Die Predigt [Reprint 2021 ed.] 9783112601686, 9783112601679

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Die Predigt [Reprint 2021 ed.]
 9783112601686, 9783112601679

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O. Haendler - Die Predigt

Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen

von

Otto Haendler

Verlag Alfred Töpelmann • Berlin

1941

Printed in Germany

Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35

Meiner Frau

Vorwort

In dem geistigen Geschehen der letzten Jahrzehnte hat die Tiefenpsycho­

logie eine immer steigende Bedeutung gewonnen. Sie ist nicht nur zu einer selbständigen und wesentlichen Wissenschaft geworden, sondern auch zu einem immer wichtigeren, in Vielem fundamentalen Faktor des seelischen Lebens. Wo sie einmal in ihrer Wirklichkeitsbedeutung erkannt ist, pflegt sie eine Stellung im Leben des Menschen zu erobern, die an zentraler Be­

deutung der der Religion nahekommt, in vielen Fällen ihr gleichkommt oder an ihre Stelle tritt. Eine gründliche Besinnung auf ihre Bedeutung ist deshalb für die Theo­

logie wie für die Kirche unerläßlich. Die Theologie in grundsätzlicher Arbeit sowie die Kirche in ihrem praktischen Handeln hat die Bedeutung der Tiefen­

psychologie für ihr eigenstes Werk aus einleuchtenden Gründen zuerst auf dem Gebiete der Seelsorge erkannt. Hier liegt eine große Zahl von Werken

vor, die die Psychologie für die Seelsorge fruchtbar zu machen sich be­

mühen, und in der Praxis ist die Arbeit, wenn auch noch lange nicht um­ fassend genug bekannt und genutzt, doch in grundsätzlicher Zielsetzung und mit klarer Erkenntnis bis zur Zusammenarbeit von „Arzt und Seelsorger" gediehen. Bei aller Bedeutung, die diese Tatsachen haben, sind sie aber doch nur ein Anfang. Es fehlt ein Doppeltes. Einmal die Anwendung der psycho­ logischen Erkenntnisse auch auf die anderen Gebiete theologischer Arbeit und kirchlichen Wirkens und das Wissen um ihre Bedeutung für alle diese Gebiete. Sodann vor allem ein Anfassen der Probleme, die sich aus der Be­ gegnung von Christentum und Psychologie grundsätzlich ergeben. Denn diese ist, wie jede echte Begegnung, für beide Beteiligte Geschenk und Forde­

rung zugleich. Wie tief sie in diesem Sinne sich auswirken muß, ist beider­ seits noch nicht annähernd erkannt, geschweige denn erarbeitet. So gewiß das Maß der Ergebnisse solcher Arbeit vom geschichtlichen Gang gerade

VIII

Borwort

-ei gesunder Entwicklung abhängig ist, so gewiß ist eö doch dringendes Ge­

bot der Stunde, daß Kräfte auf beiden Seiten ans Werk gehen um zu er­ arbeiten, was zurzeit herausgestellt werden kann.

Wer von der Theologie her kommend und in ihr verwurzelt die Psycho­

logie nicht nur literarisch erarbeitet, sondern als Schicksal erfahren hat, ist in die Lage versetzt, beide Gebiete als Wirklichkeiten mit ihren befreien­

den und bedrängenden Mächten erleben zu dürfen — und zu müssen.

Der Wirbel dieser beiden Ström« wird zum einheitlich tragenden Strom nur

durch tiefgreifende Wandlung hindurch. Für die Erkenntnis, damit zugleich

für die theologische Arbeit, bedeutet diese vor allem Realisierung im Sinne von Ausscheiden unechter Erkenntnisse und Heraufkommen neuer, echter,

gewachsener Erkenntnisse, zugleich Befruchtung der Gesamtschau und Ganz­

heitserfahrung des Seins. Man hört auf „Gedanken" zu „denken" un­ lernt, Wirklichkeiten zu sehen. Inwiefern diese entscheidende Wandlung

vielfach nicht an der Theologie allein entsteht, die doch die wirklichste aller Wirklichkeiten zum Gegenstand hat, wird im Laufe der Ausführungen deut­ lich werden müssen und kann nicht in Kürze im Vorwort gesagt werden.

Daß sie sich vollziehe, ist von zentraler Bedeutung. Der dringendste Wunsch, mit dem dies Buch der Öffentlichkeit übergeben

wird, ist deshalb der, daß eö nicht als eine theoretische Auseinandersetzung genommen wird, die etwa den einem Autor zufällig lohnenden Versuch machte, ein theologisches Problem psychologisch zu sehen. Alles was hier gesagt wird, ist in diesem Sinne nicht „gedacht", sondern der Wirklichkeit abgesehen und abgerungen. Das Buch ist nicht aus einem Interesse, son­

dern auö einem Schicksal — einem mit dem Schicksal der Kirche verwobe­ nen — geboren. Es ist geboren, nicht gedacht. Seine Erkenntnisse sind biö ins Einzelne hinein mit schicksalhaftem Erfahren verwoben und haben sich

aus ihm herausgehoben. Darum wünscht es sich Leser, die nicht nur dieser Tatsache gerecht werden,

sondern aus eigenem Erfahren oder doch Leiden heraus Sinn haben für die

Notwendigkeit von Ausführungen dieser Art in der Gegenwart. Und die

ihm darum auch abnehmen- was es dem Pfarrer, der zu predigen hat, bieten möchte: zugleich grundsätzliche wissenschaftliche Klärung und

konkrete

Wegweisung. Die Zeiten theoretischer, vom Erdboden abgelöster Wissenschaft sind vorüber, Gott sei Dank. Wissenschaft hat eben mit der unverkürzten

Schärfe und Exaktheit ihrer Arbeit der gelebten Wirklichkeit zu dienen.

Aber auch die von der grundsätzlichen und wissenschaftlich sauberen Fundie­ rung gelöste praktische Arbeit muß überwunden werden, wo und soweit das

IX

Vorwort

nötig ist. Denn nur in der Ganzheitsschau haben wir ein wirklich gutes Gewissen, und nur sie hält den Anforderungen der Gegenwart stand. Ganz-

heitöschau umfaßt aber die aus dem Denken und die aus dem Handeln sich ergebenden Erkenntnisse. In diesem Sinne möchte diese Arbeit über das homiletische Problem hinaus zugleich ein Beitrag zur Gesamtsituation der

Gegenwart sein. DaS Buch wird abgeschlossen, während der Kampf auf den russischen

Schlachtfeldern tobt. Es konnte neben allen Anforderungen der Kriegszeit nur fortgeführt und abgeschlossen werden, weil die Arbeit von dem Bewußt­ sein getragen war, ständig unmittelbar an der Ursituation des Menschen, des Kämpfers, der um ihr Schicksal kämpfenden Nation zu sein. Es möchte «in

Beitrag sein in dem Ringen unseres Volkes um sein ureigenstes Wesen

und um die künftige Gestalt seiner Seele. Für wertvolle Hinweise danke ich Herrn Professor D. Dr. Wilhelm Stählin-Münster i. W. und Herrn Leitenden Arzt Dr. Carl Happich-Darmstadt.

Frau Professor Rost-GreifSwald und meiner Frau danke ich für sorgsame und rasche Hilfe im Lesen der Korrektur.

Der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Universität Greifswald danke ich für ihre bereitwillige Förderung des Zustandekommens des Buches

und dem Verlag für sein freundliches Interesse an ihm und für seine Be­ reitschaft, es trotz der erschwerenden Jeitumstände zum Druck zu bringen.

Die Zueignung dieses Buches an meine Frau ist Ausdruck des Dankes

und der Freude für alles tiefe Mitleben die Jahre hindurch. GreifSwald-Neuenkirchen, im August 194t.

Otto Haendler

Inhalt

1

Erstes Kapitel. Einleitung

I. Die Lage . . . 1. Die geistige Situation und die Kirche . 2. Das homiletische Problem in seiner Beziehung zur Gesamtsituation

1 1 4

10

3. Die praktische Not der Predigtarbeit

II. Die Grundsätze der Untersuchung ... t. Das Subjekt des Predigers als Ausgangspunkt und ständiger

15

Orientierungspunkt 2. Der psychologische Charakter der Untersuchung III. Die gegenwärtige psychologische Arbeit 1. Psychologie im umfassenden Sinne

IS 20 27 27

2. Die Bedeutung des Unbewußten 3. Die Arbeit der Tiefenpsychologie . .... IV. Die Bedeutung der Tiefenpsychologie für diekirchliche Arbeit

29 31 34 34 37

1. Dringlichkeit 2. Möglichkeiten Zweites Kapitel. Die Bedeutung des Subjektes für das Werdender

Predigt . ... . . I. Das Verhältnis von subjektiven und objektiven Mächten in der Predigt­

arbeit ................................... 1. Die Unmöglichkeit der Ausschaltung des Subjekts

43 43

2. Das Ausmaß der Wirkung des Subjekts

46

3. Die Tiefendimension . . ... II. Die Struktur der Persönlichkeit in ihrer Bedeutung für die Arbeit an der Predigt t. Die Schichtung der Persönlichkeit 2. Das Selbst .

43

.

3. Der Weg zum Selbst in der besonderen Lage des PrediigerS

50 52 52 55

65

III. Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an

der Predigt ... t. Schicksalsfähigkeit und Schicksal

2. Das Amt

.

3. Theologie und Bekenntnis

75 75 84

87

Inhalt

XI

4. Grenzgebiete.............................................................................................. 5. Ehe und Familie...................................................................................

97 101

6. Schicksalsmitgift:

102

a. Erbmasse und Tradition................................................................

102

b. Befangenheit

undZuversicht......................................................

106

c. Arbeitsart

.......................................................................................

116

d. Fluidum............................................................................................. Drittes Kapitel. Der Weg des Subjekts zum Evangelium und zum

119

Text...........................................................................................................................

125

I. Meditation ......................................................................................................... 1. Verstehen als Begegnung der Ganzheiten Evangelium und Subjekt

125 125

2. Die Schichtung der Persönlichkeit in ihrer Bedeutung für die Be­

gegnung mit dem ' Evangelium...........................................................

128

3. Meditation als Weg zum Evangelium............................................... a. Bildschicht und bildhaftes Denken..........................................

131 131

b. Meditation als Eingehen in die Bildschicht..............................

137

c. Meditation, Gebet, Kultus........................................................... II. Die Bedeutung der Meditation für die Arbeit an der Predigt ...

150 154

1. Die Tiefengliederung der geoffenbarten Wahrheit........................

154

2. Verständnis von Lehre und Dogma aus der Meditation ...

159

3. Die Wandlung der Schicksalsfähigkeit von der Reformation bis

zur Gegenwart .................................................................................. 4. Heimat- und Fremdgefühl gegenüber dem Evangelium ....

167 176

III. Evangelium und Text . . . ................................................................. 1. Sachthemen und Texte.............................................................................

181 181

2. Textwahl . Viertes Kapitel. Gemeinde und Gestaltung...............................................

193 203

I. Prediger und Gemeinde..................................................................................

III.

203

1. Die Predigtgememde...................................

203

2. Echte Erwartung und unechte Wünsche............................................... 3. Fremdgefühl und Heimatgefühl bei der Gemeinde........................

206 211

4. Die konkrete Mannigfaltigkeit der Gemeinde................................... 5. Freiheit vom Urteil der Gemeinde*...........................................................

215 217

6. Der Priester..............................................................................................

221

II. Der priesterliche Dienst im den Fragen der Zeit....................................

224

1. Bewältigung des Lebens............................................................................ 2. Religion überhaupt.................................................... 3. Sünde und Gewissen .............................................................................

224 227 233

4. Werk und Stille, Person und Gemeinschaft...................................

237

Der priesterliche Dienst in den Gegebenheiten der Zeit......................

239

1. Politisierung.............................................................................................. 2. Soldatentum und Krieg............................................................................. 3. Sport ..........................................................................................................

239 243 245

4. Technik..........................................................................................................

246

5. Sachlichkeit und Mythos...................................

247

6. Nation und Kirche.........................................

249

Inhalt

XII

Fünftes Kapitel. Die Predigt.....................................................................................253

I. Die unmittelbare Vorarbeit

............................................................................

253

253

1. Ansatz und Entschluß.........................................................

2. Exegese........................................................................................................

3. Findung

256

2

....................................................................

II. Die Gestalt der Predigt........................................................................... 1. Predigt, nicht Aufsatz...........................................................................................267 2. Einsatz, nicht Cinleiitung...........................................................................

267

269

3. Entwurf ........................................................................................................ 270 4. Bilder und Geschichten.....................................................................................270 5. Fehler in der Gestaltung:............................................................................... 273

a. Das Falsche

.......................................................................................

b. Das Negative

.

c. Das Schwache ............................................................... III. Formen, Schreiben, Aneignen......................................................................

1. Arbeitszeit

................................................................................................... 2. Das Manuskript .................................................................................. ?

278.

283 283 289

.......................................................................................

293

4. Nacht und Morgen......................................................................................

295

3. Das Memorieren -

274

..................................................................................... 276

IV. Der Gottesdienst...................................................................................................... 297 r. Altar, Sakristei, Kanzel................................................................................. 297

2. Sprache und Gesten.......................................................................................

305

3. Wirkung und Rückwirkung...................................................................... 4. Predigt, Predigten, Lebenswerk...................................................................... Schluß ...............................................................................................................................

308 314 320

t. Grenzprobleme

.............................................................................................

320

2. Das Ziel der Untersuchung........................................................................... Sachregister...........................................................................................................................

321 322

Erstes Kapitel

Einleitung L Die Lage

1. Die geistige Situation und die Kirch« Das Ringen um die metaphysische Fundierung des Seins ist

das entscheidende Anliegen jedes Menschen und jeder Zeit, und alle leben­ digen Perioden sind durch dieses Ringen bestimmt, solche in denen es er­

storben sind, sind tot. Die Zeiten freilich und innerhalb ihrer die Menschen sind darin verschieden, daß einmal eine geprägte Gestalt d«S letzten Grundes

das Leben beherrscht, ein anderes Mal um diese Gestalt gerungen wird. Im ersten Falle bietet das Leben bei allem Kampf doch letztlich ein klares und

gefestigtes Bild, im zweiten ein aufgewühltes, oft chaotisches. Schließlich werden beide Arten des Lebens zusammengehalten durch einen LebenS-

strom, in dem Sein und Werden- Gestalt und Gestaltung gleichermaßen umfaßt find. Eines wird aus dem anderen, nicht nur aus dem Wachstum die Frucht, sondern auch aus der bestehenden Gestalt das neue Ringen.

Daß die Gegenwart zu den Zeiten des Ringens gehört, unterliegt keinem Zweifel. Ihr Sinn kann nur dann sich erfüllen, wenn wir sie an ihrem Platz im Gesamtgeschehen sehen und also voll bejahen als «ine Zeit, der in ihrer

Gesamtprägung die einheitliche und feste Gestalt metaphysischer Lebens­ quellkraft noch versagt ist; wenn wir nicht vorgreifen nach dem, was noch

nicht da ist, sondern in männlichem Eingehen in das Heute so ehrlich, so um­ fassend und so tief es unö möglich ist, den Fluß des Geschehens als solchen

aufnehmen und das Werdenwollen durchtvagen zu neuer Gestalt. Eine jede „Kirche" gehört in diesem Gang der Geschichte zu den jeweils

festesten Prägungen, in denen metaphysischer Besitz zum Ausdruck kommt. In Zeiten, die aus gefundener und zur Gestalt gewordener Wahrheit leben,

ist die Kirche im wesentlichen unumstritten, das Leben vollzieht sich in

ihren Formen und speist sich aus ihrer Wahrheit. Wird dann die Zeit zu einer solchen des Ringens, so ragt die Kirche einerseits als überkommene 1

haendler, Die predigt

2

Einleitung

feste Gestalt der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, andererseits wird

auch sie ergriffen von der Auflösung der Formen und dem Suchen nach der neuen Gestalt. Sie erscheint daher dem einen als das Vergangene, das man fallen lassen muß, dem anderen als der Hort und Träger der Zukunftskraft,

den man nicht fallen lassen darf. Die Unentbehrlichkeit und Unersetzlichkeit der Kirche ist darin begründet, daß sie die Wahrheit hat in der vollen Tiefe der Offenbarung und in ausgeprägter und greifbarer Gestalt. Ihr Schicksal hängt, innerlich gesehen, davon ab, ob genug Erkennende in ihr sind, die, frei von der Verhaftung an zeitgebundene Formen, doch getragen von der bleibenden Wahrheit, ganz im Geschehen der Zeit und ganz in der über­ zeitlichen Wahrheit stehen, ebenso fest verbunden der geschichtlichen Situa­

tion wie der metaphysischen Wirklichkeit. Die Kirche muß fähig sein, das echte Anliegen zu erkennen, das im Ringen um neue Gestalt sich Ausdruck

schafft. Sie soll weit und tief genug sein, auch in der Feindschaft noch die echte Frage und in der verzerrten Form der Bekämpfung das positive An­

liegen zu finden. Sie soll sich als Kirche darin bewähren, daß sie nicht nur

für die bereit ist, die dennoch zu ihr kommen, sondern auch den anderen hilft, ihre eigentliche Frage zu finden und den Weg der Wahrheit zu be­ schreiten. Sie ist Hüterin des Hortes und Helferin aller, die irgend um die

Wahrheit ringen; sie muß für jede mögliche und unmögliche Art, in der an sie herangegangen wird oder in der ihre Sache gemeint ist, bereit sein und

Wege ebnen können. Die entscheidende Frage in dem Ringen um die metaphysischen Funda­ mente des Seins ist die Frage, inwieweit die Fundierung deö Lebens in klarer und eindeutiger Ausweitung des säkularen Umkreises auf metaphysische Ge­

gebenheiten erfolgen wird, und welchen Grad der Gestaltetheit diese meta­ physischen Wahrheiten haben werden. Die Gegenwart erfährt aber in zentraler Entscheidungsschwere eine neue Besinnung auf das Wesen des Menschen. Sein Ursein vor der entschleierten Wirklichkeit ist aufgerufen, sich neu zu finden, seine Beziehung zu dieser Wirklichkeit neu zu ordnen, vielfach neu zu gewinnen. Und die Existenzfrage dieses Ringens ist die, ob der Mensch in der sich offenbarenden göttlichen Gewalt und dämonischen Furchtbarkeit des Seins die Begegnung mit der

Wirklichkeit Gottes findet, die ihm eine echte Gestalt seines Lebens für

Gegenwart und Zukunft ermöglicht. Die Kirche ist in diesem Ringen Sach­

walter der metaphysischen Beziehung des Menschen der Gegenwart. Sie soll

die Bewältigung des Lebens aus der Kraft Gottes und die Gestaltung der Zukunft vor der Wirklichkeit Gottes dokumentieren.

Die Lage

3

Kampf um das Wesen erweist Manches als jetzt nur noch Schale, was

in Zeiten des Habens und der festen Gestalt unbeanstandet mit dem Kern verbunden war. Gestalten der Wahrheit, die als einzig mögliche Gestalten angesehen wurden, haben plötzlich nur noch bei einer Minderheit Geltung und Mittelskraft, während sie für die andern farblos geworden sind. Man meint dann weithin, es kämpfe das Heute gegen das Gestern und die Vor­ kämpfer des „Neuen" fühlen sich als die Fortgeschrittenen, die Träger des „Alten" werden in das Licht der Rückständigkeit gerückt. Aber in Wahrheit

geht es nicht um ein Gegeneinander von Gestern und Heute, sondern um die Probe auf die Jukunftökraft einer Wahrheit, die nicht deshalb vott gestern ist, weil sie im Gestern kräftig war, sondern nur in neuer Gestalt ihre Unentbehrlichkeit für die Zukunft zu erweisen hat. Das Problem der Kirche ist dementsprechend nicht das Problem ihrer Form (der gestrigen oder heutigen Gestalt), sondern das ihrer Wahrheit (ob sie vergangen oder blei­

bend ist). Auch sehr „neuzeitliche" Menschen sind bereit, eine „alte" Form ohne Hemmung zu bejahen, wenn die in ihr sich offenbarende Kraft als

Kraft von heute erfahren wird und die Form selbst ihnen zugänglich wird, sind aber freilich je ernsthafter um so unerbittlicher gegen jede Gestalt, in der

keine gegenwärtige Wahrheit sich vollkräftig auöwirkt. Wiederum: so gewiß es um die Wahrheit geht, muß sie doch zu jeder Zeit ihre entsprechende Gestalt finden. Jede Zeit hat ein Recht auf die ihr zugängliche Gestalt der Wahrheit und die Kirche jederzeit die Pflicht, diese im eigentlichen „zeit-gemäße" Gestalt zu finden. So gewiß daher in der Kirche manches, was gestern war, auch heute sein kann, darf die Gestalt der Kirche im ganzen

doch nicht den Eindruck einer Macht „von gestern" machen. Das bedeutet für die Verkündigung in erster Linie, daß wir in unserer geistesgeschicht-

lichen Stunde mit ihrer Eigenart leben. Wir haben die Verkündigung so zu gestalten, daß sie in dieser Stunde steht und nicht überspringt in vergan­

gene geistesgeschichtliche Stunden, um mit deren Mitteln und Wegen vor die Gegenwart zu treten. Die Fäden der Gestaltung der Verkündigung dür­ fen die Offenbarung nicht auf dem Umweg über das Gestern erreichen, son­

dern müssen in direkter Linie vom Heute aus die ungefälschte, ungefärbte und ganze Offenbarung suchen und so die Wege und den Ton der Verkündi­

gung finden. Die Kirche kämpft deshalb, indem sie für die Wahrheit GotteS einsteht, zu­

gleich um den Eindruck, den sie selbst macht, weil sie mit diesem Eindruck als wesentlicher Waffe um die Wahrheit kämpft. Gestalt und Wirkung der Kirche müssen, soweit möglich, ein sichtbarer Erweis der Tatsache sein, daß

4

Einleitung

es in der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes, wie die Kirche sie ermög­

licht, um daS Heut und Morgen geht, daß nicht Kräfte der Vergangenheit konserviert, sondern Kräfte der Gegenwart und Zukunft erschlossen werden

sollen. Alle Stadien der Geisteögeschichte, alle Stadien der Kirchengeschichte

wirken sich irgendwie in der Gegenwart aus, und zugleich ist das ganze Ge­ füge in seinen Grundfesten aufgelockert durch die drängende Frage nach einer urtümlich neuen Grundlage des Seins überhaupt. ES wird hierbei

keineswegs nur von feiten der Kirche eine Gefahr gesehen, als wäre sie nur für Christentum und Kirche da. Die Situation als ganze ist gefährdet, und aus der nichtkirchlichen, geschweige denn theologischen Welt kommt der Hin­

weis, „in welcher bis ins Letzte erschütternden Weltwende der Heutige steht, der aus dem logozentrisch-christlich-mittelalterlichen Mandala herauStritt; welche gefahrvolle Fahrt er macht" Diese Menschen — die Mehrzahl der

Gebildeten — sind für die Kirche nicht bedeutungslos, sondem vielmehr ein entscheidender Faktor hinsichtlich der Möglichkeiten, die die Kirche chnett zu einer neuen und echten Begegnung mit dem Christentum eröffnet. DaS er­ fordert aber eine wirkliche Begegnung der Menschen der Kirche mit diesen. Und dadurch wiederum wird die Kirche aufgerufen, aus einer gewohnten Bahn der eingleisigen Verfolgung eines scheinbar selbstverständlich vorge­

schriebenen inneren Weges herauszutreten. Wir sind im Protestantismus der Heimat jetzt in einer ähnlichen Lage, wie vor einigen Jahrzehnten die der Mission war, als sie erkannte, daß andere Völker nicht die abmdländische

Gestalt deS Christentums sich aufpfropfen lassen können, sondern daß bei ihnen Kirchen eigener Gestalt wachsen. Unsere Kirche hat die Gestalt bislang aus einer Zeit empfangen, die ganz im Raum deS Christentums lebten Sie muß sich anschicken, eine Gestalt zu erarbeiten, die der gegen­ wärtigen Lage gerecht wird, in der Fragende und Suchende aus einer andern Welt herankommen und in einer bisher nicht dagewesenen Art dem Christentum, obwohl eö ihre alte Heimat ist, neu begegnen. Die Kirche muß zu neuer Gestalt bereit sein, und gerade diese Bereitschaft ist echter Aus­ druck evangelischer Haltung. „Der echte Protestantismus kann... kein Pro­ gramm bedeutend" 2. Das homiletische Problem in seiner Beziehung zur Gesalmtsituation

Die zu je einer Zeit wichtigen Probleme kirchlichen Geschehens erscheinen auf jedem Gebiet kirchlichen Wirkens in entsprechend abgewandelter Gö1 G. R. Heyer, int Eranos-Jahrbuch 1938, S. 458. 2 Eberhard Grisebach, Gegenwart. Halle 1928, S. 126.

Die Lage

5

statt. Deshalb kann kein Spezialgebiet behandelt werden, ohne daß die Ge­

samtprobleme fortlaufend hineinspielen. Entsprechend ist jede Spezialunter­

suchung, abgesehen von ihrem besonderen Thema und mit ihm, zugleich paradigmatisch für die ganze Situation. Zn diesem Sinne stehen wir hier mit der Untersuchung über die Arbeit an der Predigt ununterbrochen in der Zentralproblematik der Kirche, damit aber in den Zentralfragen des Seins

überhaupt. Eine Spezialarbeit ist um so berechtigter, je deutlicher ihre Verflochtenheit

in die Ganzheit des Seins heraustritt, ihre Bedeutung um so umfassender, je mehr sie in den Urgegebenheiten und nicht erst im Spezialthema ansetzt« Denn die Bedeutung einer Sache tritt erst dann ganz ins Licht, wenn die anderer daneben nicht vergessen wird. Isolierung und isolierte llberbeto«nung ist auch bei zentralem Anliegen illegitime Inthronisation, die das Ge­ wicht des Inthronisierten in Wahrheit nicht hebt, sondern mindert, weil sie die fließende Wechselbeziehung zum Ganzen hemmt. Das Leben ist ein

Ganzes, und jeder Teil wird auch in sich selbst erst gerundet in der durchigeführten Beziehung zu allen anderen Teilen, jeder Teil wird erst von der Ganzheit des Seins aus wirklich erfaßt. Das gilt von Christentum, Kirche und Theologie gegenüber der Ganzheit

des Lebens, und es gilt von jeder theologischen Disziplin gegenüber den anderen und gegenüber dem Leben als Ganzem.

Wenn hier nun vom homiletischen Problem gehandelt wird, so geschieht das dementsprechend in doppelter Zielsetzung. Es geht einerseits um das Problem der Predigt als solches in seiner eigentümlichen Art und Bebrü­

tung, andererseits ist die Homiletik zugleich der Spezialfall, an dem ent­ scheidende Probleme der Zeit grundsätzliche Beleuchtung finden, und an dem

die Ursituation des Menschen ins Licht tritt. Wir haben also in der Wandlung der Predigt wie in der Neuformung

jeden kirchlichen Gebietes das Mögliche zu tun, um die Tore zu der im Christentum gegebenen Wahrheit neu zu öffnen. Der Prediger ist wirklich „Symbol der unsere Gegenwart ^betreffenden' ... Aktualität des Wortes Gottes"^, und in der Predigt muß wirklich im umfassendsten Sinne „die ganze Fülle deü Evangeliums für unsern Erlebnisraum überschaubar ge­ macht werden" und „das Evangelium den Menschen der Gegenwart als Antwort auf.... seine Fragen verständlich werden.... Er muß sich hier

4 Paul Althaus, Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes. Gütersloh "1926, ©.18.

6

Einleitung

völlig ernstgenommen fühlen"

In einer Zeit wie der gegenwärtigen ist

Verkündigung nur dann vollgültig, wenn sie bei keinem Zweiten stehen bleibt, vielmehr in allem Zweiten (Kirche, Bekenntnis usw.) die Urkraft

des Evangeliums zum Leuchten und Wirken bringt. Denn die Zeit fragt zu­ erst nach dieser Urkraft und ist relativ gegen alles Zweite. Durchgreifend wirkte nur das Maß von Urkraft, daö imstande wäre, eine neue Gestalt der Kirche so hinzustellen, daß man auf sie schauen müßte, und daß die Frage nach echtem Christenglauben bei aller menschlichen Schwäche solcher Gestalt sich doch an ihr orientieren könnte. In jedem Falle hat Althaus auch in der veränderten heutigen Situation noch recht: „Ich streite ab, daß es an sich eine Predigtmüdigkeit der Ge­

meinden gibt. Sie warten vielmehr auf die Predigt mit neuen Zungen, aus neuer Geistesmacht. Sie sind vielleicht unserer Predigten müde geworden,

aber nicht der Predigt"

Will die Predigt den um sie gelegten Festungs­

gürtel der Nichtachtung in der Öffentlichkeit durchbrechen, so muß sie das Wesentliche, das sie zum Gesamtleben zu sagen hat, so sagen, daß es als

wesentlich erkannt und angenommen werden kann. Sie muß jedem, der ernsthaft seinen Ort im Leben sucht. Entscheidendes dazu sagen können, weil sie in gültiger und überzeugender Gestalt eine Wirklichkeit im Dasein reali­ siert, die nur im geistigen Raum christlicher Wahrheit und nirgend sonst empfangen werden kann. Diese Stellung wird nicht durch grundsätzlichen Anspruch gewonnen, sondern durch konkrete Leistung. Die Predigt wirkt in

dem Maße an der Gestaltung des Lebens mit, in dem sie es in sich einbe­ zieht und in es hineingeht. Sie wird in dem Maße als Faktor des Ge­

schehens gewertet, in dem sie nicht nur in der Absicht und mit gutem Willen,

sondern mit Können und in Vollmacht die Wirklichkeit des Lebens von der Wirklichkeit Gottes her durchleuchtet und auf die konkreten und belang­ vollen Fragen ihrer Zeit helfende und gültige Antwort hat, die nicht nur in

der Ebene des Ratschlags oder der Forderung bleibt, sondern in den Tiefen­ raum derjenigen Wirklichkeiten hineinführt, die im Christentum zugänglich werden. Soweit sie das versäumt, schaltet sie sich auch bei allseitiger Aner­ kennung aus, soweit sie es tut, schaltet sie sich auch bei weitgehender Gering­

schätzung ein. In diesem Bemühen aber sind wir in jeder Hinsicht,/tuf dem Wege". Es ist nicht sicher, ob unsere Generation eine feste, neue Gestalt der Verkündigung schon finden wird. Gegenwärtig sind wir ganz im Tasten 6 Alfred Dedo Müller, Ethik. Berlin Töpelmann 1937, S. 17 u. 18. 6 Paul Althaus, a. a. O. S. 21/22.

Die Lage

7

und Suchen und begrüßen dankbar nicht erst ein Erahnen neuer Konturen, sondern schon das deutliche Erspüren der Tatsache, daß ein Neues sich an» bahnen will. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß die Kirche in diesem Anfangsstadium tiefgreifenderWandlung„in derZ«it"stehtund nicht voreilig meint, mit geoffenbarter Wahrheit des Ringens enthoben zu sein und entheben zu können. Wahrheit verkündigen

heißt der Zeit voraus sein, aber nicht ihr vorauseilen, sondern sie tiefer er­ fassen, als sie selbst es kann und darum mit darin stehen in ihrer Unfertig? keit und Not.

Die kirchliche Verkündigung ist in der Gesamtstruktur dieser Lage in gleicher Situation mit allen wesentlichen Gebieten des Lebens, auf denen weithin dieselben Erscheinungen sich bemerkbar machen. Ohne Krisen und

Kämpfe geht es nirgends ab, und die Erscheinungen dieses Stadiums sind

so verwandt, daß Erkenntnisse auf dem einen Gebiet entsprechend auf ein anderes angewendet werden können. In bezug auf das heute zentrale

Gebiet der Neuordnung der Beziehung der Geschlechter wird von kundiger Seite zu dieser Situation gesagt: „In den Krisen und Kämpfen der eins zelnen Ehen wird der große Kampf ausgetragen um ein neues Verhältnis

zwischen Mann und Frau" uno wir sind „die Versuchskaninchen .. ., an

denen die neue Zeit ausprobiert roirb"7. So können wir hier sagen: an den Predigten und Predigern der Gegenwart wird die neue Zeit der Predigt hinsichtlich ihrer Begegnung mit dem Menschen von heute und morgen ausprobiert. Die Kämpfe und Schmerzen der Predigtarbeit haben wir dementsprechend zu werten. Sie gehen über das Persönliche hinaus. In ihnen will das neue Verhältnis des Menschen der Gegenwart zum Christentum ebenso seine Gestaltung finden wie das 38 es en des Pfarr­

amts und die Art der Predigt. Darum haben alle Unsicherheiten, Fragen und Schmerzen, mit denen die Predigtarbeit gerade bei gewissenhafter Hin­ gabe heute vielfach belastet ist, einen übersubjektiven Hintergrund, der sie

verständlich macht in ihrer Unumgänglichkeit, ihnen Sinn gibt und sie als Zeichen eines werdenden Neuen erkennbar macht. Sie sind Krankheit als „Mittel und Angelhaken der Erkenntnis"^. Zugleich gewinnen diese Schmerzen damit für die Homiletik sachliche Bedeutung. Sie sind nicht nur, und oft überhaupt nicht, als Folge per­ sönlicher Unzulänglichkeit des Predigers zu werten, sondern als Symptom 7 Hans v. Hattingberg, über die Liebe. München 1939. S. 180.

8 Friedrich Nietzsche, Ges. Werke, Bd. VIII, München 1923, S. 8. (Menschliches, Allzumenschliches, Vorrede 4.)

8

Einleitung

der Lage. Es taucht die Möglichkeit auf, die weiterhin auszuwerten sein

wird, daß sie heuristisches Prinzip für wichtige homiletische Erkenntm'sse werden könnten. Denn sie sind ein Zeichen der Verwobenheit der

homiletischen Situation in die Gesamtlage der Zeit. Es mutet demgegenüber wie ein Museumsstück an, wenn ein so geistestiefer Mann wie Palmer in seiner Pastoraltheologie um 1860 Probleme, die heute beherrschend sind,

noch in einem Einzelkapitel behandeln konnte, das 17 Seiten umfaßt und betitelt ist „Ser Verkehr des Pastors mit Freigeistern". Man spürt an dieser Formulierung noch das Empfinden des Unheimlichen gegenüber einem

Unbekannten undFernen. Wer so schreibt, steht noch unangefochten mit beiden Füßen im eigenen Lager, und das andere ist ihm das Fremde. Daß nach der Goethezeit so etwas möglich war, ist nicht ein durch die Bedmtung Palmers gerechtfertigtes Jn-sich-selbst-ruhen der Kirche, sondern ein trotz seiner Bedmtung ernstes Signal dafür, wie schwer die Kirche ihre Be­

ziehung zur „Welt" verfehlen kann. Sie hat hart genug dafür gebüßt. Und sie soll an dem Versäumten gründlichst lernen: Der heutige Prediger darf nur so mit beiden Füßm in „seinem" Lager stehm, daß er durch das andere hindurchgegangen ist. Ja, er muß in einem sehr tiefen (noch klarzulegendm) Sinne bleibend in beidm Lagern zu Hause sein (vgl. S. 59), Kirche und Welt gleichermaßen in sich tragen und aus beiden her­ aus fragen, wenn er der Gegenwart von der Wahrheit Gottes her einen Heimatboden verkündigen will, auf dem sie wirklich und gegemvartSkräftig anbauen kann. Dazu ist eine Gewissenhaftigkeit erforderlich, die nach keiner Seite hin

verkürzt werden darf. Die Homiletik hat zwar immer gewußt, daß sie das Evangelium nicht verraten darf. Heute aber tritt mit neuem Gewicht die Fordemng daneben, daß auch die Zeit nicht verraten werden darf.

Zeit ist nicht Zeiterscheinung, sondern das Wesen, das hinter dm Zeitevscheinungen liegt. Wesen in diesem Sinne ist Fusion eines Ewigm mit einem „Gegenwärtigen", das den tiefsten und eigentlichstm Charakter der

Zeit ausdrückt, das, was sie eigentlich meint. Zeiterscheinungm dagegen sind nur die Oberfläche der Zeit, so oft sie auch fälschlich für ihr Wefm gehalten werden mögen. Wer ganz in der Offenbamng und zugleich ganz in der Zeit stünde, stellte die ideale Gestalt des christlichen Verkünders dar. Hinter dem Ideal bleiben wir alle weit zurück. Wir können uns ihm aber nicht dadurch nähem, daß wir eine Seite der Sache auf Kosten der anderen betreiben. Wir

sönnen also einerseits nicht der Zeit gerecht werden wollm, indem wir der

Die Lage

9

Offenbarung etwas von ihrem Gehalt abmarkten. Die auf dieser Linie liegende Gefahr ist der Kirche der Gegenwart überwiegend bewußt und hat

bekanntlich zu heftigen Kämpfen geführt. Wir können aber andererseits uns auch nicht auf die 'Offenbarung zurückziehen und dafür der Forderung der Zeit weniger gerecht werden. Diese Gefahr ist in der Kirche nicht in gleichem Maße erkannt, obwohl sie ebenso wie die erste zur Wirklichkeit geworden

ist. Und doch ist auch sie abgründig. In der praktischen Auswirkung sind

ihre verheerenden Folgen nicht geringer, weil Verrat der Zeit echte Ver­ kündigung ebenso unmöglich macht wie Verrat des Evange­ liums. Als Verkünder der Wahrheit sind wir im radikalsten Verstände zugleich Kinder der Zeit. Überall wo diese tiefe wenn auch schmerzliche Doppelheit

unseres Seins verkannt wird, ist der Prediger gehindert, in der Zeit aus der Zeit zu verkündigen. Das feine Empfinden der Hörer aus der Zeit spürt ihm seine Schwäche ab und empfindet ihn als einen Mann, der „vom sicheren Port gemächlich raten" möchte, der daher letztlich die Zeit nicht vom Evan­ gelium her durchschaut, sondern ihr zuschaut, nicht sie mit dem Evangelium

durchdringt, sondern ihre Aussage mit der Aussage des Evangeliums ver­ gleicht. Und sie spürt mit Recht, daß dann, soweit sie vorhanden, die Ab­ wehr der Zeit durch den Prediger Abwehr einer von ihm selbst nur abgslehnten, aber im Grund nicht durchdrungenen und durchklärten Macht ist.

Ec geht in die Haltung der anderen nur scheinbar und uneigentlich ein, er spürt ihre Zwangsläufigkeit nicht am eigenen Leibe. Und doch wird diese „Welt", gerade indem er sich ihr entzieht, ihm zur Dämonie. Und er hat

ihr gegenüber nicht die Kraft des Sieges, sondern die Schwäche geheimer „Gemächlichkeit". Soweit die Ablehnung der Welt aus der Angst resultiert, in eine neue

unkritische Kulturfreudigkeit zu verfallen und damit den Fehler der vorigen Generation zu wiederholen, wird sie nicht nur durch die Erinnerung an das gründliche Fiasko dieser Kulturfreudigkeit überwunden, sondern gegen ein Verfallen an die Zeit hilft gerade das unbedingte und energische Eingehen in sie, da sie solchem ganzen Jufassen sich in ihrer Bedingtheit offenbart. Mit dem Umbruchscharakter der Zeit ist alles, was aus der Vergangen­ heit kommt, in Frage gestellt, und der Prediger kann auch die Infragestel­ lung des Evangeliums nicht nur von außen her betrachten und beurteilen. Er ist Kind seiner Zeit und trägt sie in sich, auch wenjn er es nicht weiß.

Aber ihre Überwindung bleibt scheinbar und unwirklich, solange er es nicht

10

Einleitung

weiß und diese schwerste Anfechtung nicht durchkämpft hat. Zugleich aber weist die Gegenwart deutliche Spuren der Tatsache auf, daß unzählige Menschen bewußt oder unbewußt, unter einer Decke von Feindschaft oder Mißverstehen, im Grunde leidenschaftlich warten auf eine Verkündigung,

die ihnen den Zugang zur göttlichen Wahrheit ermöglicht, ohne sie in das unheimliche Empfinden zu bringen, daß sie dabei den Boden unter den Füßen verlieren. Ist eS aber so, und sind wir zugleich, was niemand be­ streiten wird, genötigt, für jede berechtigte Kritik an der Kirche offen zu sein, so sind Freunde und Gegner in einer tieferen Schicht verbun­

den. Auf feiten der Predigt muß diese Verbundenheit sich darin auswirken, daß wir nicht nur die Fragen der „Welt" zu „verstehen" und zu „beant­ worten" suchen, sie auch nicht nur „zu unseren eigenen Fragen machen" —

in beiden Fällen bleiben wir doch nur auf „unserer" Seite. Sondern wir

müssen unsere Situation in der Welt so urgründig ernst nehmen, daß ihre Fragen unsere Fragen sind und wir sie alö die unseren erleben und durchringen. Hierzu Wege zu weisen wird «ine der wichtigsten Aufgaben einer gegenwärtigen homiletischen Besinnung sein.

3. Die praktische Not der Predigtarbeit Diese Schwierigkeit der gegenwärtigen Lage der Predigt kann aber nicht

nur grundsätzlich erörtert werden. Denn sie wird konkret in einem Tatbe­

stand, der zwar überall bekannt und anerkannt ist, und auch weithin ernst­ genommen wird, der aber trotzdem bisher nicht zu dem Versuch geführt hat,

durch eine grundsätzlich von ihm ausgehende Erörterung ihm gerecht zu werden. Dieser Tatbestand ist die praktische Not des Predigers, be­

sonders des jungen Predigers — dach beim geübten oft nur verdeckt, nicht behoben! — in die ihn seine große, menschliche Kräfte übersteigende Auf­ gabe stürzt.

Die Not des Nichtkönnenö ist von der dialektischen Theologie in ihrer

metaphysischen Begründetheit erkannt und, beginnend mit dem bedeutsamen Aufsatz von Thurneysen, theologisch ausgenommen und scharf formuliert, aber nur dialektisch durchgeführt, nicht praktisch angegangen. So hat das theologische Verdienst der herausgestellten dialektischen Erkenntnis in der Praxis der Predigt weithin nicht geholfen, sondern Verkrampfungen, Ge­

waltsamkeiten und Ansprüche hervorgerufen, die weder durch die Betonung der „Unmöglichkeit" noch durch derm dialektische Fortführung zur „Mög­

lichkeit" behoben oder ausgeglichen werden. Daö dogmatische Verdienst der dialektischen Theologie bleibt unbestritten. Wenn man aber etwas dia-

Die Lage

11

lektisch verstanden hat, hat man nur seine gedankliche Antinomie, nicht seine gelebte Spannung erfaßt, eö also nur mit dem Kopf, nicht mit dem Wesen ausgenommen.

Die praktisch-theologische Literatur hate gerade in ihrem homile­ tischen Zweig sich noch nicht intensiv genug und vor allem nicht grund­

sätzlich genug um die ganz konkrete Not der Arbeit bemüht, die also nicht

nur eine theologisch festzustellende Unzulänglichkeit des Predigers als Sün­ der, auch nicht nur ein Wissenmüssen um das Ziel und die Aufgabe, sondern die ganze vielfach verzweigte, beschämende und hilflos machende Not des

Nichtkönnens mit seinem Verzagen und Versagen umfaßt. In den älteren Homiletiken steht freilich viel Gutes und Hilfreiches darüber. Aber in der aktuellen neueren Literatur fühlte sich der Pfarrer in seiner Arbeit weithin

im Stich gelassen. Schreiner sagt in der ersten umfassenden neuzeitlichen Homiletik mit Recht: „Die Theologie ist meist zu erhaben, an diese Not in der Ebene der Technik und der praktischen Vorbereitung zum Amt zu

rühren. Sie umgeistert vornehm die Gipfel des Prinzipiellen, auf denen nichts wächst"^. Und er hebt über die fast gleichzeitig gedruckte Arbeit von Trillhaaö hervor: „Trillhaas will ausdrücklich und mit Recht keine 'blutleere' Homiletik und denkt dabei wohl an Abhandlungen der Homiletik,

wie wir sie in manchen Lehrbüchern der Praktischen Theologie gleichsam als technischen Anhang zur Geschichte der Predigt vor uns haben" 9 10. Bis zum Erscheinen der beiden eben genannten Bücher war der Zustand in der Homiletik dadurch charakterisiert, daß man Studenten, die fragten, welche Homiletik man ihnen sich anzuschaffen rate, nur antworten konnte: Sehen Sie sich in den vorhandenen Werken an, was brauchbar ist, und

hoffen Sie, daß wir bald eine gute neue Homiletik bekommen^ die die Anschaffung lohnt. Neben Schreiner und Trillhaaö ist neuerdings der ho­ miletische Abschnitt in der praktischen Theologie von Fendt zu nennen11.

Hinsichtlich der Hilfe, die dem Prediger von anderen theologischen Disziplinen her wird, sagt ebenfalls Schreiner mit Recht in bezug auf

das Gros der Literatur: „Ich stand unter dem Eindruck, daß das meiste, was die systematische Theologie zum Problem des Wortes Gottes zu sagen 9 Helmuth Schreiner, Die Verkündigung des Wortes Gottes. Schwerin 1936, S.

150.

10 Ebenda, S. 7/8. 11 Leonhard Fendt, Grundriß der praktischen Theologie. Tübingen 1938. I. Abtlg. S. 83—134.

12

Einleitung

weiß, im luftleeren Raum völliger Abstraktion schweben blieb"12. Je­

doch ist heute eine Wandlung deutlich spürbar, man denke nur etwa an dm Fortschritt, den hinsichtlich der religiösen Konkretheit unter den umfassenden und theologisch grundsätzlichen Werken die Arbeiten von Brunner und noch darüber hinaus die radikal religiös-konkrete Ethik von A.D.Müller darstellen. Eö ist also der Tatbestand der, daß zwar wissenschaftliche Hilfsmittel

von hohem Werte für die grundsätzliche Durchdringung der Probleme da sind, daß aber für die konkrete praktische Arbeit die entsprechenden wissenjschaftlichen Hilfsmittel weithin fehlen. Die praktischen Abschnitte in der vorliegenden Literatur sind teils zu einseitig und haben zu sehr die Neigung, Art und Methode des

Autors zum Prinzip zu erheben (auch Schreiner z. T. und noch mehr TrillhaaS), teils reden sie zu sehr von Praktiken und Methoden, die nicht ge­

nügend in ihrer Verankerung in der Mitte des handelnden Subjektes er­ kennbar werden (z.B. Fendt in den rhetorischen Anweisungen). Der genannte Tatbestand ist, damit zusammenhängend, zum Anlaß dieser Studie auf zwingende Weise geworden dadurch, daß der erwähnte Zu­ stand besonders deutlich und kräftig immer wieder in homiletischen Übun­

gen mit Studenten und mit Kandidaten des Predigerseminars hervorttat und in deren praktischen Versuchen sich nachhaltig auöwirkte. Dazu kämm

Beobachtungen an Predigten von Gemeindepfarrern, die in verdeckterer Form doch im Grunde die gleiche Schwierigkeit und deren Folgen erkennen ließen. Bei jeder der drei Gruppen tritt die gleiche Not in einem anderen und jedesmal typischen Stadium zutage. Der Student ist in der Regel noch ganz in der akademischm Luft be­

fangen und in der Unbeholfenheit des homiletischen Grundschülers. Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Fortführung des wissenschaftlich-exe­ getischen Verständnisses zur Auslegung für die Gemeinde. Die Gemeinde ist auch bei bester Absicht noch ein theoretischer Begriff. Studmten geraten vielfach schon dann aus dem Gleichgewicht, wenn man ihnen den Unter­

schied zwischen wissenschaftlicher Exegese und praktischer Durcharbeitung eines Textes etwas radikal und betont grundsätzlich vor Augen führt, und

verfallen in dieser Not unmittelbar der Versuchung, das exegetisch Erarbei­

tete entweder plötzlich fallen zu lassen zugunsten eines „praktischen" Not­ verständnisses des Textes oder die praktisch verwendbarste wissenschaftliche 12 Schreiner, a. a. O. S. 9.

Die Lage

13

Exegese ohne Begründung als die richtige anzunehmen. Für die Substanz­ armut der Kirche ist kennzeichnend, daß der Blick erstaunlich gering ist da­ für, wieviel praktisches Wissen um Gemeinde und Glaubensleben aus dem eigenen Leben auch ohne „Gemeindeerfahrung" gewonnen werden kann. Damit zusammenhängend liegt die Gefahr vor, daß die hintergründige Tiefe

der Weltsituation verfehlt wird, weil noch zu bereitwillig und zu rasch ein

Trennungsstrich zwischen Glaubensleben und irdischer Welt gezogen wird. Der Kandidat im Predigerseminar und ihm ähnlich der Vikar ist in dem risikoreichen Stadium, in dem der Absprung aus dem akademischen Raum in daS wirkliche Leben gefunden werden muß. Er gleicht allzuoft einem Freischwimmer, der mit mehr Mut als sachlicher Sicherheit den Sprung

in das noch nicht vertraute Element wagt. So wird schon der Ansatz deö Schwimmens gewaltsam, und man greift nach Rettungsringen, als die

in der Predigtarbeit zumeist die aus den Studienjahren bereitliegendein dogmatischen Formulierungen herhalten müssen. Denn wir „wissen" ja vom Christentum immerhin soviel, daß wir zur Not, wenn auch ' mit einigem Unbehagen, eine Predigt „machen" können. Di« Auswertung des Studiums kann selbstverständlich im günstigen Falle Rückblick auf echtes

Erkennen und Erfahren sein, sie kann aber auch als Ausweichen vor der Wirklichkeit mißbraucht werden.

Im Predigerseminar kam in jedem Semesteranfang die gleiche Situation: Ein Kandidat hat einen Predigtentwurf geliefert. In der Besprechung sind die Verbesserungsvorschläge der anderen ebenso theoretisch, substanzarm und im Grunde ratlos wie der besprochene Entwurf. Sobald man dann einiges zur Substanz deö Textes sagt, mit dem Unterton deö Anspruches:

„DaS hätten Sie mit offenen Augen auch finden können", kommt die leicht vorwurfsvolle Entschuldigung: „Ja, Sie haben eben di« Erfahrung", wo­ mit die Gemeindeerfahrung und das Übergewicht der Lebenserfahrung ge­ meint ist. Hier wird die Amtöpraxis verwechselt mit Wissen um Wirklichkeiten der geistlichen Welt. ES ist nicht gesehen, daß diese und nicht die sog. „Amtserfahrung" die eigentliche Ermöglichung der Predigt sind, und daß die Amtserfahrung nur in dem Maße wirklich fruchtbar wird, in dem man sie mit geistlicher Erkenntnis erfaßt und durch­

dringt. ES gehört bei der gegenwärtigen Erziehung des Theologen zu dm

schwierigsten Aufgaben des Seminars, die Überzeugung zu wecken, daß junge Männer im Seminaralter bei offenen Augen «ine Fülle von „Er­ fahrung" bereits haben können, bzw. haben und nur zu sehen und auszu­ werten brauchen; ein Gebiet freilich, von dem weiterhin noch eingehend zu

14

Einleitung

handeln sein wird, und das in den Kirchen gegenwärtig noch wenig aus­

gebaut ist. Schick weist mit vollem Recht darauf hin, „daß der Zugang zur Wirklichkeit nicht in erster Linie durch die äußere Erfahrung geht, sondern durch die Welt des Geistes"^. Der junge Pfarrer, der den Ertrag des Studiums organisch mit der praktischen Erfahrung verschmelzen sollte, findet bei den Bedrängnissen der amtlichen Aufgaben infolge des skizzierten lückenhaften Unterbaues da­

zu oftmals nicht den organischen Weg und ersetzt die lebendige Verschmel­

zung zweier echter Substanzen durch die äußere Verkittung zweier Ersatz­ stoffe: An die Stelle organisch gewachsener lebendiger Theologie tritt eine mit der Zeit nur mehr beruhigte und ausgebaute Reminiszenz, an die Stelle der Gemeindeerfahrung tritt infolge der Unausgewachsenheit der eigenen Substanz eine Sammlung von aufgegriffenen praktisch möglichen

und verwendbaren Gedanken und Popularisierungen. Beim älteren Pfarrer kommt oft nur noch mehr Übung hinzu und freilich ein gewisses Maß von

allmählich reifender wirklicher Erfahrung, das aber oft nicht alle die Tiefen durchdringt, die man einst im Studium und in aufbauenden Jahren zu ermessen begonnen hatte. Diese Charakterisierung erscheint nur dann zu einseitig, wenn man ent­ weder durch den verbreiteten Zustand schon zu anspruchslos geworden

ist, oder überhaupt von einer aus der Fülle (nicht nur aus dem Eifer I) ver­ kündenden Kirche keinen Begriff mehr hat, oder keinen Ausweg weiß und nicht sieht, daß bei jedem Prediger ein beschreitbarer Weg von der unzu­ länglichen Gegebenheit zur höchstmöglichen Verwirklichung seiner Fähig­ keiten führt: ein Weg, zu dessen Ausweis diese Untersuchung einen Beitrag

liefern möchte. Auf allen drei Stufen ist die Not ihrem Wesen nach dieselbe und liegt in

zweierlei Richtung. Einmal fehlt weithin ein Jnsein und damit eine Be­ wegungsmöglichkeit in der Welt der geistlichen Wirklichkeiten. Sodann fehlt die Schulung im Gebrauch dessen, was man hat, und im Heraufholen des vorhandenen Besitzes. Die Homiletik hat weithin den Fehler gemacht, nur an die Schulung zu denken und zu übersehen, daß die Einführung in den Zusammenhang zwischen dem Erfahren der Welt geistlicher Wirklichkeiteü und der Predigterarbeitung das Wichtige und eigentlich

Entscheidende ist. In vieler Hinsicht erleichtert sich die Schulung wesent­ lich, wenn ein wirkliches Jnsein in der Substanz gewonnen ist. 13 Erich Schick, Der Christ als Seelsorger. Berlin 1936. S. 49.

Die Grundsätze der Untersuchung

15

Die konkrete Not tritt nun mit allen geballten Schwierigkeiten auf ein­ mal auf, wenn die Arbeit an der einzelnen Predigt beginnt, bildlich gespro­

chen in dem Augenblick, in dem der Prediger sich an den Schreibtisch setzt. Hier einzusetzen ist zunächst ganz einfach Pflicht der Liebe. ES ist un­ möglich, den jungen Menschen in dieser tiefen Not mit ihrem Schmerz

und ihrer Ratlosigkeit allein zu lassen. Es käun aber hier nur dann geholfen werden, wenn die Homiletik es unternimmt, neben ihren grundsätzlichen Erörterungen vom Wesen der

Sache auö oder in ihr zugleich, sämtliche praktischen Probleme der Arbeit

an der Predigt ganz konkret vom Standort deö Predigers auö zu bearbeiten. Das müßte auch dann gewagt werden, wenn man dazu von

der Höhe grundsätzlicher theologischer Arbeit in die Niederung praktischer Ratschläge herabsteigen müßte. Zn Wahrheit aber handelt es sich hier um einen sehr wesentlichen und fruchtbaren Ansatzpunkt, dessen Bedeutung weiterhin herauözukehren sein wird.

II. Die Grundsätze der Untersuchung

t. Das Subjekt des Predigers als Ausgangspunkt und ständiger Orientierungspunkt Predigt ist Verkündigung der Wirklichkeit Gottes. Sie hat damit

— von der Gemeinde her abgesehen — zwei Pole: die Wirklichkeit Gottes und den jeweiligen Menschen, der diese verkündigt. Diese Pole stehen nicht gleichartig einander gegenüber. Gott ist der

Schöpfer und Träger aller Welt, der Mensch, der ihn verkündigt, ist einer irgendwo in dieser Gotteöwelt. Jede Aussage ist falsch, die diese beiden

Pole irgendwie auf gleiche Ebene rückt. Die Gegenüberstellung Schöpfer und Geschöpf, und was sich aus ihr ergibt, ist hier die alleinige Möglichkeit

der Aussage. ! Unter dem Gewicht dieser Tatsache hat die homiletische Erörterung die gegenseitige Zuordnung der beiden Pole zu wahren. Die Wirklichkeit Gottes ist durchweg das Tragende und Ermöglichende. Soweit das beachtet bleibt, hat die homiletische Besinnung grundsätzlich jede Möglichkeit der Reihen­

folge, der Anordnung, des Aspektes usw. frei. Soweit das versäumt wird, kann der Fehler durch keine formale Vorordnung deö theozentrischen, objektiven usw. Momentes aufgehoben werden. Da aber die Sache die Form mitbestimmt, weist die homiletische Arbeit des Protestantismus nun doch auch im Gang der Erörterung bei aller

16

Einleitung

Mannigfaltigkeit und tiefgreifenden Verschiedenheit eine einheitliche Linke auf: die Erörtemng geht ganz überwiegend den Gang, daß sie mit der Wirk­

lichkeit Gottes oder den auö ihr abgeleiteten kirchlichen Gegebenheiten wie Offenbarung, Wort, Kultus als Anbetung Gottes und Ähnlichem ein­ fetzt und fortschreitend von ihr aus erörtert". Die Gotteswirklichkeit ist mit Recht überall als das begründende und ermöglichende Moment der Predigt festgestellt. Die sachliche Unbestreit­ barkeit dieser Tatsache und vor allem daS Bestreben, sie zu wahren, führt aber dann praktisch doch dazu, daß das Subjekt des Predigers sozusagen zunächst von ihr auö in Betracht kommt, nämlich der Prediger als -der Beauftragte, der Glaubende, der nun verkündigt, usw. Die Magnetnadel

ist mit starker und erfolgreicher Treue ständig auf den Pol aller Pole auS-

gerichtet. Dabei wird freilich in vielen Arbeiten (vgl. oben S. 11) daS menschlich

subjektive Moment in Betracht gezogen. ES ist nicht vergessen, daß die Ein­

ordnung des Predigtamtes in die Gemeinde neben dem theologischen auch ein anthropologisches Moment hat. Dem Subjekt widerfährt ferner weitgehende Gerechtigkeit in der Erörterung der Beredsamkeit und in der Feststellung und Bearbeitung der Tatsache, daß der Prediger von der entsprechendm Überzeugung getragen sein muß. Sch leier macherS „Kräftigkeit des reli­ giösen Bewußtseins" ist ja eigentlich «ine grundsätzliche Verbindung des subjektiven mit dem objektiven Moment, aus der sich in der homiletischen Arbeit weitgehende Berücksichtigung, wenn auch nicht grundsätzliche Ver­ selbständigung des subjektiven Gesichtspunktes ergeben hat. Viele Homi­ letiken bringen vorzügliches Material in diesem Sinne, wobei ganz be­

sonders Binet und Bassermann noch heute eingehenden und liebevollen Studiums wert sind. Dennoch kommt das Subjekt deö PxedigerS in der bisherigen homileti­ schen Literatur nicht voll zu seinem Recht. Auch Schreiner und Trill14 Als Beispiele mögen genügen: Tri Ilhans, 1. Kap. Di« Predigt als Ausrichtung des göttlichen Wortes. — Schreiner, 1. Teil: Das Wort Gottes. — Kleinert,

1. Kap.: Der Stoff an sich §8, Das göttlich« Wort. — Schweizer, $ 68: Dl« kul­ tische Wurzel des Homiletischen muß di« Grundlage bleiben. — Bassermann, 2. Teil: Der Kultus. — Beyer, (1860) 1. Buch: Die Predigt als Wort Gotter. —

Krauß, 1. Teil: Prinzipiell« Homiletik. 3. Kap. Von der Predigt als Kultusbestandteil. — Auch da, wo formal anders begonnen wird, ist, wie diese Beispiele zeigen, der sach­

liche Ausgangspunkt überall, aufs Ganze gesehen, der gleiche, und auch wo er, wie bei Bassermann und Krauß, das Wesen der Rede ist, ist er eine objektive Gegebenheit und

wird sogleich in di« kultische Bestimmtheit einbezogen.

Die Grundsätze der Untersuchung

17

Haas, die, wie erwähnt, die Not gesehen haben und in Angriff nehmen, bleiben doch noch in den Anfängen ihrer Überwindung. Denn erstens hat jede objektive Frage der Predigt für den, der Predigt arbeitet, zugleich eine grundsätzliche und umfassende subjektive Seite. Zweitens ist der Prediger nicht nur ein Mensch, bei dem man gleichsam

selbstverständlich Glauben voraussetzen und fordern kann, daß er christliche Persönlichkeit sei und alles, was damit nicht übereinstimmt, überwinde. Sondern der Prediger ist, so wie er ist, ein Mensch, der mit seiner ganzen

Persönlichkeit, auch dem nicht überwundenen Unchristlichen, seine Predigt arbeitet. In diesem Sinne ist das Problem des Subjektes mit seiner lebendigen Geschichte nicht genügend berücksichtigt. Dieses Problem des Subjektes des Predigers hat aber in den letzten Jahrzehnten eine ungeahnte Kompliziertheit und Erweiterung er­ fahren, einmal durch die eingangs erwähnte Situation der Gegenwart, deren Ubergangöcharakter der Bedeutung des Subjektes ein ganz neues Gewicht gibt sodann durch die unerwartete Bereicherung, die das Wissen um den Menschen und die Zusammenhänge des Geschehens in ihm durch die

neuere seelenkundliche Forschung erfahren hat. Was bisher notfalls als Zweites getan werden konnte, ist damit jetzt zu einer nicht mehr tragbaren

und in ihren Folgen weithin spürbaren Lücke in der Homiletik geworden. Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, zur Ausfüllung dieser Lücke dm Ansatz zu finden und mit ihr einen Anfang zu machen. Sowohl die geistes­ geschichtliche Lage wie der Forschungsstand der Psychologie lassen end­ gültige Ergebnisse noch nicht zu. Aber es ist soviel geschehen und die Not ist so dringend, daß ein Anfang gewagt werden muß. Diese Untersuchung nimmt deshalb ihren Ausgang nicht im Evangelium

(bzw. in der Wirklichkeit Gottes, im Worte Gottes u. ä.), sondern im Sub­ jekt der Predigt, dem Prediger. Es wird hier Ernst gemacht mit dem Be­

mühen, die Probleme der Predigt in straffer Bezogenheit auf den

Prediger zu erörtern und alle subjektiv (nicht subjektivistisch!) gerichtete Einstellung und Gefahr zu wagen, die damit verbunden ist. Der Prediger als Subjekt der Predigt ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern ständig bleibender Orientierungspunkt. Wir glauben, mit der so angelegten

Untersuchung einen grundsätzlich ebenso sachlichen, ebenso umfassenden und ebenso ertragreichen Gesichtspunkt herauszustellen, wie es eine am Evan­ gelium orientierte homiletische Arbeit tut. Die Untersuchung ist also grund­ sätzlich nicht als etwa erweiterter zweiter Teil der Homiletik verstanden, der

ohne einen vorausgehenden ersten nicht möglich wäre, sondern als sachlich 2

haendl er, Vie predigt

18

Einleitung

gleichwertiges Beobachtungsfeld, das im Prinzip alle Probleme der Homi­

letik von seiner Orientierung aus ebenso gründlich und vollständig be­ handeln kann, wie eS die Orientierung am Evangelium tut. Im Protestantismus herrscht freilich die Meinung vor, daß man über die

Predigt Entscheidendes zuerst vom Evangelium her sagen müsse, und daß das Wesen der Predigt von da aus sich bestimme. Sie ist aber nicht von der

Ganzheit des Menschen aus geformt, sondern vom überwiegend und ein­

seitig rational gesehenen Menschen aus. Wo der Mensch wesentlich Denken ist, kann ein wirkliches Verstehen eines Objektes nur vom Denken auö als

möglich gelten, weil er erst denkend das Objekt klar erfassen muß, ehe er

mit ihm arbeiten kann.

Daß diese im Protestantismus vorherrschende Auffassung aber einseitig ist, beweist zunächst schon die Wirklichkeit der Gesamtheit der Prediger^ ES gibt unter ihnen eine große Zahl solcher, die wenig systematische Denk­

fähigkeit haben. Der Grenzfall, dem jedoch viele nahekommen, wäre «in

Prediger, der überhaupt nicht systematisch denken kann. Wenn daS auch ohne weiteres als Manko angesehen werden muß, etwa ebenso wie wenn

jemand völlig unpraktisch ist, so wird doch niemand daraus folgern wollen, daß ein Theologe deswegen nicht predigen könne und dürfe. Wir haben

sogar Fälle, in denen auf Grund anderer Kräfte aus solchen Menschen gute und weithin wirkende Prediger werden. Hier liegt folgender Tatbestand vor: Sicher ist, daß für «inen solchen

Menschen das Wesen der Predigt sich nicht durch «ine grundsätzliche Erörtemng über das Wesen der Predigt erschließt. Trotzdem kann nicht ge­

sagt werden, daß er das Wesen der Predigt nicht erkennen, geschweige denn

nicht erfassen könne. Er kann z. B. eine sichere Unterscheidungsmöglichkeit für die Verschiedenheit von Predigt und Vortrag haben und kann gege­

benenfalls sicherer als mancher, der gedanklich eine einwandfreie Klarheit über das Wesen der Predigt zu besitzen meint, ein echter Prediger sein und vor unechter Predigt bewahrt bleiben. Der Grund ist, daß er ebenfalls Wege hat, um das Wesen der Predigt zu erfassen, nur nicht im Rationalen.

Ihm geht eö nicht an der grundsätzlichen Überlegung, sondern an der kon­

kreten Arbeit auf. Der Ertrag der Erkenntnis formt sich ihm nicht im lo­ gischen Ausdruck, sondern durchdringt sein gelebtes Sein vom Instinkt, von der Intuition her. An und in der Arbeit erfährt und „erkennt er daS

Wesen der Sache. Hieran wird weiter deutlich, daß auch der systematisch Denkende, wenn

er seiner Erkenntnis sicher werden, und wenn sie sich seinem Wesen assimi-

Die Grundsätze der Untersuchung

19

lieren soll,im Grunde den gleichen Weg gehen muß. Alle echte Erkennt­ nis kann wohl den Weg über die ratio gehen, aber sie kann nicht rational bleiben, weil die ratio nur eine untergeordnete Hilfe zum wesen­

haften Erkennen ist. Man muß mit seinem ganzen Wesen in die zu erken­ nende Wirklichkeit hineingehen, wenn man deren Wesen erfassen will.-

Schlatter stellt mit Recht die Tatsache heraus, von wie grundlegender Bedeutung es ist, daß wir sehen, ehe wir eine Theorie des Sehens haben, und keiner Erkenntnistheorie bedürfen, um zu rotffcn15. Erkennen geht also

weit über rationales Verstehen hinaus, und dieses echte und eigentliche Er­ kennen als Berührung des Wesens des Menschen mit dem Wesen des zu Erkennenden ist dem unsystematischen Menschen ebenso wie dem systematischen möglich und diesem nur, wenn sein rationales Denken in sein Gesamtwesen organisch eingeordnet ist. Mit dem Gesagten ist nicht ein Widerspruch gegen rationale ErkennMiö

überhaupt festgestellt, auch nicht gegen die selbstverständliche Tatsache, daß ein vom Evangelium her unternommener Aufriß der Predigtlehre über daö rationale Verstehen hinaus wesenhaft sein kann, und auch nicht gegen dm Wert eines systematischen Erfassens des Wesens der Predigt. Sondern imr soweit muß der Widerspruch ausgesprochen werden, als letzteres rational

eingeengt verstanden wird. Eben das aber ist im Protestantismus weit­

hin der Fall, mehr noch als in der Literatur in rationalisierten Köpfen jüngerer und älterer Theologen. Wo diese Einengung nicht stattfindet, voll­ zieht sich in und unter der gedanklichen Erörterung in einer tieferen Schicht das wesenhafte Erfassen. Wenn aber die Möglichkeit, das Wesen der Predigt von der konkreten Arbeit her mitzuverstehen, abgelehnt wird, so ist das «in sicheres Zeichen dafür, daß rationale Einseitigkeit vorliegt. Auf Grund des Gesagten schkckm wir der Untersuchung der Predigt vom

Prediger aus auch nicht eine orientierende Definition unserer Auffassung vom „Wesen der Predigt" voran. Es ist verständlich, wie weit das dem rationalisierendm Irrtum Vorschub leisten würde. Wir hoffen, daß aus der Erörterung unsere Auffassung vom Wesen der Predigt deutlich genug her­ vortreten wird, was dann wiederum ein Beweis für die Möglichkeit und Richtigkeit des Ausgangspunktes wäre.

Damit zusammenhängend beginnt die vom Subjekt der Predigt aus­ gehende Untersuchung auch nicht im engeren Rahmen mit einer Erörterung

über die Frage, ob theologisch gesehen der Prediger oder die Gemeinde bzw. Kirche Subjekt der Predigt ist. Was von C. I. Nitz sch darüber herauS15 Adolf Schlatter, Das christl. Dogma, t. Aust. Calw u. Stuttgart 19tt, S. 45.

L*

20

Einleitung

gestellt wurde, ist Eigentum der Theologie geworden und wird auch im fol­ genden implizite zu seinem Recht kommen, daß nämlich das theologische Subjekt der Predigt über den Einzelnen hinaus die Kirche ist. Die Schau des Predigers in der Ganzheit des Seins kann das Gewicht dieser

Erkenntnis eher verstärken als abschwächen. Es hängt aber für die Unter­ suchung nichts von einer vorangeschickten Erörterung über das theologische

Subjekt der Predigt ab, wohl jedoch sehr viel von der Durchführung der Erkenntnis, daß der Prediger mit seiner Predigt nicht auf sich allein steht,

sondern in der Kirche gründet und auö ihr schöpft; wobei weiterhin die Schau der Kirche innerhalb der Ganzheit des Seins von entscheidender

Bedeutung ist. Neuerdings hat Fendt die Wendung vom ,/rktuosen Subjekt", die eben­

falls auf Nitzsch zurückgeht, in seiner Praktischen Theologie wieder aufge-

nommen (Fendt a. a. O. 8 6). 2. Der psychologische Charakter der Untersuchung

Neben dem ersten Grundsatz, daß vom Subjekt der Predigt ausgegangen

und dieses als Orientierungspunkt ständig beibehalten wird, steht als zweiter durchgehender Grundsatz der, daß in der Untersuchung wesentlich psychologische Gesichtspunkte zu ihrem Rechte kommen. Rolle und Recht der Psychologie in der theologischen Arbeit sind auch heute noch umstritten. Zwar meint Fendt, daß es nur noch „ein paar Unentwegte" gebe, die die

Psychologie für die Theologie ablehnen und daß in der Praxis sowohl der

„radikaltheologische" Standpunkt wie der „radikalpsychologische" Stand­ punkt gegenseitig voneinander wüßten, daß sie da sein müßten und unent­ behrlich seien, und daß der radikaltheologische Standpunkt „völlig auf beste Erfüllung der psychologischen Pflichten aus" fei16. Wir können doch die Situation nicht so günstig sehen. Man trifft immer wieder auf Theologen,

die der Psychologie noch mit starkem Mißtrauen gegenüberstehen und ihr gegenüber das Empfinden eines Fremdkörpers in der Theologie nicht los werden. Das gilt schon von der grundsätzlichen Haltung, und noch mehr gilt, daß die wirkliche Bereitschaft und erst recht die Kenntnis und das Können zur Verwertung psychologischer Erkenntnisse weithin fehlen.

Zungö Satz „die Pfarrer teilen die allgemeine Abneigung gegen psycho­

logische Probleme und unglücklicherweise auch die allgemeine psychologische Unwissenheit"*?, besteht weithin zurecht. 16 Fendt, a. a. O. S. 95. 17 C. G. Jung, Psychologie und Religion. Zürich u. Leipzig 1940, S. 81.

Die Grundsätze der Untersuchung

21

Diese ablehnende Haltung hat zwei verschiedene, wenn auch oft im

einzelnen Subjekt miteinander verbundene Gründe. Es ist sowohl gvmeint, daß Psychologie in einer echten Kirche unmöglich, wie auch, daß sie

in ihr unnötig sei. Die Meinung von der Unmöglichkeit geht auf die protestantische

Grundthese des sola fide zurück, aber nicht in ihrem eigentlichen Sinn, sondern sie mißverstehend.

Dieses Mißverständnis des sola fide liegt überall da vor, wo bewußt oder unbewußt aus der Erkenntnis, daß der Mensch vor Gott sein Heil nicht durch sein Tun (seine „Werke") erwerben könne, der Satz gemacht

wird, daß er zum Reifen und zur Stärkung seines Glaubens nichts tun solle: Ein Satz, der in der Pfarrerschaft (und dadurch vielfach auch in den Gemeinden) wirksamer ist, als man erwarten sollte. Statt daß der Mensch

sola fide in der Tätigkeit des Empfangens und in der getragenen und ge­

leiteten Aktivität lebt, lähmt er seine innere Aktivität für Reifen und Wachsen seines Glaubens durch die Furcht, mit menschlichem Wirken ein­ zugreifen in die Alleinwirksamkeit Gottes. Da das geschöpfliche Geschehen

sich aber nicht betrügen läßt, folgt der Rückschlag auf dem Fuße: das doch unvermeidliche Handeln gleitet in die unkontrollierten Sphä­ ren ab. Im gleichen Maße nämlich, in dem das Mißverständnis des

sola fide nur aus der Rationalisierung des Protestantismus entstehen konnte, hat der Protestantismus das sola-fide-Problem theoretisch-dogmatisch ebenso gewissenhaft gepflegt wie praktisch vernachlässigt. Im prakti­ schen Handeln der evangelischen Gemeinden ist der Synergismus

genau so im Gange wie in der katholischen Kirche. Das ganze sola-fide-Problem bedürfte noch einer allgemein gehörten gründlichen Ab­

arbeitung seines Mißverständnisses in der evangelischen Kirche und einer weitgehenden und ins einzelne gehenden seelsorgerlichen Klärung (auch in

der Predigt) über die Notwendigkeit seelischer Aktivität eben aus dsm sola fide heraus". Es gibt einen falschen Synergismus, der Gott und Mensch auf gleiche Stufe stellt und das Zusammenwirken als eine Art Ver­ einbarung sieht. Es gibt aber auch einen echten (den biblischen) „Synergis­

mus", in dem das Geschöpf seine vom Schöpfer gegebenen Kräfte diesem hingibt und in seinem Dienste aus seiner Kraft heraus (das ist das „syn")

aktiviert sowohl zum Heil der andern wie zum eigenen Heil. Es ist auch eine theologische und nicht nur eine „psychotherapeutische Erkenntnis, daß nur eine Höchstleistung an religiös-sittlicher Kraft die Triebausbrüche 18 Schreiner, a. a. £>. S. 140.

22

Einleitung

übermächtigen

oder

schicksalhaft

seelischen

Erkrankungen

vorbeugen

sann"19. Damit würde auch die Befürchtung ihre Bedrohlichkeit verlieren, daß

durch psychologische Arbeit die objektiven Gegebenheiten des Glaubens auf­ gelöst oder verflüchtigt werden zu subjektiven seelischen Vorgängen. Zu­

nächst einmal ist das Geschehm in sich doch, waö eö ist, einerlei wie man darüber denkt. Und sodann ist der Schritt des gründlichen Eingehens in die seelischen Vorgänge oft gerade die Voraussetzung für ein neues und tie­

feres Erfassen des Wirkens Gottes. Die Meinung von der Unmöglichkeit der Psychologie in der Kirche bleibt so oder so in theoretischen Erwägungen

stecken, und die Wirklichkeit geht, wo sie die Herrschaft gewinnt, über sie hinweg ihren unbekümmerten Gang — im psychischen Geschehen.

Daß Psychologie in der Kirche, d. h. bei rechtem Glauben, unnötig sei, ist eine aus entsprechender Haltung entstehende Auffassung, und sie meint

entweder, daß grundsätzlich, wenn Glaube da sei, dieser alles ohne „Hilfe" der Psychologie schaffen müsse, oder daß der Betreffende persönlich in

seinem Falle sie nicht nötig habe.

Die erste Auffassung übersieht, daß psychologische Arbeit in gleicher Linie steht wie Gebet, sittliche Anstrengung, Erkenntnis der Glaubenswahrheit

usw., weil all das mit geschöpflich gegebenen Kräften Gott zu finden und ihm zu dienen sucht. Die zweite ist entweder daS falsche Mißtrauen, daß

Psychologie nur für Kranke sei (s. später), oder eine unbewußte Flucht vor

einer Durcharbeitung des ganzen Seins, die man gerade sehr nötig hätte". Sie hängt in der Regel mit Intellektualisierung zusammen.

Neben der Verdächtigung, die sich in ihrer grundsätzlichen Schärfe immer­

hin auf vereinzelte Theologen beschränken mag, steht mit verhängnisvoll«« Wirkung die Gleichgültigkeit vieler Theologen, die die Psychologie grund­ sätzlich gelten lassen, aber in concreto sich so wenig um sie bemühen, daß

die Bedeutung ihrer grundsätzlichen Zustimmung annulliert wird. Ebenso verhängnisvoll ist die Halbkenntniö derjenigen, die entweder die heutige

Psychologie nicht kennen und dann meistens entsprechend ihrer anfänglichen Einseitigkeit die gesamte Psychologie gleich Sexualtheorie setzen, oder die sie

nur literarisch und damit theoretisch kennen, und bei denen sie deshalb im Grunde auch in den bedeutungslosen Regionen des prinzipiellen Kennens

und Anerkennens stecken bleibt. 19 Emil Ott, Di« Triebentfesselung der Gegenwart und di« Seelsorge. In: Pasto­ raltheologie, Juli 193t. 10 Vgl. S. 36.

Die Grundsätze der Untersuchung

23

Von Theologen hört man andererseits gelegentlich die Meinung, Psy­ chologie interessiere sie zwar intensiv, und sie würden sich gern mit ihr ein­ gehend befassen. Sie halten «S aber für ihre selbstverständliche Pflicht, dieser Neigung zu widerstehen, weil sie die theologische Arbeit alö die

„eigentliche" und zentrale empfinden. Dazu ist zu sagen, daß Neigung nur dann unheilvoll ist, wenn sie ein regelloses und zielloses Sichpreisgeben an Launen deö Augenblicks ist. Eine immer wiederauftauchende Nei­ gung jedoch ist ein Hinweis, den wir als Geschöpfe vom Schöpfer

her beachten sollen. Es kann sich ereignen, daß sie die eigentliche, vielleicht einzige Möglichkeit ist, uns von einem mit seelischen Werten verbundenen

dressierten Können zu gewachsenem echtem Wissen zu führen. Damit, daß Theologie die zentrale Wirklichkeit zum Gegenstand ihrer Arbeit macht, ist

keineswegs gesagt, daß der Theologe nur auf dem Wege der Theologie zur zentralen Wirklichkeit kommen könne. Die Tatsachen beweisen, daß man

durch Theologie die mit ihr gemeinte Wirklichkeit ebenso verfehlen wie finden kann.

Um das grundsätzliche Verhältnis theologischer und psychologischer Ar­ beit zueinander zu verdeutlichen, gehen wir einen Schritt weiter zurück. Eine Untersuchung gewinnt wissenschaftlichen Charakter nicht durch ihren

Gegenstand, sondern durch ihre Methode. Man kann ein wissenschaftliches Problem unwissenschaftlich behandeln, und man kann ein Objekt, das als solches mit Wissenschaft nichts zu tun hat, exakt wissenschaftlich bearbeiten, wie etwa Dichtung, Musik, Phantasie. Das Gleiche gilt von der theologischen Arbeit. Theologisch wird eine

Untersuchung nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Methode. Man kann über ein „theologisches" Objekt, etwa den Glauben oder ein dogmatisches Problem, untheologisch phantasieren, und man kann ein Ob­ jekt, das an sich mit Theologie nichts zu tun hat, etwa den Krieg, das Volks­ lied, die Bedeutung der Erholung für den Menschen, theologisch bearbeiten.

Theologisch bedeutet, daß ein Gegenstand wissenschaftlich untersucht wird in seiner Bezogenheit auf die Wirklichkeit Gottes. Da diese Wirklichkeit Gottes alles betrifft, so kann auch alles theologisch untersucht werden. Entsprechend gilt: psychologisch wird eine Untersuchung nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch chre Methode. Man kann über „psychologische"

Objekte, etwa die Gesetze und Bahnen des seelischen Geschehens oder über seelische Eigenschaften wie Angst, Zorn, Liebe, Wahrhaftigkeit sehr un­ psychologisch phantasieren (auch dogmatisieren!), und man kann ein Objekt,

das an sich mit Psychologie nichts zu tun hat, etwa eine Blume, eine Wetter-

24

Einleitung

katastrophe, die Geburt eines Kindes psychologisch bearbeiten. Psycholo­ gisch bedeutet, daß ein Gegenstand wissenschaftlich untersucht wird in seiner Bezogenheit auf die Wirklichkeit der Seele. Da diese Wirklichkeit alles be­

trifft, so kann auch alles psychologisch untersucht werden.

Es versteht sich von selbst, daß „Seele" hierbei nicht ontisch und nicht

ontologisch verstanden

und weder das ontische noch das

ontologische

Problem der Seele berührt wird. Seele ist hier psychologisch verstanden als Inbegriff der psychischen Kräfte des Menschen, der Gesetze ihres

Ablaufs und der Beziehungen des psychischen Geschehens. Entscheidend ist die Tatsache, daß die genannten Kräfte und ihre Beziehungen da sind, und

man sich dahin verständigt hat, sie mit dem Gesamtbegriff Seele zu be­

zeichnen. Der Begriff ist hier also allgemein verstanden. Auch die von Jung voll­

zogene Unterscheidung zwischen Psyche und Seele21 steht hier nicht zur

Debatte. Seele im allgemein psychologischen Sinne im Gegensatz zum ontischen und ontologischen entspricht hier mehr dem, was Jung Psyche nennt, greift aber über Psyche als Gegenspiel zur Seele wiederum hinaus. Wichtig

ist die die Seele in das Gesamtleben des Menschen wirksam einordnende For­ mulierung von Hans Künkel

„Organ des Schicksals im Men-

schen"22. Das ist ein Standpunkt, „der der gesamten Seelenlehre eine

neue Richtung gibt... Wir sehen ... dieses äußere Korrelat der Seele... nicht im Leib, sondern im Schicksal"22.

Es ist ein häufiger Vorgang im Leben, daß dasselbe Geschehen unter zwei

verschiedenen Gesichtspunkten angesehen werden kann und muß, und daß beide Beurteilungen einheitlich um eines gemeinsamen Zieles willen er­

forderlich sind. Ein sehr alltägliches Beispiel dafür ist etwa das Kochen der Speise auf dem Herd. Den darin sich vollziehenden Vorgang können wir

nach dem durch das Kochen entstehenden Geschmack und Nährwert beur­ teilen. Wir können aber auch denselben Vorgang nicht statt dessen, sondern außerdem beurteilen nach dem chemischen Prozeß, dem die Speise während

des Kochens unterliegt. Der eine Vorgang des Kochens schafft an demselben Material sowohl den Nährwert wie den chemischen Prozeß. Beides wird im

Interesse des Menschen untersucht und beurteilt, beides steht trotz seiner

Gesondertheit in gewissen übergreifenden Zusammenhängen, indem z.B. der 01 C. G. Jung, Psychologische Typen. 5.—6. Tausend. Zürich, Leipzig, Stuttgart 1921. S. 661 ff. 22 Hans Künkel, Der furchtlose Mensch. Jena 1938. S. 13. 23 Edda. S. 15/16.

Die Grundsätze der Untersuchung

25

chemische Prozeß den Nährwert herbeiführt. Beides gehört zusammen und ist doch voneinander getrennt. Der gleiche Vorgang wird von verschiedenen

Seiten her angepackt. Diese Möglichkeit und Notwendigkeit mehrseitiger Beurteilung liegt nun

auch für Geschehnisse auf geistigem Gebiet vor. Jedes Geschehen, das mit der Seele des Menschen zusammenhängt und in Beziehung zu seinem Glauben steht, verfällt demnach gar nicht den Span­

nungen der Streitfrage, ob es theologisch „oder" vorwiegend theologisch bzw. psychologisch zu verstehen sei, sondern es hat von vornherein zwei Seiten seines Wesens: Es ist theologisch und zugleich psychologisch zu verstehen. Glaube ist ein existentiell entscheidendes Geschehen im Menschen, welches

seine Stellung zu Gott bestimmt. Insofern ist Glaube eine eminent theo­ logische Angelegenheit und unterliegt theologischer Beurteilung. Glaube ist aber zugleich ein Geschehen in der Seele des Menschen, das, unbeschadet

seiner metaphysischen Beziehung, in dieser und mit ihren Kräften sich voll­

zieht. Und niemand wird leugnen, daß echter Glaube den seelischen Zu­

stand des Menschen wandelt, also beeinflußt, Geschehnisse in ihm her­ vorruft und ihn ändert. (Was übrigens unechter Glaube genau ebenso wirk­

sam nur mit umgekehrten Vorzeichen tut.) Glaube ist also zugleich eine psychologische Angelegenheit und der psychologischen Untersuchung zu­ gänglich. Die gleiche Doppelheit der Beurteilung ist für jeden beliebigen Gegen­ stand möglich und vielfach notwendig. Eine Blume im Garten ist einer­ seits Teil der Schöpfung, sie untersteht also der theologischen Beurteilung.

Ich kann sie als Werk Gottes beurteilen, ich kann ihre religiöse Wirkung auf einen frommen wie auf einen unfrommen Menschen untersuchens Dieselbe Blume steht ebenso umfassend unter psychologischem Aspekt, da

sie auf die Psyche des Menschen eine psychische Einwirkung ausübt. Ich

kann also etwa feststellen, daß die schöne Blume in der Regel auf den Men­ schen erhebend wirkt, die unschöne drückend. Und schließlich zeigt sich an dem

eben Gesagten, wie weitgehend die theologische und die psychologische Be­ arbeitung ineinander übergreifen, und daß eine saubere Scheidung nur

theoretisch, nicht praktisch vollzogen werden kann. Die innere Freiheit zu einer furchtlosen und fruchtbaren Verbindung theologischer und psychologischer Arbeit gewinnt nur der, der die

grundsätzliche Unerläßlichkeit beider nebeneinander erkennt. Dazu

sich

durchzuringen ist Heutigentages eine Aufgabe für jeden Theologen, von der

26

Einleitung

sehr viel für ihn und sein Wirken abhängt. Damit verbunden ist die andere Aufgabe, daß die Möglichkeit der Grenzüberschreitung von beiden Seiten

her erkannt und überwunden wird. Grenzüberschreitung seitens der Theologie liegt überall da vor, wo

der Psychologie Recht und Notwendigkeit ihrer Arbeit bestritten wird, es sei

grundsätzlich oder praktisch, sowie da, wo die Theologie glaubt, die Psycho­ logie ersetzen zu können. Es gibt Macht des Geistes (pneuma) und Kräfte

der Seele. Das ist zweierlei. Theologie soll die Geistesmacht bezeugen, aber die Seelenkräfte nicht leugnen, darum muß sie auch die Gesetze ihres

Geschehens kennen und alö wirklich anerkennen und ihre Erkenntnisse und

Hilfen verwerten. Grenzüberschreitung seitens der Psychologie ist ebenfalls naheliegend und

vorhanden, weil der Psychologe nicht arbeiten kann, ohne die Ganzheit des Menschen in Arbeit zu nehmen. Daß dabei seine eigene religiöse Überzeu­

gung mitwirkt, ist nicht in menschlicher Schwäche begründet, sondern wesen­ haft notwendig^. „Ein Arzt und gar ein Seelenarzt, der von der letzt­ lich nur metaphysisch zu fassenden Sinngebung des Lebens nicht überzeugt

ist, wird mit allen Mittelchen — den „Methoden" und „Systemen" —

ein miserabler Flickschuster bleiben. Die Nöte, denen wir bei der Behandlung von Neurosen begegnen, verlangen es, daß wir uns mit diesen Fragen ernst auseinandersetzen, denen gegenüber die früher kompetenten Kon­

fessionen und Pfarrer leider vielfach versagen"25. Psychologie ist sogar um so größer und um so heilkräftiger, je stärker der

Psychologe mit seiner weltanschaulichen Überzeugung, d. h. mit den Kräften seiner metaphysischen Rückverbindung hinter seiner Arbeit steht — genau so

wie Theologie um so wirksamer ist, je tiefer sie mit Psychologie verbunden ist. Auch die kn sich beste Psychologie kann, wenn dem Psychologen die meta­

physische Rückverbindung fehlt, der tiefsten Konflikte des Menschen letztlich nicht Herr werden. Jeder vermag nur soweit zu helfen, wie er sieht. Wer die

religiösen Fragen nicht sieht, kann in ihnen nicht helfen, er muß sie mißver­

stehen als Symptome anderer Probleme. Und wer sie sieht, ist immer noch gefragt, wie tief er sie erkennt. Wenn wir der Überzeugung sind, daß das

Christentum die tiefste und eigentliche Deutung und Bewältigung des Seins ist, werden wir bei gleicher psychologischer Fähigkeit und Erfahrung denjenigen Psychologen für den erfolgreichsten ansehen, der am unmittelbarsten 24 Vgl. Erich Schick, „Psychologie und heiliger Geist", in Schriftenreihe der Euro­ päischen Arbeitsgemeinschaft: Arzt und Seelsorger. Heft l. Nürnberg-Bern. S. 33 ff. 25 G. R. Heyer, Praktische Seelenheilkunde. München 1935, S. 61/62.

Die gegenwärtige psychologische Arbeit

27

im Christentum wurzelt. Je tiefer «in Psychologe metaphysisch fundiert ist, um so klarer wird er erkennen, daß die den Menschen tragenden Wirklich­ keiten selbständige Macht sind und nicht identisch mit den in ihm wirkenden Seelenkräften, auch nicht deren Projektion. Im echten Erfahren beider Mächte, der Religion und der Psychologie,

wird die Gefahr illegitimer Grenzüberschreitung aufgehoben und zu frucht­ barer Verbindung gewandelt. Die Freiheit und Ehrfurcht vor der Grenze kann

sowohl seitens des Theologen wie seitens des Psychologen nur durch Einsicht und Reife errungen werden, und der Grad ihrer Verwirklichung hängt vom Grad dieser Einsicht und Reife ab. Der Theologe hat nicht die Aufgabe, der Psychologie den Rücken zu kehren, sondern dahin zu wirken, daß schlechte

Psychologie durch gute überwunden wird. Der Psychologe fördert seine Ar­ beit nicht, wenn er der Theologie den Rücken kehrt, sondern wenn er «in echtes und tiefes Verständnis dessen sucht, was gute Theologie meint.

Fruchtbare Arbeit wird auf beiden Seiten um so mehr geleistet, je mehr jeder einzelne für sich persönlich sich für verpflichtet hält und danach strebt, Mißtrauen und Grenzüberschreitung zu überwinden.

Alles echte und volle Leben ist nur mit dem Einsatz und d«m Risiko zu gewinnen. Wer als Theologe psychologische Besinnung ablehnt, steht in größerer Gefahr einer lebensfremden Theologie, als wer das Risiko auf sich nimmt und auch die Hilfe empfangen kann. Theologische und kirchlich« Gefahren dadurch meiden wollen, daß man die gefahrbringenden Gebiete umgeht, ist Flucht aus dem uns aufgetragenen Kampf und heißt freiwillig den theologischen oder kirchlichen Strohtod sterben.

III. Die gegenwärtige psychologische Arbeit 1. Psychologie im umfassenden Sinn«

Die Psychologie im weitesten Sinne ist erst seit einigen Jahrzehnten zu der Bedeutung gelangt, die sie gegenwärtig hat. Sie zerfällt, aufs ganze gesehen, in drei Arbeitsgebiete, die zugleich in ihrer Aufeinanderfolge eine Steigerung bzw. Vertiefung deö Erfassens seelischer Zusammenhänge und deS Ganzheitsproblems bedeuten, und von denen das dritte für uns die unmittelbarste und umfassendste BedeuMng hat.

Das erste ist die experimentelle Psychologie. Sie „war bestrebt, die allgemeingültigen Formen menschlicher Erfahrung und ihrer gesetz­ mäßigen Verknüpfung festzustellen. Diese Absicht mußte notwendigerweise

28

Einleitung

zu einer Beschränkung auf die Erforschung der Formenelemente führen"26. Die experimentelle Psychologie erforscht mit Hilfe des Experimentes, wie die psychischen Kräfte des Menschen, sie seien psychisch oder psychisch-physisch

bedingt, funktionieren. Ihr Interesse ist es, die Leistungsmöglichkeiten des

Menschen festzustellen, Wege zur Leistungssteigerung zu suchen usw. Ihre

vielseitige Bedeutung haben wir freimütig anzuerkennen, auch die unmittel­ bare Bedeutung, die sie in mancher Richtung für die Ermöglichung tiefen­

psychologischer Arbeit hat. Doch liefert sie für unser Problem nicht den entscheidenden Beitrag. Denn es geht uns nicht darum, wie eine psychische

Funktion abläuft oder gesteigert wird, auch noch nicht um die Bedeutung

der Funktion für daö schicksalhafte Geschehen, sondern um dieses selbst; also

darum, was durch diese Funktion im Menschen als einem einheitlichen, ein Schicksal lebenden Wesen sich ereignet, wie das psychische Geschehen auf ihn und in ihm wirkt, und was es für ihn bedeutet. Der Unterschied unseres Interesses gegenüber dem der experimentellen Psychologie gleicht etwa dem

des Gärtners gegenüber dem Botaniker im engeren Sinne. Dieser unter­ sucht die Pflanzen, stellt ihre Lebensbedingungen und ihre Lebensmöglich­

keiten fest und hat als solcher damit sein Werk getan. Der Gärtner arbeitet

mit denselben Pflanzen, aber er verwendet sie anders: er schafft einen Gar­ ten, in dem die einzelne Pflanze lebendiger Teil eines lebendigen Ganzen ist. Das Wesentliche für ihn ist der Garten als Ganzes, daher das Wesentliche an der Pflanze ihr Leben im Garten.

So steht die Arbeit der Charakterologie, die ja in den letzten Jahr­ zehnten mit Eifer und umfassenden Ergebnissen betrieben worden ist, unserer

Aufgabe schon erheblich näher. Ihr bedeutsamer neuzeitlicher Begründer Klage6 charakterisiert die Aufgabe der Psychologie (im Sinne der Cha­

rakterkunde) als „Verstehen der ganzen Formenfülle des seelischen Le-

fcenö"27. Jedoch kann auch von ihr noch nicht das Entscheidende empfangen werden, denn es geht uns hier nicht um eine „Systematik der Charakter­

züge" und auch nicht nur um eine „Systematik der Charaktertypen"28. Die Arbeit der Charakterkunde gleicht der sehr genauen Aufnahme eines

Gegenstandes durch die Photographie. Sie gibt alles wieder und sie gewährt auch einen Einblick in die Tiefenrichtung. Aber sie bleibt, trotz mancher

Weiterführung, im

wesentlichen bei

der

Beschreibung

und hat

noch

nicht als entscheidendes Interesse die Tendenz, in den Ablauf des Lebens 26 Otto Tumlirz, Anthropologische Psychologie. Berlin 1939, S. 32. 27 Ludwig Klages, Die Grundlagen der Charaktcrkunde. 4. Ausl. 1926, S. 8. 28 Fritz Künkel, Einführung in die Charakterkunde. 4. Stuft. 1931, S. III.

Die gegenwärtig« psychologisch« Arbeit

29

und die Gestaltung deö Schicksals formend und fördernd einzugreifen. Es fehlt ihr noch die Verwirklichung der Tiefendimension. Uns geht es hier aber, wenn wir von der Predigt aus von der Psychologie redm, nicht tw um den Charakter, sondern um daö Schicksal des Menschen in seiner dyna­ mischen Wirklichkeit mit allem Erleiden und Gestalten und aller umfor­

menden und fortführenden Geschichte. In diesem Bollsinn mit allen Dimen­ sionen des lebendigen Geschehens geht an den Menschen nur die Tiefen­

psychologie heran. 2. Di« Bedeutung des Unbewußten

Das Ziel der Tiefenpsychologie ist die Erforschung der Tiefen der Psyche, woher auch der Name kommt. Ihre Großtat ist die Entdeckung

des Unbewußten, das eben durch sie in seiner unermeßlichen Bedeutung forschend entdeckt und erkannt worden ist. Damit verbindet sich die Ent­ deckung der Erarbeitung von Möglichkeiten, die Kraft« des Unbewußten

in das Gesamtleben des Menschen so «inzuordnen, daß sie nicht störend,

sondern helfend sich auswirken. C. G. Jung hat das Verhältnis von Bewußtsein und Unbewuß­ tem ausgedrückt in dem Bilde einer nächtlichen Landschaft, die zum großen Teil im Dunkeln liegt und von der nur ein kleines Stück durch einen Licht­

kegel erhellt ist. Dieses kleine Stück gleicht unserm Bewußtsein, alles andere dem Unbewußten. Wie nun das Leben dieses kleinen beleuchteten Teiles der Landschaft mit dem viel größeren Gesamtleben des im Dunkel liegenden Teiles völlig verwoben ist, so ist das Bewußtsein des Menschen nur der kleinere Teil seines Seins und völlig mit dem Unbewußtm verwoben^ „Das Unbewußte fließt beständig in daö bewußte psychologische Geschehm

ordnung in die Gesamtheit vollzogen hat und ständig neu vollzieht. Denn

nur aus dem gelebten Selbst und aus der gelebten Einordnung erwachsen die unbewußten Erkenntnisse und ergeben sich demzufolge die Möglichkeiten

sprachlicher Gestaltung der Verkündigung, die wirklich wegweisend, klärend und helfend in die Situation des gegenwärtigen Menschen eingehen können.

Die Struktur der Persönlichkeit in ihrer Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 71

In all den genannten Aufgaben und weiteren im ganzen Umkreis des Le­ bens kommt die Persönlichkeit des Predigers für das Werden der Predigt nicht nur hinsichtlich ihres Charakters, sondern auch hinsichtlich ihres-je­ weiligen Ortes im Lebensablauf in Betracht. In der psychologischen Arbeit ist in verschiedenartiger Abtönung doch mit im Grunde einheitlicher Tendenz die Bedeutung der Altersstufen und der Lebenswenden herausgearbeitet worden. Wir begnügen uns hier damit,

auf

die grundlegende Bedeutung der beiden entscheidmden Lebenswen­

den hinzuweisen, die für den Mann etwa zwischen dem 20.—25. und 40. —45. Lebensjahr liegen.

Umfassende Predigttätigkeit erfüllt die beiden Abschnitte der ersten und zweiten Hälfte des vollen Mannestums. Da aber die erste das Anfangs­ stadium von immerhin einer guten Reihe von Jahren mit umfaßt, so er­ geben sich für die Predigtwirksamkeit drei Stadien: der junge, der reife und der alte Prediger. Ein Vergleich zwischen Predigten von Männern vor der ersten und nach

der zweiten Stufe des vollen Mannseins ergibt durch ihre große Verschie­ denheit ohne weiteres, wie bedeutsam für die Predigt die Altersstufen sein müssen. Die Wirksamkeit der Predigt wird erheblich befruchtet, wenn man

sich darüber klar ist, in welcher Stufe man sich befindet: Der Jüngere kann nicht so wie der Ältere und der Altere nicht so wie der Jüngere über denselben Text predigen, auch wenn sie einander sehr ähnlich sind. Selbst Prediger, denen die Arbeit nicht leicht fällt, machen die Erfahrung, daß es einfacher ist, eine neue Predigt zu arbeiten, als eine solche zu wieder­ holen, deren Erarbeitung mehrere Jahre zurückliegt. Diese ständige Wandlung in der Predigtart beweist aber nicht nur, daß der Mensch ununterbrochen fortschreitet, sondern erhärtet erneut die Tatsache,

daß in ganz entscheidendem Maße die Predigt trotz aller Textgebundenheit und mit ihr aus dem Subjekt des Predigers kommt. Da wir das nicht hin­

dern können und auch nicht hindern sollen, ist es unsere Aufgabe, in der jeweiligen Predigt unserer Altersstufe möglichst gerecht zu wer­ den. Man kann das aber nur, wenn man in dieser Altersstufe wirklich drin­ steht. Damit weist die Arbeit an der Predigt unmittelbar auf das schwer­ wiegende psychologische Problem des echten Überganges von einer Stufe in die andere. Der Übergang in eine neue Altersstufe wird um so leichter und bereit­

williger vollzogen, je mehr man die vorhergehenden wirklich gelebt hat. Versäumte Altersstufen sucht der Mensch in die nächstfolgenden mitzuneh-

72

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

men. Das Gleiche versucht er, wenn er diese folgenden, vor allem die spä­ teren, daS wirkliche Altern, fürchtet. Daher die kindischen Greise, die ju­

gendlichen alten Jungfern. Es ist in letzter Zeit von verschiedenen Seiten her gesagt worden, daß es dem heutigen Menschen besonders schwer falle, in Würde zu altern und im Altern entsprechend zu reifen: ein die Predigt­

frage weit übergreifendes, aber auch für sie sehr ernsthaftes Problem.

Die Altersstufen sind für die Predigt dadurch von Bedeutung, daß sie so­

wohl für die Erkenntnis der Wahrheit, wie für die Fähigkeit, sie zu sagen, in einen sukzessiven Weg hineinzwingen, dessen Stadien weder voraus­ genommen, noch ohne weiteres nachgeholt werden können. Man soll deshalb getrost in jedem Stadium so sein und so predigen, wie es ihm entspricht!, und das ganz und mit voller Hingabe. Denn jedes Stadium hat seine Vor­ züge und seine Grenzen, und darin liegt göttliche Weisheit.

Für den jungen Prediger ist die Gefahr zunächst der Mangel an Material. Dieser Mangel als solcher ist nicht nur ein Problem der Jugend und des Anfanges, und es wird deshalb von ihm später unter andereim Gesichtspunkt zu reden fein39. Soweit er sich in bestimmten Folgen äußert,

steht der junge Prediger in der Gefahr des großen und doch leeren Wortes. Es ist immer Ersatz für ein Manko, ist Scheingröße und Scheinfülle. Wer jung ist, soll den Mut haben, jung zu sein und zu erscheinen. Auch hier gilt, bei gewissenhafter Arbeit, ernst für die Gemeinde und tröstend für den Pre­

diger: ultra posse nemo obligatur. Er soll nur an sein posse wirklich herankommen. Nur wer seine jugendlichen Grenzen nicht in geheimer Angst, sondern in der sichtbaren Darbietung beachtet, kann später zu einer gesunden

Fülle kommen.

Verwandt ist die Gefahr der geringeren Reife. Aber niemand kann reif sein über sein Stadium hinaus, und niemand kann Früchte zeitigen im

Herbst, der nicht im Frühling Blüten wagt, die eben noch nicht herbstreife Früchte sind. Man muß sich nur dieser Grenze bewußt bleiben und die ent­ sprechende Bescheidenheit innerlich in sich tragen. Und man darf nicht eine Unreife, die auch hinter dem jugendlichen Stadium noch zurückbleibt, mit

entsprechend verstärktem Anspruch als berechtigte Jugendlichkeit zur Schau tragen. Echtes Jungsein dringt in die Probleme und in die Wirklichkeiten oft tiefer ein, als es sich das zunächst selbst zutraut und kann mit seiner eben jugendlichen Erkenntnis auch Menschen im reiferen Stadium eine wirkliche

Hilfe sein. 39 Vgl. Fünftes Kap. I. 3. „Findung".

T ic Struktur der Persönlichkeit in ihrer Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 13

Der Vorzug der Jugend ist Feuer, Intensität und Kraft. Das braucht

nicht fortwährend zu schäumen und überzukochen. Nicht nur die verwegenen Stoßtruppführer sind vollwertige Soldaten. Aber daß man sich ganz hin­ gibt, das soll man in der Jugend lernen. Die damit meist verbundene Ein­ seitigkeit ist auch eine Kraft, wenn sie nicht aus Trägheit oder aus Dürftig­

keit kommt. Palmers Forderung für die erste Predigt des Predigers im ersten Amt: „Die Gemeinde muß von ihm schlechthin präsumieren dürfen,

daß er ein bekehrter Mensch ist"40, ist zu beschränken auf die Überzeugtheit und Aufrichtigkeit nach Maßgabe des dem jungen Prediger möglichen Ver­ ständnisses und darf nicht ausgedehnt werden auf umfassende geistliche Er­

kenntnis, die oft erst im Laufe der Jahre erwachsen kann. Die Mitte ist oft die Zeit besonders ausgedehnter Arbeitsverpflichtun­ gen, verbunden mit steigender Übung in der Predigtarbeit. Ihre große Ge­

fahr ist daher die Routine, gesteigert dadurch, daß noch nicht genug abge­ klärte Reife zu ihrer Verhinderung da ist. Es entsteht dann das scheinbar in­ haltsreiche und im Grunde doch arme Wort, vielfach wiederholen sich be­ stimmte Termini so häufig, daß man aus den immer tiefer-eingefahrenen

Gleisen nicht mehr herauskommt. Und damit verbindet sich die Stagna­ tion. Man ist geschickt genug, um nicht in Verlegenheit zu geraten, und mau versäumt dadurch den Fortschritt, das Reifen im Können, die Vervoll­ kommnung im Schaffen. Man nimmt einen gewissen Fortschritt, der durch den Fortgang der Jahre kommt, als Ersatz für das Größere, das man durch Arbeit erreichen sollte. Hier gilt es zur Abwehr eine gewissenhafte Pflicht­

treue. Sie braucht nicht extensiv zu sein (s. 5. Kap.). Aber sie muß wach sein. Sonst ist die Stagnation unvermeidlich. Man bleibt dann auf einer mittleren Höhe, täuscht sich infolge der Anregungen aus der Seelsorge und aus der Zeit über den fehlenden Fortschritt und wird doch verhärtet und un­ fruchtbar. Wird diese Gefahr vermieden oder überwunden, so ist der Vorzug der

Mitte die ruhige gesammelte Kraft und die wachsende Reife. Man ist

in der Mitte des Lebens zugleich auf der Höhe des Lebens. Man gewinnt Überschau und Tiefblick und ist doch noch in der Fülle der Kraft. Die Sprache wird bei gediegener Selbsterziehunng knapper und der Ausdruck

treffender, seine Möglichkeiten mannigfacher. Der Sprach leib gestaltet sich dann mehr und mehr. Die innere Freiheit in der Arbeit wächst. Aber das alles ist nicht ein ideales Fortschveiten von Höhe zu Höhe.

Der Kampf und die Anforderungen des Lebens erreichen ebenfalls ihren 40 Palmer, Cv. Pastoraltheologie Stuttgart 1860 S. 114.

74

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

Höhepunkt, und mit den Lichtern wachsen die Schatten. Wo aber die Ent­ wicklung gesund verläuft, wird die Spannweite der Lebensgestaltung und damit auch die der Verkündigung sowohl durch Freuden wie durch Schmer­ zen, durch Erfolg wie durch Mißerfolg, größer. Mit dem Alter beginnt die Gefahr der Ermüdung. Aus ihr resultiert das

müde Wort. Es kann im Klang müde sein, es kann auch in der Wandlung erlahmen. Man wiederholt seine besseren Jahre und predigt damit im Grunde aus der Vergangenheit, statt aus der Gegenwart.

Ein Vermeiden dieser Gefahr ist möglich durch die Stärke des Alters, die Reife. Sie ist das Ergebnis der innerlich sorgsam bewahrten Erkenntnisse

des fortschreitenden Lebens und steht in Verbindung mit der Güte. Der alte Prediger soll nicht müde sein, sondern gütig, nicht abgestanden, sondern abgeklärt, nicht senil, sondern weise.

Jede Altersstufe hat ihre besondere Bedeutung, und das Leben rundet sich eben darin, daß sie alle nebeneinander sind. Der junge Mensch ist ebensowenig überflüssig wie der Greis. Und jede Altersstufe ist nicht nur

für die gleichartigen, sondern für alle Altersstufen der Hörer da. Sie spricht nicht nur die gleiche Altersstufe an, sondern mit ihrer Unreife keine, mit ihrer Reife jede. Der junge Prediger ist nicht nur „eben noch jung" und der Alte ist nicht nur „eben schon alt", sondern jener ist jung im Dienst und

dieser ist alt im Dienst. Und jeder hat die Aufgabe, den durchgereiften Menschen und Christen seiner Altersstufe nach Möglichkeit an­

schaulich zu machen. Zu den fruchtbarsten und großartigsten Erscheinungen des Daseins ge­ hört die Tatsache, daß der Bewegung der Altersstufen im Menschen eine

Art Anpassungsvermögen der Gestalten und Formungen der Wirklichkeit und also auch der geoffenbarten Wahrheit entspricht.

Jedes tiefgreifende Wort, es sei ein Wort der Offenbarung oder ein an­ deres, hat die Eigenschaft, mit den Altersstufen mitzugehen. Am sichtbarsten ist das an bildhaften Worten, ganz besonders im Profangebiet an den Märchen, im Neuen Testament an den Gleichnissen. Wie allgemein

bekannt ist, geht das Verständnis der Märchen mit der Altersstufe mit: Kinder lieben sie, Jünglinge belächeln sie. Erwachsene verstehen sie neu, und Alte erkennen immer tiefer ihre abgründige Weisheit. Damit hängt es

zusammen, daß die Rückkehr zur Bild- und Vorstellungswelt aus einer Ver­ haftung an die Begrisfswelt heraus nicht etwa em Kindlichwerden be­

deutet, sondern ein Eingehen in eine tiefere Wesensschicht ist.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 75

Dieser Vorgang durchzieht das ganze Leben mit allen Altersstufen. So­ wohl mehr bildhafte wie auch mehr gedankliche Sprache wird immer vom jeweiligen Alter auö verstanden. Daß die Tiefe des Verständnisses auf

Grund der Begabung verschieden ist, ist ein davon gesonderter Vorgang, der den erstgenannten nicht beeinträchtigt. Der junge Mensch erkennt in dm Gegebenheiten am stärksten die treibende Kraft, der in der Mitte die festi­ gende und bauende Kraft, der Altere und Alte den Sinn. Die jeweils anderen Seiten sind in jeder Stufe mit darin und-bei einzelnen überwiegt auch lebenslang unter Umständen eine der drei. Aber die Predigt gewinnt, wenn man auch in diesem Sinne seiner Altersstufe entspricht, an überzeugender Kraft. Denn Überzeugungskraft entsteht nicht nur an der Sache, sondern zugleich an der Angepaßtheit des Trägers an die Sache.

Das Gesagte stellt an den Prediger zunächst die Forderung, daß er in

jeder Altersstufe, also in seinem Leben fortlaufend, sich um ein unmittel­ bares, aus der ständigen Vertiefung entstehendes Verständnis der Offen­ barung Gottes bemüht. Sodann, daß er das jeweilige Verständnis fort­

laufend mit seinem Lebensverständnis, wie es ihm in der jeweiligen Alters­ stufe möglich ist, verbindet. Schließlich, daß er seine Verkündigung speist aus

der vollen Tiefe des ihm jeweils möglichen Verständnisses. Echte Predigt ist also auf Grund der Tatsache, daß sie eine gegebene Wahrheit verkündigt, nicht etwa vom Durchschreiten der Altersstufen und dem damit wachsenden Verständnis losgelöst, sondern gerade erst recht mit ihm verbunden.

III. Das Schicksal deö Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 1. Schicksalsfähigkeit und Schicksal

Mit der Erörterung der Altersstufen sind wir bereits eingetreten in die Erörterung der umfassenden Wichtigkeit, die daö Schicksal des Predi­

gers für seine Verkündigung hat. Die Beziehung deö Menschen zum Schicksal hat sich gegenüber dem ly.Jhdt. entscheidend gewandelt. „Nicht die Natur, das Schicksal ist

unser Welträtscl geworben"41. Nicht nur gegenüber den Naturbereichen, sondern auch gegenüber denjenigen Geistbereichen gilt das Gleiche, die in der Gefahr stehen, von der unmittelbaren Schicksalsbezogenheit abgelöst zu

werden. Die entscheidende Schwierigkeit der Seelsorge hinsichtlich etwa der 41 Sauer, Abendländische Entscheidung. S. XV.

76

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

christologischen Verkündigung erfährt die Kirche der Gegenwart immer wie­ der darin, daß die Frage Sünde-Gnade nicht das Exiftenzproblem der

Zeit ist (von ihr selbst aus gesehen), sondern die Frage des Schicksals und ob

Gott im Schicksal ist. Eine als Allgemeincharakteristik anzusprechende Wen­ dung ist der Satz, mit dem Otto Gmelin im „Haus der Träume" beginnt:

„Heute weiß ich es, und in machen Stunden ist es mir ganz klar und ganz

selbstverständlich, daß das Schicksal zu einem Menschen gehört, wie sein Leib und seine Seele, und gar nicht zu trennen ist von ihm". Ent­ sprechend Hans Künkel: „Im Schicksal geht unser Leben vor sich"4?.

Derselbe gibt den Grund für die zentrale Bedeutung des Schicksals für

die heutige Problematik an mit dem Hinweis: „nicht große Ereignisse, son­ dern eine

schicksal-gebärende Seele machen den bedeutenden Men-

schen"4^.

Es ist die Schicksalsfähigkeit des Menschen erst, nicht schon die ihm be­

gegnenden oder zustoßenden Dinge, die ihn in sein Schicksal hineinführen, es zum „Schicksal" im prägnanten Sinne machen, und — ihn befähigen, Verkünder der im Schicksal sich kundtuenden Wirklichkeit Gottes zu sein. Deshalb muß der Mensch, der Prediger, das Eingehen in sein Schick­ sal lernen.

Eingehen ist noch nicht Jasagen und bewältigen, sondern

zunächst der Schritt, der vor diesem liegt, und meist für «in selbstverständ­

liches Geschehen genommen wird: Daß nämlich die wirkliche Begegnung des Menschen mit seinem Schicksal stattfindet und er es allseitig aufnimmt. Der Durchschnittsmensch beschränkt seine Begegnung mit seinem Schicksal

auf diejenigen Geschehnisse, die ihn mit ihrer Wucht überfallen. Sie sind aber nur ein Teil, und wer sich auf ihn beschränkt, kann sich eigentlich nicht

wundern, wenn er sein Schicksal nicht bewältigt. Wer aber Gott verkündigen

will, muß ausdrücklich Wege suchen, um sein Schicksal ganz zu finden

und es in allem lebendig werden zu lassen.

Eindrückliche Hinweise hierfür gibt Guardini in „Liturgische Bildung" in dem Abschnitt „Mensch und Sing"44 42. 43 Er spricht von der Umwelt des

Menschen an Räumlichem und Zeitlichem und der zu übenden Fähigkeit,

sie in das Eigenleben einzubeziehen: „Wohnen bedeutet, einen Innen­ raum nicht nur alö bergend und zweckmäßig zu empfinden, sondern auch

seine Maße, Hausrat und Zierrat in ihrem Eigenwert und Wechselverhält42 Hans Künkel, Der furchtlose Mensch. S. 10. 43 Ebda. S. 15. Di« Sperrungen von uns. 44 Romano Guardini, Liturgische Bildung. Versuche. Verlag Deutsches Quickborn­ haus, Burg Rothenfels am Main 1923.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 77

nis im Gefühl zu tragen. — Ein Haus, ein Zimmer, „hat" einer erst, wenn er Raum und Wände, Gestühl und Schmuck lebendig spürt; ein Heim, der ein ganzes Gebäude mit dem Organismus seiner Räume, Maße, Ein­

richtungen, auf das eigene Seinsgefühl bezogen, lebendig in sich trägt.... Erst wer eine ganze Stadt mit ihren lebendigen Verhältnissen seelisch durch­

lebt und als Organ des Selbstauödrucks besitzt, hat eine Vaterstadt (lies

z. B. wie Goethe in „Dichtung und Wahrheit" von Frankfurt spricht). Und ein Vaterland, wer schließlich mit der lebendigen Wirklichkeit eines ganzen Landes verwächst." „Von hier aus gewinnt unser Wandern einen tiefen Sinn: Darin weiten sich die Durchseelungskräfte über das Land aus; die Persönlichkeit ergreift Wälder, Heiden, Berge und Flüsse, Städte und Dör­ fer, Weiten und Heimlichkeiten, Industrie und Ackergebiete, Volksstämme in ihrer Eigenart und Beziehung, und ordnet sie in den Ausdrucksbereich des

eigenen lebendigen Seins ein, bis sie aus innerster Wahrheit heraus sagen kann: Meine Heimat — das bin ich. Ich kann nicht ohne sie sein, aber sie auch mehr ohne tnkf/'45. Um den Verdacht egoistischer Haltung auch hier ab­ zuwehren, sei noch hinzugefügt: „Wie tief wird da die Liebe zur Heimat.

Wie begreifen wir, daß wir der Seele des Landes dienen müssen, daö unsere Seele nährt und ihr daö Wort gibt und die Gestalt, darin sie sich aussprechen kann zu frei-reichem Leben!"4G Liebe und Dienst sind die beiden Kräfte, die uns Gegebenheiten so ver­ binden, daß sie schicksalsmächtig in uns werden. Beide sind eine Bereit­ schaft, die sich dem Gegebenen und Geschehenden zuwendet und öffnet und darauf gerüstet ist, daß darin Mächte kommen, die wir nicht bestimmen können, sondern die uns bestimmen. Es ist ein Hinausfahren auf das

Meer. Das Wesen der „Fahrt" liegt darin, daß das Schiff unbeschadet seiner Schwimmfähigkeit, seines Gleichgewichts und seiner Fahrfähigkeit und mit dem allen auf dem Meer manövriert im Gegensatz zu dem Ange­ legtsein im Hafen. Die Theologie hat infolge ihres rationalen Zugangs­ weges vielfach die Wirkung, daß der Theologe sich an ihr festlegt wie am

Kai. Aber so kann man nicht Schicksalsfähigkeit erwerben. Wer sich da­

gegen hingibt, gibt auch den Hafen preis und das Voraussehenkönnen und Festlegenkönnen des Weges. Aber erst so wird der Theologe ein Pre­ diger. Denn erst so ist er in der gleichen Lage mit all denen, die keine im

voraus sichernde Theologie in greifbarer Nähe haben — und erst so ist er in der Wirklichkeit. Es geht um das schicksalsträchtige Eindringen in die 15 Ebda, S. 36. " Edda. S. 37.

78

Di« Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

Gegebenheiten und Geschehnisse und um das Sichdurchdringenlassen von ihnen. Vielfach wandelt das die Theologie. Aber die eigentliche Theologie wächst erst daran. Zu den vorfindlichen Gegebenheiten des Schicksals gehört in erster Linie heute die Tatsache, daß der Mensch, soweit er überhaupt Schicksal erlebt, in das Gesamtschicksal verflochten ist und es miterlebt. Mit der gedanklichen Erkenntnis ist das noch nicht verarbeitet und auch noch nicht mit dem gefühlsmäßigen Empfinden. Es ist eine Aufgabe der Tiefe npersön-

lichkeit, hier zu verarbeiten, was auf uns zukommt. Dabei geht eS uns hier zunächst darum, daß und in welcher Weife dM Schicksal der Gesamtheit, also Krieg, Gestaltung der Nation, friedliche Auf­ bauzeiten, Erfassung volkstümlicher Wurzeln des Seins, Rückgriff auf

Weisheit und Kraft der Urväter, geistige Auseinandersetzung usw. als Ge­ samtschicksal miterlebt wird. Denn man kann darin stehen, und die zwangsläufigen Einflüsse des Gesamtschicksals auf das Einzelschicksal (etwa Luftschutzalarm, Kleiderkarten, Lebensmittelkarten usw.) über sich ergehen lassen, ohne doch daS Gesamtschicksal wirklich zu verarbeiten. Der Typ des Menschen in dieser Fehlentwicklung ist der Spießbürger. Zn

diese Kategorie gehört jeder, der aus der Beteiligung an dem Gesamt­ schicksal flieht und nun die ausfallende Beteiligung zwangsläufig durch eine Scheinbeteiligung ersetzt, indem er in der ungefährdeten und im Gmnde unbetroffenen Situation des Zuschauers (unbewußt) Getroffensein und Be­ teiligtsein sich und anderen vortäuscht. Die Gefahr eines Abgleitens in diesen Zustand oder doch in seine Nähe ist bei Menschen, die „im Leben

stehen" nicht schon dadurch gebannt, daß sie „viel erleben". Vom Schicksal angefaßt fühlen sich in Zeiten großen Geschehens auch die, die nach Mög­ lichkeit ausweichen. Auch wer, wie der Pfarrer, viel miterlrbt, ist dadurch allein noch nicht im Schicksal drin. Wir müssen, unabhängig von dem be­ setzten und bewegten Tageslauf an sich, in ihm dies Eingehen in das Schick­

sal üben und erfahren. ‘ Jedes unechte und unvollständige Verarbeiten des Gesamtschicksalö führt

den, der in der Predigt dieses Gesamtschicksal mitzudeuten hat, unmittel­ bar dazu, daß er die mangelnde Verarbeitung durch von außen her geholt Gedanken und Wendungen und durch äußerliches Pathos zu ersetzen sucht. Man kann an diesem Gebiet den feinen Unterschied zwischen echtem imb un­ echtem Pathos studieren.

Denn daö echte Aufnehmen des Gesamtschicksals führt nicht zur exten­ siven, sondern zur intensiven Fülle der Verkündigung. Die exten-

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 79

sive Wucht ist kein Maßstab. Die mitreißende Stoßkraft liegt sehr oft in Worten, die nach Formung und pathetischem Gehalt in schlichtem Ge­ wände einherschreiten. Denn echte Verarbeitung weckt eine unmittel­ bare lebensmäßige Beziehung zum Gesamtschicksal. Dadurch wird der Mensch in Erkenntnisse geführt, die so original und so unmittelbar sind,

daß er kein herbeigeholtes Pathos braucht, und das echte innere Pathos sich von selbst Ausdruck schafft. Liturgen, die im liturgischen Gebet Gott an­ schreien, und Prediger, die auf der Kanzel die Gemeinde oder gar die nicht vorhandene Öffentlichkeit anschreien, sind gleichermaßen verdächtig.

Die echte Verarbeitung des Gesamtschicksals ist der einzige Weg, der zu

einem Aufnehmen der in ihm erscheinenden Motive führt. Nur so können unmittelbare und originale Erkenntnisse und Gedanken entstehen. Diese aber sind auch dann notwendig, wenn eine umfassende gemeinsame Schau des Gesamtschicksalö vorhanden ist. Denn die Nahrung und Weg­ zehrung für den einzelnen liegt nicht in der Gesamtschau als solcher, sondern

in ihrer konkreten Erfassung und Darbietung durch den einzelnen Verkünder. Uno diese wiederum ist in ihrer Kraft und Hilfsfähigkeit nicht von den

Gesamtgedanken abhängig, sondern von der originalen Energie, mit der sie ausgenommen und subjektiv verarbeitet worden sind. Das ist grundlegend für die Verkündigung, die im Blick auf das Gesamt­ schicksal die Deutung dieses Schicksal von der Wirklichkeit Gottes her bedeutet. Der Prediger nimmt in dem tausendfältigen Geschehen der Verarbeitung des Gesamtschicksalö den Ort «in, daß er von der Zentrale kirchlichen Verstehens, d. h. vom Verstehen aus der Wirklichkeit Gottes her, das Gesamtgeschehen zu deuten hat. Die grundlegende Bedeutung, die die

Schau des Schicksals der Gesamtheit von der Wirklichkeit Gottes her hat,

wird heute neu geahnt. Schütz, Sauer und ihnen verwandte Autoren sind ein starker Ausdruck dafür und Symptom gerade als Autoren, die sich

an einen weiteren Kreis wenden. Das ist unmittelbar wichtig für die Predigt. Es ist also in einer einmaligen (Situation das in ihr Gegebene original zu verarbeiten. Die Verkündigung des einzelnen Predigers steht zwar in dem Gesamtstrom der Verkündigung Tausender von Predigern. Aber eben darum ist es an jedem einzelnen Ort für jeden Einzelnen entscheidend, daß er selbst wirklich und ganz in der Verarbeitung des Gesamtschicksals von der Wirklichkeit Gottes her steht. Und eS ist deutlich, daß die Möglichkeiten, die ihm dafür gegeben sind, und damit das konkrete Werden seiner Predigt nicht nur vom Evangelium an sich, sondern wie von seinem Verständnis

des Evangeliums, so auch von seinem Verständnis des Gesamtschicksals, und

80

Di« Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

zwar von seinem persönlichen Eindringen und Erfaßtwerden gmndlegend geformt wird. Daö Gesamtschicksal wird zugleich zum Einzelschicksal. Der Einzelne

steht im Ganzen. Und der Prediger steht in seiner Zeit. Von gleicher Bedeu­ tung wie das oben Gesagte ist die Frage, wie er sein Einzelschicksal im Ge­

samtschicksal erlebt. Art und Maß der Bewältigung des persönlichen Schicksals sind in man­

nigfaltigster Verflechtung mitbestimmend für unsere Predigt. Lebe ich auö

der Fülle, so predige ich auch aus der Fülle, lebe ich arm, so predige ich auch arm. Erfahrung muß voll gelebt werden und ausschwingen können.

Eine Gesamtbewältigung ist keinem Menschen in dem Sinne möglich, daß er alles, was ihm zum Schicksal werden könnte, weil es in den Bereich

seines LrbenskreiseS hineinragt, zu verarbeiten vermöchte. Jedoch ist eine Gesamtbewältigung möglich dadurch, daß wir Wesentliches von dem, was

uns zum konkreten Schicksal wird, und Wesentliches von dem, was wir für unsere Lebensgestaltung brauchen, in einer einheitlichen Gesamtheit

von einem einheitlichen Sein aus verarbeiten können, so daß eine aus­

geglichene und bestimmt geprägte Gestalt unseres Schicksals entsteht. Ich verbaue mir meinen Weg nicht nur durch Ungehorsam, sondern auch durch

Lebenöfremdheit und durch von ihr verschuldetes zu geringes Maß an Lebens« erfahmng. Nicht nur der Sünder tut Unrecht, sondern auch der, der mit dem ihm anvertrauten Pfund nicht wuchert. Wuchern heißt nicht nur rastlos

arbeiten, sondern klingen lassen: «inklingen und ausklingen lassen und dar­

um zeigen können, wie man des Lebens Herr wird. Es ist eine Frage des Instinktes zu erkennen, was für unö von wesent­

licher Bedeutung ist. Der Instinkt des Selbst führt, je stärker er heraus­

gearbeitet ist, um so mehr «inen sicheren und verheißungsvollen Weg, je mehr er es wagt, auch gefährdende und schwer« Erlebnisse in di« schicksal­

hafte Selbstgestaltung einzubeziehen. Nur in dem Maße, in dem Schick­ sal erlebt wird, entsteht echte Erkenntnis. Aber wo sie entsteht, um­

greift sie das ganze Leben. Neben dem Gesamtschicksal und dem Einzelschicksal steht das Fremd­

schicksal, d.h. das Schicksal einzelner anderer Menschen. Der Prediger ist durch sein Amt mehr als andere dazu berufen und in der Lage, Fremd­

schicksal mitzuerleben. Auch hier entsteht Erkenntnis daraus nur insoweit

und in dem Maße, wie es in echter und voller Hingabe verarbeitet wird. Wo daö aber geschieht, gilt für verarbeitetes Schicksal jeder Art die ver­ heißungsvolle Wahrheit, daß Erkenntnis, die an irgendeinem Erlebnis ge-

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 81

funden wird, das gesamte Gebiet des Lebens erhellt. Die inneren Erkenntnisse durchfluten das Sein des Menschen in der Art eines Systems kommunizierender Röhren. Wo an einer Stelle nachgefüllt wird, hebt sich

der Spiegel zwar hier nicht in dem Maße des Nachfüllens, aber in dem ent­ sprechend verringertem Maße dafür gleichmäßig an allen Stellen. So ver­ teilt sich gelebte Erfahrung auf die Gesamtbrrite des Seins: Wer ein großes

Schicksal erlebt oder miterlebt, ist zwar nicht deshalb an dieser einen Stelle zugleich gegen alles gefeit, er muß vielmehr eben dieses Schicksal mit aller

Mühe und Treue durchkämpfen. Aber in dem Gesamtbereich seines seeli­ schen Seins erfährt er eine Vertiefung, die sich gleichmäßig auf alle Schick­ salsgebiete erstreckt.

Wenn man sich manchmal wundert, daß junge Prediger, oder doch solche, die noch kein tiefes Leid persönlich erlebt haben, in erstaunlichem Maße mit­ leben und wegweisend trösten können (man denke an Grabreden oder Pre­ digten am Totensonntag), so hat das in dem Gesagten seinen Grund: Wer

etwa ein großes Glück wirklich voll durchlebt, wird hellsichtig und weise nicht

nur für daö Glück, sondern auch für das Leid. Wer seine Kraft bis zu ihrer Grenze erprobt, erkennt nicht nur, daß es eine Grenze der Kraft, sondern auch, daß es eine Grenze der Schwachheit gibt. Wir sind deshalb darauf gewiesen, daß wir an den Stellen, wo das Einzel­

schicksal uns anfaßt, oder wo Fremdschicksal uns wesenhaft berührt, mit

ganzer Hingabe zufassen und wirklich durchleben. So gewinnen wir die Er­ kenntnis und seelische Weisheit für alle Gebiete des Lebens. „Weisheit

ist Erfahrungsfülle, Weisheit ist konkretes Wissen"^.

Nirgends ist das Dasein so unerbittlich wie darin, daß hier nichts er­

schlichen werden kann. Wirkliche Erkenntnis legitimiert, dmn sie kann nur aus gelebtem Schicksal kommen. Damm weckt sie auch daö stille, die Her­

zen öffnende Vertrauen, das nur dem seelischen Führer mtgegengebracht

wird. Wer es erwerben kann, ist zur Fühmng qualifiziert. Erst in der Ver­

bindung mit dieser Qualifikation ist die Verkündigung der Wahrheit wirk­ sam, erst in dieser Verbindung wird sie lebendig, überzeugend und helfend.

Wiederum also zeigt sich auch hier, in wie hohem Maße Verkündigung der

Offenbarung erst dann reale Verkündigung ist, wenn sie mit LebenSerkenntnis aus der Erfahmng des Subjektes verbunden ist. In alledem ist eö nicht so, daß man die Möglichkeit, Lebensweisheit zu

gewinnen, in beliebiger Fülle annehmen, oder auch auf ein beliebiges gleich­

sam bequemes Maß beschränken könnte. Wieweit wir Schicksal zu bewäl47 Dedo Müller, Ethik. S. 209. 6

haendler, Die predigt

82

Di« Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

tigen haben, das uns weise macht, bestimmen nicht wir selbst, sondern das

wird uns zugesprochen. Schicksal, das wir annehmen sollten und nicht annehmen, geht nicht spurlos an uns vorüber, sondern wird negativ. Es füllt nicht nur nicht und läßt auch nicht nur leer, sondern es macht leer. Es macht nicht nur nicht weise und läßt uns auch nicht nur in bestimmten Dingen

blind, sondern es macht blind. „Jede Seele wird in dem Gange der Tage

zu dem, was ihr bevorsteht, mehr oder weniger zuberettet"49. Eö gibt keinen Schutz außerhalb unseres Selbst gegen die Schicksals­ flucht. Der Schutz kann nur aus dem erwachenden Selbst kommen, das in vollem Einsatz der Eigenleistung die Flucht meidet. Denn die Tendenz zur Schicksalsflucht liegt in jedem Menschen tief verankert. Sie ist die Flucht

vor der Gefahr, d. h. im Grunde vor dem Hevauötreten aus der Beschütztheit in die Gefährdetheit der Welt. Es ist das Kindbleibenwollen, das in der Mythologie seine klassische Darstellung in den Gestaltungen des Inzest­ problems (Oedipus)49 gefunden hat. Man kann den versagenden Schutz der Eltern, wenn man ins Leben hinauögehen muß, durch allerhand anderes er­ setzen: Oben wurde die Kirche genannt, eö kann auch di« vermeintliche Amts­ erfahrung oder anderes sein. Amtöerfahmng ist «in relativer Begriff, «s fragt sich, ob wir das, waS wir erleben, wirklich zu einer inneren Erfahrung werden lassen mit allem Risiko der Selbstgefährdung, das darin liegt. Schicksalsflucht und Kindbleibenwollen führt zur Gewaltsamkeit, Pos« und Verlegenheitsverkündigung. Sie kann sich bis ins Feinste hinein tarnen, so daß sie für Prediger und Hörer fast unerkennbar bleibt. Aber es ist eine durchaus akute Gefahr, daß „der Satan sich verstellet zum Engel des Lichtes" (2. Kor. 11.14): Es gibt z.B. einen scheinbar gläubigen und trö­ stenden Hinweis auf die Liebe Gottes, der doch in Gott nicht den im Neuen Testament offenbarten Vater in seiner Nähe und Erhabenheit sieht, sondern

den schwächlichen, den nicht barmherzigen, sondern mitleidigm Vater, wie er zwar unter Menschen oft in Erscheinung tritt, aber auch da die Verzerrung des eigentlichen Vaterstins ist. Die wagende Bedeutung des Schicksals für unsere echt« Erkenntnis und damit für die Möglichkeit der Verkündigung bedarf noch eines Hinweises auf die Stellung, die dadurch die Theologie gewinnt. Auch sie kann zum

Ersatz für den Schicksalsweg gemacht werden, der uns durch Risiko, Ver­

lorenheit und Not zum Finden Gottes führt. Das ist die feinste dämonische 43 Goethe, In: Wilh. Meisters Theatralische Sendung. Leipzig Insel-Verlag Bd. L S. 209. 49 S. S. 66 Anm. 35.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 83

Gefahr und der eigentliche Teufelskreis (Künkel) deö Theologen. Theologie ist nicht als Schutz gemeint, wenn das Leben uns in die Stürme und Wirr­ nisse der unmittelbaren Erfahrung stürzt, sondern in den Stürmen des Schicksals erst wächst echte Theologie. Darum ist jede Theologie noch

unecht, die irgendwie mit Hochmut oder dem Gefühl der Sicherung ver­ bunden ist. „Sicherungen" gibt es im tvahrhaft gelebten Leben nicht, son­ dern nur ein Preiögeben aller falschen Sicherheit, das in der Demut der Hin­ gabe zur Gewißheit führt. Aber man kann fast durchgängig sagen, daß echte

Gewißheit niemals geradlinig in einem Theologen aus seiner Theologie entsteht, sondern daß diese erst zerschlagen werden muß, um aus der schicksalhaft erfahrenen Gewißheit neu und echt aufgebaut zu werden. So hat Theologie trotz aller Bedeutung und aller umfassenden an sie zu

wendenden Arbeit doch eine untergeordnete Stelle. Erkenntnis Gottes im Leben und Erkenntnis des Lebens im Angesicht Gottes sind die Urkräfte der Gestaltung. Wer die Kraft hat, seine Theologie ständig diesen Mächten dienstbar zu machen, spürt ununterbrochen das Wagnis jeden Schrittes,

den er zu gehen hat. Dafür aber ist auf dem Wege die Wirklichkeit Gottes wirklich zu erfahren. Und dann erst ist er so weit, daß er in der Predigt nicht nur etwas sagt, sondern verkündigt. Die mit diesen Erkenntnissen gegebene Lebensnahe rückt die Kämpfe und auch die Niederlagen in das Licht einer gnädigen und fruchtbaren Füh­

rung. Sie tragen den Segen in sich, daß sie zur Demut, zur Echtheit, zur Gemeinschaft, zum Glauben und zur Verkündigung ihren lebenömäßigen Bei­ trag liefern. Wieviel dem Prediger an Derartigem zugemutet werden muß und kann, damit die Voraussetzungen echter Verkündigung entstehen, steht nicht in seiner eigenen Hand, sondern soll im wirklichen Glauben der höheren Führung anvertraut werden. ES gibt in jedem Leben verlorene und versäumte Dinge, und «S kann in der Verschlungenheit des Seins wohl geschehen, daß man Schicksale, die man versäumte, weil man ihr Erleben einst aus irgendwelchen Gründen mied, in späteren Jahren doch als schuldhafte Versäumnis erkennt. Das Wagnis, die verlorenen und versäumten Schicksale als solche in die Wirk­

lichkeit des eigenen Lebens einzubeziehen, gehört zu den schwersten und schmerzensreichsten Aufgaben. Es läßt sich nichts nachholen. Aber aus den Schmerzen später erwachender Erkenntnis kann Frucht werden.

Ungelebtes Leben ist noch nicht im eigentlichen Sinne Verzicht und Opfer. Denn es ist Verzicht und Opfer, die nicht hätten sein sollen. Echter «*

84

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

Verzicht und echtes Opfer sind eine Preisgabe seiner selbst, die sein sollen

und Frucht bringen und zur Reife führen. Wer aber anderen Wege weisen und Hilfe bieten soll in den verschlungenen Wegen ihres Seins, muß im eigenen Leben die verschlungenen Probleme zu wirklicher Lösung führen und den weiten „SpannungSbogen" (Künkel) gewinnen, der dazu gehört. Der Prediger darf keinen gordischen Knoten durchhauen. Wo er «S tut, wehrt er der Erkenntnis, die er für sich und andere hätte finden sollen!

Schicksalsfähigkeit ist eine so hohe Kraft, daß sie den ihrer Frucht entspre­ chenden Einsatz fordert. Vilmar spricht von den Glaubensstufen und sagt, der Prediger müsse für

die verschiedenen Stufen gleichmäßig bestimmt sein und allen alles fern50. Die Stufen der Lebenöreif« sind denen der Glaubensreife verwandt und stehen in Korrespondenz mit ihnen. Der heutige Mensch erlebt die Stufen der Reifung ganz überwiegend in der geistigen, nicht geistlichen Sphäre, und für die Predigt ist sie die eigentlich illustrative. Man darf ja nicht meinen, daß das eherne Gesetz des Schreitens von Stuf« zu Stufe hier gelockert oder gar aufgehoben sei. Die Welt wartet auf Prediger, die bemfenr Führer sind, und schraubt ihre Ansprüche an sie nicht herab. 2. Das Amt

So ist auch das Amt des Predigers nicht nur die Ermöglichung seiner Predigtarbeit, sondern eine Hilf« zu ihr, die unter mehrfachem Aspekt steht. Bei der Erörterung hierüber reden wir auch vom Amt nicht unter dogma­

tischen Gesichtspunkten und geben nicht einen Aufriß der Theologie des

Amtes, sondern wir stellen unter psychologischem Gesichtspunkt das heraus, was unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung des Subjektes für die Predigt

wichtig ist. Ist Amt zunächst Berufensein? Ist es entscheidend für die Predigtarbeit, in welchem Maße der Prediger sich im Innern berufen weiß? Der Grad des Wissens um Berufensein kann im Lauf« des Schicksals, zumal des Berufsschicksals, wachsen, auch sinken. Oft ist aber ein allzu

„sicheres" Wissen um Berufensein, zumal bei jungen Menschen, «her ver­

dächtig als verheißungsvoll. In der Forderung, daß man um Berufung wissen müsse, liegt die unmittelbare Gefahr der Verkrampfung und desHerbeiführenS (unbewußt) eines illusionären Berufungsgefühlö. ES kann in 60 A. F. C. Dilmar, Lehrbuch der Pastoraltheologie, Hrsg, von Piderit. Gütersloh 1872. S. 68.

DaS Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für bk Arbeit an der Predigt 85

echten Dingen sehr schlecht zugehen, und oft überraschen die wirklich berufe­ nen Männer durch die salbungslose Schlichtheit, ja Alltäglichkeit, mit der

sie über ihr Berufensein reden, und vielfach das Wort überhaupt für sich ab­ lehnen Das ist ein psychologisch richtiger Schutz gegen Stelzen und Usur­

pation. Berufung liegt nicht in jedem Falle darin, daß man einen Ruf ver­ nommen hat, sondern darin, daß man schlicht bereit ist, auf den Anruf aus der Welt maßgebender Wirklichkeiten zu hören, ja einfach auf die innere Stimme zu hören und daS zu tun, was einem als Pflicht entgegen

kommt. Die bescheidene Ratlosigkeit, ja Unsicherheit manches jungen Pre­ digers in dieser Hinsicht ist jedenfalls verheißungsvoller und wahrer als auch der geringste Anspruch, der unecht sein könnte. Die Frage des Berufenseins ist oft viel mehr ein Tages- und Stunden­ problem als ein Lebenöproblem. In jedem Stück der Arbeit an der Predigt sind wir von neuem vor die Entscheidung gestellt, ob und in welchem Maße (d. h. in welchem Grade der Echtheit) wir zu hören bereit sind. Der Ruf an uns, der von der Wirklichkeit Gottes her ergeht, wird bei rechter Predigt in entsprechendem Maße ein Ruf an die Gemeinde, der von Gott her ergeht

Das bedeutet immer wieder eine Kontrolle unserer Aussagen auf diese Echt­ heit hin, und eö tritt dabei das Problem der Richtigkeit und der Echt­ heit auseinander. Man kann vieles (objektiv) „Richtige" sagen, was doch nicht „echt" ist. Das Richtige soll aber in uns selbst, in unserer eigenen Erfahmng und Erkenntnis so verankert sein, daß es zugleich echt ist. Was in diesem Sinne nur richtig, aber nicht echt ist, d. h. was wir nur als kirchliche Aussage einer Wahrheit ohne eigene Beziehung zu ihr wissen, sollten wir lieber nicht sagen. Die innere Einheit von Richtigkeit und Echtheit führt zur Wahrheit. Und der homiletische Vollwert der Verkündigung kann nicht schon von der Rich­ tigkeit, sondern erst von der Wahrheit aus entschieden werden. Wahrheit ist aber lebendig; einmal in dem Sinne, daß sie zur Richtigkeit sich verhält wie die Weisheit des Lebens zum Wissen der Schule; sodann

in dem Sinne, daß sie nur „in der Begegnung" (Brunner) erfahren wird. Dadurch wird sie aber aus der Einlinigkeit erweitert zur Mannigfaltigkeit und Fülle. Je rationalisierter erkannt, oder unerkannt, ein Theologe ist, um so dringlicher muß er lernen, daß diese eigentümliche Lebendigkeit und orga­ nische Beweglichkeit (Wachstum und Wandlungsfähigkeit) der Wahrheit, 51 Vgl. den Bericht über C. G. Jnngs Auftreten in Königsfeld auf der Arbeits­ woche des Köngener Kreises l.—6. 1. 1.937 in „An der Schwelle" Hrsg, »on R. Daur, Heilbronn 1937.

86

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

und nicht die nur ,,schul"mäßig verstandene „richtige Lehre" Kern und Kraft kirchlicher Verkündigung ist. Das Amt ist Hilfe für Predigtarbeit in dem Maße, in dem es in der Lebendigkeit der Wahrheit von uns ver­

standen und geführt wird.

Nur in dieser Tiefe kann neben dem Berufensein auch das Begnadet­ sein mit dem Amt recht verstanden werden.

Es fußt auf und erwächst aus der allumfassenden Gnade Gottes, die alles Lebendige trägt. In der Sonderung gleichsam dieser Gnade, mit der

sie sich je auf den einzelnen Menschen richtet und ihn in seiner Eintzellage umfaßt, wird sie für den Amtsträger zu einer Begnadung mit dem ihm auf­ getragenen Amt.

Zn diesem Wissen liegt die letzte Gewißheit und der letzte Friede, die die tragenden Kräfte in den innersten Nöten eines Amtes sind, das die Auf­

gabe der Verkündigung der Wahrheit Gottes hat gegen die ohne Gott ver­ standene Welt und daö ohne Gott gelebte Leben. Dieser Friede und diese

Gewißheit sind ebenso wie das Berufensein weder ein Anspruch noch ein

immer sicher gespürter Besitz. Man kann um sie kämpfen, man kann sich ihnen fern fühlen und doch letztlich in ihnen geborgen sein. Und auch hier gilt, daß die Selbstverständlichkeit des Besitzes verdächtig ist, die Lebendig­

keit in dem Kampf um die tragenden Kräfte gelebt wird und auch die tiefste Not eine unmittelbare Verheißung hat.

Von da auS und nur von da aus kann die Umkämpftheit des Amtes, die mit dem Kampf um die Position der Kirche in der Gesamtsituation ge­

geben ist, fruchtbar werden für die Verkündigung. Je tiefer die Not ist, die für den Prediger aus einer grundsätzlichen oder praktischen Bestreitung sei­

nes Amtes erwächst, um so tiefer liegt die Verankerung seiner Verkündigung und seines Selbst. Zn den Zeiten nach dem Weltkrieg und in den erstere

Tagen des Existenzkampfes der Kirche konnte ein durch die uns auferlegten

kirchlichen Schicksale geschulter Blick an der kirchlichen Situation solcher Länder, die keinen Krieg und keinen kirchlichen Existenzkampf erlebt hatten, mit überraschender Deutlichkeit erkennen, wieviel bei aller Hingabe und Treue doch gleichsam unaufgerissener und weniger im Wesenhaften rin­ gend solche Kirchen waren: eine Erkenntnis, die viel Versöhnendes in sich

trägt für die Leiden, denen umkämpfte Kirche und umkämpfteS Amt aus­

gesetzt sind. Zu neuer Wertung des Amtes und der Kirche tragen wir am wirksamsten dadurch bei, daß wir in völliger Absetzung gegen jede usurpie­

rende Tendenz in dem Amt stehen als Menschen, die eine Wahrheit mit dem Einsatz ihres Seins zu verkündigen haben, denen aber diese Wahrheit in

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 87

möglichst genauer Kongruenz soweit und in dem Maße zur Verkündigung

wird, wie sie sie in subjektiver und übersubjektiver Gewißheit erfahren

haben. 3. Theologie und Bekenntnis

Das spezifische Moment des Amtes hinsichtlich der geistigen Verarbei­

tung der geoffenbarten Wahrheit ist die Theologie. Die Theologie einer Kirche weist über die Generationen hinweg gewisse ge­ meinsame Grundzüge auf, innerhalb dieser wiederum im engeren Rahmen die Theologie einer Zeit. Die Fruchtbarkeit der Theologie für die Predigt hangt mit davon ab, ob der Prediger sich der Zeitbedingtheit seiner Theologie bewußt ist. Das Wissen um diese Bedingtheit kann nachlassen,

und die Theologie einer Zeit kann in bedenkliche Nähe des Absolutheitöan-

spruchs rücken. Dann wird die Weite und Lebendigkeit der Wahrheit er­ drückt durch die Enge und Starrheit einer über Gebühr zur Allgemeingel­ tung erhobenen Einzelschau der Wahrheit. Die Erkenntnis der Wahrheit wiro eingezwängt in die eingleisige Bahn dieser Theologie. Das bleibt ge­ fahrvoll, auch wenn es gleichzeitig Kraft hat und wirkliche Erkenntnis be­ deutet, ja selbst wenn es ein Durchbruch wesentlicher Erkenntnis zunächst gewesen ist. Die Gefahr kann nicht von der Theologie aus überwunden wer­ den. Man beobachtet vielmehr durchgängig, daß Theologen engen Herzens auch in jeder theologischen Auseinandersetzung eng bleiben und auch die andere theologische Schau der Dinge in ihre Enge einbeziehen. Wer durch Theologie sich erweitern läßt, erfährt diese Erweiterung nicht eigentlich durch die Theologie, sondern an ihr. Er war einer Verengung verfallen, die sein weiteres Wesen nicht tragen konnte, und hat nun anläßlich theologi­ scher Studien sich in die Lebendigkeit zurückgefunden. Die Theologie eines Predigers ist also neben der Jeitbedingtheit auch subjektbedingt. Die weitgehende Wirkung dieser zweiten Bedingtheit darf nicht unterwertet werden infolge der Ähnlichkeit gleichzeitiger Theologien und infolge der Einordnung des Theologen etwa in «ine theologisch be­

stimmte kirchliche Gruppe. Eben diese Einordnung vollzieht er auf Grund

seiner subjektiven Artung und aus innerer Notwendigkeit, sowohl, wenn er zu der unmittelbar seinem natürlichen Empfinden entsprechenden Theo­ logie sich schlägt, wie wenn er zum Widerspiel der natürlichen Färbung kommt. Im ersteren Falle folgt er seiner positiven Seite, im zweiten seinem „Widerspruch zur Welt". Wo die Kirche „radikal" genommen wird in die-

88

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

fern Sinne, erfüllt der Theologe das Bedürfnis seines Gegensatzes gegen die „Welt". Auch wo uns die Wahrheit überwindet und wir nun also dem Absoluten und „der" Wahrheit gegenüberstehen, ist sie — die ja tausend­

fältig auch vorher da war und ohne uns radikal zu treffen — unö in der uns subjektiv entsprechenden Weise begegnet. Es bleibt wahr, daß es „die" Wahrheit ist, der wir begegnet sind, aber es bleibt ebenso wahr, daß wir die Gestalt der Wahrheit (in diesem Falle die Theologie), psychologisch gesehen uns „ausgesucht" haben, d. h. daß sie unö nur überwinden konnte, weil sie unö in der unserer Subjektivität entsprechenden Gestalt gegenübertrat. Er­ arbeitung einer Theologie ist stets Auswahl nach Wahlver­ wandtschaft. Das subjektive Empfinden, „objektiv" zu sein, ändert daran

nichts, da es jeder gewissenhafte Arbeiter hat und die Ergebnisse doch ver­

schieden sind. Die Relativität jeder Theologie und die Vielgestaltigkeit des Erfahrens der Wahrheit wird also schon dadurch erwiesen, daß es stets mehrere Theo­

logien nebeneinander gibt. Die Entscheidung der Wahrheitsfrage liegt nicht in der Korrektheit der Theologie, sondern sehr viel tiefer und zwingende« in der Echtheit der Begegnung. Wäre es nicht so, so gäbe es weder echtes theologisches Gespräch innerhalb der Kirche, noch eine una sancta. Jede echte Theologie entsteht, unter intensiver Zuhilfenahme des je und

gegenwärtig theologisch Erarbeiteten, letztlich an der Urkunde der Offen­ barung. Diese aber ist im prägnanten Sinne nicht Theologie, sondern

Zeugnis, d. h. nicht Lehrausdruck, der von einer menschlich beschränkten Seite her die Offenbarung zu fassen suchte, sondern allseitiger und ursprüng­ licher Ausdruck der Erfahrung geoffenbarter Wahrheit und Wirklichkeit. In­

dem dies urkundliche Zeugnis psychologisch auch Erfahrung wie jede andere, theologisch aber einzigartig ist, ist es Spitzenerfahrung der der Kirche gegebenen Wahrheit, also der reinste Ausdruck der höchsten und rein­ sten Erfahrung der Gotteswirklichkeit und damit Quelle aller Erfahrung und Erkenntnis der Kirche. Von da aus stuft der gereinigte Ausdruck der Erfahrung sich nach unten ab in Dogma bzw. Bekenntnisschriften, in Theo­ logie der Kivchen und Gruppen und in Theologie des Einzelnen. Die

theologisch verschiedenartige Bewertung dieser einzelnen Stufen ändert nicht den psychologischen Stufengang. Theologie ist Hilfsmittel zur Klärung

der Erkenntnis der geistlichen Wirklichkeit. Als solches aber ist sie zweideutig. Recht verwendet, hilft sie wirklich. In diesem Falle wagt ihr Benutzer es, über sie hinaus und durch sie hin­ durch den Wirklichkeiten zu begegnen. Das ist aber immer ein Risiko des

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 89

ganzen Seins. Man darf nicht meinen, daß man als Theologe eo ipso dazu befähigt oder gar bereit sei. Vielmehr kann Theologie, indem sie die geist­

lichen Realitäten zum Ausdruck bringt, auch als Ersatz für sie genommen werden. Denn indem sie ausgedrückt sind, sind sie gleichsam gebändigt. Was wir im Begriff und im Wort haben, hat seine überflutende Macht

eingebüßt.

Daß diese Gefahr uns nicht überwältige, ist nicht einmalig zu erkennen,

sondern im fortlaufenden Kampf zu wahren. Es gilt hier entsprechend von der Theologie, was Jung vom Dogma sagt: Er weist auf Fälle hin, in denen Patienten durch die Loslösung aus kirchlicher Autorität in Krisen und leidenschaftliche Konflikte, ja in die Angst vor dem Wahnsinn gerieten und in verzweifelte Verwirrung und Depression, so grotesk und furchtbar, „daß ich völlig überzeugt bin von der außerordentlichen Wichtigkeit des Dogmas

uno Rituals, zum mindesten als Methoden geistiger Hygiene"5". „Das Dogma ist... sehr wirksames Schutzmittel gegen weitere unmittelbare Erfah­ rungen" 52 53. Dem steht gegenüber: „Der Protestantismus war, und ist noch,

ein großes Risiko, und zu gleicher Zeit eine große Möglichkeit. Wenn er fort­ fährt, sich als Kirche zu desintegrieren, so hat das den Erfolg, den Menschen all seiner geistigen Sicherungen und Verteidigungsmittel zu entblößen, welche ihn gegen die unmittelbare Erfahrung jener Kräfte sichern, die im Unbewußten auf Befreiung warten"54. „Der Protestant ist Gott allein

anheim gegeben"55. 56 „Wenn ein Protestant den vollständigen Verlust seiner Kirche überlebt und doch Protestant bleibt, d. h. ein Mensch, der Gott gegen­ über schutzlos ist und nicht mehr geschirmt durch Mauern oder durch Ge­ meinschaften, so hat er die einzigartige geistige Möglichkeit der unmittelbaren

religiösen Erfahrung"5^. Ob Jung die protestantische Kirche ihrem ge­ reinigten Selbstverständnis entsprechend sieht oder nicht, ist in unserem Zusammenhang ohne Belang. Er bringt eine grundlegende Erfahrung zum

Ausdruck, die jeder Prediger durchleben muß, wenn er wirklich „Ver­ künder" sein will, nämlich die Verlassenheit des PreiögegebenseinS, die wirk­

liche Entsicherung, in der die Schematisierung der im Grunde bis dahin doch bewahrenden „Theologie" von der Sünde und dem Zorn Gottes usw. zerbricht, weil die Wirklichkeit erfahren wird. 52

53 54 55 56

G, Jung, Psychologie und Religion. S. 80/1. Cbda. S. 85. Cbda. S. 88. Cbda. S. 89. Edda. S. 91.

90

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

Die Theologie dcö Predigers steht somit, je mehr sie echt ist, um so inten­ siver in einer lebendigen Entwicklung. Voreilige „Entschiedenheit" ist unter Umständen nicht eine Macht in der Kirche, sondern eine Waffe des Teufels, die sich gegen den Aufbau echter Kirche auSwirkt. Denn der Pre­ diger zwingt sich in ihr aus vermeintlich notwendigem „Fertigsein" heraus. Schritte und Stadien seines Weges zu überspringen, die er damit in Wahr­ heit nicht bewältigt, sondern deren Verwirklichung er damit zunichte macht. Die gewichtslose eifrige Selbstverständlichkeit, mit der weithin solche Granit­ blöcke wie Rechtfertigung, Tod Christi, Versöhnung, Auferstehung u. a. in

der Verkündigung gehandhabt werden, ist ein erschütterndes Merkmal feh­

lender „unmittelbarer Erfahmng". Und das führt die Gemeindm unmittel­ bar dazu, daß auch sie ihrerseits diese Wahrheiten nur rationalisiert, d. h. ohne Erfahrung rational, bejahen. Es gibt in der Verkündigung der geistlichen Wirklichkeiten keinen die Er­ fahrung ersetzenden Rückzug auf die unangefochtene lehrhafte Form dieser Wahrheiten, um gleichsam vorläufig schon über sie predigen zu können. Die rationalen Prädikate der Gottheit gelten und sind nur an einem Jrra?tionalen'^. Das gilt auch von der Aussage über den Gott der Christenheit. Das Irrationale aber ist das nur durch unmittelbare Erfahrung

zugängliche Wirkliche. Glaube ist nur da, wo Berührung mit der letzten wirklichen Macht vorhanden ist, und zwar eine Berührung, die lebensgestal­ tend wirkt. Wo das nicht da ist, ist die Verkündigung alö dürre Lehre nicht

gewappnet gegen den erdgewachsenen und lebengesättigten Unglauben und erst recht nicht gegen den noch viel tiefer verwurzelten und mit Kräften durchtränkten Glauben anderer Art, deren Macht in die Gemeinden von allen Seiten einbricht. Fanatismus ist kein Ersatz. Im Gegenteil: „Die Stärke eines Fanatismus ist proportional dem Empfinden eigener Bedrohtheit"S8. Auch subjektiv ehrlicher Glaube kann Komplex sein, nämlich eine Verklemmung aus Unsicherheit und dem Gefühl der Verpflichtung zur Ver­

kündigung. Gegenwärtig aber liegt eine eigentümlich einseitige Verbindung der Theo­ logie mit dem „Bekenntnis" vor.

Die Zeit der betonten Theologie ist auch die Zeit des betonten Bekennt­ nisses geworden. Das ist in sich schon Symptom einer Fehlentwicklung. Bekenntnis ist im Ursprung diejenige praktische Haltung, mit der der Mensch in Gefahr und mit dem Einsatz seines Seins sich zu seiner GlaubenS57 Nach Rud. Otto, Das Heilige V. Breslau 1920. S. 2. 58 HanS March, Dom Helfen. Berlin Furche-Derlag. Ohne Jahreszahl. S. 29.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigi 91

Überzeugung bekennt^. Die Theologie steht dabei insofern im Hintergrund,

als sie bei gleicher Bekenntnis-Überzeugung verschieden geprägt sein kann. Wird die Verbindung Bekenntnis-Glaube verschoben zur Ver­ bindung Bekenntnis-Theologie, und entsteht dadurch eine Spaltung

zwischen bekennenden Gruppen, die sich im Grunde nahestehen, weil sie sich zu einer Kirche bekennen, so ist der Grund in einer Ratioualisierung der Kirche zu suchen, die wiederum, oft gegen den Anschein, erst ermöglicht wird durch mangelnden Besitz an geistlicher Wirklichkeit in der Kirche. In den

Kämpfen der letzten Jahre treffen diese Symptome zusammen. Je gefähr­ deter die Lage der Kirche ist, um so radikaler wird das Bemühen, sie durch das gleiche „Bekenntnis" zu einen, wobei daher je und dann die Bekenntnis­ parole den wirklichen Glaubenöstand übersteigt und rational normiert, ohne doch im entsprechenden Maße wirklichen Glauben wecken zu können.

Es ist nicht zu leugnen, daß das als Selbsierhaltungömaßnahme in ge­ wisser Weise Recht und Sinn haben kann. Aber es sieht dann so auö, als ob alle so zum „Bekenntnis" Stehenden eine gewachsen« Einheit wären, und als ob jeder von ihnen in wesenhafter und seine Haltung berechtigender Voll­ ständigkeit auf dem Bekenntnis stünde. Gewaltsam gewordene Situationen können aber nur dadurch entwirrt werden, daß man sie analysiert und ihre Vielfältigkeit erkennt, so daß die scheinbar vorhandene Betonwand sich auflöst in Einzelne und ein jeder in seinem Eigenwesen sichtbar wird. Unternimmt man diesen Versuch bei der Kirche und ihrem Bekenntnisstand, so zeigt sich, daß unbeschadet der sub­

jektiven Ehrlichkeit der Haltung doch die subjektive Echtheit vielfach fehlt. Sie wäre nur dann vorhanden, wenn jeder mit seinem Bekenntnis in einer gewachsenen und für ihn unabdinglichen Haltung sich befände. Der durch die bekenntnismäßige Einheitlichkeit entstehende Eindruck darf aber, obwohl er nach außen hin ein geschlossenes Bild gibt, doch nicht aus gleichsam tak­ tischen Gründen unberechtigt festgehalten werden, weil er nach innen hin bei

den Führenden falsche Beruhigung, bei den Geführten vielfach geheime Beunruhigung hervorruft. Denn er zwingt viele mitzugehen, die das eigent­ lich nicht können. Und er uniformiert die Gemeinde und bietet in den Theo59 Mr können hier nur die uns in unserem Zusammenhang besonders angehende psy­ chologische Linie herausarbckten. Für den theologischen Charakter des Bekenntnisses und damit des Dogmas vergleiche man zu diesem Abschnitt und zu Kap. III, II. 2. die Schrift von Wilhelm; Maurer, Bekenntnis und Sakrament, Töpelmann> Berlin 1939, die die Entstehung des Bek. aus dem Sakrament herausarbeitet und das Verständnis des Bek. und des Dogmas damit wesentlich vertieft.

92

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

logen, die als Vorbild dastehrn, ein unwirkliches und darum verwirrendes Bild. Die Analyse setzt am besten ein bei den jungen Theologen, die die

Bekenntnishaltung in einseitiger und radikaler Form einnehmen. Es »st für den tiefer schauenden Blick zweifellos, daß da vielfach Gewaltsamkeit vor­ liegt. Die Bekennenden usurpieren in solchem Falle eine Wahrheit, die sie noch nicht haben, und erheben einen Anspruch, den sie noch nicht stellen dürfen. Die Usurpation geschieht subjektiv in ehrlicher Überzeugung. Sie ist nicht ein bewußter Übergriff, sondern ein mangelndes Spüren der Unbe­ gründetheit der eigenen Erkenntnis uyd Erfahrung, weil diese nicht persön­

lich ist, sondern im Anschluß an eine Gruppe übernommen wird. Dem Be­ kennenden selbst und den Beobachtern wird dies Manko vielfach verdeckt durch des Betreffenden Hingabe und Opferbereitschaft, die in keiner Weise in Abrede gestellt werden soll. Hingabe ist aber kein Beweis für Rich­

tigkeit. Auch dem Fremdgläubigen, selbst etwa dem Mohamedaner, spre­ chen wir Hingabe nicht ab, sind aber trotzdem nicht von der Richtigkeit: seines Glaubens überzeugt. Das BekennMis ist überwiegend Anschluß an die Kirche, also an die Tra­ dition, an die Väter. Es bleibt das „Bekenntnis der Väter", auch wenn es gegenwärtig geprägt ist. Somit liegt psychologisch gesehen eine Vater­ bindung vor, eine Übertragung auf eine „Beziehungsperfon". (Die Be­ ziehungsperson ist gegenwärtig sehr oft Luther.) Aber „solange man eine Be­ ziehungsperson hat, ist man gmndsätzlich abhängig, grundsätzlich subaltern,

und kein ruhiger in sich gefestigter Mensch" 00. Solche Übertragung (Projektion) ist aber „Verdrängung des Konfliktes inS Unbewußte und Hinaussetzung des verdrängten Inhaltes in die anschei­ nende Objektivität"". „Die Verdrängung dient zur Erlösung von einem

peinlichen Komplex"". Der Konflikt ist die Spannung zwischen btr scheinbaren Pflicht der „Entscheidung" und der innerlich für eine solche (mitaller theologischen Ganzheit) noch nicht fertigen Situation, der Konflikt also letztlich zwischen Kirche und Welt, der gewaltsam gelöst wird, durch ein. gleichsam verfrühtes Bekenntnis zur Kirche. Es wäre nicht verfrüht, wenn,

eö sich nicht nur persönlich, sondern auch in der öffentlichen Sicht allerhand Einzelentscheidungen, auch wichtige, vorbehalten könnte. Das kann es aber nicht infolge der gespannten Situation. Der Beweis dafür sind die mannig­ fachen Gewaltsamkeiten und Übersteigerungen jugendlicher Bekenntnis60 Fritz Künkel, Sins, in bi« Charakterkünde. S. 62. 61 C. ®. Jung, Wandlungen u. Symbole der Libido. S. 62.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 93

treue, die in eine enge und anspruchsvolle, oft selbstgerechte Lebenslinie

zwingen. ES ist eine „gewaltsame Einstellung zuM Objekt", in der stets die Gefahr des unbewußten Egoismus lauert62.63 Die 64 65 echt gemeinte religiöse

Haltung wird zum „intellektuellen Egoismus" (Schlatter). Aber „wahr­ hafte Frömmigkeit ist wesenhaft nicht intellektuell"66. Und „Der Intellekt bedeutet die Loslösung von allen natürlichen Bindungen, er kennt nur

verstandesmäßige Bindungen"". Fügt man hinzu: „Wir wenden uns nicht gegen die Majestät des Intel­

lekts, aber gegen die Diktatur des Intellekts"66, so ist der Weg der Lösung

aufgezeigt. In der praktischen Situation der Bekenntnishaltung ist vielfach

der Intellekt zum Diktator geworden. Die Lehre der Kirche gilt als verpflichtend nicht durch ihren Wirklichkeitsgehalt, sondern durch ihren von anderem Bekenntnis sich unterscheidenden Lehrgehalt. Der grundlegende Bekenntnissatz, etwa, „daß Jesus Christus Gottes Sohn ist", soll „be­

jaht" werden und wer ihn, entweder infolge von Animosität, oder weil er

seine Glaubenserfahrung so nicht ausdrücken kann, zu bejahen zögert, gilt als nicht zur Kirche gehörig. Dabei werden Menschen lehrmäßig abgestoßen und als fremd beurteilt, die wefensmäßig nahe sind und gewonnen werden könnten. Bekenntnis ist in Wahrheit sehr viel weiter und verbindender. Es ist „Gestalt des Lebens, in welcher das Lebensganze zum Zeugnis und zum Gleichnis" wird66. Es ist überall im Leben ein echter Spürsinn, wenn man sich distanziert von Menschen, die durchaus korrekt sind, und mit denen man doch nicht froh wird. Es darf nicht übersehen werden, daß auch eine so

eindeutig scheinende Sache wie das Bekenntnis zweideutig ist. Das Be­ kenntnis ist notwendig, nicht nur von Gott her, sondern auch vom Teufel her, und wie eS in rechter Hand Kirche bauen kann, so kann es auch

in falscher Hand Kirche zerstören. Als prakttsche Richtlinien in der persönlichen Haltung in Theologie und

Bekenntnis, zumal zur Erarbeitung einer echten und wefenSgemäßen Hal­ tung, können folgende dienen: 62 Diese Gefahr ist von Jung am extrovertierten Typus aufgezeigt in: Psychologisch« Typ«,. S. 484/5. 63 Karl Beth, In: Statisch« u. dynamische Religiosität, Ztschr. f. Religionspsycho­ logie 1928, Heft 2, S. 115. 64 Brandl, Kriminalität u. Weltanschauung. In: Ztschr. f. Religionspsychologie, 1930, III, S. 30. 65 Edda. S. 31. 66 Wilh. Stählin, Vom Sinn des Leibes, II. Aufl. Stuttgart 1934. S. 116.

94

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

„Man muß so handeln, als wäre man allein; und wird man dann stolze Häuser bauen? Man würde ohne Zögern die Wahrheit suchen"«7. Man

frage sich ehrlich: Was weiß ich überhaupt von Kräften, die nicht von der

Erde sind, und halte sich in allen Einzelfragen klar, daß das Bekenntnis der Kirche Bekenntnis zur Wirklichkeit des lebendigen Gottes ist. Die Bindung des Bekenntnisses ist nicht Angebundensein an Worte, sondern Eingebundensein in die Wahrheit und Wirklichkeit Gottes und in die leben­ dige Gestalt der Kirche. Echtes Bekenntnis entsteht nicht dadurch, daß wir

uns emporsteigern zu Aussagen, die sich mit der von uns erlebten Wirklich­

keit noch nicht decken, sondern daß wir unser Wort zurückschrauben auf den Ausdruck dessen, was wir ernsthaft erfahren haben und ganz zu tun be­

reit sind. Die Dogmatik des Theologen soll deshalb nicht einem gut ver­ walteten Museum gleichen, sondern einem gut durchkonstruierten und zu­ verlässig arbeitenden Motor. Jedes Stück muß erarbeitet werden in Aus­ einandersetzung mit der Wirklichkeit, denn „der Geistliche ist,... erstens

selbst ein Christ, und sodann ein Theolog"^. Wir müssen ständig den Rückgriff von der Theologie zur Wahrheit vollziehen, nicht gegen die Theologie, sondern durch sie und mit ihr. Der junge Theologe neigt dazu, in der Theologie steckenzubleiben, der ältere, an ihr vorüberzugehen. Beide verfehlen ihre Kraft. Die Ungeduld in drängender Zeit, auch die des Studenten, vor der lang­ samen Durcharbeitung eines weiten Raumes muß auch in drängender Zeit überwunden werden, denn grundlegend ist nicht, daß man zu Konse­ quenzen kommt, sondern daß man zur Substanz kommt. Letztlich muß der Blick des Theologen (wie der der Gemeinde) nicht auf die Theologie

der Kirche gerichtet sein, sondern auf die Wahrheit Gottes, nicht auf die Christologie, sondern auf Christus, nicht auf «die Lehre vom Geist, sondern auf die Macht des Geistes, nicht auf die Lehre von der Schöpfung, sondern auf den Schöpfer und sein Werk. Und in allem klärenden Ringen um echte Theologie gilt eö, die Scheinauseinandersetzung zu meiden. Schein ist jede Auseinandersetzung, deren Ausgang schon vorher entschieden ist. Dadurch wird sie unwirksam für ihren Träger und für die Gemeinde. Das gilt auch den Gemeinden

gegenüber, die, selbst in verfehlter Zielsetzung, eine derartige verfehlte Hal­

tung des Predigers nicht erkennen oder gar sie fordern. 67 Pascal, Auswahl. Sammlung Dieterich Bd. 7. Leipzig. S. 13. 68 Schleiermacher, Prakt. Theologie. S. 241. Sperrungen von uns.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 95

Die Echtheit der Predigt hängt davon ab, daß wir den entsprechenden Ausdruck unserer Haltung erarbeiten. Aber die ehrliche Arbeit fängt gleich­

sam auf der untersten Stufe an. ES ist ein verhängnisvolles Merkmal einer Kirche und eines Predigers, wenn sie im lehrhaften Urteil sicherer sind als im lebenSmäßigen, in der Korrektheit sicherer als in der Tiefe, in der Beur­ teilung der geltenden Grenzen und Unterscheidungen fähiger als im Erspüren der Kraft und des Geistes. Die Wahrheit hat die Kraft, zu sprengen wie das

wachsende Korn die Erdkruste sprengt. Theologisches Ressentiment hat die

Eigenschaft, zu sprengen wie Dynamit sprengt. Viel Polemik auf der Kanzel ist nicht Kraft des Sprengens, sondern Kraft der Sprengung. Die Predigt

muß immer die ganze Spannweite von dem Urlaut der Offenbarung bis zur voll erfüllten Offenbarung Gottes in Christus haben. Eine Theologie und ein Bekenntnis, die dieser Spannweite nicht gerecht werden, werden auch der Wahrheit und der Wirklichkeit nicht gerecht. Man hat dann

Waben, aber keinen Honig drin. „Ein feste Burg ist unser Gott", aber nicht „ein fester Bunker ist unsere Theologie"! So gewiß Wissenschaft die ganze Kraft und Freude des in ihr Arbeiten­ den in Anspruch nehmen darf, so gewiß sie in bestimmtem Sinne grund­ legende Bedeutung hat, so sicher muß doch immer zugleich erkannt bleiben, daß sie bedingt und zweiten Ranges ist. Am nächsten einer Erkenntnis ersten Ranges kommt wissenschaftliche Arbeit in der Philosophie und, theologisch gesehen, in der Systematik. Es ist aber eine Verkennung der eben angeführten Tatsachen, wenn man in der

religiösen Haltung die Philosophie und in der kirchlichen die Dogmatik nun als solche erstrangig wertet. ES hängt stets von der einzelnen Leistung ab, inwieweit einem derartigen Ausdruck der Wahrheit letzte Geltung zukommt. Auch die Höchstleistungen dieser Art in der Theologie, etwa Luther, sind zu

messen nicht nur nach der gleichsam grundsätzlichen Stellung ihres Autors, sondern ebenso jeweils nach dem Maß von letzter Erkenntnisbedeutung, das ihnen im einzelnen zukommt. Der Maßstab hierfür ist die mit Höchst­ erkenntnis arbeitende ehrfürchtige Beurteilung auö der Gesamterfahrung der Kirche heraus. Das bedeutet aber praktisch, daß wir alle kein eindeutiges letztes Urteil haben, und also auch hier in dem Maße, in dem es sich um lebendiges Gut handelt, im Risiko stehen und auf dem Wege sind. Hieraus ergibt sich weiter, daß das eigentlich Wirksame in der Verkündi­ gung nicht die Lehre, sondern der Glaube ist, nicht also derjenige Aus­ druck kirchlicher Erkenntnis, der von der Kirche sozusagen in objektivem

Vertrauen übernommen wird, sondern der, der in echter Verbindung

96

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

mit dem gelebten und erfahrenen Glauben steht. Im Grundewirkt

nicht die Rechtgläubigkeit, sondern die Dynamik und der Prozeß der Verwirklichung im Leben. In diesem Sinne ist Erkenntnis der Offenbarung ebenfalls als Schicksal zu werten, und der Theologe, der sich auf dem Wege weiß, wirkt stärker,

echter und mehr im Sinne der Offenbarung als der seiner Theologie allzu

sichere. Echter Glaube ist wirksamer als fertiger Glaube. Der bekannte Rat „predige Christum, bis du ihn hast, nachher wirst du

ihn predigen, weil du ihn hast"39, ist berechtigt nur in einem sehr einge­ grenzten Sinne: soweit nämlich die äußere Erfahrung einer bereits ge­ machten inneren Erfahrung noch nicht nachkommt, also etwa in Zeiten der Depression oder in schwierigen Erlebnissen, die dm Glauben auf eine stär­

kere als bisher erlebte Probe stellen. Mer Wahrheit als beziehungslose Auto­ rität angmommen macht den Bekenner zu einem reichen Manne, dem sein Konto gesperrt ist. Richt also darf man predigen, was man nicht hat und

noch nie gehabt hat, auch wenn es einwandfrei „der Glaube der Kirche" ist. Sobald man das tut, tritt eine Verfälschung des Werdens der Predigt hin­ sichtlich der subjektiven Wahrhaftigkeit ein. Es ist bedeutsam und erfreulich, wie vielfältig gerade tief in der christlichen "Erkenntnis stehende Theologen hinsichtlich der subjektiven Wahrhaftigkeit bis ins Äußerste gewissenhaft sind. Unter den klassischen Theologen sei Vil­ mar angeführt: „was man noch nicht erlebt hat, davon schweige man fitll"69 70.71Ähnlich 72 Hering: „Es muß dem Wort des Werdenden «ine Zu­

rückhaltung gestattet sein, die doch nicht Verleugnung der objektiven Wahr­ heit sein will"77. Um die Jahrhundertwende Cremer: „Da diese Erfah­ rung (des Heils) nicht erzwungen werden kann, so hat der Prediger zu

unterscheiden zwischen dem, was er erfahrungsgemäß weiß, und zwischm dem, worüber er sich erst eine Meinung gebildet hat"7 2. In neuer Zeit Dedo Müller: „Ser Prediger muß ganz zentral nur Diener der Kirche sein und das Evangelium verkündigen. Aber daraus wird oft die falsche Objekti-vität gefolgert, daß er auch etwas sagen könne und sogar viel solches sagen

müsse, weil er das ganze Evangelium verkündigen soll, was nicht durch feine Subjektivität hindurchgegangen ist"73. 69 Hering, a. a. O. S. 410. 70 Vilmar, Pastoraltheologie. S- 41.

71 Hering, a. o. O. S. 67. 72 H. Cremer, Pastoralrheologie. Hrsg, von C. Cremer, Stuttgart 1904. S- 68.

79 Alfred Dedo Müller, Du Erde höre. Berlin 1930. S. 25 u. 31.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 97

Theologische Strömungen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit

haben keinen Grund, so geringschätzig von der „Erfahrungstheologie" zu reden, wie es zum Teil geschah. Der Ansatz der Ersahrungstheologie ist ge­ sünder und wirklichkeitsnaher als der einer Theologie mit Höhensteuor, dessen eifriger Betätigung besonders jüngere Theologen vielfach verfallen

waren. Der auö dem Geist der Kirche resultierende Rat stimmt mit dem über­

ein, was die Zeit erwartet und, wenn sie nicht in falscher Entwicklung steht, auch die Gemeinde: Der Prediger steht nicht über der Gemeinde, son­ dern er ist der Kampfkamerad eines jeden ringenden Menschen. -Wie im

Kampfe steht der Führer nicht am Ziel, um Hinweise zu geben und zu win­ ken, sondern er geht der Truppe voran als der Erste, der mit ihr das vos

Augen liegende Feld zu erobern hat. Man kann gewiß sein, daß zurück­ haltende und Fragen offenlassende Äußerungen, wenn sie echter Ausdruck

deö Standortes des Predigers sind, helfender wirken als bestimmte, die über seine persönliche Erfahrung hinausgreifen. Wer aus dem Zurückhalten ebensowenig eine verborgene Sensation macht, wie er sie aus der vorge­ täuschten Sicherheit machen könnte, wird auch den Weg finden, seine Zu­

rückhaltung und sein Fragen so zu äußern, daß er nicht destruktiv wirkt, sondern dennoch der Führende bleibt, und in der Gemeinschaft deö Kampfes um die Wahrheit Gottes vorangeht. Wer mit der Gemeinde daö Geheimnis

Gottes anzubeten vermag auch da, wo er schweigen muß zu Erkenntnissen, über die er gerne befähigt wär« zu reden, beweist mehr echte Führerqualität, als wer glaubt, er müsse zu allem etwas sagen können. 4. Grenzgebiete

Zur Theologie im Rahmen des persönlichen Lebens gehören die theo­

logischen Spezialgebiete des einzelnen und die wissenschaftliche Allgemeinbildung. ,Me allgemeine wissenschaftliche Bildung ist eine viel wichtigere Bedin­ gung für eine segensreiche Wirksamkeit auf der Kanzel, als es oberflächliche Betrachtung augifct"74. Jeder Prediger sollte ein theologisches Gebiet nach persönlicher Neigung haben, in dem er sich einigermaßen zu Hause fühlt.

Auch wo die Zeit knapp ist, sollte es doch bereitliegen und immer wieder auf­ gegriffen werden. Denn auch in der theologischen Arbeit gilt die Wahrheit von den kommunizierenden Röhren (vgl. S. 8t). Gewiß kann ein Groß­ stadtpfarrer, der öfter als ihm lieb ist, am Sonnabend spät endlich an seine 74 Krauß, Alfred: Lehrbuch der Homiletik. 1883. S. 134. 7

haendler, Die predigt

98

Di« Bedeutung des Subjektes für das Werden -er Predigt

Predigt kommt, nicht Spezialist auf einem wissenschaftlichen Gebiet sein.

Dennoch ist eö förderlich für den Prediger, wenigstens in bestimmten von ihm innerlich pflichtmäßig angenommenen Zeiträumen je ein wissenschaftliches Buch, wennmöglich auf dem gleichbleibenden Gebiet, in sich aufzunehmen. Man arbeitet dann auf diesem Gebiet nicht nach dem System des Befahrens einer möglichst großen Fläche, sondern nach dem des Lotens in eine mög»

lichst wesentliche Tiefe.

Die wissenschaftliche Arbeit, die darüber hinaus das Sammeln von ,Material" für die Predigt ist, muß unter dem Gesichtspunkt stehen,

daß gleichsam ein Sieb als Schutz gegen die direkte Übertragung des Ge­ lesenen in die Predigt eingeschaltet wird. Nur was wir innerlich verarbeitet haben, und was, von dem Wesen unseres Selbst durchdrungen, in uns

Eigengestalt gewonnen hat, ist reif geworden zur Verwendung in der Pre­ digt. Zn diesem Sinne gen, Karteien usw., die sichtspunktes fruchtbar lich weite Gebiete wie

gilt es Vorsicht gegenüber den sog. Swffsammlunnur unter sehr nachdrücklicher Beachtung dieses Ge­

werden. Unter der gleichen Voraussetzung sind frei­ Religionspsychologie, Mythos und Symbolik als

Quellen der Erkennntnisse, die wir für eine echte Predigt brauchen, unbe­ grenzt ergiebig. Märchen und Sagen enthalten so tiefe Wahrheit, daß sie von dieser aus volle Bedeutung für die Predigt gewinnen und nicht den

Anschein zu erwecken brauchen, als ob man sie in kurzschlüssigem Entgegen­ kommen gegen Zeitströmungen verwendete. Neben der Theologie ist eine wesentliche Quelle der Predigt die allge­

meine Bildung des Predigers. Es ist dabei auszugehen von dem durch Pestalozzi erarbeiteten Verständnis der Bildung, der sie im Gegensatz zum Vielwissen als organisches „Bilden"

-er einheitlichen Persönlichkeit versteht. Bildung erfolgt dadurch, daß wir mit wesenhaften geistigen Mächten

und Gestalten Berühmng finden, die uns «ine Tiefenschau und ein Quell­ gebiet erschließen können, das uns unsere unmittelbare Umgebung nicht er­ öffnet. Die Höhen menschlichen Erkennens und Schaffens in dieser Hin­

sicht verteilen sich über die Jahrhunderte, und wer an ihnen teilhaben will, muß in die Jahrhunderte hineingehen. Denn in keiner Gegenwart ist die Fülle des Ganzen so konzentriert, daß wir auö ihr allein das Wesentliche

entnehmen könnten. Darum muß der Prediger, in die klassische Welt­ literatur hineingehen. Sie bietet nicht nur Welt- und Menschenkenntnis, sondern sie führt unmittelbar in die Räume wesenhafter geistiger Welten

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an i>er Predigt 99

ein und gibt Anteil an ihnen. Der leitende Gesichtspunkt ist nicht, daß man „als Akademiker" etwas „kennen muß", also nicht die Rücksicht auf die

anderen und deren Urteil: so genommen handeln wir mit den Großen der Menschheit wie jemand, der um anderer willen den Gottesdienst besuchte Auch Im „Weltlichen" raubt man sich damit den Segen. Vertiefung nur für sich selbst, zu der man sich Zeit läßt, und wenn es in einem besetzten Leben

halbe Stunden wären, aber Zeit, in der man nicht schaffen will oder muß, sondern wirklich eingehen kann, ist der einzig helfende Weg. Man muß bei dem Großm der Erde verweilen. Und je mehr wir es tun,

um für uns zu empfangen, um so mehr tun wir es unmittelbar im Dienst. In der Zeit gesteigerten und weiter sich steigernden Spezialistentums gilt es nicht den Kampf gegen dieses, denn es ist notwendig und nicht gewaltsam redressierbar. Aber es geht um den Ausgleich. Auch der Pfarrer ist in ge­

wissem Grade Spezialist, aber zu seinem Spezialistentum gehört die spe­ zielle Versenkung in die Weite und Tiefe des Seins. Und das soll er so intensiv auöüben, daß er nicht „Spezialist für Religion" ist, sondern der

Helfende, der soweit möglich stellvertretend für andere mit in der Weite und Tiefe lebt und daran teilnehmen läßt. Es müssen freilich die engen

Zäune abgerissen werden, innerhalb derer etwa Plato in erster Linie der Pantheist ist und Goethe a priori unter der dogmatischen Verurteilung seiner „Gott-Natur" steht. Nur was wir als Hungernde tun und nicht als anderer Küchenpolizei, wird uns wesenhaftes Eigentum. Man empfängt

fruchtbare Einwirkung von jedem, der groß und echt ist, auch wenn er ganz

anders denkt. Weltliteratur ist das Bemühen aller Zeiten um die Wahrheit, Zeitliteratur ist das Bemühen der Gegenwart um sie. Hat sie nicht die räumliche Spannweite der Weltliteratur, so hat sie doch teil an der Tendenz zur Tiefe.

Die überzeitlichen Fragen und Erkenntnisse schwingen in ihr, und sie sucht sie zu erfassen in der Sprache der Gegenwart. So gewiß wir in der Zeit jeweils leben, so gewiß ist diese Literatur nicht nur die Sprache der Zeit, sondern irgendwie auch wo sie uns fremd und entgegen ist, unsere Sprache. Sie

geht u,ns an als Ausdrucköbemühen unseres erweiterten Eigenwesens und ist in Bejahung und Abwehr wesenhaft. Man braucht keineswegs „alles" zu lesen. Im Gegenteil: Wer nicht aus Pflichtgefühl von außen her an sie herangeht, sondern sie von innen her nimmt, findet ganz von selbst die Auswahl, unter Umständen eine verhältnismäßig beschränkte, in der ihm

doch der Atem der Zeit spürbar wird als ein ihn unmittelbar angehendes Stück seines erweiterten Eigenwesens.

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Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

Wer so liest, erhebt sich über das letztlich unfruchtbare Gespräch, in dem die Zeiterscheinungen „beurteilt" werden. „Was sagen sie denn über..."

ist nur dann eine fruchtbare Frage, wenn sie die wesenhafte Begegnung, nicht die „Meinung" oder das „Urteil" erfragt. Und die Antwort ist nur dann wesenhaft, wenn sie Zeugnis der Begegnung ist. Unsere Gespräche

und unsere Predigt sind aber so unmittelbar auö der gleichen Quelle un­ seres Seins gespeist, daß wir in einem so wie im anderen handeln. Wo

Predigt Hilfe zu wesenhafter Begegnung mit der Zeitlitevatur wird, — auch

wenn sie diese gar nicht direkt nennt — ist sie zugleich Hilfe zum Wesenhaftwerden überhaupt. So gesehen gehört nicht Geist oder Klugheit oder übermäßige Schaffens­ kraft, sondern eine in der Erkenntnis der Wahrheit Gottes lebende wnb fort­ schreitende Seele dazu, um in alledem einen sicheren Blick zu gewinnen,

eine fruchtbare Erkenntnis für die Verkündigung zu empfangen und denen,

die an diese Dinge unselbständig Herangehen, wegweisend zur Seite sein zu können. Vilmar hat Recht und Unrecht zugleich: „Die Sucht nach Zeitungen ist ein Zeichen des Verfalls". „Romane sind imstande, das Wort Gottes

gründlich auszutilgen"So konnte geurteilt werden in einer Zeit, in der Zeitung und Rundfunk noch nicht die heutige Bedeutung hatten, und in der in Romanen nicht so umfassend wie heute di« Probleme des Seins ihre Gestalt fanden. „Schlingen" zerstört immer — aber eö gibt auch ein Schlingen wissenschaftlicher Literatur, daö ebenso zerstört, obwohl es Wissen gibt. Wenn also auch die Gefahr bei Romanen und Zeitungen größer ist, so liegt sie doch ni'cht im Gegenstand, sondern im Menschen.

Schreiner empfiehlt besonders das Lesen guter Biographien. Gewiß kann man viel von ihnen lernen, aber chre bevorzugte Betonung ist schon Verallgemeinerung einer persönlichen Vorliebe. Jeder muß hevausfinden,

was für ihn das Fruchtbarste ist, und das ist verschieden. Aber es geschieht unmittelbar im Dienste der Predigt, wenn es sich auch sehr mittelbar auswirkt, daß der Prediger planvoll die Vertiefung in die

Literatur in seinen Lebensrhythmus einordnet, und es ist wesen­

haftes Denken, wenn er diese wichtige Möglichkeit und Pflicht nicht von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr den Tagesaufgaben opfert. Wald und Feld, Berg und See, Reisen und Wandern u. ä. sind keineswegs nur der aus dem Einerlei und der Mühe des Alltags „heraus75 Vilmar, Pastoraltheologie. S. 161.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 101

reißende" Urlaub, in dein man einmal aufatmet, saubern die mit dem Ge­ samtleben verbundenen Atemzüge, in denen auf größerem Raum der Mensch sich findet und im Wesenhaften ruht.

All diese scheinbar peripheren Dinge haben um so mehr ihren echten Ort in dem Gesamtorganiömuö des Lebens, je mehr sie mit der Tiefe und dem

Zentrum des Selbst in Berührung und wechselseitiger Beziehung stehen. Und in dem entsprechenden Maße wirken sie sich aus,

auch wenn

eS

manchmal ganz indirekt und unbemerkt geschieht, auf die Gestaltung der Predigt als einer Verkündigung von Mensch zu Mensch. 5. Eh« u«b Familie

Zu dem komplizierten Schicksalsanliegen der Gegenwart gehört das Pro­

blem der Ehe und der Familie mit seiner besonderen Problematik in der gegenwärtigen Neuordnung des ganzen Lebens.

Der Gießener Jndividualpsychologe Neumann hat auf die besondere Problematik der Pfarreröehen hingewiesen. Wir sind der Überzeugung,

daß die Pfarrersehen in der Gegenwart immer noch mit zu den besten Ehen gehören, am meisten da, wo man um die grundsätzliche Problematik der Ehe

in heutiger Zeit weiß, am wenigsten da, wo man die Ehe in bürgerlicher Schwergewichtigkeit problemlos als eine „selbstverständliche" Angelegen­ heit nimmt. Doch kann nicht geleugnet werden, daß gerade hier vielfach in besonders leidbeschwerter Form Probleme stillschweigend getragen und mit

heimlichen Schmerzen durchgefochten werden, die in der Zeit liegen und dar­ um auch in jedem Stande gegenwärtig sich irgendwie auSwirkcn. In Pfarr­

häusern geht eS bei dem Problem der Ehe sehr oft darum, daß unter der tragenden Kraft eines Glaubens, der verpflichtet und hält, Schwierigkeiten nicht in so krasser Verlassenheit erfahren werden wie von anderen Mm-

schen, aber doch da sind, und dadurch gefährlich werden, daß auf diese Weise nun mt Vergleich zu anderen Menschen ein Stück unerfahrene Wirklichkeit da ist, in dem diese gerade stehen.

Predigt entsteht aus dem wirklich gelebten Leben, nicht aus dem Ideal. Er­ fahrungen werden auf dem Wege gemacht und nicht erst am Ziel. Dadurch

wird es für das Pfarrhaus zur besonderen Gefahr, wenn mit Rücksicht auf die Glaubensverpflichtung bzw. auf die Gemeinde Probleme unterdrückt

werden und man sich Schwierigkeiten verbirgt, die in anderen Ehen unbe­ schwerter, natürlicher und gleichsam harmloser angenommen werden und

darum ausgetragen werden können. Aber doch ist gerade der Pfarrer der, der anderen in ihren Nöten helfen soll, und darum nicht weniger, sondern

102

Di« Bedeutung des Subjektes für das Werden -er Predigt

mehr alles, tvaö das Leben in diesem Sinne als Schicksal berührt, durchtragen und vemrbeiten sollte. Da die Predigt nur durch verarbeitetes Schick­

sal wird, entsteht also aus der Predigtverpflichtung die unmittelbare Auf­ gabe, trotz aller entgegenstehenden Gewichte alle Probleme der Ehe und der Familie wirklich zu durchleben. Wenn man könnte, müßte man die

durch den Glauben gegebene „Sicherung" und die durch die Gemeinde ge­

gebene Verpflichtung ausschalten und wie ein anderer seine Probleme durch­ arbeiten. Da diese Ausschaltung nicht möglich ist, steht der Pfarrer vor der anderen Menschen gegenüber schwererm Aufgabe, trotz des Problems von der Sicherung zur Gewißheit durchzustoßen, trotz des Pfarrerseins das Schicksal seines Hauses ganz und voll zu durchleben. Wo in voreiliger Be­ jahung der Tragkraft und Verpflichtung alle die hindurchtragenden Mächte in Anspruch genommen werden, werdm die Probleme nicht gelöst, sondern unterdrückt. ES geht dann weiter, aber nicht kn Freiheit und Beschwingtheit, sondern unter einem heimlichen Druck. Dadurch aber wird daS innere Wissm gehemmt, mit dem man vor die Gemeinde sollte treten können. Der

Prediger ist berufen zur unerbittlichen Wahrhaftigkeit vor sich selbst, die

er kn vollem Wissen um die genannten Gefahren durchführen muß. Nur so kommt er zur Reife, und nur so wirkt fein Ehe- und Familienschicksal sich vollwertig für seine Verkündigung aus. 6.

Schicksalsmitgift

a) Erbmasse und Tradition

Im Rahmen des Schicksals sind weiter diejenigen Kräfte zu beachtm, die als Schicksalsmitgift bezeichnet werden können. Zunächst kommt die Erbmasse in Betracht. Wir haben gesunde und un­ gesunde Charakterzüge mitbekommen. Geerbt« Gesundheit und Kraft sind als Kapital zu werten, das nicht nur freudige Arbeit ermöglicht, sondern die stimmungsmäßig« Ureinstellung

zur Welt wesmtlich beeinflußt. Der Gesunde hat mehr Zuversicht und Mut.

Sie werden aber für seine Predigt erst dann ganz fruchtbar, wenn er nicht trotz ihrer und außer ihnen, sondern aus ihnen heraus es lernt, den Schwa­ chen schwach zu sein und den Bekümmerten bekümmert zu sein.

Wem geerbte Gesundheft und geerbte Schwächen so gemischt sind, daß er wohl gerne die Mischung zugunsten der ersteren ändem würde, wird, abge­

sehen von den Möglichkeiten, die sich in der Erarbeitung des Selbst in dieser Hinsicht ergeben, seine Anlage für die Verkündigung dann voll auswerten

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 103

können, wenn er auch in diesem Sinne die tiefe Wahrheit des Wortes er­ fährt, „wenn ich schwach bin, so bin ich stark" 7§.

Au den Belastungen, die wir zu tragen haben, gehört auch das unge­ lebte Leben der Eltern, d. h. diejenigen Lebensgebiete, in denen ihr Sein sich nicht voll hat auswirken können, sei es unter Schicksalsdruck, fei es

unter weltanschaulichem Zwang. Der Bereich dieser Einwirkungen umfaßt auch alles, was noch aus früheren Generationen über die Eltern zu unö

kommt, und das Gesamtmilieu der Erziehung. Die Möglichkeit, durch psy­ chologische Durcharbeitung des eigenen Seins der Predigtwirksamkeit zu dienen, kommt an diesem Punkte deshalb unmittelbar in Betracht, weil eine Klärung dieser komplizierten Zusammenhänge nicht ohne kundige psy­ chologische Führung möglich ist.

Man soll sich nicht scheuen, solche Möglichkeit zu nutzen, auch wenn sie von mchttheologischer Seite geboten wird. Wenn Luther das wundervoll kühne Wort prägen kann: „fiducia dilatat cor, frontem et vocem, timorvero

hec omniä contrahit et stringit“76 77, so liegt hier freilich eine Erfahrung vor, in der Glaube ohne Hilfe die befreiende Kraft besitzt. Aber die hat er eben leider Gottes nicht immer, weil er nicht immer voller Glaube ist. Die Predigt wirkt aber um so überzeugender, helfender und befreiender, je mehr sie gettagen ist von einem Menschen, dessen „Herz, Stirn und Stimme frei" ist. Eö ist deshalb kindischer Glaubenstrotz und nicht männlicher GlaubenSmut, wenn wir in Lagen, wo die selbständige Kvast unseres Glaubms sich als nicht voll entwickelt erweist, auf Hilfen verzichten, die sich uns an-

bieten. Wir können mit ihnen, nicht gegen den Glauben, sondern in seinem Sinne, das erreichen, was wir für eine vollwertige Gestaltung der Predigt brauchen. Bedeutsam ist ferner für die Predigtarbeit, daß der Prediger über Art und Einwirkung seiner Familienttadition hinsichtlich ihres Charakters als kirch­ licher oder kirchenfremder Tradition klar wird. Kirchliche Tradition kann zum Segen fein, indem sie eine Mitgift an

innerer Kenntnis des Amtes bedeutet, die nicht nur vor manchem Fehler bewahrt, sondern auch von einem gleichsam fortgeschritteneren Ausgangs­ punkt aus ein tieferes Eingehen in die Wahrheit des Glaubms ermöglicht. Doch kann sie ebenso eine Gefahr sein in dem Sinne, daß sie an einem voll76 2. Kor. 12. 10. 77 Luther, Kommentar zum Römeobrief, Hrsg, von Ficker. S. 196 zu Röm. 8. 15.

„Der Glaube (so richtiger als Cllwem „Vertrauen") macht Herz, Stirn und Stimme frei, die Furcht aber engt das Alles ein".

104

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

wertigen und völligen Eingehen in die Gegenwart hindert. Die Neuordnuyg der Kirche (und mit ihr der Predigt) kann nur von solchen aus geschehen,

die in der Gegenwart ebenso völlig drin stehen wie in der echten Tradition^ Nur sie sind imstande, aus der Vergangenheit das lebendige Gewicht mitzu­

nehmen und doch den toten Ballast liegen zu lassen. Für die Predigt ist das von besonderer Bedeutung. Wir alle spüren, wie feinfühlig die Gemeinde für das wirklich innere Verhältnis von Überliefe­ rung und Gegenwart im Prediger und für die Möglichkeit einer aus ihrem

gesunden Verhältnis resultierenden starken Jukunftskraft ist. Um so deut­ licher muß uns sein, daß wir da keine Beziehung vortäuschen können, die nicht da ist. Der Eltern Segen baut den Kindern nicht umsonst Häuser,

sondern nur wenn sie erwerben, was sie von den Vätern ererbt haben. Er­

erbte kirchliche Tradition, selbst beste und echteste, vollgültig gegenwarts­ kräftig und zukunftskräftig als Eigenbesitz zu erwerben, ist oft sehr viel schwerer, als mit kirchenfremder Tradition in die Kirche hineinzukommen. Gelingt es aber, so entsteht eine Predigtwirksamkeit, die die Fülle der Er­ kenntnis und Lebenskraft, die aus echtester Verbindung des Christentums

mit dem Gegenwartsleben kommt, in reichstem Maße fruchtbar macht. Wer von kirchenfremder Tradition herkommt, hat besonders di« Auf­ gabe, die positiven Werte seiner eigenm Tradition im engeren Sinne für die

Kirche auszuschöpfen. Prediger, die aus philosophischer, medizinischer, na­ turwissenschaftlicher, juristischer, kaufmännischer, technischer, landwirt­ schaftlicher oder sonstwie gearteter Tradition kommen, bringen je eine be­ sondere Spezialmöglichkeit der Verarbeitung und Befruchtung

mit. Sie liegt nicht in d«m Wissens- und Könnensmaterial des betreffenden Traditionsgebietes, zumal dieses ja bei den nunmehr Theologie studieren­ den Erben nicht mehr vorliegt. Sondern sie liegt in der Fähigkeit, die gei­ stige Struktur der betreffenden Tradition und die aus ihr resultierende Einstellung zur Kirche biö in die Stimmung hinein kirchlich fruchtbar zu machen. Und auch das wiederum ist weniger eine direkte Verarbeitung und ausdrückliche Aussage, als vielmehr eine ständige, meist weithin unbewußte

Haltung. Wie man in der Regel dem Manne den Beruf ansehen kann, so kann man auch im engeren Bezirk kirchlichen Verhaltens, etwa des Ge­ spräches über Glaubens- oder Lebensfragen, dem Menschen seine Tradition abspüren. Es liegt da eine Art vor zu denken und die Dinge anzufassen,

die bis in die sprachliche Gestaltung und Ausführung hinein spürbar ist. Derartige homiletische Imponderabilien sind für die Wirkung der Kirche und für ihre Gestaltung wichtiger, als es äußerlich den Anschein hat.

Das Schicksal des Predigers in seiner Bedeutung für die Arbeit an der Predigt 105

Die Mängel der kirchenfremden Tradition sind wir als Theologen zu sehr geneigt, zuerst auf der Linie mangelnden Eingehens in kirchliche Denkart

und Sprache zu sehen. Außerhalb der Theologenschaft werden die mit sol­ chem mangelnden Eingehen verbundenen Defizits nicht nur weniger gesehen, sondern auch unwichtiger genommen, weil sie ausgeglichen werden durch — im schlichten Sinne — größere Gegenwartsnahe der Denkart und Sprache. Eö ist freilich leicht damit ein Mangel an theologischer Tiefe ver­

bunden. Das genuin kirchliche Denken ist dann unmittelbar geneigt, diesen

Mangel als das Entscheidende zu bewerten. Es ist aber selbst in solchem Falle zu bedenken, daß Tiefe und umfassende Verständlichkeit des öfteren in Spannung zueinander stehen. Wir können daö bedauern und für gefähr­ lich halten, aber nicht ändern. Bei vielen Menschen muß und kann der -Tatsache einfach Rechnung getragen werden, daß ihre Möglichkeit nach der Tiefe hin bald auf Grenzen stößt. Es gibt eine gleichsam praktische Tiefe,

die ohne in die Gründe und Geheimnisse einzugehen, doch eine Kraft rm Leben ist und die Fähigkeit haben kann, ein Dasein bis in die letzten ihm möglichen Tiefen zu durchdringen. Wichtig ist in jedem Falle, daß der Pre­ diger möglichst eindeutig weiß, wo er steht, damit er seine Möglichkeit zur vollen Auswirkung in seiner Predigttätigkeit bringen kann.

Ium Problem der Tradition gehört noch die weitere Tatsache, daß in der Regel die Tradition eines Predigers nicht einseitig ist. Es gibt Verbindun­

gen von Strömungen kirchlicher und nichtkirchlicher Tradition, die sich günstig oder ungünstig auswirken können. Im günstigen Fälle ver­ eint sich die Fähigkeit, aus wirklicher kirchlicher Tiefe zu schöpfen und ebenso

in der nichtkirchlichen Tradition voll zu stehen und aus ihr heraus redend zu verkündigen. Im ungünstigen Falle werden die kirchliche und die nicht­ kirchliche Tradition von ihrem Träger als divergente Spannung empfunden. Dann ist es nicht etwa die Aufgabe, um der AmtsvexpflichMng willen sich für die kirchliche Tradition zu entscheiden und die nichtkirchliche zu unter­ drücken. Wer das tut, wird dem ihm schöpfungsmäßig zuerteilten Auftrag in der Kirche nicht gerecht. Er hat vielmehr die Schmerzen durchzutragen, die eine in der Tiefe sich vollziehende Einung der beiden divergenten Ströme mit sich bringt, und darf in dem Maße, wie er sich dieser schweren Aufgabe

unterzieht, die dementsprechende Reife und umfassende Frucht ernten. Eine unmittelbare Befruchtung der Predigt würde weiterhin dann entste­ hen, wenn die aus der kirchlichen und die aus der kirchenfremden Tradi­ tion kommenden Elemente sich gegenseitig volle Gerechtigkeit widerfahren ließen und entsteht, soweit sie das tun. Sie müssen beide da sein und jedes

106

Die Bedeutung des Subjektes für das Werden der Predigt

von ihnen braucht das andere als Ergänzung. Auch hier ist die Mannigfaltig­

keit ein Reichtum, der realisiert werden soll. Das neutestamentliche Bild

von der Gemeinde als dem Leibe mit den verschiedenen Gliedern, die ver­ schiedenen Dienst haben und verschiedene Ehre, ist nicht ein ästhetisierender Seitenblick, sondern echter und maßgeblicher Ausdruck der Struktur der Gemeinde. b) Befangenheit und Zuversicht

Zur schicksalhaften Mitgift gehört weiterhin das Gegensatzpaar der stim­

mungsmäßigen Haltung gegenüber der Arbeit, Befangenheit und Zuversicht. Befangenheit scheint auf den ersten Blick eine geringe und darum auch geringfügige Bewegungsgehemmtheit zu sein. Es sieht aus, als ob sie leicht

aufgelöst werden, ja, als ob sie mit einer gewissen, nicht sehr großen An­ strengung einfach überwunden werden könnte. Eine bestimmte Anfänger­ befangenheit (s. Leib zusammenpreßt, wie wenn man durch zu weites Zurücklehnen dem Körper eine zentrifugale Tendenz aufzwingt. Der Leib soll 11 Geyer-Rittelmeyer, Gott und die Seele. Ulm 1906. S» 274. 12 Fr. Rittelmeyer, Meditation. Stuttgart 1930. S. 28 '9.

Meditation

139

entspannt sein und nicht gespannt, entspannt, aber nicht erschlafft. Erschlaf­

fung ist passiv, Anspannung ist aktiv, Entspannung ist eine Verbindung von gesunder organischer Passivität und Aktivität, ein ohne Gewaltsamkeit sich vollziehendes Jusammenführen der inneren Kräfte und sie Ausrichten auf die organische Mitte.

Eine „vorgeschriebene" Haltung zur Meditation gibt «S nicht. Jeder muß in eigener Erfahrung erproben, welche für ihn die geeignetste ist. Nur muß

die Haltung aufrecht sein; der Versuch, im Liegen zu meditieren ist fälsch und gefährlich, ebenso der Hinweis, „am meisten erreicht man es, wenn man im Liegen die Augen schließt"^. Man kann liegend die Gedanken wandern lassen, und man kann liegend „Betrachtungen" halten^. Aber man kann nicht echte Meditation im Liegen halten. „Meditiere nicht im Liegen, denn dann bist du hilflos und ausgeliefert"15 13. 16 14 Wer Meditation im Liegen emp­ fiehlt, spricht in Wahrheit von Betrachtung. Wer meditiert, erfährt sehr bald, wie bedeutsam die Haltung ist, und daß unrichtige Haltung nicht nur

hemmend, sondern gefährlich werden kann. ; In der Regel ist der Mensch viel gespannter, als er selbst ahnt, und was er für seinen entspannten Normalzustand hält, ist noch von allerlei Spannung und Unruhe durchzogen. Wer anfangs noch viel zu „denken" hat, und wem dabei Dinge einfallen könnten, die ihn an der Meditation hindern, weil er sie nicht vergessen darf, lege sich Block und Bleistift zu­ recht, um ein Stichwort zu notieren und dadurch die Sache loszuwerden. Entscheidend ist das Atmen. Der Prediger und Seelsorger sollte vom

Atmen wenigstens das Grundlegende wissen. Zunächst, daß das Tragende nicht das Ein-, sondern das Ausatmen ist. Dann daß die kurze natürliche Pause nach dem Ausatmen nicht übergangen werden darf, und daß man „es" von selbst wieder einatmen lassen muß. Man kommt in der Regel schon

nach kürzester, ganz prnm'tiver Übung zu einer neuen, krampflosen Ruhe und zu der Sülle, in der man den Herzschlag spürt. Der Leib wird ge­ lassen, die uns umgebende Welt zugleich ferngerückt und in neuer Beleuch­ tung gegenwärtig. Denn der Atem ist eine Art Iwischenelement zwischen Leib und Seele, tiefsinnig zum Ausdruck gebracht in Goethes Gedicht „Im Atemholen sind

zweierlei Gnaden"*". Im Atmen vollzieht sich somit auch der wechselseitige 13 Karl Behm, in: Evangelische Iahresbriefe, 1937, Neuwerkverlag Kassel. S. 134.

14 Absetzung gegen „Meditation" bei Happich a. a. 0. S. 13. 15 Carl Happich, a. a. O. S. 11. 16 Goethe, Inselausgabe, Dd. XI. S. 648 (West-vstt. Divan) und XV. S. 20.

140

Drr Weg der Subjektes -um Evangelium und zum Text

Einfluß von Leib und Seele aufeinander. Darum stockt der Atem beim Er­ schrecken, er flieht in der Hast, er strömt ruhig in der Stille. Aber zugleich stellt der Atem die Verbindung mit dem Kosmos her. So kann durch da-

Atmen Leib und Seele in Ordnung kommen oder in Unordnung gebracht

werden bzw. bleiben. Schon das ganz schlichte Atmen, das gar nichts weiter will, kann eine tiefgehend beruhigende, lösende und zum Wesenhaften führende Wirkung ausüben. Es gibt Fälle, in denen eine durchgreifende Wandlung des ganzen Wesens damit begann, daß der Mensch anfing, den Tag ttttt einigen Mi­

nuten ruhigen Atmens — in frischer Luft! — zu beginnen und zu schließen. Alles Weitere kam dann mit der Zeit von selbst und ergab sich zwangsläufig. Umgekehrt gibt es Menschen, die jede tiefgreifende Wandlung dadurch ver­ hindern, daß fie immer wieder das Atmen „vergessen": was offenbar eine unbewußte Abwehr ist. Eö geht erst voran, wenn diese Abwehr aufhört. Wer

atmet, gelassen und bereit, ist offen für daS Wesenhafte.

An diesem Sein kommt eS darauf an, nicht zu denken, sondern gescheh«! zu lassen, in nicht lässiger, sondern bern'ter Ausschaltung gewollter Iielfrtzung. Man darf warten, bis Bilder kommen oder Empfindungen oder Vorstellungen. ES werden von selbst die wichtigen Dingb austauchen, und

eS können scheinbar zufällige und fernliegende Einfälle deshalb sich ein­ stellen, weil sie, uns unbewußt, zur Zeit eine wesentliche Bedeutung für uns haben.

Im Anfang habe man nötigenfalls nur das Ziel, auf diese Weise zu« Stille zu kommen. Durchaus gut sind die Vorschläge, daß man etwa die

Vorstellung (daS Bild) von „Ruhe" oder „SMe" oder „Sammlung" me­ ditiert. Es darf nichts übereilt werden und nichts erzwungen oder auch nur hrrangeholt werden wollen. Sowie wir das versuchen, sind wir wieder beim alten Wesen und hindern alles Werden. Man muß Geduld haben und nicht auf etwas Besonderes warten. Das Besondere im tieferen Leben sieht immer anders aus, als man denkt, und kommt immer von anderer Seite her und zu anderer Jett, als man es sich zurechtgelegt hat. Man muß auch nicht ein Ergebnis feststellen wollen. Die menschliche Erlösung für dm Menschen, der Gegenwart liegt darin, daß er den Mut findet zur zeitlosen Zeit, die er nicht als verloren ansieht, weil in ihr scheinbar nichts geschieht. An

Wahrheit „geschieht in solcher Zeit oft daS Meiste und Wichtigste. Will man mit aller Vorsicht und Zurückhaltung bei diesem schwer greif-

baren Geschehen Stufen feststellen, so läßt sich etwa sagen:

Meditation

141

Das Erste, was sich einstellen muß, ist die gesammelte und entspannte

Ruhe, von der bisher gesprochen wurde, in der wir gleichsam die Stille hören, und in der das Ticken der innerm Uhr aufhört. In der Natur ist «in Gleichnis für sie die Mittagsstunde, ganz besonders die Mittagsstille eines

sonnigen und windlosen Sommertageö. Dem folgt, nicht gewaltsam, sondern selbsttätig, das Abschalten der Ratio, das gelassene Aufhören des zielgerichteten und wollenden Denkens, das man nicht hinunterzwingt, sondern gehen läßt, bis es sich aus dem unmittel­ baren Bereich des wesenhaftelt Geschehens gleichsam leise entfernt, immer

weiter weg und schließlich im Bild« der inneren Landschaft nicht mehr da ist. Es kann dann das innere Auge die Freiheit gewinnen, sich auf die innere Wirklichkeit einzustellen. Die inneren Strebungen und Bereitschaften sind nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, aber auf ein unbekanntes Kommen­ des eingestellt. Es ist nicht ein zufälliges, sondern ein geordnetes Warten,

«in Bereitsein, das das innere Wesen zur Einheit zusammenführt und in dieser inneren Einheit ruht. Das Dritte und Bedeutsamste ist das Eingehen in den wesenhaften Raum

eigentlicher Wirklichkeit. Auch das kann man nicht zwingen wollen, sondern man muß es geschehen lassen. Dazu gehört nicht nur Entspannung, sondern «in Sichlassen, ein Sichgeben in Gewalten und Mächte, denen wir vertrauen müssen, so wie wir dem Arzt uns anvertrauen, wenn er mit uns Dinge vor­ nimmt, die wir nicht kennen, und von denen wir nicht wissen, wie sie tun, und wie sie weitergehen. Noch wesentlicher ausgedrückt: wie ein Kind sich

der Mutter anvertvaut und hingibt. Denn dies Eingehen und Sichgeben in einen bisher verschlossenen Raum ist ein Weg „zu den Mütttrn", zu den Urgründen des Seins, immer wagend und unbekannt, immer mit der Mög­

lichkeit eines Geschehens verbunden, das wir aus unserem innerm Leben nicht mehr bannen können. Mit diesem Eingehen und Sichgebm beginnt

der eigentlich schicksalhafte Weg der Meditation. Er kann bei schlichttn Dingen einsetzen, die dem Ungeübtm zunächst gar keim meditative Bedeutung zu haben scheinen. Wer etwa die See, dm Wald,

«inen Baum, ein stilles Haus, seinen Altar meditiert, erfährtIweierlei: einmal geht er zu diesen hin, man kann auch sagen, er nimmt sie in sich hinein, so daß er den Raum, in dem er sich körperlich befindet, inmrlich wirklich ver­ läßt, bzw. von ihm frei wird; es kann auch etwa so empfunden werdm, daß die uns umgebende räumliche Wirklichkeit sich gleichsam erweitert, sie wird

als solche unwesentlich gegenüber der inhaltgefüllten Raumwirklichkeit über­

haupt. Bei einiger Übung kann diese Fähigkeit des Eingehens so stark wirkm.

142

Dir Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

daß man, auch wenn keine ungestörte Möglichkeit zu tiefer Meditation

ist, im Stande ist, etwa eine bedrängende Menschenfülle, Gewirr von Stim­ men und Ansprüchen, unvermerkt auf Minuten zu verlassen und erfrischt

ebenso unvermerkt in sie zurückzukehren. Das ist mehr, als nur an die Sn

„denken", man ist wirklich an ihr gewesen. — So kann man entsprechend auch der verwirrenden Fülle im eigenen Inneren entgehen, wirklich aus ihr

herausgehen zu wesenhafteren Inhalten.

Das Andere, was in der Meditation erlebt wird, ist dies: der meditierte

Gegenstand wird wesenhafter erfahren! Man geht sozusagen in das eigent­

liche Sein der See, des Waldes usw. ein, man erfährt sie eindrücklicher, transparenter, der kosmische Hintergrund wird spürbar, ihr eigentliches

Wesen wird entschleiert. Wer nun in gleicher Weise wie solchen Gegebenheiten der Tiefe des Seins in ihrer Universalität sich öffnet, vollzieht in noch weittragenderem Sinne das Eingehen in den wesenhaften Raum eigentlicher Wirklichkeit. In ihm

kommen uns „die Mächte" entgegen. Sie können uns etwa wie ein flu­ tendes Meer umgeben. Wir gehen in seine Wellen ein oder diese kommen

auf uns zu und umfluten uns. Sie können auch wie uns anstrahlende oder uns feindlich treffende Kräfte um uns sein, anstrahlend mit Licht, Wärme, treffend mit Finsternis, Kälte, und so uns spürbar werden. Sie können als

Helle oder dunkle Bilder vor uns stehen, oder wie Szenen uns umgeben,

auf uns zukommen, uns in ihren Vollzug einbeziehen. Das Geschehen in solcher Meditation liegt dann darin, daß die zwar im­

mer wirkenden, aber sonst für uns ungeahnten und unspürbaren Mächte

uns spürbar »erben, mit uns in Beziehung treten, daß sie sich uns und wir uns ihnen konfrontieren. Sie werden uns wirklich, die guten und die bösen, die

heilvollen und die unheilvollen. Der Blick wird entschleiert, das Unsichtbare sichtbar, das Ungehörte hörbar. Ein Bild für dies Erkennen neu dem Men­ schen aufgehender Wirklichkeiten aus der Sagenwelt ist etwa, daß Siegfried,

nachdem er den Drachen erschlagen und in seinem Blut gebadet hat, die Sprache der Waldvögel hört und versteht. Ein Hinweis noch näher am

wirklichen kosmischen Geschehen ist die Wendung im Faust: „Die Sonne ‘tönf(!), nach alter Weise, in Brudersphären Wettgesang". Meditation bedeutet damit, daß die Erkenntnis, die Erfahmngen, die Hingabe, aber auch Entscheidung und Kampf aus der Region, in der sie im

Tageölauf sich vollziehen, in die Region der wirkenden Urmächte zurückver­

legt werden. Die Bedeutung dieser Rückverlegung liegt darin, daß 'das

Meditation

143

eigentlich gelebte Leben eine ganz andere Wesenhaftigkeit gewinnt und dies Wesenhafte nun in unserem Sein wirksam werden kann.

Zugleich ist deutlich geworden, daß Meditation nicht Entrückung oder gar Flucht aus Kampf und Entscheidung in lichte genußreiche Weiten, die ja

doch nur traumhaft wären, sondern Vertiefung, vertiefte und eigentlicher

gewordene Führung unseres Tageslaufs, wesenhaftere Entscheidung, Ein­ gehen in den eigentlichen Lebenslauf ist, aus dem nun der Tageslauf sich

speist. Es erwächst also in ihr eine neue und zwar die eigentliche und wesent­

liche Schicht des Seins und Lebens. Die Kräfte, die da so wirken und uns in lebendige Beziehung zu sich brin­

gen wollen, indem sie uns in ihre Wirklichkeit einbeziehen oder sich uns bildhaft zeigen, sind also die Tiefenkräfte all der Mächte, die im Leben wal­

ten. Auch die des Christentums gehören dazu. Es ist dem evangelischen Christen durch die Art der. kirchlichen Erziehung fast ganz das Wissen ab­ handen gekommen, daß auch die Wirklichkeiten und Wahrheiten des

Glaubens uns in der Tiefe in dieser Weise entgegentreten können, und er

hat ein instinktives Mißtrauen gegen die Zuverlässigkeit solcher Begegnung. Das Mißtrauen resultiert auch hier aus der Tatsache, daß bei Vielen die

Wirklichkeit des Christentums auf die rationalen Oberschichten beschränkt ist, wenigstens ihr Wissen um Christentum und ihr Zutrauen zu ihm. So müssen sie meinen, in der Tiefe nur chaotischen Mächten preisgegeben zu sein.

Es gibt aber unterhalb der ratio nicht nur ein Chaos, sondern auch einen Kosmos. Und eS wirken in diesen wesenhaften Tiefen ganz

und gar nicht nur gestaltlose Mystik oder gar Schwärmerei, auch nicht nur dämonische Mächte, sondern mitten darin die Macht des lebendigen Gottes. Das Mißtrauen gegen Form und Art des Geschehens in den Tiefenschichten

beweist nichts weiter, als daß man ihnen fern ist und sich in chnen zu be­

wegen sich nicht getraut und nicht geübt ist. Eö ist in Wirklichkeit das alles nicht eine Auflösung geprägter christlicher Wahrheit in gestaltlose Empfindungen oder Bilder oder Strömungen, sondern «ine tiefere Wesenheit, in

der eben diese Wahrheit uns erfaßt und in neuer Wesenhaftigkeit zugänglich

wird. Erst wer in dieser Tiefe die Macht des Christenglaubens gewußt oder ungewußt erfährt, ist wirklich gefeit, wirklich gesichert, wirklich imstande, Mächte zu erkennen, zu werten und zu ordnen. In der wiederholten und regelmäßigen Übung solcher Vertiefung werden

wir allmählich in den Stand gesetzt,

den

Gehalt der Wahrheit^

17 Vgl. das unten über Meditation von Zeichen und Worten Gesagte.

144

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

Schritt für Schritt zu, erfassen. Denn jedes Wort (dogmatischer Aus­ druck, Ausprägung der Heilöwahrheit usw.) grenzt nicht nur einen bestimm­ ten Gebietsumfang auf dem Felde der Gegebenheiten ab, sondern hat auch

eine Steige- und Fallmöglichkeit durch alle Tiefenschichten des Seins, und

der Mensch hat sie auch. „Tiefe" meint nicht Ästhetik oder Sentimentalität, sondern Schicht des Erfassens von Seinsgegebenheiten. Jede Tatsache kann

nicht nur richtig oder falsch, nicht nur klar oder unklar, nicht nur rein oder

fremd untermischt verstanden werden (das alles ist horizontal), sondern auch flach oder tief (vertikal). Je tiefer ich in die Wahrheit eingehe, um so umfassender durchschaue ich die Oberfläche deö täglichen Lebens, und um

so wahrer.

Die im Studium vorausgenommene rationale Eroberung des Gesamt­ christentums kann auf diesem Wege mit der Zeit zu einem echten Ge­

ländegewinn werden. Wird der Weg sachgemäß beschritten, so kann das rationale Wissen überall Hilfe sein. Und was wir inzwischen an Christen­ glauben wirklich erfahren und erlebt haben — denn niemand steht selbst­

verständlich nur rational im Glauben, sondern lebt sich normalerweise fort­

schreitend in seine Tiefe ein — schließt sich mit den Erkenntnissen der Me­

ditation zu einer lebendigen Einheit zusammen. ES muß aber immer klar bleiben, daß Meditation nicht ein Spezialweg ist, weder für Erkenntnis des Christentums unter Ausschluß profaner Wirk-

lichkeiten, noch für diese unter Ausschluß des Christentums. Sie ist nur dann wahr und fruchtbar, wenn wir in ihr immer für alles bereit sind, weil wir

mit unserem Wesen in der ganzen Welt sind und zur ganzen gegebenen Wirklichkeit die echte Beziehung finden sollen.

Die Anlage der Menschen und ihre Nähe zur Meditation ist verschieden.

Es gibt Menschen, die sich ihr fast selbstverständlich öffnen. Wer aber aus dieser Nähe heraus zunächst m'chts Besonderes darin findet, meine nicht,

daß er nicht weiterkommen könne. Je rationalisierter der Mensch ist, um so mehr lächelt er über diese Dinge, um so mehr kommt er sich erhaben vor und — um so mehr hätte er sie nötig! WaS geschieht, kann man nicht vorher

wissen, nicht etwa weil eS zufällig wäre, sondern weil jeder Weg, den wir vorher kennen, kein echt schicksalhafter Weg ist, sondern eine von uns ge­

wollte Marschroute. Das Eigentliche geschieht im Unbekannten und

Unbemächtigten. Hier hat die Psychologie eine echte Verwandtschaft mit

der Theologie: Daß wir uns unseres Schicksals nicht bemächtigen können, ist Abbild des Urbildes, daß wir uns Gottes nicht bemächtigen können.

Meditation

145

Eine periphere Kontrollmöglichkeit der Echtheit oder Unechtheit des

bildhaften Meditierens liegt darin, ob es mit der Zeit einen Einfluß g«winnt auf die Art, wie wir Bilder in der Verkündigung verwenden. Eö

gibt bildartige „Vergleiche", die man „heranzieht", und die nur dem mög­ lich sind, der der wesenhaften Welt des Bildes fern ist. Wer in Bildern sehen lernt, erfährt den Unterschied zwischen dem echten und dem unechteil

Bild.

Man kann bei wesenhaften Bildern in der Vertiefung bleiben, nicht in­ dem mail über sie nachdenkt, sondern indem inan sie gleichsam innerlich an­

schaut. Das befruchtende Anschauen läßt sich schon an den dem äußeren

Auge sichtbaren Bildern lernen. Wir wissen, daß Portraits lebendig werden, wenn man sie lange anschaut. Andererseits gibt eS Menschen, die nicht ein­

mal die Ruhe finden, in ein Bild wirklich einzugehen und sich über ihm zu

vergessen. Bilder in richtiger Weise anschauen ist eine gute Vorübung der Meditation. Ein Schritt weiter ist eS, wenn man nicht nur gemalte, son­ dern gewachsene Bilder, etwa Landschaften, in dieser Weise anschauen

lernt18. Es kann so geschehen, daß wir gleichsam die Landschaft in unS hin­

einnehmen, und auch so, daß wir gleichsam in die Landschaft hineingehen. Beides ist eine spürbare Befreiung, Erweiterung und Vertiefung des Seins.

Dabei ist das Wort „sehen" und daS Wort „bildhaft" nicht zu pressen. ES gibt auch ein intuitives Spüren, bei dem das farbige und gestaltete Bild im Hintergrund bleibt, aber doch eine echte Erkenntnis aus der Bildschicht

entsteht.

Meditation ist Lebensübung auf lange Sicht. Sie führt nicht zum Er­

folg, wenn man sie »rach einigen Wochen oder Monaten aufgibt. Sie muß vielmehr so in den Menschen eingehen, daß sein gesamtes Denken und Emp­

finden mehr und mehr meditativ wird.

Dann ist Meditation wesenhafte Hilfe; je mehr er sie übt, um so wesen­ hafter wird der Mensch. Er gewinnt Weg« des Reifens und der Wesens-

bildung, die er sonst nicht beschreiten könnte. Das kann beginnen mit den scheinbar nichtssagenden und doch so tief wurzelnden „Stimmungen", die man zwar mit einiger Energie zweifellos „überwinden" kann, und in

vielen Fällen ist das der schlichteste und beste Weg. Aber so wird Spannung gegen Spannung gesetzt. Tiefer an ihrer Wurzel werden sie angefaßt, wenn

man sie nicht zu überwinden, sondern zu untergreifen lernt; wenn man,

um von ihnen frei zu werden, in ein« Tiefe kommt, aus der wie von selbst 18 S. oben S. 76/77. 10

haendler, Die predigt

146

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

die Kräfte aufsteigen, vor denen diese Stimmungen sich verflüchtigen. Sie

werden damit vollständiger und wahrer aufgehoben, und es bleibt weder der Rest, der bei willentlicher Überwindung oft bleibt, noch vergehen sie nur

durch Ablenkung, noch sinken sie in das Reservoir des Unbewußten, um sich zu neuem Austauchm zu sammeln.

Neben dm Stimmungen mit ihrem Schwanken ist Meditation ebenso eine Hilfe gegen „die Erstarrung und die Unlebendigkeit der jahrelang rin-

geschliffenen VerhaltungSweisen"2o. Dieses Reifen kann sich fortsetzen in eine Art der Vertieflmg in die Wahr­

heit der Offmbarung, die sie dem eigmen Wesen unmittelbarer und wesen­ hafter verbindet, als ohne solche Übung: etwa indem man des Morgens aus

der Sammlung heraus ein Wort der Bibel sich kommm läßt, in das man nun weftnhaft eingehen kann, so daß man dann für andere Lesung fthr viel

mehr geöffnet ist. Und dieses Reifen kann sich vertiefen in der fortschveiten-

den Übung darin, daß mehr und mehr von dem, was wir sagm oder schrei­ ben oder tun, Ausdruck unseres eigenen TieftnwesenS wird. Ze mehr das geschieht, um so mehr sind wir geschlossene Menschen, devm Wesen üv ihrem Sichgeben zum Ausdruck kommt.

Zugleich lernen wir so, die Füll« des Gegebenen^rascher, umfassender! und gründlicher verarbeiten. Das Einzelne wird tiefer angefaßt, sicherer bis zu seiner Mitte verarbeitet, und beständiger in seiner fruchtbaren Do-

dmtung für unS in unserm Weftn fixiert, gleichsam lichtbeständig ge­

macht. Meditation ist der Weg der Erkenntnis der Tiefen des Seins. „Die Menschheit hat längst alles empfangen, was zu empfangen ist. Aber sie muß eS immer wieder von neuem und in immer wieder neuer Form emp­

fangen und verarbeiten." „Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offen­

heit vor unS. Nur wir stufen uns gegen sie ab vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheinmis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade" Medstation ist der einzige Weg, alle Probleme des Lebens neu und selb­

ständig nicht nur zu durchdenken, sondern zu durchleben. Wird sie ein wesent­

licher Bestandteil des Seins, so wächst in ihr „jener Überschuß an plasti20 F. Künkel, Charakter, Krisis und Weltanschauung. S. 64; dort jedoch nicht auf

Meditation bezogen.

21 Christian Morgenstern, In: Wer vom Ziel« »richt weiß, kann den Weg nicht ha­ ben. Zum 23. u. 24. Februar.

Meditation

147

scheri, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften", dm Nietzsche „ein Zeichen der großen Gesundheit nennt22. Durch erfahrme Meditationöführer können bestimmte Übungen gestaltet werden. Sie können auf profanem oder auf religiösem Gebiete liegen und auf jedem zu Übungsreihen 'sich zusammenschließen. Für dm Christen und erst recht für den Theologen unserer Zeit ist eS wichtig, daß der Raumz, dm in seinem Leben die profanen Übungen einnehmen, m'cht geringer ist als der

der religiösen, auch dann, wenn er in die Tiefe christlicher WahrheitSerkenntnis einzudringen sich anschickt. Nebm der Meditation von Bildern gibt eS eine solche von Zeichen (Kreuz, Krippe, Stem usw.). Auch für die Meditation gilt in diesem Zusammen-

hang der allgemeine Hinweis Jungs: „Nur durch daS Symbol kann das Unbewußte erreicht und ausgedrückt werden, deshalb wird auch die Indi­ viduation des Symbols nie entvaten können"^. Die Meditation christlicher Zeichen muß sorgsam vorbereitet werden als Schutz gegen die Gefahr, daß

nicht das Zeichen, sondern eine mit ihm verbundene dogmatische Vorstellung in ihm meditiert wird. Zeichen sind mehrdeutig, und das gehört zu ihr«

Echtheit. Das Fortschreitm in der Erfassung ihrer Tiefe ist verwandt mit dem Fortschreiten in der Erfassung der Tiefe von Sprüchen, Sentmzen usw. Sowohl die Zeichen wie die Worte habm, soweit sie echte Meditationsobjekte sind, die Eigenschaft, daß sie mit ihrer Spannweite alle Schichtm des Seins durchmessen und uns von Schicht zu Schicht in unserer Vertiefung begleiten, indem sie uns Mehr und mehr sich erschließm und zwar jeweils entsprechend der uns zugänglichen Erkenntm'öschicht. DaS Leicht«« ist nicht die Meditation von Worten, sondern die von Zeichen, da die Worte bereits ein erhebliches Stück der Fähigkeit porauöfetzen, nicht in Begrifflichkeit zu

verfallen, und der anderen, in den geprägtm Wortm ihre eigentlich be­ herrschende Bildhaftigkeit hevauszufinden und sich« festzuhalten. Dies vor­ ausgesetzt kann aber darauf hingewiesen werden, daß jedem persönlich be­ stimmte bildhafte Dichterworte unmittelbar meditativ nahe sind. Sie können

chm Eingang zu weiterer Vertiefung sein. Meditation der Inhalte christlichen Glaubens ist in einer Zeit des überganges wie der gegenwärtt'gen besonders notwendig deshalb, weil wir.sonst

Gefahr laufen, dutch alles Ringen doch nur aus einer Zeit veraltet« Dogmatifierung in eine Periode murr Dogmatisierung überzugehen, und dann alle ” Nietzsche, Ges. Werke Bd. VIII, S. 8. 23 C. G. Jang, im: Geheimnis der goldenen Blüte. S. 40. — Symbole als Hilf«

zur Loslösung von bloßer Begrifflichkeit: Evang. Jahresbriefe 1936, Nr. 4, ©.113. 10»

148

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

die unbefriedigt bleiben, die nach der wirklich mannigfaltigen, im Leben all­

seitig wirkenden Wahrheit des Christenglaubens suchen. Das Wesen der Meditation ist Wiederholung. Nur in ständiger Übung

und Wiederholung lassen sich wirkliche Fortschritte erzielen. Das bedeutet

freilich nichts Geringeres alö die Bereitschaft, in eine entsprechende Haltung ständig und zu wesentlicher Beeinflussung des Lebens durch sie einzu­ gehen.

Aber auch hier darf nicht schematisiert werden. Wiederholung und Regel­

mäßigkeit besagt nicht, daß etwas bei allen Menschen gleich sein muß. Es

gibt Menschen der Regel (form- und regelbedürftige), Menschen der Frei­

heit (form- und regelgegnerische) und Menschen der Wahl zwischen beiden (form- und regelzugängliche). Menschen der Regel handeln ihrem Wesen entsprechend und am frucht­

barsten, wenn sie sich an feste Regeln binden und diese unbedingt durch­ führen. Sie erkennen diese ihre Anlage daran, daß sie auch bei selbstüber­

windender Durchführung das Gefühl haben, nicht sich zu verkaufen, sondern zu ihrem Selbst zu kommen. Die Unbedingtheit der Regel kann dabei auf die Zeit sich beschränken, sie kann Zeit und Form betreffen, sie kann sogar

die Bindung an den Inhalt mit umfassen.

Menschen der Freiheit sind im Gegensatz dazu nickt imstande, eine be­

stimmte Übung in immer gleicher Regelmäßigkeit durchzuführen. Während die Ungetreuen der Regel dabei ein schlechtes Gewissen haben würden, ist

den Menschen der Freiheit deutlich, daß sie eben mit der Regel sich verkaufen

und ihrem Wesen untreu werden würden. Sie handeln dabei aus einer ebenso starken Verpflichtung, wie auf ihrem anderen Weg« die Menschen der

Regel. Aber der Rhythmus des Menschen der Freiheit ist anders geartet, und darum ist auch sein Gesetz anders. Seine Haltung fordert dieselbe Treue

und denselben Ernst. Der Unterschied liegt nicht in der Bereitschaft, nicht in der Hingabe, nicht in der Durchführung, sondern in der Art der Hand­ habung.

Menschen der Wahl sind die, deren Lebensrhythmus dann am treusten

bewahrt wird und deren Tun dann am fruchtbarsten wird, wenn sie zwi­ schen Bindung und Freiheit wechseln. Auch der Wechsel ist keine Willkür, sondern Gehorsam gegen das innerste Gesetz des Lebens. Sie tragen beide Möglichkeiten in sich, aber nicht so, daß sie sie nach ihrem Behagen wechseln,

sondern nach dem Ruf ihrer innersten Verantwortung. Das, was praktisch durchgeführt wird, ist, obwohl grundsätzlich Möglichkeit, doch konkret jeiveilö Notwendigkeit.

Meditation

149

Niemand aber tut gut, sich vor sich selbst für immer auf eine bestimmte Art festzulegen. Jedes Leben ist der Wandlung unterworfen. Man darf nicht mit der Regel die Freiheit vergewaltigen und nicht nut der Freiheit die Regel. Man darf nicht eines an das andere verkaufen. Wo die Regel ent­

steht, muß sie aus der Freiheit geboren sein. Die Möglichkeiten der Variation sind so mannigfach, daß sie nun auch mit der Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit des Menschen sich ver­

binden. Und dazu kommt die Gefährdetheit unserer Daseinssituation über­ haupt: „Das Leben ist ein dunkler Wald, durch den allein und ohne Schutz zu gehen, nur ganz wenige Menschen sich getrauen"24. Deshalb kann es Zeiten geben, in beiten eine Art Zwang heilsam ist, unter Umständen sogar unter Führung und mit Verpflichtung vor einem anderen Menschen. Aber

auch daö soll unter dem Ziel stehen, nicht, daß der Zwang zum Dauerzustand

wird, sondern daß er dem Menschen hilft, seine eigene Art zu finden. Alles muß so gehandhabt werden, daß wir unsere freieste und eigenste Möglichkeit

verwirklichen. Denn in Zwang und Freiheit, in Regel und Wechsel, sind wir Sachwalter der metaphysischen Rückverbindung unseres Seins, und sie diktiert das Gesetz unseres Lebens in seiner Stetigkeit und in seinem Wechsel. Meditation ist verwandt mit psychologischer Tiefenarbeit. Sie

ersetzt diese nicht, da zur vollen Durcharbeitung des Seins und Erarbeitung des Selbst die Zusammenarbeit mit dem kundigen und erfahrenen Psycho­ logen gehört. Aber sie soll mit ihr zusammenwirken, und wo sie es tut, wird auch psychologische Arbeit in hohem Maße durch sie gefördert. Man kann Meditation als Autopsychotherapie bezeichnen, da sie in der Durch­ ordnung und Heilung der Seele das erreicht, was der Mensch für sich allein erreichen kann, und zugleich über die psychologische Zusammenarbeit hinaus die ureigene Selbstarbeit vollzieht, die wiedemm durch gemeinsame Arbeit nicht ersetzt werden kann. Sie gibt damit dem Menschen der Gegenwart die Möglichkeit, von seiner Unverwurzeltheit und psychischen Verwehtheit loszukommen. Denn die Hilfe gegen innerste Unsicherheit ist nur der demütige Weg, der es wagt, die Un­ sicherheiten anzuerkennen und anzugehen, so daß man durch sie nach der Tiefe hin durchstößt und den unter den Unsicherheiten liegenden festen Boden gewinnt. 24 Siet, Das Wunder in der Heilkunde. III. Stuft. München 1936. S. 99.

150

Dir Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text c) Meditation, Gebet, Kultus

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich weiter, daß echte Meditation eine

tiefe und unmittelbare Verwandtschaft mit echtem Gebet hat. Sie kommen um so mehr zusammen, je tiefer sie sind, und in der letzten

Tiefe werden sie «ins. Wie Meditation zunächst rin Kommen des Menschen

zu sich selbst ist, so ist Gebet zunächst ein Kommen zu Gott und Reden mit Gott. Wie aber Meditation zwangsläufig über das Sein bei sich selbst hinauSführt in die umfassende Wirklichkeit hinein, so führt das Gebet vom Sieben, bei dem man ja auch als Anredender immer noch sehr bei sich selbst ist, zum Schweigen. „Der Geist soll sich mit ganzer Kraft erheben und los­

gelöst in seinen Gott versenken"^. Hilf« zum Gebet kann Meditation werden, weil das Gebet dadurch,

daß es sich an Gott richtet, nicht schon gegen Verfälschung gesichert ist.

Denn Verfälschung des Gebetes entsteht nicht nur aus der Selbstsucht, di«

Gott mißbrauchen will, sondern auch durch das kurzschlüssige Verhalten, daß

Gebet nicht nur ein Anruf „in der Not" sein, sondern auch di« Not über» springen kann. Der Mensch flieht dann von sich selbst weg zu Gott, statt sich in Gott zu finden, und sucht den Deus ex machina statt des Vaters im Himmel. Die Hilft stellt sich manchmal dann trotzdem ein, aber das Men-

schenweftn bleibt undurchgeordnet, und es geht jahrelang immer wieder um

dieselbe Sache, in der man gleichsam täglich wieder von neuem anfängt.

Man denke dabei etwa an Neigung zur Heftigkeit, an „Nervosität u. ä. Das ist dadurch nritverschuldet, daß die Kirche mit allem Nachdruck —

mit Recht — als erste Forderung betont, daß der Mensch mit seinem Ge­ wissen ins Klare kommen muß. Also steht dann auch im Gebet das Unrecht

voran. Aber es gibt Unrecht, das nicht Krankheitsherd, sondern

Krankheitssymptom ist, und wo die Hilfe durch Beseitigung des Herdes

ganz von selbst kommen würde. So entsteht z. B. oft unrechtes Tun aus

Hemmungen, aus denen der gehemmte Mensch feinen Ausweg sucht. Da die Tür verklemmt ist, muß er durchs Fenster, d. h. da die Hemmung die ge­ sunde Auflösung nicht findet, explodiert sie in irgendeinem Tun, das dann

als Unrecht auf dem Täter lastet. An solchen Lagen wird beispielhaft deut­

lich, daß Gebet durch Meditatton ergänzt und unter Umständen korrigiert werden muß. Eben weil Meditation gleichsam länger beim Ich verharrt als

das Gebet, kann sie die Gefahr abdämmen, daß das Gebet das Ich über» 25 Meister Eckeharts Schriften und Predigten usw. Hrsg, von Büttner-Jena 1917.

.Bd. II. S. 37.

Meditation

151

springt. Nur das egoistische Ich, die Selbstinthronisierung ist verwerflich. Das den Weg der Reinigung beschreitende Ich, die Selbstverwirklichung, ge­ hört vor Gott.

Gebet und Meditation stehen zueinander wie Gespräch und schweigende Besinnung- Keines ersetzt das andere, und jedes braucht das andere. In

der Besinnung ist die Begegnung mit darin und in der Begegnung die Be­ sinnung. Zn diesem Zusammenhang und nicht erst beim Problem des

Gottesdienstes und der Stellung der Predigt in ihm ist der Ort, an dem vom Kultus in seiner Bedeutung für die Predigt zu redm ist. Taucht sie erst bei der Frage auf, inwieweit die Predigt in daö kultische Handeln der Liturgie hineingehört und welchen Charakter sie durch diese Verbindung

von Liturgie und Predigt gewinnt, so wird für dm Prediger nur sein litur­

gisches Handeln in dem Gottesdienst, in dem er auch predigt, bearbeitet und die Bedeutung, die die Liturgie bzw. der Gottesdienst für die Predigt hat. Lange bevor das aber einsetzt, hat die Tatsache, daß der Prediger

kultisch handelt, schon einschneidende Bedeutung für seine Predigt ge­ wonnen. Wo im praktischen Leben eines Predigers das nicht der Fall ist, liegt nicht eine belanglose Differenz seiner Auffassung der Beziehung zwischen

Liturgie und Predigt vor, sondern ein fundamentales Fehlm des Eingehens in das tragende Element der Kirche. Die Tatsache, daß im Protestantismus der Kultus auch heute noch weithin harmlos und ahnungslos in seiner Bedmtung verkannt wird und mgn an seiner formenden Macht vorüber­

geht, kann eine Wandlung nur um so dringlicher machen. Kultus im engeren Sinne ist der Gottesdienst, Kultus im weiteren Sinn« die Durchgestaltung des täglichen Lebens mit der geordneten sich wieder­

holenden auSdrücklichm Hinwendung zu Gott. Der erstere hat in der Kirche seine bestimmte Zeit und Ordnung. Die letztere ist grundsätzlich in dem Sinne freigegeben, daß der Mensch, bzw. die Familie Art und Weg findm könnm und sotten, in dem Sinne jedoch nicht, daß di« „Übung" des Kultus ebensogut fehlm wie vollzogen werden tonnte. Im Raume der evangelischm Kirchen beschränkt sich der Kultus im weiteren Sinne gegenwärtig' über­ wiegend darauf, daß einige Familien täglich Andacht halten und einige Menschen ihr tägliches stilles Gebet. Dieser Kultus im weiteren Sinne ist

damit praktisch so bedeutungslos gewordm, daß man bei dem Worte Kul­ tus gemeinhin überhaupt nur an Gottesdienst und kirchliche Handlungen denkt. Zn Wahrheit gehören aber beide zusammen, und ein Ausdruck dafür

ist die Tatsache, daß der sonntägliche Gottesdienst recht verstanden nicht eine Znfel im Meere der Woche ist — wobei seine Entleerung und seine Entfer-

152

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

nung vom lieben ohne weiteres verständlich wird — sondern eine Krönung

der kultisch durchlebten Woche. Die Notwendigkeit des Kultus ist begründet nicht erst in der Sünde, denn dann wäre Kultus lediglich der Weg zur Überbrückung der Entfernung

des Menschen von Gott. Auch nicht nur in der christlichen Situation, die

die Anbetung Gotteö erfordert, sondern in der anthropologischen Si­ tuation. Weil wir in der Zeit und im Raunte leben und also unsere Le-

benöäußerungen sich verteilen in verschiedene Zeitabschnitte und in ver­ schiedene Richtungen, brauchen wir neben den besonderen Stunden des

Essens, der Arbeit, des Ruhens usw. die besonderen Stunden der Hinwen­ dung zu Gott. Sie sind also, ebenso wie die anderen, nicht negativ ge­

sondert vom sonstigen Leben, sondern positiv organisch mit ihm verbunden

und aus ihm herausgehoben. Sie sind nicht Abschnitte, in denen geschieht, was sonst nicht geschieht, sondern Äußerungen, in denen ausdrücklich ge­

schieht, was sonst das Leben durchzieht, so wie etwa die Nahrungs­ aufnahme ausdrücklich geschieht, aber die Verarbeitung fortwährend, daS Ruhen ausdrücklich, aber Ruhe immer im Menschen sein muß.

DaS Wesen des Kultus^ ist Hinwendung des ganzen Menschen zu Gott. Auf Grund der Urbeziehung zwischen dem Geschöpf und dem Schöp­ fer, und zwar dem heiligen Gott und dem in der „Welt" lebenden Men­

schen, spezialisiert sich das Wesen des Kultus dahin, daß er die Bereitschaft wird, Gott aufzunehmen, und daS Beschreiten der Wege, durch die daS

geschieht. Diese Wege sind im privaten Leben Meditation, Gebet, Andacht und Ver­

wandtes, im gemeinsam gelebten Leben der Kirche der Gottesdienst, und zwar wesentlich seine Liturgie.

Liturgie ist demnach meditatives Gebet in fester Gestalt. Die ihrem Wesen entsprechend erlebte Liturgie führt den Teilhabenden nicht in

eine Passivität, bei der der Liturg der aktive wäre, sondern die Teilhabenden

und den Liturgen gleichermaßen in die passiv-aktive Sammlung und Ver­ senkung, in der Menschen vor dem lebendigen Gott stehen und den. Weg zu

ihm gehen. Diese dem Wesen der Liturgie entsprechende Grundhaltung ist gleichermaßen und gleichbleibend gefordert von dem liturgischen Gebet, vom liturgischen Gesang, von der Schriftlesung, dem Glaubensbekenntnis und

allem, was zum Geschehen am Altar gehört. Der Träger des liturgischen 26 Zu einer umfassenden Erörterung und Auseinandersetzung über das Wesen des

Kultus ist hier nicht der Raum. Es muß genügen, diejenigen Linien thetisch heraus^

zustellen, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind.

Meditation

155

Geschehens ist damit ganz und gar nicht nur der, der im Namen der Ge­ meinde spricht, sondern er ist in seinem Handeln am Altar, das m jedem Sinne Hinwendung zu Gott ist, der erste und verantwortliche Träg« dieser passiv-aktiven Hinwendung zu Gott. Es ist nicht nur unmöglich, daß ein

zerstreuter Liturg eine gute Liturgie hält, sondern es muß so sein, daß in dem am Altar handelnden Liturgen alle Sammlung und Hinwendung der Ge­ meinde sich sammelt und in ihm vor Gott tritt, und ebenso, daß der Liturg, der am meisten Erfahrung und Möglichkeit in dieser Hingabe haben sollte, seine gesammelte Hinwendung auf die Gemeinde überträgt. Liturgie

ist nicht ein Verlesen von Gebeten und Schriftabschnitten, daS durch «inen einzelnen Menschen vor Vielen und für sie geschieht, so daß jeder nach Auf­

merksamkeit und Neigung sich beteiligt oder nicht, sondern ein kraftgela­ denes Geschehen, in dem wirklich und wesenhaft etwaS geschieht. Und das in der gesammeltsten Hingabe und in gesteigerter Möglichkeit der Erfahrung und der Wirklichkeit des Geschehens beim Liturgen. Es ist eine durchaus

wesensgemäße Beurteilung der Liturgie, wenn von einem evangelischen Christen über Guardini geurteilt wurde: „Wenn er eine Morgenfeier ge­ halten hat, geht es den ganzen Tag mit einem, so stark sind die Ströme, die von ihm auSgehen". Diese Ströme sind eben nicht subjektiv, sondern im Kultus kommen durch eine menschliche Einzelperson die Kraftströme einer objektiven Wirklichkeit zu einer Gemeinschaft von Men­ schen. Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß in der evangelischen Kirche in vielen Fällen dieses Geschehen nicht einsetzt, und zwar sowohl infolge der fehlenden liturgischen und überhaupt kultischen Schulung und Führung der Pfarrer, wie auch, weil weithin die so gesehen« Wirklichkeit der Liturgie nicht erkannter Besitz der Liturgen und der Gemeinden ist. Mit dem Gegensatz zwischen evangelischem und katholischem Verständnis des Kultus hat diese Wirklichkeit nichts zu tun, denn sie liegt vor dem Punkt, wo beide sich

trennen, als gemeinsames Eigentum der una sancta. Die Entwicklung der jüngsten Zeit hat an einigen Stellen der evangelischen Kirche diesem Verständnis stärker den Boden bereitet. Wo es aufgebrochen ist, wurde gleichzeitig festgestellt, also nicht nur theoretisch erschlossen, sondern an der auögeübten Wirklichkeit des Kultus erfahren, daß so verstandener und so

vollzogener Kultus auf den Liturgen tiefgreifenden Einfluß ausübt. Dieser Einfluß liegt darin, daß der Liturg durch seinen liturgischen Dienst

in stärkstem Maße in den Bereich der geistlichen Wirklichkeiten

154

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

hineingezogen wird» Wer am Altar steht, wird dadurch ein anderer

Mensch. Es strömen ihm Kräfte zu, die schon rein äußerlich in Zeiten hoher Anforderungen an die Kraft ihn zu Leistungen befähigen, deren er sonst nicht fähig wäre. Er spürt, daß dieser Dienst nicht Kraft fordert, sondern Kraft gibt, nicht ermüdet, sondern erfrischt, und zwar indem er auö tiefsten, sonst verschlossenen Quellen speist. Man kann die konkrete Probe erleben, daß

man in umfassendem Dienst auf Freizeiten ermüdet, wenn man nur Vor­ träge hält, dagegen erquickt heimkehrt, wenn man über sie hinaus auch den

kultischen Dienst versah. Das Wesen des Limrgen wird in seiner eigentlichen Tiefe von den Wirklichkeiten berührt und erfüllt, die der Kultus öffnet, und

wo dieser Dienst in der rechten Hingabe geschieht, trägt er trotz aller schmerzlich empfundenen Schwachheit zur Durchklärung und Reinigung des Wesens in einem Maße bei, das immer nur mit Dank und Ehrfurcht emp-

fitnben werden kann. Kultus steht also sowohl in seinem Wesen wie in seiner Wirkung in näch­

ster Nähe zur Meditation. Ja, er ist Meditation in geformter Gestalt. Und Meditation ist in ihren Tiefen Kultus in freier, nicht festgeformter Gestalt. Nicht als ob das eine auf das andere zurückzuführen wäre oder aus ihm erwüchse. Zwar kann man sagen, daß aus der gestaltlosen Meditation,

wenn sie immer mehr in die Gottesbegegnung einmündet, sich das Bedürf­ nis nach einer festen Gestalt der „Meditation vor Gott" und vielleicht auch nach einem gemeinsamen Vollzug ergibt. Man kann ebenso sagen, daß aus dem Kultus mit seiner tiefen und unmittelbaren Hinwendung zu Gott, so­ wohl in der Einsamkeit wie in der Gemeinschaft, das Bedürfnis entsteht, diese unmittelbare Versenkung auch ungebunden nach jeder "Richtung deS Seins hin auözuüben. Aber im Grunde sind die freieste Meditation und der gebundenste Kultus mit allen dazwischen liegenden Möglichkeiten ebenso viele Ausstrahlungen mehr oder weniger konkreten Vollzuges der Urnotwendigkeit menschlicher Seinsbetätigung, von der Gegeben­ heit des Eigenseins auö die Einordnung in die gesamte Wirklichkeit und die Begegnung mit ihren Mächten bis zur Begegnung mit dem lebendigen Gott

wesenhaft zu realisieren. II. Die Bedeutung

der Meditation für die Arbeit an der Predigt L Die Tiefengliederung der geoffenbarten Wahrheit

In diesen Zusammenhängen ist die fundamentale Bedeutung des Kul­ tus für die Predigtarbeit begründet. Und zwar wird sie um so gründ-

Die Bedeutung der Meditation für di« Arbeit an der Predigt

155

legender, je mehr wir als Christen und Männer der Kirche den Kultus für zentral erachten. In Wesen und Richtung ist sie gleichlaufend mit der Be-

dmtung der Meditation. Wenn Predigt nur Wiedergabe einer objektiven Wahrheit wäre und es für diese Wiedergabe gleichgültig wäre, wer sie vollzieht, hätten Meditation und Kultus für die Arbeit an der Predigt keine Bedeutung. Es hat sich aber gezeigt, daß alle Verkündigung nur durch die innere Verschmelzung der

Wahrheit mit dem persönlichen Sein ihres Verkünders möglich ist. Angesichts dieser Tatsache haben Meditation und Kultus für die Arbeit an

der Predigt eine dreifache Bedeutung: sie erst gestalten das Selbst

des Predigers, sie erst öffnen ihm die geoffenbarte Wahrheit so, daß er den Eingang in chre Räume findet und sie in ihrer Tiefendimension „er­ kennt", und sie erst ermöglichen die wirkliche Einigung und Verschmel­ zung zwischen dem Subjekt und der geoffenbarten Wahrheit. Was über Gestaltung des Selbst zu sagen ist, ist im wesentlichen be­ reits ausgeführt worden. Von der verlebendigenden Aufgliederung der Offenbarung in ihrer Tiefendimension wird im weiteren zunächst zu

handsln sein. Die Verschmelzung des Subjektes mit der Wahrheit kommt je und dann der sachlichen Möglichkeit und Notwendigkeit entspre­ chend zum Ausdruck. Da die Verwandtschaft von Meditation und Kultus herausgestellt wurde und da, was in der Meditation erarbeitet werden kann, zugleich in die kultische Erarbeitung einbezogen werden muß, wird im fol­ genden vereinfachend von „Meditation" gesprochen, wobei also stets der Gefamtbereich meditativer Möglichkeiten einschließlich der kultischen im Blickfeld steht. In allen drei Richtungen erlöst Meditation von dem «mengenden und verhärtenden Zwang der nur rationalen Bewußtseinskultur. Sie ermöglicht -ein Aufnehmen der heute neu erwachenden Hinwendung zu den irrationalen -Gründen des Seins in einer Eindringlichkeit und Fruchtbarkeit, die eine neue Verbindung dieser irrationalen Gründe mit der metaphysischen Wirk­ lichkeit herauszustellen imstande ist.Damit kann eine echte „Gegenwärtigkeit" des Christentums mit erkennbarer Jukunftskraft herauötveten. Heyers Formulierung^ bezeichnet zwar nicht einen direkten Weg zum Christentum, wohl aber die Wiederaufnahme der Fühlung mit Urgegebenheiten. Diese

müssen jedoch nicht, wie Heyer meint, ein „Heraustreten aus dem logozentrisch-christlich-mittelalterlichen Mandala" sein, sondern können ebenso­ gut mit ihm verbunden sein. Denn auch der Christ muß, will er gesund sein,

« Vgl. S. 4.

156

Der Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text

sich den Urelementen zuwenden. In welchem Maße es gelingt, diese „Ge­

genwärtigkeit" herauszustellen, hängt freilich von mancherlei Faktoren ab innerhalb und außerhalb der Kirche und ihrer Verkündigung. Trotz dieses

Risikos und in ihm aber hat die Verkündigung die Pflicht, die Wege zu be­ schreiten, die es ihr ermöglichen, ihre Gegenwartsaufgabe sub specie

aeterni und vor menschlichem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Hinsichtlich der geoffenbarten Wahrheit ist in der protestantischen Kirche überwiegend nur eine sehr verkürzte Erkenntnis der beiden Tatsachen

da, daß sie eine Tiefengliederung hat, und daß man in ihre Räume den Eingang finden muß. Wenn ein junger AmtSbruder einmal äußerte: „Wir beschäftigen uns nun seit 10 Jahren täglich mit dem Neuen Testament,

aber was haben wir dabei an wirklicher Erkenntnis eigentlich erreicht?" — so war damit unbewußt das gemeint, was durch Meditation erkannt und

erfahren werden kann, daß die Wahrheit des Evangeliums ein« Tiefen­ gliederung besitzt, in die man eindringen kann und soll.

AuS der bewußten geistigen Situation der Kirche aber entsteht bei dem Theologen, wenn von dieser Tatsache geredet wird, leicht der Verdacht,

daß ein bewußter oder unbewußter Versuch vorliegt, evangeliumSfremde Elemente in di« evangelische Kirche einzuführen. DaS bereitwillige Zugeständnis, daß das Evangelium eine unergründliche „Tiefe" hat, ist noch

nicht Erkenntnis seiner Tiefengliederung. Das Wissen um diese ist deshalb nicht mehr evangelisches Allgemeingut, weil die Speisung aus der Wahrheit Gottes sich weithin verengt hat auf die beiden Wege, die vom Pietismus und von der Orthodoxie Herkommen: Erbauung und Lehre. Auch wo man nicht „pietistisch" ist und sein will,

wird vielfach das Ansinnen, das man an die Wahrheit stellt, herabgemin­ dert zu dem Wunsch einer erquickenden und das Gewissen schärfenden Er­ bauung. Indem man diese aus dem Buch der Bibel zu entnehmen sucht, hat gleichzeitig die „Kirche des Wortes" das neutestamentliche Verständnis von Christus als dem „lebendigen Wort" eingeschränkt auf daS Wort = Bibelbuch. Auf die gleiche niedere Ebene herabgezogen ist entsprechend die andere Linie, daß die Wahrheit wesentlich als Lehre verstanden wird und es als ein Stück auf dem Wege des Heils empfunden wird, wenn man die evangelische Lehre „bejaht". Selbstverständlich kann auch in solcher Haltung viel echte Hingabe und wirkliche Erkenntnis sein. Das ändert aber nicht die Tatsache, daß diese Haltung eine Verkürzung ist. Und es ist kennzeichnend,

daß überall, wo die Kirche zu neuem Erwachen gekommen ist, auch neue Wege gesucht werden.

Die Bedeutung der Meditation für die Arbeit an der Predigt

157

Die Einleitung zu der Verkürzung des Wissens um die Tiefenräume (nicht nur die erbaulich verstandene „Tiefe") des Evangeliums liegt im Mißverstehen des Kampfes Luthers um die Verständlichkeit des Evan­

geliums für jedermann. Er wird weithin, auch in der Geschichte des Protestantismus, so aufgefaßt, als ob nach Luthers Meinung das Evange­ lium wie eine Weisheit, die an der Straße liegt, von „jedermann" ohne

Voraussetzung müsse verstandst werden können und

nicht Tiefen ent­

halten könne, die nicht jedermann zugänglich seien; das bedeutet eine Her­ absetzung der göttlichen Wahrheit, aus vermeintlichem allgemeinem Prie­ stertum, zu einer Allerweltsweisheit, für die man nur den guten Willen der Bereitschaft des „Glaubens" und des Folgens haben müsse. (Zweifellos hängen mit dieser Entwicklung Fehlerscheinungen wie die Forderung des

verstandesmäßigen Bejahens der Lehre u. a. zusammen!) Daß Luther es nicht so gemeint hat, zeigen Stellen wie etwa seine Aus­ führung zur Prädestinationslehre zu Röm. 9,1628. Dort bezeichnet Luther di; Prädestinationslehre als robustissimum vinum et perfectissimus cibus, solida esca perfectorum it e. excellentissima theologia. Daß das auf den Charakter der geistlichen Nahrung und des geistlichen Verstehens geht, beweist der Zusatz, in dem er auf 1. Kor. 2,6 hinweist: De qua Apostolus: „Sapientiam loquimur interperfectos“ und daß er dazu setzt: „Ego vero parvulus sum, lactis indigens, non esta. Ita faciat qui mecum parvulus est“. Vorher: „Hie tarnen moneo ut in istis speculandis nullus irruat, qui nondum est purgate mentis, ne cadat in barathrum

horroris et desperationis, set prius purget oculos cordis in meditatione vulnerum Jesu Christi. Neque enim ego ista legerem, nisi ordo lectionis et necessitas cogeret“. Luther sieht also in der Hl. Schrift Erkenntnisse, die selbst ihm noch unzugänglich sind, und weiß von „Vollkommenen",

die diese Erkenntnis haben. Und diese geistlich verstandene Erkenntnis nennt er „Theologie im eigentlichen Sinn des Wortes". Luthers viel gebrauchte Wendung vom Hanö im Stall und Grete ut der Küche ist also in der volkstümlichen Auffassung nicht richtig verstanden. Sie meint, daß jedem die geistlichen Wirklichkeiten offenstehen, nicht aber, daß es sich im Evangelium nur um allgemeinverständliche Wahrheiten

handele. Hans und Grete von damals sind nicht Hinz und Kunz von heute. Es gilt vielmehr auch für Hanö und Grete, daß sie in der Er­ kenntnis des Evangeliums an Grenzen kommen, wo andere in der Erkennt-

niö weiter Vordringen können und sie nicht. 28 Luthers Komm. z. Römerbrief, Hrsg, von Ficker, S. 226.

158

D«r W«g des Subjektes zum Evangelium und zum Text

Die Wahrheit hat also Tiefendimension, und es gibt für den, der sich in sie zu versenken beginnt, eine Tiefengliederung der Wahrheit. Man kann danach Schristabschnitte zu Gruppen zusammenstellen, die verschie­ den hohe Anforderungen stellen. Zur einfachsten Gruppe würde etwa der 139. Psalm gehören, zur höchsten etwa das hohepriesterliche Gebet Joh. 17.

Jeder Abschnitt führt an sich von der einfachsten Erkenntnis bis zur höch­ sten. Aber der meditative Kernpunkt liegt in verschiedener Höhe. Wer in die Tiefe eindringen will, tut besser, mit Ps. 139 zu beginnen als mit Joh. 17. Gegen die praktische Einteilung in Stufenfolgen spricht nicht, daß man die höheren Stücke ja schon kennt, wenn man mit den ersten an­ fängt. Soweit man sie nicht meditativ erfaßt hat, „kennt" man sie eben

noch nicht, soweit sie einem meditativ aufgegangen sind, hindern und stören sie nicht andere, anfänglichere Vertiefung. Die Gliederung bedmtet über­ haupt nicht, daß man von einem zum anderen so „fortschreitet", wie man in eine höhere Klasse versetzt wird, indem man die niedere verläßt, sondern haß eine Schicht der Erkenntnis nach der andern sich auftut, aber man immer in allen lebt. Es wird nichts entwertet dadurch, daß es zu den An­ fangsstufen gehört. Jede echte Erkenntnis ist ganz. Erst von da aus wird verständlich, daß eS Menschen gibt, die zum

Christentum nicht nein sagen, die sich subjekttv als Christen fühlen, und in deren Leben doch zentrale Wahrheiten um Christus keim zentrale Rolle spie­ len. Wer von der Erbauung und von der Lehre aus an diese Tatsachen

herangeht, kann nur meinen, daß hier ein im Grund« unverständlicher halber Glaube vorliege. Denn er kann nicht verstehen, warum nun «in Mensch nicht

zum Christenglauben weitergeht. Rur daraus ist viele lieblose und ver­ ständnislose Beurteilung solchen „SchkcksalSglaubenS" zu verstehen. Wer das Christentum meditativ erfaßt, versteht zwar in einer neuen Tiefe, daß es in der Tat zwangsläufig weitertreibt zur Christuserkenntnis, mrd daß in einem viel tieferen Sinne, als der Lehrhafte meint, ohne diese zu früh aufgehört ist. Aber er versteht zugleich, daß «S sich um «in Stadium der

Erkenntnis handelt, und daß ein Weiterschreiten oft aus Gesamtzusammen­ hängen deö Lebens heraus zur Ieit nicht möglich ist. Man kann nur aus M