O. Schneckenburger, documenta, a.a.O., S.33. 12 Ebd., S.134. 11

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die documenta 1 in ihrer Konzeption als folgerichtig erscheinen zu lassen. Haftmann wiederholt in verschiedenen Variationen den Aspekt der Verantwortung der Gegenwart gegenüber der Geschichte, die in einer gewissermaßen heldenhaften Aktivität von Individuen den Fortschritt der modernen Kunst garantiert hat. Unter Verweis auf die vergangenen und gegenwärtigen Leistungen anderer europäischer Länder ist offenbar der Gedanke einer nationenbezogenen Leistungsschau noch nicht gänzlich getilgt. Die documenta 1 erscheint untergründig auch als eine Art Wettstreit der Nationen. Haftmanns Publikation und die documenta 1 funktionierten als gegenseitige Substantiierung13: Die documenta 1 kann auf die aktuellsten und profundesten Forschungsergebnisse der Wissenschaft verweisen, die Kunstwissenschaft kann sich durch die documenta 1 eines Grads an öffentlicher Aufmerksamkeit sicher sein, die es als Fachdisziplin nur äußerst selten hat. Beide Formate, die eine umfassende Darstellung der Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst anstrebten, haben nachweislich eine große Nähe, die Auswahl der Künstler und Kunstwerke beider Projekte betreffend. Haftmann verweist zwar auf vorausgegangene Publikationen in Italien, Frankreich, den USA und Deutschland, doch die Opulenz und der Aufbau seiner Schrift lassen unschwer erkennen, dass es sich hier um eine Fundierung des Gedankens der Kunstevolution mit einer gewissen ‚inneren Notwendigkeit‘ handelt. Ähnlich will Bode – unter Verweis auf diverse Vorgängerprojekte – den Status quo der modernen Kunst markieren. Beide Kuratoren sind offenkundig an einer Kanonbildung der Geschichtsschreibung zur modernen Kunst interessiert. In diese wissenschaftliche Kanonisierung der modernen Kunst ist auch die Gegenwartskunst einbezogen. Während Haftmann auf dem Felde der Kunstwissenschaft die Deutungshoheit über die moderne Kunst in Geschichte und Gegenwart für sich behaupten will, ist es Bode auf dem Feld des Kunstbetriebs, der mit der documenta ein vielfältiges Ausstellungsgeschehen zum gleichen Thema gewissermaßen finalisieren möchte. Haftmann wie Bode schreiben in ihren Texten von einer Unübersichtlichkeit, Fülle und Vielfalt der künstlerischen Innovationen und kuratorischen Aktivitäten. Hier wird indirekt eine Prozessualität und Diskursivität in der Kunstöffentlichkeit beobachtet, die für die noch junge Bundesrepublik Deutschland ein positives Merkmal darstellt, sind doch Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung und -vertretung ein genuines Anliegen einer demokratisch gesinnten Öffentlichkeit. Absichten einer Kanonisierung, wie sie Bode und Haftmann für die Entwicklung der modernen Kunst erkennen lassen, verwandeln mit der 13

Dieser gegenseitig stabilisierende Verweis reicht vom Text bis zur Abbildung bzw. Seitenlayout: Vgl. Annette Tietenberg: Eine imaginäre documenta oder Der Kunsthistoriker Werner Haftmann als Bildproduzent. In: Michael Glasmeier/Karin Stengel (Hg.): archive in motion. documenta-Handbuch. Ausst.-Kat. Kunsthalle Fridericianum Kassel. Göttingen 2005, S.35-45.

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documenta 1 und der erwähnten Publikation zumindest symbolisch das Diskursive ins Normative. Die konzeptionelle Potenz der documenta 1 lässt sich als eine geschickte Verschränkung scheinbar widersprüchlicher, in der Kombination aber widerstandsfähiger Argumentationsbausteine bewerten: Die Annahme einer autonomen aber von heroischen Individuen getragenen Kunstentwicklung, die Selbststilisierung des Kurators als Seher und die Sachlichkeit einer wissenschaftlichen Erschließung lassen eine stabile Argumentationsfiguration in Erscheinung treten. Die Veröffentlichung dieses Konzeptes lässt sich als strategischer Schritt deuten. Denn im Gegensatz zu vergleichbaren vorausgehenden Ausstellungen gilt es, mit der Präsentation von moderner Gegenwartskunst nicht nur der vormals ideologisierten Bevölkerung ein demokratisches Grundverständnis nahezubringen, sondern die eigene Kunstausstellung zu einem zentralen Ereignis öffentlichen Interesses mit einem repräsentativen und allgemeinverbindlichen Anspruch zu inszenieren. Hierzu zählt auch das Bemühen um eine wissenschaftliche Kanonisierung, wie sie Haftmann anstrebt. Der Kunsthistoriker und Publizist überführt die Unübersichtlichkeit der Avantgardekunst Europas seit Beginn des 20. Jahrhunderts in ein plausibles Ordnungssystem, auch wenn die Beschreibungen und Deutungen zumindest aufgrund eines bisweilen betont literarischen Duktus nicht immer nachvollziehbar erscheinen. Ein weiteres Konzeptmoment erscheint wie ein Appendix in der Argumentation: Die Bildung der Jugend. Mit tendenziell mahnenden Worten verstehe sich diese Präsentation der internationalen Avantgardekunst als Teil eines Bildungsprogramms, das der jungen Generation die Formen und Weisen der modernen Kunst entwicklungsgeschichtlich nahezubringen und zugleich ethische Grundsätze zu vermitteln sucht. So ernstgemeint dieses Ansinnen auch ist, so sehr erscheint es dennoch wie eine Pflichtübung gegenüber den offiziellen Statuten des Reeducation-Programms der Alliierten und deutschen politischen Elite. Zwar wird auf eine offenbar nicht geringe Zahl ähnlicher Projekte verwiesen, doch wird als Abgrenzung hiervon hervorgehoben, dass man eine Systematik walten lassen wolle und ein ungleich größeres Volumen ansteuere. In gleichem Atemzug wird indirekt den vorausgegangenen Kunstausstellungen gleicher Thematik ein diesbezüglicher Mangel vorgeworfen. Man wolle eine repräsentative Auswahl von Künstlern und Kunstwerken vornehmen, sodass – gemeinsam mit der angenommenen öffentliche Wirksamkeit – auf eine Allgemeingültigkeit geschlossen werden könne. Neben zwei Gattungen der bildenden Kunst wird auch die Architektur als kunstausstellungswürdig benannt, was wohl nicht zuletzt auf die immense Bedeutung des Städtebaus im zerbombten Nachkriegsdeutschland zurückzuführen ist. Dass es sich hierbei nicht nur um

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eine rein quantitative Kunstschau handeln soll, wird in den folgenden Sätzen des Schreibens angedeutet: „[...] ermüdende Häufungen und gegenseitige Beeinträchtigungen [in der Hängung, K.-U.H.] soll vermieden werden.“14 Die Garantie für die genannten besonderen Kennzeichen der Ausstellung sollen offenbar jene Experten liefern, die als aktive Mitglieder dieses Projektes gewonnen werden konnten. Den Eindruck der Seriosität dieses Unternehmens vermittelt u.a. die eingeblendete Kurzskizze der Finanzierung. Tatsächlich scheint die documenta, die zunächst als Begleitereignis der Bundesgartenschau geplant war und sich aber rasch hiervon emanzipieren konnte, im Vergleich zu anderen Kunstausstellungen jener Jahre ein Konzept zu verfolgen, das auf einen zu diesem Zeitpunkt noch nicht existenten Kanon der Avantgardekunst im 20. Jahrhundert hinausläuft, wie in der sogenannten „ProgrammAnkündigung des Arbeitssausschusses“ vom März 1955 proklamiert wurde: Das Anliegen der Ausstellung ist, in einer klaren, knappen Auswahl und auf europäischer Ebene einmal die Entwicklungslinien der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts seit den revolutionären und beunruhigenden Vorgängen zu Beginn unseres Jahrhunderts dokumentarisch nachzuzeichnen und die heute errichteten Positionen in möglichster Schärfe zu bestimmen. Außerhalb jedes Meinungsstreites um Wesen und Wert der modernen Kunst ist es jetzt an der Zeit, die Wege und Punkte des Erreichten auch in Deutschland einmal sinnfällig zu markieren, wie es in unserem Land durch die Internationale Ausstellung in Dresden 1926 geschah.15

SZENOGRAFIEN

Das Unternehmen ‚d1‘ hatte in der ästhetischen Umsetzung des Konzeptes einen besonderen Vorzug vor allen ähnlichen gelagerten Ausstellungen: Der Initiator war zugleich Designer und Künstler. Mit dieser Personalunion bedurfte es nur noch eines Wissenschaftlers, der als Mitstreiter die Leitgedanken der documenta 1 umzusetzen wusste. Es musste nun nicht ein inhaltliches Konzept einem Ausstellungsdesigner vermittelt werden, der – seinen eigenen Vorstellungen und fremden Vorgaben folgend – ein Gestaltungskonzept entwerfen sollte, sondern der Initiator ging – ausgestattet mit einer eigenen ‚Rezeptionstheorie‘ – selbst zu Werke. Das Ergebnis war für sich und im Vergleich zur recht vielfältigen Ausstellungsästhetik jener Jahre eine höchst niveauvolle Raumsprache. Quellenkritisch sei angemerkt, dass Einschätzungen der szenografischen Art und Qualität auf einem visuellen Dokumentationsmaterial beruhten, das Bode selbst in Auftrag gegeben hatte.16 Hier erscheinen die gestalteten Räume 14

Schneckenburger, documenta, a.a.O., S.31. Ebd., S.32. 16 An dieser Stelle sei auf grundlegende Publikationen der Szenografie verwiesen: DASA (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen, Szenografie in Ausstellungen und Museen I-III. Tagungsbände der DASA. Essen 2000-2007; David Dernie: Ausstellungsgestaltung. Konzepte und Techniken. Ludwigsburg 2006. 15

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menschenleer – einem Meisterwerk der bildenden Kunst gleich – in einer szenografischen Reinheit, die von einer Regelstrenge und einem Reduktionismus künden. Die motivisch wie ästhetisch formalisierten Fotografien waren in dieser Hinsicht nur vordergründig rein dokumentarisch-versachtlichte Aufnahmen: Durch die große ästhetische Verwandtschaft der abgebildeten Räume mit dem fotografischen Wiedergabemodus wurde ein inhaltlicher Mehrwert und eine Authentizität dieser rein ‚technischen Bilder‘ suggeriert. Vorausschauend hatte Bode bereits zu Lebzeiten an eine inszenierte, d.h. dem eigenen Konzept folgende Überlieferung seiner Gestaltung gedacht.

Abb.1 documenta 1955, Eingangshalle Fridericianum.

Eine eher intellektuelle Einstimmung auf den Ausstellungsbesuch empfängt den Besucher der documenta 1 in den Erdgeschoss-Räumen im Fridericianum: Im Eingangsbereich zeigt Bode durch wandfüllende Fotodokumentationen17 auf, dass die menschliche Zivilisation eine grundsätzliche Veranlagung habe, jenseits von materieller Existenzsicherung auch einem kulturellen Selbstausdruck zu folgen: Großformatige Fotografien von Bildwerken der Kulturen Mittelamerikas und Europas (Romanik, Etrusker) legen Zeugnis ab von dem geradezu kulturanthropologischen Bedürfnis, Bilder zu erstellen. Hier wird ein ‚Kulturtrieb‘ jenseits von gesellschaftlichen Kontexten und Zeiten propagiert und in den Kunstbegriff der Moderne, der von einer Autonomie der Kunst gegenüber gesellschaftlichen Interessen spricht, implantiert. Diese im weitesten Sinne kulturanthropologische Sichtweise ist nicht unbekannt. Denn auch Willi 17

Grasskamp, documenta. Kunst des XX. Jahrhunderts, a.a.O., S.116-125.

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Abb.2 documenta 1955, Fridericianum, Flur 12.

Abb.3 documenta 1955, Fridericianum, Raum 3.

Baumeister brachte ähnliche Gedanken zu Papier, als er seine Schrift „Über das Unbekannte in der Kunst“ verfasste.18 Betritt der Besucher die unmittelbar nachfolgenden schmalen Gänge, die zu den Ausstellungsräumen führen, so muss er weitere monumentale Fotowände passieren, die eine Vielzahl von großformatigen Porträts namhafter Avantgardekünstler der 1910 und -20er Jahre zeigen. Bode verweist auf den Ausgangspunkt seiner Kunstevolution, die insbesondere mit den Schlüsselfiguren der abstrakten Kunst wie Paul Klee, Oskar Schlemmer, Gerhard Marcks, Max Beckmann oder Piet Mondrian verbunden ist. Es handelt sich um eine programmatische Setzung mit doppelter Zielsetzung: Bode würdigt die Leistungen der Klassischen Avantgardisten, die ihre künstlerischen Visionen gegen jeden Widerstand realisierten und im Nationalsozialismus großen Leid erfahren mussten, und legitimiert zugleich sein Ausstellungskonzept, das auf das eigentlich hohe zivilisatorische Niveau und das Vermögen deutscher Kunst und Kultur verweist. Hier wird offenbar die Leistungsschau der Avantgardisten der ersten Stunde mit der bereits erwähnten Vorstellung einer Kultur- und Kunstevolution verbunden. Bode hatte mit dieser Eröffnung eine interpretative Schleuse eingerichtet, die der Besucher zwangsläufig zu absolvieren hatte, um in den Genuss der Kunstwerke zu kommen. Die Wahl der Fotografie ist vermutlich pragmatisch wie konzeptionell begründet. In Ermangelung eines ausreichenden Budgets war dies wohl die kostengünstigere Variante. Darüber hinaus grenzte sich die profane 18 Will Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst. Köln 1960. Mithin können zeitgenössische Positionen der bildenden Kunst als unterstützend erscheinen, die unter dem Stichwort der Archaik die Kunst der sogenannten primitiven Kunst als vorbildlich erachteten. Hier solle sich ein Konzept offenbaren, das Kreativität unter Anrufung von heidnischen Riten, einem polytheistischen Weltverständnis oder einer naturverbundenen Lebensweise praktiziere. Vgl. hierzu Hans Matthäus Bachmayer/Otto van de Loo/Florian Rötzer (Hg.): Bildwelten. Denkbilder. Augsburg 1986.

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Dokumentationstechnik von der Exklusivität des handgefertigten bzw. autonomen Kunstwerks ab. Zugleich ist es eben dieser Dokumentationscharakter der Fotografie, der der behaupteten Tatsächlichkeit der Kunstevolution Nachdruck verleiht. Die in den Eingangsräumen propagierten Aspekte, das ‚Kunstwollen‘ des Menschen, die Kunstevolution und der Heroismus der Avantgardisten, sollen für den aufmerksamen Besucher die prägenden Leitgedanken bei der Rezeption von Kunstwerken der Ausstellung sein. Damit scheint ein argumentatives Fundament gelegt zu sein, das die Ausstellung über jeden Zweifel, der bei der Begehung der nachfolgenden Ausstellungsräume gehegt werden könnte, erhaben sein würde. Die Vorstellung einer Kunstentwicklung, die von höheren Instanzen eigendynamisch und linear vorangetrieben zu werden scheint, löst zwangsläufig die Vorstellung aus, dass man sich nun auf quasi geweihtem Boden befinde und der Ausstellungsbesuch einem Wandeln durch Tempelhallen gleiche. Zweifellos wird diese Atmosphäre in den folgenden Ausstellungsräumen auf höchstem Niveau geschaffen, sodass bereits Zeitgenossen von einer Inszenierung sprachen und damit auf das Fiktionale der Ausstellung im Sinne einer Bühnendarstellung verwiesen. Ohne an dieser Stelle jeden Raum einzeln zu deklinieren, sei die grundsätzliche Gestaltungsweise und die Raumorganisation benannt, die für die vorliegende Fragestellung erforderlich ist.19 Die documenta 1 erstreckte sich über zwei Geschosse des Fridericianums, das für die anstehenden Zwecke provisorisch hergerichtet wurde. Im Erdgeschoss der Dreiflügelanlage wurden in diversen größeren und kleineren Räumen zahlreiche Kunstwerke präsentiert. Die Binnenunterteilung der Räume im Erdgeschoss setzt sich im Obergeschoss fort, wobei ein Saal in hallenartigen Dimensionen von ca. 50 Metern Länge den Höhepunkt darstellt. Die steinernen Wände wurden unverputzt gelassen und lediglich weiß geschlämmt und in dieser beinahe handwerklichen Oberflächenstruktur lichtdurchlässigen aber opaken, hellen wie dunklen Kunststoffvorhängen gegenübergestellt.20 Diese legendären Folien namens göppinger plastiks erlaubten eine optische Leichtigkeit und eine besondere Lichtregie in den Räumen. Das Licht wurde nicht nur gefiltert, sondern gab als Lichtsilhouette die historischen Fensterlaibungen wieder und ließ Sakralarchitektur assoziieren. Diese rundbogenförmigen Lichtsilhouetten dienten Bode als immaterieller Hintergrund für davor gestellte Sockelfiguren, die im Wechselspiel mit dem profan/ sakralen Hintergrundlicht eine weihevolle Aufladung suggerierten. Die Exponate der Skulptur, Malerei und Grafik werden stets raumbezogen präsentiert. Die Bildwerke werden direkt an die Wand oder Folie gehängt, 19 Walter

Grasskamp hat diese Arbeit bereits geleistet: Grasskamp, documenta. Kunst des XX. Jahrhunderts, a.a.O., S.116-125. 20 Solche Vorhänge waren bereits im Theaterwesen als Bühnenrequisit bekannt.

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Abb.4 documenta 1955, Fridericianum, Raum 13.

teilweise im Tableaustil teilweise in Einzelhängung oder im Reihungsprinzip. Auffällig sind jene Präsentationen, die die Gemälde an einem Gestänge befestigt ca. 20 Zentimeter vor der Wand offerieren. Die Bilder bekommen hierdurch etwas Schwebendes, das man – in Erinnerung an die deutlich wandbezogene und in diesem Verbund monumentalisierende Wirkung von Kunstwerken in Ausstellungen des Nationalsozialismus – als Geste der Sachlichkeit und Aufgeklärtheit werten möchte. Überdies ermöglicht diese Hängung eine Ausrichtung auf Raum und Betrachter, wenn die Bildwerke nun von dem rechten Winkel der umgebenden Wände abweichen und sich in Diagonalstellung dem Ausstellungsbesucher zuwenden.21 Herausragend ist die ca. 50 Meter lange Wandelhalle, die in extremer Longitudinalausrichtung zwei großformatige Bildwerke antipodisch an den Schmalseiten präsentiert und an den Längswänden eine Vielzahl von klein- bis mittelformatigen Gemälden in dichtgedrängter Hängung zeigt. Assoziationen an einen Weiheraum etwa eines christlichen Sakralraumes liegen nahe, wenn der Besucher die Vielzahl von wichtigen, aber scheinbar egalitären Werken abschreitet, um schließlich das hochrangige ‚Altarbild‘ zu betrachten. Die Werke der Plastik und Skulptur wurden vereinzelt den Bilderräumen zugeordnet, in der Regel aber im Verbund gezeigt. So antwortet Bode feinfühlig auf die Vorgaben des Raumes, wenn er Sockelfiguren auf die dominanten Träger und Interkolumnen ausrichtet, den durch die Raumsituation vorgegebenen Charakter einer Platzierung (Nische, Frontalwand) betont bzw. für sich nutzt. 21 Als mögliche Gründe sind ebenfalls konservatorische Belange anzuführen, denn die lediglich geschlämmten Wände konnten in den nicht-klimatisierten Räumen u.a. Ausdünstungen durch wechselnde Temperatur- und Luftfeuchtigkeitswerte bewirken. Direkt an die Wand gehängte Bildträger aus Holz, Leinwand oder Papier konnten hiervon erheblichen Schaden nehmen.

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Abb.5 documenta 1955, Fridericianum, Treppenhaus.

Es ist vornehmlich der häufig visuellen Fragilität und Abstraktion in der Formensprache zu verdanken, dass die Werke der Bildhauerei keine Monumentalisierung erfahren. Denn die Platzierung der Exponate nimmt Symmetrien und Rhythmen des gegebenen Raumes auf. Ein wenig pathetisch muten spezielle Ensemble an: Gemeint sind jene Zusammenstellungen von drei bis vier großformatigen Figuren, die in einer erstarrten Pseudo-Interaktion begriffen zu sein scheinen, d.h. scheinbar demutsvoll voreinander knien, zueinander sprechen usw. Solcherlei Inszenierungen verweisen und unterstützen geradezu im Einzelfall eine inhaltliche Aufladung von Exponaten.22 Die Platzierung der Kunstwerke folgt unterschiedlichen Konzepten. Es werden teilweise mehrere Werke eines Künstlers gezeigt, offenbar um das Formprinzip eines Künstlerindividuums zu dokumentieren. Punktuell gibt es sogar Räume, die nur einem Künstler gewidmet sind. Darüber hinaus sind schwerpunktmäßig Werke eines Landes zusammengefügt, um offenbar die Leistungen einer Kulturnation vor Augen zu führen.23 22

Vgl. hierzu Walter Grasskamp: Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit. München 1989, S.97ff. 23 Die museale Präsentation von Werken der bildenden Kunst nach Nationen war keine Erfindung der Kasseler Ausstellungsmacher. Bereits 1781 entwickelte Christian van Mechel für die Belvedere

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Abb.6 documenta 1955, Fridericianum, Raum 17.

Ähnliches hatte man auch auf der Internationalen Kunstausstellung 1926 in Dresden praktiziert, die stets als Vorbild für Bode genannt wurde. Hier zeigen sich im Ganzen wie im Detail große Parallelen, sodass ein kurzer Exkurs zu dem historischen Vorbild sinnvoll erscheint: Die Internationale Kunstausstellung war als Teil der Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung eine Veranstaltung der sogenannten „Jahresschau deutscher Arbeit‘, die im Jahre 1922 mit massiver Unterstützung der sächsischen Industrie von der Stadt Dresden initiiert worden war. Es galt, der nach dem Krieg arg mitgenommenen Industrie und dem Handel durch regelmäßige Ausstellungen und Messen Öffentlichkeit zu verschaffen und über diesen Weg den wirtschaftlichen Aufschwung der Region zu fördern. Die Stadt Dresden bemühte sich, ihren Rang in der kommunalen Konkurrenz Deutschlands zu behaupten und gleichzeitig der Welt davon Zeugnis abzulegen, dass ‚Produkte deutscher Herkunft‘ Weltrang genießen. So waren auf den ‚Jahresschauen‘ seit 1922 allein Industrieprodukte zu sehen, bis man sich 1924 dazu entschloss, eine Gartenbau-Ausstellung ins Leben zu rufen. Auf Vorschlag von Prof. Sterl (Akademie der Künste in Dresden) wurde der Gartenbau-Ausstellung eine Internationale Kunstausstellung angegliedert, die einen repräsentativen Querschnitt der zeitgenössischen Kunst darstellen sollte. 1925 Galerie in Wien ein neues Hängungskonzept, das sich von der prachtvollen Selbstdarstellung eines Herrscherhauses abwendete und einer eher pädagogischen Ausrichtung folgte: Keine Inszenierung der politischen wie wirtschaftlichen Potenz und Legitimation eines Hofes durch Kunstbesitz war zumindest nicht mehr vorrangig geplant, sondern eine Auswahl und Anordnung von Kunstwerken, die es dem Besucher ermöglichte, die Entwicklung der Kunst nach Schulen, Nationen und Zeiten nachzuvollziehen. Hierbei wurde auf das inszenatorische Zusammenwirken von Architektur, Dekoration und Kunstwerk verzichtet: Die umgebende Architektur war nur Gehäuse, um Kunstwerke, die für sich sprachen, aufzunehmen. Der Kurator sollte kraft seiner Kennerschaft die richtige Auswahl und Zuordnung vornehmen, um den Besuchern die Kunstentwicklung der vergangenen Jahrhunderte entlang der genannten Kriterien zu vermitteln.

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übernahm der Leiter der Gemäldegalerie, Hans Posse, die Leitung und veränderte das Konzept. Posse legte weniger Wert auf einen Querschnitt aktueller Kunst und einer damit verbundenen gegenseitigen Anregung innerhalb der internationalen Kunst. Er war vielmehr bestrebt, mit der Ausstellung die kulturellen Traditionen und die künstlerische Potenz der Stadt Dresden und auch Deutschlands unter Beweis zu stellen. Hier bestand konkreter Nachholbedarf. Denn während sich Industrie und Handel ‚regeneriert‘ hatten, verlor die Dresdner Künstlerschaft an Bedeutung. Dieser Verlust an Wertschätzung der Dresdner Kunst stand also in einem krassen Gegensatz zur wirtschaftlichen Stärke Dresdens um 1926, sodass quasi von einem kulturellen Vakuum gesprochen werden kann. Die Internationale Kunstausstellung war daher eine willkommene Gelegenheit, diesen offensichtlichen Missstand zu entschärfen. So waren 24 der insgesamt 56 Säle der deutschen und der Dresdner Kunst reserviert, während den ausländischen Staaten wie Russland, Amerika, Schweiz, Schweden usw. lediglich 32 Säle zur Verfügung standen. Darüber hinaus wurde die deutsche und besonders die Dresdner Kunst auf der Internationalen Kunstausstellung geradezu inszeniert: Sie präsentierte sich als End- und Höhepunkt der Ausstellung. Posse war also bestrebt, auf dieser Kunstausstellung die deutsche und mehr noch die Dresdner Kunst in den Blickpunkt zu rücken. Paradox scheint dabei, dass diese Ausstellung von Will Grohmann in einer Ausstellungsbesprechung als Ausdruck eines geeinten Europas bezeichnet wurde: Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist der einzige vorläufige Beweis für die wahrhafte Existenz eines Pan-Europa und seine Vorherrschaft in der Welt. Während auf allen Gebieten des geistigen und materiellen Lebens eine augenscheinliche Verlagerung des Schwergewichts nach neuen Zentren der Erde eingetreten ist, behauptet sich der alte Kontinent in der Erfüllung einer künstlerischen Mission, und nur hierin zunächst ist Europa aus dem Stadium des Begriffs in die Wirklichkeit einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft ebenbürtiger Partner getreten, oder richtiger: ist die Solidarität und Führung Europas erhalten geblieben.24

Doch von ‚ebenbürtigen Partnern‘ einer europäischen Gemeinschaft, von denen Grohmann sprach, kann keineswegs die Rede sein. So versäumte er es nicht, die unterschiedlichen kulturellen Leistungen der einzelnen Nationen festzustellen: „Nicht als ob alle Länder einen gleichwertigen Beitrag zur abendländischen Kunst lieferten – der Grad und die Qualität der Beteiligung sind sehr verschieden und in den verschiedenen Epochen keineswegs konstant [...].“25 Die Internationale Kunstausstellung 1926 in Dresden verstand sich damit als 24

Will Grohmann: Die Kunst der Gegenwart auf der Internationalen Kunstausstellung Dresden 1926. In: Ders./Gustav Allinger/Georg Biermann: Dresden 1926: Internationale Kunstausstellung. JubiläumsGartenbau-Ausstellung. Der Cicerone 12 (Sonderheft), Leipzig 1926, S.377. 25 Ebd.

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eine Bilanz des kulturellen Niveaus der einzelnen europäischen Nationen und war letztlich ein Wettstreit der beteiligten Länder, der zugunsten deutscher und Dresdner Kunst ausgetragen wurde. Die Internationale Kunstausstellung in Dresden hatte somit einen nationalistischen Charakter. In Dresden wie in Kassel waren Gartenbauausstellungen die Rahmensetzungen für eine Kunstausstellung. Hier wie dort suchte man in einer wirtschaftlich prekären Nachkriegssituation nach einer Belebung des gesellschaftlichen Lebens. Als Thema wurde die moderne Kunst bis in die Gegenwart gewählt, wobei man die künstlerischen Leistungen ganz Europas spiegeln wollte. Grundlegend ist beiden Ausstellungen eine widersprüchliche Tendenz: Unter den Vorzeichen einer Versöhnung der Nationen Europas, die in kriegerischen Handlungen zuvor entzweit waren, wollte man das Gemeinsame der modernen Zivilisationen betonen. Zugleich mischte sich der Gedanke der Eigenarten jeder Kulturregion, die man unterschiedlich herleitete. War in Dresden noch ein ausgesprochener Konservatismus im Sinne einer Leistungsschau spürbar, so fand sich in Kassel ein Liberalismus, der die Nationen zu einer Bilanz des Künstlerischen auf gleicher Augenhöhe einlud. Jedoch auf anderer Ebene finden sich Aspekte des Autoritären, die es noch zu erläutern gilt. Insgesamt zeigt sich eine paradoxe Wirkung und Aussage Bodes Ausstellungsdesigns auf der documenta 1: Die Gegenüberstellung von weitestgehend ungeschöntem Mauerwerk und Wandverkleidungen und industriellem Vorhangstoffen, der Einsatz und die optische Leichtigkeit von modernen Industriematerialien und die Platzierung der Exponate als Einzelobjekte, in Reihung oder Tableau-Anordnung sowie die Entkopplung von Wand und Bild lassen auf ein Kulturverständnis schließen, das der Industrie, Wissenschaft und Technik und einer allgemeinen Liberalisierung positiv gegenübersteht und der Tradition als Lieferantin eines sich selbst genügenden und erstarrten Regelwerks skeptisch gesinnt ist. Zugleich aber finden sich Rauminszenierungen, die durch eine gezielte Lichtregie, eine Monumentalisierung der Raumdimensionen, durch eine strenge Rhythmik der Wandelemente und Exponatplazierung sowie einen allgemeinen Farb- und Formreduktionismus eine asketische und zugleich weihevolle Atmosphäre schaffen, die diese Kunstausstellung zu einem Aufscheinen von Kräften höherer Ordnung, die künstlerischen Exponate als Indizien einer Kunstevolution und seine Urheber als Mittlerfiguren zwischen physischen und metaphysischen Sphären werden lassen. Mit diesem ‚Pathos des Reduktionismus‘ lässt Bode keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser Kunstschau um ein Ereignis von normativem Ausmaß handelt. Bezogen auf die reduktionistisch-versachlichte Ästhetik der documenta 1 wird stets die Tätigkeit Bodes als Ausstellungsdesigner für Messestände angeführt, die eine ähnliche Formensprache aufweisen. Eine Wiederkehr der Inszenierungsmodi ist unverkennbar, doch ist es ein grundsätzlicher Unter-

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schied, ob man ein Massenprodukt und damit einen Gebrauchsgegenstand durch eine weihevolle Inszenierung nobilitiert oder ob man ein Kunstwerk, das mit Blick auf einen herrschenden Kunstbegriff per se eine semantische Exklusivität für sich in Anspruch nehmen kann, derart in Szene setzt. Dort werden der Kunstbegriff und damit der Widerspruch strategisch einkalkuliert, hier wird eine bestehende Kunstanschauung jedoch potenziert. Der Charakter des Normativen in Konzept und Ästhetik der documenta wird durch einen Vergleich mit diversen anderen Ausstellungen jener Jahre überdeutlich.26 Eine nicht geringe Zahl an Ausstellungen zur modernen und gar zeitgenössischen Kunst wurde in vielen Städten des Landes bis 1955 gezeigt. Summarisch seien genannt: Moderne französische Malerei (München, 1947), Deutsche. Kunstausstellung (Dresden, 1946/1949/1953), Kunstwoche (Tübingen, Karlsruhe 1946), Extreme Malerei (Stuttgart, 1947), Mensch und Form unserer Zeit (Recklinghausen, 1952), Deutsche Kunst der Gegenwart (Baden-Baden, 1947), Werkbund-Ausstellung ‚Deutsche Architektur seit 1945‘ (Köln 1949). Daneben sind es neugegründete Künstlergruppen (z.B. ‚ZEN 49‘, ‚junger westen‘, ‚Quadriga‘), die ihre Werke einem kunstinteressierten Publikum nahebringen wollten und eigene Ausstellungen einrichteten. Den Umständen der Nachkriegsjahre geschuldet, hatten nicht wenige Ausstellungen dieser Jahre den Charme der Improvisation. Dennoch zeigt sich in der Konzeption und Ästhetik ein breites Spektrum, das vom Konventionellen bis Experimentellen reicht, wie bereits ein flüchtiger Blick auf die Veranstaltungen zeigt: In der ersten Ausstellung der Gruppe ‚ZEN 49‘ finden sich dünne Stellwände aus Rahmenkonstruktionen und Podeststaffelungen mit Kleinplastiken. Die Werke von Gerhard Fietz, Brigitte Meier-Denninghoff, Rolf Cavael oder Willi Baumeister waren im Klein- und Mittelformat gehalten und wurden in einer beinahe monotonen Reihung präsentiert. Mitglieder der Gruppe wie Fritz Winter, Rupprecht Geiger oder Willi Baumeister proklamierten die Abstraktion als zukunftsweisende Bildsprache, die sie in der Nähe durch ihren ornamentalen Charakter als Ausdruck eines – im positiven Sinne – ‚folkloristischen Formempfindens‘ wähnten.27 Die Gruppe ‚Quadriga‘ eröffnet 1952 eine Ausstellung mit einem nicht 26 Vgl. hierzu Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945-49. Berlin 1981; Horst Ahlheit:

Von der „befreiten Kunst“ bis zur „freien“ Kunst. Skizze zur Kunstpolitik in Deutschland. Ausstellungen 1945-1949. In: Frankfurter Kunstverein (Hg.): Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Tendenzen in der Kunst nach 45. Berlin 1980, S.30-47; Bernhard Schulz (Hg.): Grauzonen Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945-1955. Ausst.-Kat. Berlin 1983. Als Orientierung mag auch das Projekt ‚Galerie des 20. Jahrhundert‘ in Berlin gedient haben. Der Bund kaufte unentwegt Kunst für eine eigene Sammlung an, deren Exponate jedoch in einem Magazin verbleiben mussten, da kein Ausstellungsgebäude vorhanden war. 27 Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, a.a.O.

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Abb.7 Neuexpressionisten (Quadriga) Zimmergalerie Franck, Frankfurt am Main.

minder improvisierten Duktus. Die Gruppe, die zwar keiner festen Programmatik folgte, insgesamt aber der Abstraktion als Formensprache huldigte, strebte ganz im urdemokratischen Sinne nach einem freien ‚Selbstorganisieren‘ von Gleichgesinnten. Die Werke ihrer Mitglieder wie Karl Otto Götz, Bernard Schulze, Heinz Kreutz, Otto Greis, Karl Hartung u.a. wurden in den Privaträumen von Klaus Franck in Frankfurt am Main in wechselnder Hängung gezeigt. Umgeben von den privaten Alltaggegenständen inklusive Mobiliar wird man an jene Salontradition erinnert, in deren Zuge man zu Beginn der Aufklärung in einem kleinen Kreise von Kulturschaffenden die künstlerischen Hervorbringungen (zumeist der Literatur) von Zeitgenossen diskutierte. Weitaus professioneller zeigte sich die Ausstellung ‚subjektive Fotografie‘, die ihre Pforten bereits 1951 eröffnete und zu Recht als „documenta der Fotografie“ bezeichnet wird.28 Mit über 700 Exponaten der Fotografie präsentierte Otto Steinert einen Querschnitt der „fotografischen Stilformen seiner Zeit“ jenseits der Gebrauchsfotografie. Bewusst wählte Steinert eine unprätentiöse Darbietung der Fotografien, wenn er durchgängig eine filigrane Stellkonstruktion aus Stäben wählte, an denen weitestgehend unabhängig von den gegebenen Wänden und Raumdimensionen die Exponate montiert waren. Die Fotos in Glasrahmen schwebten aufgehängt an Holzlatten, wurden an schwebenden Dreieckskonstruktionen oder wie Wimpel an vertikale Latten montiert oder wurden auf Tischen präsentiert. Trotz des Anspruchs, Fotografien mit künstlerischem Wert zu zeigen, unterließ es Steinert nicht, damit auf den technischapparativen Entstehungskontext und die serielle Fertigung der versammelten 28 Weitere Ausführungen finden sich in: Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunstausstellungen

des 20. Jahrhunderts. Ausst.-Kat. Berlinische Galerie. Berlin 1988.

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Bildwerke zu verweisen. Überdies ein überdeutlicher und nachträglicher Gestus gegen die monumentalisierenden Ausstellungsinszenierungen im Nationalsozialismus. Zu den reinen Kunstausstellungen gesellen sich Projekte, die sich (allein oder in Kombination mit Kunstwerken) dem Produktdesign widmeten und für eine Einschätzung des Inszenierungskonzeptes von Bode von Bedeutung sind. Eine Kombination aus Produktgestaltungen und Objekten der Kunst präsentierte die Ausstellung ‚Mensch und Form unserer Zeit‘ 1952 in Recklinghausen. Ein rein formalästhetischer Vergleich, der durch die Anordnung der Exponate stimuliert wird, behauptet eine letztlich gemeinsame Formensprache, die gewissermaßen von einer kollektiven Kultur und Befindlichkeit Zeugnis ablegt. Es zeigt sich ein pädagogischer Grundzug der Ausstellungsmacher, die der allgemeinen Bevölkerung eine erkannte Leitlinie des zeitgenössischen Geschmacks zu vermitteln suchen. Hier wird das Konzept einer ‚vergleichenden Betrachtung‘ und des zwar stimulierten aber letztlich selbstorganisierten Erkenntnisgewinns offenkundig. Die Ausstellung ist Ausdruck einer Suche nach einer kollektiven Identität, die sich nach einem autoritär-ideologischen Staatsgebilde nunmehr in einer freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit selbst definieren muss und dies in der unverfänglichen Sphäre der Kunst und des Designs zwischen Geschmack und ehernen Regeln zu finden hofft. Eine herausragende Bedeutung hatte die Ausstellung ‚Die gute Form‘ inne, die Max Bill 1949 auf Einladung des Schweizer Werkbundes ausrichtete. Der Ausstellung war eine heftige öffentliche Debatte um Bills These einer Formgebung aus ‚Funktion und Schönheit‘ vorangegangen, sodass ein weiterer Vergleichsparameter mit der documenta 1 besteht. Bill verweigerte sich einem zeitgenössischen Gestaltungsdogma aus der Nachfolge des Dessauer Bauhauses. In einer Ausstellung visualisierte und konkretisierte Bill seine Thesen zu einer Rückgewinnung des Schönheitsgedankens in der Produktgestaltung. ‚Die gute Form‘ wurde nicht nur das Konzept, sondern auch die Ausstellung betitelt, die im Mai 1949 als Sonderschau auf der Mustermesse in Basel stattfand.29 Hiernach sollte die Sonderschau alljährlich stattfinden, sie erfuhr in späterer Zeit lediglich eine Veränderung des Titels. Der vorhandene Raum – eine Industriehalle ohne dekorative Hinzufügungen – wurde durch eine filigrane hölzerne Lattenkonstruktion, die zwischen Boden und Decke eingespannt wurde, in leichter, geschwungener Formation gegliedert. Bill befestigte – auf beiden Seiten der Konstruktion – insgesamt 80 29

Die Ausstellung wurde vom 7. bis 17. Mai 1949 als Sonderschau auf der Mustermesse in Basel gezeigt. Zeitgleich (14.-3. Juli 1949) war die Schau auf der ersten Ausstellung des Deutschen Werkbunds nach dessen Neugründung zu sehen. Vgl. Winfried Nerdinger (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund. 1907-2007. Ausst-Kat. TU München. München 2007.

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Abb.8 ‚Die gute Form‘, Basel 1949, Objekt- und Fotoinstallation.

mit Texten und Fotos bedruckte Tafeln derart, dass auf Augenhöhe ein umlaufendes Band entstand. Zwischen den Lattenkonstruktionen wurden Sockel mit Designobjekten aus der Alltagswelt gewissermaßen als Vorzeigebeispiele für eine gelungene Formgebung platziert.30 Die einzelnen Tafeln zeigten jeweils drei Beispiele mit einer Fotografie und einem kurzen erläuternden Text. Der Rapportstil, der sich nach immer gleichem Schema über alle Tafeln zog, lief Gefahr, den Besucher zu ermüden, wenn nicht einzelne Beispiele auch als Original präsentiert worden wären. Diese fachspezifische Ausstellung bot nachträglich und willentlich den propagandistischen Inszenierungen des Nationalsozialismus Paroli und formulierte eine Sprache der Sachlichkeit, die den Betrachter als emanzipierten Besucher einlud, die vorgetragenen Argumente abzuwägen. Die genannten gestalterischen Aspekte, die der Sachlichkeit und Aufklärung das Wort redeten, ließen schließlich die Ausstellung zu einer Neuauf30 Als Vorgänger solcherlei Gestaltungsprinzipien können die Ausstellungsgestaltungen von Friedrich Kiesler auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik 1924 in Wien, von El Lissitzky auf der Werkbund-Ausstellung ‚Film und Foto‘ 1929 in Stuttgart oder von Hannes Meyer und Herbert Bayer im Rahmen von Bauhaus- bzw. Werkbund-Ausstellungen. Nicht unerwähnt dürfen eine Reihe von Umbauten in Museen gegen Ende der 1920er Jahre etwa in Köln bleiben, die ein modernes Präsentationsdesign wählten: Auf formreduzierte, transparente und temporäre Konstruktionen basierte das Gestaltungsprinzip der genannten Ausstellungen.

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lage des Gesamtkunstwerkes erwachsen, in das unweigerlich die verschiedensten alten wie neuen ‚Medien‘ wie Architektur, Typografie, Fotografie, Plastik (Kinetik) zusammen flossen.31 Mit seiner Ausstellung ‚Die gute Form‘ wähnte sich Bill in der Tradition des Bauhauses, zugleich jedoch nahm er einen elementaren Streitpunkt des Bauhaus-Rezeption vorweg, der zu Beginn der 1950er Jahre über einen längeren Zeitraum diskutiert wurde: die Glorifizierung des Kubisch-Geometrischen im Kontext des Bauhauses und die Ausblendung des Ästhetischen. Dieses Dogma, das den Gestalter als rein dienende Kraft des Funktionalen degradiert und eine orthodoxe Auslegung des Bauhauses darstellt, kann anhand der Schriften Gropius’ unter dem Hinweis der sogenannten ‚Wesensforschung‘ des Objektes widerlegt werden. Bill begnügt sich nicht mit einer diesbezüglichen Beweisführung, sondern formuliert eine aktualisierte Version moderner Produktgestalt. Das Ausstellungsdesign erweist sich als Ergebnis von Erkenntnissen der Technik und Wissenschaft und den Bedürfnissen menschlicher Sozialität und Ästhetik. So zeigt sich der Designer im Sinne Bills als Künstler und Erzieher der Gesellschaft, dessen Produkt – so auch das Ausstellungsdesign – nicht dekorativen Zwecken folgt, sondern auf eine intuitive Erziehung der Gesellschaft abzielt. Der Gebrauchswert des Produktes resp. der Ausstellung misst sich an den vielfältigen Bedürfnissen des Menschen. Bei aller Sachlichkeit der Informationsübermittlung wird in der radikalen Formreduzierung, der räumlichen Komposition der Lattenkonstruktionen und Objekte und nicht zuletzt dem Layout der Schautafeln dennoch eine ästhetische Dimension offenkundig, die über das rein Funktionale hinausgeht. Angeführt sei auch ein weiteres Beispiel der zeitgenössischen Kunstausstellung, die nur ein Jahr nach der documenta in London gezeigt wurde, jedoch bereits Anfang 1955 in konkreten Planungen begriffen war: Die Kunstschau ‚This is Tomorrow‘ wurde von der Independent Group in der Whitechapel Gallery als Künstlerausstellung eingerichtet, die in einer vergleichsweise komplizierten Raumdisposition einer Reihe von Künstlern die Möglichkeit bot, als Künstlerkuratoren ihre jeweiligen Räume zu gestalten. Der Titel ist programmatisch, ist 31 Bill konnte sich hier auf die Leistungen des Bauhauses in Dessau berufen: In komplex angelegten

Untersuchungen experimentierten die Bauhäusler Joost Schmidt und Heinz Loew beispielsweise mit der Mechanisierung und Typisierung von Raumgestaltungen, um diese dann zur Serienreife zu führen. Fragen des Raumbegriffs, von Licht und Schatten oder der menschlichen Wahrnehmung standen im Vordergrund der Arbeit in der ‚Plastischen Werkstatt‘ (1927-1930). Schließlich unterschieden Schmidt und Loew drei Typen von Ausstellungen: Die Verkaufsausstellung, die Spezialausstellung und die Prestigeausstellung. Stets ging es zunächst rein pragmatisch um die Funktions- und Auftraggebung, dabei jedoch beachtend, dass man keinesfalls werbestrategische Animationsdienste leisten, sondern lediglich informieren wollte: Aufklärung statt Überredung war das Motto. Abweichungen von dieser Planung wurden jedoch bei der Prestigeausstellung erlaubt. Atmosphäre und Symbole, also schlichtweg inszenatorische und suggestive Mittel wurden eingesetzt, und man enthob sich nur dort von einer selbst auferlegten puren Informationspflicht.

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Abb.9 ‚This is Tomorrow‘, London 1956, Gruppe 2.

doch der Impuls zu dieser Ausstellung in den zahlreichen öffentlichen Diskussionen von jungen Mitgliedern des ‚Institute for Contemporary Art‘ in London zu suchen. Die Künstler gaben mit ihren kuratorisch-künstlerischen Installationen Antworten auf die Frage nach dem Konzept der Zukunft, die sich vornehmlich dem Verhältnis von Industrie, Technik und Natur widmete. An diesem Institut zeigte sich eine geradezu synenergetische Verbindung einer aktuellen Diskurspraxis mit dem Medium ‚Ausstellung‘. Denn die zahlreichen fortlaufenden Diskussionen zu zentralen Fragen der Kultur wurden ab einem bestimmten Zeitpunkt in eine Kunstausstellung überführt: Die Diskussionsteilnehmer und zugleich Künstler wurden eingeladen, ihre Sichtweise auf das aktuelle Problemfeld in eine künstlerische Ausdrucksform zu überführen und zu präsentieren. Die Ausstellung und ihre Beiträge wurden dann wieder als Beitrag und Stimulanz in die Diskussion zurückgeführt. Nicht unerwähnt darf bleiben, auf welchem historischen Fundament die Ausstellungsästhetik der documenta von 1955 und ihre Parallelprojekte bauen konnten. Erinnert sei an die zahlreichen Umgestaltungen von deutschen Museen in Berlin, Dresden und Essen oder Ausstellungen wie die der Wiener Sezession im Jahre 1903.32 Darüber hinaus sind es herausragende historische Vorgänger, 32 Grundlegende Publikationen zur Museums- und Ausstellungsgeschichte: Alexis Joachimides: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880-1940. Dresden 2002; Jennifer John/Dorothee Richter/Sigrid Schade (Hg.): Re-Visionen des Displays.

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Abb.10 ‚This is Tomorrow‘, London 1956, Gruppe 6.

die eine kurze Traditionsgeschichte des modernen Ausstellungsdesigns geschrieben haben: Sonderbund-Ausstellung 1912 in Köln, die Dada-Messe 1920 in Berlin, das Abstrakte Kabinett 1926/1928 in Dresden/Hannover, der Sowjetische Pavillon auf der PRESSA 1928 in Köln, die ‚Exposition Internationale du Surréalisme‘ 1938 in Paris und die Ausstellung ,Art of this Century‘ 1944-47 in New York. Experimentelles, Konventionelles wie Normatives lotete bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Möglichkeiten der Kunst- und Produktpräsentation aus, sodass eine große Bandbreite an Konzepten und Formensprachen zur Verfügung standen. Aus dieser Perspektive kann der ersten documenta sowohl thematisch wie auch ausstellungsästhetisch kein Alleinstellungsmerkmal bescheinigt werden. Die Gestaltung der documenta 1 gleicht einem Lehrbuch von Grundkenntnissen des Ausstellungsdesigns, das auf einem Repertoire an überlieferten Gestaltungsmöglichkeiten fußen kann und Anleihen in benachbarten Gestaltungsterrains (Architektur) unternehmen kann. Dies soll jedoch nicht die Leistungen Bodes in ästhetischer wie konzeptioneller Hinsicht schmälern. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum. Zürich 2008; Klüser/Hegewisch, Die Kunst der Ausstellung, a.a.O.; Georg Friedrich Koch: Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1967; Christian Kravagna (Hg.): Das Museum als Arena. The Museum as Arena. Köln 2001; Christian Stoelting: Inszenierung von Kunst. Die Emanzipation der Ausstellung zum Kunstwerk. Weimar 2000; Stationen der Moderne, a.a.O.

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PROFANE SACHKENNTNIS UND KONGENIALE SENSORIK: DIE GESTEUERTE KUNSTANSCHAUUNG

Die Ausstellungsgestaltung der documenta 1 erklärt sich nicht zuletzt aus dem Kunstbegriff und dem Rezeptionskonzept Arnold Bodes. Demnach erkläre sich das Kunstwerk nicht durch die eigene ästhetische Verfasstheit, sondern bedarf einer externen Unterstützung, damit der Betrachter die Gehalte des Artefakts erschließen kann, wie Bode proklamierte: Es geht im Grunde um das visuelle Begreifen dessen, was schöpferische Menschen machen. Es ist einfach nicht wahr, dass das Kunstwerk sich selbst genug ist. Selbstverständlich ist das Kunstwerk, das Bild, die Voraussetzung, aber es ist uns, um die Chance des Begreifens zu bieten, aufgetragen, diesem Kunstwerk die zweite Ordnung zu geben. [...] Ausgeschaltet ist die Unordnung der Umgebung, die Nachbarschaft ist weggeblendet, isoliert. Der Betrachter ist mit den Bildern allein und erlebt vielleicht ein Stück von der Einsamkeit, in der diese Bilder auch entstanden sind. Was man hier findet, ist, wenn Sie so wollen, ein sakraler Raum – etwas Anderes selbstverständlich als die Kirche –, etwas neues, eben das Museum, das für uns heute an diese Stelle treten könnte, mit viel verschenktem Raum, so nutzlos und so schön, wie es auch ein Gedicht bisweilen sein kann.33

Es ist der Ausstellungsdesigner, der für das Kunstwerk jene unmittelbare Umgebung schafft, die dem Betrachter einen inhaltlichen Zugang zum Exponat ermöglicht. Bei dieser Umgebung, die Bode als „zweite Ordnung“ beschreibt und dem Designer in Ergänzung zur „1. Ordnung“ bzw. dem Kunstwerk zuspricht, handelt es sich um eine Ausstellungsinszenierung, die nicht mehr die bloße Darbietung von Exponaten zum Ziel hat oder kunstfremde Interessen (Politik, Wirtschaft) zu berücksichtigen hat. Es gehe um ein sensibles Abstimmen der räumlichen Gegebenheiten (im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten) mit den ästhetischen Qualitäten der auszustellenden Kunstwerke. Der Designer schaffe jene Inszenierung, die eine symbiotische Einheit mit jedem Kunstwerk eingehe, um die ästhetischen wie inhaltlichen Gehalte des Werks schließlich intuitiv zu verstehen. Es handelt sich hierbei um ein gewissermaßen psycho-sensorisches, geradezu sensualistisches Konzept ästhetischer Erfahrung, das von sich behauptet, in Allianz mit Künstler und Kunstwerk die Essenz des Werks erst zugänglich zu machen. Die grundsätzlich von Bode behaupteten Vermittlungsdefizite eines Artefakts werden durch den Ausstellungsgestalter kompensiert. Dem Designer obliege diese Aufgabe im Gegensatz zum Kurator, der die wissenschaftlichen und organisatorischen Anforderungen einer Ausstellung zu bewältigen habe. Die Annahme, dass das Kunstwerk nicht für sich 33

Arnold Bode: Das große Gespräch. Interview mit Alexander Baier. In: Magazin Kunst, H.2/1964, zit. nach: Heiner Georgsdorf (Hg.): Arnold Bode. Schriften und Gespräche. Berlin 2007, S.139-142, hier S.141, Arnold Bode: „[... ] dass wir in Kassel nicht belastet waren, das war die große Chance des Neuanfangs“. Ein Interview mit Arnold Bode in: Dokumentation 1. Kritische Festschrift zur 200jahrfeier der Kasseler Kunsthochschule, die seit 1971 in die Gesamthochschule integriert ist... Kassel 1977, S.13-15.

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sprechen könnte und die sich anschließende Unterstellung, dass der Betrachter außerstande sei, seinerseits diese spekulierten Negativeigenschaften auszugleichen, ruft eine dritte Instanz auf den Plan, der dem Dilemma Abhilfe verschafft. Diese selbstgestellte Aufgabe des Ausstellungsdesigners als unabdingbare Vermittlungsinstanz zwischen Werk und Betrachter sollte im Sinne Bodes nicht per museumspädagogische oder kuratorische Hilfestellungen etwa in Gestalt von erklärenden Tafeln oder regelmäßigen Führungen durch die Kunstschau erledigt werden. Vielmehr sollte ein Ambiente geschaffen werden, dass es dem Betrachter erlaube, intuitiv-sensualistisch und nicht begrifflich-rational die Sinngehalte eines Kunstwerks zu erfahren: Worum es uns geht, ist das Begreifen. Der Künstler hat es immer zu tun mit dem Anderen, demjenigen, der ein Verhältnis zum Kunstwerk gewinnen muß, jenseits aller Worte. Kunst kann man nicht erklären. Wer nicht visuell begabt ist, wer nicht begreifen kann, wird keinen Zugang finden. Und so meinen wir auch, dass das Gespräch der documenta im Wesentlichen das Gespräch ohne Worte sein muß. Man kommt in Räume, man begreift, dass dort Kunstwerke ihren Ort gefunden haben, und man antwortet. Diese Antwort wird in vielen Fällen ein Staunen sein, vielleicht ein Erschrecken vor dem, was in der Einsamkeit geschaffen wurde, und das ist oft die einzig richtige Antwort vor einem Kunstwerk.34

Ein Blick in die jüngere Museumsgeschichte verrät, dass Bodes Konzept der Einfühlung keine originär mit der documenta 1 entwickelte Innovation darstellt. In der Hochphase der Museumsreformen in Deutschland begann der Oberkustos am Provinzialmuseum Hannover (heute: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover), Dr. Alexander Dorner, ein besonderes Präsentationskonzept zu verwirklichen. Er reduzierte die Anzahl der Exponate, stattete die Wände mit einer von den Gemälden abgeleiteten Farbe aus und entfernte alle ‚kunstfremden‘ Objekte (Möbel etc.) aus den Schauräumen.35 Der Höhepunkt dieser Umgestaltung stellten zwei Räume da, die der Museumsreformer mit zwei Avantgardekünstlern (El Lissitzky, László Moholy-Nagy) konzipierte: Der ‚Raum für abstrakte Kunst‘ (1927) und der ‚Raum der Gegenwart‘ (1930) sind kuratorisch-künstlerische Innovationen, die wohl die radikalsten Lösungen im Reformprozess des Museumswesens darstellen. Dorner beabsichtigte, mit seinen Raumgestaltungen den Besucher die jeweilige Epoche der Kunstgeschichte immersiv erleben zu lassen, um die zu vermittelnden Gehalte möglichst authen34

Bode, Das große Gespräch, a.a.O., S.141. Dorner verwies weitestgehend alle kunstgewerblichen wie kulturgeschichtlichen Zeugnisse ins Depot und alle zoologischen Exponate in eine andere, eigens hierfür eingerichtete Fachabteilung. Die Werke der Bildenden Kunst wurden nach speziellen Qualitätskriterien selektiert und die Anzahl der Exponate reduziert. Die Folge der insgesamt 46 Räume (Kabinette, Säle) wurde als ein Durchschreiten der Geschichte der Kunst definiert; beginnend mit der Kunst um 1000 und endend mit dem sogenannten ‚Raum der Gegenwart‘. Der Bodenbelag wurde geändert, die Wandfarbe in Entsprechung der ‚Modefarbe‘ jeder Zeitspanne gewählt. 35

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tisch zu transportieren.36 Es sollten sogenannte ‚Atmosphäre-Räume‘ entstehen, die in die jeweilige historische Zeit auf psycho-sensorische Rezeptionssteuerung einfühlen lässt. Der ‚Raum für abstrakte Kunst‘ (Abstraktes Kabinett) steigerte Dorners Vorstellung, wenn der Urheber Lissitzky durch eine besondere Wandgestaltung den Eindruck erweckte, dass sich die materiale Wandfläche auflöse.37 Schließlich sah der Raum der Gegenwart keine materialen Objekte mehr vor, sondern nur noch deren mediale Präsenz (Foto, Filme) und sollte über den aktuellen Stand der Kultur (Design, Kunst, Architektur) Auskunft geben.38 Bode greift mit seinem sensualistischen Konzept der ästhetischen Erfahrung zwei Traditionslinie auf, die einerseits – den Kunstbegriff und die Kunstrezeption betreffend – auf das Prinzip ‚Einfühlung‘ baut und bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Andererseits wird hier die Diskussion um den Kunstbegriff resp. der Widerstreit zwischen Kunst und Philosophie, der sich im 19. Jahrhundert formiert und bis in die Gegenwart aufscheint, belebt. In der Philosophie begründet Schelling um 1800 einen Kunstbegriff, der der Kunst im Gegensatz zu allen anderen Sphären der Gesellschaft die Fähigkeit bescheinigt, dem Menschen in der Industriekultur die Erfahrung des Absoluten bzw. der Einheit der als fragmentarisiert empfundenen Wirklichkeit zu vermitteln. Nur im Zustand einer Nicht-Reflexion („bewusstloses Handeln“, Schelling) vermag der Künstler im Schaffensprozess die Erfahrung einer Welt-Einheit herzustellen. Der Betrachter kann diese Erfahrung wenn überhaupt nur durch die Betrachtung eines Kunstwerks, das als Ergebnis dieser besonderen Erfahrung in Erscheinung tritt, nachvollziehen. Hier gewinnt die Vorstellungskraft – verstanden als ein psycho-sensorischer Vorgang – immens an Bedeutung. Die Grundanlage dieser Kunstanschauung wird späterhin von Friedrich Theodor 36 Zugleich wurde eine Entwicklungsgeschichte der Kunst entworfen, die auf wissenschaftlicher Grundlage, d.h. auf einem besonderen Kriterium einen Fortgang der Kunst beschreibt. Dorner unternimmt den Versuch, die Weltanschauung einer jeden Kulturepoche (Mittelalter, Renaissance) zu ergründen und in den Kunstwerken wiederzufinden. Der höchste Grad an Niederschlag einer kollektiven Weltanschauung ist gleichbedeutend mit einem höchsten Grad an Qualität. Von besonderer Bedeutung ist hier, das Raumverständnis bzw. der Raumbegriff, der sich in der Malerei illusionistischer Raumkonstruktion (Perspektive) widerspiegelt. Erst im Verlauf des 19. und schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts komme es zu einer vollständigen Auflösung der Dreidimensionalität nach der Perspektivlehre. Der Raum werde sphärisch und energiegeladen, wie es Künstler des Konstruktivismus, namentlich El Lissitzky und László Moholy-Nagy, in ihrer Kunst umgesetzt haben. 37 Das „Abstrakte Kabinett“ ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Erneuerung des Museumsraums: 1926 richtete El Lissitzky auf der Internationalen Kunstausstellung 1926 in Dresden im Auftrage des damaligen Ausstellungskurators Hans Posse einen Raum für abstrakte Kunst ein. 38 Verschiedentlich wird auf eine mögliche Bezugnahme Bodes auf das Abstrakte Kabinett hingewiesen. Dorner betrachtete das Objekt sowohl als ein Exponat mit semantischen Mehrwert, als auch als einen funktionalen Bestandteil einer Inszenierung („Atmosphäre-Räume“), sodass der Besucher jenseits von Kriterien und Begriffen das Lebensgefühl der jeweiligen Epoche nachempfinden konnte. Vgl. auch Werner Seppmann (Hg.): Ästhetik der Unterwerfung: das Beispiel Documenta. Hamburg 2013; Katja Hoffmann: Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11. Bielefeld 2013.

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Vischer mit anderer Akzentuierung aufgegriffen. Vischer geht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Art psycho-sensorischen Verschmelzung des schauenden Subjektes mit den ästhetischen Gegebenheiten des Kunstwerks aus, die schließlich durch den Verstand in ihre Grenzen verweisen werden soll. Diese stufenweise Rezeption von Sinnlichkeit zu Reflexion, von Verschmelzung zu Distanz ist vermutlich einem veränderten Kunstbetrieb geschuldet, der eine erhebliche Quantifizierung der Produktion und Ausstellung von Kunst und ein allgemeines verändertes Künstlerselbstverständnis zu verzeichnen hatte. Im frühen 20. Jahrhundert finden sich künstlerische Konzepte der Einfühlung unter anderem bei Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky und Johannes Itten, die explizit ihre Formensprache zentral auf eine rein sensualistische Kunstanschauung ausrichteten und diese Programmatik als Ausdruck einer Zivilisationskritik an der zeitgenössischen Industriekultur verstanden wissen wollten. Bode scheint mit seinem psycho-sensorischen Ausstellungskonzept der Kunst zur Geltung verholfen zu haben, wenn er allen wissenschaftlichen, d.h. begriffs- und kriterienorientierten Ordnungsmustern eine Abfuhr erteilt und zu einer interessenlosen Kunsterfahrung einlädt, die das Kunstwerk bereithält und das Exponat durch seine gestalterische Zutat bewirkt. Die kunstwissenschaftlich-rationale Durchdringung des Themas ‚moderne Kunst‘ zeigt sich vielmehr in der Auswahl der Werke und in der publizistischen Begleitung der Ausstellung in Gestalt des Kataloges resp. der dickleibigen Schrift „Malerei im 20. Jahrhundert“ aus der Feder des Ko-Kurators Haftmann. Jenseits dieser historischen Positionen kann das Einfühlungskonzept von Bode implizit als ein Reflex oder gar eine mehr oder weniger demonstrative Antwort auf verschiedene virulente Tendenzen in der Kunstwissenschaft und Philosophie seiner Zeit verstanden werden. So merkt Harald Kimpel39 an, dass zeitgleich zu Bodes Vorstellung einer „Inszenierungsbedürftigkeit“ (Kimpel) der Kunst der Kulturtheoretiker Arnold Gehlen von einer Interpretationsbedürftigkeit derselben spricht, die sich auf eine abstrakte und damit symbolferne Formensprache gründet. Eine radikalere Forderung nach wissenschaftlicher Transparenz in der Kunstbetrachtung formulierte Roland Barthes mit seinem zeichentheoretischen Konzept. Barthes war darum bemüht, eine rationale und kriterienorientierte Interpretation von Kunst jenseits der konventionellen Stilkritik und der bisweilen arg literarisch orientierten Kunstwissenschaft zu entwickeln. Dass bei einer semiotischen Sezierung des Artefaktes eine Entzauberung der Kunst einhergeht, ist für den Kunstbegriff und die Kunstanschauung resp. Künstler und Kuratoren der 1950er Jahre eine nicht sonderlich beliebte Konsequenz. Das Streben nach einer Erneuerung der Kunstwissenschaft in Ausrichtung auf Rationalität zeigt sich auch bei einer radikaleren Position, die der Chefdenker an der Ulmer Hochschule für Gestaltung Max Bense 39 Harald Kimpel: Das Prinzip Inszenierung. documenta-Kunst im Kontext ihrer Zeit. In: Stengel/ Radeck/Scharf, Zwischen Inszenierung und Kritik, a.a.O., S.46f.

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einnimmt. Seine ‚informationstheoretische Ästhetik‘ gründet sich vornehmlich auf dem Gebiet des Designs auf einen kommunikationstheoretischen Ansatz, der die Gestaltung eines Objektes und mithin die Interpretation eines Kunstwerks auf einen einvernehmlichen und berechenbaren Zeichencode ausrichten lässt. Angesichts des Einzugs der Rationalität in die Kunstkritik erscheint das Bode’sche Konzept der Einfühlung wie ein beinahe verzweifelter Rettungsakt, der dem Kunstwerk seine Autonomie gegenüber jedweden Sachlichkeitsinteressen sichern will und die documenta 1 zu einem temporären Schutzraum werden lässt. Hier werden das Kunstwerk und sein Schöpfungsakt als Enigma, als Mysterium verstanden, das es nicht rational zu erfassen gelte, sondern nur im Affekt zu erfahren sei. In einer stillen, jedoch einseitigen Übereinkunft des Ausstellungsdesigners mit dem Künstler und seinem Werk vermag es ausschließlich dieser, die ‚Wahrhaftigkeit‘ der Kunst für den Betrachter auf eine dem Kunstwerk adäquate Weise zugänglich zu machen. In der Konsequenz dieses Konzept maßt sich der Designer an, einen exklusiven Zugang zur Kunst zu besitzen, zugleich aber auch die Ergebnisse dieser kongenialen Komplizenschaft nicht durch rational fassbare Kriterien erläutern zu müssen. Denn die Kongenialität bedarf keiner Legitimation. Das Ausstellungsdesign befinde sich damit außerhalb jener rationalen, begriffs- und kriterienorientierten Sphäre, wie sie der Wissenschaft geläufig ist. Aus der Perspektive der Wissenschaft hat Bode damit eine atmosphärische Szenografie geschaffen, die – ausgerichtet auf die Stimulanz von Stimmungen und Emotionen – dem Betrachter einen sicherlich faszinierenden Immersionseffekt geliefert haben muss, sich jedoch einer begrifflichen Durchdringung und rationalen Erklärung verweigerte. An dieser Stelle tritt die Rationalität der Wissenschaft (Künstlerauswahl, Werkzuordnung, Katalogtexte neben eine nicht-rationale Präsentationsweise, wie sie Bode mit seiner Szenografie realisierte. DER BESUCHER ALS SOZIALFIGUR

Der Ausstellungsbesucher ist nun seinerseits aufgerufen, dem Angebot einer sensualistischen Szenografie und Kunstrezeption zu folgen. Eine Besucherforschung ist Mitte der 1950er Jahre jenseits des Denkbaren, obgleich es bereits im 19. Jahrhundert erste Versuche einer empirischen Erhebung gegeben hat.40 Allenfalls existieren vereinzelte, zwischenzeitlich publizierte Erfahrungsberichte von Augenzeugen, die jedoch letztlich keine repräsentativen Werte darstellen. Wenn von Besuchern gesprochen werden kann, dann allenfalls über den Umweg 40 Vgl. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam

und Berlin. Bielefeld 2004; Martin Schuster/Hildegard Ameln-Haffke (Hg.): Museumspsychologie. Erleben im Kunstmuseum. Göttingen 2005; Ulrich Schwarz, Ulrich/Philipp Teufel (Hg.): Museografie und Ausstellungsgestaltung. Handbuch. Ludwigsburg 2001; Charlotte Martinz-Turek/Monika Sommer (Hg.): Storyline. Narrationen im Museum. Wien 2009.

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des Kuratorischen: Die Ästhetik und Konzeption der ersten documenta entwerfen nicht nur die Rolle des Ausstellungsmachers, sondern in gleichem Atemzug auch die des Besuchers. Aufschluss hierüber geben die (un-)veröffentlichten Programmschriften sowie die Szenografie. Erinnert sei an die Eingangssituation des Fridericianums: Bode präsentierte kommentarlos die Fotoporträts von Avantgardisten der ersten Stunde und Beispiele von Zeugnissen nichteuropäischer oder prähistorischer Kulturen, deren Auftritt gleichermaßen verpflichtend wie vergewissernd wirken sollte. Die sich anschließenden, beinahe bühnenartig inszenierten und puritanisch gestalteten Räume forderten vom Betrachter die Fähigkeit einer sensorischen und flexiblen Rezeption ein: In der Gesamtschau der Räume eröffnet Bode ein Wechselspiel verschiedener Rezeptionsangebote, die durch den jeweilig inszenierten Raumcharakter initiiert werden: Weiheraum, Pathosarrangements, Bildungsstätte, moderner Museumsraum und Dokumentationsensemble. Hier verwendet Bode das bis dato bekannte und akzeptable Repertoire einer modernen Gestaltung von Ausstellungsräumen. Auf diesem Wege gelingt es ihm, ein differenziertes Kunstpublikum anzusprechen, das vom Laien über den privaten Kunstfreund bis zum Kuratorkollegen reicht. Mindestens ein Raumtypus hat eine Besuchergruppe angesprochen. Wer jedoch die höheren Weihen der Kunstanschauung bereits erhalten hat, der ist auch hier aufgenommen in den Kreis der Eingeweihten: Sachkenntnis der facettenreichen modernen Kunstentwicklung und Sensibilität für ästhetische Erfahrungen sind hier als Vermögen und Talente auf höchstem Niveau gefordert, um den von Bode entworfenen zwangsläufigen Entwicklungsgang der modernen Kunst nachvollziehen zu können und um sich damit in der Nähe der prophetischen Kuratoren wähnen zu dürfen, wie der Kunstsoziologe Pierre Bourdieu an anderer Stelle treffend beschreibt: Die Unantastbarkeit der Gegenstände, die religiöse Stille, die dem Besucher auferlegt wird, die puritanische Kargheit der Einrichtung, sparsam und wenig bequem, der geradezu systematische Verzicht auf jede Belehrung [...] dies alles scheint wie gemacht, um daran zu erinnern, dass der Übergang von der profanen in die sakrale Welt eine, wie Durkheim sagt, ‚regelrechte Metamorphose‘ voraussetzt.41

In der Konsequenz wird dem Besucher eine unausgesprochene, aber vernehmbare Rolle zugewiesen: Einmal abgesehen von dem sicherlich vorhandenen Interesse einer nicht geringen Zahl der Ausstellungsbesucher, sich schlichtweg nur einen Überblick über das künstlerische Wirken der Avantgarde verschaffen und Kunst in einer niveauvollen Präsentation genießen zu wollen, wird dieser aus dem Blickwinkel der Kuratoren jedoch zu einem bloßen Empfänger degradiert. Denn nach dem Absolvieren der ‚konzeptionellen Schleuse‘ im Sinne einer 41 Pierre Bourdieu: Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher. Konstanz 2006, S.165, zit. nach: Florian Schumacher: Bourdieus Kunstsoziologie. Konstanz 2011, S.110.

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Einführung des Unwissenden durch den Wissenden betritt der Besucher die Indikations- und Weiheräume. Die Exponate legen gewissermaßen Zeugnis ab von einer sich ereignenden Kunstentwicklung. Dank der Kuratoren Bode und Haftmann wird für den gebildeten, aber letztlich sterblichen Kunstfreund diese Dimension sichtbar gemacht. Gemessen an Bodes Vorstellungen einer adäquaten Kunstrezeption benötigt der Besucher keine Begriffe oder gar langatmigen Erklärungen, sondern lediglich eine ausreichende Sensibilität und Bereitschaft, sich in die Kunst und deren Inszenierung einzufühlen. Der Formenreduktionismus, der alle Raumtypen der documenta 1 durchzieht, ist letztlich ein mahnender Aufruf an alle, dem Materiellen zu entsagen und sich dem Vergeistigten zuzuwenden. Dies scheint einem Einschwören des gebildeten Bürgertums gleichzukommen und letztlich die Zugehörigkeit zum Kreise der Eingeweihten regelrecht einzufordern: Wer Sachkenntnis und Sensualismus aufweist, bedarf keiner Anstrengung mehr, um der geistigen Elite anzugehören. Sie können sich selbst und gegenseitig einer Zugehörigkeit vergewissern. Alle anderen bedürfen eines mehr oder weniger großen Aufwands, um dieses Ziel zu erreichen. Mit diesem Ausstellungskonzept und seiner ästhetischen Umsetzung führt Bode die Denk- und Handlungsschemata der gesellschaftlichen Differenzierung nicht nur vor Augen, sondern bereitet das Terrain für deren faktischen Vollzug. Eine solches Ausstellungskonzept und die Akzeptanz durch die Öffentlichkeit (Besucherandrang, Presse) setzt eine Vereinbarung stillschweigend voraus: Die Kunst, die Künstler und die Kuratoren gehören zur geistigen Elite und besitzen eine Deutungshoheit gegenüber Kunst und Kultur. Hier werden die Ursachen, Voraussetzungen und Kontexte, die zur Mitgliedschaft in einer geistigen Elite geführt haben, nivelliert, um erneut Bourdieu anzuführen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei dem Thema und den Exponaten um ein äußerst schwieriges Terrain handelt. Denn es wird keine Kunst etwa des Mittelalters oder der Neuzeit gezeigt, die zumindest bildungsbürgerlich keiner Rechtfertigung, dass es sich hierbei um Kunst handelt, bedarf. Wohl aber die Kunst der Avantgarde, die nur wenige Jahrzehnte zuvor begonnen hatte, in einer für den herrschenden Kunstgeschmack provozierenden bis befremdlichen Formensprache Aufmerksamkeit zu erregen. Die Präsentation dieser Kunst und ihrer Nachfolger in der aktuellsten Gegenwart forderten in höchstem Maße eine Haltung ein, die von Toleranz, Liberalismus und Intellektualität geprägt sein musste. Dies war nicht immer der Fall, wie die Entwicklung der Klassischen Avantgarde zeigt. Mit einer unvergleichlichen Radikalität haben sich die Avantgardisten des Konstruktivismus, Neoplastizismus, Suprematismus, Expressionismus oder besonders im Surrealismus, der programmatisch das Weltverständnis des Bürgertums zu überwinden suchte, zu Wort gemeldet, sodass ihre bisherigen Unterstützer im Bildungs- und Großbürgertum aufgrund von Unverständnis

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die Gefolgschaft verweigerten.42 Die Entzweiung von Avantgarde und Bürgertum in den 1910er und 1920er Jahren schien man Mitte der 1955er Jahre wieder rückgängig machen zu wollen, wenn man die Gemeinschaft der geistigen Elite nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und der diktatorisch-ideologischen Steuerung des Kunst- und Kulturgeschehens und der aktuell als Bedrohung empfundenen politisch-kulturellen Situation in der Deutschen Demokratischen Republik heraufbeschwor. Ein gewichtiges Indiz für eine implizit präsente Mahnung zum Zusammenhalt und zur Formung eines Wir-Bewusstseins in der bildungsbürgerlichen Elite nach 1945 zeigte sich besonders in der fachspezifischen Debatte um die zukunftsweisende Formensprache in der Kunst. Man propagierte die Abstraktion als richtungweisende und im Sinne der Kunstevolution zwangsläufige Ästhetik, die ihren positiven Widerhall auch in der Politik finde. Denn die Ab­straktion verneine irgendwelchen Regionalismus oder gar Nationalismus, sondern sei genuin – so die Befürworter – eine international ausgerichtete Ausdrucksform, die allenfalls Dialekte oder Mentalitäten kenne. Die Erfahrung der selbst gewählten Isolation Deutschlands im Nationalsozialismus und die scheinbar bedrohliche Situation in einer unmittelbar topografischen Nachbarschaft zum DDR-Sozialismus ließ alle demokratisch gesinnten Kräfte in der BRD zusammenrücken und den Anschluss an die internationale Wertegemeinschaft suchen. Diese Tendenzen und Leitmotive gesellschaftlichen Handelns fanden ihre Entsprechung im Künstlerischen, wenn dort die Abstraktion als allgemein gültige, weil internationale Bildsprache ausgerufen wurde. Mahnungen zur Zurückhaltung und Aufrufe zur besonnenen Vorgehensweise und Deutung der Kunstentwicklung verhallten oder wurden nach einem gewissen Zeitraum öffentlichen Disputs ignoriert bzw. in eine Polarisierung überführt.43 ‚Entweder-oder‘ lautete die Devise und der fortschrittlich gesinnte Bürger fand in der documenta eine Bestätigung, sich der Gemeinschaft der progressiven Elite zugehörig zu fühlen. Sachkenntnis und Sensorik auf hohem Niveau, die der documenta, d.h. deren Exponatauswahl und Szenografie, waren Bausteine einer visuellen Argumentation, die kaum Widerspruch erlaubte. Radikal formuliert, war die erste documenta ein offizielles Angebot, sich öffentlich zu den Tugenden der bürgerlichen demokratischen Gesellschaft zu bekennen und sich der besonderen Form der Kunsterfahrung als würdig zu erweisen. Die Szenografie der documenta 1 unterbreitet in ihrer weihevollen Kargheit und ihrem versachlichten Pathos dem Publikum eine Gegenwelt, die als kollektives Kompensationsangebot gelesen werden kann. Pseudo­sakrale Räume dienen der Bevölkerung als psychische Verdrängung 42

Vgl. hierzu die aufschlussreichen Darlegungen von Georg Bollenbeck. Der Autor führt überdies an, dass der Zusammenschluss der Bevölkerung insbesondere durch eine kollektive Hinwendung zum Konsum bewirkt worden war. Bollenbeck, Tradition Avantgarde Reaktion, a.a.O. 43 Vgl. hierzu Frankfurter Kunstverein, Zwischen Krieg und Frieden, a.a.O., S.190-194.

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eines noch sichtbaren Leids und entlasten das Individuum von einem konsumorientierten Lebenskodex, der mit dem sich formierenden Wirtschaftswunder Raum greift. So kann die documenta 1 als Entsprechung einer kollektiven kulturellen Matrix gelten, die der Bedürfnislage der Öffentlichkeit faktisch wie rhetorisch zuspielt und in der Folge eine Besucherrolle anbietet, die weitestgehend positiv beantwortet und keiner kritischen Betrachtung unterzogen wurde. Durch die Werkauswahl und die Szenografie wird der Besucher als kenntnisreicher und zugleich als ein dem Spirituellen aufgeschlossener Kunstfreund angesprochen. Betritt dieser die heiligen und wissenschaftlichen Hallen der Kunst, so wird ihm eine profane Erleuchtung und sakrale Erfahrung zuteil. Die Voraussetzung ist hierfür jedoch eine ausreichende Sachkenntnis und eine (pseudo-)spirituelle Sensorik auf hohem Niveau. Erlebt der Besucher beide Erfahrungsformen, so gehört er zum Kreis der Eingeweihten und Auserwählten. Nicht zu übersehen ist jedoch ein allgemeiner Druckaufbau, der durch die öffentlichen Debatten zur Zukunft der Kunst, d.h. ihrer Bildästhetik hergestellt und gehalten wird. Der polemische Duktus, der zu Beginn des Jahres 1955 deutlich wird und am HoferGrohmann-Streit sichtbar wird, verdeutlicht die allgemeine Nervosität der Kulturschaffenden, sich von der DDR-Kunst, als Fallbeispiel eines indoktrinären und ideologischen Kulturbegriffs, deutlichst abzugrenzen und in stillschweigendem Einvernehmen mit der politischen Großwetterlage eine Geschlossenheit gegenüber dem ‚Ostblock‘ zu demonstrieren.44 PRIMÄRER DISKURSRAUM: PRESSEÖFFENTLICHKEIT

Besieht man sich die Presseresonanz auf die documenta 1, so gilt es zunächst, die Presselandschaft im Nachkriegsdeutschland kurz in Erinnerung zu rufen.45 Eine freie Presse war für die Alliierten ein zentraler Grundstein für eine demokratische Öffentlichkeit, in der ein freier Meinungsaustausch möglich war und sich ideologiefreie Meinungsbildungsprozesse ereignen konnten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des ‚Dritten Reichs‘ wurde unter dem Protektorat der Alliierten im Pressewesen ein Lizenzsystem eingeführt, das allein nachweislich demokratisch gesinnten Persönlichkeiten die Erlaubnis zur Herausgabe von 44 Vgl. u.a. Karl-Siegbert Rehberg/Paul Kaiser: Enge Vielfalt – Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analysen und Meinungen. Hamburg 1999; Monika Flacke (Hg.): Auftragskunst in der DDR 1949-1990. München 1995. 45 Die folgenden Ausführungen gründen sich auf einer Recherche und Analyse zahlreicher Presseartikel, die sich im documenta Archiv in Kassel befinden. Vgl. Rüdiger Liedtke: Die verschenkte Presse. Die Geschichte der Lizensierung von Zeitungen nach 1945. Berlin 1982; Deutsche Presse seit 1945. Hg. von Harry Pross. Bern/München 1965; Bernd Ulrich Biere/Helmut Henne (Hg.): Sprache in den Medien nach 1945. Tübingen 1993; Michael Söllner: Presse-verordnete Vielfalt. In: So viel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945-1949. Hg. von Herman Glaser Lutz von Pufendorf, Michael Schöneich. Berlin 1989, S.270-281.

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journalistischen Druckerzeugnissen erlaubte. Nach Aufhebung dieses Lizenzsystems im Jahre 1949 überließ man das Pressewesen dem freien Markt, sodass in der Folge eine Vielzahl von Tageszeitungen ihre Produktion einstellen musste. Es formierte sich ein „Konzentrationsprozess“ (Wehler), der zu einer erheblichen Reduzierung jener Tageszeitungen führte, die eine vollbesetzte Redaktion ihr Eigen nennen konnten.46 Die heutzutage üblichen privaten Informationsquellen wie das Fernsehen waren 1955 mehr oder weniger Zukunftsvisionen, obgleich bereits mit der Gründung der ARD im Jahre 1950 die massenhafte Verbreitung des Fernsehens angestrebt worden war und die erste ‚Tagesschau‘ für 283.000 Empfänger aus Hamburg übertragen wurde.47 Das Radio galt bereits seit den 1920er Jahren als wichtiges Informationsmedium und gehörte nach 1945 – gemeinsam mit dem Film – zu den zentralen Medien.48 Die Berichterstattung zur documenta in den Printmedien spielte sich hauptsächlich im Regionalen ab, denn nur wenige Zeitungen mit deutschlandweiter Verbreitung waren existent. So lässt sich feststellen, dass die zahlreichen mehrspaltigen Artikel zur documenta 1 in verschiedenen Zeitungen mit identischem Wortlaut abgedruckt wurden, sodass eine beinahe flächendeckende gleichlautende Berichterstattung zu vermelden ist. Dieser Umstand ist wohl dem zeitgenössisch hart umkämpften Markt geschuldet, der kaum einer Redaktion den finanziellen Freiraum gab, Kulturjournalisten als ständige Redaktionsmitglieder unter Vertrag zu nehmen. So lieferten wohl freie Mitarbeiter Kunstrezensionen für eine Reihe von Lokal- und Regionalzeitungen. Das inhaltliche Spektrum der documenta 1-Reportagen hält sich in großer Nachbarschaft zu den konzeptionellen veröffentlichten Vorgaben der Ausstellungsmacher auf. Nur wenige Beiträge setzen sich von diesen kuratorischen Angeboten ab und entwerfen ein eigenes Meinungsbild nicht selten im Kontext von zeitgenössischen Makrodiskursen, die sich aus der Nachkriegszeit sowie der heterogenen Interessenslage von Kulturträgern speisen. In der Überschau lässt sich beobachten, dass die Ausstellungsrezensionen zur documenta 1 sich von dem veröffentlichten Ausstellungskonzept der Kuratoren kaum gelöst haben. Es wurde in der Regel eine Überprüfung der angeführten Eigenschaften und Ziele der documenta 1 vorgenommen, die letztlich das Ergebnis der kuratorischen Handlungen als erfolgreich einstuften. Es wird der Eindruck erweckt, als würde es sich bei den verschiedenen Presseberichten um individuelle Sichtungen und Interpretationen der documenta und ihrer Kunst handeln. Eine eigenständige Deutung der Ausstellung jedoch, die projektunab46 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.5: Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949-1990. München 2008, S.391. 47 Ebd., S.396. 48 Ebd., S.394.

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hängige, d.h. ausstellungstypologische allgemeine Bewertungskriterien voraussetzen, wurde jedoch nur selten vorgenommen. Formeln wie „Rechenschaftsbericht der europäischen Kunst von 1905-1955“, „Repräsentative Ausstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts“ oder „Der Weg der modernen Kunst“, wie den Betitelungen zu entnehmen ist, greifen die konzeptionellen Zielsetzungen der Kuratoren direkt oder indirekt auf: Der repräsentative Charakter der Ausstellung, die ‚heroischen‘ Handlungen der Avantgardisten und die Kontinuitätsvorstellungen der Kuratoren (Kunstevolution) sind die wichtigsten Gehalte der Presseresonanz. Zuweilen wurden kritische Stimmen laut, die den Anspruch auf Vollständigkeit und Dokumentation überprüften. Es fanden sich immer Künstler, die von einem Kunstjournalisten als fehlend markiert wurden.49 Neben den sprachlichen Eigenheiten der Artikel sind als Unterschiede lediglich Sachinformationen auszumachen, die die Fehlstellen des Erreichten markieren. Mehrheitlich wurde jedoch betont, dass die Fülle der Werke und mehr noch die Anordnung der Exponate dem Betrachter die Möglichkeit boten, die Vielfalt der modernen Kunst entlang des angebotenen kunstwissenschaftlichen Systems ordnen zu können und eine Orientierung in der zeitgenössisch als unübersichtlich empfundenen Kunstszene zu erhalten. So wurde das Bildungsversprechen der Ausstellung, das bereits im Konzept besonders für die Jugend angemahnt wurde, eingelöst. Neben diesen Orientierungshilfen wird in der Presse die Hängung nach nationaler Zugehörigkeit diskutiert: Die Kubisten in Frankreich, die Expressionisten in Deutschland sind zwar wissenschaftlich fundierte Hinweise, doch bestätigen diese einmal mehr den insgeheimen Wettstreit der Kulturschaffenden Europas. Dies ist wohl auch auf den Umstand zurückzuführen, dass in der Ausstellung durch die nationenorientierte Platzierung der Exponate eine entsprechende Betrachtung stimuliert wurde. Demgegenüber gab es auch versöhnliche Einschätzungen, wenn man überhaupt von einem Avantgarde-Gerangel sprechen will. Andere Berichte sahen in der Ähnlichkeit der diversen Bildsprachen das Gemeinsame der europäischen Kultur zum Vorschein kommen. Nicht unerwähnt dürfen die Randzonen dieses Schwerpunktes bleiben. Auf der einen Seite hatte so mancher Pressebericht den Duktus von amtlichen Bekanntmachungen, wenn man aus dem Pressetext der Veranstalter zitiert, die Namen der Beteiligten und das Hängungskonzept referiert. Der textliche Eigenanteil besteht in solchen Fällen in Überleitungssätzen von einer Informationseinheit zur anderen. Auf der anderen Seite gab es sehr eigenständige Rezensionen, die sich von den offiziellen Verlautbarungen unabhängig machten und nach einem Ausstellungsbesuch eine eigene Sicht auf die Dinge formulierten. 49 Karin Stengel/Friedhelm Scharf: Geschichte der documenta-Kritik. Ein roter Faden durch die Poly-

phonie der Presse. In: Glasmeier/Stengel, archive in motion, a.a.O., S.104-118; Dirk Schwarze: Die Expansion der documenta-Kritik. Eine Ausstellung im Spiegel der Presse. Nördlingen 2006.

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So verstand man die Ausstellung auch als Versammlung von Kunstwerken, die zentrale Fragen der Gegenwart (kollektive Bewältigung des Zweiten Weltkriegs, Zukunft des Menschen und Humanismus etc.) aufwarfen. Hier trat der diskursive Charakter der Kunstsphäre in Erscheinung, wenn man zum Beispiel die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft resp. die Spiegelung gesellschaftlich relevanter Problemstellungen in der Kunst entdeckte und zur Diskussion stellen wollte. Ein besonderer Texttypus stellt hierbei ein fiktiver Dialog zwischen Kunst­interessierten dar, die ihren eigenen Blick auf die Ausstellung in einem Streitgespräch (Besucher, Theologe, Kunstschriftsteller) zum Ausdruck brachten. Sie suchten das Menschenbild in ihrer Zeit, wobei sie konkret nach Beispielen der Porträtmalerei suchten, letztlich aber immer wieder auf das ‚Menschbild‘ im übertragenen Sinne zusteuerten und eine kollektive Selbstbefragung praktizierten. In einer etwas plakativen Form wurde das Diskursive jener Jahre in seiner Grundsätzlichkeit der Problemstellung und der Heterogenität der Sichtweisen gespiegelt. Eine Besonderheit stellten die Berichte über den Besucherandrang dar. Die überragenden Zahlen der Tagesbesucher wurden von Tag zu Tag gesteigert, so lässt sich angesichts der Presseberichte vermuten. Betont wurde u.a. auch die Exklusivität der Besucher, die den Weg nach Kassel aus dem In- und Ausland fanden. Einmal von erkannten Vertretern der Prominenz besonders während der Eröffnung abgesehen, waren diese Hinweise lediglich spekulativer Art, wie man selbst feststellen musste, wenn man auf die Menschenmenge vor den deswegen zeitweilig geschlossenen Eingangstüren und der Unmöglichkeit einer Identifizierung von Prominenten verwies. Daneben wurde der Bildungscharakter der Ausstellung hervorgehoben, indem man auf die vielen Schüler in der Aus­stellung verwies. Die hohen Besucherzahlen wurden insbesondere von den hessischen Zeitungen aufgegriffen, galt es wohl das Überragende des Ereignisses zu betonen, den wirtschaftlichen Erfolg der Ausstellung nicht unerwähnt zu lassen und eine spürbare Belebung des ansonsten ländlichen Nordhessens kundzutun. Vom Sprachduktus her betrachtet, haben beinahe alle Rezensionen ein hohes literarisches Niveau und lassen eine versachlichte Reduktion vermissen. Grundlegend ist ein großes Konnotationspotenzial, das sich aus einem eher literarischen Vokabular und Satzbau speist. Dies ist einer bestimmten Richtung des Sprachgebrauchs im Kunstbetrieb geschuldet, der auch der Ko-Kurators Werner Haftmann anzugehören scheint. Letztlich erinnert dieser Sprachduktus verstärkt an einen der Urväter der modernen Kunstkritik, Heinrich Heine und seine Salonberichte von 1830/31. So zeichnet sich bei den Rezensionen gleich welchen Inhalts mehr ein Tendenzcharakter mit Suggestivwirkung ab, denn ein konkreter Kriterienkatalog, den es seinerseits zu überprüfen gelte. Trotz der Polyphonie in Gestalt der Pressestimmen und der Bekanntmachungen der Kuratoren existiert bei der ersten documenta letztlich nur ein

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Autor: Arnold Bode nebst Werner Haftmann können die Urheberschaft des Projektes für sich allein in Anspruch nehmen. Die Öffentlichkeit, die nach der Veröffentlichung des Erstkonzeptes dieses mit vorhandenen Kriterien des Kunstjournalismus kritisch zu verbinden weiß und nicht selten das Konzept durch Uminterpretation oder Neuakzentuierung und schließlich sogar final die Ausstellungsästhetik zu modifizieren weiß, tritt als Autor nicht in Erscheinung. Eine Beglaubigung für die Stichhaltigkeit und geradezu Allgemeingültigkeit der kuratorischen Argumentation zeigt sich in der bildjournalistischen Inszenierung des Kurators: Arnold Bode wird gemeinsam mit Vertretern der Hochpolitik bei der Kunstbetrachtung in der Presse abgebildet. Überdies erscheinen beide in der gleichen eleganten Zivilkleidung, was – wie Grasskamp50 ausführt – gerade im Vergleich mit Ausstellungsbesuchen offizieller Amtsträger im Nationalsozialismus von politischer Relevanz war. Grundlegend ist jedoch der Habitus und Gestus der fotografierten Kunstinteressenten. Bereits aus zahlreichen historischen Bildwerken gleichen und ähnlichen Themas bekannt, wird hier das Zeigen, Erklären und Verstehenwollen und damit eine Rollenverteilung indiziert. Aus dieser Perspektive scheint es, als habe Bode seine Argumentationsfiguration in der Öffentlichkeit vor Eröffnung der Ausstellung regelrecht abgleichen und die Erwartungen inhaltlich durch seine Konzeption prägen lassen, um späterhin, d.h. im Augenblick der Eröffnung diese stimulierte Erwartungen tatsächlich zu befriedigen. Bode hat es offenbar verstanden, sein zunächst fachspezifisch orientiertes Individualinteresse, das einen kuratorischen Überblick über die Vielfalt der Avantgardekunst der vorausgehenden Jahrzehnte realisieren wollte, zu einem Allgemeininteresse zu transformieren. Indem er die zeitgenössischen explizit geäußerten und implizit präsenten Leitlinien der Großpolitik und -wirtschaft, die von einer Wiedergutmachung, einem Zugang zur internationalen Wertegemeinschaft, einer Demokratisierung und zudem nach einer gewissen Selbstbehauptung zumindest im Künstlerischen strebte, als konzeptionelle Grundlagen seines Ausstellungsprojektes angab. Bereits an dieser Stelle wird eine konsensuelle Ausrichtung der documenta sowohl der Entscheidungsträgern der öffentlichen und privaten Hand als auch der Meinungsführer in der Öffentlichkeit (Journalismus) erkennbar, die sich nicht nur mit einem Pragmatismus bezüglich einer finanziellen Grundsicherung des Projektes begründen lässt. Die Vergewisserung der Zustimmung durch die Hochämter von Politik, Wirtschaft und Kultur und das Einvernehmen mit dem Journalismus führte offenbar zu einer weitestgehend affirmativen Resonanz auf die Ausstellung. So lassen sich die in Bild und Text vernehmbaren rhetorischen Figuren als simple Entsprechungen kollektiver Befindlichkeiten deuten: – Der Heroismus der Kuratoren stand beinahe symbolhaft für den Aufbauwillen einer ganzen Bevölkerung. 50

Grasskamp, Die unbewältigte Moderne, a.a.O., S.92ff.

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– Der Verweis auf die Leistungen der deutschen Avantgardekunst stärkte das fragile Selbstbewusstsein einer Nation, die angesichts der Gräueltaten im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg allen Anlass zu einer demutsvollen Haltung hatte. – Zugleich sah man in der deklarierten und in der Ausstellung sichtbaren formalästhetischen Nachbarschaft der deutschen Kunst zu der der anderen europäischen Staaten ein anschauliches Indiz für die Zusammengehörigkeit aller demokratisch und humanistisch gesinnten Zivilisationen. – Mithin waren die extrem heterogenen und zum Teil erhitzt geführten Debatten in der Öffentlichkeit über die Gegenwart und Zukunft der Kunst und Kultur mit einer derartigen Ausstellung zumindest temporär befriedet, indem von Expertenseite der scheinbar sichtbare Beweis angetreten wurde, dass der Fortgang der Kunstentwicklung in eine bestimmte Richtung gehen werde. – Demnach würde sich die Kunstentwicklung – jenseits von Partikularinteressen gesellschaftlicher Gruppen oder Individuen – selbst regulieren und einen widerspruchsfreien Fortgang versprechen. – In der Konsequenz würde die Verantwortung der Öffentlichkeit für die Geschicke der Kunst an eine nicht näher definierte aber letztlich autonome Kraft delegiert. – Eine solche Prophetie, die von der geistigen Elite entwickelt und auf dem Felde der ‚interesselosen Kunst‘ proklamiert wurde, wurde wohl insgeheim auch für die Politik und Wirtschaft erhofft. Wie bereits erwähnt, bettet sich die erste documenta in eine Kulturlandschaft ein, die Mitte der 1950er Jahre, d.h. in Zeiten der Demokratisierung einer vormals diktatorisch geführten Bevölkerung, eine Besonderheit darstellt. Während der primäre Diskursraum die unmittelbaren Wechselwirkungen dieses Ausstellungsprojektes mit der Presse und den Kulturbehörden beleuchtet wurden, gilt es nun die mittelbaren zu betrachten, die einen Vergleich der documenta 1 mit Aktivitäten des zeitgenössischen Kunstbetriebs nahelegen. Aus kunstwissenschaftlichem Blickwinkel betrachtet, zeigt sich die documenta 1 geradezu antipodisch zum zeitgenössischen Ausstellungsbetrieb, wie den Ausstellungen der Gruppen ‚Quadriga‘ und ‚ZEN 49‘ sowie den offizielleren Expositionen zur zeitgenössischen Kunst in Berlin etwa der Alliierten. Während die diversen genannten Ausstellungen mehr oder weniger das Experimentelle, das Vorläufige, das Improvisierte und der Selbstzweifel als ästhetische Matrix der Ausstellungsgestaltung zum Vorschein bringen, vermeidet Bode jede Form des Diskursiven. Die genannten Künstlergruppen und die offiziellen Ausstellungen in Stuttgart, Frankfurt am Main oder Berlin zielten auf ein Selbstorganisieren der Künstler jenseits der Behörden und auf eine Präsentation der jüngsten künstlerischen Innovationen des In- und Auslands, nachdem sich Deutschland in eine politische wie kulturelle Isolation begeben hatte. Dieses Streben förderte

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mit seinen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst gewissermaßen Rohstoffe für die diversen öffentlichen Diskussionen, die verschiedene grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung aufwarfen, zutage und war letztlich Bestandteil einer wie bereits erwähnt lebendigen Diskurspraxis der Nachkriegszeit (Hfg Ulm, Podiumsdiskussionen etc.) Das Ausstellungsdesign, das Inszenatorische hatte häufig eine vergleichsweise dienende Funktion oder wurde kritisch reflektierend – etwa mit dem bewussten Hinweis auf das Improvisierte – präsentiert. Das demokratische Grundprinzip des Diskursiven wurde mit Kunstausstellungen und vergleichbaren Aktivitäten stimuliert, sodass die öffentlichen Diskussionen zu elementaren Themen der Politik, Wirtschaft und Kultur mit einem kontroversen Duktus lebendig gehalten wurden. Nicht selten hatten strittige Aspekte in der Kunst eine Stellvertreterfunktion für politische und wirtschaftliche Dispute.51 Berücksichtigt man die historische Situation, so hatten diese öffentlichen Dispute eine lebensnotwendige Funktion für die Re-Formation einer demokratischen Öffentlichkeit: es wurde der öffentliche Meinungsaustausch und Prozesse der Meinungsbildung regelrecht trainiert und – gemessen an der Vielzahl und Vielfalt der Aktivitäten – mit einer gewissen Leidenschaft verfolgt. Stellvertretend für diese Reformationsbestrebungen einer demokratischen Öffentlichkeitsstruktur und für die allmähliche Vorherrschaft des Massenmedialen kann der Streit zwischen dem Künstler und Direktor der Akademie Karl Hofer und dem Kunstkritiker Will Grohmann stehen.52 Dieser öffentliche Disput über die zukunftsweisende Bildsprache demonstrierte jedoch auch die Manipulationspotenz des Journalismus und verwandelte eine zunächst sachliche Darstellung über sinnvolle Fragestellungen in eine polemische Debatte, die in der Sprunghaftigkeit dieser Wandlung auf eine schwelende Hysterie zwischen vermeintlich progressiven und konservativen Kräften schließen lässt: Zu Beginn des Jahre 1955 veröffentlichte Hofer einen umfänglichen Text, der unter dem Titel „Zur Situation der bildenden Kunst“ die Sinnfrage der Kunst unter den Bedingungen der Kunstbetriebs stellte. Es handelt sich um grundlegende Gedanken, die mit liberaler Ausrichtung kritische Anmerkungen zur Rolle des Kunstbetriebs und hoffnungsvolle Vorschläge zur Rolle der Kunst als Sinnstifterin im gesellschaftlichen Gefüge vortrug. Hierbei wurde auch die zukünftige Formensprache (abstrakt/figurativ) angesprochen, wobei Hofer als Vertreter der Figuration neutral argumentierte. Dieser Texte wurde nur wenig später in einer verkürzten Fassung veröffentlicht. 51 Verwiesen sei u.a. auf: Hans Eberhard Evers (Hg.): Das Menschenbild in unserer Zeit. Darmstädter

Gespräch. Darmstadt 1950.

52 Vgl. hierzu u.a.: Gabriele Schultheiß: ‚Gegenständlich‘ oder ‚ungegenständlich‘. Kapitel zur Kleinen

Waffenkunde. In: Frankfurter Kunstverein (Hg.): Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Tendezen in der Kunst nach 45. Berlin 1980, S.190-194.

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Die damaligen Redakteure habe jedoch eine nicht autorisierte Kürzung verwendet, die den Text kurzerhand von einer wohlmeinenden Grundlegung in eine provozierende Kampfschrift verwandelte. Diese Textsortenänderung führte zu einer Gegenpolemik des Kunstkritikers Grohmann, der Hofer mit verschiedenen, bisweilen die Person Hofers angreifenden Negativetiketten versah. Einmal diese Richtung nehmend, konnten oder wollten die Kontrahenten den weiteren polemischen Verlauf der öffentlichen Debatte nicht mehr aufhalten. Es zeigt sich, dass angesichts der Sprunghaftigkeit und Mühelosigkeit der massiven Textsortenänderung die diskursive öffentliche Sphäre offenbar nicht mehr bereit war, die basale Debatte um eine zeitgemäße Bildsprache sachlich und konsensorientiert zu führen. Die Heftigkeit der Argumente, die nahtlos ins Beleidigende übergingen, zeugt von einem Desinteresse an der Sichtweise des Anderen und von einem grundlegend autoritären Zug: Die Beendigung der Bildung und des Austauschs von freien und begründeten Meinungen bezüglich eines gemeinsamen Themas. Eine solche Tendenz lässt sich auch im Falle der ersten documenta beobachten. War Bode auch von einer Polemik weit entfernt, so verschob die documenta 1 mit ihrer Konzeption und Ästhetik zumindest für die Zeit und den Raum seiner Kunstausstellung die diskursive Grundstruktur ins Normative: Die Inszenierungsästhetik der documenta 1 versetzt eine lebendige und kontroverse Diskussion um den Fortgang der modernen Kunst, wie sie sich in dem Grohmann-Hofer-Streit oder in der Frage nach Abstraktion/Figuration als wegweisende Bildsprache eröffnet, in einen Stillstand. Hiermit scheint eine im Grunde noch offene Entwicklung der Kunst finalisiert zu werden. Indem Bode das Konstrukt einer Art ‚autonomen Kunstevolution‘ entwirft und sich und seinen Mitstreitern die Rolle der Wissenden, Erkennenden und Handelnden zuweist, liefert er sich die Legitimation in eigener Sache. So fortschrittlich und auf eine moderne Zukunft ausgerichtet das Unternehmen documenta 1 auch erscheinen mag, verglichen mit der Ausstellungsszene jener Jahre und den neuen demokratischen Maßstäben der Kulturarbeit folgte Bodes documenta 1 nur bedingt einem föderalistischem Ausstellungsprinzip und setzte stattdessen auf ein normatives Konzept, das auf Vorstellungen einer Kunstevolution und der Schlüsselrolle von Kulturheroen baute, die eigenen Aktivitäten und deren Resultate als allgemeinverbindliche Setzungen betrachtete und damit dem Muster einer verbindlichen Repräsentation von scheinbar widerspruchsfreien Situation und Entwicklung entsprach. Eine Rechtfertigung dieses Selbstverständnisses konstruierte Bode durch ein geschicktes Personal- und Projektmanagement, eine offenkundig plausible Argumentation, eine Absicherung durch die Wissenschaft, eine niveauvolle Exponaten- und Künstlerauswahl und eine höchst anspruchsvolle Ausstellungsästhetik. Gemessen an den herkömmlichen Bedingungen und Möglichkeiten einer Kunstausstellung ist es Bode mit der documenta 1 gelungen, ein operatives und

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diskursives Management auf höchstem Niveau zu verwirklichen.53 Die kurze Vorbereitungszeit für eine Ausstellung dieses Ausmaßes und überdies unter erschwerten Bedingungen der Nachkriegszeit ist eine heroische Leistung. Die Konzeptentwicklung, die Personalorganisation, die Finanzierungspolitik, die bauliche Aufbereitung der Schauräume und nicht zuletzt die formale Projektorganisation sind hochprofessionelle Aktivitäten. Dass sich Bode bei der kuratorisch-ästhetischen Konzeptionierung und Realisierung an Vorgängern und Vorbildern orientiert, ist eine nicht sonderlich prekäre Angelegenheit, ist doch die Rezeption in der der Kunst- und Designgeschichte eine gängige Methode. Eine originäre Innovation kann Bode, wie vielfach in der populärwissenschaftlichen Mythenbildung behauptet, für sich auf diesem Gebiet jedoch nicht in Anspruch nehmen. Die Besonderheit der documenta 1, die gewissermaßen als Steilvorlage einer Mythenbildung gedient hat, ist Bodes offenkundige Wertschätzung des diskursiven Managements, das er mit dem operativen untrennbar verschränkte: – Die Ausrichtung des Konzeptes bereits in der Vorbereitungsphase auf die fachspezifischen wie allgemeinen Diskurse seiner Zeit (Internationalsierung, Kunstevolution, heroische Individuen); – die ‚Dienstbarmachung‘ der Presse für seine Argumentation, Einschaltung der politischen, administrativen und wirtschaftlichen Elite; – die Kopplung einer kunstwissenschaftlichen Systematik mit der Vorstellung einer Kunstevolution und einer psycho-sensorischen Kunstrezeption. Mit der Kopplung dieser Entitäten wird die erste documenta zu einer staatstragenden wie allgemeingültigen Argumentation, die in dieser Ausrichtung jedoch Züge des Restaurativen und Autoritären trägt. Der öffentliche Meinungsaustausch, der auf Dissens und Konsens zielt, baut auf einem gewissermaßen föderalistischen Gedanken, der öffentliche Diskussionen in Permanenz vorsieht. Die erste documenta jedoch hat sich als großangelegte Kunstausstellung in Szene gesetzt, die nach einer Domestizierung der zeitgenössischen Diskurse strebte. Gemessen an jener kritischen Öffentlichkeit, die bei anderen öffentlichen Fachdiskussionen zu Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung zutage treten, erstaunt dennoch eine derart affirmative Rezeptionshaltung. Ausschlaggebend ist letztlich die staatstragende Rolle, die die Kuratoren der documenta 1 implizit/explizit zugewiesen hatten. Zudem war die Konzeption, die verschiedene Argumente zu einer substanziellen und scheinbar unangreifbaren Verdichtung zusammenführte, offenbar mit einem Nimbus des Normativen und Allgemeingültigen ausgestattet. 53

Hartmut John/Bernd Güner (Hg.): Das Museum als Marke. Branding als strategisches Managementinstrument für Museen. Bielefeld 2008.

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NEUE NORMEN UND ALTE ANSPRÜCHE ANS AUSSTELLEN Die wirkliche Welt steht also in der theoretischen Erkenntnisrelation geradewegs auf dem Kopf, und die wirkliche Praxis kann den Menschen nur noch als von jenseits der Welt her begegnen.1

Alfred Sohn-Rethel Die Frage der Kunst zieht die des Publikums nach sich; daraus folgt eine permanente Krise der Übereinstimmung von Kunst und Publikum.2

Jean-Louis Déotte

Ausstellungen erleben im Zuge einer global expandierenden „Kunstwelt“3 derzeit einen bemerkenswerten Boom. Zugleich kann die kollaterale Überproduktion von Kunstobjekten und ihre durch die sich ausweitende Digitalisierung vieler Lebensbereiche bedingte Hyperzirkulation die strukturelle Krise, in die das Objekt der Kunst selbst geraten ist, kaum mehr verdecken. Es liegt nahe, den Ausgang dieser Entwicklung in den 1960er Jahren und der damals sich rapide beschleunigenden Internationalisierung des Kunstbetriebs zu lokalisieren. Sie ist außerdem nicht von der irreversiblen Konzeptualisierung künstlerischer Praxis zu trennen und der damit verbundenen Neubewertung von ästhetischer Produktion und ihrer medialen, institutionellen und kommerziellen Distribution. Als Fortsetzung und gleichzeitige Kritik am Konzept des (angelsächsischen) Modernismus sind in der damals sich etablierenden Formation ‚konzeptueller‘ künstlerischer Projekte die historischen, sozialen, ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen für die Produktion und Distribution von Kunst zum Gegenstand künstlerischer Arbeit geworden. Zudem sind die Mechanismen kultureller Wertzuschreibung selbst speziell in orts- oder situationsspezifischen Arbeitsweisen im Gefolge der institutional critique der 1960er Jahre bzw. der relational aesthetics der 1990er Jahre und darüber hinaus einer großen Bandbreite partizipativer künstlerischer und kuratorischer Praxen ins 1

Alfred Sohn-Rethel: Exposé zur Theorie der funktionalen Vergesellschaftung. Ein Brief an Theodor W. Adorno (1936). In: Ders.: Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen. Frankfurt am Main 1978, S.7-26, hier S.25. 2 Jean-Louis Déotte: Das Museum ist kein Dispositiv. In: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals. Zürich/Berlin 2010, S.79-98. 3 Das 1964 von Arthur C. Danto entwickelte Konzept der „artworld“ als diskursiver und von Howard S. Becker im Sinne einer Netzwerktheorie gedeuteten Konstellation hat sich faktisch in einem mittlerweile weltumspannenden Netz aus Messen, Biennalen und Kunstfestivals vollzogen und ist ebenso Faktor wie Effekt einer kulturellen Globalisierung.

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Zentrum des künstlerischen Interesses gerückt. Diese Mechanismen sind bis heute aus der künstlerischen Arbeit als ihre konkreten Materialien, Inhalte aber auch als ihr Anlass und Träger nicht wegzudenken und prägen die Spielräume individueller künstlerischer Projekte nicht weniger wie die Struktur und die Organe der Institution der Kunst. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Entwicklung die Ausstellung, die als Medium und Format nicht nur an der Distribution der Kunst mitwirkt, sondern unmittelbar in ihre Produktion eingreift, man denke an den Übergang von traditionellen, meistens an spezifische künstlerische ‚Medien‘ gekoppelte Werkstatt- oder Atelierpraxen zur konzeptuellen post-studio practice, dem Wandel der an ein spezielles technisches Instrumentarium gekoppelten Künstlers als z.B. Maler, Bildhauer oder Fotograf zum post-medialen, je nach konzeptuellem framing auf eine sozusagen technisch und materiell unlimitierte Werkzeugpalette zugreifenden Typus Künstler, der nicht nur die Sphären der (individuellen bzw. voröffentlichen) Produktion und (öffentlichen bzw. gesellschaftlichen) Distribution miteinander verschränkt, sondern damit unmittelbar in den Prozess kultureller Wertzuschreibung eingreift, während sich ein Kunstwerk in diesem Prozess überhaupt erst realisieren kann. Dabei spielt die Ausstellung als Ort des Zusammenwirkens von Produktion, Distribution und Rezeption eine entscheidende Rolle, steht sie historisch doch vermittelnd zwischen dem Atelier, dem Museum und dem Publikum und kann zum Austragungsfeld individueller und kollektiver, ästhetischer und kommerzieller sowie insgesamt institutioneller Interessen werden. Räumlich und zeitlich, visuell und diskursiv organisiert, etabliert sie einen Sonderbereich, auf den sich ganz heterogene Interessen unterschiedlicher Akteure richten und die sich in ihm zugleich regulieren, ohne dass das Pendel für eines dieser Interessen je voll ausschlagen könnte. Oskar Bätschmann hat bereits 1997 die besondere Funktion der Ausstellung bei der Etablierung des Typus des modernen Künstlers als in direkten Dialog mit seinem Publikum tretender „Ausstellungskünstler“4 beschrieben. Darüber hinaus gilt es, Kunst im Rahmen der jeweiligen Produktionsbedingungen, wie sie zu einer bestimmten Zeit herrschen, und in ihrem historischen Wandel zu sehen. Galt sie seitens Kunstgeschichte und -kritik lange Zeit als buchstäblich über die Verhältnisse erhabener Sonderfall der Arbeit, ist erst seit kurzem z.B. durch die Arbeiten des marxistischen Kunsttheoretikers John Roberts zum Readymade Marcel Duchamps5 ein verstärktes Bewusstsein für die zahlreichen Rückkopplungen spezifisch künstlerischer zu allgemein gesellschaftlicher Arbeit, die grundsätzliche Verwobenheit von künstlerischer Produktion und ihrer Distribution/Rezeption in die Produktionsbedingungen einer Zeit insgesamt ent4 Vgl. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln 1997. 5

Vgl. John Roberts: The Intangibilities of Form. Skill and Deskilling in Art After the Readymade. London/New York 2007.

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standen. Es lohnt sich auch vor diesem Hintergrund der Frage nachzugehen, welche Rolle Ausstellungen beim Zustandekommen von Kunst spielen aber auch, wie sich das Wesen des Ausstellens selbst im Spannungsfeld von Produktion, Distribution bzw. Rezeption wandelt und wer welche Ansprüche daran richtet. Speziell in letzter Zeit mehren sich die Hinweise darauf, dass ‚Ausstellung‘ selbst zu einer Art institutionalisierendem Faktor wird. Wenn bisher von Ausstellung die Rede war, bezieht sich das strenggenommen auf einen Sonderfall von ihr: die Kunstausstellung. Allerdings würden heute ‚professionell‘ arbeitende KünstlerInnen sich sicher ebenso wenig an einer expliziten Kunst-Ausstellung beteiligen, wie institutionell gebundene oder freie KuratorInnen eine solche erarbeiten oder machen würden. Und wer Kunst, wie früher, sehen und heute erleben möchte, geht ganz selbstverständlich – und ohne den Ballast des – nach wie vor alles andere als ideologiefreien – K-Worts vom Ausstellungserlebnis schippen zu müssen – schlicht in eine Ausstellung. Das Wort Kunstausstellung ist dermaßen aus der Mode gekommen, dass sein Gebrauch im aktuellen Jargon geradezu Peinlichkeitsschauer auslöst und damit in einer Reihe mit schlechterdings von ‚vorgestern‘ stammenden Zuschreibungen wie Fotokünstler oder Videokunst steht. Die Umkehrprobe bestätigt: Wer sich dennoch an sogenannten (dabei aus dem Geist des Sezessionismus der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts geborenen und nach wie vor von Künstlerinitiativen organisierten) „Großen Kunstausstellungen“6, etwa denen in Düsseldorf und München, beteiligt, braucht letztlich, zugespitzt gesagt, keinen Anspruch mehr darauf erheben, im Inneren oder – um vorsichtshalber nicht auf den problematischen Begriff der Avantgarde zu verfallen – Vorderen des aktuellen Kunstbetriebs eine (wie wenig auch immer versprechende) Rolle spielen zu wollen. Der veränderte Sprachgebrauch weist also auf eine strukturelle Veränderung in der Kunst sowie im Kunstbetrieb hin. Jemandem aufgrund seiner/ihrer Teilnahme an einer Großen Kunstausstellung allerdings den Status KünstlerIn abzusprechen, würde bis dato zwar zu weit gehen – dennoch sind die unausgesprochenen betrieblichen Codes an dieser Stelle unmissverständlich: Der wohl dosierte Gebrauch des Wortes Kunst weist auf eine entsprechende Kompetenz mehr hin als das Bestehen darauf, sich aktiv an einer Kunst-Ausstellung zu beteiligen oder als BesucherIn dezidiert nur in eine solche gehen zu wollen. Gleichwohl scheint mir dies auf ein besonderes Potenzial hinzuweisen – nämlich, dass das Verhältnis zwischen ‚Kunst‘ und ‚Ausstellung‘ im Rahmen und als Gegenstand einer Kunstausstellung eben nicht a priori geklärt ist, sondern 6 Die Große Düsseldorfer Kunstausstellung verzichtet in ihrer Online-Präsentation bezeichnenderweise auf das zur Debatte stehende Wort und tritt als www.diegrosse.de auf. Neben dem seinerseits alles andere als unproblematischen sezessionistischen Erbe dürfte die exponierte Propagandafunktion der zwischen 1937 und 1944 stattfindenden Großen Deutschen Kunstausstellungen im Dienste nationalsozialistischer Kulturpolitik zu einer generellen Skepsis an diesem Ausstellungsformat beigetragen haben.

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dieses Verhältnis immer wieder neu auszumachen und als Ausstellung umzusetzen bzw. in ihr zu zeigen wäre. Wenn im folgenden Text auch weiterhin von Ausstellungen die Rede sein wird, dann sozusagen als fernes Echo auf den Begriff der Kunstausstellung. Ohne dass es in diesem Text explizit darum gehen kann, betrifft er einen Sonderfall in der Geschichte, im Medium sowie den gängigen Praxen und Theorien des Ausstellens. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass sich der Text auf Abstand zu akademischen Standards der traditionellen Kunstgeschichte und Museologie sowie deren Methoden und zumal Kompetenzen betreffenden Updates im Rahmen der vergleichsweise jungen Disziplinen der museum studies oder curatorial studies halten will. Er wurde aus der zweifachen Perspektive des Kunst- oder, vielleicht besser, Ausstellungskritikers und Ausstellungsmachers, mithin einem großen Interesse für die Technik der Ausstellung sowie ihren ästhetischen und politischen Beanspruchungen und, mit Blick darauf, vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Institutionsleiters geschrieben. Diese verschiedenen und in der Praxis zueinander fast in Widerspruch stehenden Kompetenzen spiegeln sich in einem Text wider, der gleichwohl ohne Weiteres davon ausgehen darf, dass der pauschale Begriff ‚Ausstellung‘ in sämtlichen Diskursen der Kunst mittlerweile selbstverständlich synonym für das an sich hochgradig spezifische ‚Kunstausstellung‘ Verwendung findet; er darf darüber hinaus annehmen, dass dieser Begriff längst breitenwirksam in genau diesem spezifischen Sinn eingesetzt und vor allem verstanden wird. Dennoch: der Unterschied zu Begriffen wie Automobil- oder Verkaufsausstellung liegt auf der Hand. Weisen letztere darauf hin, was in den entsprechenden Ausstellungen zur Ausstellung kommt bzw. was die Ausstellungsabsicht, ihr Grund ist, eröffnet eine die Kunst betreffende Ausstellung unweigerlich einen historischen und institutionellen Zusammenhang, aus dem das Ausgestellte und ebenso die spezifische Art und Weise des Ausstellens selber überhaupt erst hervorgehen. In Kunstausstellungen ist, in anderen Worten, wahrscheinlich Kunst ausgestellt, dies muss – anders als bei Automobilausstellungen – aber nicht zwangsläufig oder ausschließlich so sein: das Ausgestellte kann durch die Ausstellung dazu werden. Insofern sind Ausstellungen – analog zu der Beobachtung, die Jean-Louis Déotte am Beispiel Museum macht – sehr wohl „Apparate“7, die sich historisch und institutionell zwar zwangsläufig auf die Kunst beziehen, ohne das aber notwendigerweise – noch – ausweisen zu müssen. Dies ließe sich vielleicht als emanzipatorische oder auch Verdrängungsleistung sehen. (Und von daher mag ein Gutteil jener Peinlichkeit herrühren, die der Gebrauch des Worts Kunstausstellung auch über die inneren oder vorderen Ränge des Kunstbetriebs hinaus üblicherweise auslöst.) Auch deshalb können Kunstausstellungen heute ganz 7 Vgl.

Déotte, a.a.O., S.80.

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selbstverständlich und ausschließlich Ausstellungen sein, das historisch und institutionell Spezifische somit für das Allgemeine, fürs unmittelbar Zugängliche und voraussetzungslos Verständliche stehen. Das darin, sozusagen in der Kunst – als Institution entsprechend feldinterner Regeln oder unter einem spezifischen ästhetischen Regime) Gezeigte ist Kunst, es entspricht ihr. Für die Ausstellung als Form oder sogar Medium hat das unmittelbare Konsequenzen: Es ist der Grad an automatisierter und zugleich verdeckter Institutionalisierung, der daran ebenso interessant wie problematisch ist. Doch nicht nur auf der begrifflich/umgangssprachlichen Ebene hat Ausstellung eine Entwicklung durchgemacht. Auch als Technik, in ihrer Funktion als Medium des Zeigens und institutionelles Format im aktuellen Kunstbetrieb hat, sie und wie mir scheint in den letzten Jahren auch nochmals verschärft, einen nicht weniger bedenklichen Wandel erlebt. Ausstellen ist – im Gegensatz etwa zu den in Praxis wie Theorie geführten Debatten der 1990er Jahren, auf deren Basis sich die curatorial studies als akademische Disziplin etablieren konnten – sozusagen kein Thema mehr: Was es im Kunstbetrieb konkret bedeutet, auszustellen oder eine Ausstellung zu machen, ist mittlerweile kaum mehr umstritten. Es wird einfach gemacht: KünstlerInnen zeigen im Regelfall keine Arbeiten (oder gar Werke) mehr; sie stellen sie aus, freie, vor kommerziellem oder institutionellem Hintergrund agierende KuratorInnen machen Ausstellungen kaum anders und an keinen sonderlich anderen Orten als etwa HändlerInnen und SammlerInnen; Ausstellungen werden von Museen ebenso wie von Kunstmessen ausgerichtet, finden in Ateliers und Off-Spaces, Bankfoyers und Fußgängerzonen statt. Ausstellungen sind offenbar für alle immer und in jeder beliebigen Form verfügbar. Und selbstredend, siehe oben, ist all jenes, was sich in ihrer jeweiligen Motivation, als spezifisches Format und in ihrer strukturellen Verfassung zwangsläufig grundverschiedenen Ausstellungen abspielt, das Gezeigte ebenso wie die Art und Weise sowie die Bedingungen des Zeigens, gleichermaßen der Kunst zugeschlagen – ist Kunst. Wurde seit den 1960er Jahren in der spezifischen Beanspruchung von Ausstellung entweder aus künstlerischer oder kuratorisch-/institutioneller Perspektive als Medium immer auch ein Kompetenzstreit über die Verfügungs- und Deutungsmacht über künstlerische Produktion selbst ausgetragen – indem er sozusagen unmittelbar sichtbar auf die Bühne der Meinungsbildung gehievt wurde –, scheint dieser Konflikt heute im Sinne einer gegenseitigen Komplizenschaft beigelegt, wenn er sich nicht als Kunst regelrecht aufhebt (die nichtsdestotrotz je nach Trägerschaft im kommerziellen oder institutionellen Schaufenster zur Erscheinung gebracht wird und das von sich aus nicht selten billigend in Kauf nimmt oder sogar aktiv darauf besteht)8. 8

Am deutlichsten zeigt sich das Phänomen in der Ubiquität ausstellungsdramaturgischer Gesten, die ursprünglich aus dem Arsenal der Orts- oder Situationsspezifik stammen. Sollten diese Gesten

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Neuerdings hat sich ein Trend zu Ausstellungsformaten verfestigt, die sich ihrerseits auf historische Ausstellungen beziehen, indem sie diese in einem buchstäblichen Sinne zu ihrem Gegenstand haben bzw. sie als ihr Material einsetzen. Der Ansatz ist, etwa mit Blick auf die 1963 auf Initiative des Kurators Joe Trovato realisierte Jubiläumsausstellung zur legendären „Armory Show“ von 1913, keinesfalls neu. Vor dem Hintergrund der ungebrochenen Attraktivität von auf Wiederholung basierenden künstlerischen Praxen – von den unter dem Etikett der appropriation art der 1970er Jahre versammelten Aneignungstechniken bis hin zu dem relativ heterogenen Arsenal von Arbeitsweisen, die nach Nicolas Bourriaud unter dem Begriff der postproduction subsummiert werden können – ist diese verstärkt von kuratorischer und/oder institutioneller Seite betriebene Ausweitung (oder Annexion) dieser Praxen auf die Ausstellung zugleich als Thema und Material bzw. als Format und Display immerhin bedenkenswert. Aus einer nach wie vor wachsenden Anzahl solcher Beispiele von „Ausstellungen über Ausstellungen“ (im Original: „mostre sulle mostre“), die sich ihrerseits in Form, Anliegen und Anlass ausdifferenzieren, hat die Kunstkritikerin Alessandra Troncone grundsätzlich drei Typen ausgemacht: Erstens die Ausstellung als eine Art Sequel, das sich auf ein historisches Vorbild zwar bezöge, dieses aber frei interpretiere und somit zu einer Ausstellung eigenen Rechts, sozusagen ein Original würde; zweitens die unter Einbezug originaler Arbeiten und ihres Displays unter ggf. neuen Raumbedingungen zu leistende Rekonstruktion einer historischen Ausstellung, sozusagen als deren Remake; der dritte Typus bestünde in der anhand originaler, fotografischer und nicht selten digitalisierter Zeugnisse vorgenommenen dokumentarischen Rekonstruktion9. Der letzte Ausstellungstypus dürfte nicht zuletzt einem in letzter Zeit verstärkt erwachsenen Interesse an Ausstellungsgeschichte seitens einer gleichwohl noch zu wenig an einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Kunst sowie an ihren eigenen institutionellen Effekten interessierten Kunstgeschichte geschuldet sein. Jüngste Beispiele dieses letzten, vom kuratorischen Anliegen bzw. mit Blick auf ausstellungstechnische Darstellung vergleichsweise konventionellen Typus würden etwa die Projekte „Cybernetic Serendipity: A Documentation“ 2014 im Londoner ICA oder „Magiciens de la terre, retour sur une exposition légendaire“ 2014 im Pariser Centre Pompidou bieten. Erstere bot einen von der lokal, temporär oder situativ auf die (institutionellen) Rahmenbedingungen hinweisen, denen eine künstlerische Produktion unterliegt, werden diese heute ausstellungskonstitutiv eingesetzt: Indem künstlerische Arbeiten aber auch Einladungskarten, Pressetexte, Hänge- und Installationsweisen im Sinne von Props für ein spezifisches Ausstellungsszenario eingesetzt werden, in dessen Rahmen sie – paradoxerweise einer Werklogik folgend – vorübergehend Bedeutung generieren. 9 Vgl. Alessandra Troncone: Il piacere di rifare. In: Flash Art Nr. 310, März-Juni 2013, online: http:// www.flashartonline.it/interno.php?pagina=articolo_det&id_art=1326&det=ok&titolo=REMAKINGEXHIBITIONS (Abrufdatum 13.01.2015).

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ursprünglichen Kuratorin Jasia Reichhardt eingerichteten archivalischen Rück­ blick auf ihre 1968 am selben Ort kuratierte Ausstellung „Cybernetic Serendipity“ (mit Folgestationen in der Corcoran Art Gallery, Washington und dem Exploratorium, San Francisco). Sie verfügte damals über ein Display der Künstlerin, Illustratorin und Bühnenbildnerin Franciszka Themerson und brachte künstlerische Projekte zusammen, die sich konzeptuell auf Verfahren der Kybernetik bezogen. Das aktuelle Projekt bestand in einer vergleichsweise traditionellen Kabinettpräsentation von Achivalien, Publikationen und Ephemera sowie von Dokumenten zur Rezeptionsgeschichte samt einer Neupublikation der 1968 parallel zur Ausstellung erschienenen Schallplatte. Die hausintern kuratierte Ausstellung im Centre Pompidou bezog sich offensichtlich auf Jean-Hubert Martins ebendort realisierte Großausstellung „Magiciens de la terre“ von 1989 und enthielt neben ausführlichen Dokumenten dazu einen Bilderfries, der – den historisch-wissenschaftlichen Charakter des Projekts bewusst kontrastierenden – von dem Künstler Sarkis sichtlich ‚künstlerisch‘, gleichwohl aus dem Fundus historischer Installations- und Werkansichten eingerichtet war. Er bildete den Rahmen für größtenteils auf Vitrinen verteilte Dokumente und Archivalien zur Ausstellungsgeschichte; außerdem wurde zu dem Projekt ein ausführliches Theorie- und Vermittlungsprogramm inklusive Fachkolloquium und Sommeruniversität veranstaltet. Beide Projekte situieren sich gleichermaßen im präsentischen Format der Ausstellung als Anlass und Ort der Begegnung mit der historischen Thematik, die sich am Materialstand der Dokumente und Archivalien nachvollziehen lässt. Dabei betreiben sie aus sich heraus institutionelle Selbstreflexion, ohne dafür in ein sozusagen naiv ortsspezifisches Register („am Originalschauplatz“) zu verfallen. Gleichwohl weisen die jeweiligen Displays mit ihrem Schwerpunkt einmal auf dokumentarisch-wissenschaftliche Präsentation im ICA und im anderen Fall mittels einer von jeder Menge Archivalien historisch gestützten letztlich künstlerischen Inszenierung – welche aus kuratorischer Sicht zudem kaum mehr als eine atmosphärische Funktion haben kann – auf grundsätzlich unterschiedliche Zielsetzungen hin. Ja, sie könnten sich im Verhältnis von Ausgestelltem und Ausstellung und in der Art und Weise, wie sie jeweils ihren Zugang zur Geschichte regulieren, kaum deutlicher unterscheiden. Setzt das Londoner Beispiel mit seiner Inszenierung von Wissenschaftlichkeit auf Information, Nachvollzug und Revision rückt die Pariser Schau das Erlebnis der Ausstellung in den Vordergrund, versucht die historische und kulturelle Distanz zu ihrem Thema geradezu offensiv zu verringern. Wenn sich die beiden Beispiele auf historische Vorläuferausstellungen vorrangig als ‚Thema‘ bezogen haben, gerät mit der Rekonstruktion solcher Vorläufer – Troncones zweiter Typ – zugleich der Aspekt ihrer spezifischen ‚Form‘, z.B. die räumliche Anordnung der Exponate und über ihre individuellen

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materiellen Eigenschaften hinaus der gleichermaßen ästhetische wie diskursive Zusammenhang, den sie als Display oder Parcours im Rahmen einer Ausstellung eingehen, sowie das institutionelle Format der Ausstellung selbst in den Fokus. Ebenso bekanntes wie umstrittenes Beispiel für diesen Ansatz ist die quasi-philologische Rekonstruktion des von Harald Szeemann 1969/70 in Bern, Krefeld und London kuratierten Ausstellungsprojekts „Live in Your Head: When Attitudes Become Form (Works – Concepts – Processes – Situations – Information)“. Dessen ursprüngliche, in der Kunsthalle Bern realisierte Version wurde 2013 von dem Kurator und Kunsttheoretiker Germano Celant (seinerzeit einer von Szeemanns Ko-Kuratoren) in Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Demand sowie dem Architekten Rem Koolhaas für die Fondazione Prada umgesetzt. Schauplatz des äußerst publikumswirksam parallel zur 55. Ausgabe der Venedig Biennale realisierten Prestigeprojekts war das aus dem 18. Jahrhundert stammende, seit 2011 von der Stiftung genutzte Ca’ Corner Della Regina in Venedig, in dessen bestehende Gebäudestruktur Demand und Koolhaas die räumlichen Gegebenheiten aus Bern maßstabsgetreu übertragen und architektonisch implementiert hatten. Dabei wurden markante Charakteristika der Berner Kunsthallenarchitektur wie Heizungen, Fenster und Nischen und sogar noch Bodenbeläge, Fußleisten und Gesimse adaptiert und mit neuen Materialien nachgebaut. Der Parcours selbst wurde, so weit Informationen darüber verfügbar waren, mit minutiös am Vorbild ausgerichteten Originalarbeiten aus der historischen Ausstellung rekonstruiert bzw. andernfalls durch aus der Spurensicherung bekannter ‚Kreideleichen‘ in Form von Klebebandlinien ergänzt. Ohne die komplexe Problematik und die vielfältigen Konsequenzen, die Celants in jeder Hinsicht voraussetzungsreiches Remake oder, besser, sein re-enactment10 aufwirft, weiter erörtern zu können, drängt sich doch ein bisher nebensächlicher Aspekt dieses Projekts deutlich in den Vordergrund. In diesem Fall betrifft er das Verhältnis von Einsatz und Effekt. Zwar eine der prominentesten Ausstellungen der neueren Ausstellungsgeschichte, ist „When Attitudes Become Form“ vor allem das: eine historische Ausstellung unter vielen anderen und oft weit weniger bekannten. Damit drängt sich die Frage auf, was die Rekonstruktion dieser Schau – gerade aufgrund der philologischen Akribie der Durchführung – von der anderer, womöglich weit weniger populären aber deshalb nicht zwangsläufig bedeutungslosen Ausstellungen unterscheiden würde und in welcher Weise sich diese äußerst spezifische Information den AusstellungsbesucherInnen jenseits des bloßen Erlebniswerts mitteilen würde. Obwohl die Rekonstruktion von „When Attitudes Become Form“ eine Kabi10 Als künstlerisches Verfahren der Adaption und Aktualisierung historischer Zusammenhänge – mit

im Extremfall regelrecht therapeutisch-katalysierenderer Wirkung wie in Jeremy Dellers gelungenem „The Battle of Orgreave“ (2001) – hat sich das aus der Living History-Tradition und dem Laienspiel stammende re-enactment zu einem eigenen Genre verfestigt.

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nettpräsentation mit Dokumenten zur Produktion und Rezeptionsgeschichte der Ausstellung sowie vor allem zur Person Szeemanns beigegeben war, vermochte das Projekt höchstens eine Art Patt im Nirgendwo zwischen Geschichte und Gegenwart, Faktum und Fiktion, Erleben und Glauben zu erzeugen und bleibt mittelfristig – und damit vermutlich ganz im Sinne des Trägers Prada Foundation – vor allem ein auf Elitenbildung und Branding zielendes LuxusFranchiseprodukt, bei dem der historisch belegbare Gebrauchswert zwangsläufig weit hinter dem mythenbildenden Tauschwert zurückbleibt. Dafür sind gerade aus kuratorischer Perspektive eine Reihe von Kollateralschäden zu kalkulieren. Denn die obwohl akribisch recherchierten und skrupulös im Rahmen des Parcours platzierten Originalarbeiten – seinerzeit zum größten Teil situativ vor Ort und teilweise bewusst ortspezifisch konzipierten und somit durch die Ausstellung ‚apparativ‘ sichtbar gemacht – lösen sich zu den theatralen Bedingungen, die diese Rekonstruktion herstellt, in ihrer Eigenschaft als historische Artefakte vollständig im Material auf. Sie werden, wie die nachgebauten Fußböden, Fußleisten und Wandgesimse als bloße ästhetische Funktionen im Rahmen einer Simulation instrumentalisiert. Zugleich verstellt die kuratorische Aneignung der historischen Ausstellung im Sinne eines Werks – und außerdem die Vereinnahmung sogar noch der autorschaftlichen Position des Kurators (Ende der 1960er Jahre ein Novum und von Szeemann nicht zuletzt taktisch eingesetzt) – jede Aussicht auf eine kritische Revision der Faktoren, die in der damals zumindest in Bern hoch umstrittenen „When Attitudes Become Form“ als vor dem Hintergrund der damaligen kulturellen, ökonomischen und sozialen Bedingungen Gemachtes korrelieren. Nicht nur das unterscheidet Celants bei allem Detailfetischismus in der formalen Ausführung konzeptionell ausgesprochen defizitäres Projekt von philologisch-kunsthistorischen Rekonstruktionen mit ihrem klar ausgewiesenen kunsthistorischen Fokus wie „Mission Moderne“, eine zum 100. Jubiläum der Kölner Sonderbundausstellung von 1912 im Wallraff-Richartz-Museum teilweise realisierte Rekonstruktion oder diejenigen der kollaborativen Ausstellungsprojekte von Richard Hamilton aus den 1950er Jahren, die zum Großteil in Zusammenarbeit mit dem damals noch lebenden Künstler realisiert werden konnten. Es weist insgesamt auf eine radikale Verschiebung von Kompetenzen und eine Umverteilung in der Verfügbarkeit von Produktionsmitteln im aktuellen, hochgradig marktorientierten Kunstbetrieb und dessen Vorliebe für ebenso kurzlebige wie spektakuläre Events hin. Bezeichnenderweise stand „When Attitudes Become Form“ bereits einmal Pate für einen kuratorischen Ansatz, der dem methodisch am schwersten zu fassenden ersten, von Troncone beschrieben Typ entspricht. Jens Hoffmann hatte 2012 im Rahmen seiner „When Attitudes Became Form Become Attitudes: A Restoration / A Remake / A Rejuvenation / A Rebellion“ am CCA Wattis

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Institute for Contemporary Arts, San Francisco (und einer Anschlussstation im Museum of Contemporary Art, Detroit) im Format einer thematischen Gruppenausstellung mit teils bestehenden und teils kommissionierten Arbeiten von rund 80 zeitgenössischen, angeblich dem Erbe konzeptueller Kunst verpflichteter KünstlerInnen eine Art von der Vorlage inspirierter Aktualisierung der historischen Vorlage mit hartnäckigem Verweis auf deren, laut Ausstellungsinformation, Gegenwärtigkeit als living past und offensichtlich über jede Diskussion erhabene Bedeutung als legacy vorgenommen. Bei aller Unterschiedlichkeit des kuratorischen Anliegens und der eingesetzten Mittel eint Celants und Hoffmanns Ansätze, dass die Art und Weise, wie sie sich ihrer historischen Vorlage nähern, einerseits merkwürdig indifferent gegenüber dem, was zu offensichtlich bestimmten, eben ‚historischen‘ Voraussetzungen hergestellt wurde und sowohl als ästhetisches und wie institutionelles Format spezifische Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen gestiftet hat. Ihre Indifferenz betrifft andererseits nicht nur den methodischen Umgang mit der historischen Vorlage, sie schließt gleichzeitig eine auffällige (womöglich aber billigend in Kauf genommene) Unsicherheit über die eigene kuratorische Position, deren Funktion, Kompetenz und grundsätzliche Legitimation ein – mit der fatalen Konsequenz, dass die notwendige Differenz, wie sie gerade zwischen kuratorischen und künstlerischen Arbeitsweisen bestehen sollte, zunehmend eingeebnet wird. Die Erosion der Grenzen zwischen Kunstobjekt und Kontext, Exponat und Display, ProduzentInnen und Institution führt dabei fast zwangsläufig zu einer allmählichen Entspezifizierung der unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen von Kunst und Ausstellung insgesamt: ihre – wenngleich notwendig aufeinander bezogenen – policies, deren jeweilige Brisanz ja gerade in der Ausstellung, in der Art und Weise, wie diese sich zu ihrem Gegenstand ins Verhältnis setzt, sichtbar gemacht werden könnte. Ausstellungen über Ausstellungen scheinen das Problem zu verschärfen, in welchem Verhältnis Kunst und Ausstellung zueinander stehen. Dies sollte allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass Ausstellungen selbst grundsätzlich politische Formate sind und dies als Medium verhandeln und ausstellen können. Ich würde dafür plädieren, sie in diesem Sinne einzusetzen.

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DO YOU LIKE IT? DIE INSZENIERUNG DES SOZIALEN 1984 verwendet der Computerhersteller Apple George Orwells Roman 1984 als Vorlage für einen Werbespot.1 Der Plot besteht im Wesentlichen darin, dass eine sportlich gekleidete Frau in einen Vorführraum läuft, in dem eine monoton wirkende Zuschauermenge bewegungslos auf eine Kinoleinwand starrt. In deutlichem Kontrast zu den grau uniformierten Zuschauern trägt die athletische Hauptdarstellerin ein rot-weißes und zumindest zu dieser Zeit modisches Sportdress und erinnert gar nicht so entfernt an die Aerobic-Ikone Jane Fonda. Im Gestus einer Hammerwerferin zertrümmert die Athletin die Leinwand, womit die Zuschauer aus ihrem Zustand der manipulativen Monotonie gerissen werden. Die Situation ist den sogenannten „Hassminuten“ in Orwells Roman nachempfunden – einer regelmäßig stattfindenden Veranstaltung, mit deren Hilfe Parteimitglieder mit filmischen Mitteln auf Linie gehalten werden. Der fünfminütige Spot endet mit dem eingeblendeten Satz, dass Apple am 24. Januar 1984 Macintosh auf den Markt bringen wird und man dann sehen werde, warum 1984 nicht so sein wird, wie es in dem Roman 1984 dystopisch vorgezeichnet worden ist. Aber auch unabhängig vom Abspann sind die Verweise auf den Roman 1984 deutlich erkennbar: etwa die Uniformität der gleichgeschalteten Menschen – vor allem aber der Bildschirm mit dem sprechenden Großen Bruder. Mit der Zerstörung der Leinwand destruiert die Athletin den Inszenierungsmechanismus des totalitären Regimes. Die Darstellung erinnert aber auch an das Höhlengleichnis Platons, in dem Menschen auf eine Wand starren, auf der mittels einer Projektion ein Schattenspiel veranstaltet wird, das von den Betrachtern fälschlicherweise als Wirklichkeit wahrgenommen wird. Erst der Philosoph, dem die Inszenierung dadurch bewusst wird, dass er die Höhle verlässt, befreit die Höhlenbewohner aus ihrer misslichen Lage. Mit der Werbung inszeniert sich Apple demzufolge als Befreier, als Bereitsteller von frei zugänglichen Informationen, und nimmt – bezogen auf das Höhlengleichnis – die Rolle des aufklärerischen Philosophen ein, der die Mitmenschen aus dem statischen Zustand der manipulativen Gehirnwäsche befreit. Derjenige also, der mittels Computer Informationen empfängt und weitergibt, ist – so die simple Lesart – der Philosoph der Gegenwart. 1

1984 (USA 1984, R: Ridley Scott). Siehe dazu: http://www.youtube.com/watch?v=VtvjbmoDx-I (Abrufdatum 25.07.2014).

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Orwells Roman 1984 wird den meisten Leserinnen und Lesern bekannt sein, aber ich möchte ihn dennoch kurz skizzieren: Der 39-jährige Protagonist des Romans, Winston Smith, wohnt in London, der Hauptstadt des totalitären Regimes Ozeanien, das sich zumindest scheinbar im ständigen Krieg mit den anderen beiden Großmächten Eurasien und Ostasien befindet. Smith arbeitet im Ministerium für Wahrheit und ist damit beschäftigt, die Geschichtsschreibung der jeweiligen und sich ständig ändernden Partei-Doktrin anzupassen. Die Ähnlichkeit zu Friedrich Nietzsches „Genealogie der Moral“ und dem Dispositiv-Begriff Michel Foucaults sind offensichtlich: Geschichte findet nicht statt, sondern wird geschrieben und dies beinhaltet im Falle der in 1984 beschriebenen Diktatur auch das Umschreiben von Zeitungsartikeln, für das Smith unter anderem zuständig ist. Neben dem Ministerium für Wahrheit gibt es noch drei weitere – das Ministerium für Liebe, eine Foltereinrichtung zur Umerziehung abtrünniger Parteimitglieder, das Ministerium für Frieden und das Ministerium für Überfülle. Im Verlauf der Handlung verliebt sich Winston in seine Kollegin Julia und die beiden haben ein Verhältnis, was Parteimitgliedern untersagt ist. Dazu beginnt er, heimlich ein Tagebuch zu schreiben – was ebenfalls verboten ist. Sein subversives Verhalten wird, was keine Überraschung ist, entdeckt und er wird im Ministerium für Liebe einer monatelangen Gehirnwäsche unterzogen und danach als Wrack wieder entlassen. Der ständigen Überwachung dienen vor allem Teleschirme, die überall präsent und selbst zu Hause dauerhaft angeschaltet sind. „Der Teleschirm war Sende- und Empfangsgerät zugleich [...]“, schreibt Orwell, Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig alle beobachteten. Sie konnten sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten.2

Es findet also eine vollständige Überwachung statt, die Privatsphäre ist aufgehoben. Als Rückzugsort bleibt nur der eigene Kopf – lediglich die eigenen Gedanken können nicht observiert werden. Dazu ein weiteres Zitat: „Sie konnten einen Tag und Nacht bespitzeln, aber wenn man den Kopf behielt, konnte man sie überlisten. Bei all ihrer Gerissenheit hatten sie doch nie das Problem gelöst, wie man herausfand, was ein anderer dachte.“3 Selbst in der Dystopie 1984 bleiben die Gedanken von der Totalüberwachung verschont – in den Kopf kann eben keiner reinschauen, die Gedanken bleiben frei.

2 3

George Orwell: 1984. Berlin 2012, S.9. Ebd., S.203.

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INFORMATION WANTS TO BE FREE

Der Apple-Spot wurde recht prominent bei der Übertragung des Superbowl am 22. Januar 1984 ausgestrahlt – also zwei Tage vor dem offiziellen Marktdebut des Macintosh. Regie führte Ridley Scott, der zuvor bereits als Regisseur von Blade Runner und der Alien-Filme Weltruhm erlangt hatte. Es wurde also nicht gespart an der Einführung des Nachfolgemodells, des Apple Lisa, der finanziell ein Flop war. Die Botschaft der Werbung ist selbst ohne Kenntnis des Orwell’schen Werkes leicht zu erfassen: Der Personal Computer Macintosh steht für das Individuelle, Freiheitliche und Selbstbestimmte – und ist dazu jung, dynamisch und sexy. Während das zu Zerstörende manipulativ, unfrei, uniform und unattraktiv ist. In der Selbstdarstellung befreit Apple die Menschheit von dem diktatorischen Regime einer zentralistisch organisierten Macht, die die Informationshoheit besitzt und diese zu manipulativen Zwecken missbraucht. Aber welches Gegenüber ist hier gemeint, gegen wen richtet sich die Werbung? Interessanter- und fälschlicherweise wurde gelegentlich angenommen, dass es der spätere Konkurrent Microsoft gewesen sein soll, aber tatsächlich richtete sich die Inszenierung gegen den zum damaligen Zeitpunkt viel wichtigeren Rivalen von Apple, den Elektronikriesen IBM. IBM, die International Business Machines Corporation, ging aus der von Herman Hollerith gegründeten Firma Tabulating Machine Company hervor, mit der er sein im Januar 1889 eingetragenes Lochkarten-Patent vermarktete. Bemerkenswerterweise verdiente der deutschstämmige Hollerith sein Geld in erster Linie mit der Vermietung seines Systems zur effizienten Datenfassung an Regierungsstellen, die damit Volkszählungen durchführten. Die Firma Holleriths kann damit als Vorläufer der heutigen Cloud-Internetdienste angesehen werden, die ihre Soft- und Hardware zum Management von größeren Datenmengen – also Big Data – nicht mehr verkaufen, sondern lediglich vermieten. IBM wiederum war noch in den 1980er Jahren Weltmarktführer bei der Herstellung von Großrechnern, weshalb sich Apple mit seinem Personal Computer – also einem individuell verfügbaren Rechner – nachvollziehbar als Gegenpart von IBM inszenierte. Hier geht es also darum, die Macht eines Großkonzerns zu brechen bzw. in der Inszenierung darum, der Informationshoheit von IBM die Möglichkeit der Informationsteilhabe entgegenzusetzen. Mit seinem Produkt, dem für jeden und nicht nur für große Firmen verfügbaren Computer, befreit Apple die Menschheit aus der Unterjochung des mächtigen Elektronik-Konzerns IBM. Das gezeigte Selbstverständnis von Apple kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern deckt sich mit der Sichtweise einer Vielzahl von Computerpionieren, die sich seit den späten 1960er Jahren in der kalifornischen Bay Area um die Entwicklung individuell verfüg- und verwendbarer Rechner bemühten.

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Eine wichtige Rolle spielte neben dem institutionell geförderten Xerox Palo Alto Research Center (Xerox PARC) der Homebrew Computer Club, der seine Treffen bereits in Menlo Park, also im Kerngebiet des späteren Silicon Valley, abhielt. Der Club rekrutierte seine Mitglieder aus den benachbarten Forschungseinrichtungen der Gegend, etwa des einflussreichen Stanford Research Institutes oder des schon genannten Xerox PARC, bestand aber ebenso aus Anhängern der Counterculture, etwa Deadheads und Hippies. „Access to the tools“ war der Slogan der Zeit, der vor allem mit dem in San Francisco angesiedelten Magazin Whole Earth Catalog verbreitet wurde. Neben detaillierten Anleitungen zum Leben auf dem Land, etwa darüber wie man Ziegen hält oder eine Holzhütte baut, publizierte der Whole Earth Catalog ebenso zu technischen Entwicklungen der Computerforschung und etablierte dazu einen Vorläufer des Internet, den Whole Earth Lectronic Link, kurz WELL. Von Stewart Brand, dem Herausgeber des Magazins, stammt der bezeichnende Artikel We owe it all to the Hippies. In dem am 1. März 1995 im Time Magazine veröffentlichten Text vertritt Brand die These, dass die Computerrevolution der kalifornischen Counterculture geschuldet sei. Als wichtige Einflüsse nennt er die Schriften von Marshall McLuhan und Buckminster Fuller. Seiner Darstellung nach hat die sich in den 1960er Jahren in der Bay Area entwickelte Hackerkultur die zentralisierte Macht der frühen Computerhersteller, hier expressis verbis auch die von IBM, gebrochen. Um die Haltung der frühen Computerpioniere darzustellen, zitiert Brand in seinem Artikel Steven Levy, der bereits 1984 in seinem Buch Hackers: Heroes of the Computerrevolution die später sogenannte Hacker-Ethik festhielt.4 Unter anderem nennt Levy folgende Ansprüche: „Access to computers should be unlimited and total“, „All information should be free“, „Mistrust authority – promote decentralisation“ sowie „Computers can change your life for the better“.5 Dies ist also gewissermaßen die idealistische Folie, auf die sich die Apple-Werbung bezieht: Mit der Entwicklung des Personal Computers findet die geforderte Dezentralisierung statt und wird die Welt besser. Nichtsdestotrotz stammten die Mittel, die an den wichtigsten Forschungseinrichtungen zur Computerentwicklung, dem Massachusetts Institute of Technology, dem MIT, in Boston und dem Stanford Research Institute in Palo Alto, eingesetzt wurden, überwiegend von DARPA, der Defense Advanced Research Projects Agency – also vom Militär, das zweifelsohne weniger idealistische Ziele verfolgte. Wichtige Protagonisten der Computerentwicklung in der Bay Area, wie etwa Douglas Engelbart, verfolgten einerseits idealistische Ziele, bezogen ihre Forschungsgelder aber andererseits unmittelbar oder mittelbar aus Geldtöpfen des Militärs. Engelbart war nicht nur maßgeblich an der Entwicklung 4

Stewart Brand: We owe it all to the Hippies. In: Time Magazine vom 01.03.1995, Sonderausgabe Welcome to the Cyberspace, S.50-52. 5 Vgl. dazu: Steven Levy: Hackers: Hereos of the Computerrevolution. New York 1984.

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der Computermaus beteiligt, sondern verwaltete am Stanford Research Institute auch einen der vier ersten Knoten des ARPA-Networks, den vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanzierten Vorläufer des Internet. Auch das 1989 maßgeblich von Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am CERN in der Schweiz entwickelte Internet, wie wir es heute kennen, startete – der zitierten Hacker-Ethik vergleichbar – mit idealistischen Zielen. In dem für das Vorhaben formulierten Projektantrag heißt es unter anderem: „The project will aim: to provide the software for the above free of charge to anyone.“6 Auch hier deckt sich die Idee eines dezentralisierten Netzwerkes mit dem Ideal frei verfügbarer Informationen. Gemeint ist hiermit nicht nur die Möglichkeit, Informationen zu empfangen und weiterzugeben, sondern ebenfalls der freie Zugang zu Informationstechnologien – also Software – was heute unter dem Begriff Open Source firmiert. Ob und inwieweit Software frei und unentgeltlich verfügbar sein sollte, wurde bereits von den Mitgliedern des Homebrew Computer Clubs kontrovers diskutiert. Im Unterschied etwa zu den Clubmitgliedern und Gründern von Apple, Steven Jobs und Steve Wozniak, trat Fred Moore, der Gründer des Clubs, schon in den Anfangsjahren der Computerentwicklung für den Austausch und die freie Verfügbarkeit von Computertechnologien ein. Während der überwiegende Teil der Clubmitglieder als Entrepreneure der Computerindustrie reüssierten, hielten andere an den ursprünglichen Idealen der freien Informationsteilhabe fest, während die Szene der Computerpioniere gleichzeitig überwiegend von der finanziellen Förderung des Militärs abhing. Die divergierenden Entwicklungsstränge, bei denen sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen Idealen der Counterculture gegenüberstehen, finden sich also schon in der Geburtsstunde der sogenannten Informationsrevolution. Von den jeweils beteiligten Interessensgruppen wird in der Regel jedoch lediglich auf das Ideal einer besseren Welt durch Informationsteilhabe verwiesen, während die anderen Aspekte eher unterschlagen werden. In einem Interview unterstellt der einflussreiche Computerentwickler Danny Hillis dem Interviewer Stewart Brand in einem Nebensatz, dass dieser maßgeblich dafür verantwortlich sei, dass der Computer eine so gute Reputation innerhalb der Counterculture hat. „Sie müssen verstehen“, so sagt er, „ich schätze es sehr, dass Sie die Alternativkultur davon überzeugt haben, dass Computer ok sind und eigentlich auf ihrer Seite stehen.“7 Interessant ist aber vor allem, wie Hillis seinen Gedanken an dieser Stelle weiterführt: „Was ich jetzt sage, geht jedoch gegen die Idee einer Dezentralisierung. [...] Ich glaube, dass Personal Computer dann nicht mehr ein derart wichtiges Instrument der Computerisierung sein werden. Sie werden weiterhin ihren Platz 6

In: http://info.cern.ch/hypertext/WWW/Proposal.html (Abrufdatum 25.07.2014).

7 Stewart Brand: The Media Lab. Computer, Kommunikation und Neue Medien. Die Erfindung der

Zukunft am MIT. Reinbek bei Hamburg 1990, S.234.

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haben, aber die Computerleistung, die Sie für Ihre Anwendungen zu Hause brauchen, werden Sie eher aus einer zentralen Quelle beziehen.“8 Das zukünftige Szenario, das Hillis hier beschreibt, wird gerade mit den Cloud-Anwendungen Realität: Informationen werden immer mehr auf Großrechner ausgelagert und Anwendungen eher gemietet als gekauft, während die eigenen Rechner, Tablets und Smartphones mehr und mehr dazu dienen, eine Verbindung zu den Servern der Dienstleister herzustellen. Nach der zeitweiligen Aneignung der Produktionsmittel – eingängig verbalisiert mit dem Slogan „Access to the Tools“ – weist die Entwicklung zurück zu ihren Anfängen: zu den lediglich miet- aber nicht erwerbbaren Lochkartensystemen von Herman Hollerith. PUBLIC IS THE NEW PRIVATE

Auch die 2004 gegründete Plattform Facebook greift in ihrer Selbstdarstellung auf den Topos der Informationsteilhabe zurück. Auf ihrer US-amerikanischen Homepage begrüßen sie mit dem folgenden Slogan: „Facebook’s mission is to give people the power to share and make the world more open and connected.“9 Nach eigener Darstellung geht es also darum, Menschen miteinander zu verbinden, die Welt zueinander zu öffnen und Informationen miteinander zu teilen. Die Beteiligung ist kostenlos und die Plattform ermöglicht ihren Nutzern, Netzwerke aufzubauen und Informationen zu empfangen und weiterzugeben. Es ist sozusagen ein Internet im Internet, das vermeintlich nahtlos an die frühen Ideale der Internet-Utopisten anknüpft. Die Begrifflichkeiten sind durchweg positiv konnotiert – was nicht überrascht. Der politische Slogan „Power to the People“ wird ebenso benutzt wie das Wort „share“, also teilen, das grundsätzlich und über alle Kulturen hinweg als etwas Positives aufgefasst wird. Auf der in Köln jährlich stattfindenden Messe DMEXCO, der Abkürzung für Digital Marketing Exposition & Conference, finden sich bei dem Stand von Facebook weitere Slogans dieser Art, etwa „It’s all about people“, es geht also um Menschen, sowie: „The world has gone social, be part of it.“10 Darin steckt die Aufforderung „sozial“ zu werden, was im Duden unter anderem folgendermaßen definiert wird: „dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend; die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den (wirtschaftlich) Schwächeren schützend“.11 Etwas spezifischer

8

Ebd., S.235. dazu: http://www.facebook.com 10 Siehe dazu Facebook. Milliardengeschäft Freundschaft (D 2012 [NDR], R: Svea Eckart/Anika Giese), Min.17.41ff. 11 Siehe dazu: Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24. Aufl. Mannheim 2006, S.947. 9 Vgl.

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wird es bei dem ebenfalls verwendeten Slogan: „Public is the new private.“12 Auffällig erinnert dieses Statement an Marshall McLuhans „Global Village“ und noch mehr an Vilém Flussers „Telematische Gesellschaft“. Dazu ein kurzer Exkurs: In verschiedenen Texten beschreibt Flusser die Situation vor dem Siegeszug der sogenannten Neuen Medien, er denkt hierbei vor allem an das Fernsehgerät und das Radio, als ständiges Pendeln zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum. Während außerhalb des Hauses neue Informationen im Dialog empfangen werden, werden die empfangenen Informationen zu Hause überdacht, weiterentwickelt und dann wieder nach draußen in die Öffentlichkeit getragen. Nun aber seien die Häuser mit nicht-reversiblen Kabeln „durchlöchert wie ein Emmenthaler Käse“ und die Informationen werden nur noch zu Hause empfangen.13 Das Meinungen aussendende Fernsehen bindet die Menschen an den Fernsehapparat und unterbindet gleichzeitig den öffentlichen Dialog. Anstatt ein Netz zu sein, erscheint es als Endpunkt eines Strahlenbündels im Wohnzimmer, „vor dem wir verantwortungslos sitzen“, wie Flusser schreibt.14 Indem sie nicht mehr dialogisieren und nicht an dem Prozess der Informationsgenerierung beteiligt sind, werden die Menschen unpolitisch. Letztendlich wird das Fernsehen gebraucht, „um Millionen von Empfängern […] zu spezifischen Verhaltensmodellen zu konditionieren“,15 und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits werden sie zu einem spezifischen Kaufverhalten angeregt, was im Interesse derer liegt, die das Fernsehen bezahlen, also derjenigen, die Werbungen schalten. Und andererseits sind sie dazu verdammt, Informationen lediglich zu empfangen und nicht mehr auszusenden. „Public is the new Private“ bedeutet hier, dass die Öffentlichkeit das private Heim erobert hat, ohne die Möglichkeit bereitzustellen, aus der Privatheit heraus Informationen in die Öffentlichkeit bringen zu können. Flussers Lösung besteht nun darin, dass die Kommunikationskanäle umgeschaltet werden: Aus nicht-reversiblen Kabeln müssen reversible Kabel gemacht werden, die nicht nur das Empfangen sondern auch das Senden von Informationen erlauben. Flussers Utopie einer Telematischen Gesellschaft soll genau diese Umschaltung der Kanäle beinhalten – und es verwundert nicht, dass das Internet bis heute gerne als adäquate Realisierung dieser Gesellschaftsform gesehen wird. Bei ihm geht diese Utopie allerdings mit einem Vermögen einher, dass er „Technoima12

Siehe dazu: Eckart/Giese, Facebook, a.a.O., Min.19.14.

13 Vilém Flusser: Häuser bauen. In: Ders.: Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S.160-163, hier S.162. 14 Vilém Flusser: Vom Fernsehen und der Vorsilbe ‚Tele‘. In: W & M. Weiterbildung und Medien. Die Medienzeitschrift der bundesdeutschen Erwachsenenbildung. Heft 1, Januar/Februar 1991, S.27-29, hier S.29. 15 Vilém Flusser: Versuch, eine phänomenologische Schau des Fernsehens glossenartig zu ballen. Unveröffentlichtes Typoskript des Vilém Flusser Archivs, Nr. 2661, S.1.

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gination“ nannte.16 Darunter begreift er die Fähigkeit, die technischen Abläufe innerhalb der Kommunikationskanäle und Kommunikationsapparate verstehen und mitgestalten zu können. Zusammengefasst ist die Telematische Gesellschaft nur dann sinnvoll, wenn die Menschen die Herrschaft über die Kommunikationskanäle haben, also über die Glasfaserkabel und Satelliten; die Herrschaft über die Programme haben, also über die Software; und die Herrschaft über die Apparate haben, die die Kommunikation ermöglichen, also über die Hardware. Bei Flussers Modell sind nur die Nutzer die Knoten im Informationsnetz. Was er allerdings nicht bedacht hat, ist, dass sich staatliche Stellen und Konzerne wie Parasiten an den Informations-Knoten festsetzen und Informationen abziehen und verwerten können. Zurück zu Facebook und der Frage, warum dieses Netzwerk so erfolgreich ist: Aus Sicht der User ist die Plattform attraktiv aufgrund des schnellen, exponentiellen Wachstums; aufgrund der Möglichkeit der Selbstdarstellung; weil Freundeskreise gebildet werden können sowie aus voyeuristischen Motiven. Aus Sicht der Werbetreibenden ist Facebook attraktiv aufgrund seines schnellen, exponentiellen Wachstums; weil Werbung personalisiert werden kann; weil es ein exakt messbares Feedback gibt; weil Nutzerinteressen nachvollzogen werden können. Es fällt auf, dass schnelles Wachstum und damit die riesige Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer sowohl für die Nutzer selbst, als auch für die Werbekunden attraktiv ist. Alle sind bei Facebook und deshalb muss ich auch dabei sein, um nicht vom Informationsfluss ausgeschlossen zu sein. Und ebenso: Dort muss ich Anzeigen schalten, um flächendeckend wahrgenommen zu werden. In der Selbstdarstellung von Facebook ist das Netzwerk so schnell gewachsen, weil sein Angebot so überzeugend ist und dazu ständig verbessert wird. Tatsächlich aber ist es vor allem deshalb so schnell gewachsen, weil dem exponentiellen Wachstum ein Schneeballsystem zugrunde liegt. Als Schneeballsystem oder Pyramidensystem werden Geschäftsmodelle bezeichnet, die zum Funktionieren eine ständig wachsende Anzahl an Teilnehmern benötigen. Gewinne für die Teilnehmer entstehen beispielsweise beinahe ausschließlich dadurch, dass neue Teilnehmer in den Systemen mitwirken. Schneeballsysteme sind auf unendliches Wachstum unter endlichen Rahmenbedingungen angewiesen – sie sind daher grundsätzlich instabil. Weit verbreitet und immer wieder scheinbar aus dem Nichts auftauchend sind zum Beispiel Pyramidensysteme, bei denen jedes neue Mitglied zwei weitere neue Mitglieder werben muss, die allesamt Geld an die Spitze der Pyramide zahlen. Irgendwann – so das nicht eingelöste Versprechen – ist man selbst an der Spitze der Pyramide angelangt und kassiert selbst von den Neuankömmlingen des Pyramidensystems. Bevor dies der Fall ist, bricht das exponentielle Wachstum allerdings in der Regel ab und das Sys16 Vilém Flusser: Für eine Theorie der Techno-Imagination. In: Ders.: Standpunkte. Texte zur Fotografie.

Göttingen 1998, S.8-16, hier S.9.

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tem zusammen. In den meisten Ländern sind diese Systeme deshalb verboten. Worin aber besteht das Schneeballsystem von Facebook? Kurzum, im automatisierten Werben von „Freunden“ und dies funktioniert folgendermaßen: Bei der Neu-Anmeldung bei Facebook wird man gebeten, sein E-Mail-Verzeichnis, bzw. später generell das Adressbuch, hochzuladen. Die offizielle Begründung ist die, dass Facebook auf diese Weise feststellen kann, wer von den Freunden schon bei Facebook ist und auf diese Weise automatisch einen Kontakt herstellen kann. Gleichzeitig werden aber ebenfalls die Personen des E-Mail-Verzeichnisses angeschrieben, die „noch“ nicht bei Facebook sind. Auch wenn nicht alle NeuMitglieder ihre Adressbücher zur Verfügung stellten, wurden über die Jahre auf diese Weise doch Millionen von Menschen angeschrieben und aufgefordert, in dem jeweiligen Freundeskreis – und damit bei Facebook – Mitglied zu werden. Der Potenzierungsfaktor liegt damit wahrscheinlich nicht nur bei Zwei sondern eher höher als Zwei. Angenommen er läge nur bei Zwei – wie beim herkömmlichen Pyramidensystem – ergäben sich folgende Wachstumsraten, die durch das klassische Beispiel des Weizen- bzw. Reiskorns auf dem Schachbrett gut darstellbar sind: Der Legende nach wurde der Erfinder des Schachspiels, Sissa ibn Dahir, von dem indischen Herrscher Shihram gefragt, wie er ihn für seine tolle Erfindung entlohnen könne. Daraufhin schlug der Befragte – gewitzt wie er war – vor, dass er Weizenkörner haben wolle, und zwar ein Korn auf dem ersten Feld des Schachbretts, zwei Körner auf dem zweiten Feld, vier Körner auf dem dritten Feld etc. Ein unmögliches Unterfangen, denn auf dem letzten Feld würden dann schon so viele Körner liegen, dass sie das ganze Reich bedecken würden. Nach aktuellem Stand hat Facebook etwa 1,32 Milliarden Mitglieder,17 befindet sich übertragen auf das Schachbrett also auf Feld 31. Rechnet man die ersten Felder ab, denn das Netzwerk startete sein exponentielles Wachstum ja nicht bei einem Mitglied, sondern mit mindestens 16 Mitgliedern, verdoppelte sich die Mitgliederzahl seit Gründung des Netzwerks etwa alle 19,8 Wochen. Übertragen auf das Pyramidensystem sind pro Neumitglied damit im Schnitt nur alle 4 1/2 Monate zwei weitere Mitglieder zu Facebook gekommen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Wachstumsrate von Facebook dann schon nicht mehr ganz so beeindruckend. Die Attraktivität von Facebook hat neben der hohen Anzahl an Mitgliedern weitere Gründe, die ich im Folgenden kurz erwähnen möchte: 1. Man kann die eigene Darstellung steuern und das idealisierte Ich ist nun einmal attraktiver als das reale Ich.18 17 Stand Juli 2014, Quelle: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook (Abrufdatum 25.07.2014). 18 Vgl.

dazu die Ausführungen von Jacques Lacan zum Spiegelstadium bzw. zum „Je“ und „Moi“.

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2. Freunde können zugelassen oder abgelehnt werden: Man hat Macht über den Freundeskreis bzw. im engeren Sinne über das eigene soziale Netzwerk und damit Einfluss auf die Positionierung als soziales Wesen. Ungewöhnliches beunruhigt allerdings und wird deshalb ins Gewöhnliche, also in das bereits Bekannte, gezogen. Die neuen virtuellen Freunde sind deshalb überwiegend solche, die man sowieso schon hatte. In einem weiteren Schritt bekommen die virtuellen Freundschaften eine eigene Wirklichkeit. Um es mit Jean Baudrillard zu sagen: Die Karte und das Territorium überlagern sich ununterscheidbar – das Simulakrum löst die Realität ab.19 Der virtuelle Freundeskreis wird attraktiver als der reale Freundeskreis, weil die „eigene“ Welt und die Selbstdarstellung simuliert werden können. Tendenziell trägt diese Gruppenbildung übrigens faschistoide Züge, denn Einschluss bedeutet immer auch Ausschluss und es findet eine freiwillig gewählte Herdenbildung statt. Das Hauptargument von vielen Facebook-Nutzern ist, dass man dabei sein muss, um nicht vom Informationsfluss und somit vom sozialen Leben ausgeschlossen zu sein. Diese Spielart der Ausgrenzung findet sich auch in der Wortschöpfung Digital Native wieder: Wer sich nicht auskennt, wer nicht mitmacht, ist altbacken und sozusagen digitaler Legastheniker. Ergo, wer jung ist und hip sein will, muss dabei sein. Ein weiteres psychologisches Moment, dass Facebook attraktiv macht, ist die Möglichkeit „geadded“, also in Freundeskreise aufgenommen zu werden: Man erfährt Anerkennung und ist Teil von kleineren und größeren Netzwerken, fühlt sich aufgehoben in Gemeinschaften. In bestimmten Gruppen zu sein, ist besonders erstrebenswert, so wie die Aufnahme in Clubs umso attraktiver ist, je elitärer sie sind. 3. Man „veröffentlich“ so, als sei man von öffentlichem Interesse. Gleiches gilt im Übrigen auch für Twitter, Instagram, You-Tube oder Blogs. 4. Man darf voyeuristisch sein. Informationen teilen heißt auch, Informationen mitgeteilt zu bekommen. 5. Die Eigendarstellung und die Kommunikation sind standardisiert. So wie es zum Beispiel einfacher ist, vorgegebene Modetrends mitzumachen, als selbst einen eigenen Stil zu kreieren, fällt es auch leichter, sich vorgegebenen virtuellen Darstellungsformen zu bedienen. Und ebenso wie man bei der Wahl eines Modetrends überzeugt ist, sich freiwillig für das eigene Outfit entschieden zu haben und dass genau dieser Stil die Individualität der eigenen Person am besten darstellt, glaubt man auch an das Individuelle der Selbstdarstellung bei Facebook. 6. Das unmittelbare Funktionieren der Maschine durch Tastendruck ist generell attraktiv – man fühlt sich mächtig und dem Apparat überlegen. „You press the button, we do the rest“, hieß es dazu treffend in einer Kodak-Werbung von 1889. 19

Siehe dazu: Jean Baudrillard: Die Agonie des Realen. Berlin 1978, S.7-10.

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7. Mittels Like-Button wird man permanent um seine spezifische Meinung gebeten, so als sei diese von Bedeutung. Weil diese letztgenannte Funktion zentral für das Selbstverständnis von Facebook ist, werde ich auf diese Anwendung etwas genauer eingehen: Mit dem Like-Button, in der grafischen Darstellung einem nach oben zeigenden Daumen, können Nutzer ihr Gefallen an etwas ausdrücken, wobei formal kein Unterschied zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Anwendungen gemacht wird. Bei Facebook erfüllt der Like-Button zweierlei Funktionen, eine wirtschaftliche und eine psychologische. Auf psychologischer Ebene wird damit suggeriert, dass die jeweiligen Nutzer entscheidungsbefugt und entscheidungskompetent sind. Es herrscht Wahlfreiheit: Ich bin informatorischer Herr über das, worüber jeweils entschieden wird. In der Gestik erinnert der ausgestellte Daumen an überlieferte Kommunikationspraktiken bei römischen Gladiatorenkämpfe. Mittels Handzeichen entschied das Publikum über die Zukunft des jeweils agierenden Kämpfers, etwa über Begnadigung oder Tod. Das Daumensymbol, das geradezu das Aushängeschild von Facebook ist, wurde 2013 im Übrigen auf einigen Internetseiten des Konzerns abgeschafft. Wahrscheinlich deshalb, weil es kein eindeutiges Handzeichen ist. Je nach Kultur ist der nach oben zeigende Daumen nämlich nicht positiv konnotiert, sondern gar eine Beleidigung. Dazu ist auch historisch unklar, ob der nach oben zeigende Daumen in der römischen Arena nicht das genaue Gegenteil der heutigen Interpretation besagte, nämlich die Exekution des Gladiators, über den entschieden wurde. Der mit dem Like-Button verbundene Auswahlmechanismus – also die Wahlfreiheit – ist jedoch nur inszeniert. Tatsächlich wird durch die Wahl nämlich das als gegeben bestätigt, worüber vermeintlich erst entschieden wird. Dazu ein kleiner Exkurs zum scholastischen System des Mittelalters, also zu These, Antithese und Synthese: In der Scholastik wird die aufgestellte These erst durch die Gegenüberstellung der Antithese diskussionswürdig. Die Synthese wiederum wird dadurch, dass sie diskutiert worden ist, unhinterfragbar als Wahrheit postuliert. Die Teilnehmer an den Diskussionen bzw. die späteren Leser der Erörterungen, also diejenigen, die zwischen These und Antithese abgleichen, meinen, dass sie sich selber eine Meinung bilden würden, also entscheidungsbefugt seien. Tatsächlich jedoch bestätigen sie durch ihre Diskussions-Teilnahme lediglich die Legitimation der aufgestellten These und letztendlich ebenso die Synthese als berechtigtes Ergebnis der Diskussion. Obwohl sie formal vorgegaukelt werden, werden Entscheidungen demnach schon vorab abgenommen – etwa wie beim Kaufentscheid zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola. Die Frage ist nicht, ob Cola gekauft wird, sondern nur, welche Cola erworben wird. Der Konsum von Cola wird dagegen gar nicht infrage gestellt. Dem vergleichbar gibt es auch beim Like-Button keine negative Entscheidungsmöglichkeit: Man kann nichts

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dis-liken. Übertragen auf unser Beispiel kann man Cola also nicht grundsätzlich ablehnen. Ebenso verhält es sich beim Fernsehen, bei dem die Zuschauer zwar um- oder ausschalten, aber nicht das Programm ändern können. Auf merkantiler Ebene wiederum findet mit dem Like-Button eine ständige und personalisierte Meinungsumfrage statt, für die früher viel Geld bezahlt werden musste. Die vermeintlichen Entscheidungsträger werden damit zu lenkbaren Konsumenten. Während der Daumen vordergründig ein Produkt beurteilt, verweist er nämlich eigentlich nur auf die Werbestrategie desjenigen, der das Produkt bewirbt. Zwar verstehen sich die Nutzer der Plattform als Kunden, um deren Wohlwollen die Firmen buhlen. Für Facebook sind aber die Werbeagenturen und die Marketingfachleute der Firmen die eigentlichen Kunden. Die Nutzer sind Konsumenten, deren Freiheit lediglich darin besteht, zwischen den präsentierten Produkten zu wählen. Dazu ein Zitat von Curt Simon Harlinghausen, der als Werbeberater für Facebook arbeitet: „Facebook sieht die Mitglieder nicht als Kunden. Das sind Fans, das sind Menschen. Kunden sind der Marketier, der Produktmanager, die Agentur.“ Und weiter: „Umso mehr Informationen ich habe, umso mehr kann ich Zielgruppen formen, umso schärfer kann ich Zielgruppenbilder aufzeichnen.“20 Darin liegt der eigentliche Erfolg von Facebook, denn wer die Entscheidungen vieler User kennt, kann in gewisser Weise die Zukunft voraussagen. Wer entscheidet sich aus welchem Grund für welches Produkt, für welchen Lebensweg, für welche politische Richtung etc. – das sind die Fragen, um die es geht. Vorbild ist hierfür die Kybernetik. Menschen sollen so vorhersehbar sein wie Rechenoperationen und sie werden dies, indem sie möglichst viele Informationen hergeben, möglichst viele ihrer Vorlieben und Einstellungen äußern. Dann ist es auch möglich in den Kopf zu schauen, also – wir erinnern uns an Orwells 1984 – die Gedanken der observierten Menschen lesen zu können. Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, äußert sich dazu folgendermaßen: „Unser Erfolg ist es, wenn die Leute alles von sich preisgeben.“21 Diese Art der offenen und unmittelbaren Inszenierung erinnert an die Lucky Strike-Werbung, bei der die Zigarettenpackung selbst im Zentrum der Kampagne steht. Das Produkt zeigt offen, was es macht – nämlich für sich selbst werben. Bereits 1956 beschreibt Günther Anders das Phänomen der formalen Einbindung der Rezipienten recht treffend in seinem Buch Zur Antiquiertheit des Menschen: Massenmenschen produziert man ja dadurch, daß man sie Massenware konsumieren läßt; was zugleich bedeutet, daß sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der Produktion des Massenmenschen bzw. zum Mitarbeiter bei der Umformung seiner selbst in einen Massenmenschen macht. Jedermann ist gewissermaßen 20 21

Siehe dazu: Eckart/Giese, Facebook, a.a.O., Min.21.40. Ebd., Min.0.40.

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als Heimarbeiter angestellt und beschäftigt. Freilich als ein Heimarbeiter höchst ungewöhnlicher Art. Denn er leistet ja seine Arbeit: die Verwandlung seiner selbst in einen Massenmenschen. [...] Massenregie im Stile Hitlers erübrigt sich: Will man den Menschen zu einem Niemand machen, dann braucht man ihn nicht mehr in Massenfluten zu ertränken; nicht mehr in einen Bau einzubetonieren. Keine Entmachtung des Menschen als Menschen ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt. Findet die Prozedur des „conditioning“ bei jedermann gesondert statt: im Gehäuse des Einzelnen, in der Einsamkeit, in den Millionen Einsamkeiten, dann gelingt sie noch einmal so gut. Da die Behandlung sich als ‚fun‘ gibt; da sie ihm den Wahn seiner Privatheit, mindestens seines Privatraums, beläßt, bleibt sie vollkommen diskret. Wahrhaftig, das alte Wort, daß ‚eigner Herd Goldes wert‘ sei, ist von neuem wahr geworden; wenn auch in einem völlig neuen Sinne. Denn Goldes wert ist er nun nicht für den Eigentümer, der die conditioning-Suppe auslöffelt; sondern für die Eigentümer der Herdeigentümer: die Köche und Lieferanten, die die Suppe den Essern als Hausmannskost vorsetzen.22

Der Umsatz des Herdeigentümers Facebook betrug 2012 knapp 5 Milliarden Dollar. Der seit 2012 börsennotierte Konzern setzt jedoch nicht nur auf den Like-Button, um Nutzerverhalten nachzuvollziehen, sondern ebenso auf Cookies. Sie helfen dabei, personalisierte Werbung noch effizienter betreiben zu können. Ein Cookie ist ein kleines Datenpaket, das bei nahezu jedem Besuch einer Homepage hinterlegt wird. Beim Surfen im Internet surfen die Cookies sozusagen als Anhängsel der IP-Adresse mit und begleiten das Surfverhalten. Einerseits personalisieren Cookies die Suche, das heißt, eine IP-Adresse wird schneller zugelassen, aber ebenso verfolgen sie auch das Surfverhalten: Sie öffnen Türen und gehen gleichzeitig hinter einem her. In den Nutzungsbedingungen von Facebook steht hierzu unter anderem: „Darüber hinaus richten wir Cookies ein, wenn Du kein Facebook-Konto besitzt, aber facebook.com besucht hast. Wie bereits erwähnt helfen uns Cookies dabei, Facebook und dessen Nutzer vor bösartigen Aktivitäten zu schützen.“23 Offensichtlich wird also auch für NichtMitglieder eine Art Schattenprofil angelegt, obwohl Facebook z.B. im sehr lesenswerten Ireland-Report verneint, Profile von Nichtmitgliedern anzulegen. Damit personalisierte Werbung funktionieren kann, ist es wichtig, dass die Nutzer mit ihrer wahren Identität auftauchen – es muss also möglich sein, die Online-Identitäten mit realweltlichen Identitäten in Deckung zu bringen. Im Ireland-Report, der die Diskussion zwischen Vertretern der europäischen Union und Vertretern von Facebook zum Datenschutz wiedergibt, stellt Facebook ihre Überwachungsmechanismen allerdings in ein anderes Licht und argumentiert mit Sicherheitsaspekten: „FB-I further indicated“ – so heißt es in dem Bericht – „that Facebook’s core mission – to make the world more open and connected – relies on fostering 22 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 2002 (1961), S.103 u. 104. 23 Die Nutzungsbedingungen können unter anderem unter folgender Adresse eingesehen werden: https://de-de.facebook.com/legal/terms (Abrufdatum 25.07.2014).

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a genuine and trustworthy social environment in which people feel comfortable communicating and sharing“.24 Die Nachverfolgung und Identitätszuweisung von Mitgliedern ebenso wie Nichtmitgliedern des Netzwerks dient offiziell also dazu, die Kommunikation sicherer zu machen. In ähnlicher Weise argumentiert auch Eric Schmidt, der aktuell CEO von Google ist, zuvor lange bei Apple beschäftigt war und seine Karriere in den 1970er Jahren im Übrigen bei Xerox PARC in Palo Alto begann. In seinem jüngst erschienen Buch Die Vernetzung der Welt bezeichnet er Internetnutzer, die nicht mit ihrer wahren Identität bei sozialen Netzwerken erscheinen oder sie gar nicht erst benutzen als „verborgene Personen“ bzw. als „unsichtbare Menschen“.25 Zwangsläufig sei es notwendig, auch von diesen Menschen Karteien anzulegen und generell nur zertifizierten Online-Identitäten zu vertrauen. Dies würde Terroristen das Handwerk erschweren. Strukturell handelt es sich hierbei um eine negative Rasterfahndung, die offiziell erstmals im Zuge der Fahndung nach Mitgliedern der Rote-Armee-Fraktion im Herbst 1977 zur Anwendung kam. Für eine solche Anwendung war die Datenlage allerdings noch zu schlecht, was unter anderem die Idee für die 1981 geplante Volkszählung beförderte. Wie Eric Schmidt einräumt, ist das „Missbrauchspotential dieser Datenbanken [...] erschreckend groß“ und er resümiert: „Das einzige Mittel gegen eine digitale Diktatur ist eine Stärkung des Rechtsstaats und die Wachsamkeit der Zivilgesellschaft gegenüber möglichem Machtmissbrauch.“26 DIE NEGATIVE INSZENIERUNG

Aus dem bisher Genannten lassen sich für Facebook drei Inszenierungsformen ableiten: 1. Eine oberflächliche Inszenierung: Das Netzwerk wächst schnell und bietet unbegrenzte Kommunikationsmöglichkeiten; ist Fenster zur Welt, private Spielwiese und Informationsmedium und dazu kostenlos; man sucht sich aus, welche Informationen man mit wem teilt, und hat offiziell die Hoheit über seine Informationen und seine Selbstdarstellung. 2. Eine halb verdeckte Inszenierung: Diese beinhaltet die Nutzungsbedingungen, etwa das Abgeben der Rechte an seinen Informationen. Auf dieser Ebene werden Informationen gesammelt, weitergegeben und ausgewertet. Zu dieser 24 Ireland-Report in: http://www.dataprotection.ie/documents/facebook%20report/final%20report/ report.pdf, S.135 (Abrufdatum 25.07.2014). 25 Eric Schmidt/Jared Cohen: Die Vernetzung der Welt. Ein Blick in unsere Zukunft. Reinbek bei Hamburg 2013, S.57 u. 257. 26 Ebd., S.256.

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halbverdeckten Ebene gehört auch, dass nicht die Mitglieder, sondern die Firmen und Werbeagenturen von Facebook als Kunden bezeichnet werden. Zu diesem Kreis müsste vielleicht auch die NSA gezählt werden. Auch Cookies gehören zumindest in ihrer sichtbaren Form auf diese Ebene. Die Inhalte der ersten und zweiten Inszenierungsebene werden als solche zwar erkannt, aber dennoch akzeptiert, weil in diesem „Rahmen“ eben auch die eigene Inszenierung stattfinden kann. Irgendwie wird man Teil eines Gesamtkunstwerks, einer alles überlagernden Inszenierung. Mit der digitalen Identität kann die Tragik der einsamen und vergänglichen Existenz scheinbar überwunden werden. Und 3. gibt es noch eine gänzlich unsichtbare Ebene. Auf dieser agieren Algorithmen und Programmiercodes. Dazu muss unter Umständen auch die Profilerstellung gerechnet werden, insofern dabei mathematische Prinzipien etwa wie bei der Rasterfahndung verwandt werden. Zu den Ebenen eins und zwei: Mit den neuen Kommunikationsmedien kann nun alles mitgeteilt werden. Gleichzeitig kann aber auch alles gelesen bzw. gesehen werden. Dies könnte mit etwas gutem Willen als „Dialektik des Digitalen“ bezeichnet werden. Neu ist aber, dass das, was man kommuniziert, nicht unbedingt das ist, was auch gelesen und verstanden wird. Der Empfänger bzw. Teilhabende ist nämlich gar nicht am Verstehen der intendierten Botschaft interessiert, sondern interessiert sich für etwas gänzlich anderes. Dazu zwei Beispiele: Beispiel 1: Der Psychiater Ein Patient teilt seinem Psychiater etwas mit. Dieser ist aber gar nicht am Inhalt der Mitteilung interessiert, sondern an etwas anderem. Er analysiert nach Kriterien, die er unter Verschluss hält und die sich nur geringfügig auf den Inhalt der Erzählungen beziehen. Dem Patienten ist dieser Umstand ansatzweise bewusst, auch wenn er die Kriterien nicht kennt und er begibt sich in der Regel freiwillig in das Gespräch. Beispiel 2: Der Lügendetektor Beim Test mit dem Lügendetektor spielt der Inhalt gar keine Rolle mehr. Es findet zwar vordergründig noch ein Gespräch statt. Wichtig ist dabei aber nicht, was gesagt wird, sondern „wie“ sich geäußert wird. Nicht, ob die Aussage sinnvoll oder wahr ist, ist entscheidend, sondern mit welchen körperlichen Reaktionen sie einhergeht. Es findet also eine Verschiebung vom Inhalt zur Form hin statt. Vergleichbar dazu kann die Tendenz zur Algorithmisierung gesehen werden, bei der ebenso eine Verschiebung vom Inhalt, also von der semantischen Ebene, zur Form hin stattfindet. Beispielsweise meint man, dass bei der Suchma-

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schine Google eine semantische, inhaltliche, qualitative Suche stattfindet. Stattdessen aber führt ein Algorithmus, der gar nicht fähig ist, semantisch zu lesen, die Suchfunktion aus. Die Suche erfolgt eben nach quantitativen und nicht nach qualitativen Kriterien. Man sucht nach Bedeutung, aber Signifikat und Signifikant stimmen nicht mehr überein. Stattdessen stößt man im Digitalen ständig auf formalisierte Prozesse, die lediglich vorgaukeln, etwas mit Inhalten zu tun zu haben. Ein gutes Beispiel, um diesen Umstand zu verdeutlichen, ist das Computerprogramm „Eliza“ des Computerwissenschaftlers Joseph Weizenbaum: Bei dieser frühen Anwendung – Weizenbaum schrieb das Programm 1966 – antwortet der Computer scheinbar auf Fragen, die ihm von Seiten der Nutzer gestellt werden. Obwohl der Computer lediglich der Programmierung folgt, dachten die meisten Nutzer, dass der Computer die gestellten Fragen tatsächlich versteht. Nach der Veröffentlichung von „Eliza“ diskutierten selbst gestandene Wissenschaftler in Fachmagazinen und auf Kongressen, ob eine Weiterentwicklung des Programms beispielsweise in der Psychotherapie Verwendung finden und den Therapeuten überflüssig machen könnte. Für Weizenbaum waren die Reaktionen auf sein Programm überraschend, denn eigentlich wollte er damit das Gegenteil erreichen, nämlich die Grenzen der semantischen Möglichkeiten des Computers aufzeigen. Ebenso unerwartet war für ihn, dass Nutzer eine persönliche Beziehung zu dem Programm aufbauten. So bat ihn zum Beispiel seine Sekretärin, den Raum zu verlassen, als sie gerade mit „Eliza“ kommunizierte. Sie fühlte sich nämlich in ihrer Intimsphäre gestört. Darin mag auch begründet sein, warum Menschen viel mehr und leichter Informationen über sich via Facebook preisgeben: Die Offenheit gegenüber einem Apparat ist unter Umständen größer als gegenüber real anwesenden Personen, weil die Dateneingabe an einem privaten Ort, zumeist zu Hause bzw. an einem vertrauten Gerät stattfindet. Die eigentliche Inszenierung – so könnte für das Programm „Eliza“ ebenso wie für Facebook zusammengefasst gesagt werden – besteht in der Verschleierung der Ebene der Rechenoperationen. Auf dieser herrschen die Algorithmen und auf dieser findet die Überwachung der Kontakte und des Nutzerverhaltens statt. Auf dieser Ebene hat der Nutzer schlicht nichts zu suchen. Dazu passt auch der erste Teil des Namens von Facebook – ein Kompositum, das im Englischen eine Art Poesiealbum bezeichnet: „Face“ bezeichnet im Englischen nämlich ebenfalls das Zifferblatt einer Uhr. Auch bei einer Uhr sieht man in der Regel nur die Oberfläche und nicht die komplizierte Mechanik, die das Uhrwerk antreibt. Das lediglich anhand sich bewegender Uhrzeiger wahrgenommene Vergehen der Zeit wird dadurch als gegeben angesehen. Es ist unausweichlich und automatisch und wirkt überhaupt nicht technisch generiert. Die Simulation von Zeit fällt mit dem tatsächlich empfundenen Vergehen von Zeit

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zusammen. Im Grunde betrifft dies Computeranwendungen generell – ist sozusagen digital systemisch. In diesem Sinne schreibt Joseph Weizenbaum: Ein Programmierer, der einem Computer nur über Assembler Anweisungen erteilt, braucht nie die Sprache zu lernen, die vom Computer selbst bestimmt wird, nämlich seine Maschinensprache. In einem wichtigen Sinn sieht er niemals die Maschine, an die er sich eigentlich wendet; er bekommt ein symbolisches Artefakt zu Gesicht, mit dem er arbeitet und das für ihn die Maschine ist.27

Und zu der grundsätzlichen Affinität von Menschen zu Maschinen und Apparaten schreibt er treffend: Die Tatsache, dass Individuen sich mit Maschinen sehr stark emotional verbunden fühlen, braucht für sich betrachtet noch nicht unbedingt zu überraschen. Die Instrumente, die der Mensch benutzt, werden schließlich doch zu Verlängerungen seines Körpers. Und was am wichtigsten ist, der Mensch muss, um mit seinen Instrumenten richtig umgehen zu können, in Form von kinästhetischen und Wahrnehmungsgewohnheiten bestimmte Aspekte von ihnen verinnerlichen. Zumindest in diesem Sinne werden seine Instrumente buchstäblich Bestandteile seiner selbst, die ihn modifizieren und damit die Basis der affektiven Beziehung verändern, die er zu sich selbst hat.28

Als Quintessenz besteht das Internet aus verschiedenen Medien, die ineinander greifen. Nicht der Inhalt der Botschaften ist von Interesse, sondern die Macht über die Programme und die Kommunikationsstrukturen. Eine umfangreiche Inszenierungsstrategie ist somit gar nicht mehr notwendig, da das Wesentliche ohnehin so verborgen ist, das es nicht mehr versteckt werden muss. Man könnte hier von einer „Negativen Inszenierung“ sprechen – man inszeniert etwas, um etwas anderes nicht zeigen zu müssen. Erleichtert wird diese Inszenierungsform in der Sphäre des Digitalen dadurch, dass das Wesentliche ohnehin nicht mehr vermittelt oder inszenatorisch verschleiert werden muss, da es für das Auge sowieso nicht sichtbar ist. Die Kunst im Sinne des griechischen techné besteht also darin, das Verborgene auch verborgen zu halten und lediglich die eigentlich bedeutungslosen sichtbaren Anwendungen ins rechte Licht zu setzen. Interessanterweise hat die Erfindung der benutzbaren grafischen Oberfläche, die wesentlich von Xerox PARC und dem SRI in der Bay Area entwickelt worden ist, erst zu dieser Situation geführt: Indem der Betrieb des Computers vermeintlich am Bildschirm beeinflusst und nachvollzogen werden kann, rückt die eigentliche und wirkungsmächtige Funktionsweise aus der Wahrnehmung.

27 Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main

1978, S.139. Ebd., S.22.

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DIRK GEBHARDT

INSZENIERUNG VON „PROTEST“ DURCH FOTOGRAFIE Die Darstellung von Protesten durch Fotografie ist Reinszenierung von Inszenierung. Moderne Protestformen wie Occupy sind ähnlich wie Theateraufführungen inszenatorisch geleitet und begleitet. Nicht nur, dass im Protest ein Arbeitgeber, ein Regisseur und eine Institution die Aufführung parteilich koordinieren – im öffentlichen Protest inszenieren sich gesellschaftliche Gruppen unter verschiedenen Prämissen auch selbst. Diese wechselseitige, chaotische Inszenierung folgt eigenen Regeln. Aufmerksamkeit nach innen und außen ist dabei der zentrale Antrieb. Intern soll die Zusammengehörigkeit durch visuelle Rituale gestärkt werden. In der Außendarstellung sind sich die Protestakteure dabei durchaus um die Besetzung der Schlüsselposition massenmedialer Wirkung bewusst.

Abb.1 Außendarstellung: Holz gegen Beton, Stahl und Glas. Alle Abbildungen des Beitrags: © Dirk Gebhardt.

Die Inszenierung des eigenen Protestes mit seinen öffentlichen Symbolen, Parolen und Handlungen ist daher ausgerichtet auf das visuelle Branding des Widerstandes. Die Occupy-Bewegung hat mit der Guy-Fawkes-Maske, dem Besetzen öffentlicher, innerstädtischer Parks und der temporären basisdemokratisch organisierten Kommune eine kollektive, visuelle Identität geschaffen, welche eine mediale Identifizierung vereinfacht hat. In welcher Weise reinsze-

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nieren nun Fotografen Proteste? Sie verlassen sich zum einen auf tradierte Bildmuster, die im Kontext des journalistischen Massenmedienmarktes eine Verwertung finden, zum anderen versuchen sie die spezifischen Eigenheiten der Protestbewegungen herauszuarbeiten, die Parteien zu separieren und die Gegnerschaften zu markieren und die differenzierten Stadien einer Protestbewegung zu begleiten. Die Übernahme und Persiflage von etablierten Symbolen werden dokumentiert, kreative Neueinführungen nach außen kommuniziert und etabliert, um sie wiederum dem Kreislaufs der Widerstandsökonomie zur Verfügung zu stellen. Die Territorien der Besetzung verschieben sich.

Abb.2 Das Medienzelt der Occupy-Zeltstadt: Professionell mit 24 Stunden WLAN und Arbeitsplätzen ausgestattet. Hier arbeiten Profis ehrenamtlich an der besseren medialen Darstellung der Bewegung.

Abb.3 Im Social-Media-Zeitalter werden die Protesthandlungen erst glaubwürdig, wenn sie zeitnah kommuniziert werden.

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Abb.4 Zelten auf öffentlichen Plätzen als Protestform?

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Abb.5 Die Selbstinszenierung der verschiedenen Gruppen. Im Hintergrund wird unter dem Symbol der Gegeninszenierung als dem der Ausbeutung protestiert. Einige Meter weiter wird getanzt.

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Abb.6 Protest als Party. Das Eurozeichen eingeschlossen im Hula-Hoop-Reifen. Alternative Lebensform geht gegen das Establishment in Stellung.

Abb.7 Die Taunusanlage in Frankfurt. Um die Vielschichtigkeit der Proteste zu beschreiben, sind die ernsten Gesichter im Hintergrund den spaßigen der Szene im Vordergrund entgegengestellt.

Abb.8 Protest verschafft sich Gehör. Kein alternatives Herrschaftszeichen.

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Abb.9 Schwarze „unterdrückte“ Protagonisten mit Feuertonne gegen unsichtbare Manager in spiegelnden Hochhäusern.

Abb.10 Ein Happening als Ausdruck des Protestes inmitten des Camps. Ein weiterer Gegner wird entdeckt: Nacktheit als Protest gegen teilnahmsloses Kleinbürgertum.

Abb.11 Im Hintergrund die Frankfurter Oper mit der High Society als Premierenpublikum.

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Abb.12 Sie Szenerie im Überblick: Demonstranten inszenieren sich auf einem Denkmal medienwirksam vor dem Tower der Commerzbank.

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SZENENWECHSEL

1830, eine junge Frau stürmt über die erhöhte Barrikade auf uns zu, in ihrer rechten Hand die Trikolore, rechts neben ihr läuft ein vielleicht 10-jähriger Junge seine Pistolen abfeuernd. Links eine Gruppe Männer, mittleren Alters, mit grimmigen Gesichtern und allerlei Waffen. Kanonenrauch verdeckt den blauen Himmel bis auf den rechten Rand, dort sehen wir einen Platz, einige Häuser und im Hintergrund die Türme von Notre-Dame de Paris. Dieses Darstellung des Protestes gegen Karl X. und seine Reformen durch den Maler Eugène Delacroix (Le 28 Juillet. La Liberté guidant le peuple) ist sehr wahrscheinlich die Ur-Matrix aller Protestbilder. Jedes Element im Bild ein Symbol, eine Metapher, die bis heute die fotografische Darstellung von Protesten in der Fotografie prägt.

Abb.13 Protest und Vergemeinschaftung: eine Disco unter freiem Himmel vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank.

Der arabische Frühling, Taksim, Maidan und die Proteste in Hongkong, sie alle werden fotografiert von visuell geprägten Bildjournalisten. Häufig sehen wir in Medien Protestierende, vermummt, die Hände in den Himmel reckend, Fahnen schwenkend, auf Statuen, Panzern und Autos stehend von einem tieferen Standpunkt aufgenommen. Im Hintergrund dieser medialen Protest-Bilder wabert Rauch von Tränengas, Autoreifen oder Feuertonnen. Entschlossene oder ekstatische Gesichtsausdrücke schauen in die Kameras oder auf die anrückende Staatsmacht. Selten werden Bilder in den Massenmedien veröffentlicht, die andere Aspekte des Protestes zeigen. Wartende, Feiernde oder Schlafende Demonstranten passen nicht in die Erwartungshaltung der Rezipienten. Friedlicher Protest ist nicht fotogen, er erzeugt kaum Symbole, Metaphern, die sich determiniert auf Protest als Konfrontation beziehen. Daher wird er nicht nur nicht veröffentlicht, er wird im Regelfall nicht einmal fotografiert.

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HETÄREN IN DER BIBLIOTHEK ODER: EIN HÄPPCHEN SEX FÜR ZWISCHENDURCH ERSTER TEIL I. VORSPIEL

Die sexuelle Paarung von Säugetieren ist ein unabdingbar notwendiges Verhalten zur Sicherung des Fortbestandes der diversen Spezies auf der Welt – auch für den Menschen. Ob von einem Schöpfergott eingerichtet oder der Evolution geschuldet, die Sexualität lässt sich nicht anders denn als Geniestreich bezeichnen: Man (in sämtlichen geschlechtlichen Schattierungen) gibt sich ihr hin – und tauscht sich darüber aus (in sämtlichen dem Menschen zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen und Sprachen). Zum einen mag das daran liegen, dass persönliches Aus- und/oder Erleben von Sexualität vom jeweils betroffenen Individuum als etwas Exzeptionelles erfahren und deshalb in der einen oder anderen Form für mitteilenswert erachtet wird, zum anderen daran, dass sie bei aller auf den ersten Blick möglicherweise konstatierten Gleichförmigkeit eine überaus schillernde und pluriforme Gegebenheit menschlichen Verhaltens ist. Damit ist nicht nur der Ablauf der Paarung in auf Lustgewinn zielender Variantenvielfalt gemeint, sondern vor allem die die reale Variabilität noch multiplizierenden Wahrnehmungsrahmen, wie sie von Gesellschaften vorgegeben werden, die schließlich ihrerseits wieder zur Mehrung der Artenvielfalt sexuellen Verhaltens beitragen. Der sexuelle Diskurs entpuppt sich als Perpetuum mobile: Durch die Rezeption der versuchten Beschreibung des Istzustandes wird dieser binnen kürzester Zeit zu einem Warzustand und in weiterer Folge zu einem neuen Istzustand, dessen Gegebenheiten nicht mehr denen des ehemaligen Istzustandes entsprechen und somit eine Revision des Beschreibungsversuches notwendig machen ... ad infinitum. Selbstverständlich gab und gibt es zu keiner gegebenen Zeit in einer Gesellschaft nur eine einzige Beschreibung, es ist stets ein vielstimmiger Chor – vieles davon jedoch nur den zeitnah Lebenden vernehmbar, Nachgeborene sind auf die zahlenmäßig stark reduzierten erhaltenen Stimmen vergangener Zeiten angewiesen. Diese unterliegen einem rein kontingenten Auswahlverfahren, das durch keinerlei später auftauchende Bedürfnisse laienhaften oder professionellen Interesses in irgendeiner Weise beeinflussbar ist. Auch das mit absoluter Überlieferungsabsicht verfasste und dafür vielleicht sogar unter göttlichen Schutz gestellte Werk, sei es ein Gedenkmal aus Stein oder Metall, sei es eine auf Papy-

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rus geschriebene Heilsoffenbarung zur Rettung des Menschengeschlechts, hat keinerlei garantierte Sicherheit, die Zeiten zu überdauern und der ursprünglichen Intention zu entsprechen. Aus dem Set aller möglichen Diskurse über ein Thema hat selbst der Zeitgenosse Zugriff nur auf eine beschränkte Auswahl, die a) bestimmt ist von den Möglichkeiten, die ihm durch Geburt (Ort, Zeit, soziale Stellung ...) geboten werden oder die er b) durch Interesse(n) bewusst trifft (Neigungen, Beruf ...). Bezogen auf das Thema „Hetären“ könnte das ad a) bedeuten: in Athen im 5./4. Jh. v. Chr. als Mann in eine wohlhabende Familie geboren, als athenischer Bürger integriert in ein enggeknüpftes soziales Netz, erzogen in Gymnasion und Palaistra, zum Nutzen der Polis militärische Ausbildung durchlaufen, Sitz und Stimme in politischen Gremien, ad b) kann dieser Athener als Komödiendichter oder Vasenmaler sein Brot verdienen und die Gesellschaft von Hetären nicht nur bei abendlichen Unterhaltungen genießen, sondern sie als lohnendes Sujet für seine Werkschöpfungen erachten. Es bedarf wohl keiner besonderen Bemerkung, dass hierbei eine Anpassung der unter den Bedingungen von a) erlebten Beziehungen zu Hetären gemäß den jeweiligen Genreregeln erfolgt und dass diese späteren an Hetären interessierten Generationen Probleme bei der Interpretation bescheren wird. Denn wenn die Erzeuger bei der Verfertigung ihrer Produkte auch Menschen als Rezipienten – entweder als Theaterbesucher bzw. Leser oder als Käufer bzw. Betrachter – berücksichtigt haben, dass sie jemals an eine zweieinhalb Jahrtausende in der Zukunft liegende Rezeption gedacht haben, darf bezweifelt werden. Aber es gibt solche Rezipienten – uns; und wir ‚lesen‘ ihre Werke mit unseren Augen, d.h. zunächst einmal mit den Erfahrungen, die wir gemacht haben. Zu diesen gehört selten die Kenntnis des Altgriechischen, selten auch die detaillierte Kenntnis der kulturellen, politischen etc. Lebensumstände zur Zeit der Produktion; man kann sich allerdings an antiken Texten (mittels Übersetzungen auch ohne Kenntnis der Sprache) oder (Vasen-)Bildern unmittelbar, ohne belastendes Vorwissen über die Produktionsumstände, erfreuen, indem man die Handlung oder das Bild mit den ad hoc zur Verfügung stehenden Verstandesressourcen de- oder besser: umcodiert. Der erigierte Penis im Mund einer gleichzeitig anal penetrierten Frau gibt dann vielleicht Anlass, sich über die dadurch zum Ausdruck gebrachte Erniedrigung und Ausnutzung der Frau zu empören, zu lachen (welche Emotion auch immer hinter diesem Lachen stehen mag), oder auch – weil eine derartige Zurschaustellung als ungehörig empfunden wird – sich errötend abzuwenden: Geschlechtliche Paarung, auf welche Art und in welcher Zusammensetzung auch immer, findet für gewöhnlich an für fremde Augen nicht einsehbaren Orten statt, ist nicht öffentlich zugänglich. Ob das möglicherweise evolutionär bedingt ist und damit zu tun hat, dass man, weil angenehmst abgelenkt, dabei geschützt sein musste, um sich in einer

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Welt, für die homo hominis lupus gilt, keinem Feind wehrlos auszuliefern, kann hier als ansprechende Vermutung ohne eingehende Diskussion im Raum stehen bleiben, wie auch die Frage, ob Scham dem Menschen kulturell anerzogen oder, evolutionär bedingt, angeboren sei, hier nicht entschieden werden muss.1 Unser Interesse gilt den Blicken, die auf die unterschiedlichen Praktiken geworfen wurden (und werden), den unterschiedlichen Diskursen, die sie generierten (und generieren), und den daraus resultierenden Änderungen. II. EINDRINGEN IN DIE MATERIE

Die alten Griechen2, um die es in der Folge hauptsächlich gehen wird, waren sich der Differenziertheit menschlicher Sitten bewusst. Nicht erst seit der sogenannten griechischen Aufklärung wurde auf vielen Ebenen über das Spektrum menschlichen Verhaltens diskutiert. Die Auffassung, dass der Mensch ein politisches Wesen sei, das mitnichten allein für sich leben könne, sondern gezwungen ist, sich mit seinen Zeitgenossen zu arrangieren, erforderte auch eine Diskussion darüber, wem bei unterschiedlichen Auffassungen eine Entscheidung herbeizuführen erlaubt sein sollte, und auch darüber, welchem Verhalten der Vorzug zu geben sei. Man benötigte ein Gremium, das die unterschiedlichen vorgebrachten Argumente pro oder contra sammelte, beriet und eine Entscheidung traf, der sich möglichst alle zu beugen gewillt waren. Dafür benötigte man wiederum Kriterien, die eine derartige Entscheidung erlaubten. Ein Blick auf die Erzählungen von den griechischen Göttern zeigt, dass mit Verweisen auf göttliche Vorbilder, denen nachzueifern der Mensch sich doch bemühen solle, nicht viel auszurichten war. Zeus, der die Vorrangstellung im Pantheon für sich beanspruchende Gott, konnte bestenfalls als Vorbild für fremdgehende Ehemänner herhalten, auf der weiblichen Seite des olympischen Personals war Aphrodite, verheiratet mit dem rußigen Schmiedegott Hephaistos, Seitensprüngen nicht abhold, zumal wenn sich ihr ein Krieger wie Ares im Zauber der Montur näherte. Fällt nun 1 Auch wenn der oft gebrachte Hinweis darauf, dass Schamgefühle nur beim Menschen, nicht aber bei anderen Primaten beobachtbar seien, ein starkes Argument für den kulturellen Ursprung der Scham darstellt. Aber wer weiß heute schon, ob dieser Streit entschieden werden kann, der bereits in der Antike unter den Vorzeichen nomos (Gesetz) vs. physis (Natur) ausgetragen wurde. Zu Scham und deren sich ändernde Grenzen siehe z.B. Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Reinbek bei Hamburg 2014. Auch ein aktuelles Phänomen kann unter diesen Auspizien betrachtet werden: Nacktfotos von Prominenten, die in der schönen virtuellen Welt ohne deren Wissen verbreitet werden; siehe dazu den Kommentar in der FAZ vom 02.09.2014, im Netz abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/nacktbilder-im-netz-die-heiligkeit-derscheinheiligkeit-13131494.html 2 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Verwendung des Plural verweist nicht auf ein kollektives Griechentum aller griechisch sprechenden oder auf dem Gebiet des heutigen Griechenland lebenden Menschen; mit ‚den Griechen‘ sind vornehmlich die uns durch die Anzahl der überlieferten Texte am besten greifbaren Bewohner der Polis Athen, und dies mit Schwerpunkt im 5. und 4. Jh. v. Chr., gemeint.

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die göttliche Instanz als Wahrerin der guten Sitten aus, greift man gerne auf die Natur zurück, speziell auf Tiere, die als ‚der Natur‘ näherstehend, zumindest von Kultur unbeeinflusst, gelten. Doch welche Tiere man auch immer als für den Menschen und sein sexuelles Verhalten vorbildlich erachtete – z.B. in puncto Treue, Monogamie, sexueller Enthaltsamkeit –, die Gegenbeispiele aus dem Tierreich waren bestens bekannt.3 Steht das Verhalten auch in alltäglichen Situationen zur Diskussion, dann ist oft ein Blick auf Nachbarkulturen und deren Umgang damit hilfreich: Im Athen des 5./4. Jh.s v. Chr. waren Erzählungen von Reisenden über fremde Völker, die durchaus als frühe Formen heutiger Ethnografie aufzufassen sind, beliebt und verbreitet; in diesen war u.a. immer wieder von Sexualsitten die Rede, die sich von den einheimischen merklich unterschieden. Sie dienten weniger als Vorbild, denn als Beleg für die Nichtnaturgegebenheit – und somit zur kulturellen Disposition stehend – vieler Verhaltensweisen. Diese bloß angedeuteten Facetten lassen erkennen: In der literarischen und bildlichen Überlieferung aus dem antiken Athen ist eine Reihe von Diskursen über Sexualität4 fassbar. Wie immer es um die Historizität einer einzelnen Aussage bestellt sein mag, es ist von einem variantenreichen Sexualleben auszugehen, in das viele Personen auf die eine oder andere Weise involviert waren: Libertine Akteure haben ebenso ihre Spuren in diesen Texten hinterlassen wie rigide Normsetzer. Man wird die auf Athen und Sparta bezogene Aussage des Pausanias in Platons Symposion, im Gegensatz zu anderen griechischen Stadtstaaten sei in diesen Städten der Brauch hinsichtlich der Homoerotik „bunt“5, wohl auch auf die übrigen Spielarten der geschlechtlichen Paarung ausdehnen können. Gleichzeitig aber wird ersichtlich, dass Regulierungen – wie formell oder informell, ist schwer zu entscheiden – bestanden. So liefert eine Stelle in Plutarchs Biografie des Solon (der Autor lebte im 2. Jh. n. Chr., der Porträtierte im 7./6. Jh. v. Chr.) einen Hinweis darauf, dass der in Athen als Gesetzgeber wirkende Solon, einer der sieben Weisen, sich auch der ta aphrodísia seiner Mitbürger annahm: 3

Diese Argumentation wirkt auch vor dem zeitgenössischen Bildungshorizont seltsam bemüht und uninspiriert, man denke nur an den sogenannten Weiberjambos des Semonides, in dem durch verschiedene Laster charakterisierte Frauentypen mit Tieren verglichen werden, denen dieselben Laster zugeschrieben werden (Semonides fr. 7 W). Auf einer anderen philosophischen Ebene wird um eine Unterscheidung des Menschen vom Tier gerungen, erinnert sei an die Bestimmung des Menschen durch Aristoteles als „staatsbezogenes Lebewesen“ (zoon politikon), aber auch als „Sprache/Verstand besitzendes Lebewesen“ (zoon logon echon; Aristoteles, Politik 1,2 1253a2 bzw. a9); vgl. dazu Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls. Frankfurt am Main 2012, S.111f. Eine Darstellung der Diskussion dieses Problems in der Antike bei Günther Lorenz: Tiere im Leben der alten Kulturen. Wien/Köln/Weimar 2000, S.220-241. 4 Bzw. über das, was wir darunter subsumieren, denn im Griechischen gibt es keinen ähnlich vielumfassenden Begriff; am nächsten kam ihm der Plural eines substantivierten Adjektivs, ta aphrodísia – wörtlich „Dinge der Aphrodite“, womit u.a. die sexuelle Vergnügung gemeint war; vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main 1986, S.49f. 5 Platon, Symposion 182a-b.

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Im höchsten Maße widersinnig ist, wie es scheint, Solons Gesetzgebung über die Frauen. Den ertappten Ehebrecher gestattete er zu töten [F 28a]. Wenn aber jemand eine freie Frau entführte und vergewaltigte, so setzte er als Strafe darauf hundert Drachmen [F 26]; wenn er sie einem anderen zuführte, zwanzig Drachmen; ausgenommen diejenigen, die sich öffentlich verkaufen, womit er die Dirnen meint. Denn die gehen ja ganz offen zu dem, der sie bezahlt [F 30a]. Ferner gestattet er nicht, Töchter oder Schwestern zu verkaufen, außer wenn er eine ertappt, die sich als Jungfrau mit einem Mann eingelassen hat [F 31]. (Plutarch, Solon 23; Übers. Konrat Ziegler)

Dieses Zitat (näheres dazu unten) zeigt bereits eine differenzierte sexuelle Welt: ta aphrodísia sind als erwünschtes oder zu sanktionierendes Verhalten (abhängig von Situation und beteiligtem Personal) qualifiziert. Und erstmals erscheint hier auch eine Person, die mit diesen Handlungen ihren Unterhalt verdient: die hetaira.6 Von Philemon (3. Jh. v. Chr.) ist ein Fragment aus der Komödie „Brüder“ überliefert, das darüber hinaus von der Motivation Solons zur Einrichtung des ersten Bordells zu berichten weiß: „Da du die Stadt voll junger Männer sahst, / die, vom Bedürfnis der Natur getrieben, / auf Wege irrten, die sich nicht geziemten, /da kauftest Frauen du und stelltest sie / geschmückt an Orten auf, für alle gleich.“ (Philemon Fragment 3 KA = Athenaios 13,569e; Übers. Ursula und Kurt Treu) Philemon lobt diese Einführung als eine dem Volke zu Gute kommende, nicht zuletzt auch wegen des moderaten Preises von einer Obole für geschlechtliche Befriedigung. Diese Informationsschnipsel zeigen deutlich geschlechtsspezifische Zu­ord­nungsmechanismen und Regulative am Werk. In auf sexueller Lust gründenden Beziehungen waren Frauen immer Opfer: passiv bei Vergewaltigung, aber auch, wenn sie aktiv ein sexuelles Verhältnis eingingen, z.B. als Jungfrau mit einem Mann, denn dann wurden sie Opfer der Normsatzung, durch die sie gänzlich anderen Verhaltensanforderungen unterlagen als Männer, deren Bedürfnisse vom Gesetzgeber und/oder von der Gesellschaft mit verständnisvollem Einverständnis akzeptiert wurden. Die Frauen, die man Männern für wenig Geld zur Triebabfuhr zur Verfügung stellte, waren keine weiteren Überlegungen wert. ZWEITER TEIL III. BODY OF EVIDENCE – FAKTEN! FAKTEN?



Am oberen Ende der Skala des Prostitutions-Gewerbes fanden sich Frauen, die für einen längeren Zeitraum bezahlt wurden – einen Abend oder mehr – und nicht nur für einen einzelnen Geschlechtsakt. [...] Prostituierte dieser Art bezeichnete man als Hetären.7

6 Auch wenn Prostitution gerne als ältestes Gewerbe umschrieben wird, finden sich keine Spuren davon in den ein detailreiches und vielschichtiges Bild der frühen griechischen Welt zeichnenden homerischen Epen (meist in das 8./7. Jh. v. Chr. datiert). 7 Debra Hamel: Der Fall Neaira. Darmstadt 2004, S.24.

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III.1 Definitionen Hetären werden immer wieder mit Edelprostituierten, japanischen Geishas, Kurtisanen oder fürstlichen Mätressen, wie sie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in Europa an den Fürstenhöfen zu finden waren, verglichen, auch mit Frauen der demimonde im Paris des 19. Jahrhunderts, sogar mit heutigen Callgirls, Vergleiche, die der Althistoriker Wolfgang Schuller für problematisch und nicht ganz zutreffend hält.8 „Gefährtin, Geliebte, Gespielin“ – das sind nur einige der Versuche, das griechische Wort „Hetäre“ zu übersetzen. Ein Blick in Lexika zeigt die Schwierigkeit einer Begriffsbestimmung. Das altgriechische Wort hetaira ist das weibliche Pendant zu hetairos (Gefährte, Freund), wobei „Freundin“ oder „Gefährtin“9 auch „verhüllend für Dirne“10 gebraucht werde. Die Erklärungsund Übersetzungsversuche zeigen die Vielschichtigkeit des Begriffes bzw. auch die Modifikationen, denen er – je nach Entstehungszeit und Blickwinkel – unterworfen war.11

8

Wolfgang Schuller: Die Welt der Hetären. Berühmte Frauen zwischen Legende und Wirklichkeit. Stuttgart 2008, S.27. 9 Vgl. Wilhelm Gemoll: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. München/Wien 1954, S.333, s.v. hetaira: „Gefährtin, Freundin, Genossin“ und „Geliebte, Buhlerin, Dirne“. Christoph Martin Wieland hat in seiner Übersetzung der „Hetärengespräche“ des Lukian vermerkt, dass er von einer Übersetzung des Begriffs Hetäre ins Deutsche absehe, um den Begriff „von verfälschenden Nebenbegriffen rein zu halten“, vgl. Lukian von Samosata: Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland. 3. Theil. Leipzig 1788, S.341. Bereits in der Antike gab es Probleme mit den Wortbedeutungen: Plutarch (Solon 15,2) weist in seiner Erklärung des Begriffs Hetäre auf die Neigung der Athener hin, hässliche Dinge hinter schön klingenden Begriffen zu verstecken: Dirnen (pornai) würden Freundinnen (hetairai) genannt. Vgl. auch Athenaios 13,571c. 10 Werner Krenkel in: Lexikon der Alten Welt. Hgg. von Carl Andresen, Hartmut Erbse und Klaus Bartels. Stuttgart 1965, Sp.1289, s.v. Hetäre. Als das Gegenstück der Hetäre gilt die „porne“ – die einfache Dirne. Doch finden sich in antiken Texten auch Belege, wo beide Begriffe synonym verwendet werden. 11 Während Hetären im Lexikon der Antike. Leipzig1972, S.246, s.v. Hetäre von Wolfgang Schindler als „Freudenmädchen sehr verschiedenen sozialen Ranges und Anspruchs“ bezeichnet werden, wird der Begriff Hetäre in der Brockhaus Enzyklopädie. Bd.10. Mannheim 1989, S.43, s.v. Hetären, mit „Bez. für eine Elite käufl. Frauen, die bes. seit dem 5. Jh. v. Chr. eine bedeutende Rolle im kulturellen und polit. Leben des griech. Altertums spielten“ erklärt. Im Zeitlexikon wird die Hetäre als „gebildete Prostituierte, die im Gegensatz zur eigentlichen Dirne (griech. pórnai) sozial anerkannt war“ (Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden. Bd.6. Hamburg 2005, S.387, s.v. Hetäre) beschrieben, im Lexikon der Erotik sind sie „Kurtisanen einer gehobenen Schicht, die [...] ‚der Wollust der Seele‘ dienen“. (Lo Duca [Hg.]: Das moderne Lexikon der Erotik von A-Z. Bd.4. München/Wien/Basel 1963, S.12) Auch als euphemistischer Sammelbegriff würde er „für Frauen [gebraucht], die für Geld Geschlechtsverkehr gewährten, meist im Gegensatz zu Dirnen für gebildete Halbweltdamen“ (Hans Volkmann in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd.2. München 1979, Sp.1122f., s.v. Hetairai) oder für „gefällige[.] Mädchen, die nicht immer einfache Straßenmädchen waren, sondern gut-, z.T. hochgebildet […]“ (Hans Lamer: Wörterbuch der Antike mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens. In Verbindung mit Ernst Bux und Wilhelm Schöne. 2. durchges. und erg. Aufl. Leipzig 1933, S.310, s.v. Hetären).

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III.2 Literarische Quellen Diese in Nuancen und Abstufungen voneinander abweichenden Begriffserklärungen haben ihre Wurzeln bereits in den aus der Antike überlieferten Nachrichten über Frauen, die als Hetären bezeichnet wurden. Aspasia, eine der Frauen an der Seite des athenischen Politikers Perikles, wird von Aristophanes in seiner Komödie „Acharner“ als „Hetäre“ und „Bordellbetreiberin“ verunglimpft, die großen Einfluss auf den Staatsmann gehabt hätte.12 Eine Anschuldigung, die wohl der antiperikleischen Propaganda entsprungen ist und nicht dem Umstand, dass Aspasia tatsächlich im Prostitutionsgewerbe tätig gewesen wäre. Aspasia teilt mit ‚echten‘ Hetären den Ruf, ‚große‘ Männer beeinflussen zu können, wie z.B. Thaïs, deren Einfluss auf Alexander den Großen es zugeschrieben wird, dass er Persepolis in Schutt und Asche legen ließ.13 Die Geschichte von Rhodopis,14 der frühesten namentlich bekannten Hetäre, verweist auf ein weiteres Hetärencharakteristikum: der ihnen inhärente Drang zu Geld, das sie den mit Liebeskünsten umgarnten oder gar um den Verstand gebrachten Männern abzunehmen verstehen. Um allerdings diese Männerverführungs- und -verblendungskompetenzen zu erlangen, vor allem aber, um diese dem zeitgenössischen Publikum plausibel bzw. verkraftbar (zumindest den Männern) zu machen, werden Hetären immer wieder auch angenehme Umgangsformen, Allgemeinbildung, philosophische Denkfähigkeit, Witz und Schlagfertigkeit bescheinigt – etwas, was der ‚normalen‘ griechischen Frau offensichtlich abgesprochen wird. Dass die sexuelle Verfügbarkeit eine wesentliche Rolle spielt, geht aus dem meistzitierten Satz über die den Frauen im antiken Athen zugestandenen Rollen hervor: „Wir haben die hetairai (Hetären) wegen des Vergnügens, die pallakai (Konkubinen) für die täglichen Dienste an unserem Körper und die gynai (Ehefrauen), um eheliche Kinder zu machen und um einen vertrauenswürdigen Hüter der Dinge drinnen (im Haus) zu haben.“15 12 Aristophanes, Acharner 524-529; Plutarch, Perikles 24; Athenaios 13,569f-579f.; 13,589d-e; 12,533c. 13 Curtius Rufus 5,7,2; Plutarch, Alexander 38; Diodor 17,72; Kleitarchos FGrHist 137 F 11 (= Athe-

naios 13,576 d-e). Herodot 2,134,1ff.; Plutarch, moralia 400F f. 15 Apollodoros, Rede gegen Neaira = (Pseudo-)Demosthenes, 59. Rede, §122. Dieser Passus stammt aus einer in den 40er Jahren des 4. Jh.s v. Chr. gehaltenen Gerichtsrede, in der der Lebensweg von Neaira nachgezeichnet wird. Der Vorwurf gegen sie lautet, dass sie sich als Ausländerin und Hetäre das attische Bürgerrecht erschlichen habe. Ihr wird u.a. vorgeworfen, mit ihrem Liebhaber in der Öffentlichkeit geschlechtlich verkehrt zu haben. Er „benutzte [...] sie sehr unzüchtig und schamlos, zog überall mit ihr zu Gelagen, wo immer er zechte, und sie nahm an all den Umzügen der Zecher teil – ja, er hatte mit ihr in der Öffentlichkeit Geschlechtsverkehr, wann immer er wollte und überall, und er führte die Freizügigkeiten vor, die er sich mit ihr leistete, während jeder zusehen konnte. [...] Dort hatten viele der Gäste Geschlechtsverkehr mit ihr, als sie betrunken war und als Phrynion schlief – sogar die Sklaven [...].“ (Apollodoros, Rede gegen Neaira = (Pseudo-)Demosthenes, 59. Rede, §33) Das Ziel von Apollodoros war es, den Richtern vor Augen zu führen, was für eine verderbte Person Neaira sei. Ihr Verhalten zeige, dass es sich bei ihr um keine ehrbare athenische Ehefrau handeln könne und ein Freispruch beleidigend auf die Ehefrauen und Töchter der Richter wirken würde. Das Wort Hetäre wird in der Gerichtsrede ausschließlich mit einer negativen Konnotation verwendet – es lässt sich 14

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So wird im 5. Jh. v. Chr. das Bild einer bestimmten Gruppe von Frauen entworfen, die für Geld mit Männern ‚zusammen‘ sind, ohne dass die Art des Zusammenseins expressis verbis näher qualifiziert würde.16 Die Quellen zeigen Hetären, die mit Philosophen diskutieren, Staatsmänner beraten und Reichtümer erwirtschaften, die sie auch zum Wohle der Allgemeinheit auszugeben bereit sind. Hetären werden zum Kristallisationspunkt von Anekdoten mit schwer bestimmbarem historischen Wahrheitsgehalt; sie werden von Autoren gesammelt und publiziert, womit diese Hetären „unsterblichen“ Ruhm erlangen.17 In hellenistischer Zeit (ab dem 4. Jh. v. Chr.) wird die Sprache expliziter und man beginnt, auch in Texten die sexuelle Attraktivität dieser Damen zu beschreiben, verfasst Handreichungen für Verführung und Erotik, die vom Erfahrungsschatz der Hetären profitierten. Darf man einigen Quellen Glauben schenken, so reflektieren Hetären selbst darüber und verfassen, wie Philainis oder Elephantis, Sexhandbücher.18 Zum Leidwesen ganzer Generationen von Forschern hat keines den Lauf der Zeiten überdauert, und so beneidet man Kaiser Tiberius, der in seinem Schlafgemach noch ein Exemplar aus Elephantis’ Hand zur Hand hatte.19 Abgesehen von Erwähnungen in einschlägiger Fachliteratur wird die Hetäre zu einer stehenden Figur in der antiken Komödie, und dies in zumindest zweifacher Erscheinungsform: Ohne eigenes Verschulden in den Hetärenstand gekommen, steht sie als ‚gute‘ Hetäre selbstlos dem Geliebten zur Seite, ausschließlich Gewinn im Sinne und die Schwäche(n) der Männer nutzend, tritt sie als ‚böse‘ auf.20 Schließlich ist noch an die literarischen Werke zu erinnern, die in den ersten Jahrhunderten n. Chr. eine weitere Popularisierung dieses Frauentyps mit nichts Positives an den damit bezeichneten Frauen erkennen, dabei wird die Grenze zur gewöhnlichen Prostituierten bewusst verwischt. 16 Beredtes Beispiel dafür ist Theodote, von der es heißt, sie lebe von ihren Freunden (Xen. mem. 3,11). Erwähnungen von Hetären finden sich in unterschiedlichen literarischen Genera, so z.B. in Komödien, philosophischen Schriften, Gerichtsreden oder Geschichtswerken. Zu Hetären und Hetärenwesen siehe u.a. Wolfgang Schuller: Die Welt der Hetären. Berühmte Frauen zwischen Legende und Wirklichkeit. Stuttgart 2008, S.29ff.; Elke Hartmann in: Der Neue Pauly. Bd.5: Gru - Iug. Hgg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart/Weimar 1998, Sp.517–519, s.v. Hetairai; dies.: Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen. (Campus Historische Studien 30) Frankfurt am Main/New York 2002. 17 Aus der Antike sind von mehreren Autoren Schriften über Hetären bekannt. Von ihren Werken sind nur wenige Fragmente erhalten. Ein Großteil der uns heute bekannten Komödienfragmente findet sich bei Athenaios, der im 2. Jh. n. Chr. in einem fiktiven Gespräch gelehrte Männer über Hetären sprechen ließ und dabei aus Komödien des 5. und 4. Jh.s v. Chr. zitierte. 18 Carmina Priapea 63,17; Athenaios 5,220f; 8,335b-e. Elephantis hat ein illustriertes Buch über figurae Veneris („Stellungen“) verfasst (Carmina Priapea 4; Sueton, Tiberius 43; Martial 12,43,4). Zu Philainis siehe zuletzt Marco Perale: Philainis und Aristoteles? Zum Philainis-Papyrus P.Oxy. 2891. In: Peter Mauritsch (Hg.): Aspekte antiker Prostitution. Graz 2013, S.127-135. 19 Sueton, Tiberius 43,2. 20 Vgl. dazu Ulrike Auhagen: Die Hetäre in der griechischen und römischen Komödie. (Zetemata 135) München 2009.

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sich brachten: Lukian einerseits mit seinen „Hetärengesprächen“ sowie andererseits die „Erotischen Briefe“ des Aristainetos; sie bestechen v.a. als literarischstilistische Fingerübungen. Lukian lässt Hetären, ihre Dienerinnen, Mütter und Geliebten zu Wort kommen und wirft dadurch nicht nur einen Blick auf den realienkundlichen Bereich (Kleidung, Schminke, Preise usw.), sondern auch – einen männlichen! – auf die Gefühlswelt v.a. der weiblichen Protagonisten. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der Tatsache bedeutsam, dass von betroffenen Frauen keine Äußerungen überliefert sind und es auch keine Informationen aus weiblicher Sicht zum Phänomen „Hetäre“ gibt – die Welt der Hetären ist aus männlicher Sicht literarisiert und nicht zuletzt dadurch nur schwer einem historischen Kontext zuzuordnen. III.3 Bildliche Quellen Die Dezenz der (meisten) literarischen Äußerungen über Hetären steht im Gegensatz zu den oft geradezu drastisch naturalistisch wirkenden Darstellungen des Sexualaktes auf Vasenbildern. Hier ist besonders die attische Vasenmalerei der archaischen und klassischen Zeit hervorzuheben, die ein breites Spektrum an Alltagsszenen zugänglich macht; zu ihren Themen und Motiven zählt u.a. auch das Symposion.21 Diese „Trinkgelage“, eine beliebte Freizeitgestaltung der attischen Männer der Oberschicht, wurden nicht im öffentlichen Raum veranstaltet, sondern in Privathäusern. Der Ablauf war streng geregelt: Nach dem gemeinsamen Essen wird das Andron, der Männerraum, gereinigt und das Trinkgelage kann beginnen. Ein Symposiarch bestimmt das Mischverhältnis von Wein und Wasser, man

Abb.1 Symposionsszene, rotfigurige Kylix, Außenbild, Duris Maler, ca. 485-480 v. Chr. (© The British Museum) 21 Symposion (Trinkgelage) kommt von sympino (gemeinsam trinken). Zum Symposion u.a. Oswyn

Murray (Hg.): Sympotica. A Symposium on the Symposion. Oxford 1990.

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Abb.2 Symposiast und tanzendes Mädchen, rotfigurige Schale, Innenbild, Brygos-Maler, 490-480 v. Chr. (© The British Museum)

diskutiert über verschiedene Themen und erfreut sich an den Vorführungen angemieteter Musikanten, Akrobaten und Gaukler beiderlei Geschlechts. Auf dem dabei verwendeten Geschirr finden sich Szenen, die das Symposion illustrieren: nackte junge Männer, die Getränke servieren; Männer, die sich beim Kottabos, einem Trinkspiel, vergnügen; Zecher, die sich nach übermäßigem Weinkonsum übergeben müssen. Neben Männern verschiedenen Alters und Knaben finden sich immer wieder auch Frauen. Sie treten als Tänzerinnen oder Musikantinnen in Erscheinung, aber auch als Partnerinnen beim Geschlechtsakt.22 Die Darstellungen reichen dabei von grotesk anmutender Sexualakrobatik über demütigende Sexualpraktiken bis hin zu zärtlich und partnerschaftlich wirkenden Szenen. Sie sind manchmal auf den Boden der Trinkschalen gemalt und werden für den Trinkenden nach und nach beim Leeren des Bechers erkennbar. Ein vieldiskutiertes Thema ist der soziale Status der weiblichen Figuren, und ob es sich bei den Dargestellten immer um Hetären handelt, wie die Forschung lange Zeit einhellig meinte, ist keinesfalls gesichert; in letzter Zeit gerät sogar die für lange Zeit als communis opinio gehandelte Ansicht ins Wanken, es könne sich dabei keinesfalls um ehrbare Bürgerinnen mit attischem Bürgerrecht handeln.23 Generell bleibt die Frage nach dem Realitätsgehalt der Abbildungen auf den Keramikbehältnissen ein Diskussionsthema. Inwiefern die Bilder die realen Vorgänge bei Symposien spiegeln oder eher Männerfantasien optisch umsetzen, 22 Siehe dazu die Zusammenstellung bei Angelika Dierichs: Erotik in der Kunst Griechenlands. Mainz

am Rhein 1993, S.56-92 (Kap. „Erotik bei Hetären und Männern“). Vgl. Ulla Kreilinger: Hetären. Gelage? In: Peter Mauritsch (Hg.): Aspekte antiker Prostitution. Graz 2013, S.69-84; Ulla Kreilinger: Anständige Nacktheit. Körperpflege, Reinigungsriten und das Phänomen weiblicher Nacktheit im klassischen Athen. (Tübinger Archäologische Forschungen 2) Rahden/Westf. 2007, S.180. 23

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muss dahingestellt bleiben, auch wenn sich langsam die Meinung Bahn zu brechen scheint, dass die Bilder nicht als realistische Illustrationen zum alltäglichen Leben der Griechen aufzufassen seien. Konstatierbar bleibt ein Wandel der Bildmotive im Laufe der Zeit, auch derjenigen, die manchmal als „pornografisch“24 angesehen werden; sie stammen aus der Zeit vom 6. bis zum 5. Jh. v. Chr.25 und sind eine zeitlich und zahlenmäßig eng begrenzte Modeerscheinung. III.4 Wissenschaftsgeschichte Auch die Wissenschaft zeigte Interesse an Hetären. Den Anstoß für die erste wissenschaftliche Diskussion gab eine Arbeit von Friedrich Schlegel, der 1794 in der „Leipziger Monatsschrift für Damen“ den Aufsatz „Ueber die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern“ publizierte, in dem es heißt: Die handelnden und redenden weiblichen Personen [der neuern Komödie] sind fast allein aus der Klasse der öffentlichen Mädchen; welche bei den Griechen etwas so ganz anders waren, als bei allen übrigen Völkern. Sie erhielten eine ungleich feinere Erziehung als Mädchen die in Familien erzogen wurden, wurden in schönen Künsten unterrichtet, und genossen den Umgang der klügsten und angesehensten Männer. Da sie vor der öffentlichen Meinung von aller Schande ganz frei waren, so war ihre Sittlichkeit nicht notwendig verderbt; grade der philosophischeste unter den griechischen Komödiendichtern (Menander) stellte sie oft äusserst liebenswürdig und gut dar.26

Schlegel idealisierte, wie andere Zeitgenossen, die Hetären27 – wobei er das Wort Hetäre nicht benutzte – und rief damit den Widerspruch des klassischen Philologen Friedrich Jacobs hervor. In seinen in Christoph Martin Wielands28 24

Das Wort Pornografie, abgeleitet von porne (Dirne) oder pornos, ihrem männlichen Äquivalent, und graphein (schreiben), kommt in der griechischen Literatur nur einmal bei Athenaios (2./3. Jh. n. Chr.) (13,567b = Polemon FHG 3,120) vor, der mit diesem Wort aber auch Maler einschlägiger Bilder bezeichnet. Heute wird darunter im Allgemeinen die Darstellung sexueller Akte verstanden, wobei „die gewollte sexuelle Reizwirkung im Vordergrund“ steht (Die Zeit. a.a.O., Bd.11, S.465. In Österreich ist Pornografie nicht grundsätzlich verboten, strafrechtliche Relevanz ergibt sich im Einzelfall, siehe dazu „Bundesgesetz über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichung und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung idgF“ (BGBl. Nr. 97/1950). 25 Siehe z.B. Kreilinger, Anständige Nacktheit, a.a.O., S.224f. 26 Friedrich Schlegel: Ueber die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern. In: Leipziger Monatsschrift für Damen. Viertes Bändchen. Oktober. November. December. Leipzig 1794, S.3-25; 103-121, hier S.117f. (= Friedrich Schlegel: Theorie der Weiblichkeit. Hgg. und mit einem Nachwort vers. von Winfried Menninghaus. Frankfurt am Main 1983, S.11-84, Zitat 36). 27 Wie geläufig die Erzählungen über berühmte antike Hetären waren, zeigt die Mode im England des 18. Jahrhunderts, Prostituierte als Paphians, Cyprians, Cythereans oder als moderne Thaïs, Laïs oder Phryne zu bezeichnen. Vgl. dazu Faramerz Dabhoiwala: Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution. Stuttgart 2014, S.357. 28 Wieland hatte nicht nur als Herausgeber der Zeitschrift ein Interesse an den Hetären, sondern beschäftigte sich mit ihnen auch als Übersetzer der „Hetärengespräche“ des Lukian und als Autor, so machte er die Hetäre Lais zur weiblichen Hauptfigur seines Romans „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1801). Bemerkt sei, dass der 5. Dialog zwischen Clonarion und Leaina, in dem weibliche Homosexualität thematisiert wird, von Wieland nicht übersetzt wurde. Siehe dazu Lukian von Samosata: Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen

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Zeitschrift „Attisches Museum“ erschienen „Beyträge[n] zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, vorzüglich der Hetären zu Athen“29, zeichnete dieser unter vorsichtiger Interpretation der antiken Quellen ein von solchen idealisierenden Zügen freies Bild der athenischen Frauen und auch der Hetären, doch seine Arbeit hatte keine Breitenwirkung. Wissenschaftlichen Ansprüchen zum Trotz blieb auch in der Folge die Auseinandersetzung sehr oft gekennzeichnet von einer schablonenhaften Stilisierung der Hetären: entweder zu hochgebildeten Frauen, die „unkritisch als wahre Lichtgestalt der Eleganz, Schönheit und Klugheit“30 verklärt oder zu moralisch verworfenen Geschöpfen, die als eine „Menschenklasse, welche nach heutigen Begriffen zu den verworfensten gehört und der tiefen Selbsterniedrigung wegen mit Schande gebrandmarkt ist [...]“31, erklärt wurden. Verbreitet waren auch Werke wie z.B. Marc de Montifauds32, denen eher ein erotisierendes Kitzeln der Leserschaft am Herzen lag als wissenschaftliche Durchdringung, doch sie prägten weitgehend das Bild der Hetäre in der Öffentlichkeit. Im Rahmen der Etablierung der Sexualwissenschaft im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts schreibt der Berliner Dermatologe und „Vater der Sexualwissenschaft“, Iwan Bloch, ebenfalls über die antiken Hetären.33 Blochs von Christoph Martin Wieland. 3. Theil. Leipzig 1788, S.341-410. Siehe dazu Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002. 29 Friedrich Jacobs: Beyträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, vorzüglich der Hetären zu Athen. In: Christoph Martin Wieland (Hg.): Attisches Museum. Bd.2. Leipzig 1798, S.127-180; Friedrich Jacobs: Beyträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, in Athen. In: Christoph Martin Wieland (Hg.): Attisches Museum. Bd.3. Leipzig 1799, S.156, 171-268. 30 Wolfgang Schuller: Die Welt der Hetären. Berühmte Frauen zwischen Legende und Wirklichkeit. Stuttgart 2008, S.18. 31 Wilhelm Adolph Becker/Hermann Göll: Charikles. Bilder altgriechischer Sitte, zur genaueren Kenntniss des griechischen Privatlebens. 2. Bd. Berlin 1877, S.85. Sie verweisen dabei auch auf Jacobs: bei allem Lob könne aber seine Schrift „nur eine geistreiche Skizze genannt werden, [...] mehr bei der anmuthigeren Seite verweilend als zu den schmutzigen Stellen herabsteigend, zu dem Sumpfe, der zwar einen widrigen Anblick darbietet, in dessen Schlamme jedoch auch eine Menge niederer Creaturen als in ihrem Elemente leben.“ (Ebd., S.85f.) Siehe auch Ernst Karl Guhl/Wilhelm Koner: Das Leben der Griechen und Römer nach antiken Bildwerken dargestellt. Erste Hälfte: Griechen. Berlin 1860, S.213. Im „Buch der Liebe“ widmet auch Karl May einige Seiten den Hetären, die er als Folge der kulturellen Entwicklung in Griechenland sieht: „Je mehr sich die Blüte der Kunst in Griechenland entfaltete, desto verfeinerter wurde auch der Geschmack des Volkes, mit desto größerem Raffinement gab es sich den geschlechtlichen Ausschweifungen hin. [...] Die Klasse der Venuspriesterinnen erhob sich nach und nach zu einer Höhe, dass wir sie mit den Buhlerinnen unserer Zeit gar nicht in Vergleich nehmen können.“ (Karl May: Das Buch der Liebe. Wissenschaftliche Darstellung der Liebe. Hgg. von Dieter Sudhoff. [Karl May’s Gesammelte Werke, Bd.87] Bamberg/Radebeul 2006, S.485-492, hier S.485f.) 32 Marc de Montifaud (i.e. Marie-Amélie Quivogne de Montifaud, 1845-1912/13): Les Courtisanes de l’Antiquité. Marie-Magdeleine. Paris 1879 (dt. Die Courtisanen des Alterthums. Budapest 1885, 3. Aufl. 1902). 33 Zu Iwan Bloch siehe Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt am Main u.a. 2008, S.68f. u. 285-307, sowie Erwin J. Haeberle: Anfänge der Sexualwissenschaft. Historische Dokumente. Auswahl, Kommentar und Einführung. Vorwort von Wilhelm A. Kewenig. Berlin/New York, S.1ff. Die scientia sexualis, die wissenschaftliche Erforschung der Sexualität ist von der Erotologie, einer ars amatoria, der praktischen Erforschung der Kunst des Liebens, zu unterscheiden. Zwei

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Beschäftigung mit der antiken Prostitution rührte von seiner Überzeugung, dass das Studium des Sexuallebens der Menschen nicht auf den medizinischen Bereich beschränkt werden dürfe, sondern auch die kulturelle Entwicklung des Menschen und somit auch des antiken Menschen mitberücksichtigen müsse.34 Die Bewunderung und Sympathie für die Leidenschaften der Griechen, deren Sexualität und den Umgang mit den daran beteiligten käuflichen Frauen, verhehlte der Philologe Paul Brandt in seiner unter dem Pseudonym Hans Licht veröffentlichten „Sittengeschichte Griechenlands“ nicht.35 Im Vorwort des Verlags zum Ergänzungsband, der ‚eindeutige‘ Abbildungen enthält, heißt es: Der Verlag entschied sich, das Werk in zwei Hauptbänden und einem Ergänzungsband herauszubringen, von denen die Hauptbände dem breiten Publikum, der Ergänzungsband nur den Bibliotheken, Forschern und solchen Persönlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, die durch ihre Stellung eine Gewähr dafür bieten, daß der Band nur zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt wird. Die herrschende Moralauffassung gebot diese Einteilung der Bände […] Aus demselben Grunde einigten sich Verlag und Autor, daß nach heutigen Begriffen anstößige Stellen der antiken Autoren in lateinischer oder griechischer Sprache zitiert wurden. Unsere Zeitgenossen haben leider die Naivität nicht mehr, die das Griechenvolk geschlechtlichen Dingen gegenüber besaß.36

Schließlich werden Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, wie beispielsweise Thomas Mann, Friedrich Schnack oder Hermann Hesse zitiert, der gesagt haben soll (es gibt keinen Nachweis): „Ich blättere zuweilen in den Bänden der Sittengeschichte Griechenlands, wo zwischen all den erstaunlichen Bildern und am meisten durch die Bilder selbst viel Wissenswertes und viel Beneidenswertes vom Liebesleben der Griechen erzählt wird.“37 Es scheint – wie Wolfgang Schuller vermutet – dass durch die „Mischung aus HeimlichMissstände seiner Zeit waren es vor allem, die Blochs Zugang prägten: die Lage der Frauen – von der Abtreibungsfrage bis zur Prostitution – und die Lage der Homosexuellen. 34 Iwan Bloch: Die Prostitution. 1. Bd. (Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen 1) Berlin 1912. Der Arzt Gaston Vorberg verfasste 1932 das „Glossarium eroticum“ (Hanau Main 1965 [repr.]). 35 Hans Licht: Sittengeschichte Griechenlands in zwei Bänden und Ergänzungsband. Bd.1: Die griechische Gesellschaft; Bd.2: Das Liebesleben der Griechen; Ergänzungsband: Die Erotik in der griechischen Kunst. Ergänzungen zu Bd.1 und 2. Dresden/Zürich 1925-1928. Licht versucht, die Sexualität in das soziale Umfeld zu integrieren, ja, er möchte sogar dieses Umfeld aus den Sexualverhältnissen heraus erklären. Zu Hans Licht siehe Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. München 1989, S.80f. Das Interesse am Sexualleben der Griechen und Römer zeigt sich auch in dem breit angelegten, aber nur im 1. Bd., 1. Hälfte, erschienen Werk von Theodor Hopfner: Das Sexualleben der Griechen und Römer von den Anfängen bis ins 6. Jahrhundert nach Christus. Aufgrund der literarischen Quellen, der Inschriften, der Papyri und der Gegenstände der bildenden Kunst systematisch-quellenmäßig dargestellt. Prag 1938. Hopfner vermerkt in seinem Vorwort, dass Hans Licht zwar richtig erkannt habe, dass „der Hauptnährboden der Völkersitte das Sexuell-Erotische ist“ (ebd., S.V), aber in seinen Ausführungen in vielerlei Hinsicht lückenhaft geblieben sei. 36 Licht, Sittengeschichte Griechenlands, a.a.O., S.V. 37 Ebd., S.VII.

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tuerei und etwas krampfhaftem Betonen der Seriosität ein etwaiger Kitzel nur noch erhöht wurde.“38 Die Käuflichkeit der Hetären wurde ausgeblendet, der Umgang mit ihnen positiv bewertet, eine strikte Trennung von gewöhnlichen Prostituierten vorgenommen und darauf hingewiesen „daß man damals den außerehelichen Geschlechtsverkehr keinem Menschen verargte, sondern ihn als Selbstverständlichkeit ansah und in aller Öffentlichkeit darüber sprach“.39 Sie wurden in der Folge, auch im Rahmen der sich etablierenden Frauengeschichte, häufig als selbstbestimmte, selbstbewusste unabhängige Frauen beschrieben, sogar zu Vorreiterinnen weiblicher Emanzipationsbestrebungen – wobei sich solche Interpretationen nicht auf eine kritische Sichtung der Quellen beriefen oder diese auch nur in Ansätzen vollständig zu Rate zogen. Dabei war oft eine einseitige, geschönte Sichtweise Mutter des Gedankens. So etwa bei Simone de Beauvoir, für die außer Frage stand, dass es bekannt sei, daß mehrere unter ihnen [Hetären] am Ruhme ihrer Liebhaber teilhatten. Dank ihrer freien Verfügung über sich selbst und ihren Besitz, als elegante, kultivierte, künstlerisch begabte Frauen werden sie von den Männern, die von dem Umgang mit ihnen entzückt sind, als selbständige Personen behandelt. Durch die Tatsache, daß sie sich von der Familie freihalten, daß sie sich außerhalb der Gesellschaft stellen, sind sie auch vom Manne frei: daher können sie ihm als gleichgeartet und beinahe ebenbürtig erscheinen. In einer Aspasia, einer Phryne, einer Lais bekundet sich die Überlegenheit der emanzipierten Frau über die ehrsamen Familienmütter.40

Neben der Frauengeschichtsforschung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts führte auch das gesteigerte Interesse an der Geschichte der Sexualität, wie es sich u.a. in Michel Foucaults Werk „Sexualität und Wahrheit“41 manifestiert, zu einer Beschäftigung mit Frauen und damit einhergehend mit Prostituierten. Allerdings war weiterhin ein „Zwei-Typen-Modell“42 erkennbar: die ungebundene, selbstbestimmte Hetäre steht der als Opfer apostrophierten gegenüber,43 38

Schuller, Die Welt der Hetären, a.a.O., S.22. Licht, Sittengeschichte Griechenlands, a.a.O., S.106; siehe dazu die Ausführungen von Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. München 1989, S.81. 40 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1968, S.94 (dt. EA 1951; frz. Orig. 1949). 41 Michel Foucault: Geschichte der Sexualität. 3 Bde. Frankfurt am Main 1977-1986 (Orig. L’histoire de la sexualité. Paris 1976-1984). 42 James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrende Leidenschaften im klassischen Athen. Berlin 1999, S.96. (orig. Courtesans and Fishcakes. London 1997) 43 Vgl. Sahra B. Pomeroy: Frauenleben im klassischen Altertum. Stuttgart 1985, S.137f., betont die Ungebundenheit und Selbstbestimmung. Das Quellenmaterial wurde z.T. überinterpretiert, vgl. dazu Eva Keuls: The Reign of the Phallus. Sexual Politics in Ancient Athens. New York 1985. Von anderen werden Männer als das Böse stilisiert und Hetären als Opfer gesehen, vgl. dazu Eva Cantarella: Pandora’s Daughters. The Role and Status of Women in Greek and Roman Antiquity. Baltimore/London 1987. Eine nüchterne und materialreiche Darstellungen legte Hans Herter vor: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd.3. Stuttgart 1957, Sp.1154-1213, s.v. Dirne; Hans Herter: Die Soziologie der 39

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wobei sie nun mit einer Prostituierten gleichgesetzt wurde.44 Die Ergebnisse all dieser Forschungen schärften den Blick auf die Grenzen literarischer und archäologischer Quellen. Hetären werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern eingebettet in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, und schließlich folgte der Schritt hin zu einer Interpretation, die nicht darauf abzielt, in – oder auch „hinter“ – den Bildern und literarischen Schilderungen Abbildungen der Realität zu erkennen.45 So nähert man sich den gern als „erste Vorkämpferinnen der abendländischen Frauenemanzipation“46 bezeichneten Frauen zunehmend ohne ideologische, und den Abbildungen der Vasenbilder, die „sicherlich nicht zuletzt auch deswegen, weil das Material obszöne Darstellungen beinhaltet“,47 lange tabu waren,48 ohne moralische Scheuklappen. Die Diskussion geht weiter. DRITTER TEIL V. DIE AUSSTELLUNG

In den unterschiedlichen Disziplinen der Geisteswissenschaften wird nahezu ausschließlich theoretisch gearbeitet. So hat sich auch der Begriff der Buchwissenschaften eingebürgert, und das Bild des in seinem Elfenbeinturm fern von alltäglichen Ereignissen und Geschehnissen arbeitenden Wissenschaftlers mit zerzausten Haaren geistert noch immer durch die Köpfe der Menschen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts inszenierte Karl Spitzweg den armen, von der Welt abgewandten Denker in seinem Bild „Der arme Poet“ (eine Inszenierung, die allerdings bei der Präsentation im Jahre 1839 im Münchner Kunstverein auf Ablehnung stieß).49 Eine Inszenierung richtet sich häufig nach den vorherrschenden zeitbedingten Darstellungskonventionen (und das auch dann, wenn sie diesen radikal antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums. In: Jahrbuch für Antike und Christentum. Bd.3. Münster 1960, S.70-111. 44 Vgl. dazu kritisch James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen. Berlin 1999, S.98. 45 Elke Hartmann: Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen. (Campus Historische Studien 30) Frankfurt am Main/New York 2002; Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte, a.a.O.; Laura K. McClure: Courtesans at Table. Gender and Greek Literary Culture in Athenaeus. New York/London 2003; Schuller, Die Welt der Hetären, a.a.O. 46 Ingeborg Peschel: Die Hetäre beim Symposion und Komos in der attisch-rotfigurigen Vasenmalerei des 6.-4. Jahrh. v. Chr. Frankfurt am Main 1987, S.11. 47 Ebd., S.12. 48 1988 konnte der Co-Autor dieses Aufsatzes das Werk von Hans Licht an der Universitätsbibliothek nicht auf dem üblichen Weg entlehnen: Es war im Zimmer des Direktors der Universitätsbibliothek, im sogenannten Giftschrank, versperrt aufbewahrt. 49 „Der arme Poet“ (1839, Öl auf Leinwand, 36,2 x 44,6 cm) befindet sich heute in der Pinakothek, vgl.: http://www.pinakothek.de/carl-spitzweg/der-arme-poet

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widersprechen).50 Denkende inszenieren sich nicht nur selbst, sondern auch das, womit sie sich beschäftigen, im Wissenschaftsbetrieb vorrangig durch Publikationen und Vorträge.51 Sie dienen dazu, die Beschäftigung – z.B. als Historiker mit vergangenen Kulturen und der dort praktizierten Inszenierung von Verhaltensweisen – und die Ergebnisse dieser Beschäftigung bekanntzumachen. Wobei die Motivation für eine Ausstellung der Wunsch nach reiner Wissensvermittlung ebenso sein kann wie der nach Aufklärung oder Provokation. Im Rahmen einer Ausstellung inszeniert man Erforschtes nicht nur, sondern transferiert das damit zusammenhängende Wissen an einen Ort der Inszenierung – mit dem Ziel einer sinnlich-ästhetischen Form der Bedeutungsstiftung. Zunächst gilt es, die Forschungsergebnisse/Objekte zu arrangieren, was immer bedeutet, sie aus einem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen und neu zu ordnen – im besten Fall ergibt sich daraus eine für das Publikum nachvollziehbare Argumentation innerhalb eines Narrativs, in dem die zugrundeliegenden Fakten/Objekte erkenntnisermöglichend angeordnet sind.52 Für die Ausstellung „Hetären.Bilder“ wollten wir den Umstand bewusst machen, dass 1) als Quellen nur wenige der ehemals vorhandenen Schriften und Bilder zur Verfügung standen, die nicht nur 2) nach engen Genrevorgaben gestaltet, sondern außerdem 3) ausschließlich von Männerhand geschaffen waren. In ihnen sind 4) weder die historischen Personen und Ereignisse objektiv dargestellt noch auch 5) relevante Hintergrundinformationen in ausreichender Fülle gegeben. Ähnliche Probleme weist 6) die moderne Forschungsliteratur auf, wenn auch Anliegen und Aspekte anders gelagert sind. 50

Bereits in der Antike zeigt sich eine bewusste Inszenierung, beispielsweise bei den Kynikern oder bei dem gern als Philosophenkaiser apostrophierten Marc Aurel mit seinem „Philosophenbart“, der zu einer Darstellungskonvention geworden war – und zu einem Mittel der Selbstinszenierung. Vgl. Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995. 51 Remigius Bunia: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handbuch. Hgg. von Ute Frietsch und Jörg Rogge. Bielefeld 2013, S.485-489, hier S.486, s.v. Zitieren, verweist darauf, dass mit der „Aristoteleskritik von René Descartes und Francis Bacon [...] die Publikation zum zentralen wissenschaftlichen Kommunikationsmedium“ wird. 52 Vgl. Susanne Wernsing: Parole: edutainment? Zum Verschwinden der Kunst aus der Wissenschaft und ihrer beschämten Rückkehr ins Museum. In: Heike Kirchhoff/Martin Schmidt (Hg.): Das magische Dreieck. Die Museumsausstellung als Zusammenspiel von Kuratoren, Museumspädagogen und Gestaltern. (Schriften des Bundesverbands freiberuflicher Kulturwissenschaftler 1) Bielefeld 2007, S.61-73, hier S.64. Siehe auch Walter Hauser: Wie kommuniziert man aktuelle Forschung im Museum? In: ICOM Deutschland/ICOM Frankreich/Deutsches Technikmuseum (Hg.): Wissenschaftskommunikation. Perspektiven der Ausbildung. Lernen im Museum. Frankfurt am Main 2009, S.84-88.

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Im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der „FH Joanneum“ wurde in enger Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern – Ursula Lagger, Peter Mauritsch –, einem Ausstellungsarchitekten – Thomas Hamann – und StudentInnen des Masterstudiengangs „Museums- und Ausstellungsdesign“ nach einer inhaltlichen Einführung in das Thema und einer mehrschleifigen Rückkoppelung ein Gestaltungskonzept entwickelt, das als erster Impuls für das endgültige Konzept diente. Bei der Erarbeitung des Gestaltungskonzepts orientierten wir uns am Fragenaufriss zur Dialogführung von Christine Haupt-Stummer und Monika Sommer von „Schnittpunkt“, einem offenen, transnationalen Netzwerk für AkteurInnen und Interessierte des Ausstellungs- und Museumsfeldes.53 Inhalt und Gestaltung sollten aufeinander abgestimmt werden, aber es galt auch, für die Vorstellungen und Intentionen der Wissenschaftler und Gestalterinnen eine gemeinsame (Formen-)Sprache zu finden. VI. DER AUSSTELLUNGSRAUM

Die Universitätsbibliothek Graz stellte den für die In-Szene-Setzung benötigten Raum zur Verfügung, in dem die Forschungsergebnisse präsentiert und ein Diskurs darüber in Gang gesetzt und eine Rezeption ermöglicht werden sollten: die Eingangshalle der Universitätsbibliothek Graz. Diese Halle erfüllt mehrere Funktionen und ist dabei Schnittpunkt verschiedener Wege. Nutzerinnen und Nutzer der Bibliothek gelangen von hier aus zur Ortsausleihe, zur Garderobe mit Schließfächern sowie zu den Lesesälen. Angestellte durcheilen sie auf dem Weg zu ihren Büros und in Erfüllung ihrer Funktionen. Hier befindet sich auch der Informationsschalter, zentrale Anlaufstelle für ratsuchende Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer. Einen guten Teil des Raumes nahmen zur Zeit der Ausstellung heute verschwundene Relikte vergangener Bibliothekszeiten ein: Zettelkästen, freistehend im Raum und an der Rückwand. An der Längswand zur Ortsausleihe, gegenüber dem Informationsschalter, befanden sich an der Wand vier Vitrinen, die Schätze der Bibliothek beinhalteten, aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Karl-Franzens-Universität Graz zur Verfügung standen, um ihre Forschungsergebnisse und -projekte in Form von Sonderausstellungen einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie waren bewusst nicht in einem abgeschlossenen Ausstellungsraum aufgestellt worden, sondern hier in dieser betriebsamen Umgebung, um ihrem Inhalt Aufmerksamkeit zu sichern: Immerhin wird die Ausleihstelle täglich von bis zu 500 Personen frequentiert, nicht viel geringer ist 53 Christine Haupt-Stummer/Monika Sommer: Fragenaufriss von Schnittpunkt. Power of Display, siehe: http://www.schnitt.org

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die Besucherfrequenz der Lesesäle.54 Die Ausstellungen wurden allerdings von den Bibliotheksbesucherinnen und -besucher nicht im erhofften Ausmaß wahrgenommen; das lag wohl weniger an den Ausstellungsthemen, sondern an der meist textlastigen Präsentation: Handschriften und frühe Drucke bildeten das Hauptausstellungsgut, nur selten waren es nichttextliche Exponate. Auch die Ergebnisse der Forschung aus naturwissenschaftlichen Themen – Botanik und Physik – wurden fast ausschließlich in Buchform – ein aufgeschlagenes Buch eventuell mit Illustration – dokumentiert. VII. BESUCHER

Die fehlende optische Aufdringlichkeit dieser Art von Ausstellung führte dazu, dass hauptsächlich Personen mit Vorwissen angezogen wurden, aber kaum jemand, der nicht mit dem Thema vertraut war. Bei Ausstellungen, die an dafür vorgesehenen Plätzen (Kunsthallen, Museen etc.) stattfinden, kann aufgrund von Evaluierungen mit mehr oder weniger validen Argumenten versucht werden, ein Besucherprofil inklusive Erwartungshaltung zu erstellen.55 Eine solche Erhebung war an der Universitätsbibliothek nicht unternommen worden, allerdings konnte mit einem zwar vorrangig dem akademischen Milieu zugehörigen, von der Interessenslage her allerdings höchst heterogenen Publikum gerechnet werden. Denn auch bei einem „akademischen“ Publikum reicht die Palette von naturwissenschaftlichen, theologischen, juridischen bis hin zu medizinischen Studienschwerpunkten, womit wiederum durchaus unterschiedliche Erwartungshaltungen an eine Ausstellung zu gewärtigen gewesen wären. Trendmäßig war mit einem jugendlichen, geschlechtsmäßig gleichverteilten Personenkreis zu rechnen.56 54 Auskunft von Frau Bergner, Verantwortliche für die Sonderausstellungen an der Universitätsbibliothek. 55

Über verschiedene Aspekte zu diesem Themenkomplex siehe z.B. Vanessa Schröder: Geschichte ausstellen, Geschichte verstehen. Wie Besucher im Museum Geschichte und historische Zeit deuten. Bielefeld 2013. Siehe allerdings die Feststellung von John Urry: Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit? In: Rosmarie Beier (Hg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main 2000, S.29-59, hier S.38: „[…] dass die Besucher ihren Aufenthalt durchaus in einer von den Kustoden nicht erwarteten oder vorgesehenen Art und Weise verstehen und gestalten. Sie stellen Verbindungen zwischen Gegenständen her, die nicht dazu gedacht sind, verknüpft zu werden; sie begreifen Exponate als normativ, ohne dass ihnen diese Haltung nahegelegt worden wäre, und sie beschreiben die Ausstellung meist nicht so, wie es den Absichten ihrer Gestalter entsprochen hätte. Überhaupt wissen wir relativ wenig darüber, wie Menschen museale Stätten genau nutzen und rezipieren.“ 56 Die Räumlichkeiten der Universitätsbibliothek werden kaum von Jugendlichen unter 18 Jahren aufgesucht, ein Aspekt, der im Hinblick auf die z.T. sehr freizügigen antiken Vasendarstellungen mitbedacht wurde, auch wenn die Zeiten, in denen die von uns ins Auge gefassten Abbildungen nicht der Allgemeinheit zugänglich waren, sondern in Cabinets secrets – wie die „erotischen“ Fundstücke aus Pompeji im Nationalmuseum in Neapel – gezeigt wurden, vorbei sind. Dazu Michael Grant/ Antonia Mulas: Das Geheimkabinett des Museums von Neapel. München 1975; Walter Kendrick: The Secret Museum. Pornography in Modern Culture. Berkely/Los Angeles 1996, S.13ff.; kurz dazu auch

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Der akademische Background hätte sich argumentativ für ein inhaltvermittelndes Konzept („Bildungsauftrag“) verwenden lassen, die Jugendlichkeit der Besucher wiederum hätte zum Anlass genommen werden können, das spielerische Argument der Ausstellung zu betonen (Edutainment). Keine dieser beiden Zugangsweisen schien uns geeignet, denn für welche auch immer wir uns entschieden hätten: Das Publikum war zu heterogen als dass man es von vorneherein auf den einen oder anderen Besuchertypus, lernbegierig oder spielwütig, einschränken hätte können. Das enthob uns allerdings nicht der Verpflichtung, uns mit den für oder gegen den Bildungsanspruch, Edutainment oder andere im Zusammenhang mit der Besucherproblematik bei Ausstellungen fallenden Stichworten intensiv auseinanderzusetzen.57 Im Bewusstsein all dieser Unwägbarkeiten war unser Ziel, eine attraktive Umgebung für eine – bei bestehendem Wunsch und Interesse – selbstbestimmte Auseinandersetzung mit dem Thema zu bieten. Aufgeschlagene Bücher, kaum entzifferbaren Handschriften und kleingedruckten Begleittexte besitzen im Vergleich zu auffallenden, großen, beweglichen oder haptisch erfassbaren Gegenständen deutlich weniger Haltekraft.58 Von den Faktoren, die Waidacher als das Besucherverhalten beeinflussende aufzählt, konnten wir aufgrund der räumlichen Vorgaben nicht alle berücksichtigen. Einer stach uns jedoch sofort ins Auge: „Anziehungs- und Haltekraft von Beschriftungen stehen im direkten Verhältnis zu ihrer Auffälligkeit.“59 Für die Beantwortung der Frage, warum die Ausstellungen meist von einschlägig Interessierten, aber kaum von Personen, die mit der jeweiligen Materie nicht vertraut waren, intensiver studiert worden sind, liegt die Vermutung nahe, dass dies dem Fehlen eines optischen Anreizes und eines ins Auge springenden Schlagwortes zuzuschreiben sei. Die wesentliche Herausforderung bei der Konzeption lag aus unserer Sicht deshalb in der Sichtbarmachung. Erst wenn das Interesse und die Neugier der Nutzerinnen und Nutzer der Bibliothek geweckt waren, konnte eine schnell erfassbare und fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem präsentierten historischen Themenkomplex in Gang gesetzt Elisabeth Holzleithner: Grenzziehungen. Pornographie, Recht und Moral. Unpubl. Jur. Diss. Wien 2000, S.20-22. 57 Vgl. beispielsweise Christine Bäumler: Bildung und Unterhaltung im Museum. Über die Notwendigkeit einer funktionalen Differenzierung und ihre Folgen. In: Kirchhoff/Schmidt, Das magische Dreieck, a.a.O., S.41-56; Christine Bäumler: Bildung und Unterhaltung im Museum. Das museale Selbstbild im Wandel. (Medienpädagogik 2) Münster 2004. 58 Zu den Einflüssen auf das Besucherverhalten siehe Friedrich Waidacher: Handbuch der Allgemeinen Museologie. (Mimundus 3) 2., ergänzte Aufl. Wien/Köln/Weimar 1996, S.438f.; Friedrich Waidacher: Museologie – knapp gefasst. Mit einem Beitrag von Marlies Raffler. Wien/Köln/Weimar 2005, S.149-154. Versuche der Sichtbarmachung gab es bereits vor der Ausstellung „Hetären.Blicke“; so beispielsweise durch Ausstellung eines Webstuhls, eines gerüsteten Kriegers oder den in einer Vitrine gezeigten (rekonstruierten) Moorleichenkopf. 59 Waidacher, Museologie – knapp gefasst, a.a.O., S.151.

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werden. Um dies zu erreichen, war es unumgänglich, die räumliche Situation in der Konzeption zu berücksichtigen und in die Gestaltung einfließen zu lassen. Nicht ein abgeschiedener, ruhiger Ausstellungsraum stand zur Verfügung, sondern ein täglich von mehreren Hundert Personen genutzter Durchgangsraum, der nicht zum Verweilen einlädt, sodass zu befürchten war, dass die Ausstellung im besten Fall im Vorbeigehen wahrgenommen würde. Es galt, David Deans Sentenz zu berücksichtigen: „When a person’s attention is captured, study occurs.“60 VIII. GESTALTUNG – IDEEN

Dass mit gestalterischen Mitteln Assoziationen an das Rotlicht-Milieu hervorgerufen werden sollten, stand bald als Grundtenor für die Ausstellung fest, und damit auch eine Leitfarbe. Die Neugierde sollte durch Verdecken und Verhüllen geweckt werden, womit die Wahl auf Schwarz als zweite Farbe fiel – was gleichzeitig an Zensur der sexuell aufgeladenen Inhalte denken ließ. Eine weitere Assoziation – naheliegend sowohl beim Thema Sex als auch Ausstellung – führte zur Peepshow, und zur Überlegung, die Vitrinen mit Gucklöchern zu versehen. Diese beinahe banal wirkenden Assoziationen wurden aufgegriffen, weil zu hoffen war, dass umgekehrt Rot und Schwarz, verbunden mit Lichteffekten, beim Besucher, der durch Lektüre von Hochglanzmagazinen sowie durch sonntägliche Milieustudien im „Tatort“ über einschlägiges Vorwissen verfügt, Assoziationen an die (Halb-)Welt der Prostitution auslösen würde.61 Die visuelle Vermittlung des Inhalts sollte über Abbildungen antiker Vasenbilder erfolgen, wobei für die „Lebendigkeit“ und „Hitze“ der Bilder, wie es die klassische Archäologin Ingeborg Peschel formuliert hat,62 eine der intendierten Wissenschaftlichkeit der Ausstellung angemessene Ausdrucksweise gefunden werden sollte. Weitere Informationen sollten über Fließtext vermittelt werden, wobei unterschiedliche Informationstiefen zu berücksichtigen waren, die auch optisch erkennbar sein sollten. Da Ausstellungen „polymediale Kommunikationsmittel [sind], die erst über das Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen (Objekt, Gestaltung, Text) sinnlich und kognitiv funktionieren“63, wurde auch die Präsentation von antiken Vasen angedacht, nicht zuletzt wegen der von solchen Originalobjekten ausgehenden Aura.64 60

David Dean: Museum Exhibition. Theory and Practice. London 1996, S.7. Auf die Bedeutung der Berücksichtigung des Vorwissens bei der Konzeption einer Ausstellung verweist Daniel Tyradellis: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten. Hamburg 2014, bes. S.155-159. 62 Peschel, Die Hetäre beim Symposion und Komos, a.a.O., S.12. 63 http://www.schnitt.org/power-of-display/ 64 Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Werke. Bd.2. Frankfurt am Main 2011, S.569-599, er spricht 61

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Eine letzte Vorgabe für die Gestaltung war der finanzielle Rahmen, der für die Materialkosten und die Montage zu berücksichtigen war, wobei die Ausstellung als Wanderausstellung konzipiert werden sollte. IX. GESTALTUNG – UMSETZUNG

Das Konzept der Studentinnen diente als Grundlage und Impulsgeber für die Ausarbeitung des schließlich umgesetzten Ausstellungskonzepts. Das Prinzip des Verhüllens wurde nicht nur aus inhaltlichen Gründen beibehalten, sondern in erster Linie dazu genutzt, um die räumlichen Gegebenheiten zu verändern, vor allem um die vier dominanten und schwierig zu „bespielenden“ Klimavitrinen „unsichtbar“ zu machen: Sie wurden mit schwarzen Forex-Platten verkleidet. Verschieden groß ausgefräste Kreise dienten als Umrisse für farblich in schwarz-rot bearbeiteten Abbildungen, die auf eine transparente Blacklight-Folie gedruckt und von hinten beleuchtet wurden. Die verkleidete Vitrine fungierte als eine Art „Leuchtkasten“ und brachte durch die Rotfärbung der Motive den gewünschten Lichteffekt.

Abb.3 Freistehender roter Würfel als „Eingangsvitrine“.

Das Ausstellungskonzept sah vor, dass die Ausfräsungen der Platten in die Tiefe gehen sollten, um dadurch nach dem Guckkastenprinzip räumliche Tiefe zu schaffen. Darauf musste – ebenso wie auf rote Lichtschläuche – aus technivon einer Objekt-Authentizität; Martin R. Schärer: Die Ausstellung. Theorie und Exempel. München 2003, S.105; Waidacher, Handbuch der Allgemeinen Museologie, a.a.O., S.152f. u. 170f.

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schen und budgetären Gründen verzichtet werden. Allerdings wurde zusätzlich zu den schwarzen Wandvitrinen ein freistehender Würfel als „Eingangsvitrine“ geschaffen: Auf den vier Seiten wurde eine Einführung in das Thema (Terminologie, Wissenschaftsgeschichte, Quellen) geboten, er diente aber zugleich als Blickfang und Werbemittel, um Besucherinnen und -besucher der Universitätsbibliothek bereits beim Betreten der Räumlichkeiten auf die Ausstellung aufmerksam zu machen, und wurde so zu einem großen Expositum.65

Abb.4 Im Vordergrund „Eingangsvitrine“, im Hintergrund schwarze Tafel.

Die vier schwarz verkleideten Vitrinen bildeten jeweils einen ausgewählten Aspekt des Themas ab,66 wobei sie von links nach rechts als Narrativ zu lesen waren: Die erste Tafel erzählte vom hauptsächlichen Arbeitsfeld der Hetären, dem Symposion; die zweite stellte die VIPs unter den Hetären und ihren Kunden dar; Hauptcharakteristika der Hetären – ihr Verlangen nach Geld und, der Forderung der Kunden entsprechend, Schönheit – konnten anhand antiker Texte und Vasenbilder studiert werden; den Abschluss bildete die Darstellung der den Hetären immer wieder zugeschriebene hohe Kunst der Liebe, mit der sie Männer in ihren Bann zu ziehen vermochten – und deren Grenzen, wenn athe65 Waidacher,

Museologie – knapp gefasst, a.a.O., S.151.

66 Einführende bzw. allgemeine Erklärungen wurden im Blocksatz gesetzt, während wörtliche antike

Zitate im Flattersatz gestaltet, kursiv gesetzt und durch große Anführungszeichen kenntlich gemacht wurden. Bildbeischriften wurden in einer wesentlich kleineren Schrift und rot gesetzt. Sie beziehen sich auf die Abbildung, bieten manchmal Beschreibungen, manchmal reißen sie nur mit dem Bild zusammenhängende Fragen an. Sie sollten sich nicht dominant vor das Bild schieben, sondern nur Interessierten weitere Hinweise bieten. Die kurzgehaltenen Bildnachweise – eine vierte, für interessiertes Fachpublikum und nur aus geringer Entfernung lesbare Informationsebene – wurden in kleiner Type gesetzt.

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nische Männer trotz aller Raffinesse und Verführungskünste nach dem Trinkgelage zu ihren Ehefrauen nachhause zurückkehrten. Die Bibliothek wurde als Ort des Wissens in die Ausstellung integriert. Ein kleiner Zettelkasten wurde an der Frontseite der Stichwortkataloge positioniert und durch die Beklebung mit geprägten Schriftbändern von den vorhandenen Katalogen abgegrenzt und als Teil der Ausstellung kenntlich gemacht. Er wurde mit Karteikarten, die Hintergrundinformationen zu ungefähr 300

Abb.5a u. b Karteikärtchen und Karteikasten.

namentlich bekannten Hetären boten, gefüllt. Es gab keinen Hinweis darauf, dass man die Kärtchen mitnehmen könne bzw. solle – allerdings zeigte sich bereits bei der Eröffnung, dass die Kärtchen auf großes Interesse stießen. Das Stöbern, Herausnehmen und Durchlesen hatte Neugierde und Interesse geweckt und offensichtlich auch befriedigt und schließlich dazu geführt, dass sie als Andenken mitgenommen wurden. Bei der Finissage der Ausstellung war noch knapp ein Viertel der Karteikarten vorhanden. Auf die Präsentation von Originalobjekten wurde letztendlich verzichtet, auch im Hinblick darauf, dass nicht ein „Public Understanding of Science“, sondern ein „Public Understanding of Resarch“ in Gang gesetzt werden sollte.67 Dem „Bildungsanspruch“ wurde mit den Informationen auf den Tafeln der Eingangsvitrine Tribut gezollt. Die Tafeln der übrigen vier Vitrinen lockten mit Bildern, Text wurde sparsam eingesetzt, wobei allerdings durch die unterschiedlichen Textformen – erläuternde Erklärungen zum Thema, Zitate antiker Autoren, Bildbeischriften 67 Vgl. etwa Annette Noschka-Roos/Jürgen Teichmann: Populäre Wissenschaft in Museen und Science

Centers. In: Peter Faulstich (Hg.): Öffentliche Wissenschaft: neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung. Bielefeld 2006, S.87-103, hier S.92; vgl. dazu auch David Chittenden/Graham Farmelo/Bruce V. Lewenstein (Hg.): Creating Connections. Museums and the Public Understanding of Current Research. Walnut Creek, CA 2004. Ausgestellte Objekte sind aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und werden in Ausstellungen neu arrangiert und inszeniert. Dingliche Exponate, sogar Modelle, Dioramen und Rekonstruktionen suggerieren jedoch, dass sich der dargestellte Sachverhalt so und nicht anderes zugetragen habe.

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Abb.6 „Hetären.Blicke“.

– ein Anreiz geschaffen wurde, sich intensiv(er) mit der Thematik auseinanderzusetzen. Dabei wurde darauf geachtet, „das Fachwissen des Publikums nicht zu überfordern, aber auch seine Intelligenz nicht zu unterschätzen“68 – Freiraum für weiterführende Gedanken war gegeben.

Abb.7 Universitätsbibliothek Graz, links Eingang zum Entleihschalter, rechts Informationsschalter.

Spiele bzw. ein spielerischer Zugang zum Thema wurde nicht angeboten, lediglich das Stöbern im Karteikasten hat möglicherweise dieses Bedürfnis bei einigen Interessierten (rudimentär) befriedigt. 68 Waidacher,

Museologie – knapp gefasst, a.a.O., S.155.

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Mit diesen Mitteln sollte der Schwierigkeit und Herausforderung begegnet werden, ein nicht eindeutig definierbares Phänomen anhand vorhandener Quellen und aktueller Forschungsergebnisse zu präsentieren, gleichzeitig aber nicht das Bild von Wissenschaft als Garant objektiver Wahrheiten zu vermitteln, sondern die ausgewählten Objekte so zu inszenieren, dass der wissenschaftliche Diskurs visualisiert wahrgenommen und auch beim Publikum provoziert wird.

Abb.8 Plakat zur Ausstellung „Hetären.Blicke“

X. SEXUALITÄT UND ÖFFENTLICHKEIT

Für das Plakat wurde ein freizügiges Motiv gewählt – im Wissen, dass es auch heute noch nicht üblich ist, außerhalb des Kontextes Kunst einen erigierten Penis zu zeigen,69 nicht einmal Cosmopolitan bildet beim Thema Sex Penisse 69 Die Darstellung des nackten weiblichen Körpers ist alltäglich: die auflagenstärkste Zeitung Öster-

reichs – „Die Kronen Zeitung“ – bringt täglich auf Seite 5 bzw. 7 das Bild einer barbusigen Frau.

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ab.70 Auch die Wissenschaft hatte lange Zeit Probleme: man „sekretierte“ die Bücher mit einschlägigen Abbildungen in sogenannten Giftschränken oder zensurierte Abbildungen: Während im Buch von Hans Licht beispielsweise ein bronzener Dreifuß aus Pompeji die Trägerfiguren mit erigiertem Phallus darstellt, findet sich im zeitgleich erscheinenden Buch von Spinazzola eine retuschierte Abbildung.71 Ausstellungen zum Themenbereich Sexualität und Prostitution finden in abgeschlossenen Räumlichkeiten und Museen statt – sei es der „Venustempel“, ein Sexmuseum in Amsterdam72, das „Condomi-Museum“ in einem Erotikfachgeschäft in Wien73, das Wiener „Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch und die Geschichte der Sexualität“74 oder „The Museum of Sex“75 in New York – der Besuch ist Folge einer bewussten Entscheidung. Sexualität impliziert Erotik, Verführung und Lust – und geht in der bildlichen wie literarischen Überlieferung auch mit der Darstellung und Schilderung des Koitus einher.76 Im antiken Griechenland wie auch heute ist die Nacktheit auf bestimmte soziale Räume beschränkt. Die Darstellung nackter Personen in einem öffentlichen bzw. halböffentlichen Kontext birgt die Risiken eines medialen Aufschreis in sich, wie sich beispielsweise in Österreich 2014 im Zusammenhang mit dem Plakats zum Life Ball gezeigt hat. Auch Plakate der Ausstellung „Hetären.Blicke“ wurden entfernt – entweder aus dem Wunsch, diese der eigenen Sammlung einzuverleiben oder aus Abscheu. Sie fand an einem öffentlichen Raum statt und hat, wie die Einträge in das Anregungs- und Beschwerdebuch der Universitätsbibliothek zeigen, zum Teil Irritation und Abscheu ausgelöst, aber auch Interesse an der Thematik erweckt und einen Diskurs – zumindest zwischen Buchdeckeln – unter den Besuche70 Vgl. Elisabeth Raether: Das ist übrigens ein Penis. Weibliche Nacktheit ist der Normalfall – männliche hingegen nicht. Warum ist das so? In: ZeitMagazin 31 vom 26.07.2012, S.12-16. 71 Vgl. Günther E. Thüry: Die Gesteinigte Venus. Die Erforschung der antiken Erotik von der Renaissance bis zur Sexuellen Revolution. In: Peter Mauritsch (Hg.): Aspekte antiker Prostitution. Graz 2013, S.11-40, Abb.8a, 8b, 9 auf S.38-40. 72 http://www.erotisch-museum.nl/ – Das Museum verfügt über eine Sammlung Fotografien, Porzellan, Figuren, Teller, Waffen zum Thema Sexualität. Von der griechischen Antike bis in die Gegenwart wird der Blick auf das Thema gelenkt. Dabei tragen die einzelnen Räume Namen wie Mata Hari, Marquis de Sade, Rudolf Valentino, Oscar Wilde, Marquise de Pompadour. 73 Es veranschaulicht die Geschichte des Kondoms anhand von rund 300 Exponaten – angesiedelt auf 100 m² im Gewölbe eines Erotikfachgeschäfts „Liebenswert – feminine Lebensart“, siehe: http:// www.wien.info/de/sightseeing/sehenswuerdigkeiten/a-f/condomi-museum 74 http://gesund.co.at/museum-fuer-verhuetung-und-schwangerschaftsabbruch-geschichte-dersexualitaet-26061/ 75 Die Geschichte, Entwicklung und kulturelle Bedeutung der menschlichen Sexualität wird anhand von 25.000 Objekten in ständig wechselnden Ausstellungen illustriert, siehe: http://www.museumofsex.com/ 76 Auf den Umgang von Sexualität in der (modernen) Kunst kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.

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rinnen und -besuchern angeregt.77 In der langen Geschichte der Sonderausstellungen kam es erstmals zu schriftlichen Einträgen zu einer Ausstellung, wobei ein Besucher seinem Ärger freien Lauf ließ: „Ich finde die derzeit im Uni-Foyer aushängenden Plakate zur Ausstellung ‚primitiv und pervers‘. Bitte suchen Sie Ihre Aussteller in Zukunft sorgfältiger aus.“ Dieser Eintrag blieb nicht unwidersprochen: „Die Hetärenausstellung ist sehr gut und überlegt gestaltet und eine sympathische Erfrischung (sind die Texte) für Lernpausen. Zu 16.3.!! Bitte was ist in dieser Ausstellung pervers. Der Bericht darüber?“ Die Universitätsbibliothek entgegnete auf die Beschwerde: „Wie andere UB-BenutzerInnen kann ich Ihre Meinung überhaupt nicht teilen [...] und es wird für mich nicht infrage kommen hier eine Art Zensur auszuüben. Sie sollten sich ernsthafte Sorgen über ihr Geschichtsbild und noch ein paar andere Dinge machen.“

Abb.9 Archäologische Sammlungen der Universität Graz, Abgusssammlung.

XI. NACHNUTZUNG

Eine breite Öffentlichkeit hatte im Rahmen der „Langen Nacht der Museen“ und der „Langen Nacht des Denkmals“ die Chance, die Hetären in einer neuen Umgebung zu studieren. Die Ausstellung wanderte in die Archäologischen Sammlungen der Universität Graz am Institut für Archäologie. Hier sorgten die Hetären drei Monate lang zwischen Gipsabgüssen für einen farbigen Akzent, 77

Reaktionen, weder negative noch positive, auf die Ausstellungen gab es, abgesehen von vereinzelten Rückmeldungen, dass zu wenig Ruhe herrsche, um die Exponate in Ruhe zu studieren, in der langen Geschichte so gut wie nie, wie Frau Bergner, die Verantwortliche für die Sonderausstellungen, mitteilte. Gezielte Besucherinnen- und Besucherbefragungen und Evaluierungen der Ausstellungen fanden nicht statt.

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wobei Statuen von Aphrodite und Venus eine neue Inszenierungsmöglichkeit boten. Nachdem die Ausstellung in Graz sehr gute Resonanz und auch in der heimischen Presse Beachtung gefunden hatte,78 wurde sie im ATRIUM, dem Zentrum für Alte Kulturen, der Leopold-Franzens Universität Innsbruck gezeigt. Man baute für die schwarzen Ausstellungstafeln eigene Konstruktionen und erweiterte die Ausstellung durch Roll-ups mit zusätzlichen Informationen, die in Lehrveranstaltungen mit Studierenden erarbeiteten worden waren,79 wobei man bemüht war, die optische Anmutung der Ausstellung zu imitieren. Gipsabgüsse von Philosophenköpfen und Aphroditestatuen bereicherten die Ausstellung. Der Ausstellungsraum im Atrium verfügt über eine lange Glasfront, wodurch die Ausstellung von der Straße einsehbar war und so auch Blicke von Personen außerhalb des Hochschulkontexts auf sich zog.

Abb.10a u. b Erweiterte Ausstellung im ATRIUM, Zentrum für Alte Kulturen, Leopold-Franzens Universität Innsbruck.

VIERTER TEIL XII. PHANTASMAORGIEN / VORMUTUNGEN

Also: man kennt die Quellen, man kennt die bislang angestellten Vermutungen, die so oft im Brustton der Überzeugung als wissenschaftliche Erkenntnis vulgo Wahrheit verkündet werden. Aber: reicht das, um ein Bild zu zeichnen? Ein Bild, 78 So z.B. Martin Walpot: Wie Athener finanziell ruiniert wurden. Die antike griechische Hautevolee leistete sich zur Unterhaltung teils hoch bezahlte Hetären. In: Die Presse vom 27.03.2010, abrufbar unter: http://diepresse.com/home/science/554492/Wie-Athener-finanziell-ruiniert-wurden?from=suche. intern.portal 79 Es entstand auch ein Katalog zum Thema Florian M. Müller/Veronika Sossau (Hg.): Gefährtinnen. Vom Umgang mit Prostitution in der griechischen Antike und Heute. (SPECTANDA, Schriften des Archäologischen Museums Innsbruck 1) Innsbruck 2012.

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das man guten Gewissens präsentieren kann, ein Bild mit gestochen scharfen Konturen – wenn im Hinterkopf die Warnung blinkt, dass über den Verlauf der Konturen mehr der Wille als das Wissen entscheidet? Lässt man die oben – nach bestem Wissen und Gewissen – zusammengetragenen Fakten Revue passieren, bleiben Antworten auf so einfach scheinende Fragen, wann, wo und wie die Hetäre auftritt, welche Art von Frau sie in der attischen Gesellschaft verkörpert, vage. Dennoch lenken sie die Blicke, vielleicht nicht ins Herz eines antiken Individuums, aber auf ein in vielen Köpfen aufgeführtes Schauspiel. Möglicherweise liest der Griechenbegeisterte mit Erstaunen das Loblied eines antiken Autors auf das Bordell in Athen. Und dies nicht nur, weil er erfährt, dass dessen Einrichtung einem besser als Wegbereiter der Demokratie bekannten Mann – Solon von Athen – verdankt wird (dazu auch oben S.228), sondern auch, weil die Vorzüge dieser Einrichtung mit der Beschreibung der dort arbeitenden Frauen drastisch vor Augen geführt werden: „Nackt stehn sie, keine Täuschung, alles sichtbar“ (Philemon FGrHist 271-271 F 9 = Ath. 13,569d). In diesem Zusammenhang kann die Erinnerung daran auftauchen, dass die Griechen für einen ungezwungenen Umgang mit der Nacktheit bekannt sind: Knaben betrieben nackt Körperertüchtigung im deshalb sogenannten Gymnasium (die heute so bezeichnete Institution hat nicht zuletzt deshalb wenig mit der antiken gemein). Nackte Statuen, die erst von prüden christlichen Kunstliebhabern banausisch körpermittig mit Efeu bekränzt wurden, waren an öffentlichen Plätzen und in Heiligtümern aufgestellt. Frauen hinwiederum als Großplastiken nackt darzustellen, begannen die Künstler erst einige Zeit später, wohl erst im 5. Jh. v. Chr. Schwellende Formen wurden bei unbekleideter Darstellung allerdings vermieden, sowohl primäre (männliche) als auch sekundäre (weibliche) Geschlechtsmerkmale wurden dezent gehalten (anders die sinnlichen Wölbungen weiblicher Körper, wenn sie mit Stoff bedeckt waren, oder die erigierten Penisse auf Vasenbildern). Die wenigen Blicke genügen, um eine komplexe und ausdifferenzierte Ordnung in Kern- und Randbereichen der Sexualität erkennen zu lassen. Die Berücksichtigung der Konventionen zeigt deutlich, dass wir Inszenierungen vor uns haben, die keineswegs zufällig sind: Die Erziehung der Knaben, die personifizierte Zukunft der Polis, wird mitnichten Zufälligkeiten überlassen, sondern ist ständiger Korrektur unterworfen, von den besten Köpfen durch- und ausgedacht und strengster gesellschaftlicher Kontrolle unterworfen. Und Statuen? – in einer Polis wie Athen sind für die Aufstellung von Statuen im öffentlichen Raum strikte Vorgaben der Gemeinschaft zu berücksichtigen. Erkennbar wird auch, wie schwierig es ist, sich stets der antiken Blicke bewusst zu sein und sie von den eigenen zu isolieren. Das Problem ist noch nicht gelöst: Was intendierte der antike Autor, was die moderne Interpretation, und wie weit

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darf sie in ihrer Deutung über die Intention des Autors hinausgehen und die Informationen im Text um- oder neugestalten? Darf man immer von unbewusst mitgelieferten Informationen beim antiken Autor ausgehen? Am Beispiel Raum: Für unterschiedliche Orte galten unterschiedliche Normierungen, einerseits, ob bzw. wie sie in Reden über Sexualität vorkommen, andererseits, ob Sexualität in ihnen vorkommt. Gesetzgebende Gremien versammelten sich an unterschiedlichen Orten, durch ihre Anwesenheit wurde ein Raum definiert – und an diesen Orten wurde auch über Sexualität gesprochen. Unter anderem konnte es darum gehen, erlaubte von nicht-erlaubter Prostitution zu unterscheiden. Solons oben erwähntes Gesetz betreffend die Vermietung von freien Knaben und Frauen als Prostituierte zu Erwerbszwecken war mit den darauf stehenden Strafen öffentlich auf drehbaren Holzachsen aufgestellt. Mit einem anderen von ihm erlassenen Gesetz mischte sich der Gesetzgeber ins eheliche Sexualleben; er habe, so heißt es, angeordnet, „man solle nicht weniger als dreimal im Monat mit seiner Frau verkehren“ (Solon F 51 b Ruschenbusch = Plut. mor. 769A). In öffentlich zugänglichen Gerichtsverhandlungen konnte es darum gehen, ob eine Frau eine Prostituierte oder eine ehrbare Frau war (näheres oben Anm.15). In den gut besuchten Theatern (das Dionysostheater in Athen fasste ca. 17.000 Zuschauer bei einer Stadtbevölkerung von ca. 100.000120.00080) werden die sexuellen Vorlieben von Politikern durchgehechelt, wie die des Perikles für die Aspasia (siehe oben). Die Historizität dieser Anschuldigungen muss hier nicht bewiesen werden, ebenso wenig wie die des Solon zugeschriebenen Gesetzes. Als unzweifelhafte historische Realität bleibt die Existenz eines Hauses von Perikles, und dass es real als Bezugspunkt für die Verortung imaginärer sexueller Vorstellungen in einem realen – wenngleich nicht notwendigerweise realistischen – Diskurs diente. Auch anderen Orten wurde sexuelles Geschehen dezidiert zugeschrieben: Quellen und Brunnen, an denen junge Mädchen Wasser schöpften, galten als für Vergewaltigungen geeignete Orte; die nach Tunlichkeit gemiedene Wildnis – Wälder, Berge und Schluchten – war Schauplatz der Umzüge zu Ehren des Rauschgottes Dionysos und galt als Ort ekstatischen Treibens der Bakchen, sexuelle Handlungen inklusive (der vom Gott aus dem Osten gebrachte Wein spielte dabei als enthemmender Trunk eine wichtige Rolle). Doch auch hier gilt es zu bedenken, dass die „Beschreibung“ der Handlungen eine bloße Zuschreibung ist und kein vor einem Gericht beeideter Augenzeugenbericht. Außer einzelnen Gegenden konnten auch ganze Städte „sexualisiert“ werden, wie z.B. Korinth, das berühmt war für die unerschöpfliche Anzahl 80

Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie. 4. Aufl. Paderborn u.a. 1995, S.100; inkludiert sind in dieser Zahl allerdings auch Kinder, für die kein Theaterbesuch nachgewiesen ist, und Frauen, für die er umstritten ist.

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seiner Prostituierten, und dessen Name geradezu als Synonym für Bordell eingesetzt werden konnte, vergleichbar etwa Hamburgs St. Pauli im 20. Jahrhundert. Neben den Plätzen/Orten, an denen mit einem erhöhten Sexualitätsaufkommen – in Rede oder Tat – zu rechnen ist, gibt es auch an Individuen Zeichen mit Signalwirkung: Nacktheit steht in engem Konnex mit Sexualität, ihr ist deshalb auch nur ein engbegrenzter Erscheinungsspielraum gewährt; außerhalb dieser erlaubten Zonen gilt sie als Zeichen der Erniedrigung, der Schande, zugleich als Ausdruck der Gefährdung: Die Knaben in den Gymnasien sind vor zudringlichen Blicken lüsterner Greise nicht sicher, bei denen sogar der Anblick eines Gesäßabdrucks im Sand unreine Begierden erwecken konnte.81 Frauen rächen sich, wenn die private Intimsphäre beim Bad oder im Schlafzimmer nicht gewährleistet ist: Die Göttin Artemis verwandelt Aktaion, der sie beim Bad beobachtet, in einen Hirsch, der in der Folge von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird.82 Kandaules ermöglicht aus Stolz auf die Schönheit seiner Frau dem Gyges, sie im Schlafgemach nackt zu sehen; als sie den unerwünschten Bewunderer ihrer Nacktheit bemerkt, stellt sie ihn vor die Wahl, entweder Kandaules zu töten oder selbst mit dem Tod bestraft zu werden.83 Prostituierte wiederum zeigen sich entweder völlig nackt – wenn auch beschränkt auf Nähe zum Bordell –, oder aber sie tragen Kleidung, mit der sie sich bewusst von den „anständigen“ Mädchen und Frauen unterscheiden, sie schminken sich oder tragen Schuhe, mit deren Sohlen sie die Worte „Folge mir!“ in den Straßenstaub drücken.84 Sie bemühen sich, eine Aura der Sexualität um sich zu verbreiten. Die Einstellung ist also personen- und situationsabhängig sowie – selbstverständlich – zeitbedingt. Mit oder ohne wissenschaftlichem Hintergrundwissen: Die Formung des antiken Lebens durch Gesetze und andere Arten der Normung, die weitere Überformung dieser Erlebenswelt in den uns erhaltenen Quellen durch die Vorgaben literarischer oder anderer Genres (in der Antike) sowie die zusätzlichen, durch Konventionen der Wissenschaftlichkeit (in der Gegenwart) bedingte Veränderungen, erkennen an dem Thema Interessierte. Die Inszenierung all dieser von einem geschehenden „Sex“ schon weit entfernten Aussagen in einer Ausstellung an einem per se sexfremden Ort, ist der nächste Schritt weg von der ursprünglichen Handlungswelt hin zu einem neuen Denkzusammenhang. Wie dieser von einem Publikum rezipiert und jeweils für sich neu inszeniert wird, das sich in einer von Cybersex, ständiger Verfügbarkeit von Partnerangeboten, 81

Aristophanes, Die Wolken 973–978; vgl. zur Stelle Kenneth J. Dover: Homosexualität in der griechischen Antike. München 1983, S.112. 82 Kallimachos, Hymnos 5, 105ff.; Apollodoros, Bibliotheke 3, 4, 4. 83 Herodot 1,8-12. 84 Clemens von Alexandrien, Paidagogos 2, 11, 116. Erhalten ist eine alexandrinische Tonlampe in Form eines Schuhs mit der Aufschrift (ca. 2. oder 3. Jh. n. Chr., Musée du Louvre MNB 468).

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stets und überall anzutreffenden Sexualinszenierungen und vom Werbedogma „Sex sells“ dominierten Medienwelt bewegt, wissen wir nicht. Die Intention jedenfalls war, Nachdenken auch über die eigenen Wahrnehmungs- und Darstellungsgewohnheiten, z.B. in Bezug auf Sexualität, zu initiieren.

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RUDOLF HEINZ

ZUR FUNKTION DER REINSZENIERUNG „POLITISCHER URSZENEN“1 Es ist mir – wie sagt man gesittet? – eine Ehre, abermals vor Ihnen, den Szenografen, lieber noch: Szenologen, an deren Spitze den Herren Wilharm und Bohn – Dank für die Einladung (mitsamt deren Überschüssen)! –, gar mich selbstdarstellend vortragen zu dürfen. Abgesehen habe ich es, diesmal vordringlich, darauf, mögliche – supplementäre – Eingaben meiner psychoanalyseherkünftigen Pathophilosophie in Ihr Genre Szenentheorie geltend zu machen, ja, im Extrem, Desiderate Ihrerseits diesbetreffend, anmaßenderweise, zu reklamieren. Viel habe ich mir damit, wohl zu viel, pathophilosophisch abdriftig, vorgenommen, oft mußte es bei bloß anreißenden Problemmonita bleiben – aber „es ist ja noch nicht aller Tage – keine Szenologiedämmerung in Sicht – Abend“ –; vor allem aber war mir der gebührende Ausgleich zwischen vorherrschenden Theorieabhandlungen und narrativen Eigengeschichtsanschaulichkeiten – Wechsel des Kundgabegenres – kaum vergönnt (muß auch nicht sein). Lose Programmvorschau: – Urszene, genuin psychoanalytisch – Epidemischer Status: Traumataverdichtung – „Szenisches Verstehen“ (Lorenzer) – Konjunkturelle Allsimulation gleich universelle Hysterisierung – Posteriore Urszenen, politische – Homogenität des politischen Umfelds und individueller Symptomatik – Zweck der dramatischen Urszenenreproduktion (mit Folgeproblemen) – Absolvenzrevokationen – „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ – Signifikative Wahrheitsschwebe – Präsenzphantasma – Alternative Medialisierungen der politischen Urszene: gesamtkunstwerkliche Cineastik – Postmodernedilemma: „große Erzählung“ Imaginarisierung/Tauschwert – Nochmals: Homogenität der sozialen Peristatik und der Subjekteverfassung – Exilierung der Intellektualität – Fazit

URSZENE, GENUIN PSYCHOANALYTISCH

„Urszene“, im engeren psychoanalytischen Sinne, besagt die unzeitige Wahrnehmung des elterlichen Geschlechtsverkehrs durch das männliche Kind, den Sohn. Die Unzeitigkeit betrifft den traumatischen Umstand, dass das männliche Kind (partifiliarchale Zentralperspektive!), seinem Entwicklungsstand gemäß (so ca. zwischen zwei und drei Jahren, in der „analen Phase“), dieser seiner – meistenteils zufälligen, oftmals phantasieergänzten – Wahrnehmung nicht gewachsen ist, und entsprechend im Extrem zu pathologischen Überforderungsreaktionen neigt. 1 Vortragstext für das Symposium des Forschungsbereichs Szenografie der Fachhochschule Dortmund über „Inszenierung und Politik“ am 29.XI.2013. (Die spezifischen Schreibweisen des Autors wurden beibehalten; Anm. der Red.)

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Durchweg erscheint die „Urszene“ geprägt vom vorgestellten Terror sadomasochistischer koitaler männlich/väterlicher Gewalt der Mutterschändung. Nicht hat die herkömmliche Psychoanalyse besondere Sorge darum getragen, dieses Problemdickicht zu lichten, und mich daran zu begeben, kann hier auch nicht meine Aufgabe sein. Für die Kriterien des psychoanalytischen Urszenenbegriffs (und, eventuell für Szene überhaupt) sei deshalb jetzt nur markiert: Die nothafte infantile Wahrnehmungsverfälschung des elterlichen Geschlechtsverkehrs zu einer „sex- and crime“-Veranstaltung, die, womöglich traumatisch psychopathologieerzeugend nachwirkend, sich dem kindlichen Unbewussten als ein Verdrängtes zuschlägt. EPIDEMISCHER STATUS: TRAUMAVERDICHTUNG

Immerhin – vielleicht könnte Ihre, der Szenografen und -logen, Szenenpassioniertheit sich Urszenenverwerfungen verschulden!? Vorsicht aber, wenn ein „Ur…“ aufkommt! Nicht nämlich macht die „Urszene“ einen verfügungsverheißenden Kausalitätszusammenhang aus, vielmehr die gedächtnisprägnante Verdichtung unversammelter, unsortierter, desintegrierter Traumaelemente. „Urszene“ = frühe nachwirkende Traumatakompression. „SZENISCHES VERSTEHEN“ (LORENZER)

À part sei hier noch erinnert an Alfred Lorenzer, des spätfreudomarxistischen Psychoanalytikers der „Kritischen Theorie“ Konzept des „szenischen Verstehens“, das für Sie durchaus relevant sein könnte, so Sie sich in die entsprechenden szenischen Niederungen begäben. „Szenisches Verstehen“ zweckt ab auf die Rekonstruktion intersubjektiv traumatischer, deshalb unbewusst gemachter und gehaltener Situationen in offen-sichtliche Szenarien. Profit für den Szenenbegriff: deren Vorstellungscharakter, das Vor-sich-hin-stellen, psychoanalytisch: das „Bewusstmachen des Unbewussten“. Szene wird so zum Inbegriff von Repräsentation, allzeit durch das Absinken des Repräsentierten ins „Unbewusste“ gefährdet, zumal nicht mehr und nicht weniger als Re-präsentation … KONJUNKTURELLE ALLSIMULATION GLEICH UNIVERSELLE HYSTERISIERUNG

Geraume Zeit schon anmutet die Gattungsleidenschaft der auf unschuldige Bemächtigung abzielenden Imaginarisierung, Signatur unserer medienverseuchten Epoche, wie eine Selbstverständlichkeit. Unanstößig entsprechend – so meine Kurzzeiterinnerung – die wunderbare geldverschlingende Computervermehrung ringsherum, gleich einer angelischen Friedensinvasion. Fragten Sie nun nach den Gründen dieser inflationären Leidenschaft, unserer einzigen Revolution, ja Revolution, so konsultieren Sie dafür bitte die Hysterie, falls von ihr überhaupt noch etwas übriggeblieben sein sollte, und Sie anlangten bei deren

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überaus verführerischen Mächtigkeit, die tief bis in die Anfänge der Psychoanalyse zurückreicht – beim visuellen Als-ob, der Theatralisierung eines jeglichen, der trügerischen Verflüchtigung (Sublimation!) realer Gewalt. Unverzichtbar die szenologische Befassung mit Hysterie! Wie steht es darum bei Ihnen? Die im Lateinischen pejorative Nebenbedeutungen von „scaena“ konservieren einige noch von deren hysterischen (neuerdings histrionischen) Grund­ verfassung: „scaena“ – „Prunk“ (zu dick aufgetragener Glamour), ferner: „abgekartete Sache, Komödie“ (Vorspiegelung falscher Tatsachen, durchsichtiges Betrugsunternehmen). Nicht zuletzt instruktiv auch die geläufigen Hauptbedeu­ tungen von „scaena“: „Bühne, Theater; lichter Platz, Schauspiel, Publikum, Welt“. POSTERIORE URSZENEN, POLITISCHE

Aber – ich beeile mich – es sollte doch von „politischen Urszenen“ die aufschließende Rede sein? Der dabei fällige Urszenenbegriff – außerdem der Literaturwissenschaft entlehnt – ist jedoch derart weit von seinem psychoanalytischen Ursprung entfernt, dass dieser sich bis auf seine allgemeinen Merkmale: gedächtnisimprägnierende Traumataversammlung und -verdichtung verliert. Und die „Politizität“ solcher Urszenen? Politik meint hier das gesamtgesellschaftliche Determinantengefüge, das mich, je den kollektivierten Einzelnen, in seinen Allsog hineinzwingt, und bis in die Haarspitzen hinauf epidemisiert. HOMOGENITÄT DES POLITISCHEN UMFELDES UND INDIVIDUELLER SYMPTOMATIK

Erlauben Sie mir nun die zweifelhafte Gunst von Kriegszeiten auszuschlachten, sofern solche Epochen ja alle urszenenkonstitutiven Traumata auf ihre Spitzen zu treiben nicht umhinkommen, und entsprechende Szenenausschnitte – Genrewechsel! – nach der Maßgabe meiner fortwährenden Konsternation auszuwählen. Ich übernehme dabei Teile einer Urszenenauswahl aus einem neuerlichen Diskussionskontext, den ich auf Einlassungen zu „Kriegsödipus – mein Ödipuskomplex in Kriegs(auch Friedens)zeiten“ und damit schwerpunktmäßig auf das Vater-Sohnverhältnis im „Zweiten Weltkrieg“ sowie in der Zeit kurz danach engführte; engführte auf die besonderen Auswirkungen der „geschlagenen Väter“ in den vaterverlassenen Söhnen; und dies in der jetzigen Absicht, mich immer noch gegen die psychoanalytische Unsitte zu verwahren, die handgreifliche reale Degradierung der Soldatenväter in eine grotesk überwertige reaktionsbildungsbedingte Sohneseinbildung bloß, in einen zutiefst ödipalen verstellten grandiosen Rettungsillusionismus, umzumodeln. Kurz zu letzterem ein Eigenzitat: Auf das Sichverschlingen von „Politik und Charakter“ zu pochen, bereitete mir zumal in meiner psychoanalytischen Ausbildung Ungemach: wurde billigerweise als „Widerstand“ bestraft – ich, größenwahnsinniger Sohn, maße mir an, meinen geschlagenen Vater mit

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meinem politischen Engagement zu rehabilitieren. Also wurde dieses, mein angebliches Engagement, übertrieben (ich schwenkte die „rote Fahne“), die realexistierende Entwürdigung meines Vaters gar angezweifelt, und ich zum einzigen Lastenträger aller Verschuldung gedeckelt, so als ob ich, armes Söhnlein, die ganze Schuld des Krieges tragen müsse! Wogegen ich damals wider meine psychoanalytischen Scharfrichter ebenso wütend wie vergeblich aufbegehrte („Die Anderen sind eben stärker“ – Beckett).2

Ich streife diese – mich bis heute verfolgenden – Misshelligkeiten, die innerpsychoanalytisch in den frühen, zwischendurch wiederauferlegten Kontroversen um den Missbrauchsstatus – real oder fantasiert? – ihren Niederschlag fanden, weil hier eine für Sie relevante szenologische Einlassstelle aufkommt – man kann doch wissen, warum die entschuldungssüchtige Favorisierung bloßer Fantasie überwiegt: sie verheißt Regie, unschuldige Regie; nur dass dieser on dit dispositionssichernde Traum an der Kriegsrealität zerschellt? Vorschlag: die Traumataabschwächung durch bloße Einbildung, die – unfall-, kriegsprovokante – Imaginarisierung, Somnialisierung/Verträumung zu nennen. Womit ich Ihnen – neben der Hysterie, und auch Ihrer Prägung durch Urszenenprobleme? – eine weitere von der Psychoanalyse herrührende Hypothek aufhalse?! Nun endlich zu den „politischen Urszenen“; zunächst zu deren Umfeld, konzentriert auf mein kriegsgezeichnet ödipales Verhältnis zum Vater. Das mag für Sie – ich bitte um Nachsicht – jetzt anders strapaziös werden können: des Genrewechsels von hochgezüchteter Privathistorie wegen, die spezielle Geschichtskenntnisse voraussetzt. Also zum besagten Umfeld: Mein Vater stammt aus der vorderen Eifel, aus ärmlichen, nicht bäuerlichen Verhältnissen; wuchs mit vier älteren Schwestern und einem Nachzüglerbruder auf. Sein Vater, mein Großvater, arbeitete als ungelernter Stationswart und nächtlicher Botengänger in einem kleinen Bahnhof, Philippsheim, zwischen Trier und Bitburg gelegen. Da die Mittel für eine höhere Schulausbildung fehlten, wurde er „Unteroffiziervorschüler“, also potenzieller Berufssoldat. Als solcher nahm er, niedrigrangig, leicht verwundet, am „Ersten Weltkrieg“ teil. Nach dem schmählichen Kriegsende kam er, nach väterlicher Tradition, in der mittleren Laufbahn als Eisenbahner unter. Und so nahm denn das Verhängnis seinen Lauf: Während der „Rheinlandregie“ zwang ihn die Besatzermacht Frankreich zur Mitarbeit. Hätte er sie verweigert, so drohte die Konfiszierung seines Elternhauses, des einzigen Besitzes seiner Stammfamilie. Und also, „pius Aeneas“ – die Eltern alt und krank, die Geschwister dann ohne Unterkunft –, kollaborierte er mit dem Erzfeind, und dies mit verheerenden Folgen. Denn die Nazis setzten meinen Vater, Vaterlandsverräter, wegen seiner erpressten Kollaboration mit den Besatzerfranzosen zur 2

Rudolf Heinz: Psychoanalyse und Gesellschaft I. In: Ders.: Pathognostische Studien XIII. Der Pathophilosophie endliches Provisorium. (Genealogica Bd. 47) Essen 2014, S.132-139.

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Abb.1 Theo Heinz, geb. 1893 · gest. 1965.

Zeit der „Rheinlandregie“, auf die Straße. Fortan arbeitete er für einen Hungerlohn, als Erdbeerpflücker, bis sein dauergekrümmter Rücken ihm den Dienst versagte, und er in der lokalen Autofirma als Hilfsarbeiter, der allgemeinen pflichtgemäßen Ächtung entgegen, Aufnahme fand. Welchem Unterschlupf er später dadurch seinen Dank abstattete, dass er ebendort, zur Verwunderung des Ortes, sich, unbezahlt, als Tankwart nützlich macht. Und meine Mutter half damals, gegen die ökonomische Misere, aus, indem sie als – gelernte – Schneiderin, nicht ohne Erfolg, mittat. Außerdem: Die Sanktion der Nazis setzten sich dergestalt fort, dass der Vater, jenseits schon der Altersgrenze, rekrutiert werden zu können, anstelle eines jüngeren nazibeflissenen Manns aus dem Ort, zum Kriegsdienst verpflichtet wurde. Unbestreitbar befand sich mein Vater, wieder Soldat, schließlich Oberfeldwebel – das Militär als Refugium für manchen politisch zweifelhaften Zeitgenossen! – , in seinem – allerdings allzeit lebensbedrohlichen – Element. Knapp kam er, kamen oftmals auch wir, Mutter, ältere Schwester und ich, noch und noch „Urszenen“ hinterlassend, mit dem Leben davon. Ich springe jetzt in die jüngste Nachkriegszeit, in diejenige gipfelnde „Urszene“, auf die ich es abgesehen habe, nämlich betreffend die Rückkehr des

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blind- und auch todgesagten Vaters. Wir, Mutter und ich, stahlen aus Einmannunterständen, auf einem umbepflanzten Feld namens „Sabel“, unweit des Ortes, die Mangelware Holz. Als uns von ferne ein hagerer Mann zuwinkte, glaubten wir uns erwischt und setzten zu fliehen an. Ich aber erkannte fulminös den Vater, und lief, durch Brennnesseln, Sträucher, Stacheldraht, auf ihn, in verschlissener schmutziger Soldatenkleidung fast bis aufs Skelett abgemagert, zu. Von da an versiegen die Erinnerungen; sie erschöpfen sich im Stolz über seinen ersten ortsnotorischen Rekonziliationsakt: Demonstrativ ging er auf den zu Säuberungsarbeit verurteilten Ex-„Ortsgruppenleiter“, am Straßenrand, zu, und begrüßte ihn, den halbwegs verfemten, herzlich; der (er war nicht der schlimmsten einer), immerhin, obzwar in SA-Uniform, die Sonntagsmesse, besuchte, und, vergeblich, Wert darauf legte, das sozialistische Köderelement im Nationalsozialismus, blauäugig ehrlich, aufrechtzuerhalten. Tags zuvor hatte die Mutter die zivilen Schuhe des Vaters eingefettet. Und ich nahm, nicht zuletzt, eifrig an seiner, des überaus geschwächten, Kurierung teil; insbesondere, dubioserweise aber, seinen enormen Rauchhunger stillend, indem ich in unserem Garten Tabak anbaute und verarbeitete, den er, in Zeitungspapier eingewickelt, gierig konsumierte. Und auch, indem ich auf ein vorsorglich angelegtes Magazin an edlerem Kippentabak, zur Zeit der verschwenderischen amerikanischen Besatzung erjagt, rückgriff (!). Und zum familienobligaten Pik auf die Franzosen zugesellte sich ein nachhaltiges Ressentiment gegen die Amerikaner, die ja den Vater, in dem berüchtigten Gefangenenlager auf den Andernacher Rheinwiesen, unter Prügel (und weiteren Untaten mehr), beim Wasserholen, zu Schanden kommen ließen. Nur dass meine Sonderfürsorge den durchaus dankbaren Vater nicht, mich schleichend enttäuschend, dazu bewegen konnte, sohnesgemäße Unternehmungen – etwa gemeinsames Schwimmen in der Mosel – mit mir einzugehen. ZWECK DER DRAMATISCHEN URSZENENREPRODUKTION (MIT FOLGEPROBLEMEN)

Gemäß meinem Vortragstitel gilt jetzt die Frage nach der „Funktion der Reinszenierung von ‚politischen Urszenen‘“, also die Frage nach dem Zweck der medialen Reproduktion solcher – das besagte gedächtnisprägnante Ereignis, die Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, habe ich ja in sprachschriftlicher Form wiedergegeben und Ihnen auf diese Weise mitgeteilt. Weshalb ich dieses tat? Das ist die Frage nach der besagten Funktion, die nicht ohne den Rekurs auf die Reinszenierungs-, die Reproduktionstriftigkeit der betreffenden Urszene in inhaltlichem Betracht – was genau darin ist in meinem Gedächtnis, zur Äußerung drängend, haften geblieben, was hat mich bis heute bewegt? –, beantwortet werden kann. Der Akzent aber liegt hier nicht auf diesen, den Urszeneninhalten, vielmehr auf dem Zweck deren Darstellung: sie, medialisiert, zu erinnern.

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Nur im Extrem wird man, zum Zweck vollständiger Erklärung eines solchen Erinnerungsdramas, nicht auf vorausgehende selbst schon urszenenhafte Traumata angewiesen sein. Sofern das betreffende Ereignis als „Urszene“ überhaupt greifen kann, muss es, durchweg, auf dafür bereits vorbereiteten Boden fallen. Die „Urszene“ geschieht mir zwar, überfällt mich nachgerade, setzt aber eine Mitgift an Eigenbeteiligung, an eigenem in der Lebensgeschichte vorabgebildetem Entgegenkommen, voraus; das, ebenso – inhaltliche im Zusammenhang des „Ödipuskomplexes“ (Vaterausfall!) – zu recherchieren ansteht. Je nach dem traumatischen Stärkegrad der Signifikationsnötigung, des „Drängens des Buchstabens aus dem Unbewußten“ (Lacan), macht das – oft langwierige – Stadium davor, vor der Urszenenreproduktion expressis verbis, durchaus Pein: vage Fragmente derselben, die in meinem agitierten Gemüt herumgeistern, halbblind zerstreute Buchstaben, die unablässig darin rumoren – vorbewusst überschwemmt bin ich, konturlos affektioniert im Dämmerlicht leidendlicher Vatersehnsucht, appellierend das befreiende Abschütteln in Bezeichnungen, entfremdend eignende Sturzgeburt – endlich! – der gelichteten Vor-stellung. ABSOLVENZREVOKATIONEN

Alles demnach spricht dafür, diese inneren Kalamitäten, die Aussetzung des „Bewusstmachens des Unbewussten“, in deren ordentliche medialisierte Repräsentationen zu absolvieren. Ja, unbedingt – wir ersticken sonst in unserem interiorem Buchstabengewirr, das von sich her doch ans versammelnde und aufklärende Licht drängt! Vorsicht aber, Vorsicht! Denn, so erging es mir während meiner Urszenenschreibe: Die medial sprachschriftliche distanzierende Sinneinsperrung pflegte, mich quasi rückvergiftend, bis hin zum beinahe halluzinativen Gespenst der „lebendigen Vergangenheit“, porös zu werden, so als ob alle weiße Magie zünftiger Namensgebung versagte. Selbst bei wiederholter Lektüre meiner eigenen Urszenentexte schwappten deren sprachschriftlich doch gestalteten Affekte auf mich derangierend wiederüber; ohne aber, dass sich, in diesem Rückbefall der Erinnerungsniederschläge, die wieder affektentlassende Schriftform – das wäre die Gedächtniskatastrophe schlechthin – imaginär (und wenn real?) auflöste. Wie könnte man solche pathogene Regression nennen? „ERINNERN, WIEDERHOLEN, DURCHARBEITEN“

Anempfohlen in diesem Theoriezusammenhang sei Ihnen noch die Freud’sche Trias „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Die erlittenen „Urszenen“ fordern, ihrer Traumatik wegen, abgelöst, gestellt (= „Erinnern“) und benamst (= „Durcharbeiten“) zu werden. Je aber nach dem relativ traumatischen Schweregrad kann es geschehen, dass dieses Freiheitsunterfangen (Absolvenz!), sei es vorübergehend oder auf Dauer, sei es in Teilen oder im Ganzen, blockiert erscheint und es zu einem blinden „acting out“, dem „Wiederholen“, kommt. – Soweit die szenolo-

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gisch wohl nutzbare Gunst dieses prominenten Freud’schen Dreigespanns; worin das Sichquerstellen des „Wiederholens“ der besonderen Beachtung insofern wert sein sollte, als die reinszenatorisch mediale Übersetzung von „Urszenen“ mitnichten reibungslos vonstattengehen muss (Außerdem: Von der Psychoanalyse her haftet dem Begriff der Szene, zumal der Inszenierung, eben dieser Makel des „Wiederholens“ an – „Sie macht mir eine Szene …“). SIGNIFIKATIVE WAHRHEITSSCHWEBE

Ich komme nun nicht umhin, Ihnen weitere – gar weitergehende – Unsicherheiten im Zusammenhang des „Durcharbeitens“ zuzumuten. So die folgende prinzipielle, nämlich: Der Wahrheitstest meiner medialen sprachwissenschaftlichen Urszenenreinszenierung an den vorgegebenen Widerfahrnissen meiner politischen „Urszene“ selbst als solchen muss endgültig entfallen. Unvergönnt jegliches sogenanntes „transzendentales Signifikat“, eine Berufungsinstanz der Wahrheit des mental Re-produzierten, gemessen an dessen empirischer Vorgabe. Nein, die betreffenden Signifikanten verweisen immer nur auf weitere vor- und nach-läufige Signifikanten, sodass ein unauffüllbarer Maß-losigkeitsabgrund aller Wahrheitssicherung aufklafft. Wahrheit, Sachzutreffen, hängt demnach frei in der Luft – wir müssen uns nach anderen Wahrheitskriterien umsehen als nach dem der unmittelbaren Einsicht in die Übereinstimmung der Aussage mit ihrem Ausgesagten. PRÄSENZPHANTASMA

Und darüber hinaus sind wir unabweislich geschlagen vom – vergeblichen – Korrekturansinnen der Versuchungen des „Präsenzphantasmas“, will sagen: Unsere Absolutheitspassion lässt uns nicht eher ruhen und rasten, bis wir alle Re-präsentationen, alle Nachträglichkeit, einzig ja der Welthabe talentiert, in die fruchtbarste Pseudologie schierer Präsenz umgewandelt haben, in „Erlebte Geschichten“ (WDR 5, sonntags von 7.00 bis 7.30 Uhr), im präsenzphantasmatisch pathologischen Extrem die der Außenmedialisierung unbedürftigen Halluzination des Erinnerten. Bemerkenswert, dass, ob dieser unserer historiegenerischen Präsenzversessenheit (mit ihrer oberflächlichen Sensualitätsbevorzugung des Sehens), der Unterschied zwischen „Urszene“ und „Urszenenreinszenierung“ nachgerade verwischt, beider Indifferenz unterläuft – so passioniert machen wir Jagd auf allen Vergangenheitsentzug, immer auch konnotiert mit metaphysischer Ursprungssuche, dass wir die elementarsten epidemischen Differenzen vergessen. ALTERNATIVE MEDIALISIERUNG DER POLITISCHEN URSZENEN: GESAMTKUNSTWERKLICHE CINEASTIK

Nun zur Medienfrage selbst. Fast hätte es mich gelüstet, Ihnen, den Designstudenten, eine Art Preisausschreiben anzubieten, folgerichtig wohl nach der Maß-

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gabe einer irgend filmischen Inszenierung meiner – bloß ja sprachschriftlich vorgestellten – „Urszene“. Mir, dem puren Laien diesbetreffend, kamen dazu etwa in den Sinn: die Dokusoap (Fehlanzeige aber speziell realhistorischer Filmausschnitte); oder eine Art mir besonders naheliegende Kurzoper, in der die filmisch übliche „musique de fond“ („Soundtrack“) ausdrücklich hervorträte? … Zuviel aber so des Medialisierungsaufwands für eine doch recht persönliche Urszenenangelegenheit? Mehr aber noch: Ich müsste die Brechung des gesamtkunstwerklich überzogenen Präsenzphantasmas als kein von außen eingebrachtes Element reklamieren. Wie könnte das geschehen? POSTMODERNEDILEMMA: „GROSSE ERZÄHLUNG“ IMAGINARISIERUNG/TAUSCHWERT

Nun, das scheint in der Abdankung der „großen Erzählungen“, dem Inbegriff der Postmodernegunst, längst geschehen: nämlich mindest in der Ermäßigung der präsenzphantasmatischen allzeit unheilgebärenden Verkennungen? Mitnichten! Denn in das Sinnvakuum danach schoss auf der Stelle die epochale Megaerzählung: die schuldbefreite Regie verheißende Allimaginarisierung – ich wiederhole mich –, die wie wiedergeburtliche ubiquitäre Simulatorik. Und „aus der Traum“, unter dem Strich die global ihre Flügel spreizende, rigide dinggewordene „Abendländische Metaphysik“ zu entlassen, nein, ihr „les adieux“ führt nur vom alten, ehrlich materialischen Land- und Gewitter„regen“ in die göttlich hyperreale Simulakren„traufe“, endzeitlich harrend des noch „größeren“ überlaufenden weltumfangenen „Fasses“ des „Neuen Himmels und der Neuen Erde“ – als Weltenbrand, Apokalypse. NOCHMALS: HOMOGENITÄT DER SOZIALEN PERISTATIK UND DER SUBJEKTVERFASSUNG

Das sagte ich mehrmals schon: Meine sprachschriftlich eingegrenzten Urszenenreproduktionen bezwecken den Abtrag kriegsimprägnierter Traumata, und dies mit voller Sicht auf die Invasion martialischer Objektivitäten in die Schändung der soldatischen Sohneskörper. Politizitätsexpansion bis in die Haarspitzen hinauf, deren Nach-stellung darauf abzielt, die Separation der subjektiven Notbelange von der sozialen Makroperistatik zu konterkarieren – der Kriegsfall selbst kommt dem entgegen. Auf dem Spiel steht demnach der Nachweis der Gleich­ ursprünglichkeit, der Homogenität beider, der notwendigen Mehr-als-Ergänzung der herkömmlichen Psychoanalyse zu einer solchen der „Sachen“.– Maßgabe dafür: Je zwingender der Ausgriff auf gesellschaftliche (Kriegs)objektivität, umso erforderlicher dann der Verfolg bis in die Untiefen der Psychophysiologie der Betroffenen. Und, übergeordnet, die Wahrung bitte der traumatisierenden Realien wider deren imaginäres „appeasement“.

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EXILIERUNG DER INTELLEKTUALITÄT

Zur Publizität meiner Urszenenreinszenierungen, der Teilnahme an der „Entprivatisierung des Privaten“. Anfängliches Erschrecken über mich selbst, indem ich mich des traditionsreichen, längst jedoch überholten Vermittlungsmodus Sprachschrift zur Selbstkundgabe bediene, setze ich Interessenbesetzungen eines Lesepublikums an meiner konfessionalen eigenkathartischen Schreibe voraus, leiste mir also eine durch und durch törichte Zugehörigkeitsunterstellung, die ich dann reaktiv durch ein Mich-in-mich-quasi-esoterisches-Hineinverkriechen abzuwenden suche. Stolz aber bin ich über diesen – Verletzungen vorbeugenden – Rückzug zwar nicht, kann nichtsdestotrotz aber wissen und verbreiten, dass meine Selbstwahrung in solcher Selbstverschließung enden muss – wider alle exhibitive Schamlosigkeit, die allgemeine „Facebook“-Prostitution, das allindifferenzierende Sichzuschaustellen. Ja, wen schon interessieren diese meine von weit her nachhallend verhallenden Exnöte, die mich, ungehört – wie von Ihnen hier wohl vernommen? – diffus entprivatisieren. Und ich halte mir in den Brouillerien, den medialen Weltenstraßenlärm ringsherum, die Ohren zu, und stürze in die Untiefe meines unerlösten, verstörten, dumpfen Erwachens. Ich, Unware, bestellt unbestellt, abgeholt unabgeholt. Und alle Veröffentlichung verkommt zur Solidaritätsbettelei aufs Geratewohl gegenüber den unkalkulierbaren Anderen, den eventuellen Rezipienten. FAZIT

Ich sagte zuvor zwar, dass es in meinen Ausführungen zentral um die Funktion, den Zweck der Reinszenierung politischer Urszenen, und eben nicht um deren Gehaltlichkeit zu tun sei; schränkte aber deren Ausschluss sogleich dergestalt ein, dass die Triebhaftigkeit der Urszenenreproduktion auf deren Gehaltspondus rückverweise. Nun, die Einprägsamkeit des geschilderten Events, des Szenarios der Heimkehr des totgesagten Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, steht, ob meines nachdrücklichen sprachschriftlich gehaltenen Reproduktionsansinnens, außer Frage. Aber wie steht es um der besagten Urszene Traumatik, die ja mittels ihrer Reproduktion abgetragen werden soll – so ja, kurzum, um deren kathartische Funktion, ihr befreiender Zweck –, um die Paradoxie einer positiven Traumatik doch? Sicherlich, aber, unbeachtet des dramatischen passager glücklichen Finales, bezeugt der ödipal höchst aufgeladene Gesamtzusammenhang des Vater-Sohn-Verhältnisses, mit seinen Ausläufern bis jetzt, nackteste Verzweiflung. Unschwer auch, von hier aus meine Hauptthese der Homogenität von innen und außen: der Kriegssituation und der individuellen Traumatik zu plausibilisieren – Homogenität, zugespitzt – über jegliche simple Kausalitätsbehauptung hinaus – auf die Makro-Mikroödipalität, die Selbigkeit des „Ödipuskomplexes“ hier wie dort, vordringlich im Sinne einer „Psychoanalyse der Sachen“. Krieg sodann, durch und durch objektiv paranoische Sühneopferung

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der Söhne. Wofür? Dafür – scheinbar ganz einfach –, dass auch sie von Müttern geboren sind. Und die Schlachtung der Söhne, so sie auch Väter sind, hinterlässt die „vaterlose Gesellschaft“, die – allezeit ad maiorem gloriam armaturae – mich beinahe überkommen hätte. Was also habe ich Ihnen, den Szenologen, sehr eitel gesagt, „ins Stammbuch geschrieben“? Von meiner Art psychoanalyseherkünftig-, -kritischer Psychopathologie her – und das ist wohl gewöhnungsbedürftig und ich meine es ernst – halte ich fürs erste zu gebührender Sorgfalt an, wenn Sie sich der Frage aussetzen sollten, warum Sie, die Szenologen, sich diesem ihrem Sujet verschrieben haben. Als psychoanalytische Leitmutmaßung empfehle ich, irgend eine Urszenenschädigung – betreffend „Urszene“ im genuin psychoanalytischen Sinne – zu unterstellen. Wohlan! Für Sie ebenso unverzichtbar erscheint mir von hier her die Einbeziehung der Hysterie, neuerdings Histrionik genannt, des Psychopathologieparadigmas der Imaginaritätsflucht, der Not der Alltheatralisierung schlechthin. Womit sich zugleich das Problem des Verhältnisses zwischen dieser, der unterdessen abgelebten Hysterie, und unserer epochalen Medienhegemonie ansagt. Im Sinne fortgesetzter psychoanalytischer Parallelbildung wird szenologisch noch der Rekurs auf den Traum überfällig – Traum, die allnächtliche quasi natürliche Halluzinierung aller Welt; Halluzination, ins Wachen ver-setzt, präsenzphantasmatisch anmaßendes psychotisches Symptom. Bitte, Sie bringen sich szenologisch um den angemessen gründlichen genealogischen Szenenaufschluss, wenn Sie die apostrophierten Szenenabgründe sowie die psychophysiologischen Szenenparallelismen außer Acht ließen! Bitte aber korrigieren Sie mich, wenn ich mit diesen Desideratenmonita – wie heißt das Klischee? – „Eulen nach Athen trage“. Eher, der disziplinären Ortung nach, spezifisch philosophisch, anempfehle ich Ihnen den riskanten Sprung in die „Psychoanalyse der Sache“, will sagen – so, variativ durchgängig, die Rahmenthese –: die Intimität subjektiver Pathologien ist – weitgehend intellektuell noch unausgestanden – homogen, gleichursprünglich, wesensgleich der Äußerlichkeit deren kriegsbestimmt kulturpathologischen Entsprechungen. Und ausschließlich im Katastrophenfall schließen beide Pole, Kausalität suggerierend, kurz; und zudem fallen sodann „Urszenen“ und deren „Reinszenierung“ scheinbar zusammen. Mehr des einzelnen noch mögen zweie – bei Ihnen berücksichtigte? – erkenntniskritische Warnungen gelten: Erstens: Allzu gewaltsam fielen Garantien dagegen aus, das Poröswerden, den wiederkrankmachenden Rückbefall des reinszenatorisch befreiend Kasernierten zu verhindern; unausbleiblich das quasi-ABM-Malheur, dass die zwar absolvierenden, doch das projizierte Unheil weiterhin enthaltenden Signifikanten nicht dichthalten; Zweitens: das Zutreffen, die – emphatisch gesagt – Wahrheit der Reinszenate lässt sich nicht im Rückbezug auf deren Empirie, den vorausgehenden faktischen (Ur)szenen, messen, sofern die letzteren, nicht nicht schon bezeichnet, als Falsifikations-

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gründe zu haben sind. Auch dies angängig belehren Sie mich bitte, wenn diese meine philosophischen Monita für Sie überflüssig gewesen, wenn sie „geschenkt“ sein sollten. Wenn aber die Medien das Opferpotential verwesen, wie können sie sich dann als friedlich und opferenthoben nach außen darstellen? Wohl doch nur, indem sie die Opferverschiebung unterschlagen und permanent sich als gute Götter der Technik fiktionalisieren.3

In der Tat – das Briefzitat rafft einen Gutteil meiner einschlägigen Optionen zusammen. Nicht aber kann ich mich zum Abschluss verwegener Antworten auf Bohns Frage enthalten: „Läßt sich […] der Verdeckungszusammenhang von Demokratie und Kapitalismus nicht auch inszenieren? Haben Sie eine Schlüsselszene vorzuschlagen?“ Ja, zweie gar: 1. Josef Ackermann, bei Angela Merkel – „huis clos“ – zu Besuch. 2. Auf der Kö, vor Eickhoff, sitzt ein verkommener Bettler und schreit immerfort: „Warum hilft mir denn keiner?“ Bedarf es hierbei noch der Reinszenierung der politischen Urszenen??

REKLAMATIONEN Supplementierte Revue der Diskussionen um einen Vortrag Indirekte Beanstandung: Welche Zwecke erfüllt selbst schon das genuin psychoanalytische Urszenenkonzept? Rasterung des Signifikatenchaos nach der Ordnungsmaßgabe dessen Frühödipalität, dessen traumatologische – vermeintliche – Kausalitätsverfasstheit; allzeit verfehlter Dispositionszugriff demnach, gleichwohl, a-kausal, zur selbigen Traumaarchaik heruntergestimmt, vorbildlich prospektiv schattenwerfend erleuchtend. Naheliegender Parallelzusammenhang zwischen meinen posterioren Urszenen und eines frühen genuinen Urszenenschadens womöglich? Nicht unwahrscheinlich aber, dass mein kriegsbedingter letzterer Urszenenausfall – der sicher abwesende Vater! – in die Stahlgewitter des Zweiten Weltkriegs hinein verschwindend wetterleuchtete; will sagen: Dass dieser Ausfall, diese Lücke, insofern sich wie eine abrundende Vaterschwächung ausgenommen haben mag, als sie die allgemeine Depotenzierung der Verliererkriegshelden mikrologisch – allzeit zur dubiosen Gunst fast exklusiver Mutterhegemonie, Kriegsödipus auf seiner Spitze! – reflektierte. Wo blieb das Publikum meiner sprachschriftlichen Urszenenreinszenierung? Über die resignativen Antwortertastungen innerhalb meines Vortrags – Fehlanzeigen! – hinaus, ausweitete sich die Nachfrage, rechtens, ins Problem der Bedingungen des Kerygmaankommens im Anderen – apriorische Vindikation 3

Brief von Ralf Bohn an Rudolf Heinz vom 17.05.2013.

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doch jeglicher Selbstentäußerung in einem kommunen Medium. Gipfel dann der Anamnesisbezweiflung: Die je auch zur Fremdadaptierung bereitgestellten Urszenen mögen in ihrer Reinszenierung derart vage gehalten werden, dass sie einen komparativen Spielraum für den identischdifferent betroffenen Anderen gewährleisteten; versus, umgekehrt, nur deren strikte Konturierung erzeuge Anreiz genug zur differenzierenden Gegenüberführung innerhalb derselben assoziierenden Traumatik. (Ob sich Regisseure aber mit solchen Subtilitäten herumzuschlagen pflegen?) Allem Anschein nach entkam die Schlagseite hin zum – das Einfühlungsproblem überspringenden – Solidarisierungsmotiv (wider die, sagte man, pathologisierende eigenkathartische Solitüde) weiterer Fraglichkeiten. Fraglos geeint im Geiste der Gemeinsinnigkeit, die Nachwehen der politischen weiterhin abzutragen – wohin soll das führen? Die Theorie der medialisierten Absolvenz, der Urszenenreinszenierung, bedürfe intensiverer Ausführlichkeit. Ja, hätte, zum Beispiel, der signifikativ geforderte Traumaabtrag dabei nicht seine Alternative an der paradoxerweise traumakonservierenden produktiven Traumatransformation! Erledigungpathos, das der Konzession gar der traumatischen Ernährung aller Produktivität weichen müsse – kein Abortiertes verschwindet ja im Nichts. Unaufhaltsam gewahrt man so das perenne Basisdesiderat einer vollständigen Re-präsentationstheorie, in der, nicht zuletzt, die im Vortrag skizzierten phantasmatischen Fallstricke der Vor-stellensnachträglichkeit, zentriert um die Fehle des Präsenzillusionismus, platznähmen; und ebenso das Ausspielen der „Erinnerung“ wider das „Gedächtnis“ – „Je schwächer das Gedächtnis, umso stärker die Erinnerung“ – insofern auch eine prekäre Option, als damit „transzendentale Signifikate“ erschlichen werden könnten, die einzig in die innere Ausdifferenzierung der – enthypostasierten – Signifikanten hinein aufgelöst werden müssten – ausgezeichnete „Erinnerungen“ demnach, die nicht nur, zu ihrer Manifestation, auf ihren Kontrapart „Gedächtnis“ angewiesen ist, die vielmehr in diesem aufgeht, ohne freilich, in dieser zwingenden Absorption, sich als absoluten Bedeutungsursprung deklarieren zu dürfen – „Re“-mangel, „Wahrheitsschwebe“ ohne Ende. Weshalb denn das, wie schuldbewusste, Hinüberschielksen vom obsolet geheißenen Medium Sprachschrift zur angeblich avancierteren Cineastik? Das war nur ein fast hypokritischer Kotau vor dem Status quo diesbetreffend, nicht aber meine innere Überzeugung. Die Einlassung schmeichelte mir sehr, denn selbst auch selbsterlebe ich meine faktische Zurückgebliebenheit, meine ignorante Retardierung, nachgerade überkompensiert in meinen ungenanten selten nur geschätzten Sprachschriftfertigkeiten, die, esoterisch gescholten vom überaus medial bestärkten „sozialistischen Realismus“ in diesen Kapitalangelegenheiten, also den Preis der Atopie notgedrungen zahlt. Schärfere Prononcierung bitte der – kryptisch gemachten – Dialektik der Imaginarisierung! Ohne hier auf die etymologisch rückgebunden terminologi-

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schen Komplikationen des Simulationsbegriffs einzugehen – so fließen „Simulation“ und „Dissimulation“ in der „Verstellung“ semantisch gar ineinander –, möge der Verweis auf das dissimulative Binnendementi aller Simulation: den internen Dissoziationswiderhaken der zusammenhaltenden Verähnlichung, das äußerliche Analogiewesen in der imaginären Mimesis an ihre Rohstoffvergabe, zur einschlägigen Dialektikprobation genügen. – Indirekt habe ich diesem großen Fingerzeig wohl Genüge getan in den Verwarnungen des mörderisch göttlichen Präsenzphantasmas, dem erfolgreichen Scheitern signifikanter Absolvenz: dass sie nicht eo ipso dichthält und dass sie sich mit ihren substraktiven Sujets verklumpt. – Nicht ungern auch setze ich mich mit auf die Spuren der ubiquitären Verleugnungsmodi der apostrophierten Kontrarietät, der besagten Dialektik, deren Eskamotierung, zu Ende gedacht, den „Bettler auf der Kö“ den städtischen Reinszenierungskolonnen auslieferte, aber vorgäbe, ihn, verschwindend, kö-niglich eingekleidet zu haben. Wo bleibt, gleichwohl, die Szene selbst als solche, wenngleich unvermeidlich absorbiert in ihrer Reinszenierung? Fernab davon, deren Hypostaseverlockung zum „transzendentalen Signifikat“ begriffsrealistisch zu verfallen, so sind doch eher formale An-sich-Charaktere an ihr selbst durchaus erhebbar: etwa der zu ihrer Reinszenierung quere Umstand, dass sie peremptorisch endet; und, mehr noch, dass sie in ihrer „Vorstellungsisolierung“, in sich wie unbegrenzt bedrängend, wie ein „phobisches Objekt“ („Brüder [!], zur Sonne, zur Freiheit …“), affektioniert.– Also Minima an proto-reproduktiver Szenenapprehension, an aller drohenden An-sicherschleichung (-subreption) vorbei. Im Gefolge dieser Fremdreklamationen hätte ich, im Rückblick, umgekehrt, an mir selbst, meinem Vortrag, folgendes auszusetzen: Selbstkritisch wider den bloßen Anriss meiner vortraglichen Problemabundanz gerichtet, sei wenigstens noch eine weitere meiner Rekommendationen an die Szenologie programmatisch detailliert (und wäre also einer separaten Abhandlung wert): diejenige der Hysterie. Damit sie zur genealogischen Folie taugen könnte, wäre fürs erste, ihres längst ja passierten Untergangs in unserem proliferierenden Medienwesen zu gedenken. Also durch Kollektivierung enteignet, gänzlich entfällt ihre mögliche Krisispotenz, und ihr verdinglichtes Medienerbe – so schon Freud selbst – erfreut sich, vergemeinschaftet pseudoentsühnt – substituiert durch andere zeitgemäßere, tunlichst isolierte, Pathologien (wie Bulimie, MPD) – fraglos seines weltweiten Unschuldscheins. Hysterie, Monitum der medial überkompensierten Histrioniknot, gleichwohl ins Feld zu führen, verkäme demnach zum reaktionären Antifanal, einer läppischen, nachgerade pathologisierend auf den inopportunen Betreiber zurückfallenden Anpassungssperre, letztlich zur höheren Ehre der Ungeschorenheit des erhaben Aufgeklärten immer? Nichts-nützig dagegen alle heroische Kontragesten, bliebe nur, selbstbewusst verzagt, die Solitüde kulturpathologischer Pathologisierung objektiv der Medien mittels der daraufhin vor-

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ausgerichteten, widersubjektivistisch auf ihren existentialen Nukleus gebrachten Hysterie; und dies in der ungewissen Voraussicht künftiger Solidarisierung mit solchem ohnmächtigen Unterfangen. Was aber vermöchte ich, im Umkehrschluss, an vergleichbaren Reklamationen an der Adresse der Szenologen anzubringen? Alle diese erschienen ja bereits in meinem Fazit, deren anmaßender Bescheidung, versammelt, doch wurden sie in den eben präsentierten Diskussionspassagen auch berücksichtigt? Direkt anscheinend wenig bis nicht. Woran die Erübrigung lag? An dem – allerdings dubios gehaltenen – Nachdruck meiner Desideratenpointierung? Oder an deren, ob geschehender Einlösung, Überflüssigkeit? Müßig indessen das Lamento über diese offengehaltenen Fragen, weil reichlichst kompensiert in der ausnehmenden Güte mancher Diskussionsausschnitte – man entsinne sich etwa der Debatte um die residualen Chancen zeitgemäß unzeitgemäßer Aufklärung der technologisierten Allimaginarisierung, der globalen Medienhegemonie, mittels „Remythisierung“! – exzeptionelle, wider die aktuelle Fachdepravation angehende Philosophieangelegenheit, der ich mich uneingeschränkt verpflichtet weiß; und dies in einem eher doch handwerklich versierten FH-Kontext. Glückwunsch! SUPPLEMENT ZU „ZUR FUNKTION DER REINSZENIERUNG ‚POLITISCHER URSZENEN‘“ Und, ausschließlich, im Katastrophenfall, schließen beide Pole – sc. die Intimität subjektiver Pathologie mit der Äußerlichkeit deren kriegsbestimmt kulturpathologischen Entsprechungen –, Kausalität suggerierend, kurz. Und zudem fallen sodann „Urszene“ und deren „Reinszenierung“, scheinbar, zusammen. [siehe R.H., S.267]

Novitäten? Fast. Was die Kausalitätssuggestion im Katastrophenfall angeht, so wird das Problem der Kompatibilität derselben mit meiner zentralen These der pathologiegenerischen subjektiven Usurpation objektiver Kulturpathologika an martialischer Gewalt spruchreif. Problemlösung fürs erste: Die besagte These bleibe ohne Einschränkungen zwar aufrechterhalten, doch bedürfe es der Prononcierung dieses Grenzwertes sozusagen in ihr: dass nämlich im Kasus Krieg der Schein eines unvermittelt kausalen Bezugs zwischen beiden aufkommt, die Paradoxie der Realsuggestion von direkter Ursächlichkeit. Was folglich hieße, dass solche Kausalität immer auch ein wie trügerisches Hypostaseartefakt kurzschlüssiger Unbedürftigkeit an unwegsam reziproker Referentialität – kriegsgöttliche „action directe“ – ausmachte. Weiterhin pressierte es im Kriegsfall (und darüber hinaus): Es hat den Anschein, als koinzidierten nämlich die „Urszene“ und deren medial organisierte „Reproduktion“, als agglutinierten beide im Endeffekt sodann zur Krake

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„lebendiger Vergangenheit“ – so unbeherrschbar zeigt sich die große Not des martialischen Dispositionsschwunds, der zerreißenden Überkommnis, dass der fehlerpräsentische Indifferenzierungszugriff die (Über)kompensation des – hausgemachten – Desasters an (vor)letzter Seinsprivation bewerkstelligen könnte. Allein, je prägnanter diese verzweifelt todestriebliche Destruktions­ aneignung, umso gähnender – und nur umso gewaltsteigender – der Abgrund unter diesem ihrem Gottesusurpat, in Wahrheit das vulkanisch ausbrechend sich mörderisch satisfizierende Diaphragma vor dem alltriumphalen Nichts. Suchen wir uns, unbesehen, vor dem Tod dergestalt zu retten, so werden wir, selbst wenn deklamiertermaßen contre coeur, im aktualisierten Mitriss aller Signifikate in ihre Signifikanten, in diesen Usus, zu nichts denn Kriegsfreiwilligen. Präjudiziert in dieser wie selbstverständlichen Scheinfusion nun die große Wahrheitsfrage, die, fernab allen Übereinkommens (ex convento) der Aussage mit ihrem Ausgesagten, stigmatisiert verbleibt vom sich in sich verschlingenden Abhub der befreiend (re)sub-jektivierenden Signifikanten, in eins mit der Tiefenleere deren Signifikatennichts, allzeit vermittelt durch den verdinglichten Gesamtprogress: die innere Assequenz aller Selbstreferentialität von dem, infraMoloch/immensa vorago, was sie, wie verwundert, flieht, violentest zusammen nach außen gekehrt. Wahrheit, Sachzutreffen, offenbart sich somit – wie zu pazifizieren? – als Kriegseffekt, als martialische Notevidenz des den eigenen Hyleabgrund mitauffüllenden Nennungshochriss, allemal Kunstwerk eminent todestrieblicher Traumataerzeugung (!) mitsamt deren Parade, Realprätext der mitreißenden Totalität veräußerter Destruktionspotenz, die sich autodestruktiv suizidal – tragendes Wahrheitseschaton – vollendet. Pazifiziert im Vorübergang des notorischen Adäquationsarrangements, dem zukünftigen vergangenen Scheinwiderschein des Differenten Indifferenzpakts. […]: Nur das erste Mal ist jenes singuläre und unvergleichliche Ereignis, das unmittelbar erlebt werden kann. Die Wiederholung in der Schrift ist notwendigerweise ein Produkt der Reflexion und ist damit dem Vergleich ausgesetzt: Das zweite kann mit dem ersten Mal, die Erwartung mit dem realen Geschehen, der Autor mit der Schrift verglichen werden – und der Vergleich ist der Anfang allen Übels.4

Überaus spruchreif demnach das Problem des „präreflexiven Cogito“, so es zum letzten Hort von wahnsinnverhindernd wahrheitsichernder Rest- und Ganzreferenz würde. In der Tat: „Wahrheit ist (sc. bar dieses Bezugs) ein Vergleich des Identischen mit sich selbst geworden; dass dabei Wahnsinn herauskommen kann, liegt auf der Hand.“5 Als Zeuge dieser – allerdings, widersprüchlicherweise, schriftlich genau4 5

Daniel Strassberg: Der Wahnsinn der Philosophie. Texterfaßte Version, S.184f. Ebd., S.225.

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estens gestellten – Verirrungen fungiert Rousseau: Die metaphysische Bewegung zum Ursprung, ausgelegt hier als „Naturzustand“, dessen hypostatische Inbesitznahme, verwickelt sich in aberwitzige Aporien – ein Anlass mehr, dem Wahrheitskriterium weiterhin, persistent traumatologisch, nachzufassen. Ja, es ist die vorgestellte Todesgewalt des – vorenthaltlich entzogenen, und deshalb umso maliziöseren – Differenten Identischmachens, au fond ermöglicht in der materiellen Homogenität von Natur, Kultur und Menschenleibern, sanktioniert im absoluten Kohärenzverlust alles plane Assimilierten, final aufgefangen nur noch im nichtenden Pseudos souveräner Allsuizidalität. Ecce! Die mörderisch vereinten Makroparentes, mit ihren Täter-Opfer-kontaminierten geschlechtsneutralen waffenglamourösen todgeweihten progenies. Einprägsamste Empirie der ganzen Wahrheit demnach: Bombensplitter, die, während des Zweiten Weltkriegs, mir nur beinahe, weil zischend, den Kopf durchschlagen haben würden. Inhaltlich ist mir bei Ihrem Vortrag, den ich in der Variante nach der, die sie im Verein gehalten haben, gehört habe, aufgefallen, dass ein für mich besonderes Moment wenig beachtet blieb, nämlich die Rückkehr des Vaters auf dem Feld nach dessen Totsagung. Das muss doch wie eine Wiederauferstehung gewirkt haben – jedenfalls machte es für mich dieses christliche Bild lebendig. Wie kann man aber mit einem Vater leben, der solchermaßen unsterblich ist? Oder war es dann doch nur eine Geistererscheinung (Komtur?), die sich ja auch im späteren Leben nicht mehr recht einfügen konnte? Jedenfalls sollte man diese Szene doch noch mehr sperren – falls überhaupt erinnerlich und diese nicht in Imagination ausfließt, was dann die kongeniale Verbindung solcher Geisterscheinung wäre. Weniger imponiert mir die reale Abwesenheit des Vaters im Krieg, die freilich dann auch Vaterphantasien schon vorbereitet. Wie auch immer, die patriarchalen Signifikanten können gar nichts anders als in der Abwesenheit ihrer Präsenz ständig vorne die Lücke zu schließen, die sie hinten aufreißen. Also scheint es mir die gleiche Urszene zu sein, die im Freudschen Wolfsmann die Fenster zum zentralen Traum öffnet. Urszene als Reflexion der Aporie des Selbstbewusstseins selber, vielleicht das erste Moment der Erinnerung von Erinnerungen? […] Politik der Vermittlung von Vermittlung, einzig um Geschichte und Geschichten zu erzeugen, irgendwie nationale Binnenkomplexität mit Aussicht auf zirkuläre Flucht? Das kann man ja auch Demokratie unter narzisstischer Kontrolle nennen.6

REPLIK ZUR BRIEFSTELLE

Diese Ihre Einlassung gab mir einiges zu denken. Allein, nach penibler Selbstbefragung, die freilich immer auch nicht nicht gewährlos bleiben muss, stellte sich mir das besagte Vaterverhältnis umgekehrt, als Sie es dagegen mutmaßen, dar: Rachedämon allein war der blind- und todgesagte Soldatenvater im Krieg (vielleicht habe ich ihn, ödipal, geblendet oder gar umgebracht), doch als er wunderbarerweise, sehend und lebendig, wenngleich wie zu einer Vogelscheuche depraviert, zurückkehrte, obwog in mir, reparativ, bei weitem die unbändige Freude über den (wiedergewonnenen) männlichen Rückhalt gegen den geschlechtlichen Selbstverlust in der solitären Umzingelung nur von Frauen (Mutter, Schwes6

Auszug aus einem Brief von Ralf Bohn vom 14.01.2014 an den Autor.

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ter). Wie residual auch immer die Vaterbrauchbarkeit in der Nachkriegszeit sich anließ, Vater erwies sich als das Gegenteil einer „Geistererscheinung“, als immer noch rettend habzuhaftende Komitanz meiner erschütterten Orthostase. Zugegeben, die – mich intellektuell beauftragende – Tücke dieser Errettung beschlich mich, folgerichtig, erst so recht nach seinem Tode – siehe Ihre treffliche Szenifizierung der „patriarchalen Signifikanten“: vorne, nun ja, Genitalverleih, und hinten, dafür abgewandt, gründend, pardon, Arschauf. Mag gar sein, dass mein Urszenenenthusiasmus die Fährnisse seines mutterflüchtig homosexuellen Höhenflugs manisch vergaß, sodass meine entschiedene Gegenführung des Vaterverhältnisses sich in Ihrer konträren Supposition desselben dann doch verlöre? Und Sie wären mit dieser nur zu eilig gewesen, und keineswegs irrig? Jedenfalls verwandelt derart sich der Urszenenbegriff in die patrifiliarchal homosexuell paranoische Abendlandtotale, und dem ist, wenn schon, final nach-gedacht, recht so. Insofern auch reflektiert die „Urszene“ die „Aporie des Selbstbewusstseins selber“, denn notorisch, permaniert die Univozität des Selbst darin ausschließlich als phantasmagorischer Zuspruch: Mutterepikalypse Homöusie von Vater und Sohn. Und wenn, urszenisch, „vielleicht das erste Moment der Erinnerung von Erinnerung“, so aktualisierte in der Tat hier zünftig sich die Umschlagstelle von „Genesis“ in „Genealogie“.7 7

„Simulation/Dissimulation in sinnen- und geschlechtsdifferentieller sowie psychopathologischer Hinsicht Et in Spiritum Sanctum, Dominum et vivificantem: qui ex Patre Filioque procedit. – Qui cum Patre et Filio simul adoratur et conglorificatur: qui locutus est per Prophetas. 1. Simulation und Dissimilation fallen a priori zusammen, insofern, strikte auf das reflektorische (narzißtische) Selbstverhältnis hin, das Simulationskriterium Nachahmung in keiner Weise, weder spiegel- noch abbildlich, verifiziert werden kann. Dieser Nichtverifizierbarkeit wegen enthält die Mimesisbehauptung eo ipso das Element der Vorenthaltung/des Vorbehalts, also der Dissimilation – Verbergung, Verheimlichung – in sich; was sie, offensiv, jenachdem, als Simulation im Negativsinne von Verstellung, Vortäuschung auszuspielen vermag. 2. Der Schein der Verifikation der Nachahmung geschieht im Nicht-vis-à-vis der Fläche: des Bildschirms. Inbegriff der Sichtmedien bis-zum-es-geht-nicht-mehr demnach: infinit für die Exteriorität des Selbstreflexions-Abbruchs, der Binnenreservation zu sorgen. So die ganze Leidenschaft unserer Medienepoche – mit dem ganzen Recht, daß der Selbstmangel im Selbstbild keine Gegenpotenz zu dessen – des Selbstbildes – arealer Inflation sein kann? Selbstverständlich kulminiert diese Analog-Prozedur im Digitalen: dem letzten produktiven Schein der infinitesimalisierten Selbstdifferenz. 3. Sinnendifferentiell besteht dieses Flächen-quidproquo des vis-à-vis als rettendes mediales Gegenüber bereits in der Extrapolation von Sprachschriftlichkeit (vs. Sprachschrift, abgeleitet ebenso, de facto) auf Sicht; ist Metabasis-Zuspruchs-Artefakt nach der Maßgabe der Selbstdarstellung der phantasmatischen vor-läufigen Indifferenz von Sprechen/Hören, so daß der mediale Abschied der Selbstdifferenz nicht zwar heimkehren kann, doch halbwegs immer wieder-rückfindet (Gehirn, das noch verbleibt). Die Auslassung der weiteren sogenannten niederen Sinne hierbei untersteht der Logik der epoché: provoziert die beschuldende/beschuldete Besetzung der Auslassenden durch die Ausgelassenen. 4. Geschlechtsdifferentiell fungiert Weiblichkeit als eine Art Herrenwitz der zölibatären Medienmaschine. Die weibliche Entropie der Simulation als Paradoxon unvergleichlicher Vergleichung/Nachahmung über die Dissimilation als Verbergung/Verheimlichung in die Simulation als Verstellung/Vortäuschung hinein, über die man(n) sodann Simulationen, sprich: Grübeleien/

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RALF BOHN PROSPEKT ZUM SUPPLEMENT ZU „ZUR FUNKTION DER REINSZENIERUNG ‚POLITISCHER URSZENEN‘“ Verehrter Herr Heinz! Zwanghaft mit einer Konterszenifikation auf ihre Reinszenierung aufzuwarten, heißt, was sie als Medienbulimie verstehen, als Kommunikation zu nobilitieren. Über den Zusammenhang des Unbewussten mit den Zwängen der Ästhetisierung, des Ornaments und der Dekoration als „Hysterie der Sachen“ weiß man in der Kunstgeschichte mindestens seit Wilhelm Worringer zu berichten. Wie sollte ich anders können, als die Sache weiterzuspinnen, listigerweise nicht in Richtung auf Fiktionalisierung, sondern auf Realität, kriegsfasziniert? Zu Ihren Supplementierungen meines Briefes vom 14.01.2014 will ich einige Verschiebungen machen bezüglich meiner Vortragswahrnehmung des „wiederkehrenden, totgeglaubten Vaters“, bei der ich im Affekt des Vortrags Ihnen das christologisches Motiv des Wiederauferstehungszeugen unterschoben habe. Möglicherweise ist die Absicht erstens die eigener Urszenenerinnerung, zweitens eine Verstockung des kommunikativen Anspruchs in die Privation in ein nun weder Vor noch Zurück des Aussagens, Szenenparade mittels Inszenierung. Ihre Identifikation mit dem lebenden Vater gegen Mutter und Schwester will ich so verstehen, dass Sie als Aporie der Zeit (Gedächtnis) dem Vater unterstellen, selbst Sohn sein zu müssen, wie Sie selbst Sohn und Vater (einer Tochter) sind, sodass sich die Urszene auf ewig wiederholt und wiederholt haben wird. Immerhin erwähnen sie den Großvater. Ob Sie aus Höflichkeit unserem Symposion-Thema gegenüber deswegen „Szenifikation“ nicht schlicht mit dem Freudschen Terminus der „Verdichtung“ (Kap.VI Die Traumarbeit) übersetzen wollten, oder ob das außerhalb des Traumgeschehens notwendige irreversible Zeitphänomen die Szenifikation gerade von der „Traumdekoration“ abhebt? Als Ergebnis müssten wir den Neologismus „Szenologie“ tatsächlich ernst nehmen: Es gibt eine Logik der Szene, deren Gabencharakter die Ökonomie unterminiert, sowie eine an sie angepasste Hermeneutik, die im Genre des Gewerbes homosexuelle „Narration“ heißt, und sich mit den Aufführungen einer evidenzunbewussten Praxis messen lassen müssen. Das Problem der szenografischen Aufführung ist, dass es die absolute Wiederholung nicht gibt, nur um den Preis, dass in der Warenkultur es kein Original, keinen Vater mehr gibt, während aber die Ereignisaufführung unentwegt dieses „traumatische“ Original herzustellen vorgibt. Unser szenologischer Ansatz kann nicht umhin, gerade in der durch die Zeitlichkeit (Temporalisierung/Gedächtnis- und Dauerfunktion) und damit der von Ihnen angemahnten Allpräsenzsehnsucht eine bestimmende Aporie zwischen der einmaligen, präsentischen „Aufführung“ (Histrionik) und der Wiederholung als deren Negation anzusiedeln, sodass in diesem „Übergangsraum“ (Winnicott) das Szenische der Szene geschähe. Bekanntlich setzt Freud die Traumarbeit außer der Zeit und somit die Nachträglichkeit des Gedächtnisses tatsächlich als ein erstes traumatisch-aporetisches Aufdämmern von ‚Erinnerung‘ ein. Deswegen meinte ich, die Urszene in ihrer „Signifikatsverkettung“ (struktural gelesen) nicht an ein wie auch immer sexuell identifiziertes Erwachen anbinden zu können – gleichwohl solches Nach-Sinnungen (und mehr) veranstalten muß, gedeiht zur Hauptmetapher der Selbstdifferenz als einziger Ursache ihrer progredienten Indifferenzierung. Und wie sich zu dieser konsequenten Weiblichkeitsfunktionalisierung Frauen selber de facto zu verhalten pflegen, scheint von dieser Progreßmotivik sogleich irgend schon kassiert. 5. Dieses Einzugs-apriori imponiert, psychopathologisch/psychiatrisch, immer dann als einschlägige Krankheit, wenn man es, an seiner Freigabe in den Prozeß vorbei, selber ganz zu sein begehrt: Retention post festum der Metapher Weiblichkeit – vom Simulantentum über die Hysterie bis zur Psychose. Die Schizophrenie erfüllt sich darin, die Spitze der medialen Indifferenzverheißung selber, körperlich, gar so zu sein, daß auch alle vermittelnden Indifferenzen unmittelbar existiert werden können. Der ganze Rest verbleibender Aufklärung als Gegenaufklärung darin: letzte Attacke als letzte Verstrickung in das Attackierte. Das Andere, es gibt es nicht; und die modernen Medien sind nicht nicht nicht kritisierbar.“ Text dieser Fußnote aus: Rudolf Heinz: Metastasen. Pathognostische Projekte. Wien 1995, S.83f.

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im Referenztext Der Wolfsmann von Freud eindringlich beschworen wird. Man könnte dem vom kleinen Wolfsmann beobachteten Koitusvorgang schlicht unterstellen, das, was die Eltern dort in der Mittagshitze betrieben, sei als eine Art Sport, eine Körpermaschinität, letztlich eine onanistische Wiederholungsbewegung gleich einer zwangsneurotischen Abfuhr beobachtet, dergestalt, dass man nicht ohne Zeitverbrauch handeln kann. Das Trauma liegt dann im Erkennen, dass die mechanische Wiederholung als Dauerpräsenz doch nicht verhindert, dass Zeit vergeht und Sterben geschieht. Beobachtet wird das in der Siesta eines Sommermittags, in einem Zeitraum, der selbst tot ist. Das Hin-Her dieser Bewegung (Gadamer nennt das „hermeneutisches Spiel“) wird im Übrigen von Winnicott selbst als Körperablösung und Körperverdinglichung (als erste aller Sachen) verstanden, in der das Ding (Körper) sich von sich selbst zu trennen im Stande ist und somit Erinnerungen als solche verifizieren kann. Wie sollte man im Kleinkindalter sonst diesen Akt ohne Kenntnisse sexueller Kulturgepflogenheiten als sexuell identifizieren können? Wenn Sie Ihren philosophisch-politischen Anspruch in erhörter Grenzwertakrobatik durch diese Ihre Urszene hindurchsprechen, dann im Durchgang aller drei Negation, wird im Aushaltenkönnen dieses Blicks auf die Unwiederholbarkeit des Ereignisses die erste Negation eine Traumatik, die zweite eine Medialisierung und die dritte eine Kriegstechnik besiegeln. Zeit im Register des Aushaltenkönnens der Sterblichkeit ist mindestens Unruhe (Nervosität – ein Vor-Kriegsphänomen (siehe die aktuelle diskutierte Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs), weniger Sexualität als Arbeit, aber genauso gut Arbeit wie Sexualität, nämlich Produktion. Szenifikation und Narration bedingen sich demnach wie Metapher und Metonymie (Lacan) respektive Verdichtung und Verschiebung (Freud), aber je anders im Hinblick auf Zeitdisposition, Sterblichkeitsdruck. Ausfall von Narrativität, Sie sagen es selbst, ist, von Lyotard richtig diagnostiziert, letztlich nicht auf die Megaerzählung der globalisierten Kapitalorganisation hin konsequent verfolgt (wegen des seinerzeit 1974 noch penetrierten ideologischen Dualismus, der Reflexmaschine des Kalten Krieges?). Kurzschlüssig gesagt, dient Narration (zwanghafte Szenenverfolgung, Kinematik) dazu, die Präsenz scheinbar dauern zu lassen, ist, nach Hans Ulrich Gumbrecht, der medialisierte (und eben nicht mehr nur signifizierte) Akt/Agens der Präsentifikation, die ständige Wiederaufnahme eines ursprünglichen Erlebnisses, das davon kündet, dass alle Ursprungsphantasien letztlich Phantasien gegen die ubiquitäre Wahrnehmung differieren, dass sich wirklich rein gar nichts ohne Opfer wiederholen/erinnern lässt, obgleich alle mediatisierten Reproduktionsindustrien daran gegenarbeiten, mit fernsehgerechten Reproduktionen und mit der unendlichen Liveaufnahme, die gleichzeitig Wiederholung verunmöglicht: mit der steten Aufführung immer gleicher Stücke in Serien-DokuSoaps. Dazu gesellt ein Handwerk, Szenografie, sich mit der planvollen Herstellung von Einmaligkeit auseinander – Präsenz als Zeitzwischenraumproduktion. Szenifikation ist somit ein hysterisch organisierter Wiederholungszwang, der seine Aufführung als unwiederholbar extemporiert und seine Zeitschuld theatral-hysterisch in sich verschließt. Auf den Gegenstand unseres Symposions übertragen möchte ich nach Hannah Arendts Vita activa beipflichten, dass das Politische und das Private zugunsten des Gesellschaftlichen (der ‚sozialen‘ Netze) sich zunehmend entleert. Ich sage das deutlich, auch gegen jene, die immer noch glauben, bei der Szenografie handelte es sich um kinetische Raumausstattung und nicht um dringendste Symptomvermeidungspflicht. Wer die mediale Dialektik von Raum und Zeit nicht beherrscht, sollte doch eher – pardon – Innenarchitekt werden. Nun verkörpert Ihr heimgekehrter Vater sowohl das Moment der Wiederholung als auch dass der Kontinuität einer Präsenz, freilich, eines gänzlich anderen, gedemütigten, abgemagerten Vaters, der die Opferschuld seiner Wiederkehr darstellt. Ich phantasiere: Sie selbst stehen in der Tradition des Hamlet gegen den unerreichbaren Onkel Claudius (Zwitter der deutsch-französischen Grenzfeinde), der Rache am Vatermord nicht mächtig, weil Rache bedeuten würde, dem Fetisch der Umkehrbarkeit der Arbeit der Zeit sich zu unterwerfen, statt katholisch (nicht wittenbergisch, wie in Hamlet) gebildet den Zweifel zu perpetuieren, dass, wenn man nicht handelt und nicht arbeitet auch keine Zeit und somit keine Schuld beansprucht wird. (Was ist mit Ihrer milden Frankophilie? – Identifikation mit dem Aggressor?) Denn Rache heißt, mittels Wiederholung der Tat die erste ungeschehen zu machen: Damit aber verschwände auch der heimgekehrte Vater, ja Vaterschaft überhaupt. Hier schließen sich Sexualgenese und Politik kurz. Statt hysterisch zu werden (oder wie bei Hamlet, dies zu simulieren), erfreuen Sie sich einer bestens professionalisierten Paranoia, namens Philosophie, in der der zögernde Zweifel zur Grundausstattung gehört. Ich phantasiere weiter: Der Urszenenaustrag zwischen Demokratie und Kapitalismus (ewige Dauer als Gerechtigkeit und

ZUR FUNKTION DER REINSZENIERUNG „POLITISCHER URSZENEN“ 277

reproduktiver Tausch als ewige Wiederholung) fällt in ihrer Profession als Handlungssimulation, Zweifel (cartesianisch?) so aus, dass Sie beständig weiterdenkend die „Kommunikabilität“ Ihrer reichen Archive vernachlässigen, und in die private Praxis des Austrags lenken. Sie sind zudem ja auch psychoanalytischer Therapeut und Supervisor. Ackermann und Bettler vor Eickhoff ,8 der immerfort schreien hört: „Warum hilft (mir) denn keiner?“ Wonach schreit der Bettler: nicht nach einem Stück Brot, sondern nach Teilhabe an der kapitalistischen Tauschwirtschaft, Vergesellschaftung, dort, wo das Private und das Politische auseinanderfallen: im öffentlichen Raum, gerade dort, wo der Kapitalismus am vitalsten ist. Es wird kolportiert, dass einer der seriösen Bettler, den ich stets auf meinem Schulweg (!) beobachtet habe, nach seinem Tod ein Millionenvermögen hinterlassen hat. Nicht Kolportage ist der bekannte Witz, nach dem ein deutscher Tourist einen armen Fischer, der auf seinem Boot döst, auffordert, zum Fischen zu fahren. Er fragt: „Warum?“, der Tourist antwortet: „Um Geld zu verdienen.“ Er fragt: „Warum?“ – „Um zu expandieren, Leute anzustellen“ – „Warum?“ – „ Angestellte arbeiten zu lassen.“ – „Warum?“ – „Sich in die Sonne zu legen und das Leben zu genießen“ – Sagt der Fischer: „Aber das mache ich doch jetzt auch!“ Soweit zum Umweg der dreifachen Negation, der Handlungsenthaltung, des unmöglichen Vergleichs, letztlich der katatonischen Stase des nicht mehr politischen und nicht mehr privaten, nur noch vergesellschafteten scheingerechten Medienanschlusses, dessen Neutralisierungshoheit Luhmann aufs Vorzüglichste aufgedeckt hat. Das Vater-Sohn-Verhältnis kann (ungeachtet der rhapsodischen Kriegsliebe zwischen Deutschland und Frankreich) niemals schuldlos übergängig sein. Es lässt sich bisweilen vielleicht Regie übernehmen in der Frage, ob man als Sohn oder Vater auftritt, das jeweilige andere affirmiert oder abwehrt. Womit ich meinem Zwang den Inszenierungsweg weiter zu schreiben, mit einer wesentlichen Differenz würze: Ich kann ausschließlich in der Rolle des Sohnes auftreten, nämlich mittellos (im mehrfachen Wortsinne), vermutlich, weil mir das in der Geschichte meines Vaters, der mit 14 Jahren ein serbisches KZ überlebt hat und mit 22 Jahren als Flüchtling mit fünf Mark in der Tasche nach Düsseldorf kam, in die Wiege gelegt wurde. Da war schlicht nichts zu holen. Also halte ich mich an die Plünderung von Autoren, die – wie Sie – ihr Geisteskapital so freigiebig feil bieten. Ich möchte politisierend und unvermittelt szenifizierend die Choreografie meiner Replik mit einigen Zitaten einer wissenschaftlich historischen Dokumentation aufpeppen, die die Situation des serbischen KZs schildert, in dem mein Vater sich sein Leben durch das Vergraben von Leichen verdiente, die ich als „Medienphilosoph“ wohl alle wieder ausgraben muss. Den Schnorrern auf der Kö möge das die Schamesröte der Subventionsjunkees ins Gesicht treiben, die immer nach Gerechtigkeit schreien, damit die Ungerechtigkeit sich fortpflanzen kann: niemals erlösende, aber allzeit vermittelnde Arbeit der Güte – so Hannah Arendt –, die sich dadurch auszeichnet, niemals öffentlich sein zu können9: 10.2. Vernichtungslager Rudolfsgnad/Knicanin (Banat) Konzentrationslager für die arbeitsunfähigen Deutschen, vornehmlich des Mittel- und Südbanats. Ursprüngliche Einwohnerzahl von Rudolfsgnad: 3200. Zahl der Internierten: durchschnittlich 17.220 (Spitze 20.500). Bestandsdauer: 10. Oktober 1945 bis Mitte März 1948: 29 Monate (880 Tage). Todesfälle: rund 11.000, von ihnen sind in LW IV 7.767 namentlich dokumentiert. Hauptsächliche Todesursachen: Typhus, Malaria, Unterernährung. [...] Den Lagerinsassen von Rudolfsgnad wurde zeitweise ausdrücklich verboten, für sich selbst Holz zu sammeln, um sich Feuer zum Kochen oder Heizen machen zu können. Weil sie kaum etwas zum 8 Eickhoff war bis April 2014 ein bekannter, privat geführter Modeladen, der mittlerweile sein Geschäft aufgeben musste, weil die „Schauseite der Kö“ wohl keine „Kaufseite mehr ist“ (so der langjährige Inhaber) – Siehe zur ‚anderen Seite‘ der Szenografie der Mode auch den Beitrag von Pamela C. Scorzin, der sich mit den Modeexhibitionen beschäftigt. 9 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2013, S.89ff. These, die Jacques Derrida in: Falschgeld. Zeit geben I. München 1993, als Ausschluss von Reziprozität formuliert hat. Man könnte daraufhin formulieren, dass sich Güte und Polizität ausschließen, da über gütiges Handeln nicht zu reden ist, außer im Lichte einer inszenierend-strategischen Funktion, die sie in Mehrwert verwandeln würde. Das ist dann genau nicht mehr Güte, sondern Funktion einer Gerechtigkeit, die ihrerseits ja nur im Lichte der Öffentlichkeit (gleiches Recht aller) verifiziert werden kann. Dieses Verhältnis scheint mir der Schlüssel für eine jegliche Explikation notwendiger Inszenierung von Politik und Privation von Güte zu sein.

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Heizen hatten, setzte die Kälte im Winter 1945/46 den völlig entkräfteten Lagerinsassen besonders stark zu. Als Peter Uhl aus Werschetz am Theißdamm angeschwemmtes Brennholz suchen wollte, um für seine vier kleinen Enkelkinder, für die sonst niemand sorgte, einmal den gefaßten Maisschrot kochen zu können, wurde er von Wachtposten erwischt. Er mußte sich niederknien und wurde von serbischen Partisanen mit zwei Schüssen getötet. [...] Ab Dezember 1945 wurden die Zustände im Lager Rudolfsgnad zusehends schlechter. In ihrer Not verschlangen die Menschen alles, was ihnen in die Finger kam. Zuerst verschwanden die Hunde und Katzen, und wenn ein Stück Vieh verendete, standen oft bis zu tausend hungernde Lagerleute an und drängten, sich ein Stück von den Kadaver abzuschneiden. [...] „Es herrschte Hungertyphus. Menschen wurden blind oder wahnsinnig vor Hunger, oder sie legten sich auf ihr Lager, dösten einige Tage dahin, bis sie für immer einschliefen. Am schlimmsten war es für diejenigen, die vor Hunger wahnsinnig wurden. Sie schrien Tag und Nacht so furchtbar, daß man sie weit hören konnte. Viele irrten durch das Dorf, fanden nicht mehr heim und starben auf der Straße.“ [...] Wenn ein solcher [Bettelgänger] von den Posten erwischt wurde, kam er selten mit dem Leben davon. Waren es mehrere Bettelgänger, so wurden sie meist gefangen genommen und in einen geräumigen, bewachten Keller – den Bunker – gesperrt, wo sie fast nichts zu essen, dafür aber umso mehr Prügel bekamen, besonders mit dem Gewehrkolben. Dabei holten sich manche den Tod.10 Keine Erzählung meines Vaters, sondern das Erbe aller Vaterschaft ist damit erinnert, ein dokumentierender Buchtext. Durch die gelegentlichen Andeutungen, vor allem aber durch das Schweigen der Familie ist das inkorporierte Verhalten meines Vaters, des traumatisierten Ausfalls einer/meiner solchen Vorgeschichte in unauslöschlicher Erinnerung als Opferscham, Gedächtnislücke, die ich durch ein enzyklopädisches Gedächtnis zu füllen dachte. In Zeiten der Präsenzfixierung und Wikipedia ein anachronistisches Unterfangen. Ich sehe mich anlässlich Ihres Vortrages beinahe im Stande, Szenologie ein Unternehmen (vergessen wir Herrn Wilharm nicht, der das Forschungsprogramm initiiert hat) zur Darstellung der Aporie des Vater-Sohn-Konflikts als Zwang zur Vorstellung der Rückaneignung (Regie) eines auch fiktionalisierten Ursprungs zu qualifizieren, als Politik der Inszenierung, vorwiegend theatral auf der Ebene körperbetonter Mimesis, delegiert an quasitherapeutische Professionalität.

RUDOLF HEINZ ANTWORT AUF „PROSPEKT ZUM SUPPLEMENT“ Lieber Herr Bohn, das würde zum prominenten „weiten Feld“, sprengte den Rahmen unserer schönen Supplementesupplementierungen, wenn ich mich, was mich freilich gelüstet, auf die Fährte begäbe, unsere philosophischen Diskrepanzen – für wen noch von Interesse? – zu markieren. Auch tue ich eh mir damit schwer, initial wohl wegen Ihrer konventionell abdriftenden Schreibensweise, die in den Aufschlußmühen ihrer verlockenden Eigentümlichkeit häufig sich versperrt und in sich verliert. Sei’s drum, das muß ja kein Mangel sein (bin ja auch selbst davon gründlich betroffen.) Gleichwohl nun begannen sich – während des Studiums Ihres „Prospekts“ – einschlägige Divinationen einzustellen, die mich zu Konjekturen zu unseren – oft sich konsentierend restituierenden – Entzweiungen encouragieren. Also: Ihre Diktion, Ihr intellektueller Habitus kommt mir vor wie der Kahlschlag aller Kritikchancen, wie die desperate Affirmation allen Übels, die sich, paradoxerweise aber, umgekehrt hyperkritisch, allererst ins grellste Licht hinein exponiert. Sodann 10 Donauschwäbische Kulturstiftung (Hg.): Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944-1948. Die

Stationen eines Völkermordes. Verfasst vom Arbeitskreis Dokumentation in der Donauschwäbischen Kulturstiftung – Stiftung des privaten Rechts –, München, und im Bundesverband der Landsmannschaft der Donauschwaben, Sindelfingen. (Reihe III: Beiträge zur donauschwäbischen Volks- und Heimatforschung.) München 2000, S.153-155. Dem Buch liegt die vierbändige Dokumentation Leidensweg der deutschen im kommunistischen Jugoslawien zugrunde.

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verfolgen Sie mich im Geiste wie der Exorzist aller unbeabsichtigten Reste meiner Metapositionalitäten, von denen aus ich, scheinbar unkontaminiert mit dem Scheinverworfenen unter mir, den je eingeholten Fluchtweg, abgehoben, perdu, in alle schwarzen Himmelsgeltungen angetreten habe. Zynische Uroptionen Ihrerseits, die mich über mich selbst, indigniert, stolpern machen, und die sich – ihre Stärkenschwäche –, konsequent über ihre abbrechenden paranoischen Spitzen hinaus, selbstverlustig unzuwendig todesfromm schizophrenisieren. Wachsam wurde ich, angängig die Gewahrung meines womöglich residualen Moralismus, die Stipulation einer essenziellen Differenz zwischen „Überich“ und „Es“, der Kritikpotenz und ihres Kritisierten, durch meine vorsätzliche Einläßlichkeit auf Ihre konträr indifferenzierende Gedankenführung. Gut, weniger aber, daß ich die Apologie dieses – psychoanalyseherkünftigen? – normativen Relikts anstrengen wollte, dürfte ich auf die eigenen nachdrücklichen Maßnahmen abheben, dasselbe, axiologische Reliquie, mindest zu tamponieren, so daß sich diese unsere prinzipielle Unterschiedlichkeit minimalisierte, ohne dabei ganz zu schwinden? Sicherlich werden wir noch Gelegenheit ausfindig machen, unsere, in wechselnden Distanzgraden, gedankliche Auseinanderdriftungen en détail zu vergleichen; wofür auch Ihr jüngstes „Prospekt“ brauchbar wäre. Es sei mir jetzt aber schon erlaubt, im Vorgriff darauf, der gebotenen Kürze wegen pars-pro-toto, wenigstens noch meine Hamletisierung auszuwählen, von der aber apriori nicht sichersteht, unseren eh ja schwankenden Widerstreit zünftig zu prononcieren? Hamlet – Laus im Pelz, wie im Falle Shakespeares immer: ich komme nicht mehr davon los, kann aber, hier jedenfalls, nicht darüber loslegen: so etwa über den hamletisch verzwickten Ödipuskomplex; was Freud diesbetreffend kundtat; zur politökonomischen Überordnung über die psychoanalytisch isolierten Psychoevents: „Hamlet“ als exponiert tragödisches Historiendrama. … Deshalb hier nur die Adnota zu meinem Kümmerhamletismus, wie von Ihnen skizziert, dessen kleinbürgerlichem Moralismus, gegen den Sie sich, wie mich ins Unrecht setzend, ironisch wenden, vergleichbar den „Anti-Ödipus“-Verdikten (wie halbherzig auch immer) gegen Lacan. Fehlanzeige, familial, denn auf ganzer Linie: „Claudius“, der Brudermörder – das wäre mein Patenonkel, der jüngere Bruder meines Vaters gewesen; Faulpelz zeit seines Lebens, seine makabren Scherze gingen leicht in Anflüge von Gewalttätigkeit über; auf meinen Vater aber hatte er es nimmer abgesehen, im Gegenteil, er war seines älteren Bruders Schützling nachgerade. Und in den Reaktionen meiner Mutter ihm gegenüber erinnere ich nicht mehr als eine Art von Fernwohlwollen. Fade würde es, alle diese widerhamletischen Unterschiede zu notieren … Auch grosso modo politisch ermangelte mir, dem noch nicht einmal Halbwüchsigen, der Irrwitz, mich am Erbfeind, den Franzosen, für die Vaterhumiliationen zu rächen; nein, im Gegenteil, alle Rachewünsche schlugen auf mich depravierend zurück: als Paradoxon einer reaktionsbildungshaften Frankophilie (!), in sich quasi wiederum sanktioniert durch meine fremdsprachliche Französischschwäche. Aber Recht haben Sie, wie schon eingeräumt, doch – es reicht, tragödisch eben zum Hamlet nimmer, dem war das unglückliche Glück des Unheilsentkommens „de la petite bourgeoisie“, mit ihrem immanent rettenden Moralismus, vor. Vorsicht aber! Geht man so nicht, sich womöglich arg übernehmend, mit den großen Hunden lebensgefährlich … (pardon!), setzte man, eh aber, „Anti-Ödipus“like, bloß imaginär derart nicht, auf das besagte heroisierte Indifferenzierungsgebaren? Lieber also bliebe ich, dumm definit, dieser Rudolf Heinz, schuldig gar unkontaminiert mit Josef Ackermann und dem Bettler auf der Kö, nietzscheanisch sonst einige Nummern zu groß: „Alle Namen der Geschichte bin ich!?“ So meine widergroßnarzisstische Option, mit allen ihren (klein)paranoischen Unannehmlichkeiten? Hypo-manische Fortsetzung folgt gewiss! Ihr dankbarer Rudolf Heinz

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RALF BOHN

DER SOUVERÄN DES ANDEREN ÜBERLEGUNGEN ZUM APORETISCHEN ZUSTAND DER INSZENIERUNGSPOLITIK Mit der neuzeitlichen Wissenschaft erscheinen zwei neue Komponenten in der Problematik der Legitimierung. Um die Frage: Wie beweist man den Beweis? Oder allgemeiner: Wer entscheidet über die Bedingungen des Wahren? zu beantworten, wendet man sich von der metaphysischen Untersuchung eines ersten Beweises oder einer transzendenten Autorität ab und anerkennt, daß die Bedingungen des Wahren, also die Spielregeln der Wissenschaft, diesem Spiel innewohnen, und daß sie nicht anders als im Rahmen einer selbst schon wissenschaftlichen Auseinandersetzung begründet werden können und es keinen anderen Beweis für die Güte der Regeln gibt als den Konsens der Experten. [...] Diese Art, die soziopolitische Legitimität zu befragen, verbindet sich mit der neuen wissenschaftlichen Haltung: Der Name des Helden ist das Volk, sein Konsens ist das Zeichen der Legitimität, die Überlegung ist seine Weise der Normsetzung. Jean-François Lyotard1

I. ZUR APORIE VON ANERKENNUNG UND ERMÄCHTIGUNG

Zwischen Inszenierung und Politik eröffnet sich einer der aporetischen Ausflüge zur Frage, ob Inszenierung im öffentlichen Raum unpolitisch sein kann. Behauptet nicht neuerdings der performative turn, dass alles Handeln in sich repräsentiert ist, und dass eine Unterscheidung zwischen Repräsentation und Aktion der selbst die Zeit differieren muss? Der Vaihinger’sche Fiktionalismus hat schon im 19. Jahrhundert mit der Theorie des „als ob“ gespielt, indem er die Unterscheidung zwischen Hypothese und Fiktion nicht nur auf wissenschaftliches Handeln anwandte. Gehört es nicht zu den Bedingungen repräsentativer Demokratie, dass die Politik ihre Handlungen so inszenieren muss, als sei symbolisches Handeln und wirkliches Handeln getrennt und gerade diese Trennbarkeit Voraussetzung für den Aufschub affektiver Gewalt? Dies hieße den Marx’schen Ansatz der elften Feuerbach-These2 auf den Kopf zu stellen und Marx vom späten Heidegger aus zu denken. Wenn nach Marx gilt: „Die Menschheit stellt 1

Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1993, S.91 u. 93.

2 Ich folge einem Gedankengang von Jean-François Lyotard: Wozu philosophieren? Zürich/Berlin 2013,

S.81. Die These lautet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Lyotard geht davon aus, dass die Ideologien und die Philosophie sich nur in der Verkleidung (ebd., S.83) dem Gegenstand ihres Begehrens, dem Begehren selbst, nähern kann.

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sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann,“3 d.h., dass die Lösungen auf der Ebene der Evidenz verborgen sind, folgt für die Ideologien und die Philosophie und für die Politik, soweit sie symbolisches Handeln ist, dass ihr Gegenstand die Stellung von Aufgaben ist, die unlösbar sind, um sich das Begehren und die Macht als Gaben des anderen zu erhalten. Naiv utopisch könnte man sich so die Frage stellen, ob die Inszenierung einer klassenlosen Gesellschaft nicht genau die Fiktion ist, die sie nicht hat entstehen lassen können. Sind also Inszenierungen als Fiktionen reale Möglichkeiten mit Problemen umzugehen, die prinzipiell nicht lösbar, also aporetisch sind? Anders gefragt: Erlösen Inszenierungen vom Verdacht die Menschheit mittels technisch-wissenschaftlichen Aufgaben Anforderungen erlösen zu können? Als Folge dieser Überlegungen greift auch für die Politik die Überzeugung um sich, dass die Inszenierung politischen Handelns stets etwas Minderwertiges gegenüber der Politik sei, die Direktiven und Befehlen nach napoleonischer Manier erteilt, einer Manier, die das ökonomische Handeln unter der Diktatur des Geldes bestimmt. Die These ließe sich aufstellen, ob Inszenierung und Politik derart aporetisch miteinander verbunden sind, als in ihnen zwei Richtungen der Produktion von Zeitlichkeit zu erkennen sind. Inszenierung ist eine auf Deutung zielende Veranlassung möglicher, d.h. zukünftiger Handlung in Präsenz (Aufführung). Sie ist Handlungsaufschub unter der Maßgabe reversibler, symbolischer Initiation. Politik dagegen soll sein eine auf Irreversibilität zielende Veranlassung realer Handlungen (Macht), in der die Handlungen nachträglich legitimiert werden, dadurch, z.B. in der Heiligung der Opfer eines Krieges – sei er gewonnen oder verloren. In dem in diesem Zusammenhang viel zitierten Ehegelöbnis wird jedoch die Repräsentation der Handlung weder durch den Mann noch durch die Frau, sondern durch einen Dritten initiiert, der nicht handelt, sondern der Präsenz der Handlung (Eheschließung) Dauer verleiht. Im performativ gedachten Handlungsakt als einer eigenständigen sozialpolitischen Struktur wird es möglich, die Stasen der Zeit (eine auf Zukunft gerichtete Auslegung und eine auf Nachträglichkeit entworfene Legitimation) in ihrer Aporie auszuhalten. Die Eheleute müssen nach Maßgabe ihre „Politik der Dauer“ durchführen. Die Verfügung über den Zeitraum („Dauer“) geschieht in der Macht über die Stasen der Zeit, keineswegs territorial: Im Falle der Eheschließung geht die Macht sogar bis zum Tode und darüber hinaus. Die Präsenz der Inszenierung dient einer „Rahmung“ der zukünftigen Geltungsdauer von Macht. Es ist nicht die Vergangenheit (der Adel, die Herkunft), sondern die Zukunft, das Versprechen einer Erfüllung), die die Macht als Repräsentation begabt, aber einer Erfüllung von Unerfüllbarkeit. Wenn die chronologische Bestimmung von Macht, die sich symbolisch aktualisieren/exekutieren lässt, da sie sich aus einer Initiation begrün3

Ebd., S.87.

DER SOUVERÄN DES ANDEREN 283

det, nicht gesehen wird, macht es keinen Sinn, eine Unterscheidung von Politik und deren Inszenierung einzuführen. Die These, die ich aufstelle, lautet: Macht ist eine Bestimmung ihrer Dauer, begründet auf der Initiation einer Inszenierung von Versprechen. Inszenieren heißt, jemanden anderen glauben machen, er selbst sei im Besitz der Macht. Schon sind wir bei der Aporie der Gerechtigkeit. Wenn es Aufgabe der Politik ist, für Gerechtigkeit zu sorgen, kann das nur in aller Öffentlichkeit geschehen, in der Teilhabe aller. Privation dagegen ist das Reich der „guten Tat“: „[D]amit es Gabe gibt, darf die Gabe nicht erscheinen, sie darf nicht als Gabe wahrgenommen werden.“4 Die Aporie der Gerechtigkeit (Nicht-Inszenierung) kann sich nicht zeigen, ohne sich zugleich zu desavouieren. Folglich ist alles Politische notwendigerweise daran gebunden, einen opferreichen, steinigen Weg unendlicher Umverteilung zu gehen. Derrida zielt mit seinem Hinweis auf die Privation der Gabe darauf, dass diese aus der Zeit des Tauschs und der Inszenierbarkeit herausfällt, sie ist machtlos. „Überall, wo es Zeit gibt, überall, wo die Zeit die Erfahrung beherrscht oder konditioniert, überall, wo die Zeit als Kreis herrscht [ist] die Gabe unmöglich.“5 Also ist die Gabe kein Gegenstand der Ökonomie und der Öffentlichkeit, d.h. der Politik. Dagegen: „Das ‚generöse‘ oder ‚dankbare‘ Bewußtsein ist bloß das Phänomen eines Kalküls und die List einer Ökonomie. Das Kalkül, die List und die Ökonomie sind in Wahrheit die Wahrheit dieser Phänomene.“6 Weil die Gabe eine Erscheinung nur der Präsenz (Präsent/Geschenk/Stiftung) ist 7, kann sie nicht gerecht sein, noch kann sie in Erinnerung gehalten werden. „Damit es Vergessen in diesem Sinne gibt, muß es Gabe geben. Die Gabe wäre so die Bedingung [condition] des Vergessens.“8 Die Ökonomie dagegen zeigt sich somit als „berechnend“ im Sinne der Erstellung eines dramaturgischen Zirkels der Zeit (z.B. einer Legislaturperiode), in der die unwiederbringliche Präsenz nicht als Opfer auftritt, denn jedes Opfer bezeugt zukünftigen Gewinn – „Sie sind nicht umsonst gestorben etc.“ Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt zwischen Polis und Privation schon 1958 in Vita activa auf die Anökonomie der christlichen Güte bezogen. Die einzige Tätigkeit, die Jesus nachweislich in Wort und Tat gelehrt hat, ist tätige Güte, und diese Tätigkeit hat sichtlich die Tendenz, sich vor Augen und Ohren der Menschen erborgen zu halten. So läßt sich die frühchristliche Feindseligkeit gegen die Öffentlichkeit, das Bestehen darauf, daß ein frommes Leben sich so weit wie nur irgend möglich von ihr entfernt halten muß, auch als eine zwingend evidente Haltung verstehen, die sich unabhängig von allen Hoffnungen und Erwartungen aus der Haltung der tätigen Güte ergibt.9 4

Derrida, Falschgeld, a.a.O., S.28. S.19. 6 Ebd., S.27f. 7 Ebd., S.20. 8 Ebd., S.29. 9 Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S.91. 5 Ebd.,

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Dass damit gegen die Idee des über Ökonomie erhabenen griechischen Politikbegriffs und gegen die öffentliche römische Präsentation von Reichtum, Ämter- und Stimmenkauf, auch das Problem der „Gerechtigkeit“ transzendiert werden muss, macht die gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Schirm des Christentums so lange nicht prekär, als eine Zeit der Gerechtigkeit außerhalb der Zeit fingiert wird. Das Christentum inszeniert eine Politik des Versprechens und nicht eine der Erfüllung. Opfer werden nicht beklagt, sondern geheiligt. Nicht Ereignis, sondern Erwartung bestimmt diese Politik.10 Wir haben es demnach mit mindestens drei Ebenen der Inszenierung von, als und durch Politik zu tun: a. Die Politik handelt nicht, sie repräsentiert. Jede Handlung bedingt ein Opfer, dessen minimierteste Form der Aufschub (Bürokratie) ist. Die Veranlassung zum Handeln wird durch das Repräsentierte (der Souverän, das Volk, die öffentliche Meinung, die Sachzwänge) genötigt. Die Politik ermöglicht in der Aporie unlösbarer Gerechtigkeit also eine zirkuläre Opferverschiebung. Sie ist in sich mit Inszenierung identisch, Aufführung auf Zeit. b. Die Politik handelt unvermittelt, ohne inszenatorische List und ohne auf den zukünftigen Sinn eine Wette des Vertrauens abzuschließen. Sie bringt als Gewalt die unmittelbaren Opfer hervor, die sie als unvermeidlich heiligt. Als Beispiel bietet sich die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs an. Sie legitimiert sich durch Adel und Geschichte, dadurch dass sie als Macht überdauert. c. Die Politik ist eine subkutane List, die sich entgegen ihrem Begriff im Verborgenen hält. Sie markiert den Zustand der Gabe und der Gerechtigkeit, die sobald sie Anzeigen von Inszeniertheit trägt, sich dem ökonomischen Schuldzirkel verdächtig macht. In diesem Fall, hat sie – im Heidegger’schen Sinne – an der Offenbarung des unvermeidlichen Opfers teil. Sie ist einem ideologischen Sinne, auf zukünftigem Heil entworfenen Transformationsprozess des Opfers unterworfen und ihre Macht dauert so lange, wie die Fiktionen tragen, die sie entwirft. Sie ist in ihrem Inneren religiös – jedenfalls, wie die Marx’sche Ideologie, von der Erlösung und Überwindung der Aporie besessen. Die Balance zwischen politischer Handlungsanweisung und Inszenierung ihrer Präsenz hat ihr aporetisches Moment in der Bestimmung von Macht selbst: Sie kann zum Handeln aber auch zum Nicht-Handeln veranlassen, und sie kann die Veranlassung invertieren, die Macht zum Schein dem anderen (dem Souverän) geben. So braucht die medialisierte Politik selbst nicht mehr zu handeln und 10

Hier gerät der Lyotard zwar unter den Argumenten des Lacan’schen Begehrens in die Nähe der Heidegger’schen „Gelassenheit“.

DER SOUVERÄN DES ANDEREN 285

ist von Schuld frei, wie Pilatus, der das Volk zwingt, zu entscheiden: Barabbas oder Jesus? Die Schuldheiligung als Ausweis ökonomischer Unabhängigkeit unter dem Stern chronischer Gerechtigkeitsideologien verdeckt, dass Handeln (in Freiheit) ohne (verursachende) Schuld nicht möglich ist. Deswegen soll nicht der Veranlasser, sondern sollen die Veranlassten im Glauben stehen, über Handlung und Nichthandlung entscheiden zu dürfen. Hier ist die Inversion („Diener des Staates vs. Souverän des Volkes“) das aktive Moment der Reversibilität der Initiation, also der dritten Ebene politischer Inszenierung. Das Recht wird nicht genommen, es gilt als Gabe. Als Gabe ist es nicht öffentlich zu machen, folglich muss man sich einer fiktionalen Form bedienen: dem Versprechen der Gerechtigkeit unter der Maßgabe, dass alles, was der Ökonomie verfällt nicht gerecht, sondern allein Ausweis von Freiheit ist. Wenn von Politik unter den Aspekten ihrer Inszenierbarkeit gesprochen wird, dann geschieht das unter der Bemächtigung unmittelbarer Gewalt (Initiation) in ihre Vermittlung. Gewalt ist somit der nicht vermittelte Ort, der die Dauer (den symbolischen Aufschub) nicht aushalten kann – was nicht ausschließt, das Macht und Gewalt strategisch operieren können, sie können es aber nicht simultan: Entweder ist die Gewalt aufgehoben, dann spielen wir Theater, oder sie ist nicht aufgehoben, dann realisieren wir Krieg. Das öffentliche Aushalten-Können von Macht korrespondiert heute mit dem privaten Wohnen in den Diensten der medialen Gaben. So schieben sich die Medienfiktionen als das „Gesellschaftliche“ (die Netze, die Infrastruktur etc.) zwischen Politik und Privation, dem Bestand der Geschichte und dem, was vergessen werden muss, indem sie den aporetischen Zustand der Opferschwebe aushaltbar machen. Ein gern zitiertes Beispiel für die Aporie von Handlung und Bedenken der möglichen Handlungsfolgen als Repräsentation derselben bietet Hamlet. Man dramatisiert ihn gewöhnlich im Widerstreit zwischen Handlung und Reflexion: als Zögernden oder Zweifler. Nach welcher Maßgabe wäre zu handeln: Handle ich oder wird das Schicksal handeln? Gilt es, in der Rache die Gespenster des ermordeten Vaters symbolisch zu vertreiben11, oder gilt es, die Mörder zu richten? In seinem berühmten Monolog vermittelt Hamlet bekanntermaßen diese 11

Der Geist des Königs, Hamlets Vater, der diesem erscheint, fordert Hamlet zur Rache auf. Die Rache, wie auch das Erscheinen des Geistes sind jedoch Formen der Reversibilität: erstens der Memoria an den toten Vater als der tote Vater, zweitens bedeutet Rache das Ungeschehenmachen einer Gewalt durch eine andere Gewalt, eine Art Mimesis. Hamlets Rache könnte gut zivilisiert darin bestehen, die Zeit der Sühne als Haft in eine Dauer zu überführen. Vermutlich ist das für Shakespeare keine dramatische Option, die der historischen Zeit angemessen wäre. Historisch prägnant für die Aufklärung zwischen Renaissance und Barock ist auch die Problematisierung des Geistes in seiner Beglaubigung. Zwischen Aisthesis und Ästhetik gibt es ebensowenig eine klare Trennung wie zwischen Gewalt und Verführung durch Machtoptionen. Im Falle Hamlets ist der Geist (Imagination) etwas, was das Symbolische verlässt und zur Handlung zwingt, die Rache an der stets vorausgehenden (väterlichen) Imagination, die nicht (aus dem Kopf ) vertrieben werden kann – es sei denn durch Ablenkung. Und genau hier setzt die Macht des Andersartigen an, die man als die weibliche Macht (Lady Macbeth!) bezeichnen kann: die Verführung.

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ontologische Bestimmung des Menschen als eines handelnden Subjekts durch Traum und Fantasie: Kann irgendein Subjekt tatsächlich der Autor seiner Handlungen sein, oder kann das nur in der Anmaßung eines Vatermordes, geschehen? Hamlet fragt nach den Legitimationsverweisungen von Mord und Rache durch den anderen. Das höhere Gesetz der Rache entwirft sich jedoch als eine Revision der Tat, eine nachträgliche Erlösung des Opfers. Genau hier gerät Hamlet in den aporetischen Zweifel: Die Rache kann die Tat nicht ungeschehen machen, da es ein Kennzeichen der Tat ist, dass sie irreversible Folgen zeitigt, ein Kennzeichen der Fiktion dagegen (zum Beispiel der Fluch, wie er in Macbeth inszeniert wird) kann eine symbolische Verschiebung durchführen, und die Täter in Opfer verwandeln. Dafür sorgt übrigens die Episode mit dem Schauspiel (III. Akt, 2. Szene) Wenn Hamlet sich auf den Traum und den Schlaf als Momente des Handlungsaufschubs bezieht, übergibt er die Rache dem Schicksal. Nun besteht das Problem der Rache nicht darin, einen Täter zu richten, sondern darin, die ursprüngliche Tat zu sühnen, also in gewisser Weise ungeschehen/vergessen zu machen, um so Macht über eine Reversibilität der Zeit zu erhalten. Politisches Handeln/Zögern besteht nicht mehr in der Ausübung von Gewalt, sondern darin, zu entscheiden, wann und aus welchen Gründen gehandelt wird, Handlungen ausgesetzt oder rückgängig gemacht werden können, also aus einem Bedenken der Legitimität der Opfer. In dieser Hinsicht tritt Politik in deutliche Konkurrenz zur fiktionalen Simulation als Inszenierungen einer Sphäre der Gaben, des Sozialen und der Wohltaten heute öffentlich auf,12 d.h. sie ist eine Art Geschäftsmodell, in der Arbeit und Gewinn vermittelt zu werden verspricht. Nur, in Politik wird Autorschaft/Vaterschaft angemaßt, in der Inszenierung wird sie in einer Reversion (Verführung) dem anderen als dessen eigene Handlungsmacht unterstellt. Aufgabe der politischen Handlung ist es, das unvermittelte Handeln (Gewalt) als ein Realisieren im anderen aufzuschieben. Es gilt, das Problem des Politischen als einer Instanz des Aufschubs von Gewalt wieder ins Bewusstsein zu bringen. Andererseits kann Politik nicht darin bestehen, nur so zu tun „als ob“, also nach der Manier von Hamlet, den Geschicken ihren Lauf zu lassen oder nach den Geschicken der Techniken, Probleme mit Lösungen (voreilig) zu eliminieren. So inszeniert Politik ein wirklich unlösbares Problem, um sich zu entschulden: das der Gerechtigkeit, was nichts anderes besagt, dass man die Zeit aller Zeiten auf null zurückstellen könnte, die absolute Präsenz. Denn wenn die Balance der Macht eine Frage der Dauer ist, ist die Geschichtlichkeit der Präsenz, die Herkunft oder die Autorschaft das zentrale Problem von Politik. 12

Hamlets Monolog ist dafür bezeichnend: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: / Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern / Des wütenden Geschicks erdulden, oder, / Sich waffnend gegen eine See von Plagen, / Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen – / ...“ (Hamlet, III. Akt, 1. Szene) Bezeichnend für den Fortgang der Handlung ist das Schauspiel im Spiel, dem Wahrheit zukommt, gerade weil es sich um eine Inszenierung handelt (III. Akt, 2. Szene).

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Das trifft insbesondere auch dann zu, wenn die Gerechtigkeit an die Potenz der Bildung gekoppelt wird. Denn Bildung (Kompetenz) heißt: als Autor sprechen und Probleme als lösbar hinstellen zu können. Derrida hat das mit Hinblick auf die Restitution des Problembegriffs angedacht: Problema kann insgesamt betrachtet Projektion oder Protektion bedeuten, das was man vor sich stellt oder wirft, die Projektion eines Projekts, die zu erfüllende Aufgabe, aber auch die Protektion eines Ersatzes, eine Prothese, die wir voranstellen, um uns darzustellen, uns zu ersetzen, uns zu schützen, uns etwas Unaussprechliches zu verheimlichen oder zu verbergen [...] hinter dem man im Fall von Gefahr im Verborgenen oder in Sicherheit bleiben kann.13

Derrida setzt das problema, das im Allgemeinen als die Veranlassung einer Handlung oder Handlungsanweisung (Macht) angesehen wird, in die Funktion eines zwiespältigen Autors ein, der zum einen zum Handeln zwingt (das Problem bedarf der Lösung), zum anderen aber hinter dem Handeln aussetzen kann (das Problem ist die Zwiespältigkeit, die die Handlung hemmt und verwirrt). Deswegen kann Derrida das problema in Zusammenhang mit der aporia formulieren, die er im Zweispalt mit der Autorschaft sieht, in der „es darum gehen sollte, „nicht zu wissen, wohin man sich wenden soll“, um die Nicht-Passage oder vielmehr um die Erfahrung, das Experiment der Nicht-Passage, der Erprobung dessen, was bei dieser Nicht-Passage passiert oder passioniert macht“14 zu erkunden. Die aporetische Setzung eines Problems als Handlungsmotiv zwingt zu Handlungen, die wieder zurückgenommen werden können, also zu Simulationen, Fingierungen, Inszenierungen. Wird ein Problem als handlungsveranlassend reflektiert, kann gesehen werden, dass darauf zwei aporetische Schritte folgen: zu handeln (ohne zurücknehmen zu können) und nicht zu handeln (und erst recht nicht zurücknehmen zu können), d.h. der „Natur“, dem „Markt“ der „Konjunktur“ oder dem „Geschick“ die Schuld zuzuweisen. Die Weisung des Problems besteht nicht in der Auflösung (dem Handeln), sondern der Inszenierung, als Zuweisung der Handlung. Es gilt die Lösung, dass Problem zu wahren, als Errettung der Möglichkeit von Repräsentation, Kontinuität und Dauer, sodass der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Unlösbarkeit des Problems und der der ökonomischen Verwandlung der Gabe durch eine lange Kette der Instanzen abgemildert wird. Wenn politisches Handeln solche Opponenten hervorbringt, die das Handeln auch stets wieder zurücknehmen können, dann ist es erstens inszenatorisch, zweitens droht es nicht in der stets faschistischen Isolierung einer Problemeliminierung zu verkümmern, die, qua Technikdefinition, d.h. qua Anerkennung der Realitätsmacht und Verabschie13

Jacques Derrida: Aporien. Sterben – Auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefaßt sein. München 1998, S.28. 14 Ebd., S.29.

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dung der Aporie, stets zu früh die Pforten des Paradieses öffnet. Was wir der Politik vorwerfen, ist ihre unmittelbare Notwendigkeit: Probleme zu verwesen und Lösungen in den Bereich ideologischer Fiktionen zu verbannen. Was machen wir aber stattdessen: Wir werfen ihr vor, nicht zu handeln – dabei ist die gesamte Sphäre der bürgerlichen Privation genau darauf ausgerichtet: ein Refugium reversibler symbolischer Aktivitäten zu situieren. Und in der Tat ist die bürgerliche Wohnung das Paradies auf Erden, ein völlig unpolitischer, der Öffentlichkeit nicht zugänglicher, heiliger Bezirk. Dies will ich den narrativ-strategischen oder ideologischen Aspekt der Handlungsdelegation (List demokratischer Politik) nennen. Aufgabe von Politik ist es, ein Schema der Handlungen zu organisieren (z.B. das der Organisation von Arbeit), d.h. eine Interpretationsfolge, in der die Inszenierung als Veranlassung sich von sinnlicher Affektivität auf sinnhafte Effektivität verschiebt: Gerechtigkeit gibt es noch nicht, also müssen wir daran arbeiten.15 Ein Aspekt, der jede Politik zur Inszenierung zwingt, setzt öffentliche Kommunikation über Handlungsziele und -wege schon voraus. Ob politisches Handeln unter bestimmten Aspekten einer „großen Erzählung“ (Lyotard) oder noch größeren Erzählung (Ökonomie) erfolgreich sein kann, lassen wir offen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass (politische) Öffentlichkeit ein notwendig aporetisches Korrelat von Macht ist, deren Initiation dadurch überdauern kann, dass sie (vielleicht auch nur im inszenatorischen Schein), den Akteuren unterstellt, in deren eigenem Interesse zu handeln, ein Interesse, dass ihnen durch die Ideologien als fiktionales Versprechen untergeschoben wird. Die Verführung des Andersartigen ist ein notwendig strategisches Schema der Macht.16 Deswegen kann politische Macht nicht in einer Sollizitation bestehen, sondern sie muss sich selbst in der Veranlassung negieren, d.h. sich als vom anderen bestätigt inszenieren. Politik heißt, im Namen des anderen die Bürde der aporetischen Handlung auf sich zu nehmen. Das Schema betont, dass politisches Handeln zunächst einmal nur re-präsentativ ist. Auch wenn Politiker zuweilen Bäume pflanzen oder Kinder küssen, handeln sie nicht, sondern sie stellen ein Handeln in Aussicht, indem sie den Sinn der Handlungen, die ihrem Namen und in ihrer Macht unterstellt werden, vorweg in der Verfassung begrenzen.17 Die Autorschaft der Politik muss sich als eine Stiftung verstehen, die – selbst in den modernsten 15 Ein Schema in Bezug auf Narrativität zu entwerfen, heißt die Kontingenzen der Macht zu media-

lisieren: Die „Variabeln des narrativen Schemas (lassen sich) in genau drei Kategorien einteilen [...], die beim narrativen Verstehen alle vertreten sein müssen: Regeln, Individuen (nämlich Charaktere und Objekte) und Ereignisse.“ Brigitte Rath: Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas. Weilerswist 2011, S.79. 16 „Hier in diesem Sinn bedeutet also eine Person verführen: sie in eine Situation bringen, wo man ihr etwas geben statt nehmen kann.“ Jean Baudrillard: Laßt euch nicht verführen! Berlin 1983, S.129. 17 Es ist nicht von der Hand zu weisen: Schon die zehn Gebote sind nichts weiter als Annullierungen von Handlungen, die nicht reversibel sind.

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Diktaturen – nicht mehr davon ausgeht, dass der Politiker das Schwert oder die Pistole in die Hand nimmt. Das Problem ist nur, das wissen wir spätestens seit Heidegger und dem „Fall Heidegger“, dass die Gewaltvermittlung durch technische Macht sich entschuldigen kann, da sie die Opferfolgen ausgrenzt, unsichtbar macht, durch den Zwangsgebrauch von Handlungsautomatismen veranlasst, die sich wie schicksalhaft ereignen und für die Zukunft als da notwendig kleinere Übel geheiligt werden. Schicksal ist als Gabe der Geschichte die nicht inszenierte Politik auf der Ebene naturalisierter Narrative: Da das Schicksal zufällig ist, ist es gerecht. Nun soll der technische Gebrauch gerade nicht von Veranlassungszweifeln unterwandert sein, sondern der Vermittlung von symbolischer und unvermittelter Macht dienen. Technische Vorgänge sind in aller Regel interpretationsstabil, auf Eindeutigkeit verpflichtet und umkehrbar. Sie ermächtigen ihre Nutzer. Technik ermächtigt die Nutzer im besten Fall zwischen Nutzen und Lassen („Gelassenheit“18). Zwischen einer technisch pragmatischen Politik und einer Politik der Sinninszenierung plagen uns Zweifel, die immer noch eher an die Redlichkeit der Politiker als an die von Ingenieuren geheftet werden. In diesem Sinne hatte Dilthey zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf hingewirkt, zwischen dem Erklären (der Ingenieure) und dem Verstehen (der Politiker bzw. Historiker) einen Unterschied zu machen, der die Grenze zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften markiert, im politischen Sinne Expertenwissen (Legitimität) von Werturteilen (Gerechtigkeit) abgrenzt. Mit dieser Trennung hat Dilthey den Keim gelegt für eine heutige Problemstellung dessen, was Inszenierungen leisten: Inszenierungen sind zunächst einmal Veranlassungen, Bedeutungs- und Handlungsketten in ihrer Komplexität aber auch Folgenabschätzung plural und, wo möglich, simultan durchzuspielen, indem nämlich der Autor einer Inszenierung Sachverhalte darlegt, die unter vielen verschiedenen Aspekten (Beobachterstandorten und -intentionen) auf ihre Handlungsfolgen abgeklopft werden können, da nicht ein Telos, sondern ein Skopus, eine Reversion der Folgen im Vordergrund steht.19 „Abklopfen“ ist dabei eine durchaus passende Vokabel. Man soll (nicht: muss) als 18 Vgl.

Martin Heidegger: Gelassenheit. Stuttgart 2014, S.23.

19 Diltheys Argumentation ist nicht auf die radikale Trennung der beiden Bereiche ausgelegt, sondern

auf eine Stufenfolge der Allgemeingültigkeit der Interpretation: Reduktiv als Technik und prospektiv im Humboldt’schen Sinne, im kontextuellen Durchspielen möglicher Handlungen. Vgl. die Einleitung von Manfred Riedel in: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main 1981, S.73. Um Geschichte realisieren und schreiben zu können, bedarf es der Kontingentierung der ‚Fakten‘, d.h. einer Kompiliation (Divination) allgemeiner und individueller Handlungen derart, dass der (geisteswissenschaftliche) Interpret das Schema, die Struktur oder die Perspektive aller Handlungsbeteiligten prospektiv und totalisierend im Blick, genau, im Gedächtnis hält. Es kommt in der Interpretation tatsächlich also zu einer Animation der Dinge (Allegorese), zur Befragung ihres sonst eindeutigen Gebrauchs – es sei denn, man entwickelt in der Fingierung alle Dinge zweideutig, unterstellt sie, wie der Barock, der Logik des Theaters.

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Beiwohner einer Inszenierung das eigentliche Ereignis von seiner Veranlassung trennen, d.h., allererst eine Autorschaft anerkennen und dann auch noch unterstellen, dass es der Autorschaft nicht um das Resultat einer Handlung geht, sondern um ein Durchspielen der Handlungsmöglichkeiten in der Durchstreichung ihrer selbst. Damit wird die Deutungsmacht in einer langen Kette der Entwicklung bis zu Dilthey hin, enttheologisiert und beginnt sich die Dezentrierung des Subjekts auf Grundlage seiner technischen Zentrierung kenntlich zu machen. Autorschaft kann nicht mehr angeeignet werden, sie wird chora publikum vergeben. Die Geschichte oder ein Theaterstück spielen nicht irgendein Problem vor, das man danach in der Wirklichkeit lösen kann, sie sind keine Hypothesen, sie dramatisieren die Wahrheit der Unlösbarkeit aporetischer Strukturen. Interessant wird diese Haltung bei Dilthey in einer Position, die man einerseits mit Handlungshemmung, andererseits aber gerade als Ausweis von Handlungsfreiheit legitimieren könnte: Das Grundverhältnis, auf welchem der Vorgang des elementaren Verstehens beruht, ist das des Ausdrucks zu dem, was in ihm ausgedrückt ist. Das elementare Verstehen ist kein Schluß von einer Wirkung auf die Ursache. Ja wir dürfen es auch nicht mit vorsichtigerer Wendung als ein Verfahren fassen, das von der gegebenen Wirkung zu irgendeinem Stück Lebenszusammenhang zurückgeht, welches die Wirkung möglich macht. Gewiß ist dies letztere Verhältnis im Sachverhalt selber enthalten, und so ist der Übergang aus jenem in dieses gleichsam immer vor der Tür: aber er braucht nicht einzutreten.20

Der konkrete Vorgang einer Inszenierung besteht darin, Autorschaft nachträglich zu beglaubigen. Das funktioniert nur, wenn sich tatsächlich ein reduktiver Sinn durch plurale Deutung ergibt, d.h. ein Autor mittels inszenatorischer Mittel in der Lage ist, „Beobachter“ zu veranlassen, kommunikativ eine Strategie der Verständigung über den Ausdruck zu erwirken – und zwar so, dass sich die „Beobachter“ schließlich als diejenigen wähnen, die die Autorschaft allererst konstituiert haben, indem sie das, was Negativ ausgedrückt ist, durch Handlungsübernahme positivieren können, nicht müssen. Alles, was dieser Reduktion durch Pluralität (Verstehen als Verständigung) genügt, was das offene Verhältnis zwischen Einzelnem und Vielen (dem Individuellen und Allgemeinen21) in Gemeinschaft formt, soll als Politik bezeichnet werden: schlicht naiv, Verständigung über die Frage, wer wem unter welchen Bedingungen im Namen eines Negats positive Produktion (Arbeit oder nicht Arbeit) erlaubt, ohne dass er persönlich die Konsequenzen zu verantworten hat. Alle lateinische Rhetorik lebte von dieser Politik. 20

Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a.a.O., S.255. So die hermeneutischen Termini bei Schleiermacher und Manfred Frank. Vgl. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt am Main 1977. Hier auch eine Auseinandersetzung mit Sartres progressiv-regressiver Methode (S.293ff ) – äquivalent den Termini Antizipation – Retrospektion. Und neueren Datums: Ders.: Ansichten der Subjektivität. Frankfurt am Main 2012.

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Das alles wäre kein Problem, wenn nicht die Verständigung in der Aporie der Vorverständigung in einen Regress gelangt, der sich gerade durch die Initiative der Anmaßung einer Autorschaft (oder Macht) äußert, wenn also statt der dialektischen Perspektive der Macht eine plurale gefordert ist. In der dialektischen hebt sich der Regress durch eine Hierarchisierung der Setzungen auf, in einer pluralen muss sie als Bedingtheit einer endlichen Vorverständigung Regeln entwickeln, die den Regress in einer Initiative unterbrechen: Wer darf wann und unter welchen Bedingungen in welcher Reihenfolge das Wort ergreifen? emand, der sich bereit erklärt, unter aporetischen Gesichtspunkten Handlungen auf sich zu nehmen, wird versuchen, dies im Namen eines anderen zu tun, den er als Agenten fiktionalisieren muss: Der Demokrat handelt im Namen Gottes oder einer ominösen Öffentlichkeit Namens „Volk“. Das Problem des Regresses lässt sich beheben, wenn die Anmaßung (setzende Gewalt) im Modus der Fiktion oder der symbolischen Negation erfolgt, gleichsam, wie Dilthey sagt, „vor der Tür“. Der griechische Begriff für diese Region propädeutische Setzung depersonalisierter Vorverständigung ist chora. Derrida hat in einer Interpretation, die sich auf Platons Timaios stützt, die These aufgestellt, ob unter chora als dem „triton genos“, dem dritten Geschlecht, weniger ein Ort „vor den Toren der Stadt“, sondern eine Latenz verborgen sei, die sich allenfalls mit der Periode der Mutterschaft bezeichnen lassen kann. Dabei kommt es ihm darauf an, wie Platon, die Vorläufigkeit der chora, ihren initiierenden Charakter, zum Ausdruck zu bringen. Alles läuft so ab, als ob die zukünftige Geschichte der Interpretationen von chora vorweg geschrieben, ja vorgeschrieben wäre, vorweg reproduziert und reflektiert auf einigen Seiten des Timaios, die chora „selbst“ „zum Sujet“ haben. Mit ihren unaufhörlichen Wiederaufnahmen, Fehlschlägen, Überbesetzungen, Überbelichtungen und Neubelichtungen wird diese Geschichte vorweg ausgestrichen, insofern sie durch Antizipation programmiert, reproduziert und reflektiert wird.22

Unschwer lässt sich an der Lektüre Platons verifizieren, dass die chora in der Vorgeschichte des Theaters den Platz der Entdeckung der hermeneutischen Bewegung, der Antizipation und Retrospektion einnimmt: Die Geschichte lesen heißt stets, in der Erfüllung der eigenen Antizipationen der Sinntotalität retrospektiv Anpassungen vorzunehmen. Das gelingt umso gleitender, wie Inszenierung als Geschichte die Antizipationen des anderen vorwegnimmt, gleichzeitig aber die Aufmerksamkeit auf (stilistische) Irritationen zu lenken versteht, die einer jeden Erzählung den Spannungscharakter bewahren lässt. Man muss sich also in einem Spannungsfeld doppelter Lenkung bewegen: Der Glaubwürdigkeit der Geschichte und der Kreditierung ihrer Einzigartigkeit. Nun denkt Derrida mit Heidegger nicht mehr vom Problem der setzenden Autorschaft (Initiation) aus, sondern von einem aus der Zukunft kommenden Sinn her („es gibt“). Man 22

Jacques Derrida: Chora. Wien 1990, S.26.

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muss die Geschichte, die man ist, zugleich in einen Sinn verwandeln, der sich als vorherbestimmt gibt. Diese Selbstteilung in der Zeit (die Verifikation des Urteils im Entwurfsgesamt [Sinn]) auf der Grundlage des beginnenden „Lesens“ der Elemente, die die Dauer des Selbst konstituieren, ist eine grundlegende Bedingung für die Latenzperiode, in der die Mikrostruktur des politischen Subjekts sich als Makroorganisation von Demokratie bewährt. Die Regressionsform, das Vergessen oder Institutionalisieren dieser ursprünglichen, aporetischen Selbstteilung der Zeit ist das Theater in Form des Parlaments. Aus dem ‚Vorplatz‘ der chora wird der Platz der scena, genauer, der orchestra. Das Stück geschieht im Spiel, es autorisiert sich selbst. Es gibt kein Subjekt der Geschichte, aber eine Geschichte der Subjekte. Der besondere Aspekt der Initiative als Stiftung wird jedoch entgegen der Entautorisierung dadurch hervorgehoben, dass zwischen der Strategie des „Inszenators/Autors“ und der Bestätigung des Publikums (oder zwischen Herrscher und Volk) die Rückkopplung auf folgende Weise manipuliert werden kann: Der Autor kann die Beobachter im Glauben bestärken, dass sie selbst es sind, die aus freien Stücken, also ebenfalls als Autoren, den initiierenden Autor (nachträglich) in seiner Bedeutungsvorgabe von Handlungen bestätigen, obgleich es wesentlicher Teil der Inszenierung des sich selbst einsetzenden Autors ist, genau diesen Glauben zu unterstellen. Wichtig ist, dass dadurch die Verführung nicht duellhaft bleibt. Sie muss von Vornherein so angelegt sein, dass in ihr weder Anfang (Initiation) noch Ende (Handlungsdurchführung, respektive Telos) positiv gesetzt werden. Die hermeneutische Maxime, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst versteht, unterscheidet, so Schleiermacher, nicht zwischen technischem Verstehen und divinatorischem Sinn. Die Verführung als wechselseitige Anerkennung ist somit eine notwendige Negation in der Entfaltung von Repräsentation, um den Regress der Handlungslegitimation und in Folge dessen die Paralyse der Schuldverteilung zu verhindern. Letztlich ist damit gemeint, dass die Realpragmatik von Initiation und Rückkopplung, von Herrschaft und Anerkennung, Bedeutung und Handlung funktional und intentional identifizierbar und somit selegierbar bleiben muss. Autorschaft ist sekundär als künstlerische Anerkennung zu werten. Der Autor erscheint nicht im Stück. Es geht somit in Diltheys politischer Hermeneutik darum, Amt und Person austauschbar zu halten und so die Stabilisierung für eine gewisse Dauer zu ermöglichen, in der sich die Einzelnen um das Gesamt der Gemeinschaft kümmern. Die Stücke sind ewig, die Autoren sind es nicht. Das Ergebnis dieser Selegierung braucht nicht permanent infrage gestellt zu werden, wenn das Schema der Handlungen einen narrativen Ausdruck begünstigt: Vom Mythos bis zum wissenschaftlichen Expertenrat wandelt sich das narrative Kalkül nur graduell. Die Aporie löst sich nicht in wissenschaftliche Objektivität auf, es ist nur das Schema, dass sich in ihr monopolisiert. Es geht nicht mehr darum, Wahrheiten festzustellen, sondern

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sie zu kalkulieren, Gewissheit wird zu einer Frage der Berechnung, Gerechtigkeit zu einer statistischen Größe. Die Einigung auf diese Verfahrenstrennung war es, die Dilthey die Unterscheidung von Handlungszwängen (dem Ernst der Natur und Naturwissenschaften) und Handlungsmöglichkeiten (dem Spiel der Imaginationen und hermeneutischen Wissenschaften) ermöglichte. Denn genau dieser Raum zwischen dem Sollen und dem Können verzeitlicht und befreit somit den nietzscheanischen Machtbegriff, der an ein Wollen geknüpft ist. Hans Ulrich Gumbrecht formuliert, ausgehend vom Problem der Repräsentation von Bedeutungshandlungen, folgende These: Ich glaube nun, dass das primäre Problem von der Unendlichkeit möglicher Repräsentationen für als identisch angesehene Phänomene – schon im 19. Jahrhundert eine stabile Lösung fand. Sie liegt, so meine These, in einer Umstellung von der Repräsentation der Phänomene durch stabile Wissenselemente (‚1:1‘ sozusagen) zu ihrer Repräsentation durch Geschichten. Die – zukünftigen – Naturwissenschaften erzählten im 19. Jahrhundert darwinistische (und protodarwinistische) Evolution, und die – zukünftigen – Geisteswissenschaften erzählten hegelianische (und protohegelianische) Geschichte. In beiden Fällen erlaubte es die Form der Narration, eine Vielfalt von Repräsentationen in ihr ‚unterzubringen‘ und als Geschichte zu ‚arrangieren‘.23

Nun, sie arrangieren sie nicht nur, sie inszenieren sie auch, um die Instabilität der Stabilität zu evaluieren: Es entsteht ein ‚emergentes Feld‘ wechselseitiger Überschreitungsstabilisierung. Ihr propädeutisches Schema ist nicht mehr das der Installierung einer politischen Vaterfigur, sondern das der Unterwerfung unter eine mythische Erzählung namens Konjunktur – bekanntlich eine Erzählung der Astrologie. Das scheint ein Rückfall in mythische, „vortheologische“ Zeiten zu sein. Durch die Technisierung hindurch wird die Inszenierung von Politik nicht mehr ein Spiel mit der Initiation, sondern eine notwendige Voraussetzung von Inszenierung: Um sich den Handlungszwängen von Konjunkturen zu widersetzen, muss es nun eine eigene Technik der Inszenierung namens Szenografie geben, die Ereignishaftigkeit (Initiation) künstlich erlebbar macht. Der Rest ist materialisierte Macht im Sinne der Normung, die, wie Lyotard sagt, eine Praxis des Volkes ist: Aber ist es nicht die Praxis der materialisierten Technik, die entscheidend ist, und für die notwendige Konstanz in den sozial überkomplexen Beziehungen sorgt? Man hat in der Entideologisierung der Politik, die die Nachhut der Konjunkturen ist, etwas Positives gesehen, muss aber bedauern, dass die längerfristigen Narrationsbestimmungen, d.h. die gesellschaftlichen Formierungen von Vergemeinschaftung, den politisch Verantwortlichen entgleitet und sich in Spontaneitäten entlädt, während das Vorurteil oder der Vorzustand der Technik als Realproduktion völlig „alternativlos“ als die kapitalistisch sich ewig erneuernde Geschichte des Fortschritts und der Schuldsühne hingenommen 23

Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Frankfurt am Main 2012, S.130.

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wird.24 Anscheinend gibt es keine Inszenierungsformen, die gerade diese universale Erzählung, nämlich die Vergesellschaftung in Technik zu Ungunsten des Politischen und des Privaten über sich selbst aufklären kann. Narrationen erschöpfen sich nicht, wie Foucault dem 19. Jahrhundert unterstellt hat, in Ordnungen, sondern sie figurieren im Bewusstsein zeitlicher Dauer: als Gedächtnis. Das aber heißt, sie ermöglichen einen Handlungswiderstand zwischen der Selbstautorisierung und einer realen oder unterstellten (fingierten) Fremdautorisierung (Natur, Schicksal, Konjunktur etc.), womit zwischen Beobachtung und Selbstbeobachtung allererst unterschieden werden kann, also zwischen Beobachtung als Wahrnehmung und Beobachtung als Handlung/ Haltung25. Erst wenn man eine Unterscheidung zwischen dem Erleiden einer Beobachtung (Initiation) und dem Verleihen einer Beobachtung (Signifikation) macht, öffnet sich der Spielraum für eine mögliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Handlungsoptionen, die nicht unter dem Druck unmittelbarer Zwänge, also Gewalt erfolgen. Kurzum, der inszenatorische Charakter repräsentativer Gewalt hat sich von jenem Wahrnehmungsdruck zu emanzipieren, den Medien- und Inszenierungstechniken erzeugen, indem er darstellt, dass man keineswegs unumstößlich das Opfer irgendwelcher Faktizitäten ist, die sich allein darin begründen, dass man sie wahrnehmen kann. Diesen nicht wahrnehmenbaren, nicht öffentlichen Teil der Politik nenne ich hier Diplomatie. Das Nichtwahrnehmbare wird als Inszenierung das, was man ihm für eine künftige Prospektion (hin)zufügt: Utopien und Ideologien, also die „Erkenntnisetappe“ des antizipierten Vorurteils erlangt gütigen Gabencharakter im Versprechen vom Ende einer ökonomisierten Arbeit. Genau das forcieren bestimmte Formen des Fiktiven: ein dem Beobachter unterlegter Weg, Leitfaden, Prospekt, wie zu verstehen sei – das ist etwas völlig anderes, als dem Imperativ einer Handlungsvorschrift oder Gebrauchsweise zu folgen. Entscheidend ist der Möglichkeitscharakter, also das Spiel, dass durch die Initiation einer Autorschaft in Gang gesetzt wird. Es gilt nicht länger die klassische Wendung der Hermeneutik, den anderen (eindeutig) zu verstehen, sondern mich als denjenigen zu verstehen, der in der Aktualisierung die Autorschaft allererst erzeugt und zwar retroaktiv, – gemeint ist der andere Zeitort (Futur II, Fiktion) –, um auf mein individuelles Vorurteil innerhalb des allgemeinen Sinns zurückzukommen: meine Privation. In diesem Schleiermacher’schen Verständnis der Mikroökonomie des Verstehens kommt es zu einer Vertauschung (Inversion) von Initiation und Erfüllung, von 24 Deswegen Heideggers Hinweis auf die mythische Herkunft der Ursprungsbestimmung von Tech-

nik. „Woher bestimmt sich der Ursachecharakter der vier Ursachen so einheitlich, daß sie zusammengehören? Solange wir uns auf diese Frage nicht einlassen, bleibt die Kausalität und mit ihr das Instrumentale und mit diesem die gängige Bestimmung der Technik dunkel und grundlos.“ Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1982, S.8. 25 Das war schließlich auch Diltheys Argument: Objektivation, respektive „Dauer“ meint hier habituelle Erkenntnis (Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a.a.O., S.337).

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ich und anderem, im Sinne einer Reversion der Zeit. Dabei ist die Inversion eine Zustandsdauer, die eine aporetische Form mit zwei Seiten (Empfangender – Gebender) zu beobachten erlaubt, als sei sie nicht simultan. Genau diese Trennung muss es in der Politik geben: Sie muss das Spiel zwischen öffentlich und nicht öffentlich wahren können, Politik und Diplomatie, Handlung und Aufschub sein. II. SELBSTERMÄCHTIGUNGSVERSUCHE

Dieter Mersch hat mit Hinweis auf Aristoteles auf die Unterscheidung aufmerksam gemacht, die eine Initiation vom Vollzug trennt, Übergang, der im Stiftungsgedanken als Einheit gedacht wird.26 Initiation endet darin, die szenifikatorische Initiative nicht als ein passivisches Wahrnehmen (evidenter Situativität), sondern als einen Verweis auf Wahrnehmbarkeit aufzufassen, als etwas, das sich als Ereignis zeigt, einer Aufmerksamkeit bedarf, die im Vollzug regulative Anpassungen des Verhaltens oder der Handlungen bewirkt.27 Immer dann, wenn Erzählungen beginnen („Es war einmal“) und Autorschaft erkennbar wird, dramatisiert sich funktional die Aporie, deren Unüberwindlichlichkeit sie fliehen, als Affekt, Selbstdifferenzierung der Initiation. Es ist die Dauer dieses Hin- und Her, die in der Narration als abwesende Anwesenheit eines Motivs oder als performative Präsenz sich ereignet. „Sprechen ist dieses Hin und Her, diese co-naissance [Claudel] von Rede und Sinn.“28 Es liegt nun auf der Hand, dass die oszillierende Dauer die inszenatorische Intensität eines Ereignisses reproduziert und nicht nur bei gesprochener Sprache, nämlich die negative und nicht wahrzunehmende Lenkung, damit, die Wahrnehmung sich als präsentisch (im Sinne einer „Selbst-Aufführung“) ereignen kann. Die Präsenz beispielsweise des Theaters setzt den Dialogos voraus, dessen Agon die Zurichtung einer Simultaneität verfolgt. Die Verfügungsgewalt über die Inszenierungstechniken, die die Gleichzeitigkeit der Präsenzen ermöglichen, sind der Schlüssel diplomatischer Macht. Diplomatie spielt nicht auf der Ebene der Territorien, sondern auf der Ebene der Zeit. Im Vermögen die Dauer gleichzeitiger Präsenzen auszuhalten, ihre Verwandlung in eine Folge von Narrationen zu erreichen, zeigt sich Ausbildung als Macht. Nicht das Eine nach dem Anderen, sondern das Eine anstelle des Anderen dagegen beherrscht Gewalt. 26

Die Unterscheidung zwischen Stiftungskapital und Verzinsung als einer Gabe, die sich gibt, macht Jacques Derrida in Falschgeld: „Eine Gabe könnte nur möglich sein, Gabe kann es nur geben in dem Augenblick, wo ein Einbruch in den Kreis stattgefunden haben wird: in dem Augenblick, wo die Zirkulation unterbrochen gewesen sein wird, und zu der Kondition eines Augenblicks.“ (Derrida, Falschgeld, a.a.O., S.19) 27 Vgl. Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Frankfurt am Main 2013. 28 Lyotard, Wozu philosophieren?, a.a.O., S.61.

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Das mächtigste Prinzip der Dauer verkörpert sich nicht im Herrscher, sondern in dessen Inszenierungsprospekt, dessen gewichtigste Form ist nicht die Theatralität der Geste, sondern ihre Architektur, ihre öffentliche Verdinglichung. Richten wir unsere Darstellung auf die Aporie derjenigen Wahrnehmung, die objektiv sein soll, aber subjektiv infiziert ist, also eine Simultaneität darstellt, die irgendwie methodisch entzerrt werden können soll: die Aporie der Subjektivität, das mit sich selbst ungleichzeitig sein. Diese Darstellung befriedigt, so Mersch, die aristotelische Aisthetik nur einseitig, nämlich in ihrer Logik. Von Platon her wird die Unterscheidung der Aisthesis als „alogon“ charakterisiert, „das heißt, sie enthält nicht schon den Riß der Verdopplung, wie sie dem „Etwas-als-Etwas“ zukommt. Sie markiert vielmehr ein Einfaches. Folglich geht sie dem logos, der Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Zerlegung der Dinge in Eigenschaften voraus.“29 Als Einfachheit ist hier der Akt der Wahrnehmung in Form der Präsenz zu verstehen. Weder bei Platon noch bei Aristoteles findet sich ein itterierendes Prinzip der Dauer oder ein narrativer Progress, der etwa, wie bei Dilthey, die Historizität der Wahrnehmung aus deren objektiver, mythischer Dauer erlöst. Das führt zum Streit der Autorschaft: Veranlasse ich die Dinge oder veranlassen die Dinge mich „wahrzunehmen“? Mersch betont, dass es dieses Problem bei den Griechen nicht gab. Wie sollten sie am Ursprung der Geschichtsschreibung (ohne christianisiertes Erlösungstelos) ihre eigene Geschichtlichkeit denken können und so die Gleichzeitigkeit anderer Geschichte verifizieren? An die Stelle der relativen Dauer tritt bei Aristoteles die Funktion des logos, für den Zeit gleichgültig ist und man deshalb auch Simultaneitäten (und Paradoxien) aus ihr ausschließt. „Der Aisthesis kommt damit ein genuin theoretischer Rang zu: Sie erfaßt einen Gegenstand, wie dieser erst durch sie hervortritt.“ Wolfgang Welsch hat, so Mersch, in diesem Zusammenhang von einer „Aisthesiologie“ gesprochen. „Aristoteles inszeniert eine fundamentale Logomorphie des Aisthetischen.“30 Er inszeniert sie als objektive Vermitteltheit, unerachtet des medialen Standpunkts. Was uns interessiert, ist nicht die Problematik, die Aristoteles mit der Einführung einer Logik opfert, indem er sie durch den Schematismus einer Logik verdeckt (denn die Analogie ist in Wahrheit ein Parallelismus, der einer Simultaneität gleichkommt und somit eine mediale Protoform von Einheit), sondern, dass Welsch hier von „Inszenierung“ sprechen kann, dem Umstand, die relative Dauer der Aporie aushalten zu können. Nur um den Preis der Operationen auf der Hinterbühne der Logik lässt sich diese Dauer mathematisch bis ins Unendliche ausdehnen. Was Aristoteles als Logos begreift, wird 29

Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2002, S.34. 30 Ebd., S.34f. Mit Verweis auf Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987.

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Kant als Schematismus verifizieren, was die Hermeneutik dann als Motiv, dessen Äquivalent der Sinn entspricht, bestimmen wird. Das Motiv ist affektives „Durcharbeiten“ der ursprünglichen Aporie, deren Vollständigkeit im Kalkül einer Logik und dessen Unvollständigkeit im Schema einer Narration referiert ist, dennoch aber abgeschlossen werden kann.31 Vorauszusetzen ist demnach, dass, was immer da wahrgenommen ist (Ereignis), sich schon als spezifische Dinglichkeit zeigt, womit nicht „Prädikation“, sondern „Signifikation“ gemeint ist: die Welt als vorgängig von einem anderen aufgrund ihrer Unvollständigkeit motiviert, dem anderen zur Kontingentierung aufgegeben. „Der Zeichencharakter erweist sich als in die Prozesse der Wahrnehmung eingeschrieben.“32 Was die Inszenierungspolitik von Aristoteles betrifft, so unterstellt Mersch, dass die Wahrnehmung eine „energeia“, eine Wandlung sei, die vom Wahrgenommenen initiiert wird und die der Wahrnehmende erleiden muss, sodass hier tatsächlich von einer Autorschaft des Wahrgenommenen als seiner dinglichen Einheit gesprochen werden muss. Das Veranlassen von Wahrnehmen unterliegt der inszenatorischen Kraft eines Logos, in dem die Sinnesorgane lediglich als passive Rezeptoren vorgestellt werden, noch dazu als defizitäre, die durch Imagination komplettiert werden müssen: Nach dem Erkennen (Antizipation) und Verstehen (Retrospektion), die Invers aneinander gebunden sind („Form mit zwei Seiten“) wird das Erklären (Reflexion) zur abermaligen Tauschform in der Zeitbewegung.33 Nun ermächtigt das Wissen um den hermeneutischen Vollzug keine vollständige Inszenierung, denn die Ermächtigung muss, um ihre Macht auf Dauer zu erhalten, ihren Ursprung vom anderen aus anerkannt bekommen, sie muss sich ein Motiv verschaffen, dass sie einem anderen unterlegt, deren letzte Form ist die Andersheit überhaupt, die als erste in Erscheinung tritt. Wenn jemand eine Geschichte vorträgt, habe ich nicht nur zu schweigen, sondern mein Ohr muss auch zuhören können. Roland Barthes hat im Hören einen Ausweis von Ermächtigung des anderen verifiziert, die er „Zuhören“ nennt, und deren Ursprung er anthropologisch in einer „absichtlichen Reproduktion eines Rhythmus“34 sieht. Da Töne nicht überdauern und der Schall der Luft nicht weit trägt, bedarf es zur Koordination des aktiven Hörens entweder einer Reproduktionsform, in der die Pausen gleichsam den Ton suspendieren – das Schweigen lässt sich hören – oder einer melodischen/grammatologischen 31

Ebd., S.35. Ebd., S.34. 33 Sartre verschiebt Dilthey Position in seiner Hermeneutik: „Ich nenne also Erklärung alle verzeitlichenden und dialektischen Evidenzen, insofern sie alle praktischen Realitäten totalisieren können müssen, und ich beschränke den Begriff Verstehen auf das totalisierende Begreifen jener Praxis, insofern sie durch ihren oder ihre Urheber intentional hervorgebracht wird.“ Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. I. Bd.: Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Reinbek 1982, S.79. 34 Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. (Kritische Essays III) Frankfurt am Main 1990, S.252. 32

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Kontingentierung.35 Beide Faktoren bilden die Grundlage akustischer Narrative, der auf der visuellen Ebene der Vorgang des Fort-Da-Spiels bei Freud entspricht. Der Rhythmus thematisiert dabei ein zeitliches Oszillieren zwischen dem Anwesenden und dem Abwesenden, dem Wahrnehmbaren und dem Wahrnehmen (dem Geräusch und dem Rauschen) wie dem aktiven und der erleidenden Form des Organs, dessen Elementarität es erlaubt, die Macht als Initiative des anderen gewähren zu lassen. In gleicher Form muss die Wirkung der Initiation einer Inszenierung gedacht werden: sie ist nicht anfänglich, sondern sie ist agonal, d.h. differenziell und dialogisch, und kann deshalb die Aporie simultan aber nicht synchron verteilen. Im Theater ist diese Teilung zwischen Sprechenden und Zuhörenden selbstverständlich. Nur durch diese subversive Verführung des Anderen in dessen Andersartigkeit lässt die Inszenierungsmacht sich von einer omnipotenten Autorschaft abkoppeln, als eine Profession, die in der Regel nicht mehr als einflussnehmende Unterdrückung, sondern als Synchronisierung von Simultaneitäten unterschiedlicher Dauer, also Szenifikationen (Institutionen, Zeremonien etc.) bestehen kann. Der arhythmische Applaus am Ende der Aufführung legitimiert nicht den Autor, sondern die Aufführung: Zuhören und Sprechen werden im unartikulierten Geräusch als Ausweis der Balance von Selbst- und Fremdbemächtigung gleichsam von außen anerkannt. Die Regie muss auf die Hinterbühne („vor der Tür“, chora) beschränkt bleiben, da sonst die Simultaneität des Agon durch ein Drittes die Balance stören würde. Aus diesem Grund kann auch in einer politischen Inszenierung erkennbar werden, dass der Politiker, der sie aktualisiert, sie im Namen eines Anderen (des Volks, der Nation, des göttlichen Willens etc.) und nur auf begrenzte Dauer durchführt. Solange die Inszenierung als wechselseitige Anerkennung trägt, trägt auch die Macht.36 Worauf die Ausführungen von Mersch zielen, ist der Umstand, dass, wo immer Inszenierung als Dialogos fingiert wird, der aporetische Aspekt von (subjektiver) Wahrnehmung die universelle Einheit des Wahrnehmungsgebrauchs der Dinge aufhebt, die dem Logos und der Technik angehören. Inszenierung erweist sich dabei als eine Metatechnik der Dissoziation dieser universellen Einheit, 35

Kittler bestimmt mit Nietzsche den Rhythmus (Versmaß) als eine Technik der Erinnerung. Vgl. Friedrich Kittler: Rock Musik – ein Mißbrauch von Heeresgerät. Abgedruckt in: Ders.: Short Cuts. Frankfurt am Main 2002. S.8ff. 36 Hier könnte nun der Verdacht aufkommen, dass beispielsweise die Inszenierung der SS etwas völlig anderes sei, dass die eines Theaterstücks, weil tatsächlich Tote die Bühne verlassen. Man muss aber klar unterscheiden zwischen der symbolischen Inszenierung, der Logik der Vernichtung und der unvermittelten Gewalt. Dass die Chargen der SS in ihrer Selbstinszenierung nichts anderes sind als Marionetten, hat eindrucksvoll Ernst Lubitsch in Sein oder Nichtsein (USA 1942) gezeigt. Auch die Frage, ob der Körper in gewissen Performances heilig ist, oder ob in den römischen Gladiatorenspielen sterben zum Spiel gehört, der Tod aber nicht, lässt sich nur mit dem Verweis auf den Response (Reversibilität) des anderen in der Verführungsunterstellung (respektive eben dessen Ausbleibens) beantworten. Es gibt aber keinerlei Grund, nicht auch Theaterspielen als eine „ernste“ Form des Arbeitsopfers aufzufassen, auch wenn man die Toten, die bei Stunts in Actionfilmen hingenommen werden, nicht im Abspann erwähnt.

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Abb.1 Fernsehstudio des WDR, Köln mit Kulisse der Sendung „Hart aber Fair“, einem inszenierten Agon. (Foto: Ralf Bohn)

was insbesondere auch in den neurotischem Gebrauchsverhalten zum Ausdruck kommt. Es genügt sich die technische Dimension eines Fernsehstudios vor Augen zu führen, um zu sehen, welche Raffinesse notwendig ist, um das Kalkül der dissoziativen Kräfte in Balance zu halten. Über Position und Negation in Präsenz kann man, so Barthes, am sinnfälligsten Sprechen, wenn man sich die Funktion des Schweigens vergegenwärtigt. „Das Zuhören, das auf dem Hören aufbaut, ist durch das Erfassen von Entfernungsgraden und die regelmäßige Rückkehr der Schallerregung vom anthropologischen Standpunkt aus der eigentliche Sinn für Raum und Zeit.“37 Hier ist die Aristotelische Bestimmung nicht nur, wie bei Heidegger, aufgefangen in einem „Herkommen aus Unverfügbaren“38, sondern in einer entsprechenden „Responsivität“, wie beispielsweise Luhmann sie thematisiert. Damit ist gemeint, dass den universellen Gebrauchstechniken solcher der Dramatisierung beigesellt werden muss, aber ebenfalls als Techniken, z.B. die der Szeno37

Ebd., S.250. Mersch, Ereignis und Aura, a.a.O., S.37. Mersch bezieht sich auf Heideggers Sein und Zeit, §53. Jacques Derrida hat diese Replik auf Heidegger unter den Titel „Aporien“ behandelt. Er meint damit die Idee Heideggers, dass Gegenwart stets auf das Ankommende nur retrospektiv antworten kann, dass das Subjekt zu sich selbst dezentriert ist, derart, dass es zwar aporetisch vom Tod weiß, ihn aber nicht für sich realisieren kann. Das trifft aber im Prinzip auf alle Ereignisse zu, die aus der Zukunft realisiert werden: „Ich kann mich nicht für glücklich halten, nicht einmal glauben, ich sei glücklich gewesen, bevor ich den letzten Augenblick meines eigenen Lebens überschritten, passiert, hinter mich gelassen habe, selbst wenn ich bis jetzt das Glück in einem Leben kennengelernt habe, das auf jeden Fall so kurz gewesen sein wird. Die Freuden eines ganzen Lebens finden niemals statt, wenn sie stattfinden, außer unter der zukünftigen und vorzeitigen Bedingung, daß sie retrospektiv einer nachträglichen Reinterpretation, Refiguration oder Defiguration unterliegen. Und diese Nachträglichkeit kann ihre Wahrheit bis zum letzten Moment ausdehnen.“ Das Präfix „re-“ verdeutlicht hier, dass es um die Möglichkeit der Reversion und damit um eine Form der Äquivalenz geht, die für den Tod nicht gilt. Derrida, Aporien, a.a.O., S.23.

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grafie. Im Verlangen auf transparente Politik ist gerade dies der Aspekt, der nach ihrer Personalisierung und Subjektivierung fragt. Man könnte nach Hobbes der Meinung sein, ein Leviathan, eine Maschine der Politik könne die Nationen lenken wie Großkonzerne, oder die Großkonzerne könnten gleich anstelle der Nationen treten. Wenn alles, was politisch sein soll, auch öffentlich sein soll, dann kann das nur vor einem Hintergrund stillschweigender Beredsamkeit sein. Was den Bürger nervt, sind die beständigen Floskeln der Politiker. Die klare Sprache der Diktatoren, die keinen Widerspruch dulden und deswegen Inszenierung nicht vortäuschen müssen, umwehen deswegen die erlösende Präsenz von Handlung. Der Bereich lauten Schweigens sollte aber gerade die Akzeptanz einer chora anzeigen, von der der Absolutismus beispielsweise gelernt hat. Bei Ludwig XIV. ist es die Fronde, die als Echo den Unterschied zwischen einer Staatsmaschine und einer Diktatur wachhält: Diplomatie als einer symbolischallegorischen Handlungsfingierung. Sie ist ein hochgradig von rhetorischen, narrativen und szenografischen Formen durchdrungenes, symbolisches Handeln, versteht sich als Instrument des Umstandes, dass Politiker wissen, dass die Ideologie der Gerechtigkeit als fiktionale Hypothese der Legitimation von Macht den Widerspruch wach hält, den zu überwinden sie im Wort stehen. III. ZUR DIPLOMATIE ALS FIKTIONALEM HANDELN

Unter Inszenierung wollen wir verstehen, jemandem eine Perspektive des Verstehens oder Nachvollziehens von Handlungen so vorzugeben, dass die Vorgabe als seine eigene Antizipation erscheint. Nicht Mimesis, sondern Appropriation ist das entscheidende Moment der Politik der Inszenierung. Nach Lacan gilt es, jemandem zu geben, was man selbst nicht hat. Den fingierenden Charakter, den die Totalisierung des Sinns deshalb haben muss, haben wir von der Seite des politischen Handelns als eine Aporie der Verzögerung/des Aufschub erklärt: ein Bedenken der Opfer und Folgen einer jeden Handlung (als Negation), deren Aussetzung oder Verschiebung Macht als Zeitgabe beansprucht. Insofern kollidiert das politische Handeln mit einem technischen Vollzug, der stets vorauseilend die Realisierung erzwingt und die Opferzeit kalkuliert. Das politische Handeln nimmt in seiner Inszenierung den technischen Vollzug in Form einer Simulation in Anspruch. Man kann sagen, dass die technische Seite der Politik ihre Szenografie ist: das professionelle Management der Unterstellung/Verschiebung von Handlung durch andere. Der legitime Fall der Delegation des Handlungsaufschubs ist Diplomatie. Handlung besteht hier in einem symbolischen Spiel, das in der Regel außerhalb der Öffentlichkeit stattfindet, um es von demjenigen Spiel abzugrenzen, das in den Beziehungen zum Souverän des Rechts und der Gerechtigkeit vollzogen wird. Die Diplomatie erlaubt ein Zögern, ein

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Abb.2 Reiterstatue Ludwig XIV. in Montpellier, Promenade du Peyrou. (Foto: Ralf Bohn)

Probehandeln. Wer nicht handelt oder, wie Hamlet, zaudert, erkennt den aporetischen Charakter der Schuldzirkulation an und unterwirft diesem Prozess als Souverän des ganz Anderen. Die Diplomatie geht von der Unvermeidlichkeit des Opfers (auf beiden Seiten) aus. Sie heiligt es im christlichen Sinne. Deswegen hat die kleinste Geste in der Diplomatie eine performative Bedeutung, die das alltägliche, allgemeine Handeln aus der Evidenz erlöst. Dieser Umwertung des Individuellen und Allgemeinen proliferiert als Kommunikation (Ver-Handlung) die Unabschließbarkeit der Aporie, wie Luhmann betont hat.39 Das heißt jedoch nicht, die Diplomatie sei für eine Aussetzung von Handlungen zu missbrauchen, sondern die (öffentliche) Politik gewährt eine zeitliche Dauer, in der z.B. das militärische Handeln unterbleibt. In Zusammenhang mit der doppelten Strategie muss erwähnt werden, dass zwischen dem logischen Vollzug oder der Rhetorik der Argumentation und dem Deutungshandeln von Individuen immer schon ein Unterschied verifiziert worden ist, der mindestens seit der Zeit der attischen Demokratien zwischen dem Agon und dem Dialogos bestand.40 Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass auf der Ebene der Verkör39

Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation? In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S.97. „Kommunikation kommt deshalb nur zustande, wenn zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Das unterscheidet sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer. Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird.“ Der „Schematismus“ der Interpretationsvorgabe wird deshalb mit der Darstellung eines Motivs nur teilweise der Verstehensleistung gerecht, wenn die Motivierung nicht zu einer, wenn auch minimalen Verhaltensänderung führt. 40 Ein gern vorgebrachtes Beispiel in der Veränderung der Begründungsverschiebung von Autorschaft zu Ökonomie im Paradigma der Initiation bezieht sich auf die israelitische Landnahme und die arabische Besiedlung. Ein Begründungsverhältnis endlicher und zugleich zirkularer Logik, in der das Recht des Ersten, ein patriarchales Recht, auch noch dem letzten Nachkommen, der aus der Diaspora

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perung der Politik der Politiker durch das Mittel der Diplomatie sein Gesicht wahren kann, da nämlich die Diplomaten so wie die frühen antiken Schauspieler selbst keinerlei Individualität zeigen. Sie verkörpern das Jenseits der Präsenz. Ungezählte Denkmäler zeigen Herrscher in Posen deiktischer Verweisung im Sinne einer Eroberung der Zukunft aus dem Recht der Vergangenheit und nicht als imperiale Gebärde, die Macht über eine Territorium verspricht.41 Was heißt es, die Funktion der Inszenierung in den Betrieb der Regierung dort einzufügen, wo das Wahrnehmbare sich vom Nicht-Wahrnehmbaren trennt und agonal gegenübersteht? Es heißt doch, nach Wolfgang Isers Einsicht: Das Reale und das Imaginäre durch das Fiktive ununterscheidbar zu machen42 und aus dieser Egalität das Prinzip der Vorverständigung über eine Aporie abzuleiten. Wir unterscheiden zwischen Macht und Gewalt derart, dass die Macht in der Komplexität der Welt unter dem Gesichtspunkt ihrer aporetischen Verfassung Handlungsinitiation eröffnet und Dauer gewährt, während Gewalt sie unduldsam begrenzt, die Apokalypse des Todes oder die Epikalypse des Paradieses in Kauf nimmt. Beides dient nicht der Schuldzirkulation, sondern ihrer (Selbst-)Abschaffung. Man muss also, so entwickelte der Barock das legalisierte Prinzip absoluter Macht, die Unterschiede zwischen den Initiationen und den Kontinuitäten rhythmisieren, indem man ästhetisch eine Welt als Fiktion oder der Vertreibung heimgekehrt sein wird, sein Recht auf Land einzuklagen hilft. Das Problem des territorialen Eigentums oder der staatlichen Souveränität ist hier nicht ökonomisch, sondern auf unendliche Dauer initiiert. Man kann Land nur einmal vergeben, Besitz in Warenform sowie symbolischer Besitz lässt sich aber (potenziell) unendlich reproduzieren und verteilen. Simultaneitäten sind im Anspruch auf Territorien immer heikel, zumal dann, wenn sie sich durch biblische Narrationen als endlose Regressionen ausgeben. Alternativ könnte „man“ (Wer?) das Land demjenigen zusprechen, der es durch Opferarbeit zur wirtschaftlichen Blüte führt, unabhängig von Volkszugehörigkeit, Religion, Vaterschaftsansprüchen oder endlichen Bodenschätzen. Das hieße aber die archaisch-religiösen Ideologien zu entzaubern und zwar als „technische“ Inszenierungsformen von Machtansprüchen, die in ihrer Nichtfinalisierbarkeit nicht erkannt werden (oder für die man sich bewusst blind macht). Es gibt sodann auch keine „Lösung“ des Problems (auch die Teilung des Landes bewirkt nicht die Tauschinitiation, macht sie aber leichter im Falle der Anerkennung des anderen, was gerade aber das Argument ist, Israel nicht anzuerkennen oder den Palästinensischen Staat zu verhindern). Es hat beinahe den Anschein, die Opponenten könnten sich nur unter der Inszenierung einer Kriegslogik einrichten, indem sie permanent ihre Gegnerschaft leugnen, die sie provozieren. 41 Den Finger, den Kaiser Wilhelm I. gegen Westen richtet, streckt die Deutsche Bank mit ihren zwei Hochhaustürmen (ebenso das ehemalige WTC in New York) in den Himmel. Statt der Repräsentation wird die Reproduktion das Symbol der ökonomisierten Politik. Die Gesten dieser Zwillingstürme ist die Verweisung auf die Ökonomie der Reproduktion, die die Initiation ausschließt. Man darf sich aber fragen, ob das im Imperialismus untergegangene „wilde Land“ nicht heute das Diskursphänomen Internet betrifft und was das für den nichtöffentlichen Vorgang der diplomatischen Gabe bedeutet. 42 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1993, S.20f.: „Daraus läßt sich folgern, daß die triadische Beziehung des Realen, Fiktiven und Imaginären eine basale Beschaffenheit des fiktionalen Textes verkörpert. Gleichzeitig wird deutlich, was den Akt des Fingierens und damit das Fiktive des fiktionalen Textes auszeichnet. Wird die im Fingieren wiederholte Realität zum Zeichen, dann geschieht zwangsläufig ein Überschreiten ihrer Bestimmtheit: Der Akt des Fingierens ist folglich ein solcher der Grenzüberschreitung. Darin bringt sich seine Verbindung mit einem Imaginären zur Geltung.“

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schafft, in der die Polarität von ernster Politik und spielerischem Zeitvertreib in Illusion aufgehoben wird. Deswegen hat gerade der absolutistische Barock die in der Renaissance aufkommende Trennung zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Nicht-Wahrnehmbaren wieder zu egalisieren versucht, um die offene Aporie einer sich selbst setzenden Absolutheit als ein Nicht-Setzen begründen zu können. Richard Alewyn hat in seinen grundlegenden Studien zur Inszenierung des Festes im Barock auf diesen Umstand aufmerksam gemacht: Worauf es dem Barock ankam, war, die Grenze zu verwischen und damit den Grenzübertritt zu verschleiern. […] Der barocke Weg in das Jenseits ist ein Gleiten und nicht ein Sprung. […] Wenn man niemals genau wissen kann, wo die Wirklichkeit endet und die Täuschung beginnt, dann ist überhaupt die Realität der Welt in Frage gestellt. Wenn also die illusionistische Malerei an den Kirchendecken den Schein zu solcher Vollkommenheit steigert, dann geschieht es nicht in der Absicht, die Scheinhaftigkeit dieser illusionären Welt zu leugnen, es geschieht vielmehr, um die Wirklichkeit unserer realen Welt in Frage zu stellen.43

Nun können wir für den Barock und die Diplomatie Ludwig XIV. und seine Inszenierungsmacht festhalten, dass er die Verwischung im Hier und Jetzt mithilfe Le Notres, Mansards u.a. durchaus noch vom Realprogramm seiner Manufakturen und Kriegsgelüste mithilfe Colberts berechnen konnte44 und die ökonomische Zirkulation beider stets auszugleichen bemüht war, wenigstens so lange, wie die Verausgabungen des Krieges es Ludwig erlauben konnten, auf territoriale Aneignung zu verzichten und sich mit Versailles selbst auszubeuten.45 Die Prachtentfaltung in Versailles machte es dem Adel unwahrscheinlich, gegen den ökonomischen Reichtum den Status der Absolutheit anzugreifen. Ludwig ging es darum, nicht nur durch Ästhetik zu überzeugen, sondern durch aisthetische Manipulation seinen Adel und die ausländischen Diplomaten sich als verführte Subjekte, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, erkennen zu lassen. Gegen was oder wen sollten diese so Verunsicherten noch Revolten beginnen? Gegen das Theater? Die Besinnung auf die Funktion der Macht, die Ludwig seit den Ereignissen der Fronde beherrscht hatten, stellt unmissverständlich noch im Theater klar, dass die Unterscheidungsgewalt von Handlung und Bedeutung, 43

Richard Alewyn/Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959, S.62. 44 In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass das Bauprogramm von Versailles durch den subversiven Anspruch seines Finanzministers Nicolas Fouquet, des Bauherrn von Vaux-le-Vicomte, korrumpiert war. Es ist aber eines, die Mittel persönlich abzugreifen, ein anderes, sie als Reinvestition in eine öffentliche Errichtung einer Utopie zu begreifen. Das kehrt ja sozusagen das politische Programm um: Es werden nicht Utopien in Aussicht gestellt, um sie dann zu realisieren. Zuerst wird die Utopie verwirklicht, um sie dann als notwendige Vorinszenierung des Paradieses zu verkaufen. 45 Man erzählt in diesem Zusammenhang die Anekdote, dass der späte Ludwig zuweilen aus Holzgeschirr aß, wenn sein Tafelsilber einer Kriegsfinanzierung diente. Das heißt ja nur, dass Fest und Krieg Äquivalenzformen der Inszenierung von Macht waren. Spätestens mit dem Spanischen Erbfolgekrieg und der Arroundissierung des französischen Territoriums, kam es zu ökonomischen Verschiebungen.

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von Sinnlichkeit und Sinn in der Person lag, die im Theater nur sich selbst spielen konnte: Ludwig XIV. spielt Ludwig XIV. – allenfalls noch in der allegorischen Rolle des Mars oder der Sonne. Die Logik dieser Selbstrepräsentation (und eben nicht -reproduktion) ist aber genau die der Simultaneität der Ware. Ludwig XIV. war zu einem ökonomischen Emblem Frankreichs geworden.46 Er entschied die Grenze zwischen der Proportionierung der Macht und der finalisierenden Gewalt, zwischen Realität und Imagination. Doch die Entscheidung, ob etwas als real oder imaginär gilt (dem Phantasma der Ware), die im Programm einer universellen Szenografie (Disegnio oder Wareninszenierung) festgelegt war, sollte für alle anderen unableitbar sein. Alewyn führt aus: „Die barocke Illusion ist nämlich stets eine bewußte und gewollte, sie will nie die Seele verführen oder auch nur den Verstand täuschen, sondern immer nur die Sinne.“47 Damit erfüllt sich die aristotelische Pragmatik in einer theatralen Logik, die die Organfunktionen destabilisiert, ohne dass man dagegen interpretatorisch Einspruch erheben könnte. Macht über die Sinne gilt mehr als Macht über die Territorien. Szenografien müssen als Techniken des Arrangements von Technik verstanden werden, Ökonomie, die die materiellen und immateriellen Güter tauschbar macht. Es sind nicht länger Künstler, sondern Ingenieure am Werk. Man wird getäuscht, obwohl man es besser weiß. Mit dem Barock beginnt schon die Depotenzierung des Wissens (und des Glaubens) als Identitätsprogramm, wird Wissen zu einem Projekt der „Narration“, um „eine Vielfalt von Repräsentationen [...] ‚unterzubringen‘.“48 Man kann sagen, die Wissenschaft bekommt innerhalb der Gesellschaft eine diplomatische Funktion. Die Welt wird kosmologisch, nicht mehr polar organisiert. Je mehr Wissen generiert wird (durch die Differenzprogrammatiken von Gutenberg, Kolumbus und Luther eingeleitet), desto stärker bedarf es einer Ästhetisierung ihrer Handlungsketten, die technisch-strategische Überlegungen erfordern: Arten gesellschaftlicher Antizipationen. Das gilt im Barock übrigens nicht nur für Versailles, sondern vor allem für das Festungswesen von Vauban. Jeder mögliche Angriffswinkel ist genau auf die Ballistik möglicher Kanonaden ausgerichtet. Eine Festung kann nicht mehr angegriffen werden, sie wird unterminiert. Der Feind des Barock ist die Unsichtbarkeit. Politik ist Schauspiel und Wirklichkeit zugleich und hat damit jene Stufe der Simultaneität erreicht, in der die Aporien befriedet erscheinen. Wissenschaft ist Täuschung, von der man weiß, dass man sie weiß. Gleiches gilt auch für das Theater und die unendlichen Effekte, die es einleitet, um seine fünf Akte zu überdauern. Alewyn bezieht sich 46

Das schließt nicht aus, dass er trotzdem territoriale Kriege führt, um seinen Staat zu „arrondieren“. Das Ziel dahinter war aber nicht ein territorialer Machtzuwachs, sondern die Idee einer ökonomischen Autarkie. 47 Alewyn, Das große Welttheater, a.a.O., S.64. 48 Gumbrecht, Präsenz, a.a.O., S.130.

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auf diese theatrale Funktion der Aufmerksamkeitsgewinnung für eine Dauer, die „der Zuschauer auf dem Theater als ‚Wirklichkeit‘ sieht“. Diese „ist ja wiederum nichts als ein Theater, und so ist das, was den Getäuschten auf der Bühne widerfährt, nichts anderes, als was im gleichen Augenblick ihm selbst geschieht. Auch er ist ein Getäuschter – nur daß er es weiß und will.“49 Höfische Kultur und Diplomatie werden ununterscheidbar. Diplomatie, gerade weil sie vor aller Augen geschieht, wird nicht mehr als Kunst der Verborgenheit, zu dem erst Kritik sie wieder macht, erkannt. Das Kapitel dieser Aufklärung beginnt mit Voltaire. An eben diesem Punkt der Entwicklung der Inszenierung eines Willens fühlt sich der Zuschauer keineswegs als Opfer eines Betrugs, sondern als Agent der Teilhabe einer apersonalen Macht, die die ästhetischen Techniken hervorbringen, weil er sich nicht mehr allein seinen Sinnen überlässt, sondern diese als Instrumente begreift, Sinn generieren zu können, der vom Hier und Jetzt befreit und strategische Optionen in fiktive Programme zu verwandeln erlaubt. Solche Politik der Aufklärung als Form der Selbsttäuschung und Selbstermächtigung der Sinne verdammt den Regent oder Regisseur dazu, zum Techniker der Macht, zum Ingenieur des objektiven Scheins zu werden. Diese Formel der Inszenierung als bejahte Verführung gibt es an der Schwelle zum Barock schon bei Shakespeares König Heinrich V. Formuliert wird sie bezeichnenderweise vom Chorus, der immer schon in Kenntnis der ganzen Tragödie argumentieren kann, also von der Retrospektion einer Zukunft: O! eine Feuermuse, die hinan Den hellsten Himmel der Erfindung stiege! Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen, Monarchen, um der Szene Pomp zu schaun! Dann käm, sich selber gleich, der tapfre Heinrich In Marsgestalt: wie Hund an seinen Fersen Gekoppelt, würde Hunger, Feuer und Schwert Um Dienst sich schmiegen! – Doch Verzeiht, ihr teuren, Dem schwunglos seichten Geiste, ders gewagt Auf dies unwürdige Gerüst zu bringen Solch großen Vorwurf. Diese Hahnengrube, Faßt sie die Ebenen Frankreichs? Stopft man wohl In dieses O von Holz die Helme nur, Wovor bei Azincourt die Luft erbebt? O so verzeiht, weil ja in engem Raum Ein krummer Zug für Millionen zeugt, Und laßt uns, Nullen dieser großen Summe, Auf eure einbildsamen Kräfte wirken!50

Präziser als in diesen Worten lässt sich kaum von dem berichten, was das Theater zwischen der Renaissance und dem Barock beherrscht: nicht Einfüh49

Alewyn, Das große Welttheater, a.a.O., S.65. Shakespeare: König Heinrich V., Chorus vor dem ersten Akt.

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lung und Täuschung, sondern Entlarvung und Anerkennung der Repräsentation auch und gerade in der Politik der Szenografie durch ein sich seiner selbst bewusstes Publikum, dass das Theater als durch und durch politischen Schauplatz erlebt und die Politik als durch und durch in die Agonien der Aporien gefangen. Niemand, aber auch gar niemand verspürt den Wunsch, in die Rolle des Monarchen zu schlüpfen, als dem Einzigen, der aus seiner Rolle nicht heraus kann. Offenbar wissen eben diese sich selbst nicht Gleichen, die Subjekte, am besten, dass der sich selbst gleiche (Heinrich V. respektive Ludwig XIV. in Gestalt des Kriegsgottes Mars) genau das verhindert, was das Lebens ausmacht, nämlich einen gewissen Spielraum zeitlicher und räumlicher Optionen zu eröffnen. Denn wenn sich im Spiel die Individualität nicht nur der Spieler, sondern auch des in seiner Individualität sich selbst gewissen Publikums fortsetzt, heißt das doch, dass man gerade dort man selbst ist, wo man im Publikum Gleicher unter Gleichen ist: im Volk. Die Individuation bringt so die Vergesellschaftung hervor, macht beide austauschbar und ökonomisiert die Funktion entpersonalisierter Politik in Technik (Sachzwänge). Gerade weil sie sich nicht eintauschen können, werden die absoluten Herrscher austauschbar und entschwindet nach und nach ihr Sinn im wählbaren Amt. Noch aber spricht Shakespeare vom „O von Holz“ und meint damit den leicht entflammbaren Bau des elisabethanischen Theaters. Beraubt er sich mit diesem prospektiven Rundbau nicht einer Inszenierungspolitik, wie sie die Diplomatie führt, nämlich der Hinterbühne?51 Müssen solche agonaldialogischen Schauplätze stets im demokratischen Rund gedacht werden, wo jeder, wie im Foucault’schen Gefängnisbau, dem Opfergeschehen von Überwachen und Strafen52 ausgesetzt ist, auf dass sein Blick sich nach innen wende, wo „einbildsame Kräfte wirken“? Kann man aus den Theaterbauten des Bürgertums, in denen der Schnürboden und die Hinterbühne größer sind als der eigentliche Bühnenraum, ablesen, dass die Technik der Inszenierung die Politik der symbolischen Handlung schon vollständig beherrscht, wo noch das Volk auf der Straße seine Stehgreifinitiationen vollzieht? Ketzerisch gefragt: Kann man Politik überhaupt wahrnehmen oder ist ihre liberalistische Implosion in die Hinterzimmer des Lobbyismus ein Zeichen ihres agonalen Charakters? Ist der Politiker derjenige, der sich dafür bezahlen lässt, dass er das Opfer der Folgen eines Handelns symbolisch auf sich nimmt, das von der gesichtslosen Bürokratie verrichtet wird – nach Sach- und Aktenlage? 51

Ich nehme an, der Rundbau war nicht nur aus akustischen und platztechnischen Gründen notwendig, um ein möglichst großes Publikum möglichst nah um die Stimmen der Schauspieler zu versammeln. Allerdings hat die elisabethanische Bühne im Swan Theatre oder Globe nicht sonderlich Wert auf Bühnentechnik gelegt, sondern ersetzt Technik durch individuiertes Spiel. Interpretation geht vor Präsentation. Siehe Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 1998, S.290f. 52 Wenn die Gefangenen jederzeit unter Beobachtung stehen, kehrt sich ihr Blick nach innen und reinigt ihre Seele.

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IV. PROTOKOLL DER HINTERBÜHNE

Ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung als Politik besteht darin, notwendige, initiierende Gewalt und Opfer der Beobachtung zu entziehen. Aufgabe von Diplomatie ist es, ein symbolisches Binnenspiel von Politik zu simulieren, also die interpretorische Dimension der beobachtbaren und beobachteten Politiker auf einer Hinterbühne zuzulassen, sodass auf der Vorderbühne das Gesicht gewahrt werden kann. Nur so lassen sich Lösungen von aporetischen Problemen provisorisch durchspielen, die sonst unmittelbare Gewalt zu lösen verheißt. Es trifft sich mit der Ableitung des Wortes di-plóos, dass unter dem Diplom eine zweifach gefaltete Urkunde verstanden wurde, die ihren Inhalt verbirgt. Entsprechend ist das Adjektiv ‚diplomatisch‘ für eine Person reserviert, deren Motiv und schematisiertes Verhalten nicht mit dem öffentlichen Handeln übereinzustimmen braucht, die deswegen auch nicht im Modus der Täuschung stehen kann. Weil man von der Diplomatie erwartet, dass sie in Gesten anzudeuten versteht, was in „Noten“ festgeschrieben wird, ohne dass gehandelt wird und Gewalt im Spiel ist, sprengt und vermittelt sie den politischen Rahmen gerade dort, wo sonst Gewalt ihn bedroht. Nun ist die Diplomatie quasi die Repräsentation der Repräsentation und zeigt dem Repräsentierten, dem Volk, die Zirkulation der Macht an. Weil das Paradies auf Erden nicht eintreten kann, muss man sich mit Projektionen, Projekten und Inszenierungen begnügen. So lange man Theater feiert, olympische Spiele oder Symposien abhält, so lange also der Kongress tanzt und die Diplomatie den Frieden feiert, findet Krieg nicht statt. Es ist nicht von ungefähr so, dass das Fest und der Empfang die Lieblingsbühnen der Diplomatie darstellen. Diese lassen sich nur betreten, wenn im Vorhinein schon ein Einverständnis herrscht, gerade auch das Einverständnis der Uneinigkeit.53 Diplomatie drückt sich in einem Zeremoniell, dem Protokoll aus. Protokollieren heißt beobachten, was andere beobachten und wie sie ihr Handeln anderen als beobachtbar zur Schau stellen. Das Wesen des Zeremoniells besteht darin, unabhängig von der realen Person Gesten als allgemeine Interpretationsangebote zu deuten. Es wird nicht real, sondern performativ gehandelt, nicht in Bezug auf Dinge, sondern in Bezug auf Werte. Diplomaten bleiben bis auf wenige Ausnahmen namenlos und sind in ihrer Erscheinung auf Anonymität bedacht, weswegen sie auch nicht gewählt, sondern ernannt werden. Die Bühne des Zeremoniells ist das Amt, ihre Kulisse der Akt oder die Akten. Politiker (mit Ausnahme protokollarischer Personen, z.B. dem Bundespräsidenten) halten 53

Vgl. Dirk Baecker: Wozu Theater? Berlin 2013, S.180. Baecker bestimmt das „Festival als Fest“ als „Flucht aus der unerträglichen Enge der Reziprozitätskalküle“, als Form der Verausgabung (Potlach), das seit der Antike auch „als Festival die Reinszenierung gesellschaftlicher Gleichheit“ im Agon (unter gleichen Regularien und gleichwertigen Kämpfern) veranstaltet wird (ebd., S.182).

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nichts vom Zeremoniell, aber viel vom Ritual, das immer an Personen gebunden ist.54 Man kann Inszenierung von Politik darin unterscheiden, ob sie personell oder institutionell gebunden ist. Diese Unterscheidung ist bedeutsam, weil demokratische Politik Seinsstatus und Bedeutungsstatus unterscheiden können muss – anders eben der Absolutismus, dessen Machttechnik es ist, den Unterschied zu verwischen, wie wir von Alewyn erfahren haben. Kaisertum oder Diktatur, die auf ihre göttlichen oder genetischen Vaterschaften pochen, können Ritual und Zeremoniell nicht entkoppeln und sind somit ständig mit dem Problem ihrer Generativität beschäftigt, die an Hand einer biologischen Uhr ihr Geschäft mit der Erhaltung der Macht aufbaut. In einem ähnlichen Dilemma des Initiationsdefizits sind diejenigen Religionen, die durch Architektur an bestimmte Orte gebunden sind. Zum Beispiel das Judentum an den salomonischen Tempel, dessen Zerstörung erst die Rede von einer Diaspora begründen kann, die für den universellen Katholizismus und den exilierenden Protestantismus undenkbar ist. Das imperiale Christentum fühlt sich auf Wallfahrten geradezu „heimisch“. Ritual und Zeremoniell bedingen sich, wenn Politik über das Hier und Jetzt einer Person oder Situation hinaus wirksam sein will. Das Übergangsmedium dieser interpersonellen Kontinuität von Handlungen nennt man Macht. Dabei scheint mir, im Gegensatz zu Luhmann, der in der Macht eine strategische Erweiterung von Arbeit sieht, entscheidend zu sein, dass ihre Ausübung entpersonalisiert erfolgen kann, bis hinein in die autorlose Magie, die vom Phänomen der Konjunkturen das Wohl und Wehe eines Volkes abhängig macht, statt das Eingeständnis der aporetischen Verfassung politischen Handelns zu erkennen: nämlich für die Probleme der Welt keine gerechte Lösung zu haben. Sollte ein selbsternannter Volkstribun doch eine solche versprechen müssen, zerstört er das, was Macht überhaupt erst begründet, nämlich ihre Zirkulation und ihre Fähigkeit zum Aufschub: Macht ist nichts, wenn sie nicht einen anderen zu handeln veranlassen kann. Was sollte – entgegen der Hegel’schen Dialektik – sonst Macht sein, wenn nicht die wechselseitige Unterstellung von Souveränität? Macht ist eine zweiseitige Form, die die Anerkennung nicht erzwingen kann, sondern zu ihrer Gewährung verführerisch auffordert und so zur Produktion entfesselt. Macht kann deswegen niemals selbst real sein: sie ist eine Brücke zwischen Wunsch und Erfüllung, ein Phantasma der Extension des Selbst und geht insofern mit solchen Irrealien wie Ruhm und Ehre und solchen Realien wie Technik, insbesondere auch Drohtechniken einher. In einer personalisierten Form der Repräsentation wird man Macht als „nicht reales Ding“ (Phantasma, 54

Vgl. zu dieser Unterscheidung Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main 2009, S.128: „Eine Zeremonie ist indikativisch, ein Ritual transformativ.“

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Sache) stets der Person zuschreiben, die die Handlungen veranlasst oder hemmt. Die allegorische Komponente der Zuschreibung von Autorschaft ist theologisch abgeleitet. Was aber Macht tatsächlich ist, verifiziert man eher, wenn man sie einem Ideal zuschreibt, z.B. dem Volk. Das Volk ist niemals real, real ist nur die Bevölkerung. Politik handelt im Namen einer antizipierten, fiktiven Vaterschaft, dem Volk, um seinerseits die Vaterschaft zu übernehmen, die sie fingiert („alle Macht geht vom Volke aus“)55. So kann Macht über das Volk ausgeübt werden, ohne jeden Einzelnen zu belästigen. Privatheit als Fetischort der Wünsche soll in der Realität des persönlichen Besitzes unangetastet bleiben: Wunsch gegen Ware, Öffentlichkeit gegen Intimität, so lautet die dialektische Produktionskultur demokratischer Repräsentation, verpackt in diplomatische Politik. Alles eine Frage der Inszenierung – so lange nicht jemand den realen Vaterposten einzunehmen gedenkt. Die Parole der „friedlichen Revolutionen“ in Osteuropa, „Wir sind das Volk“, ist zweischneidig. Sie kann als Absage an jegliche Repräsentation verstanden werde: Gnade der Nation, deren Volk die Gewalt übernimmt. Deswegen war die Warnung der Agenten der Revolution ernst zu nehmen, von Revolution auf Vermittlung umzuschwenken: „Wir sind ein Volk“ – das meint die symbolische Inszenierung einer Einheit auf der Bühne der Welt: Inszenierung eines Festes der Einheit. So wie zwischen „Machthabern“ und Bürgern eine gegenseitige Anerkennung bestehen muss (Macht wird verliehen und Macht wird zurückgegeben) besteht ein Vertrag gegenseitiger Verkennung, dessen Akzeptanz im Zeremoniell besiegelt wird: Politik sorgt für Privation (Besitz) und Individuation (Eigentum) und Privation in der Politik wird als Hinterbühne der Diplomatie geduldet (inkl. aller „Nachrichtendienste“). Die Macht betrifft das Volk, die Realpolitik betrifft die Bevölkerung. Luhmann hat unter Macht die Expansion von Handlungsketten, d.h. die technisch-mediale Maschinisierung der Realitätsproduktion thematisiert, für die Politik kaum noch die Rahmenbedingungen (Bühnen) zu schaffen im Stande ist. So ist der Hinweis auf quasitheologische Konjunkturen, die von den Astrologen der wirtschaftswissenschaftlichen Auguren gedeutet werden, allenfalls durch Handwerk, Technik und Wissenschaft im industriellen Verbund manipulierbar, aber nicht durch nationale Gesetzgebung, die sich ihr unterwirft. Luhmanns Darstellung bezieht sich darauf, dass die Machtexpansion, sei sie geografisch oder zeitlich, die Legitimität des Opfers, d.h. des Konsums einschließt, und sich nicht nur auf Fron und Militanz bezieht. Luhmann schreibt: Sowohl Wahrheit als auch Geld neutralisieren die gefährliche, konfliktnahe Machtkommunikation, indem sie Ego nur Erleben zumuten, / und Sozialutopien benutzen daher gern die 55 Dieses problematische Zeitverhältnis ist an der Deklaration der amerikanischen Verfassung ables-

bar, die ja erst das Volk in einer Nation konstituiert, die es veranlasst zu sein.

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Vorstellung, die Gesellschaft lasse sich allein durch Wahrheiten [Moral; R.B.] oder allein durch den Markt steuern. Das hieße auf wichtige Ordnungsmöglichkeiten verzichten, nämlich auf all das, was über konditionierte Willkür an langen Handlungsketten organisiert werden kann. Denn weder Wahrheit noch Geld können festlegen, was der Empfänger mit dem Empfangenen tut – und genau dies ist die Funktion von Macht.56

Dass nun Macht festlegen kann, was man mit dem Empfangenen tut, nämlich mit dem, was an Politik ästhetischer Schein ist, ist gewährleistet, wenn Politik es schaffen kann, den Empfängern einzugeben, sie seien der Absender. Das geschieht zwar reziprok im „Namen des Volkes“, verwirklicht sich allein aber oft durch die Arbeit professioneller, massenmedialer, szenografischer Inszenierungsmaschinen. Daraus folgt eine Partikularisierung einerseits von Macht, andererseits von Besitz und zwar derart, dass die Individualisierung der sozialisierenden Erlebnisse medial mit den Maschinitäten der Produktion verkoppelt werden können, ohne dass das Opfer von Arbeit in den Produkten auftaucht. Arbeit wird zum Gut. Die Zirkulation der Macht wird schließlich vom Markt übernommen, in dem nicht mehr Arbeit, sondern Energie der wichtigste Machtfaktor ist.57 Der wirkliche Souverän der Macht ist eine ökonomische wie szenografische Maschine geworden (Verwaltung und Bürokratie), deren schönster Ausdruck Voltaire in Candide spöttisch als „Ausblick in den (eigenen) Garten“ bezeichnet hat. Der zivilisierte Umgang mit entpolitisierter Macht ist in Gärtnerarbeit verwandelt.58 Das ist der Ordnung des Paradies ein Stück näher, aber vom barocken Gartenideal noch entfernt. Genau hierhin gehört Zolas Vision einer inszenierten Weltordnung, in der die Regie von der Ökonomie des weiblichen Begehrens beherrscht wird: Das Kaufhaus ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, so Zolas berühmter Romantitel: das Paradies der Damen. Die Politik dessen, der es erfin56

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1. Teilbd. Frankfurt am Main 1997, S.356f.

57 Zum Verhältnis von Arbeit, Kraft und Energie im politisch-ökonomischen Feld siehe den Beitrag

von Maurice Godelier: Warenökonomie, Fetischismus, Magie und Wissenschaft. In: J.-B. Pontalis (Hg.): Objekte des Fetischismus. Frankfurt am Main 1972. Godelier bezieht sich auf das Verständnis, das Marx im Kapital vom gemeinsamen Wert der partikularisierten Dinge als Waren hat und er fragt, worin sie ihr Gemeinsames haben, dass sie tauschbar macht. Dazu müssen sie sozusagen im Verstehen verflüssigt werden, als das, was ihre Tauschbeziehung oder Transformation ver- oder behindert. Und das ist oder verlangt nach menschlicher Arbeit. „Damit es einen solchen [Tausch; R.B.] überhaupt geben kann, müssen alle Waren etwas Gemeinsames haben, dessen Natur und Ursprung es dann aufzudecken gilt. Da dieses Element nicht in ihren so verschiedenen und inkommensurablen Gebrauchswerten liegen kann, bleibt nur eine Eigenschaft übrig, die ihnen gemeinsam ist, nämlich diejenige, daß sie alle Arbeitsprodukte sind. Damit ist die Natur des Werts, seine „Substanz“ enthüllt: es ist festgeronnene, materialisierte, kristallisierte menschliche Arbeit.“ (Ebd., S.295) Das, was sodann die menschliche Arbeit ersetzt, ist Kraft oder Energie, deren Substanziierung im Wesentlichen durch Kommunikation aggregiert wird, also durch Veranlassung oder Macht von Arbeit. 58 Kongenial inszeniert im Film Willkommen Mr. Chance (USA 1979, R: Hal Asbey), in dem ein völlig vertrottelter Gärtner (Peter Sellers) mit seinen Analogien von Gartenbau und Regierungskunst zum Berater des amerikanischen Präsidenten aufsteigt.

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det und leitet geht von der Idee aus, es gäbe neben der patriarchalen auch eine matriarchale Macht: Und das ist die Macht der Verführung.59 V. POLITIK DER INSZENIERUNG – DIE BAROCKEN GESCHICHTEN60 Sofern Vergangenheit als Tradition überliefert ist, hat sie Autorität; sofern Autorität sich geschichtlich darstellt, wird sie zur Tradition. Hanna Arendt61

Kehren wir nun die Perspektive um und fragen nicht mehr nach der Inszenierung von Politik, sondern nach der Politik der Inszenierung. Das Fazit der vorausgegangen Überlegungen lautet: Inszenierungen, die ohne Herkunft und Zukunft nicht denkbar sind, erscheinen auf dem Grund agonaler, aporetischer Probleme, die nicht in Präsenz auflösbar sind, als deren Antithese: narrativ. Weil sie nicht auflösbar sind, müssen sie sich der Öffentlichkeit als symbolisch tauschbar verpflichten: als Aufführung und reproduzierbare Darstellung. Am Anfang der theatralen Logik stehen nicht Versammlungen von Akteuren und Beobachtern, sondern aporetische Situationen der Präsenz, mithin Bewusstsein von sich selber als das Bewusstsein anderer. Die fixe Idee der Geschichtlichkeit des Theaters wendet sich gegen deren situativen Grund mit der Wiederholung der stets gleichen Autorisierung einer (griechischen) Urszene. So sind Inszenierungen stets mit dem Problem der eigenen Autorisierung als einer Form der Selbstbemächtigung beschäftigt. Eine aporetische Simultaneität ist von der Art der „Wahrheit der Fiktion“. Das einschlägige Beispiel ist das Schauspiel im Drama Hamlet: Dieses Schauspiel im III. Akt zeigt den Königsmord (Vatermord) als Fiktion, soll vom Mörder (Claudius) als Reinszenierung seiner Tat verstanden werden.62 Hamlet veranlasst Horatio als Beobachter des Beobachters (Claudius) die Affekte zu 59 In dem Film Hamlet (D 1921, R: Svend Gade/Heinz Schall) wird die Hauptrolle weiblich besetzt.

Im Prolog (den es in der Shakespeare-Fassung nicht gibt, jedoch in einer Sage aus dem 12. Jahrhundert) wird behauptet, dass, um die Krone des schwer verwundeten Königs zu sichern, bei der Geburt das Geschlecht des Kindes falsch angegeben wird. Das Zögern Hamlets, sowie die Liebesgeschichte mit Ophelia und die Freundschaft mit Horatio erscheinen dadurch plötzlich viel plausibler. Viele Interpreten haben Shakespeare in seiner Fassung des dänischen Mythos vorgeworfen, mit seinen unmotivierten Schleifen und der ausladenden Länge des Stücks lediglich die Inkonsistenz vertuscht zu haben: Aber geht es bei Hamlet nicht um die Frage der Dauer einer Macht, die anders als über die Transformation Vater-Sohn matriarchal (Mutter-Tochter) geregelt werden sollte? 60 Félix Guattari: Mikro-Politik des Wunsches. Berlin 1977, S.93. Der folgende Abschnitt geht teilweise zurück auf einen Vortrag, den ich im Rahmen eines Doktorandenkolloquiums an der Muthesius-Hochschule der Künste auf Einladung von Petra Maria Meyer unter dem Titel: Pragmatische Komponenten kinematographischer Performanz gehalten habe. 61 Hannah Arendt: Walter Benjamin. Abgedruckt in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. München 2013, S.244. 62 Dazu dient die autorisierende Übernahme einer griechischen Tragödie: Gespielt wird „Äneas Erzählung an Dido; besonders da herum, wo er von der Ermordung Priams spricht.“ II. Akt, 2. Szene.

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verifizieren. Denn in Sprache lässt sich lügen, in Affekten nicht. Solche zu veranlassen, also retrospektiv die symbolische Aporie von Sprache zu offenbaren, dient der Umweg der Fiktion.63 Nun könnte man sagen, alle menschliche aisthesis sei in ihrer SubjektObjekt-Relation (in der Semiose) aporetisch verfasst. Wenn also Aporien sich als solche kenntlich machen, dann, weil die Praxis der Vorverständigung und der Evidenzen dafür sorgt, dass eben Kommunikation nicht auf letzte Gründe und Wahrheiten beharrt, sondern auf Dauer, oder wie Luhmann sagt, auf Anschlussfähigkeit. Praxis löst Synchronitäten (Subjekt-Objekt) in Diachronitäten auf. Wer nun dies wiederum synchronisiert, also funktional oder performativ betrachtet, kann das wiederum nur auf der Inszenierungsebene von Fiktion, um nicht wiederum in die Praxis der Evidenz zu fallen. Wird diese Regel im Drama verlassen, rächt man im Namen letzter Gründe und opferloser Reversionen, dann müssen Kommunikation und Genesis enden. In Hamlet ist es der Rückfall in Kontingenzen, von Schicksal und Zufall (ein vergifteter Degen wird vertauscht, man trinkt irrtümlich den vergifteten Wein), der dem Geschehen ein Ende macht. Jedoch hält sich die Aporie im Übergang von der praktischen Situation (dem Normalgebrauch der Dinge) für einige Zeit in einer Szenifikation, die zur Darstellung einer Aufführung kommt. Diese Dauer der „Offenbarungshandlung“ in narrativem Gang zu halten, beständig Macht in Gegenmacht oszillieren zu lassen, ist die Aufgabe der Inszenierung: die Dosierung der aporetischen Aufbrüche. Es ist deswegen bedeutsam, wenn von Inszenierungen gesagt werden kann, sie stifteten einen anökonomischen Raum innerhalb der Zirkulation der Praxis der Machtrelationen. Wobei wir die These vertreten, dass Macht (und eben nicht Gewalt) eine Zeitfigur beherrscht, nämlich die Dauer des Aushaltenkönnens der Aporie in Begehren und Abwehr zirkulieren zu lassen. Insofern ist sie ein Prinzip, Simultaneitäten von Dauer und Bewegung (Rhythmik, Ritual, Zeremoniell und vor allem Rhetorik) veranlassen zu können. Dahinter steht eine Gottesfigur, eine Allautorschaft, deren Legitimität sich erst durch die Anerkennung der Offenbarung eines Widerspruchs erweisen soll, wie sie in den religiösen Opferhandlungen immer schon zum Ausdruck gekommen ist. Insofern beherrscht die Figur der fiktiven Rekursivität paranoetisch das agonische Prinzip. Der Initiator muss, um sich Legitimität zu verschaffen, die Initiation des anderen zulassen, also den Widerspruch, in sich selbst in Arbeit setzen. Das geschieht unter den Namen Freiheit oder individuelle Willkür – bei Hamlet ist es der Mord, der Wahnsinn und der 63

Hamlet, III. Akt, 2. Szene: „Hamlet: Ich bitte dich, Wenn du das im Gange siehst, / So achte mit der ganzen Kraft der Seele / Auf meinen Oheim: wenn die verborgne Schuld / Bei einer Rede nicht zum Vorschein kommt, So ists ein höll’scher Geist, den wir gesehen, / Und meine Einbildungen sind so schwarz / Wie Schmiedezeug Vulkans. Bemerk ihn recht, / Ich will an sein Gesicht mein Auge klammern, Zur Prüfung seines Aussehns.“

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Krieg, die in undosierter Weise der Fiktion (des Spiels im Spiel) gleichgestellt werden. Der Einsatz der Inszenierung (im Sinne eines Aufführungsrituals oder eines Zeremoniells nach Turner) ist die strategische Option, die Unlösbarkeit der aporetischen Initiation auszuhalten, ihr Dauer auf Zeit zu gewähren, indem sie in Realfiktionen transformiert wird. Politische Macht ist somit stets mit der Grenze des Todes infiziert als Signum ihrer eigenen Machtlosigkeit. Im Folgenden sind nun Deformationen, Choreografien und Melodien der Zirkulation der Dauer zu untersuchen. Es ist nicht Dauer im Bergson’schen Sinne gemeint, sondern das Aushaltenkönnen einer „Verzweiflung“ in der Szenifikation: die transzendente Wahrheit von Arbeit und Leid. Zunächst widmen wir uns historisch rückblickend einer politischen und gesellschaftlich-kulturellen Situation, in der der Wahlspruch „Die Fantasie an die Macht“ für einige Wellen gesorgt hat, der Zeit, der Studentenunruhen und der 68er Revolte, in der man zum letzten Male wohl an die Selbstbemächtigung als ideologischer Realität zu glauben veranlasst wurde. Zu dieser Zeit (1967) hat Guy Debord mit seinen Hinweisen zu einer allgemeinen Kultur des Spektakels das Primat der Politik vor dem Markt nicht mehr anerkannt, sondern die Finessen der Inszenierung von subversiver und reziproker Machtdevotion analysiert.64 Politik war so schmutzig geworden, dass keiner mehr mit ihr spielen wollte. Als Perversion vorgeblich herrschaftsfreier Diskurse wandert die Macht vollends in die Taschen aufgeklärter Technokraten. Alleingelassen und ratlos wurde der „Schizo“ zum Ideal einer sich selbst überwachenden und beherrschenden Tauschlogik von Arbeit und Konsum, in deren Problemlösungsrelevanz die Fantasie als opferlos aufgefasst wurde: der Konsument als Ein-Personen-Stück, dessen Bühne die Innerlichkeit, der Rückzug und die Privation einerseits und die medienkompatible Öffentlichkeitsvernabelung andererseits war: Ursprung und Ende einer Geschichte, die in der Warenzirkulation als stotternder Refrain einer geschichtslosen, nicht einmal mehr protestantisch geheilten Gesellschaft verkommen war, eine Wunschmaschine, von allem befreit, außer von sich selbst. Wenn die Geschichte zu Ende geht – so hofften die einen und befürchteten die anderen –, wenn sie also die Dauer in Ewigkeit aufzuheben versprach, sie sich in disparate Partikularitäten (Waren, Spektakeln) auflöst, die von anderen Kräften erschaffen werden als von der unmittelbaren menschlichen Arbeit, implodiert auch das politische Erbe der Macht: Sie wird privatisierte Mediendarstellung. Die Bilder des Barock scheinen wieder hervor, die Inszenierungen werden universell, zur evidenten Praxis, die keine biografische Bestimmung von Anfang und Ende mehr zulässt, bzw. Biografie als letzte Form ideologischer Vision diffamiert. Eine illusionierte Perfektion des Warenversprechens (die 64

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996.

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sich in den 1970er Jahren mit der beginnenden Arbeitslosigkeit schon nicht mehr als haltbar erwies) rundete den Kreis, brachte aber die Bewegung durch ihre Absolutheit zum Erliegen. Diese Kinderkrankheiten einer nicht mehr im Arbeitsethos einer Selbstinszenierung aufgehobenen Entwirklichung haben vor allem im Anti-Ödipus von Deleuze/Guattari einen nicht von allen Intellektuellen als ironisch erkannten Aufruf gefunden. Die „Phantasie an die Macht!“ hieß: „Bemächtigt euch nicht der Geschichte, beendet sie!“ Die Kritik dieser Beendbarkeit hat Lyotard als „Postmoderne“ beschrieben. Eine Frage hält sich hartnäckig: Kann man im Nachklang der Rhythmik von Postmoderne und Moderne, Autorität und Entautorisierung verschiedene Choreografien und szenografische Revolutionskonzepte ableiten, die nicht der trägen Saturiertheit der Herrschaftsgeschichte unterworfen werden? Und: Wer oder was inszeniert die Probleme, Krisen, Widersprüche, wenn es sich nicht um theoretische Selbstinszenierungen eben jener zur Perfektion geronnen Diskursmaschinen handelt, die das Problem ihrer „Imperfektibilität“ in die Hinterzimmer der Forschungsabteilungen verbannen: Für jedes Problem muss es ein zu verkaufendes Produkt geben. Nicht das Problem ist problematisch, sondern dessen Auflösung. Man muss nach einer anderen Erzählung oder einem anderen Stil suchen, der dieser historischen Episode einen Sinn verleiht, die der „Phantasie an die Macht“ verhelfen wollte. Was kann ‚defekter‘ in der Wirklichkeit sein als der Wunsch? Nicht von ungefähr hat Luhmann zu dieser Zeit die Organisation der sozialen Beziehungen und Dynamiken in eine sich selbst prozessierende Erzählung von unaufgegangener Vermittlung gekleidet, von der Lyotard noch behauptete, dass sie eigentlich schon aufgegangen sei.65 Heute, 40 Jahre nach Erscheinen der Frechheiten des Anti-Ödipus, mutet dies als Episode an, die unter der theoretischen Basis „Freudomarxismus“ das ökonomische Denken und den damit verbundenen Narzissmus zu sozialisieren versuchte, weil man den Namen „Heideggeromarxismus“ vermutlich als zu unästhetisch empfand – wobei hinter dem späten Heidegger der „Gelassenheit“ vom Anti-Ödipus wenigstens die Ökonomie Nieztsches kursierte. Macht lässt sich ebensowenig „auflösen“ wie Wünsche erfüllen. Freud mit Marx zu denken, heißt die Frage zu stellen, ob es möglich sei, Intimität und Politik, Privation und Öffentlichkeit anders als über den partikulierenden und befriedigenden Warenverkehr vermittelt zu denken, z.B. in der Opferverantwortung der christlichen 65 Vgl.

Lyotard, Das postmoderne Wissen, a.a.O., S.88f: „Es ist dennoch voreilig, so weit zu gehen. Wir werden aber im Laufe der folgenden Betrachtungen die Idee präsent halten, daß die scheinbar veralteten Lösungen, die man dem Problem der Legitimierung geben konnte, im Grunde nicht veraltet sind, sondern nur in den Ausdrucksformen, die sie angenommen haben, und man darf sich nicht wundern, sie heute in anderen Formen fortdauern zu sehen. Müssen wir nicht selbst in diesem Moment, um sein Statut zu präzisieren, eine Erzählung über das abendländische wissenschaftliche Wissen aufbauen?“ – „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation.“ (Ebd., S.112)

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Güte als einer Gabe, die sich nicht zeigt. Das Opfer als Gabe ist Arbeit. Sie ist selbst der Mangel, den die technisch-maschinellen Problemlösungsopern hervorbringen. Während der Ort der Konfrontation in den 1960er die Straße war, die von Debord kurzerhand zur Bühne erklärt wurde, waren die 1970er Jahre, vor allem durch Foucaults Einfluss, wieder durch Diskursanalyse gekennzeichnet. Wichtig in dieser Wendezeit war das Aufkommen alternativer Medien- und Öffentlichkeitsordnungen, in denen allmählich ein Rücktausch von Intimität in Politik allerdings ebenfalls im Sinne eines fluktuierenden Warenverkehrs erfolgen konnte, was zur Folge hatte, dass die letzte intime Bastion, die man vordem allenfalls militant zu erobern oder verführen gewohnt war66, der Körper, zum Tauschgut wurde.67 Der Körper wird nicht nur zur Bühne, sondern auch zum Marktplatz der Probleme. Man hat also zwei Optionen: unbefriedigt sein und dem Wunsch verfallen, oder befriedigt sein und aus der Ökonomie ausgeschlossen zu werden. Fallweise kann man, wie Luhmann, das ökonomische Problem auch als ein kommunikatives auffassen, so als könne man sich durch Fiktionen ernähren. Die Refugien von öffentlich und privat, von Arbeit und Glück lassen sich aber heute nicht mehr so trennen. Ihre inszenatorische Durchdringung lässt ihre wechselseitige Dauer nicht mehr zu. Ludwig XIV. hatte immer Ahnung davon, dass das ununterbrochene Fest auf Dauer nicht haltbar ist und trieb Vauban ununterbrochen an, „Gott in Frankreich“ gegen äußere Feinde zu verteidigen. Der Anti-Ödipus brachte verstörend ans Licht, dass Rettung und Aufgabe des Körpers in ein- und derselben Ökonomie gedacht werden muss, dass es nicht um das ewige Glück gehen kann. Privation war diese Farce des korrumpierten ödipalen Familialismus, der seine Fassade wie einen Zauberspiegel vor sich herträgt. Der Freudomarxismus war nicht in der Lage, die Energien dieser urbanen Zeit- und Raumorganisation anders als in einer obskuren Machtposition zu denken, die die Familie verkörperte. Jetzt beginnt unter der Oszillation des Warenkörpers auch das Ritual der Familie, sich in alle genderkombinatorischen Differenzen aufzulösen. Das Glück kann wieder zu einem Ereignis werden, dessen Dauer nicht der Tod besiegelt, sondern die Qualität des Fernsehprogramms. Am Ende dieser Überlegungen zur Erschaffung gesellschaftlicher Probleme – natürlich nur des saturierten Teils der technischen Weltgesellschaft – herrscht ein ökonomischer Verbund zwischen Waren und Wunsch, Erfüllung und Defekt. Es geht nicht länger mehr darum, die Probleme zu lösen, und, wie Heidegger sagt, sich zu „schonen“, sondern das stets offene der Aporie zu 66 Vgl.

Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992. Die aufkommende Sensibilisierung für „Umweltprobleme“ und nicht mehr für „Weltprobleme“ zeigt, wie im Luhmann’schen Sinne dem subjektlosen Schicksal eine unendliche Arbeit zukommen kann. Selbst die Probleme sind von der Maschine generiert, die sie unentwegt vermittelt. Da zeigt, wie sehr wir (in einem Kreis exklusiver Staaten freilich) in einem universellen Barock angekommen sind.

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bewahren. Wenn Wohnen „schonen“68 meint und Bauen „überdauern“, dann ist die Exkludierung des Problemparadigmas in der Privation gemeint. Gerade in der Totenstille der problemlosen Langweile, deren Sog die Medienmaschinen in die Intimbereiche eindringen lässt, als universelle Obszönität, ist, so Heid­ egger, auf das eigentlich Fragwürdige zu achten.69 In dieser Initiative öffentlicher Innerlichkeit hat der Anti-Ödipus mit dem Begriff der Wunschmaschine ein Transmissionsgeschäft vorgeschlagen, das nicht mehr in Vermittlungen, sondern in Gangwechsel, in Zeitmoderationen arbeiten sollte, in der das Territorialitätsmodell von Öffentlichkeit und Privat von den Schizos als Anachronismus erkannt wurde. Es galt nun nicht mehr gesellschaftliche Lösungen der Machtfrage, sondern Erlösungen vom monadischen Universum des Warenverkehrs und der symbolischen Macht zu erproben und zwar Erlösungen von Lösungen, die in Aporien immer nur unter der Qualität relativer Dauer zu halten sind. Damit war eine Quittierung sowohl kommunistischer als auch christlicher Heilsutopien befreiend verbunden. Nun erst sollte man sich den Präsenzen widmen dürfen, z.B. Arbeitslosigkeit sich schön kiffen können.70 Die göttlichen Heilsfiguren stehen schon im Wissen unlösbarer Paradoxien, deren Darstellung und eben nicht Auflösung das Paradigma des Theaters, der Inszenierung, inhärent war, quasi als die subvertierten Häresien des inquisitorischen Katholizismus. Jedes inquisitorische Kriminalstück muss erst einmal ein Verbrechen erfinden, um dessen Lösung wenigstens 90 Minuten dauern lassen zu können. Deleuze/Guattari haben sich, ihrer Intellektualität gemäß, auf das Theater der Hysteriker aber auch das Theater Artauds71 – ein Theater ohne inszenierende Regie – bezogen. Lösung und Verheißung von Problembewusstsein, d.h. schlicht von Unterscheidungen (so die Luhmann’sche Entsemantisierung des Lösungsversprechens) können nur in der impliziten Ironisierung theatralisierter Zeit gezeigt werden. Zu zeigen und zugleich nicht zu erlösen, das macht die Pathologieoffenbarung nicht nur der Schizophrenie aus – so der Untertitel Schizophrenie und Kapitalismus des Anti-Ödipus. In eben dieser darstellenden Verbergung der Unsichtbarkeit des Leidens an der Aporie, wäre über die gesellschaft68

Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 2000, S.145: „Das Wohnen als Schonen verwahrt das Geviert in dem, wobei die Sterblichen sich aufhalten: in den Dingen.“ 69 Ebd., S.155: „Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.“ 70 Ein Wirtschaftsprofessor, mit dem ich damals Seminare zur Medienökonomie veranstaltete, glaubte allen Ernstes, die Arbeitslosen müssten zu einer Einstellung gelangen, in denen ihnen ihre Arbeitslosigkeit als wünschbarer Erfolg ihrer Lebensgeschichte erschiene, als der tatsächlich vorgezogene, wohnliche Ruhestand. Ist nun Privation Schande oder paradiesisch? 71 Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Frankfurt am Main 1979, S.48 (Die Inszenierung und die Metaphysik): „[...] die Realisierungsmöglichkeiten des Theaters gehören allesamt dem Bereich der Inszenierung an, diese betrachtet als eine Sprache in Bewegung, als eine Sprache im Raum.“

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liche Pathologie des Obszönen Aufklärung zu verlangen, also über das „kapitalistische“ Unbewusste. Die einzige Katharsis, die hervorscheint, ist die der Anerkennung des unvermeidlichen, des heiligen Opfers. VI. RHIZOMATIK UND MASCHINE

Statt Lösungen also Transformationen. Wie funktioniert nun ein solcher „Gangwechsel“ der Bemächtigung? Nach den Versuchen der damaligen Zeit kann man leicht nachweisen, dass das Erbe der undisziplinierten Produktionen von Deleuze/Guattari in der Systemtheorie zur Ordnung gekommen ist. Wenn es z.B. in Rhizom, dem ersten Kapitel von Mille Plateau heißt, es gibt nur noch „Linien und die meßbaren Geschwindigkeiten“ und diese bildeten eine „maschinelle Verkettung“72, dann trifft das genau die ironische Pointe der Luhmann’schen Strategie, dass nicht Subjekt und Objekt kommunizieren, sondern nur die Kommunikation selbst, dass ihre Strategie nicht die Einvernehmlichkeit, sondern die unentwegte Differenzierung ist, die ab und an wegen übergroßer Komplexität epikalyptisch sich selbst resorbieren können soll.73 Der Modus dieser Resorption ist Sinn.74 Gibt es einen Ausweg aus dem eskalierenden Dilemma von medialer Zielverwesung und realer Warenerfüllung? Choreografisch, haben Deleuze/ Guattari das Rhizom als asymmetrische Form vorgeschlagen, in dem Projektion und Präsenz, oder wenn man anders will, Sinnstrategien und Performanzen, Knoten und Verbindungen einander nach dem Weg des geringsten Widerstandes wuchern: In der Flucht auf Indifferenz hin entfaltet sich im Rhizom die Zeitspur einer Differenz. Vertrackterweise ist das Rhizom genau die Kombination darwinistischer Evolution mit hegelianischer Geschichte, von der Gumbrecht als den beiden konkurrierenden Erzählungen des 19. Jahrhunderts gesprochen hat. Wenn die rhizomatische Linie ein stillgestellter Gestus ist, so ist die messbare Geschwindigkeit (Weg x Zeit) das Produkt der Kraft, d.h. der Produktivität, die sie hat als Spur entstehen lassen und die als ihre eigene pragmatische Komponente von dieser verausgabten Kraft kündet. Das Kraftphantasma kontinuiert den verlorenen Ursprung, respektive die Vaterschaft, die in der Vermittlung selbst geopfert werden muss. Die Erlösung besteht darin, vom Lösungsversprechen auf die im Paradoxon (oder der Aporie) akzeptierten Opfergaben zurückzuschließen. Man muss sich davon lösen, vor oder nach dem Krieg den Göttern zu 72

Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizom. Berlin 1977, S.6. Luhmann, Was ist Kommunikation?, a.a.O., S.95. 74 Niklas Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S.234: „Von Sinn soll die Rede sein, um die Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität zu bezeichnen.“ In Versailles war es der Roman, der Entlastung von den ewigen Festen versprach. 73

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opfern, wenn der Krieg selbst das Opfer ist: das Opfer der Vermittlung einer immer wieder aufbrechenden Differenz (Unterscheidung). Darin liegt der formale Kern der soziologischen Argumentation Luhmanns: Kommunikation löst keine Probleme, sondern bewahrt sich in der Aufhebung des in Projektion beständig aufschiebenden, autorlosen Erfüllungsversprechens. Was sollen aber dann noch Religion, Politik, Wissenschaften als Lenkungsinstanzen, wenn jeder auf seine situativen Entwurfschancen zurückgeworfen ist? Nun, Religion, Politik, Wissenschaften, also die „Systeme“, haben die Aufgabe im Prozess der Transformationen Dauer, d.h. Ereignistaktung zu inszenieren, die Fiktion eines (nicht-neurotischen) „Subjekts“ zu ermöglichen, das die Freiheit vermittelt, die Rollen und somit die Dauern wechseln zu können, ohne die Identität als Eigenrhythmus zu verlieren. Es bedarf gleichsam einer Trägerfrequenz, um auf „Subjektivität“ (also inszeniert) Wunsch und Erfüllung nach Maßgabe der Narration oszillieren zu lassen. Was hat das dann aber für inszenierungspolitische Folgen, wenn Politik gar nicht anders kann, als die Probleme der Welt nur zu repräsentieren und zu reproduzieren? Das Aushaltenkönnen der Unlösbarkeit, also die Konstanz der Arbeit ist geradezu der Verweis auf eine endlose Ökonomie, die nicht endlos im Sinne von leer, sondern im Rhythmus ihrer Knoten (rhizomatisch) verläuft. Es ist die Politik, die nicht Probleme löst, sondern, sie ideologisch oder real überhaupt zirkulieren lässt. Der Arbeitsraum der Politik besteht nur nachgerade, zwischen Macht und Gewalt, symbolischen und realen Handlungen validieren zu können. Wer wählt einen Politiker, der verspricht, das die Probleme nicht gelöst werden, aber das Wohnen wohnlicher wird, d.h. dass die Aporien in der Evidenz einer Praxis das Opfer verwesen? Ich will, nach diesem Höhenblick auf die anarchische Intellektualität der 1970er Jahre, auf die Spur der Evidenz (als dem gesellschaftlichen Unbewussten) in Architektur eingehen. Als Leitbegriffe mögen mir dabei die beiden der Psychiatrie entnommenen und auf die Ökonomie zu übertragenden Begriffe „Schizophrenie“ (Spaltung/Unterscheidung) und „Paranoia“ (Flucht, Linie, Narrativität) dienen. Schizophrenie sei die Bewegung, die sich in zunehmender Geschwindigkeit (Fortschritt) von sich selbst entfernt und zu sich selbst (hysterisiert) zurückkehrt, indem sie das männliche Telos der Selbstautarkisierung und -autonomisierung anbetet. Diese Bewegung entspricht Robinsons Gang um die Insel, als er Fußspuren entdeckt. Erst nachdem er einmal um die Insel herumgelaufen ist, verifiziert er, dass es seine Spuren sind, dass sich Identität aus der Selbstentfernung nähert. a. Die Schizophrenie wird verstanden als eine Bewegung, die nicht ganz zu sich selbst zurückkehrt. Vielleicht nennen wir diese Bewegung besser eine Erkenntnisaufführung, dann lösen wir den Begriff von seinem Pathologiezu-

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sammenhang und binden ihn stärker an die Evidenz einer täglich erfahrbaren Selbstinszenierung. Die lineare Bewegung wird in eine kreisförmige überführt, die je auf der Seite des Menschen wie auf der der Dinge hysterische, heute sagt man „histrionische“ Effekte zeichnet. Schizophrenie ist demnach das Maschinenphänomen selber, genauer, das der Transmission von Kräften, insofern die mechané eine Überlistung der Selbsteinholung des eigenen Ursprungs darstellt, letztlich­– um es auf den Punkt zu bringen – eine Todesabwehranziehung, so wie die histrionische Theatralik eine Abwehranziehung mit dem Anderen ist, deren paralytischer Effekt einen Widerstand darstellt, der als Architektur (Immobilie oder Realie) verstanden werden kann. Die Schizophrenie hält oder kultiviert sich als Spaltungsüberwindungsspaltung, als zirkulare Fortschrittshysterie. Von dieser Erkenntnisform aus betrachtet ist Dauer im Bergson’schen Sinne nicht möglich. Die Dauer muss in sich selbst emergieren, pathologisch verdinglichen. Vielleicht trägt der Benjamin’sche Begriff der „Bewegung im Stillstand“, oder die Metapher vom „Körper als Haus des Seins“ weiter. Wir werden gleich darauf zu sprechen kommen, dass Architektur nicht als statisches Sein, sondern als symptomhafter Durchgangsort begriffen werden kann, was vorzüglich in den Kulissen des Films zum Ausdruck kommt. b. Paranoia ist als paradoxes Gegenstück der in sich widerstreitenden Dynamik der Schizophrenie gedacht –Transformation der kreisförmigen in lineare Bewegung, die die Vollendung der Ursache im anderen erkennt, nämlich die der doch an sich sehr nützlichen Dinge, deren Konsum jedoch ihre Vernichtung bedingt und die in der Paranoia, dem auf Schein realisierten Wunsch ihre paradiesische Restitution sucht.75 Wenn Ursache und Ziel als aporetisches Produkt von Unterscheidung anerkannt werden, latitiiert in beider Knoten (Zwangsverhältnis) ein Ursprung schematisierender Erkenntnis. Der Knoten ist eine Verschlingung, oder wie es bei Lacan bezüglich des Zeitverhältnisses von Antizipation und Retrospektion (Progression-Regression76) heißt, ein Steppunkt. Ökonomie 75 Rudolf Heinz hat anlässlich der Kurzversion meines Vortrags doch erhebliche Bedenken geäußert,

diese auch in der Geschichte der Psychopathologie schillernden Begriffe dem Kontext zu entziehen, wenn man sie etwa mit den Darlegungen vergleicht, die Laplance/Pontalis in ihrem Vokabular der Psychoanalyse (Frankfurt am Main 1972) geben: „Ablösung von der Realität“ (ebd., S.453) und „Abwehrcharakter gegenüber der Homosexualität“ (ebd., S.367). Auch wenn der Übergang zwischen Paranoia und Schizophrenie im Spektrum der Psychosen bisweilen uneinheitlich ist, scheint doch die Tendenz, sie unter die Bewegungen von Flucht und Verfolgung von/der Realität maßgeblich zu sein, je nachdem, ob ich die Dinge oder die Dinge als von mir wahrgenommen gedacht werden. In der Tat scheint ja das Problem der Beobachtung und der Beobachtbarkeit in der Frage der Macht ein zentrales zu sein. Völlig einverstanden war Heinz deswegen mit der Verschiebung von Psychopathologie auf Erkenntnisform hin, insbesondere auf deren ‚Befriedung‘ in Architektur. Wenn man durch London spazieren geht, kann man gewiss sein, stets von einer Kamera beobachtet zu werden, sodass die öffentliche Paranoia dafür sorgt, dass ich mich stets fragen muss, welche meiner Handlungen nicht die der öffentlichen Norm erfüllt. 76 Sartre arbeitet seine soziale Theorie des Verstehens und der Verständigung vor allem in Die Kritik der dialektischen Vernunft und in Marxismus und Existenzialismus aus. „Für uns ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen

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als methodischer Umweg der Hervorbringung und Vernichtung soll nicht nur den Austausch von Waren in zunehmender Logistik leisten, sie muss zugleich das Idealitätsphantasma ihrer anscheinend opferlosen Metamorphosen als Imagination von Arbeit widerständig halten, einer Arbeit, die das Drama des menschlichen Lebens als dramatisch charakterisiert. In Szene setzen heißt, einen Knoten als Dauer zwischen der Präsenz und der Wiederholung zu knüpfen.77 Es geht nicht mehr nur um eine notwendige Versorgung mit Gütern, sondern um eine Versorgung mit Fiktionen, die sich im Steppunkt der Zeit als noch nicht erfüllte Realität diskreditieren und deswegen mit dem Entgegenkommen medialer Produktionen aufgefangen werden. Wir haben es mit einem positiven Mangel zu tun. Rekursiv wird das System dann, wenn man Paranoia und Schizophrenie koppelt, d.h. den Fluchtpunkt im Maschinendurchgang selbst als nützliches Problem, als notwendig arbeitenden Widerstand und nicht mehr als bloße Behinderung integriert. Das geschieht in solchen Dingen, die sich in einer Art „Übergangsobjekt“78 halten können. Es sind nicht nur Medien, sondern vor allem Rituale, Zeremonien und Partialobjekte (Fetische, Waren). Soweit ich sehe, gibt es bei Deleuze/Guattari noch keinen Medienbegriff. Genau an diese Stelle aber setzen sie die Sensibilität der Psychopathen, die in ihren Symptomen auf den Sachverhalt von Erkenntnisproblematik nicht als Identität und Wahrheit von etwas, sondern als deren zeitlich aufgelöster narrativer Form aufmerksam machen, die der späte Freud in der Konzeption des Todestriebes zumindest markiert hat: die Flucht in den Tod und von ihm weg nicht nur quasi als das Prinzip der Erzählung von 1001 Nacht. Statt der Medien sehen Deleuze/Guattari Fabriken. Die Medienerstellung ist von Anfang an einer industriellen Produktion unterworfen und nicht einer gelingt, was man aus ihm gemacht hat, selbst wenn er sich niemals in seiner Vergegenständlichung erkennt. [...] Selbst das rudimentärste Verhalten muß sich zugleich mit Bezug auf reale, vorliegende Faktoren, die es bedingen, und mit Bezug auf ein bestimmtes zukünftiges Objekt, das es entstehen zu lassen sucht, bestimmen. Das aber nennen wir Entwurf.“ Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existenzialismus. Versuch einer Methodik. Reinbek 1971, S.75. Die Dezentrierung des Subjekts in der Zeit bringt demnach ein „zukünftiges Objekt“ als ein Provisorium, eine Szenifikation hervor, deren Realität wiederum für den anderen („was man aus ihm gemacht hat“) realisiert werden muss, und so fort. 77 Vgl. Jacques Lacan: Schriften III. Olten 1980, S.101ff. Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewissheit. Lacan geht auf die „Zeitqualitäten eines aporetischen Sophismas“ ein. Ebenso ders.: Die Psychosen. Das Seminar. Buch III (1955-1956). Weinheim 1997, S.305ff. Lacan bestimmt ein szenisches Moment (die Furcht als Steppunkt), die eine gegebene Situation in eine erzählerischen Ordnung verdichten kann, indem sie diese beherrscht: „Ob es sich jetzt um einen geheiligten Text, um einen Roman, um ein Drama, um einen Monolog oder um irgendein beliebiges Gespräch handelt, Sie werden mir erlauben, die Funktion des Signifikanten durch einen verräumlichenden Kunstgriff zu repräsentieren, auf den zu verzichten wir keinerlei Grund haben. Diesen Punkt, um den sich jegliche konkrete Analyse des Diskurses entfalten muß, werde ich Steppunkt nennen.“ (Ebd., S.316) 78 Bei Winnicott, der den Terminus prägt, sind es illudische (!) Formen eines ursprünglichen Besitzes. Vgl. D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2010, S.58ff. Eine Übergangsform lässt sich z.B. technisch leicht durch die Glühbirne erklären, deren Arbeit ein Ergebnis des elektrischen Widerstandes ist, die Licht als positiven Mangel ihrer primären Wärmeleistung hervorbringt.

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künstlerischen. Der Computer ist kein Medium, er ist eine Fabrik. Das Unbewusste des Kapitalismus (seine „Veranlassung“) ist nichts anderes als die Evidenzmaschine der Verdeckung einer Erlösung, die in der Brücke von Anfang und Ende sich halten kann, so wie es die hysterische Figur des Arc de Cercle vorgibt, die sich als Körperbrücke zeigt. Ihr Architekturkörper ist der Triumphbogen: Durch ihn zogen die römischen Legionäre als diejenigen, die durch den Tod hindurchgegangen sind. Wobei der Triumphbogen eine ganz und gar funktionslose, gestische Architektur darstellt, deren Sinn es ist, einen Knoten, einen minimalen Widerstand/eine Passage zu simulieren, um die vom Krieg heimkehrenden Legionen daran zu erinnern, den Krieg nicht in die Stadt zu tragen. Der Triumphbogen ist ein senkrecht gestellter Halbkreis, in dem der Kreisbogen den unökonomisch ökonomischen Teil des geraden Durchmessers einnimmt. Legt man ihn wieder horizontal, hat man einen halbkreisförmigen Theaterbau. Die Figuren der Architektur sind wie Transformationen der Kegelschnitte zu behandeln und radikal zu enthistorisieren. Die Furcht der Römer vor den eigenen Soldaten und Söldnern ist, so lehrt die Geschichte, nicht unbegründet. So fungiert der Triumphbogen keineswegs als Siegeszeichen, sondern als eine Art Waschanlage der Trennung von chora und oppidum und somit der Vermittlung von Macht und Gewalt. In der Schizophrenie von Vaterschaft und Soldatentum ist die Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Erkenntnisform der Intimität der Pathologie als Inszenierung einer unmöglichen Nichtinszenierung, wie sie Artaud propagiert hat, zu erkennen: Gewalt und Bannung zugleich, Symptom als Fiktionsersatz. Sie ist der Versuch, Erkenntnis sich vollziehen zu lassen, indem man es der Sichtbarkeit entzieht und damit die Unlösbarkeit des Knotens anerkennt: der Triumphbogen ist auch eine Art Tunnel. Eine gewisse Nähe zur Gnosis ist darin gegeben. Den Hinweis zur Gnosis gibt übrigens Dieter Mersch im Zusammenhang mit seiner Aristoteles-Deutung. Es gilt, nach der Aporie der Aisthesis, das zu erkennen, was sich nur in der Verweisung/Inszenierung als nichtgezeigt aufführt. Ich zitiere erneut: Zwar nimmt die Aisthesis bei Platon noch keinen Platz in der Reihe der Kognitionen ein: Sie wird als alogon charakterisiert, das heißt, sie enthält nicht schon einen Riß einer Verdopplung, wie sie dem „Etwas-als-Etwas“ zukommt. Sie markiert vielmehr Einfaches. Folglich geht sie dem logos, der Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Zerlegung der Dinge in Eigenschaften voraus: Dem Bereich des Vorprädikativen zugehörig, betrifft sie ein ungeschiedenes Ganzes, das im Timaios mit dem Unsteten, dem beständigen Werden und Vergehen in Zusammenhang gebracht wird. Dennoch gilt sie bereits als ausgezeichnete Quelle für Erkenntnis (gnosis).79

Als Einfachheit einer Erkenntnisform ist die Metapher des Knotens nicht schlecht gewählt. Der Knoten ist kein Riss, sondern eine Intensivierung der Bewegung, Schleife, Verdichtung, Simultaneitätsversuch zur „wirklichen 79

Mersch, Ereignis und Aura, a.a.O., S.34.

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Welt da draußen“. Die Evidenzformen als reale und nicht historisch beschworene Einheit von Wirklichkeitsbehauptung müssen in der Gnostik in den Fokus der Erkenntnis zurückgerückt werden. Der Verlust der Einheit, ein stehender Topos westlicher Philosophietradition, ersetzt die Einheit der Evidenz durch das Weltbild als Objekt.80 Gerade weil sich Evidenz als angeblich unproblematisch, als Opferverblendung erweisen muss, soll die Blindheit gegenüber dem, was evidentermaßen als nicht problematisch weder affektiert noch beachtet wird, gewahrt werden. Zu zeigen, dass Evidenz (Praxis als empirisch verinnerlichte) das Geheimnis ist, ist Aufgabe der Gnostik: Nur die offenen Symptome verraten, dass sie Darstellung einer Unmöglichkeit ihrer Auflösung in Wissen sind. Deswegen der Hang der Gnostiker (wie der Diplomaten) zur Geheimgesellschaften: Es gilt die vulgäre Praxis zu „de-monstrieren“, ohne in ihre Plausibilität zurückfallen zu müssen. Augenfällig wird dies als blinder Fleck der Evidenz, als (technische) Praxis, die in design-dinglicher Zurichtung schon einmal durch einen Triumphbogen hindurchgegangen ist. In den Dingen können die Pathologien als aporetische ‚Störungen‘ und ‚Widerstände‘ abgewehrt überdauern, sie sind die Kulissen der Aporien, Offenbarung als Verborgenheit, Bühne zivilisatorischer Scheinerlösung. Man nimmt das an den öffentlichen Bauten aber nicht so wahr wie der Phobiker, der vor einem Turm Höhenangst und vor dem leeren Platz wie vor der Enge eines Zimmers Angst bekommt, weil er die aporetische Perspektive des Gnostikers einnimmt. Das Symptom ist immer auch ein Dinglichkeitsverschluss, eine Anmaßung des Selbstverständlichen als das Rätselhafte der Existenz. Nicht dass die Situationen scheitern, ist das Problem, sondern dass sie glücken, bleibt dem Phobiker völlig unverständlich. Und dieses problemlose Problem will er nun noch einmal problematisieren. Krankheit als Kenotaph der hinweggezauberten Lebendigkeit, die ja doch letztlich Sterblichkeit annonciert. Dieses Problem, das alle angeht, interessiert niemanden. Es bleibt ihm selbst verhaftet. Die Phobie sieht nicht das Überdauern, sondern die Latenz der Bedrohung. Aber das ist keine reale Bedrohung, sondern eine der Dingökonomisierungen, letztlich des den Dingen nicht angemessenen Designs. Man kann darauf verweisen, dass in einer metaphysischen Mediengeschichte das Theater der Grausamkeit Artauds nichts anderes darstellt als den Korrespondenten der Fabrik.81

80 Lyotard betrachtet das, was durch das Begehren nach Einheit hindurchscheint als Motiv der

Philosophie – Motiv in doppeltem Sinne als (kriminalistisches) Tatmotiv und als (künstlerisches) Motiv, das die Dauer der Konstanz unter wechselnden Bedingungen markiert. Das Motiv ist die verführende Spur, die die Autorisierung (Bemächtigung) konditioniert, entweder logisch, genetisch oder geschichtlich (narrativ). Vgl. Lyotard, Wozu Philosophie?, a.a.O., S.53-55. 81 Deleuze/Guattari beziehen sich insbesondere auf Artaud, der von einem nicht inszenierten Theater geträumt hat. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 1979.

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Erkenntnisformen sind zunächst Machtformen, nicht Formen von Gewalt. Erkenntnis muss anerkannt werden und sich der Anerkennung aussetzen. Die Erkenntnis, man könne den gordischen Knoten (der Allianzen, der territorialen Ansprüche, der Ressourcen) radikal vergessen machen, verändert die Machtstruktur: Die Macht ist jetzt von ihrem eigenen Ende bedroht. Die imperial antizipierende Geste will nicht mehr das, was sie eigentlich soll, nämlich überdauern in der Zeit gemäß der Generativität der Geschlechter. Sie wechselt auf die Ebene der Ereignisse und Krisen, die sich demokratisch in sich kritisieren. Machtpolitik transformiert in Problemmanagement. VII. AGON UND MEMORIA

Zur historischen Konkretisierung können wir auf die Analogie von Film und Krieg zu sprechen kommen, wie sie vor allem von Paul Virilio seit den 1970er Jahren präzisiert worden ist. Virilio ist nicht nur der Denker der Geschwindigkeit, sondern vor allem auch der der Gleichzeitigkeit und der Intensitäten, also der paradoxen Grundfiguration von Dauern und Überdauern. So ist die Bestimmung von Macht bei Virilio an die Fähigkeit vermittelt, überall gleichzeitig zu sein, also Anfang und Ende in einem Augenblick zu eliminieren: Um Autokrat zu werden bedarf es jedoch der absoluten Macht, und die wird über Höchstgeschwindigkeit erreicht. Das Licht bewirkt eine Blendung und ein Erstarren der Bevölkerung. So sagte Napoleon: „Befehlen heißt zu den Augen sprechen“. Die absolute Macht hat etwas Hypnotisches. Napoleon setzte dazu den Telegrafen ein. Hitler das Radio. Gott gleich werden und die Untertanen durch die Geschwindigkeit faszinieren, die sie lähmt.82

Weitaus mehr als das Radio imponiert die Faszination des Mediums Film. Die Rezeption des Films ist die Überschreitung sinnlicher Präsenz, der Fähigkeit des Auges, bei 24 Bildern pro Sekunde die Dauer aus den Augen zu verlieren und eine fiktionale Evidenz von Wirklichkeit zu konzedieren, die schon da ist, in dem Moment, indem sie sich erzeugt. Die Hypnose wird mit einem Schnippen der Finger ein- und ausgeschaltet. Wenn der Film und die Echtzeitmedien (beginnend bei der Telegrafie) nicht mehr in ihrer Geschwindigkeit überboten werden können, muss ein Agon die Intensitäten verstärken. Agon heißt Widerstreit. In ihm geht es nicht mehr um Verführung, sondern um Herausforderung. Karl-Heinz Göttert beschreibt einen diegetischen und einen exegetischen Kriegsschauplatz: Handlung auf der einen, Paralyse auf der anderen Seite. 82

Paul Virilio: Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin 1993, S.30.

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Abb.3 Triumphbogen, Orange. (Foto: Ralf Bohn) Seit 502/1 v. Chr. sind die Theaterwettstreite (Agone) bezeugt, mit denen die Festtage bestritten werden, in die die ganze Bürgerschaft passiv, aber auch aktiv einbezogen ist. Nach dem Vorspiel des Dithyrambenwettstreits, bei dem insgesamt tausend Sänger in zwanzig Chören gegeneinander antraten, folgten am zweiten Tag der Komödienwettstreit mit fünf Aufführungen, am dritten bis fünften die tragischen Tetralogien, in denen ein Dichter jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel aufbot. All das musste organisiert werden (vom gewählten Choregen) finanziert werden, ehe die Aufführung dann wieder alle einband: ein Tagespensum von rund zehn Stunden Stillsitzen.83

Es zeigt sich, dass Krieg und Architektur ausgehend von der Funktion des Theaterbaus im Film aufeinander bezogen werden müssen. Architektur ist setzende Gewalt. Wer baut, muss vorher zerstören. Der Triumphbogen demonstriert diese Grenze, die wir im Theater als Kulisse noch wahrnehmen. Noch weniger als der minimale Widerstand der Passage des Triumphbogens ist der Fond des frühen Theaters der Griechen als „Architektur“ in Anschlag zu nehmen. Er fällt nämlich mit der Stadt Athen zusammen.84 Das Theater ist eine Art natürlicher Rundbau, Echoraum, chora der Stadt. Die Anfänge des griechischen Theaters liegen im Opferritual des Agon und verwandeln sich im Laufe des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über den Dithyrambenwettstreit in das Theater des Aischylos. Bei Lyotard85 findet 83

Diese Paralyse des Zuschauens überbietet jede Wagner-Oper. Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 1998, S.39f. 84 Das erste Theater, das Dionysos-Theater steht vor der Akropolis und bietet die Stadt Athen als Fond des Blicks auf die Bühne. Vgl. auch Alewyn, Das große Welttheater, a.a.O., S.26ff., der das neuzeitliche Theater der Renaissance vom ritterlichen Kampfspiel, später Turnier, ableitet, dessen höfische Form zunächst das Ballett wird, das bis in die Barockzeit im Theater dominiert. 85 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. München 1989, S.247: „Sind Gegebenheiten einmal ermittelt, so wird eine neue Diskursart erforderlich, deren kanonischer Satz lautet: Was können wir tun? Dieser Satz verhält sich durchaus analog zu demjenigen, den Kant Idee der Einbildungskraft/ („begrifflose Anschauung“) (Kritik der Urteilskraft, S.190, S.220) oder Freud freie Assoziationen

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Abb.4 Teatro Olimpico, Vicenza. eröffnet 1585, Entwurf: Andrea Palladio. (Foto: Ralf Bohn)

sich eine Stelle, die den Agon in seiner Urgeschichte angemessen zu denken gibt. Ob man nun anthropologisch vom Opferritual zum Theater86, theaterwissenschaftlich vom Dithyrambenwettbewerb zur Komödie überleitet oder die rhapsodische Schleife durch ein Fest veranlasst findet87 – je nachdem, ob man sich auf die Festvariante (griechisch), auf die Kriegsvariante (römisch, im Zirkus) oder das Passionsspiel (christlich) bezieht, spielt der Fortschrittsgedanke in der Zivilisierung des Opfers eine bezeichnende Rolle, nämlich in Bezug auf seine Verfemung (heidnisch als Schicksal) oder Heiligung (christlich als Aufforderung zu Arbeit und Widerstand). Frühchristlich geht es nämlich nicht mehr darum, das Opfer ökonomisch zu kompensieren und in den Agon wiedereinfließen zu lassen, sondern um die Anerkennung seiner Irreduzibilität in der Arbeit des Lebens. Die Darstellung, auf die es mir hier ankommt, muss historisch nicht stimmen. Aber die Inszenierung des Dialogs, in dem die Überlegungen zum Ursprung des Theaters formuliert ist, sagt einiges über die Inszenierung der Inszenierung des theatralen Denkens seit der „Erfindung der Hysterie“ aus.88 Fiktionale Dramatik wird nennt; heute nennen wir sie scénarios oder Simulationen. Dies sind Erzählvorgänge im Irrealis, den Kriegsspielen vergleichbar. [...] Es wird eine Vielfalt von möglichen, wahrscheinlichen, unwahrscheinlichen Geschichten ohne Rücksicht auf deren Glaubwürdigkeit erzählt und vorweggenommen, was künftig der Fall sein mag. Ein Teil der Spieltheorie besteht in der Prüfung des entsprechenden Funktionsablaufs, in der Suche nach seinen Regeln.“ 86 Vgl. Turner, Vom Ritual zum Theater, a.a.O. 87 Nicht selten dann dionysisch oder saturnalisch begründet, betreffend die Wahrnehmung der scheinbar rückgängigen, epizyklischen Planetenbewegung. 88 Siehe Georges Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997, mit zahlreichen Bildbeispielen der hysterischen Figur des Arc de cercle. Ebenso meine Ausführungen in Ralf Bohn: Triumph mit Bogen. Expressionen des arc de

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hier als Etappe der Anerkennung des Opfers verstanden und symbolisch transformiert.89 Sie findet sich in einem Briefwechsel Walter Benjamins mit seinem Freund, dem Theologen, Verfassungsjuristen und Schriftsteller Florens Christian Rang.90 Benjamin, der gerade beginnt, in seiner geplanten Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels über die kultischen Anfänge des Theaters zu forschen, erfragt in einem Brief vom 20.01.1924 bei Rang den Ursprung der griechischen Tragödie – wobei nicht das Theater als Ort, sondern die Aporien der Tragödie, der Opfereffekt des Festes, als Ausgangspunkt genommen wird. Rang schreibt in sein Tagebuch: Agon kommt von Totenopfer. Der zu Opfernde darf entlaufen, wenn er schnell genug. Seitdem über blasse Angst vor dem Toten, der den Überlebenden als Opfer heischte, der Glaube wieder siegte, daß der Tote liebend segne. Oder nicht der Tote, ein höherer Tote noch. So wird Agon Gericht des Gottes über den Menschen und des Menschen über Gott. Das athenisch-syrakusanische Theater ist Agon (vergleiche das Wort Agonist). Und zwar ein solcher Agon, in dem im Gericht gegen Gott ein höherer Heiland Gott erbeten wird. Der Dialog ist ein Wettreden, d. i. Wettlaufen.91

Mir scheint, dass das Ritual des Opferlaufs und die Möglichkeit, der Rache des Getöteten (bösen Vaters) zu entkommen (eine umgekehrte Hamletgeschichte), darin liegt, entweder sich selbst in höherer Geschwindigkeit zu überholen oder, aus der Rache des Toten (der Erinnerung an das Vergangene) einen guten Toten (Aushalten der Zukunft) zu machen: das Opfer zu heiligen. Sich selbst überholen – was heißt das? Das geht doch nur auf der Grundlage einer funktionalen oder chronologischen Spaltung, indem man das, was einen durch die Aisthesis einer Tat beherrscht, nicht in einer Retrospektion (möglicherweise auch einer Spekulation) als Schuld heimsucht. Wir haben es hier demnach mit cercle im Moment seines Verschwindens. In: Rudolf Heinz/Christoph Weismüller (Hg.): Histrionissima. Neue Studien zur Hysterie. Düsseldorf 2009. 89 Es muss hier leider entfallen, auf die christliche Passion eingehen, also auf dem Umstand der Opferperversion, die, von Gottes Sohn gebracht, selbstverständlich bezeugt, dass selbst göttliche List zur menschlichen Vermittlung stets dem Widerstand der Materie unterliegt, die die Substanz des Körpers ausmacht. Gerade das aber befreit von der Passivität dem Schicksal gegenüber und gibt spätestens im von Max Weber interpretierten Protestantismus das Recht, es dem göttlichen Opfer gleich zu tun, während der Katholizismus die sinnlichen Vermittlungen, so Alewyn, barock egalisiert, sodass der Opferübergang als ein Gleiten empfunden werden kann. 90 Den Diskussionshinweis von Petra Maria Meyer, die Ausführungen seien historisch nicht korrekt, kann ich nur mit dem Hinweis auf Stil und Gattung der Erzählung (scénario) kontern, deren Ziel bei Benjamin nicht die historische Ableitung, sondern das Problem der Ursprünglichkeit betrifft. Weswegen in der verhinderten Habilitationsschrift Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels vom Agon auch nicht die Rede ist, sondern von der politischen Analogie, die im Titel unverholen zum Ausdruck kommt. So war es Benjamins Absicht, die Quellen zu vertuschen, möglicherweise an eine Quelle zu kommen, die gerade nur er als einziger besaß, sodass ihre Legitimität vollständig auf Vertrauen, also auch intellektuelle Nachvollziehbarkeit beruht. Vgl. Ralf Bohn: Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium. Würzburg 2005, und Theater und Agon sowie Agon und Theater, abgedruckt in Florens Christian Rang: Historische Psychologie des Karnevals. Berlin 1983, S.47 u. 51. 91 Walter Benjamin: Briefe I. Frankfurt am Main 1979, S.333.

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einem Opfervollzug des Gedächtnisses zu tun, derart dass das erste Ereignis einer Impression nicht revidierbare memoriale Folgen zu tragen hat, im Opferfall, also einer Traumatisierung durch den antizipatorischen Vorausgriff auf die Appropriation von Wirklichkeit als deren Abwehr, der Aporie des „bewussten Vergessens“. Das erste Mal (Primatur) erweist sich durch die Erinnerung als Wiederholung – zugleich jedoch als unwiederholbar. Da der Knoten des Paradoxons nicht aufzulösen ist, es sei denn man bestimmt Geschichte als wiederholbar, soll die Situation quasinarrativ in einem Ritual durchgearbeitet werden: Dies übernimmt z.B. die Zwangsneurose ebenso wie die ratioide Maschinenlogik. Hier handelt es sich aber weniger um Schuldanmahnungen als um Rekuperation – so der systemtheoretische Begriff von Schuldtransformation in Fortschritt auf Paradieszustände hin. Der Witz in der Darstellung von Florens Christian Rang besteht nun darin, die tatsächliche Opferlogik des Gedächtnisorgans durch Rundlauf, Rausch und endlose Wiederholung zu einer Entleerung des semantischen Gehalts derart zu führen, dass die geopferte Semantizität als Dithyrambenwettstreit im Chorus so gut wie geopfert, nämlich funktionalisiert wird, dadurch dass man sie permanent in die Evidenz einer maschinellen Wiederholung zwingt.92 Es bleibt der Gestus der Spur einer ursprünglichen chronologischen Spaltung, die sich im Schauspiel wieder rückverkörpert: einmalige Aufführung einer wiederholbaren Darstellung, das ist die Ritualität des Theaters. Das Theater beharrt noch auf diesen Konflikt, indem es das Opfer für den notwendigen Rohstoff der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt. Das ist das funktionale Motiv der Tragödie. Es würde zu weit führen, auf die Konsequenzen dieser Überlegung im Trauerspielbuch Benjamins zu fahnden, zumal der Tod von Rang, der Benjamin während der Abfassung seiner Arbeit auf Capri 1924 schwer trifft, eine weitere briefliche Auseinandersetzung verhindert hat.93 Die Trauerspiel-Darstellung des Barock, die Benjamin untersucht, trägt jedoch alle Kennzeichen der Pathologievariante, d.h. der Verdrängung des Einmaligen (Aisthesis als Ereignis) durch retardierende Erinnerung (Melancholie).94 Benjamin kommt auf die Stellung des Souveräns zu sprechen, der zwar durch Kenntnis der Geschichte gleichsam in „seine(r) Muttersprache“ regiert, diese aber nicht als wiederholbare und dadurch segmentierbare Erzählung versteht, sondern sie durch den Mythos als entsemantisierten Vollzug verkör92 Das eben ist das Argument Nietzsches, das Kittler aufgreift: Der Rhythmus hilft dem Protagonisten das Erinnern seines Textes vergessen zu können – er ist leichter erlernbar. Vgl. Kittler, Rock Musik, a.a.O., S.198; Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Bd.V/2. Berlin 1967, S.116. 93 Ebd., S.361. „Am letzten Tage in Capri traf die Nachricht ein, auf die ich seit zwei Wochen gefaßt sein mußte, die mich aber auch jetzt erst langsam erreicht: Rang ist gestorben.“ (Brief vom 12.10./5.11.1924 an Gerhard Scholem) 94 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. GS Bd.I,2. Frankfurt am Main 1980, S.243.

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pert. Der Souverän herrscht nicht durch Zeichen, sondern als Zeichen. Diese personalisierte Unerbittlichkeit wird beklagt. In der Auseinandersetzung mit dem absoluten Souverän, dessen wichtigste Aufgabe es ist, antizipatorisch den „Ausnahmezustand“95 und somit den Geschichtsbruch zu verhindern, schließt Benjamin auf eine Politik der Entseelung der Welt in ein kulissenhaftes Diesseits – soweit der Souverän in der Lage ist, die Welt rücksichtsvoll quasigöttlich selbst herzustellen und damit die Geschicke zu beherrschen. Bestraft wird die Politik der Lethargie mit unendlicher Langeweile und Melancholie. Aus ihr errettet das Lesen von Romanen und das Aufführen von Dramen. Die Abwesenheit der göttlichen Schickungen evozieren polarisierend den Tod umso eindringlicher – nämlich im „naturalistischen Mittel zur Verkürzung der Distanzen“.96 Da jeder Souverän für sich selbst die Welt im Diesseits regelt, kann eine Begegnung der Herrscher nur im Krieg oder Wettstreit enden97, sofern nicht eine höhere Macht, ein „höherer Toter“, das Dilemma der Zeit und der aus der mythischen Erinnerung (respektive Vergessen) abgeleiteten Macht aufhebt. So wenig das christliche Trauerspiel im Aristotelismus wurzelt98, so nahe liegt doch die Lösung, die Mersch zufolge Aristoteles in seiner Aisthesis vorgibt. Benjamin bezieht sich auf die Naturgesetze, also den wiederentdeckten Horizont der Wissenschaften und der Logik zur Vertreibung der Traumata, die sämtlich noch frisch der Reformation und den Reformationskriegen geschuldet sind: Sache des Tyrannen ist die Restauration der Ordnung im Ausnahmezustand: eine Diktatur, deren Utopie immer bleiben wird, die eherne Verfassung der Naturgesetze an Stelle des schwankenden historischen Geschehens zu setzen. Zu einer entsprechenden Fixierung aber will auch die stoische Technik für einen Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte, ermächtigen.99

Hier ist historisch der Ort, in dem die szenografische Affektion das Paradoxon der nichtnegierbaren Memoria für eine Ereignislehre der Moderne vorbereitet und früh schon vollendet. Es ist aber auch der Ort, um die Macht der nicht nur szenografischen Techniken des barocken theatrum mundi wieder zu politisieren: Der Souverän der Logik setzt sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Widerspruchsfreiheit durch, als das Experiment, das von allen und überall messbar nachvollzogen werden kann und nur deshalb eine Welt entfaltet, die 95

Ebd., S.245. Ebd., S.246. Zit. nach Wilhelm Hausenstein: Vom Geist des Barock. München 1921, S.42. 97 Ebd., S.252. 98 „Die Geschichte des neueren deutschen Dramas kennt keine Periode, in der die Stoffe der antiken Tragiker einflußloser gewesen wären. Dies allein zeugt gegen die Herrschaft des Aristoteles.“ (Ebd., S.240) Gleiches gilt für die historische Position Shakespeares. Es gibt zwar die Kenntnis der antiken Tradition, sie wird aber nicht beachtet, gerade weil das innovative Aufbrechen der theatralen Initiation, also seine aktualpolitische Dimension fehlt: also die Auseinandersetzung mit derjenigen absolutistischen Instanz, die ja nicht Probleme löst, sondern sie unentwegt vor sich herschiebt.“ 99 Ebd., S.253. 96

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durch und durch technisch und durch und durch öffentlich ist. Selbst das privateste Körpergeschehen verrichtet der Souverän öffentlich. Die Aufhebung der Sphären kann deshalb niemanden berühren, weil im allegorischen Kosmos des Barock Fiktionen (die Privat sind) und Machtausübung, die Öffentlichkeit verlangt, in einem Körper gefangen sind. Das barocke Engagement heißt, die Memoria für eine Zukunft in Griff zu nehmen, wobei die Macht des Theaters einer Gedächtnisdauer durch Intensivierung entspricht: dem jedesmaligen Überschreiben eines ersten Mals als erstes Mal. Laufen meint im Agon kein Weglaufen, sondern ein rauschhaftes Memorieren einer „Rolle“ (des dithyrambischen Gesang), dessen, was im „höherem Vater“ (dem Mythos) die Instanz des Vergessens ausmacht: Das Verschwinden des Sinns einer Geschichte, indem man sie unendlich wiederholt, das ist die Praxis hauspielerischer Memotechnik: Ersetzung von symbolischen Funktionen in Handlungsabfolgen. Das ist die Probe auf die Politik der Macht, die umgekehrt verfährt. Die Urszenenverdrängung geschieht in Rhythmisierung und Rausch. Von diesem Apparat der Memoria, des Gedächtnisopfers sagt die Aisthesis des Aristoteles, obwohl sie die Zeit logisch, also unter den Bedingungen des in Raum und Zeit verlustlosen Tauschs neutralisiert, gar nichts aus. Warum? Weil sie genau jenen Opfergrund des Vergessens (der Trauer des Verlustes in der Einmaligkeit des Lebens) selber vergessen machen will. Von daher ist die Logik tatsächlich nur eine inszenierte Kulisse, die das Opferspiel in ewiger Dauer verdrängt. Da helfen auch Paradigmenwechsel wenig. Wir bemerken, warum die Geschichte des Theaters mit der Geschichte der Historie nicht übereinzustimmen braucht. Sie ist gnostisch nicht historisch aufzuklären. Man muss, sobald das Theater institutionalisiert ist, es vom Logos aus als eine Nebenform der Politik der Wirklichkeitsermächtigung ansehen, die das Vergessen medial kultiviert und zwar als Autorisierungs- und Legitimierungspotenzial.100 Die opferlose Memotechnik vom anderen aus gesehen heißt: Bildung! Wie im antiken Theater steht im Film die Architektur als Memoria der Verlebendigung ein – die, so Benjamins Adresse, in der barocken Allegorie dadurch simuliert werden kann, dass man ein System von Wegen und Treppenhäusern, von Auf- und Abgängen, von Einblicken und Verdeckungen inszeniert, die die Aktivität des Wahrnehmbaren und die Aktivität des wahrnehmenden Organs korreliert mit dem, was nicht wahrnehmbar ist und zwar nicht, weil es sich verbirgt, sondern weil es in die Evidenz einer gebauten Praxis aufgegangen ist. Nun wird aber auch der Grund kenntlich, warum im Film die Kulisse und jedes Ding durch die Kamera reanimiert werden kann. Nicht weil es technisch animiert ist, sondern weil es sich als Erzählung autonomisiert: als Geschichte 100 So Siegfried Kracauers Untertitel in: Ders.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1985.

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der Aufhebung eines (körperlichen) Problems im dramatischen Vollzug, weil die Gegenstände der Kulisse nicht nur Memos der schauspielerischen Handlung, sondern vor allem Memos der sonst der Evidenz verfallenen Dinge sind. Im Film, bei Hitchcock ist das Legende, gewinnt der kleinste Gegenstand eine außergewöhnliche Bedeutung, allein dadurch, dass die Kamera ihn zeigt. Das innere Verhältnis von Erinnerung/Imagination wandelt sich im Theater in ein äußeres von Realität und Fiktionalität. Realität muss nachträglich als Opferheiligung konstituiert werden, als das, was überhaupt verloren gehen kann. Die reinszenierbare Aufführung und die gebaute Scena kontinuieren die flüchtigen Momente in gerade jener festlichen Eintracht, in der die Probleme befriedet und die des Aufmerkens evident sind. Nur in dieser befriedeten Dauer lässt sich das Drama als Ereignis beleben. Denn ohne dramatisches Ereignis (Affekt) auch keine Erinnerung. Gerade in der ereignislosen Zeit der barocken Langeweile muss das Fest als Ereignis besondere konzeptionelle und strategische Anstrengungen erfahren: Es muss inszeniert werden. Dies aber wird zur inneren Aporie des Theaters, in dem niemals Evidenz gezeigt wird, sondern, auch das macht Shakespeare vor, immer nur der Krieg.101 Im Theater wird ersichtlich, dass man den Ausnahmezustand als Zustand der Ausnahme künstlich herstellen muss, um Herrschaft über die „Seinsvergessenheit“ zu simulieren. Dafür braucht man Sicherheiten. Die bestehen in Theaterbau, Ritual und wettkampfmäßigem Regelwerk. Die Idee ist, dass man die eigentliche Zeitproblematik der Inszenierungskünste in eine Strategie des Raumes verwandelt, um die problematische Verbindung von Gedächtnis und Fantasie, den dionysischen Agon oder Wahnsinn nicht aufkommen zu lassen. Intensivierung durch Wiederholung und Verdinglichung (Statik der Dauer) in einer einzigen Zirkelbewegung sind die beiden Korrelate der Aporie des Opferlaufs um den Altar. Bezeichnenderweise, so sagt Rang, bildet die Abkürzung der Geschwindigkeit (gemäß der barocken Nähe und dem Naturalismus) aus dem Rundlauf der Arena genau das, was das spätere Theater durch die Mensur der Scena realisiert, um die Aporie zu durchkreuzen. So mächtig diese Wände vom Theater in Arles bis zu dem in Vicenza das Jenseits der Hinterbühne verdecken, sie verstehen sich doch nur als Membran eines Widerstandes, dessen quergestellte Hüllenform der Triumphbogen ist, wovon Substanz noch im Siegerkranz und Heiligenschein enthalten ist. Das leere Rund wird in der Hälfte, wo einst das Jenseits wartete, zum theatrum maschinarum der Hinterbühne. Der Rundlauf wird in sich querstellend gebannt, als ein Hin- und Her, als ruhelose Figur eines hospitalisierten Schizo – so die Sprache des Anti-Ödipus, oder als Dialogos, das Aushaltenkönnen des Anderen, als mein Gedächtnis. 101

Warten auf Godot ist sicher mehr als eine Persiflage auch diese unmöglichen Ereignislosigkeit des Theaters.

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Das Halbrund bremst den Lauf ungemein, macht aus der Deklamation, d.h. dem Jammer eine kommunikative Auseinandersetzung. Sie dient der Entteleologisierung in divinatorischer Rücksicht. Im Dialogos geht es jetzt um die befriedet homosexuelle Konzeption einer Hermeneutik des Verstehens, kurz um Vernunftgründe, genauer um die Einigung auf eine objektive Geschichte. Was soll hier die hermeneutische Rede von „einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand“, da die Protagonisten gegenseitig anerkennend auf der Bühne ihre Erinnerungen austauschen und korrelieren können? Könnten sie es nicht in dieser Redekur, käme der ganze Terror der sophokleischen oder Shakespear’schen Dramen zu tragen: das Gemetzel als katholischer Absolutheitsanspruch und nicht die Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen. Hier setzt eine Politisierung der technischen Evidenzen an. Das Oberflächliche, das Funktionierende, das Logische muss mittels Gnostifizierung zum Geheimnis erklärt werden, um in den Sog kritischer Aufklärung zu kommen. Man darf mithilfe der Überlegungen von Sohn-Rethel konstatieren, dass die im Geldtausch untergegangene direkte Opfersituation kreditierender Zeit erlebnisheischend sich das Theater erfindet, um wenigstens einen ästhetischen Rest der Produktionsverhältnisse opfersimulativ memorialisieren zu können. In diesem Sinne ist das Theater, so kann man den späten Deleuze sprechen lassen, eine Re-Präsentation, eine Falte der Zeit 102, zu deren Aktivierung man die Krise der Evidenz erfinden muss, d.h. dramatisieren. Eine weitere Pointe der Ausführungen um den Agon setzt Rang im Carnevale, dem Nachvollzug der Sonnenbewegung im Sonnenwagen (ThespisWagen) und in der Inszenierung der Zeit (Opferzeit, Gericht) in der Skene als symbolische Dauer (Abkürzung, Urteil) des Agon.103 Damit ist der Moment gemeint, in dem Astrologie in Astronomie gebannt wird und die nomadische Bewegung der Planetengötter (ihre rekursiven Epizykel) von böse in gut umschlägt und somit ein höherer Gott als Maschinist disziplinierter Bahnungen (Logiken und Methoden) konzipiert wird, vor allem auch der Bahnung der Zukunft, und ihrer am Ding verhafteten Endlichkeit. Nicht mehr Angst, also paranoische Flucht, sondern zirkulare Disziplinierung der Linie als kalkulierbare Zukunft wird visioniert. Das Vergessen entlastet den Fluch der Logik durch den 102 Vgl.

Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main 2000. Vgl. Rang, Historische Psychologie des Karnevals, a.a.O., S.47 (Theater und Agon). „Die Tragödie ist der Bruch der Astrologie und also das Entlaufen aus dem Sternlauf-Geschick.“ Rang macht die Religionspsychologische Unterscheidung an der Architektur fest. Das „Uranische“ als Abbildung des Kosmos, der „Circus“ als Abbildung des Opferlaufs, d.h. das Verhaftetsein des Schicksals an einen Gott, der „theatralische Halbkreisbau“ als Zeichen des befreiten Menschen, der sein Opfer auf sich nimmt (ebd., S.48). „Der agonale Lauf ist auch im Theater Gericht, denn er stellt das jüngste Gericht vor. Er schneidet das Amphitheater des beliebig zeitlangen Wettlaufs entzwei und setzt die räumliche Grenze der Skene. Aus der linken Tür laufen die Agonisten hervor. Sie durchlaufen – durch das Medium des Chors – sympathetisch das Halbrund der Gemeinde um den Opferaltar herum und enden in der Heilstür rechts.“ (Ebd., S.51) 103

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Flug in die konstruierte Opferfantasie von Gedächtnismaschinen, sprich medialer Reproduktion. In ihnen ist die christliche Güte in eine vergesellschaftende Ökonomie auf der Grundlage von Geldtausch, Logik und Inszenierung eingeführt. Das Opfer darf, weil es beständig geheiligt wird, vergessen werden. Das Christentum ist nach Florens Christian Rang durchaus eine griechische Erfindung, die mit der römischen Pragmatik koaliert, im Laufe ihrer Geschichte das Opfer nicht mehr heiligt, sondern verfemt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Schizophrenie der gebannten Paranoia besteht katholisch in einem theatrum mundi. Erst der Protestantismus partikularisiert die Einheit mittels projektiver Divination wieder im Individuum. Hermeneutik wird seit Luther zum Kopftheater wider die Künste der Präsenz. Nicht dass man es nötig hätte, in einer überbordenden Welt auch noch mögliche Welten zu erfinden, trägt den Kern der Fiktivitäten, sondern dass man insgeheim die Entlastung der Gedächtnisfunktion in diesem Nicht-Identischen, dem Ausfall der Reproduktion noch im Alltag feiert. Weil man kein Erinnerungsvermögen mehr will, wählt man die Freiheit, ein anderer zu sein.104 Die politische Macht muss deshalb andere Mechanismen der Autorisierung und Legitimierung ersinnen. Nicht mehr Abkunft und Geschichte, sondern die Inszenierung narrativer Diskursoptionen sichert sie wenigstens für vier oder fünf Jahre: Die Institutionen und die Architekturen dauern, das Personal wird auswechselbar. Der Katholizismus kann mittels eines Tricks im gegenreformatorischen Barock die Einheit in die Realität überführen, wie uns der späte Deleuze in Die Falte erklärt. Kniff der Falte macht Theater und Welt nicht nur tauschbar, er macht sie transmissionierbar. Das aber führt zu einem großem Problem: Wie kann das Jenseits sich als gut und gütig enthüllen, wenn es in Einheit mit dem Diesseits des Bösen gedacht wird? Nun, man macht etwas, was Deleuze/Guattari in ihrer Abwehr der Reflexion und des Signifikanten auch machen. Man nimmt nicht mehr die Anfangs- und Endglieder, sondern den Vermittlungsknoten, den Ausnahmezustand für das eigentliche Jenseits, Fiktion als Jenseits im Diesseits, Kosmogonie und Gnosis: Die Welt als Präsenz als Offenbarung ist zugleich Verhüllung dessen, was vom Opfer verschont werden soll. Wenn überwiegend das Spektakel der Präsenz und des Festes herrscht, braucht man an die Memoria keinen Gedanken zu verschwenden, schon gar nicht an das Vergessen. 104 Vgl. Erving Goffman: Wir alle Spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 2013, S.9. Bei Goffman spielt gerade die Deutung außerhalb des Theaters in einer gesellschaftlichen Standardinszenierung (vor allem im bürgerlichen Verhaltenskodex der 1930er bis 1950er Jahre) die dominierende Rolle: „Wie schon gesagt, beeinflussen die Handlungen des Einzelnen, wenn er anderen gegenübertritt, deren Deutung der Situation.“ So aber, dass die Situation je schon durch einen szenischen Kontext als ‚nicht-beeinflusst‘ realisiert wird, weil sie als Situation evident ist, d.h. sich im bürgerlichen Wohnen u.a. immobilisiert hat und schon ohne die Anwesenheit anderer zu einer Rolle zwingt.

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Es konstituiert sich eine Welt, der es um die Aufrechterhaltung einer Maschine geht, die das, was erscheint, im gleichen Moment zum Verschwinden bringt, eine opferlose Kulissenkunst, die im Trott einer tickenden Uhr die Diplomatie ergänzt: die Bürokratie als niedere Kaste der Diplomatie.105 Der gegenwärtige Barock ist ein hysterisches Zeitalter, eines der feuerwerkshaften Gegenwart, der Kulisse, die morgen schon beiseitegeschoben wird und den Blick auf eine andere Bühne frei macht. Nichts im Barock geschieht aus dem Stehgreif. Im Hintergrund lauert stets der inquisitorische Regisseur als „Geschick der Technik“, der die Rollen von Gut und Böse gerecht verteilt. VIII. FILM UND FLUCHT

Hinter der Figur von Agon und Memoria ist dem Film (der entgegenkommenden Wahrnehmung) Flucht funktional eingeschrieben. Im vorauseilenden Vollzug dessen, was im nächsten Moment auf der Leinwand erscheint, kommt der Zuschauer aus der Zukunft. Filme verstehen, muss man lernen, es erfordert eine konstruktive Kognition. Gerade weil der Film schneller ist als die hermeneutische Bewegung, ist er daran gebunden, die inszenatorischen Erwartungen semantisch zu erfüllen. Der fiktionale Film muss in seiner Handlung schlüssig und glaubwürdig sein. Er darf die Antizipationen nicht enttäuschen. Luis Buñuel hat in Das Gespenst der Freiheit (Italien/Frankreich 1974) solche Enttäuschungseffekte durchgehend eingesetzt, z.B. indem er Traum und Realität nach surrealistischer Tradition ohne Rahmung, d.h. wechselseitige Autorisierung ineinander übergehen lässt. Schließlich weiß der Betrachter nicht mehr, in welche Zeit und in welche Welt dieser Film ihn aus seiner Zukunft entführt. Systematisch, darauf kommt es Buñuel an, wird nomadische Freiheit zum inszenatorischen Schema, – werden die Antizipationen vom Zwang befreit, frei sein zu müssen, d.h., es wird gezeigt, dass der Sinn die Grenze der Freiheit markiert. Im konventionellen Spielfilm werden die Antizipationen des Sinns im Schema eines Genre (Motiv) auf Situationen reduziert, die als nicht-inszeniert, glaubwürdig, natürlich erscheinen. Erst auf dieser Basis kann der Film sich dann gelegentlich Effekte erlauben und sein künstlerisches Potenzial entfalten: So etwa in den Konventionsüberschreitungen, die Jean-Luc Godard wirkungsmächtig in Außer Atem (Frankreich 1960) inszeniert. Auf diese Weise erhofft Godard, den Film von seiner industriellen Produktionstechnik, von seiner „Vorhersehbarkeit“ befreien zu können. Der Fluchtraum besteht bei Buñuel wie bei Godard darin, die Evidenzen zu stören. 105 Dazu gehört die Marginalie, dass sich die männliche Bürouniform seit 150 Jahren kaum verändert hat.

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Da die Zukunft sich als Trug einer schon stattgefundenen Evidenz (Vorverständigung und Gerechtigkeit) erweist, kreist das gesamte System im Strudel der Gegenwärtigkeit. Mein Entwurf von der Zukunft kommt mir als Traum eines anderen im Film immer schon entgegen. Jeder möchte den Platz der Präsenz besetzen. Im Patt der Lichtgeschwindigkeit und der Echtzeit entscheidet darüber nicht mehr der Gangwechsel in eine noch höhere Geschwindigkeit, sondern die Intensitäten. Technik, so hat Blumenberg in seiner Geistesgeschichte der Technik erklärt, ist die vorausgreifende und übereilte Setzung einer Substanz als Realität. Das heißt einer stets noch dem Tod entwundenen Todstellung, einem Gestell im Heidegger’schen Sinne. Das heißt, im immobilen Ding beruhigt sich der Drang, dem Kommenden voraus zu sein in anwesende Intensität (respektive Begehren). „Man kann die in allen Diskussionen beliebte Frage, was denn Technik sei, beiseite lassen, wenn man die Zeitrelation als hermeneutisches Instrument einführt. [...] Direkt oder indirekt ist die Steigerung von Geschwindigkeiten die einheitliche Wurzel aller technischen Antriebe des Menschen.“106 Mit der Voreiligkeit der Realisierung soll das Simultane in eine sinnliche Diachronität zurückverwandelt, für einen Moment des Gebrauchs aus- und aufgehalten werden, was man die performative Komponente einer jeden Produktion nennen kann. Gestell und Fortschritt werden nun ihrerseits maschinell in einer durch und durch künstlichen und technischen Welt gekoppelt: als Filmprojektion. Das Telos wird zum Skopus der Realität umgebogen, d.h. zur Aktualität, man ist jetzt sozusagen progredient gleichzeitig. Es gibt nicht mehr ein Paradies, sondern für jeden sein Paradies – das bezeichnet den Zustand, in dem die Politik keine Visionen bereitstellen kann, genauer: in dem sie ihr Bereitstellungsmonopol an die Medienindustrie als funktionalem Ort der Gerechtigkeit, der Teilhabe abgibt. Die Substanz des Mediums Film zeigt sich noch im alten kinematischen Mechanismus, dem des Malteserkreuzes, das eine kontinuierliche Kreisbewegung in eine homogene diskontinuierliche Bewegung verwandelt, also Paranoia mit Schizophrenie koppelt. Er verdeutlicht das Grundproblem einer jeder Uhrenmechanik. Die Räderuhr mit Gewicht, im 13. Jahrhundert aufkommend, ist nicht nur die erste transmissionale maschinelle Kopplung (von der Mühlentechnik und den sich noch im maurischen Raum erinnerten antiken Räderwerken abgleitet), sie ist ein Zeitmesser, der eine qualitative Messung von Geschwindigkeit möglich macht, die nicht mehr relativ, durch Vergleich, sondern absolut erfolgen kann. Diskontinuität in Kontinuität verwandelnd ist die Uhr eines der ersten technischen Medien. Als absolute wird die Zeit eine Linie der Gegenwart, die nirgendwo beginnt und nirgendwo endet. Sie ist die 106

Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt am Main 2009, S.81.

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Macht bzw. das „Verlangen“ nach dem richtigen „Funktionieren der Maschine“. Seit dieser Zeit der Vergegenwärtigung lässt sich Wirklichkeit nur noch in Narrationen simulieren, von denen Dilthey zumindest die Ahnung hatte, die Lyotard siebzig Jahre später affirmatorisch verkündet: Jeder Mensch sei sein eigener Roman, die großen Erzählungen haben ausgedient. Dass der Avantgarde diese Verdrängung der „Langeweile“ nicht genügt, haben Deleuze/Guattari an Kafka hervorgehoben: „Es gilt weniger ein Spiegel zu sein als eine Uhr die vorgeht.“107 Zeit ist nicht mehr ein offenes Buch, sie wird Ausdruck der Intimität in der Welt, Einbildungskraft.108 So zeigt sich politische Macht heute im Wesentlichen durch einen Aspekt der verzögerten Beschleunigung, durch Umständlichkeit der Verfahren, durch geduldiges Debattieren, handwerkliche Präzision, durch Handlungshemmung als Problemfaktor und somit Widerpart technischer Lösungsbestrebungen. Die Politikverdrossenheit, die daraus erwächst und verlangt, dass ein Souverän mit der diktatorischen Faust auf den Tisch schlägt, ist das Ergebnis einer herausgeforderten Ungeduld. In einer Welt der Präsenz will keiner mehr bis Morgen auf das Paradies warten. Dabei ist das Warten und Erwartenkönnen die einzige Flucht, die nicht auf den Ort zurückschaut, von dem sie geflohen ist. Es gibt einen blinden, paradoxen Fleck der Macht, das ist ihre Ohnmacht gegenüber der Technik: Weil sie nicht mehr warten darf, muss sie Handlung wenigstens simulieren.109 Deleuze ist, nach seiner Zusammenarbeit mit Guattari, im Anschluss an Überlegungen zum theatrum mundi, zu der Auffassung gelangt, dass Linie und Schleife sich nur auf paradoxe Weise verbinden lassen. Die entsprechende Figur ist das Möbiusband, das Paradox einer Fläche (Plateau) mit einer Seite, kein di-plóos, keine diplomatische Vorder- und Hinterbühne, sondern eine durch und durch obszöne Welt, deren reduktives Verstehen polar nicht zu begründen ist. Wir müssen von einer Welt ausgehen, in der, systemtheoretisch gesprochen, System und Umwelt identisch sind, barock gesprochen, „katholisches“ Theater herrscht, derart, dass es ein Element gibt, dass im Konstruktivismus nicht aufgeht, nicht weil es sich als „echt“ erweist, sondern weil in der Aporie die Inszenierung nicht sich selbst inszenieren kann, ohne in diesem Widerspruch zugleich das Reale ihres Antriebs zu verraten. Deleuze: „Die Welt aber aus nur zwei Etagen, getrennt durch die Falte, welche sich auf beiden Seiten in unterschiedli107

Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main 1976, S.82. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt am Main 1973. 109 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S.355: „Das Bezugsproblem von Macht stellt sich nur in dem Sonderfall, daß das Handeln Alters in einer Entscheidung über das Handeln Egos besteht, deren Befolgung verlangt wird: in dem Befehl, einer Weisung, eventuell in einer Suggestion, die durch mögliche Sanktionen gedeckt ist. [...] Die Grenze der Macht liegt also dort, wo Ego beginnt, die Vermeidungsalternative zu bevorzugen, und selbst die Macht in Anspruch nimmt, Alter zum Verzicht oder zur Verhängung der Sanktionen zu zwingen.“ 108 Vgl.

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Abb.5 Stadien der Architektur bei Kafka (Amerika und Das Schloß). Aus: Deleuze/Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, a.a.O., S.103.

cher Weise auswirkt, das ist der barocke Beitrag par excellence. Er drückt [...] die Transformation des Kosmos in den „mundus“ aus.“110 Folge dieser Interpretation ist eine monadische Welt weder innen noch außen, weder Öffentlichkeit noch Privation, sondern die Evidenz der Aporie als Evidenz der symbolischen Sozietas. Das scheint mir nachgerade auch die Essenz des Kino-Denkens von Deleuze zu sein. Filme werden weniger als Raum, sondern als Aktion der Zeit gelesen, die identisch mit der Performanz ihrer Aussage ist.111 Wenn wir den Film erklären als eine narrativ gebändigte Paranoia, die unendlich die gleiche Reise des Helden stilisiert, dann verstehen wir darunter die hysterische Figur der Selbstansicht, den Versuch, sich selbst von außen betrachten zu können (Autonomie) in einem System, das weder außen noch innen hat – eine Art Möbiuswelt. Ein solches Plateau nennen Deleuze/Guattari noch „Karte“.112 Wie die Karte sich von der Welt ablösen lässt, so lassen sich die Dinge als „Übergangsobjekte“ (Winnicott) vom Körper ablösen, als eine Art erster Selbstbesitz. Von hier aus, von der Fläche her, muss die Produktiv110

Deleuze, Die Falte, a.a.O., S.53. Ebd., S.90. 112 Deleuze/Guattari, Rhizom, a.a.O., S.41. „Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Photos oder Zeichnungen!“ 111

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Abb.6 Der dritte Mann (oben); Citizen Kane (unten).

bewegung der Appropriation gedacht werden: von weg – hin zu als Eroberung einer imaginären, situativen Gleichzeitigkeit in einen szenisch stabilisierten Raum. Die Frage der Macht greift nicht mehr imperialistisch um sich, sondern erfordert das Einfangen der eigenen Antizipationen als Geschichte der Fluchten in die Präsenz. Deleuze/Guattari gehen zunächst nicht vom Film aus, sondern von der Literatur, genauer, von der Literatur, die der linearen Zwangsherrschaft zu entfliehen sucht, also die generationssexuelle Produktion inzestuös unterminiert. Es gilt wiederum: Die Hermeneutik des szenischen Verstehens verdoppelt sich als paranoische Figur wechselseitiger Autorschaft.113 Kafka ist derjenige, der sich diesen Unterstellungen narrativer Linearität in eine Möbiuswelt entzieht und zugleich den Inzestwunsch des Verstehens als unproduktiv abwehrt, insgesamt also dem Zauber der aristotelischen Identität und dem Anfang und der Legitimation durch Autorschaft abschwört. Wissenschaftspragmatisch bedeutete damals der fröhliche Einspruch gegen eine Vernunft des Verstehens die Ächtung der Schriften von Deleuze/Guattari, nicht aber, die der Schriften Kafkas und die des späten Deleuze, der die Paradoxie bei Leibniz genau in der Weise untersucht, wie Luhmann sie initiiert: Verstehen heißt, die Differenz zu perpetuieren und zwar um des Automatismus einer aporetischen Kommunikation willen, die sich im Verstehen selbst nicht nur zu missverstehen sucht, sondern die Verstehensdifferenz, das Übertragungsopfer vergessen machen lässt: durch den Gewinn der Differenz, also des Realismus. 113 Rudolf Heinz: Minora Aesthetica. Dokumentation auf Kunst angewandter Psychoanalyse. Frank-

furt am Main 1985, S.158.

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In seinen Bemerkungen zu einer kleinen Literatur nehmen sich Deleuze/ Guattari die Architektur Kafkas vor und untersuchen den Ariadnefaden, der die symbolische Ebene mit der funktionalen verbindet: die Synchronie von Form und Inhalt.114 In beiden Stadien ist unschwer das Schizophrene der zirkularen Selbstverfolgung (Inzestwunsch/-abwehr) und das fluchtartige (Fluchtpunkt, Point de view/Imagination) der Paranoia zu erkennen. Mit wenigen Bemerkungen zeigen Deleuze/Guattari die „Glückliche Begegnung zwischen Kafka und Orson Welles“115 nach, indem sie auf dessen Filmarchitektur eingehen. „Der Film hat zur Architektur eine tiefere Beziehung als zum Theater.“116 Man muss die Dauer der Filmarchitektur als ein Verhältnis von Linie, Geschwindigkeit und Beobachterstandpunkt ansehen. Architektur ist immer Inszenierung, nicht des Verstehens, wie beispielsweise im musealen Raum, sondern Bemächtigung und Freiheit der Wege und Fluchten, aber auch deren antizipierenden Eröffnung im Point de View.117 Einen solchen Widerstand zum Point de View exponiert das Kino als Medienarchitektur und die Projektionstechnik des Films: eine öffentliche Intimität, deren Hinterbühne tatsächlich von hinten über den Köpfen der Menschen. Dass der Film nicht aus der Zukunft kommt, sondern aus dem Raum evidenter Technik, ist nirgends so gut zu beobachten wie im Kino. Die kafkaeske Möbiuswelt findet sich bei Orson Welles sowohl in Citizen Kane (USA 1941) als auch in Der dritte Mann (GB 1949). In Citizen Kane zeichnet die paranoische Distanz, in Der dritte Mann die schizophrene Spirale die Spur einer inszenatorischen Auseinandersetzung mit kapitalistischen Tauschgeschäften und bürgerlicher Sinngenese. Hier wird die Politik der Inszenierung als Choreografie der Flucht augenfällig. Tatsächlich ist die Produktion nicht durch den Wunsch, sondern durch die Rissigkeit des Todestriebes, inmitten der Praxis der Realität angesiedelt. Man produziert nicht in Hinblick auf einen Zweck, sondern immer nur im Hinblick auf eine Selbstabstoßung von Dinglichkeit. Die Quantität dieser Abstoßung kann man hysterisiert „Szene“ nennen und im Modus der Paranoia Medialität. Die Oszillation hat den Status, wie es in der Mikropolitik des Wunsches heißt, einer zappelnden „Marionette“118, deren Genre, der aus dem Vaudeville abgeleitete Slapstick, eine funktionale Situationskomik ohne szenische Narration ist. Wir wiederholen diese schon fast vergessene, in Gegenwart gefangene Situationskomik gerade wieder neu in Twitter, Flicker, Facebook, Youtube – es handelt sich um eine Explosion des Menschen in Zeitlupe? Es gilt, die medialen Konflikte nicht zu historisieren, sondern sie in 114

Deleuze/Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, a.a.O., S.103. Ebd., S.105. 116 Ebd. 117 So das strategische Spiel des Baron Haussmann, der das Modell von Versailles auf die Stadt Paris überträgt. 118 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mikro-Politik des Wunsches. Berlin 1977, S.95. 115

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der Ausweglosigkeit ihrer paradoxen Evidenz dauern zu lassen, auch wenn das unerträglich geworden ist. Dadurch vermeidet man es, in Utopien des erfüllten und zukünftig erfüllbaren Wunsches zurückzufallen. Die Erfüllung dauert als Paradox der Unerfüllbarkeit, sodass sich daraus nur das Telos der Arbeit ableiten lässt. Dagegen hilft eine erneute Rekatholisierung des Opfers: abendliches Fernsehen. Die Geschichtenerzähler sind Designer und Szenografen geworden. Die gegenwärtige Politik der Szenografie ist die Simulation einer Gabenlogik, die ihre theologischen Gründe vergessen hat.

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DIE AUTOREN RALF BOHN Dr. phil. habil, Dipl.-Des. Studium Philosophie, Literatur, Design. Diplomarbeit über Allegorie und urbane Signifikationen. Promoviert bei Rudolf Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens bei Robert Musil. Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design der FH Dortmund. Zahlreiche Monografien, u.a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation. Wien 1994; Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium. Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Bielefeld 2009; zusammen mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag, Bielefeld.

BAZON BROCK

Denker im Dienst und Künstler ohne Werk, ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Weitere Professuren an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965-1976) und der Universität für angewandte Kunst, Wien (1977-1980). 1992 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Eidgenössisch Technischen Hochschule, Zürich, und 2012 die Ehrendoktorwürde der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Er entwickelte die Methode des „Action Teaching“, bei dem der Seminarraum zur Bühne für Selbst- und Fremdinszenierungen wird. Von 19681992 führte er in Kassel die von ihm begründeten documenta-Besucherschulen durch. Von 2010-2013 leitete er das Studienangebot „Der professionalisierte Bürger“ an der HfG Karlsruhe. Rund 2.500 Veranstaltungen und Aktionslehrstücke; zuletzt „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ (2006, in elf Museen). Er repräsentiert das „Institut für theoretische Kunst, Universalpoesie und Prognostik“ und ist Gründer der „Denkerei / Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ mit Sitz in Berlin (www.denkerei-berlin.de). DIRK GEBHARDT

Jg. 1970, ist ein vielfach ausgezeichneter Fotojournalist. Der gebürtige Kölner und Professor für Bildjournalismus an der FH in Dortmund arbeitet seit vielen Jahren in Ländern wie dem Libanon, Ruanda und Georgien. Er ist ein visueller Geschichtenerzähler, und in seinen Langzeitreportagen interessieren ihn beson-

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ders die in den Medien wenig beachteten Themen – z.B. die Halbwüste Sertão im Nordosten Brasiliens. Dirk Gebhardt gewann 2002 den Otto-Steinert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie und arbeitet für Die Zeit und den Stern, aber auch für NGOs wie UNICEF und World Vision. HANS-JÜRGEN HAFNER

Geboren 1972, arbeitet als Kunstkritiker, Autor und Ausstellungsmacher. Er schreibt unter anderem für die Kunstmagazine Camera Austria und Spike Art Quaterly. Zuletzt hat er zusammen mit Gunter Reski den Sammelband The Happy Fainting of Painting (2014) mit Texten zur Diskursproblematik der Malerei herausgegeben. Hafner ist Direktor des Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, und hat zurzeit eine Gastprofessur an der Kunstakademie Münster. RUDOLF HEINZ

Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; psychoanalytische Ausbildung, psychopathologische Tätigkeit (schwerpunktmäßig Supervision); Konzeption der psychoanalysekritischen Pathognostik; in Fortsetzung von Psychoanalyse und Philosophie e.V. 2014 Gründung der Assoziation Pathognostik Düsseldorf; zahlreiche Fachpublikationen zum Wechselverhältnis von Philosophie und Psychopathologie. KAI-UWE HEMKEN

Kunstwissenschaftler, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in Marburg und München, Magister Artium (1989) und Promotion (1993) über El Lissitzky (Ausstellungsdesign), Habilitation (2005) zur Gedächtnis-Kunst der Gegenwart seit 1960 (Gerhard Richter, Jochen Gerz, Hanne Darboven), Mitarbeit, Konzeption von Ausstellungen u.a. am Sprengel Museum Hannover, K20 in Düsseldorf, Neues Museum Weimar, Kunsthalle Erfurt, Van Abbemuseum Eindhoven; Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Raum der Gegenwart, L. Moholy-Nagy“ (mit Jakob Gebert, 2007-2010), Kustos der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum, seit 2005 Professor für Kunstwissenschaft (20./21. Jahrhundert) an der Kunsthochschule Kassel. Diverse Lehraufträge u.a. an der Bauhaus Universität Weimar, Staatliche Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Buchpublikationen zur modernen Kunst (in Auswahl): El Lissitzky. Revolution und Avantgarde. Köln 1990; (Herausgeber) Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig 1997; (Herausgeber) Im Bann der Medien. Texte zur virtuellen Ästhetik in Kunst

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und Kultur. Weimar 1997; Gerhard Richter. 18. Oktober 1977. Frankfurt am Main 1998; (Herausgeber) Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik. Köln 2000; (Mitherausgeber) Modernisierung des Sehens. Bielefeld 2008; (Mitherausgeber) Kunstlichtspiele. Lichtästhetik der Avantgarde. Ausst.-Kat. Kunsthalle Erfurt. Bielefeld 2009. URSULA LAGGER

Mag. Dr. phil., Studium der Geschichte und Angewandten Kulturwissenschaften (Kulturmanagement) an der Karl-Franzens-Universität Graz. Dissertation: Lopodýtai, toichorýchoi und bal(l)antiotómoi. Aspekte von Diebstahl und Raub im klassischen Athen. Mehrjährige Tätigkeit am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde der Karl-Franzens-Universität Graz. Derzeit Mitarbeiterin an den Studiengängen „Informationsdesign“, „Ausstellungsdesign“, „Communication, Media, Sound and Interaction Design“ der FH JOANNEUM sowie Lektorin an der Karl-Franzens-Universität Graz. Idee, wissenschaftliche Konzeption, Gestaltung und Kuratierung der Ausstellungen „Hetären.Blicke. Klischees und Widersprüche“ und „Kriegsbilder. Konstruktion – Reflexion – Imagination“ gemeinsam mit Peter Mauritsch. MARCEL RENÉ MARBURGER

Dr. phil. M.A. Studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität zu Köln und promovierte über die kunsttheoretische Relevanz der Schriften Vilém Flussers. War wissenschaftliche Hilfskraft an der Kunsthochschule für Medien in Köln, Kurator der Simultanhalle in Köln, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam sowie Forschungsangestellter an der Universität der Künste Berlin. Von 2007 bis 2010 übernahm er die wissenschaftliche Leitung des Vilém-Flusser-Archivs und initiierte in Kooperation mit dem Berliner Medienkunstfestival TRANSMEDIALE den Vilém-Flusser-Theory-Award. Zurzeit ist er Lehrbeauftragter am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund sowie Lehrbeauftragter an der Universität der Künste Berlin. Seit 2005 ist er Mitherausgeber der International Flusser Lectures. PETER MAURITSCH

Ass.-Prof. Dr. phil., Studium Alte Geschichte und Altertumskunde, Klassische Archäologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Publikationen: Sexualität im frühen Griechenland. Untersuchungen zu Norm und Abweichung in den homerischen Epen. Wien/Köln/Weimar 1992; (Herausgeber mit Werner

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Petermandl, Robert Rollinger, Christoph Ulf ) Antike Lebenswelten: Konstanz – Wandel – Wirkungsmacht. Wiesbaden 2008; (Herausgeber mit Christoph Ulf ) Kultur(en) – Formen des Alltäglichen in der Antike. Graz 2013; (Herausgeber) Aspekte antiker Prostitution. Graz 2013. Idee, wissenschaftliche Konzeption, Gestaltung und Kuratierung der Ausstellungen „Hetären.Blicke. Klischees und Widersprüche“ und „Kriegsbilder. Konstruktion – Reflexion – Imagination“ gemeinsam mit Ursula Lagger. CHRISTINE SCHRANZ

Dr. phil.; MA Szenografie, diplomierte Gestalterin und Szenografin, ist Postdoctoral Researcher am Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW Basel mit einem vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekt zur Erforschung des Medienwandels aus einer räumlichen Perspektive. Als Dozentin und Lehrbeauftragte unterrichtet sie ihr Fachgebiet an mehreren Hochschulen in der Schweiz und in Deutschland. Sie publiziert regelmäßig zu Designfragen und ihre praktischen Arbeiten werden in einschlägigen Fachpublikationen veröffentlicht. Zuletzt erschienen im transcript Verlag in der Reihe „Szenografie & Szenologie“: Von der Dampf- zur Nebelmaschine. Szenografische Strategien zur Vergegenwärtigung von Industriegeschichte am Beispiel der Ruhrtriennale. (Szenografie & Szenologie, Bd.8) Bielefeld 2013. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Raum, räumliches Erzählen und Informationsdesign. PAMELA C. SCORZIN

Geb. 1965 in Vicenza (Italien), studierte Europäische Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte und Anglistik in Stuttgart und Heidelberg. 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil. an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Nach Assistenz 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt. Anschließend diverse Dozenturen und Professurvertretungen an den Universitäten Siegen und Frankfurt am Main sowie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Zugleich freie Arbeit als Kunst-, Design- und Medientheoretikerin. Mitglied der AICA seit 2006. Außerdem seit 2008 Professorin für Kunstwissenschaft und Visuelle Kultur am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund. Internationale Veröffentlichungen (dt., engl., frz. und poln.) zur Kunst- und Kulturgeschichte des 17.-21. Jahrhunderts. Lebt und arbeitet in Dortmund und Mailand.

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HEINER WILHARM

Philosoph, Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaftler. Diverse Lehraufträge und Vertretungsprofessuren in Philosophie, Sozialphilosophie, Ästhetik, Kommunikations-, Medien- und Designwissenschaften. 1990-2003 Professor für Designtheorie, 2003-2013 für Gestaltungswissenschaften, Medien und ‑Kommunikation. Veröffentlichungen zu Themen der Philosophie, der Wissenschafts-, Sozialgeschichte und Politik, zur Handlungstheorie, zur Medienproduktion, Mediengeschichte und Medientheorie; Schriften über Repräsentation, Zeichen, Kunst und Design, Theorie und Praxis der Inszenierung und der Szenografie. Kurator verschiedener Ausstellungen. Projekte und Interventionen im öffentlichen Raum. Unternehmens- und Kommunikationsberater. Aktuelle Monografie: Die Ordnung der Inszenierung. Bielefeld 2015. Weiteres unter: www.designradio.net; www.scenology.eu

Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Inszenierung als Widerstand Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee 2009, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1262-2

Ralf Bohn Szenische Hermeneutik Verstehen, was sich nicht erklären lässt Juni 2015, 486 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3151-7

Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung der Stadt Urbanität als Ereignis 2012, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2034-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de