Die politische Erziehung in Deutschland: Geschichte und Probleme 1750 - 1880 [Reprint 2012 ed.] 9783111424798, 9783111060019

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Die politische Erziehung in Deutschland: Geschichte und Probleme 1750 - 1880 [Reprint 2012 ed.]
 9783111424798, 9783111060019

Table of contents :
Vorwort
Erstes Kapitel. Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
1. Die Grundlagen
2. Philanthropische Pädagogik
3. Staatspädagogik im friderizianischen Preußen
4. Städtisch-ständischer Patriotismus
5. Volksbildung und Schulwirklichkeit
Zweites Kapitel. Rousseau und die Französische Revolution
1. Rousseau
2. Im Namen der Gleichheit
3. Im Namen der Freiheit
4. Die Erziehungsarmee Napoleons
Drittes Kapitel. Deutschland im Banne der Revolution
1. Ästhetischer Liberalismus
2. Die philanthropisch-patriotische Bewegung
3. Systeme der Staatspädagogik
Viertes Kapitel. Reformzeit und nationale Befreiung
1. Reformzeit
2. Fichte
3. Der Freiherr vom Stein
4. Neuhumanismus und Pestalozzianismus
Fünftes Kapitel. Die Pädagogik als Wissenschaft
1. Philosophische Pädagogik
2. Historische Pädagogik
3. Vergleichende Pädagogik
4. Schulverfassungslehre
Sechstes Kapitel. Politische Theorie von Adam Müller bis zu Karl Marx
1. Konservative Staatslehre
2. Liberale Staatswissenschaft
3. Von Hegel zu Marx
Siebentes Kapitel. Schulpolitik im Vormärz
1. Die schulpolitische Entwicklung 1815–1847
2. Adolf Diesterweg
Achtes Kapitel. Die pädagogische Bewegung des Jahres 1848
1. Die Versammlungen der Lehrer
2. Die politisch-pädagogischen Forderungen der Lehrer
3. Die Arbeit des Frankfurter Parlaments
Neuntes Kapitel. Politik und Erziehungstheorie bis 1870
1. Die Schulpolitik bis 1870
2. Schulrecht und Schulverfassungslehre
3. Die „Christlich-Gymnasialen“
Zehntes Kapitel. Die erziehenden Verbände im 19. Jahrhundert
1. Staat und Kirche
2. Universitäten und Studentenverbände
3. Die Lehrerschaft
4. Zünfte, Gesellenverbände, Arbeitervereine
Anmerkungen
Register

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ANDREAS

FLITNER

DIE POLITISCHE ERZIEHUNG IN DEUTSCHLAND *

GESCHICHTE UND PROBLEME 1750 — 1880

M A X N I E M E Y E R V E R L A G / Τ Ü Β I Ν G Ε Ν 1957

Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck: W.Büxenstein GmbH., Berlin

Dem Andenken der Freunde FRIEDRICH BENDER HEYE GROENEWOLD WILLY S C H E N K

I N H A L T Seite Vorwort

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E r s t e s K a p i t e l . S t a a t und E r z i e h u n g in der zweiten H ä l f t e des 1 8 . J a h r h u n d e r t s 1. Die Grundlagen Reformpädagogik und Fürstenstaat im 17. Jahrhundert — Die Staatsschule im Zeichen merkantilistischer Wirtschaftspolitik. 2. Philanthropische Pädagogik Basedow — Die Schinznacher Schule — „Allgemeine Revision" — Villaume. 3. Staatspädagogik im friderizianischen Preußen Verstaatlichung des Schulwesens — Resewitz — Zedlitz — Rochow. 4. Städtisch-ständischer Patriotismus Die Patriotischen Gesellschaften — Mosers „Patriotisches Archiv". 5. Volksbildung und Schulwirklichkeit Bildungsstand — Volksliteratur — Politische Katechismen — Vorbilder: Universität und Ritterakademie — Rechtsunterricht und Gegenwartskunde an den Schulen.

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18

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23 26

Z w e i t e s K a p i t e l . R o u s s e a u und die F r a n z ö s i s c h e Revolution 1. Rousseau 2. Im Namen der Gleichheit Lepeletier und Babeuf. 3. Im Namen der Freiheit Mirabeau und Condorcet. 4. Die Erziehungsarmee Napoleons

31 34 36 41

D r i t t e s K a p i t e l . D e u t s c h l a n d im B a n n e der R e v o l u t i o n i. Ästhetischer Liberalismus Humboldt und Schiller

43

Inhalt

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Seite 2. Die philanthropisch-patriotische Bewegung Umkehr der „Revisionisten" — Die patriotischen Gesellschaften — Die Preisfrage der Erfurter Akademie von 1793.

48

3. Systeme der Staatspädagogik Erziehung für den Rechtsstaat — Erziehung für den Sittenstaat — Erziehung für den Wohlfahrtsstaat.

54

V i e r t e s K a p i t e l . R e f o r m z e i t und n a t i o n a l e B e f r e i u n g 1. Reformzeit

65

2. Fichte Zeitbewußtsein — Staat — Nation — Nationalerziehung — Die Erziehungsrepublik — Die Bedeutung der „Reden" für die Geschichte und das Problem der politischen Erziehung.

67

3. Der Freiherr vom Stein Moser und Rehberg — Steins erziehende Selbstverwaltung — Jugenderziehung — Bildungswert der Geschichte — Erziehung der öffentlichen Meinung.

76

4. Neuhumanismus und Pestalozzianismus Humboldt und Niethammer — Pestalozzi — Schulpolitik der Reformzeit.

87

F ü n f t e s K a p i t e l . Die P ä d a g o g i k als W i s s e n s c h a f t 1. Philosophische Pädagogik I. B. Graser — Schleiermacher.

97

2. Historische Pädagogik F. H. Ch. Schwarz — F. Cramer — Α. Kapp.

103

3. Vergleichende Pädagogik F. Thiersch — I. Η. von Wessenberg — E . Münch.

107

4. Schulverfassungslehre Wilhelm Sause.

113

Sechstes K a p i t e l . P o l i t i s c h e T h e o r i e von A d a m Müller bis zu K a r l M a r x i. Konservative Staatslehre Leben und Ordnung erziehen — Naturstaat und „Ideokratie" — Der Sprachgebrauch der Fürsten — (A. Müller, K . L . v . Haller, H. Leo, Wilhelm Götte).

117

Inhalt

η Seite

2. Liberale Staatswissenschaft Der reine Rechtsstaat — Schutz des Kinderrechts — Staatliche und antistaatliche Motive — Rechtswille und „politische Mündigkeit" — (K. S. Zachariae, F. Bülau, Rotteck-Welcker).

120

3. Von Hegel zu Marx Hegel — Das „Natürliche" und das Objektive — Staatserziehung.

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Die Hegelianer—„Althegelianer" — G. Thaulow, A. Rüge. Marx — Vereinigung von Erziehung und materieller Produktion — Die Rolle des „Bewußtseins" — Ch. Fourier.

S i e b e n t e s K a p i t e l . S c h u l p o l i t i k im V o r m ä r z 1. Die schulpolitische Entwicklung 1815 — 1847 Süverns Gesetzentwurf — Gegenkräfte — Entpolitisierung der Schule unter Altenstein — Wachsende Verstaatlichung in allen Ländern — Das Schicksal der Bürgerkunde — Literarische Diskussion der Schulpolitik.

138

2. Adolf Diesterweg Verhältnis zur Zeitpädagogik — Pestalozziverständnis — Nationalismus und Realismus — Das „Volk" — Diesterwegs Wirkung.

145

A c h t e s K a p i t e l . Die pädagogische B e w e g u n g des J a h r e s 1848 1. Die Versammlungen der Lehrer Flugschriften — Die großen Lehrertage — Verbrüderung aller Lehrer — Kontakt mit der Frankfurter Nationalversammlung.

150

2. Die politisch-pädagogischen Forderungen der Lehrer . . Staatlichkeit der Schule — Freiheit — Volkstümlichkeit— Nationalbewußtsein — Einheitlichkeit.

158

3. Die Arbeit des Frankfurter Parlaments Vorbilder — Entstehung der Schulartikel — Der Lehrerstand in den Schulartikeln — Bedeutung der 48er Bewegung für die politische Erziehung.

161

Inhalt

8

Seite N e u n t e s K a p i t e l . P o l i t i k und E r z i e h u n g s t h e o r i e bis 1 8 7 0 1. Die Schulpolitik bis 1870 Die Stiehlschen Regulative in Preußen — Verwandtes in anderen Ländern — Lesebücher — Die Lehrerschaft.

165

2. Schulrecht und Schulverfassungslehre Die Schule im Kräftefeld der geistigen und politischen Mächte — Soziale Bildung — Rechtsgeist im Schulwesen — (H. Gräfe, Ludwig von Rönne, Lorenz von Stein).

169

3. Die „Christlich-Gymnasialen" Schmids Enzyklopädie — Nationaler Liberalismus und positives Christentum — Ludwig Wiese.

174

Z e h n t e s K a p i t e l . Die erziehenden V e r b ä n d e im 19. Jahrhundert 1. Staat und Kirche

180

2. Universitäten und Studentenverbände

186

3. Die Lehrerschaft

191

4. Zünfte, Gesellenverbände, Arbeitervereine

192

Anmerkungen

196

Register

234

VORWORT Kann man der politischen Erziehung, diesem Sorgenkind der Schule und der Pädagogik, durch eine problemgeschichtliche Untersuchimg aufhelfen? Oder vermehrt man dadurch nur die große Zahl untauglicher Bücher über diesen Gegenstand und begibt sich unter jene Autoren, über die schon Hegel seinen Spott ausgegossen hat — die mit Gründlichkeit zusammentragen, was „berühmte Männer, Kirchenväter, Philosophen" darüber vorgebracht, die Bescheid wissen im „Statuieren und Meinen" anderer, aber zur Sache selbst gar nicht kommen? Dieses Buch will zur Sache selbst kommen. Es geht aber davon aus, daß unser Erziehungswesen ein historisches Gebilde ist, daß man es in seinen geschichtlichen Zusammenhängen erkennen und verstehen muß, wenn man seinen Sinn ergründen und wenn man seine Substanz erhalten oder verändern will. Die geschichtliche Betrachtung zeigt, daß das Unterrichtswesen, zumindest seit der Französischen Revolution, eine politische Potenz gewesen ist, daß man es als ein Politicum angesehen und umkämpft hat und daß auch die inhaltliche Beziehung zur Politik seit dieser Zeit von der Pädagogik und von der Schultheorie wahrgenommen worden ist. Freilich wurde in Deutschland lange versucht, diese Aufgabe ganz aus der Schule fortzudrängen, aber auch das gehört in diese Geschichte herein und muß in seinen Motiven ergründet werden. Mail hat sich oft bemüht, den großen Fragenkreis, um den es hier geht, aufzuteilen und staatsbürgerliche, politische, soziale Erziehung und Bildimg scharf voneinander zu trennen. Systematisch ist das nicht möglich, und will man es von der Wortbedeutung her tun, so wird man wiederum auf die Geschichte verwiesen. So muß die terminologische wie die sachliche Differenzierung auf historischem Wege versucht und zunächst der ganze Bereich behandelt werden. Eingeschlossen ist also einmal die „staatsbürgerliche Erziehung". Die Vorstellung vom Bürger, der im Staate seine Pflicht erfüllt und dafür ausgerüstet wird, dieses Leitbild des Aufklärungsstaatsdenkens im 18. Jahrhundert, hat sich bis heute erhalten und als unentbehrliches Mobiliar der Demokratie erwiesen. Allerdings

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Vorwort

ist etwas von der Mentalität der Entstehungszeit, der es vornehmlich um den funktionierenden Staatsbürger und seinen verständigen Gehorsam ging, mit dem Ausdruck verschmolzen, und die „staatsbürgerliche Erziehung" hat ein Stück dieses ihres ursprünglichen Geistes durch die Zeiten hin mitgeschleppt. Einbegriffen ist auch die „politische Bildung", wobei mit „Bildung" gemeint ist, was das 19. Jahrhundert im Zeichen des Neuhumanismus darunter verstanden hat: eine auf bestimmtes Bildungswissen gegründete, durch Übung geprägte Formung des Denkens, Schauens und Sichverhaltens. Daß der Begriff der Bildung in seiner klassischen Zeit Politisches kaum enthalten hat, gibt keinen Anlaß, ihn hier auszuschließen oder nur in der abgegriffenen Bedeutung des heutigen Sprachgebrauchs weiterzureichen. Er trägt in sich durchaus die Möglichkeit, auch auf die politische „formätio" des Menschen angewandt zu werden. Und schließlich ist auch die „Sozialerziehung" mit behandelt, wie sie besonders dann im 20. Jahrhundert ein Vorzugsthema der Pädagogik geworden ist — hier allerdings nur soweit einbezogen, als sie eigentümlich Politisches berührt. Das Feld der Gemeinschaftserziehung ist unendlich, von ihren Problemen steckt in jeder Pädagogik etwas drin, und vieles wäre einfacher, wenn man sie hier ganz beiseite lassen könnte. Aber eine Abtrennung dieses Bereichs vom politischen ist nicht möglich, weil die Grenzen in der Wirklichkeit fließen, die vorwiegend sozialen und die vorwiegend politischen Gemeinschaften verbunden sind durch eine große Zahl solcher, die von der einen zur anderen Bestimmung überwechseln; die Politisierung der gesellschaftlichen Mächte ist geradezu als charakteristisch für unsere Zeit bezeichnet worden, tritt dem Historiker aber auch aus früheren Epochen entgegen. Und anderseits liegen die entscheidenden Differenzen unter den heutigen politischen Parteien in ihrer Einstellung zur Ordnung der Gesellschaft, so daß auch die politischen Fragen großenteils von sozialen Fragen abhängig geworden sind. Von dieser Verbundenheit lebt die politische Erziehung weithin. Sind doch die Sozialformen des Alltags und der Erziehung fast die einzigen Modelle, die ihr zur Verfügung stehen und ohne die sie zur öden Unterweisung nachherbartischer Begrifflichkeit würde. In dem also recht weit gefaßten Thema ist aber ein noch umfänglicheres mitgemeint und -untersucht, ein Aspekt der Geschichte der Pädagogik überhaupt als der Wissenschaft von den Bedingungen und Gehalten der Erziehung. Pädagogik ist seit der grie-

Vorwort

II

chischen Antike vornehmlich zweierlei gewesen: einmal pragmatische Methodensuche, zum andern Definition des Bildungsideals. In Protagoras und Plato, Pseudoplutarch und Cicero, Basedow und Humboldt, Ziller und Paul Natorp ziehen sich diese zwei Aufgaben durch die Geschichte hin. Das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert bringen gegenüber dieser Alternative eine neue Fragestellung und damit einen dritten Weg der Pädagogik, ein ganz anderes Selbstverständnis ihrer Aufgabe, welches sie bis in die Gegenwart hinein zunehmend bestimmt. Es ist das Bewußtsein dieser Wissenschaft, weder ein Bildungsideal von sich aus formulieren, noch in Pragmatismus und Methodensuche steckenbleiben zu können, vielmehr die Erziehung untersuchen und erkennen zu müssen in ihrer mannigfachen Verschränkung und Abhängigkeit von vielen Bereichen des Lebens und des Geistes, von ihnen beeinflußt und sie mit bestimmend, auf Verstehen angewiesen und auf das Verstandene wirkend. Die Verschränkung mit der Politik ist nur eine Seite des Ganzen, das hier erfahren wird. Schleiermacher, der erste große Systematiker einer solchen dialektischen oder hermeneutischen Pädagogik, hat auf andere Bereiche der Sozialwelt hingewiesen, die mit ihren Gehalten und ihren Ansprüchen in die Erziehung hineinwirken: auf die freie Geselligkeit, auf die Verbände der Wissenschaft, auf die Kirchen. Die Wirtschaft ist eine weitere Potenz, die in ihrer Bedeutung für die Pädagogik schon von den Philanthropen entdeckt, dann aber auf lange Zeit wieder ganz aus dem Bildimgswesen fortgedrängt worden ist. Nach und nach wurde auch erkannt, daß diese Sozialmächte historischen Veränderungen unterworfen sind und einen Wandel der Erziehung und der Erziehungstheorie mit bedingen. Das Bewußtsein der Geschichtlichkeit zog damit auch in das pädagogische Denken ein, ebenso das der örtlichen und nationalen Besonderheit, wie es die vergleichenden Wissenschaften konstatieren. Diese Bedingungen pädagogischen Denkens und Handelns sind schon mehrfach erörtert worden, besonders von den Geisteshistorikern in der Nachfolge Wilhelm Diltheys und versuchsweise von soziologischer Seite, etwa von Paul Barth und Hans Weil. Noch nicht hinreichend geklärt ist das Bewußtsein der pädagogischen Wissenschaft von dieser ihrer Lage, d. h. die Geschichte der Pädagogik als einer hermeneutischen Disziplin. Die Verflechtung von Politik und Erziehung ist, wie gesagt, nur ein Aspekt dieser Geschichte. Aber ihr Ganzes ist in der Untersuchung immer gegen-

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Vorwort

wärtig und ist für den Verfasser eines ihrer Spannungsmomente gewesen. Auch sonst hat die Arbeit ihm selbst viele Überraschungen gebracht und ihn gezwungen, die seit K. A. Schmid und Friedrich Paulsen durch zahllose Nachläufer ausgetretenen Wege an vielen Stellen zu verlassen. Bei einer solchen Ausweitung des Themas mußte unter den andrängenden Materialien sehr entschieden gesondert werden. So ließ es sich nicht vermeiden, einmal dieses, einmal jenes Geistesgebiet in den Vordergrund zu stellen, manche der eingeflochtenen Fäden nur ein Stück weit sichtbar zu machen, für die einzelnen Epochen dieser Geschichte „legitime", zeitaktuelle Fragestellungen herauszusondern und mehr zufällige Formen beiseite zu lassen oder nur flüchtig zu behandeln. Solche Auswahlprinzipien und Bestrebungen, einen „Entwicklungsgang" aufzusuchen, sind — erkannt oder nicht — in jeder Problemgeschichte wirksam. Dabei ist es in der neueren Geschichte vor allem das „Zukunftsträchtige" (oder als Gegenpol das „Falsche" oder das Nicht-realisierte), was die Nachlebenden interessiert. Dieses gibt aber seine klärende Kraft, seine Bereicherung der Gegenwart nur her, wenn es um seiner selbst willen, in seinem eigentümlichen Anspruch und seiner Stimmigkeit betrachtet und verstanden wird. In dieses Buch ist meine Habilitationsschrift von 1954 nur in verkürzter Form aufgenommen worden, in der Hoffnung, es möge so wirklich mitsprechen in der gegenwärtigen Diskussion und den Leser nicht aus seiner vielleicht denkenden, sympathisierenden oder opponierenden Teilnahme in die neutrale Sphäre materieller Ausführlichkeit hinüberwiegen. Über die speziellen Untersuchungen ist im Anmerkungsteil Rechenschaft abgelegt, wohin auch die Auseinandersetzung mit der Literatur und die Hinweise auf weitere, sich hier ergebende Forschungsaufgaben verbannt sind. Zu danken habe ich vor allem Eduard Spranger für sein gütiges Interesse und für seinen kundigen und allzeit toleranten Rat, sodann meinen Tübinger Freunden, Kollegen und Schülern, die mir viele Anregungen gaben. Mancher andere wird, was ich ihm schuldig bin, aus den nüchternen Anmerkungen herauslesen müssen. Auch für künftige Hilfe und Kritik und für alle Hinweise, die der Fortsetzung dieser Arbeit nützen können, werde ich dankbar sein. Mit den Freunden, deren Namen die erste Seite trägt, habe ich die Gespräche, die uns in schweren Zeiten verbanden, nicht fort-

Vorwort setzen können. Zwei von gekehrt, der dritte in der sein, daß ich ihre Hilfe allzuoft habe entbehren Andenken.

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ihnen sind aus dem Kriege nicht heimEmigration früh gestorben. Im Bewußtund ihren Zuspruch auch hierbei nur müssen, widme ich dieses Buch ihrem

Erlangen, im Frühjahr 1957

ANDREAS FLITNER

ERSTES KAPITEL STAAT UND ERZIEHUNG I N DER ZWEITEN HÄLFTE D E S 18. J A H R H U N D E R T S

i. DIE GRUNDLAGEN Seit mitteldeutsche Fürsten im 17. Jahrhundert begonnen hatten, die Schulpflicht von Staats wegen zu verordnen und den Aufbau eines allgemeinen Schulwesens zu organisieren, zeichnet sich das Problem der politischen Erziehung in seiner neuzeitlichen Form am Horizonte ab. Staat und Erziehung begegnen sich unter dem Zeichen zunehmender rationaler Bemeisterung der Welt. „ I n principio erat ratio", so war schon in der Reformationszeit von den italienischen Protestanten der Anfang des Johannes-Evangeliums übersetzt worden. Ratio also als Vernunft des Schöpfers, an der die Menschen aber teilhaben mit ihrer Vernunft; und aus dieser Teilhabe wächst ihnen die Pflicht zu, die Welt zu erforschen und vernünftig zu ordnen. Die politische Theorie der Zeit konstruiert utopische Musterstaaten. In der politischen Wirklichkeit zeichnet sich der rationale Beamtenstaat ab. Die Naturwissenschaften suchen die Gesetze des Kosmos zu ergründen. Und die Pädagogik sinnt auf Methoden, der Vernunft eines jeden die ganze Welt zu erschließen, ,,alle Menschen alles zu lehren". Alle Menschen alles lehren: so lautet die Forderung der Reform•pädagogen des 17. Jahrhunderts, die der staatlichen Schulpflicht ans Licht geholfen haben. Und in dieser Forderung steckt ihre eigentümliche Philosophie, die den Menschen als Spiegel der Schöpfung bezeichnet, als ihr Abbild, das sie mikrokosmisch darzustellen habe. Es steckt aber auch darin die Lehre vom ursprünglichen Recht eines jeden Menschen, zu lernen und belehrt zu werden und damit Anteil zu erhalten an der ihm bestimmten vernünftigen Geschöpflichkeit. Zu diesem „Alleslernen" gehört bei den Reformpädagogen folgerichtig auch eine Einführung in die bestehende politische

l6 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Welt, insbesondere die des kindlichen Anschauungskreises, der Gemeinde und der städtischen Obrigkeit. War bisher der Bibelund Katechismus-Unterricht der Born gewesen, aus dem auch alle politische Anschaulichkeit schöpfen mußte — die Geschichten von den Königen und Propheten etwa, das Gleichnis vom Zinsgroschen oder die Mahnungen des Römerbriefs — so sollte jetzt ein eigener Unterricht in die Weltgeschichte und in die politische Ordnung einführen. Doch nur als ein Stück erscheint dies und ohne besondere Betonimg im ganzen Unterrichtsplan. Denn Staat und Kirche, Politik und Religion sind für jene Pädagogen nur die einander zugehörigen Teile eines Ganzen, und der beginnenden Säkularisierung der Schule, mit der sie den Anfang machen, sind sie sich nirgends bewußt. Das Greifen des Staates nach der Schule ist aber weniger Werk jener Pädagogen, als vielmehr Konsequenz der modernen Staatsprinzipien selbst. Der sich rationalisierende Staat fängt an, „die Bildung zu brauchen, wie er Geld braucht, Militär braucht, Straßen braucht" (i). Sein Interesse ist nicht die vielseitige Bildung des Menschen, und nicht um ihretwillen nimmt er sich der Schule und des aufkommenden Realprinzips an. E r benötigt für seine Zwecke den Bürger, der im Gesamtgetriebe am besten seinen Platz versieht. Das Staatsgebäude wünscht er sich als einen Mechanismus, in dem ein jeder seine Stelle gut und vernünftig ausfüllen soll. Die Theoretiker dieses Auf klärungsstaates, V. L. von Seckendorf! (1626—1692) etwa oder J . J . Becher (1635—1682), setzen zwar die Sorge für die Schule in den ersten Rang der Staatsund Fürstenpflichten. Aber sie haben auch Forderungen an diese staatsbetreute Schule; sie verlangen von ihr, daß sie die lateinische Einseitigkeit aufgibt und Kenntnisse für den Bürger im modernen Staat, für den Mann auf seinem Platze in den Vordergrund stellt. Ein jeder soll die Dinge erlernen, „die ein künftiger Hausvater, Bürger und Inwohner des Lands von allerhand natürlicher und vernünftiger Sachen Beschaffenheit des Lands-Regiments und Hauswesens in allen Ständen mit Nutz wissen und gebrauchen könnt" (2). So bildet sich in der Skala der neuen Realfächer eines heraus, das die Vorläuferschaft politischen Unterrichts für sich in Anspruch nehmen darf. Schon die erste staatliche Schulordnung, die Herzog Emst der Fromme von Gotha erließ, zählt seit 1662 eine Bürgerlehre unter den Realien auf (3). Und das zugehörige Schulhandbuch, das von Andreas Reyher, dem pädagogischen

Die Grundlagen

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Berater des Herzogs — oder doch wenigstens nach seinen Entwürfen — verfaßt worden ist, enthält eine Staats-, Ämter- und Berufslehre und eine Einführung in die Rechte und Pflichten des Bürgers für jedermann (4). Reformpädagogik und Fürstenstaat haben gemeinsam und einmütig diesen Unterrichtsbereich — ein Fach könnte man es noch nicht nennen — aus der Taufe gehoben ; jene um des Menschen willen und seiner Orientierung in der öffentlichen Welt, dieser um seiner selbst, des Staates willen, da er in sich alle Bürgerwohlfahrt eingeschlossen sah. Pädagogik und Staat sind, gerade im Hinblick auf diesen Täufling, nicht immer so einträchtige Gevattersleute geblieben. Wichtiger als dieses Fach wurde die Art und Weise, in der überhaupt der Staat sich der Schule, ihres Gedeihens und ihrer Inhalte annahm. Ohne das Interesse, das der aufgeklärte Staat pro domo an der Schule nahm, ist ihre ganze neuzeitliche Geschichte und besonders ihre Ausbreitung im 18. Jahrhundert nicht zu denken. Mit dem Schulzwang und den Schulordnungen des 17. Jahrhunderts war ja noch nichts gewonnen, solange die Unterhaltsgelder, die Gebäude, die ausgebildeten Lehrer fehlten. Daß der Staat sich unter Opfern an den Mitteln zur Schulunterhaltung beteiligte oder sie ganz selber aufbrachte, daß er die Lehrerbildung allmählich in eigenen und wiederum kostspieligen Seminaren konzentrierte, das gab ihm nicht sein Aufklärungspathos ein oder die Sorge um bürgerlich-politische Erziehung; das diktierte ihm vielmehr zunächst seine ökonomische Politik und die herrschende merkantilistische Wirtschaftstheorie. Der Staat bedurfte der Schule, um mit ihrer Hilfe die Wohlfahrt des Landes zu heben. Wollte man ausländische Pflanzen anbauen lassen, neue Arbeitsund Düngemethoden einführen oder fremde Industrien herbeiziehen, so brauchte man nicht nur eine gewisse Aufgeklärtheit des Landvolkes, eine Bereitschaft zum Neuen und die Fähigkeit, aus Wort und Schrift dieses Neue aufzunehmen, sondern man setzte geradezu den Schulmeister ein zu seiner Verbreitung, sei es, daß er die Bauern selbst zu unterweisen, sei es, daß er die Bauernkinder im Schulunterricht mit dem Neuen vertraut zu machen hatte. So nennt das preußische Generallandschulreglement von 1763 als Aufgabe des Schullehrerseminars die Unterweisung im Seidenbau im gleichen Zuge mit der Einführung in die „Methode des Schulehaltens". Die Erziehung für den Staat war in ihrer ersten Form Erziehung für die Wirtschaftspolitik des Staates (5). 2 Flitner

18 Staat und Erziehung in der zweiten Hälite des 18. Jahrhunderts 2. P H I L A N T H R O P I S C H E P Ä D A G O G I K

„Vorstellung an Menschenfreunde" überschrieb J. B. Basedow die Programm- und Werbeschrift für sein Reformschulprogramm, und „Philanthropinum", Stätte der Menschenliebe, nannte er die Schule, die er mit den erworbenen Mitteln im Rampenlicht des öffentlichen Interesses errichtete. Der Name war ein Programm, er knüpfte an bei einem Begriff der hellenistischrömischen Stoa und setzte die Liebe zu allem, was Menschenantlitz trägt, als höchste Tugend und den Anspruch eines jeden auf die Entfaltung seiner Menschlichkeit als höchstes Recht. Als Wahrer dieses Bildungsrechts aller Menschen und gleichermaßen als Hüter und Förderer dieser weitgehend säkularen Sozialmoral kam nicht die bisherige Schulherrin, die Kirche, in Frage. Der Staat mußte es sein, der sich der Wohlfahrt der Bürger hinfort annehmen, sich zu seinen Gliedern hin- und die Bürger zugleich zu sich herwenden sollte. Der gegebene Sozialverband und insbesondere die Staatsgemeinschaft erschienen als die eigentliche Bewährungsebene der Menschenfreundlichkeit (6). In der philanthropischen Schule Basedows ist es darum mit den herkömmlichen Fächern nicht getan. Neben den Fachlehrern wird ein „ E d u c a t o r " eingesetzt, der den Unterricht in der Moral und in den sozialen Tugenden übernimmt und dessen Name schon anzeigt, daß bei ihm die eigentliche Erziehungsaufgabe der Schule liegt. Außer seinem Unterricht fällt ihm die allgemeine Regelung des Schullebens zu, das er als eine große „Übung im Patriotismus" einrichten soll. Er muß die kindlichen Spiele nutzen, sie auf Gesellschaftsgründungen, Wahlen, Ämter und Subordinationen richten und sie auswerten als Vorschule für das spätere Leben in patriotischer Gesinnung, als „Übung in der Selbstverleugnung zum gemeinschaftlichen Besten" (7). Von der Verwirklichung solcher Pläne in philanthropistischen Schulen ist manches Zeugnis überliefert, besonders anschaulich in dem Bericht Martin Plantas über seine Schinznacher Schule: wie da von den Schülern gewählt, beamtet und beaufsichtigt wird, wie sie eine kleine Republik nach Vorbild des römischen Staates schaffen, wie sie öffentlich klagen, sich verteidigen, unparteiisch rechtsprechen und ein modellhaftes Gemeinwesen handhaben und regieren (8). Eine solche Erziehung zur sozialen Tugend darf mit dem Schulalter nicht beendet sein. Auch für die Erwachsenen wird darum ein Bildungswesen verlangt, das ebenso wie die Schule einmal

Philanthropische Pädagogik

19

durch Belehrung wirkt, zum andern aber Einrichtungen schafft, welche die Sozialmoral und den Patriotismus zu festigen geeignet sind. So sollen von Staats wegen Titel und Wappen an verdiente Patrioten verliehen, ein vaterländischer Adel dem des Blutes entgegengesetzt werden. Hohe Preise soll man patriotischen Schriftstellern und Liederdichtern gewähren. Die Gesetze will man so formulieren, daß jedermann sie verstehen und zu seiner Sache machen kann, öffentliche Vaterlandsfeste sollen mehrmals im Jahr alle versammeln (und auch für die Jugend Höhepunkte des Schuljahres sein), während derer von nichts anderem geredet wird als „vom Vaterlande, von großen Exempeln patriotischer Aufopferung, von den Vorteilen, die man durch die bürgerliche Vereinigung genießt, von den Pflichten, die das Vaterland von uns erwartet; wie dasselbe unter den großen Gesellschaften unser Nächster sei; daß wir in ihm dem menschlichen Geschlechte dienen und daß die Religion selbst eben deswegen zur vorzüglichen Liebe des Vaterlandes verbinde" (9). Vaterland heißt hier immer: der gegebene Staat, in den man hineingeboren ist und dem man Sicherheit und Wohlfahrt verdankt ; ein Sozial- und Schutzverband, der überall, wo es Menschen gibt, und in jeder Regierungsform, die den Menschen fördert, gleichviel gilt. Es ist der Staatspatriotismus des Aufklärungsstaates, den die Philanthropen aufrichten wollen und dem sie ihre Erziehung widmen. Hier allerdings gerät die philanthropische Erziehungslehre in einen inneren Konflikt, indem das Recht des Einzelnen auf Menschlichkeit, auf Entfaltung und Ausbildung der Kräfte in Widerstreit kommen kann mit dem Willen des Staates, die Bildung zu seinen Gunsten und im Namen der allgemeinen Wohlfahrt zu lenken. Dieser Konflikt findet sich insbesondere ausgetragen in der „Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens", jenem enzyklopädischen Handbuch, das die norddeutschen Philanthropisten Ehlers, Resewitz, Salzmann, Stuve, Trapp, Villaume u. a. unter der Leitung von J. H. Campe herausgaben und das mit 16 Bänden ein Torso, aber doch die wichtigste Gruppenaussage der Philanthropen blieb. Darin hat Peter Villaume über die Frage gehandelt, „Ob und inwieweit bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei" (10). Hier wird — und das entspricht der Position der Philanthropisten bis etwa 1792 — der einzelne mit seiner Aufgabe, an Ort und Stelle zu funktionieren, der großen 2*

20 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Maschine der Gesellschaft und des Staates preisgegeben. Im I nteresse der Gesamtheit kann Gehorsam statt Räsonnement, mechanische Fertigkeit statt Einsicht, Alltagszufriedenheit statt tieferer Bildung wünschenswert sein. „Selbst auf das größte Opfer des Menschen, auf das Opfer eines Teils seiner Veredelung und Vollkommenheit, hat die Gesellschaft ein unwidersprechliches, heiliges Recht". „Ja, ich halte es für die Pflicht der Obrigkeit, den Lehrern des Volkes und der Jugend vorzuschreiben, welche Kenntnisse und in welcher Form sie jeder Klasse [der Gesellschaft] mitteilen und was sie für Gesinnungen und Triebe erwecken sollen" (11). Villaume ahnt, welche Gefahr in dieser Staatsvollmacht steckt. „Ein großes und gefährliches Recht... Heil dem Staate, der solches Recht nicht mißbraucht!" (12). Aber er läßt es ihm ungeschmälert, und es bedurfte der Erschütterung durch den Anblick der französischen Revolution, daß die Philanthropen sich der anderen Wurzel ihrer Lehre, des angestammten und unabdingbaren Rechts des Einzelnen auf Bildung, wieder entsannen. 3. S T A A T S P Ä D A G O G I K IM F R I D E R I Z I A N I S C H E N P R E U S S E N

Drängte so die philanthropische Erziehungstheorie und -praxis der Zeit hin auf den Staat, sowohl auf seine Abbildung im Sozialprinzip der Schule als auch auf Verstaatlichung der Schulorganisation, so hat die Staatspolitik ihrerseits ein weiteres getan, die Schule in ihren Wirkungskreis und in ihre Zwecke hereinzuziehen. Das Preußen Friedrichs d. Gr. ging hierbei voran, und zwar nicht nur dadurch, daß es sich seiner Schulen bemächtigte — mit Hilfe einer sich zentralisierenden Lehrerbildung (1747/52), der strikten Durchführung von Schulpflicht und Schulaufsicht (1763) und schließlich der Erklärung der Schule als einer Veranstaltung des Staates (1794) — sondern auch durch theoretische Erörterungen und Versuche, die sich auf den politischen Inhalt und das Sozialprinzip der Staatsschule bezogen. Der aufgeklärtabsolute Staat trägt ja im Hinblick auf die Erziehungslehre zwei einander widerstrebende Tendenzen in sich, die beide hier zu Worte kamen: das ständische Prinzip, das nur für die oberen Schichten eine politische Erziehung verlangt und sonst dafür sorgt, daß jeder auf seiner Stufe bleibt, an seinem Platze Rechtes leistet und seine Blicke nicht zu weit darüber hinausschweifen läßt; und das Prinzip des nivellierten allgemeinen Staatsbürgertums, das Motive des Naturrechts und der Staatsraison mit-

Staatspädagogik im Friderizianisehen Preußen

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einander verbindet und eine staatsnützliche Bürgerbildung für alle Untertanen verlangt. Die Erziehungstheorie der sorgfältig abgetreppten, staatsregulierten Standesschule hat, auch in Deutschland, besonders in der Formulierung gewirkt, die ihr La Chalotais in seinem „Essai dEducation nationale" (1763) gegeben hat (13). Ganz in ihrem Sinne ist die bekannte Äußerung Friedrichs zu verstehen, es sei auf dem Lande genug, wenn die Leute etwas lesen und schreiben lernen, und ein Mehrwissen führe nur dazu, daß sie davonliefen in die Städte, um „Sekretairs und so was" zu werden (14). Ausführlich hat diese Gedanken F. G. Resewitz ausgebreitet in seinem Buche: „Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftigkeit" (1773) (15). Resewitz wurde auf Grund dieser Schrift von Friedrich nach Preußen berufen, mit einer Generalsuperintendentur betraut und mit der Leitung der alten Erziehungsanstalt zu Kloster Berge, wo er seine Vorschläge zu verwirklichen suchte. Entsprechend den Berufsständen und der Abkunft fordert er eine Skala von Schultypen, von denen aber nur einer, der für den „gesitteten Stand des geschäftigen Bürgers", an der eigentlichen Aufklärung teilhaben kann. Für diesen höheren Bürger nun wird auch eine bürgerlichpolitische Erziehung gefordert und entwickelt. Für ihn „ist es nützlich zu wissen, durch welche Veränderungen die Nation auf den Punkt gekommen ist, worauf sie sich jetzt befindet; durch welche großen und brauchbaren Männer dieses Wachstum bewirket worden; welche Künste und Gewerbe im Lande blühen; wieweit Handlung und Landbau darin gediehen sei; welche natürlichen Produkte es habe oder nicht habe; welche Gesetze und Anstalten den meisten Einfluß auf den Zustand der Bürger haben; welche natürlichen und bürgerlichen Vorteile sie besitzen usw." Besonders ausführlich muß dabei die Gegenwart erörtert werden, die Vorzüge des eigenen Landes, die bürgerliche Freiheit seiner Einwohner und die Gründe für seine Wohlfahrt; ferner die Gesetze, nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrem Geiste nach, auf daß der Bürger das Glück des Gesetzesstaates zu schätzen wisse, patriotisch denken lerne und der Obrigkeit williger Gehorsam leiste (16). Das Ziel einer Allgemeinbildung gibt es in diesem Staate der Staatszwecke nicht. Selbst den Universitäten wird vorgeworfen, sie beschäftigten sich zu sehr mit allgemeinen und abstrakten

22 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Philosophemen, statt sich scharf auf ihre gelehrten Spezialaufgaben zu begrenzen (17). Und wie im Gelehrtenstande so soll auch in allen anderen Ständen und Berufen die Ausbildung sich streng im Erlebens- und Schaffenskreise eines jeden halten. Die politische Erziehung wird auf die Schicht der „gesitteten Bürger" beschränkt, die eines verständigen Patriotismus, eines Durchdenkens und Mittragens des Staates fähig sind. Damit wird immerhin ein Teil des Volkes, ein Stand in Stellvertretung für die anderen, zum Mitträger des politischen Ganzen. Und an dieser Stelle dringt nun auch das zweite Prinzip friderizianischer Staatserziehung, das naturrechtlich begründete allgemeine Staatsbürgertum, in die Gedanken ein. Friedrich selbst hat auch vom Adel eine solche stellvertretende Funktion erwartet und damit das Adelsprinzip eigentlich schon unterhöhlt. In den Direktiven, die er für die Berliner Ritterakademie entworfen hat, ist dem Rechtslehrer vorgeschrieben, die Bürgerrechte und die gegenseitigen Rechte des Volkes und des Monarchen zu lehren, die Notwendigkeit einer Kontrollmacht für die Rechtswahrung darzutun und unter den Adligen den Gedanken auszubreiten, daß über kurz oder lang jeder Bürger mit dem Gesetzbuch vertraut sein müsse (18). Die Rechts- und Bürgererziehung setzt zwar bei den oberen Ständen ein, ist aber so angelegt, daß sie sich nach unten hin voll ausbreiten kann. Das liegt im Wesen des Rechtsstaats begründet, und erst dadurch wird er wirksam. Das ist von dem Lenker des Erziehungswesens im Staate Friedrichs, dem Minister Frh. von Zedlitz besonders deutlich gesehen und ausgesprochen worden (ig). Ein despotischer Staat bedarf keiner Erziehung, sie ist ihm nutzlos, denn er steuert seinen Gang mit Hilfe der Furcht und des physischen Zwangs. Eine nach Gesetzen regierte Monarchie aber — und eine Republik, wie Zedlitz nur andeutet, nicht näher ausführt — muß erziehen. Das heißt, sie muß jeden aufklären über seine Pflichten, gleichermaßen aber über die Rechte und Befugnisse, die ihnen entsprechen und die dem Bürger sein Dasein erst wert machen. „Pflichten ohne Rechte, Verbindlichkeiten ohne Befugnisse gleichen einer Last, die ohne Kraft in die Höhe gehoben werden soll, einer Wirkung ohne Ursache" (20). Den Inhalt einer solchen Belehrung, die auch dem letzten Bürger zu erteilen sei, kennzeichnet Zedlitz mit den Stichworten: „Unbedingter Gehorsam gegen Gesetze, nicht gegen Personen... — Befugnisse und Rechte des Menschen, des

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Bürgers. — Sicherheit der Person und des Eigentums. — Gewissens-Freiheit" (21). Es ist die Essenz des Rechtsstaates, was in diesen Schlagworten zusammengedrängt ist und was nach Zedlitz jedermann eingeprägt werden, worüber jeder Bescheid wissen soll. Denn erst im Wissen aller um diese Rechte wird der Rechtsstaat wirksam — wem fiele nicht die Geschichte von dem Müller von Sanssouci ein, der dem Könige droht, das Kammergericht gegen ihn anzurufen. Ein solches Rechtsbewußtsein wird sich allerdings nur dort bilden, wo Recht und Politik selbst so gehandhabt werden, daß von ihnen eine erzieherische Wirkung auf das Ganze des Volkes ausgeht. Auf diese Formel sucht Zedlitz das Wesen des preußischen Staates zu bringen, daß der ganze Staat ein sich selbst aufbauendes und immer fortwirkendes Erziehungsinstitut ist, daß er mit seiner Rechtshandhabung wie mit seinem Unterrichtswesen einem großen Erziehungszusammenhange dient, der im ganzen öffentlichen Leben wirksam ist und der den Regenten wie die Bürger in allen Ständen gleichermaßen verpflichtet (22). Innerhalb einer solchen Auffassimg kann sich eine ständische Abtreppung des Unterrichts auf die Dauer nicht halten, und so nimmt es nicht wunder, daß in der unmittelbaren Umgebung von v. Zedlitz, bei dem von ihm vielfach geförderten Frh. von Rochow, das Standesprinzip durchbrochen und erklärt wird, Bildung sei kein Vorrecht gewisser Stände, sondern müsse „als allgemeines Menschenrecht auch dem Geringsten und Ärmsten mitgeteilt werden" (23). Rochow hat selbst die Folgerungen gezogen und Volksschulen für seine Bauern eingerichtet, die viel Aufsehen erregten und von denen ein Zedlitz fürchtete, sie brächten zuviel „Metaphysik" und „Raisonnement" in den Bauernstand. Mochte sich Zedlitz von diesen Folgerungen auch distanzieren — seine Gleichsetzung von Rechts- und Erziehungsstaat duldete auf die Dauer keine ständischen Erziehungsprivilegien mehr. Auch hier hat erst die französische Revolution die vollen Konsequenzen deutlich werden lassen. 4. STÄDTISCH-STÄNDISCHER PATRIOTISMUS

Gegen das abstrakt-rationale und das utilitarische Denken der Naturrechtler und Philanthropisten läßt sich noch eine Richtung abgrenzen, die man etwa als „historisch-ständische Reform-

24 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewegung" bezeichnen kann, die einerseits in den alten Reichsund Hansestädten, anderseits in der Schweiz und in Württemberg ihre Schwerpunkte hat. Auch ihre Grundlage ist philanthropisch wie die der preußischen Staatspädagogen. Aber ihre politische Konzeption ist eine andere, gemäß dem anderen politischen Boden, auf dem sie steht. In den Städten zumal hatte sich vielerorts noch etwas von den „alten Freiheiten", einem repräsentativen Mitspracherecht der Bürger in den öffentlichen Angelegenheiten in der Praxis oder doch in der Erinnerung erhalten. Die Aufklärungs- und Sozialgedanken der Zeit haben diese Erinnerungen wieder geweckt und mit ihnen das Verlangen, diese historischen Freiheiten wiederherzustellen, statt sich utopisch-egalitären Freiheitsideen hinzugeben. In den „Patriotischen" und „Gemeinnützigen Gesellschaften" gewinnt diese Bewegung ihre organisierte Form (24). Auch hier überwiegt zunächst das ökonomische Interesse. Darin drückt sich nur das Zeitalter aus, dem sich die Probleme des öffentlichen Lebens fast immer zunächst von ihrer wirtschaftlichen Seite gezeigt haben, später auch von der gesellschaftlichen, während die im engeren Sinne politische sich erst durch die Ereignisse der französischen Revolution als die eigentliche und schon immer mitgemeinte offenbart. Die Mitarbeit aller guten Köpfe für die ökonomische und technische Verbesserung des Lebens zu gewinnen, schien die nächstliegende Aufgabe zu sein, mittels derer sich auch die übrigen öffentlichen Aufgaben alsbald lösen ließen. Eine der kurzlebigen Zeitschriften dieser Bewegung trägt den Titel „Der physikalische und ökonomische Patriot". — „Der Geist des edlen, weisen, großen Franklin schien mir als inspirierender Genius über dieser Gesellschaft zu schweben", schreibt ein Zeitgenosse treffend über die Hamburger Patrioten — der Geist des Mannes also, der sowohl den Blitzableiter erfand als auch die amerikanische Demokratie begründete. Und ein Jahresbericht der Lübecker gemeinnützigen Gesellschaft enthält in Sperrdruck den kennzeichnenden Satz „Wer den Schlüssel zum Brotschrank zu drehen weiß, hat den Schlüssel zum Himmelreich" (25). An einzelnen Stellen ist man sich aber auch schon vor 1789 der eigentlich politischen Aufgabe bewußt gewesen. In welchem Sinne, das läßt sich besonders deutlich einem der publizistischen Organe der Bewegung entnehmen, dem „Patriotischen Archiv" (1784 ff.) des hessisch-württembergischen Politikers Fridrich Karl von Moser (26). Moser tritt dort und in seinen sonstigen Ver-

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öffentlichungen mit Leidenschaft dafür ein, die altüberlieferten Freiheiten und das alte Reichsrecht gegenüber der modernen Gleichmacherei wieder in Kraft zu setzen, und er sieht mit Scharfblick diese Gleichmacherei ebenso im fürstlichen Despotismus wie im rousseauschen Demokratismus am Werke. England, Holland und die Schweiz sind ihm die Länder freiheitlicher Bürgergesinnung, in denen jeder Hirt und Kohlenbrenner „mit Vernunft und Enthusiasmo" von den überkommenen Rechten zu sprechen weiß. In Deutschland sei nur im Stadtbürgertum und allenfalls in Württemberg und Mecklenburg, wo es so etwas wie eine Verfassung gebe, noch ein Bewußtsein angestammter Rechte lebendig (27). Moser stand mit der berühmten „Helvetischen Gesellschaft" in enger Verbindung, und zwar über den Basler Ratsherrn Isaak Iselin, den Freund und Gönner Pestalozzis. Er hat nicht zufällig gerade mit den Schweizern Umgang gepflegt. Weniger auf deren republikanische Regierungsform kam es ihm dabei an als auf das, was in der Helvetischen Gesellschaft vornehmlich beraten wurde, die Erneuerung der „Schweizerfreiheit", des Bewußtseins von den überlieferten und verbrieften Freiheitsrechten, das es in ganz Deutschland gegeben, das sich aber im Schweizerlande am besten erhalten habe. Diese Schweizerfreiheit und ihre mythische Abbreviatur in der Geschichte vom Teil hat schon in der französischen Revolution eine bedeutende Rolle gespielt und auch den deutschen Patriotismus im 18. Jahrhundert stark mitbestimmt (28). Zu der Wirkung von Pestalozzi in Deutschland hat sicher auch sein Schweizertum mit beigetragen und die Rolle, welche er der Wiederherstellung des alten Schweizergeistes in seinen Schriften gibt — ungeachtet dessen, daß sein Volksroman politische Verhältnisse schildert, wie sie in der Schweiz nie bestanden haben. Drei Mittel sieht Moser, das alte Freiheitsbewußtsein wiederherzustellen und damit auch den freiheitlichen Formen des öffentlichen Lebens wieder den Weg zu bahnen: politische Erziehung der Jugend, politische Selbsterziehung der Eliten und Volkserziehung durch politische Katechismen. Das erste sollen die Schulen unternehmen, das zweite und dritte die patriotischen Gesellschaften, deren Ausbreitung im ganzen Lande er erhofft. Er hat dafür in seiner Zeitschrift mancherlei Gedanken entwickelt, vor allem auch die Gelehrten und die Schriftsteller anregen wollen, sich publizistisch für diese Ziele einzusetzen. Halb ernsthaft, halb sarkastisch bietet er ihnen eine ganze Reihe von Buchthemen

26 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, für die er, im Stile der patriotischen Gesellschaften, Preise ausgesetzt wissen möchte: eine Geschichte der deutschen Freiheit — eine Anweisung zur Stärkung politischer Lebenskraft — eine Untersuchung über den Niedergang des Patriotismus in einem despotisch regierten Staate — einen Plan für politische Schulen und Gesellschaften zur Bildung von Staatsbeamten — und schließlich ein Buch über den eigentlichen Volkserzieher der Zeit mit dem Titel „Miles perpetuus, der Wundertäter und Volkslehrer des 18. Jahrhunderts" (29). Von Mosers Vorschlägen zu einer Volksund Katechismusliteratur wird gleich noch zu reden sein. Die Gedanken des städtisch-ständischen Patriotismus sind aufgenommen worden von der Selbstverwaltungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Sie haben sich mit der Sympathie für die Schweiz und besonders dann für England und seine politischen Formen verschwistert. Moser, Rehberg, der Freiherr vom Stein und ihre Anhänger haben auch die volkserzieherischen Gedanken der „Patrioten" weitergeführt und mit der politischen Wirklichkeit des kommenden Jahrhunderts verbunden. 5. VOLKSBILDUNG UND SCHULWIRKLICHKEIT Den Stand der politischen Volksbildung und des Volksinteresses an der Politik kann man sich in der Zeit vor der französischen Revolution wohl kaum niedrig genug vorstellen. Die patriotische Bewegung war im ganzen Sache des höheren Bürgertums (so wie auch die französische Revolution vom intellektuellen Bürgertum ausging), wiewohl sie die Vereinigung aller Stände zum gemeinnützigen Werk in ihre Satzungen geschrieben hatte und mindestens den Kleinbürger und Handwerksmeister an manchen Stellen erreichte (30). Die ständische Selbstverwaltung der Zünfte mit ihrer Funktion im öffentlichen Leben und in der Kommunalpolitik hat gewisse politische und ökonomische Anschauungen mit sich gebracht, die aber über den Kirchturmhorizont nicht hinausgekommen sind. Wie hätten sie auch sollen? Politisches Interesse und politische Bildung können kaum weiter reichen, als es politische Aufgaben praktisch zu bewältigen gibt. Auch in der Lektüre des Bürgers spielen die politisch-historischen (wie überhaupt die weltlichen) Bücher noch kaum eine Rolle (31). Natürlich hat die allgemeine Volks- und Kalenderliteratur auch Politisches enthalten, aber eben auf dem Niveau dieser Kalender selbst. So wurden die „Staatsprognostica" nach Mond und Ge-

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Stirnen berechnet wie das Wetter und das Horoskop. Die Gegenkalender der Aufklärung haben mit ihren trockenen Belehrungen nie recht Fuß fassen können. Und zu einer Verbindung dieser beiden Ansprüche, des spannend-Erbaulichen mit dem Lehrhaften, ist es in dieser Literatur wohl nur einmal, nämlich in Johann Peter Hebels „Rheinischem Hausfreund" gekommen. Von den ergötzlichen Exempeln auch politischer Belehrung, die er gibt, kann hier leider nicht die Rede sein. Die Patrioten haben sich fleißig darüber den Kopf zerbrochen, wie dieser Unbildung zu steuern sei. So hat Moser, wie schon erwähnt, durch politische Katechismen die ihm notwendig scheinende Belehrung in volkstümlicher Form literarisch ausbreiten wollen. Auch ein Fürst jener Zeit war schon auf den Gedanken verfallen, politische Lehren in Katechismusform zu verbreiten: der Fürstbischof von Speyer, der ein populär geschriebenes Buch von den „Pflichten der Untertanen gegen ihren Landesherrn" hatte herausgeben lassen. Moser druckt im Patriotischen Archiv diese Schrift mit kräftigen Erläuterungen ab als ein gesetz- und verfassungswidriges „Lehrbuch des Christ-Fürstlichen Sultanismus" und als Gegenbild dessen, was er selbst mit den Katechismen will (32). Aber auch die Vorschläge eines Freiherrn von Zedlitz mit ihren Wurzeln im absoluten Staat möchte er nicht als Modell gebrauchen und ebensowenig Rousseaus Schrift über den Staatsvertrag, die für Amerika oder Grönland, nicht aber für Länder mit einer Vergangenheit tauge. Als Vorbild steht ihm ein schwedischer Schulkatechismus vor Augen, der geschaffen worden war für den von König Adolf Friedrich (1751—71) eingeführten Verfassungs- und Gesetzesunterricht. Darin wurde den Kindern eingeprägt, daß allein die Reichsstände in Schweden Gesetze geben und daß sie gegen gesetzwidrige Regierungsmaßnahmen ihr Veto einlegen dürfen; daß ferner die Würde eines jeden darin bestehe, „daß man nach den Landesgesetzen regiert wird, ohne von dem Willkür und Eigensinne eines einzigen Menschen zu dependieren" (33). Von solchen Katechismen und von den Zuständen, auf die sie Beziehung haben könnten, ist Deutschland noch weit entfernt, wie Moser wehmütig sich eingestehen muß. Moser steht jedoch mit seinem Vorschlag nicht allein. Der Ruf nach solchen Werken lag in der Luft des aufklärenden und pädagogisierenden 18. Jahrhunderts. Schon war eine Reihe ähnlicher Lehrschriften insbesondere für den Bauernstand erschienen, welche Anweisungen für die Hebung der Landwirtschaft mit solchen

28 Staat und Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Hebung der Moral und der Untertanentreue verbanden. Unter anderen hatte Goethes Schwager Johann Georg Schlosser 1771 einen „Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk" erscheinen lassen, der offenbar Moser nicht bekanntgeworden ist und mit seinem platten Utilitarismus auch dessen Ansprüche schwerlich erfüllt haben dürfte. Darin wird vor allem der Gehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit gepredigt und der Überzeugung gehuldigt, ein jeder müsse den Wohlfahrtszusammenhang von Staat, Gesetzgebimg und Steuererhebung nur recht begriffen haben, um alsbald ein braver Bürger, Untertan und Steuerzahler zu werden (34). Das Buch hat trotz seines Namens zudem weniger die Form eines Katechismus, als die einer pädagogischen Dorfgeschichte, wie sie als Utopie und als erzählender Roman ein eigenes literarisches Genre zu bilden begann und von Pestalozzis „Lienhard und Gertrud" bis zu Jeremias Gotthelfs Bauernromanen reiche Früchte trug (35). Daneben entwickelten sich aber auch die eigentlichen Bürgerkatechismen, die entweder allgemeiner moralischpolitischer Natur waren wie J. F. Feddersens „Christliches Sittenbuch für den Bürger und Landmann" (1783) und Rochows „Summarium oder Menschenkatechismus", oder über die konkreten rechtlichen und politischen Verhältnisse belehrten wie A. D. Richters „Staatskunde von Kursachsen" (1772) oder Svarez/Gosslers „Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der preußischen Staaten" (36). Die Entwicklung der \]nttTÜch.tswirklichkeit ist für die Nachwelt nur in Spuren faßbar. Vorläufer und Modell für den politischen Unterricht war die Lehre an den Universitäten und Ritterakademien. Die Universitäten zählten „Politik" und „Statistik" — d. h. heute etwa Staatsrecht und Staatswissenschaft — seit dem 17. Jahrhundert zum festen Kanon ihrer Lehrgebiete. Die Ritterakademien haben in der Tradition der Fürstenspiegel und der Hofmannserziehung, wie sie klassisch Castigliones „Cortegiano" formuliert, eine Lehre vornehmen Verhaltens zu entwickeln versucht, welche sie durch technisches Fachwissen (Jurisprudenz, politische Gegenwartskunde und Zeitungskritik) und durch ständisches Bildungswissen (Genealogie und Heraldik) erweiterten (37). Mit der 'Laisierung' der Kavaliersbildung, dem Einsickern ihrer Ideale in das Bürgertum (einer Sozialbewegung, die bis heute am Schnörkelporzellan und Chippendalemobiliar des Kleinbürgers

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sichtbar ist), dringen auch Elemente der politischen Erziehung in die Schule ein, zunächst noch ohne den Charakter des Standeswissens einzubüßen (38). Besonders die Gelehrten- und Lateinschulen mußten zudem mehr und mehr auf die praktischen Bedürfnisse des Stadtbürgertums eingehen. Dabei fanden neben modernen Sprachen und Realien auch Zivilrecht und „Terminologie", d. h. Klärung der grundlegenden Rechtsbegriffe, gelegentlich auch eine „Zeitungsstunde" Eingang in den Stundenplan. Die Praxis wird oft hinter den Programmen nachgehinkt oder auch ganz auf der Strecke geblieben sein. Die anderen Schultypen wollten nicht zurückstehen. Das Breslauer Stadtschulseminar führte am Ende des Jahrhunderts eine „Bürgerlektion" ein. Die Berliner „Handlungsschule" von F. Schulz als Frühform der bürgerlichen Berufsschule setzte bürgerliche Rechtskunde auf ihren Realienplan (39). Und auch die Volksschule hat Vaterlandskunde und Gesetzeslehre an vielen Orten eingerichtet. Es entstand eine eigene Literatur, teils zur Einweisung der Lehrer in das neue Fach, teils — auch wieder in Katechismusform — für den Gebrauch des Schülers (40). Neben diesen besonderen Hilfsmitteln nahmen aber auch die allgemeinen Schullesebücher staatskundliche und vaterländische Stoffe auf. So enthält das offizielle „Berlinische neueingerichtete Schulbuch" von 1760 ein Verzeichnis aller europäischen Regenten, eine „allgemeine Tabelle von den Einrichtungen des Staates" und eine Beschreibung der preußischen Staatsbehörden unter namentlicher Nennung ihrer Leiter. Die vielgebrauchten „Dillinger Leseübungen" von 1782 hingegen versuchten besonders mit patriotischen Erzählungen das geschichtlich-vaterländische Interesse zu wecken (41). Schließlich hat auf den Aufruf Friedrich Wilhelms III. zur Schaffung eines Lesebuchs für Soldatenschulen, welches vaterländische Gesinnung und einfache bürgerliche Kenntnisse vermitteln könne, der Freiherr von Rochow unter stückweiser Neuverwendung seines berühmten „Kinderfreunds" ein weiteres Lehrbuch verfaßt, dessen staatsbürgerlicher Teil aber recht mager ausfiel (42). Zwischen 1780 und 1800 erreichen alle diese Tendenzen und Versuche ihren Höhepunkt. Bürgerkunde, Zeitungsstunde, Unterricht in den Landesgesetzen, Rechts- und Wirtschaftskunde, Schülerzeitungen zur Stärkung des politischen Interesses sind an vielen Stellen bezeugt (43). Die Realtendenz erstrebte praktisches Bürgerwissen über Staat und Obrigkeit; der absolute Staat suchte sich, seinem inneren Ge-

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setze treu, auch auf die Inhalte des Schulunterrichts auszubreiten, um den gehorsamen und staatsbrauchbaren Bürger heranzuziehen; das Naturrechi schließlich konnte sich nicht mit der Rolle eines Faches neben anderen Fächern begnügen, sondern wußte sich als Kernstück der aufklärerischen Anthropologie und beanspruchte daher, den Bildungsgedanken zu bestimmen. Alle drei Tendenzen haben die politischen Fächer und das politische Prinzip der Schule aufbauen helfen. Die Ereignisse und Geistesströmungen der Folgezeit jedoch haben vieles von diesen Ansätzen des 18. Jahrhunderts, so besonders das Schulfach Gegenwarts-, Rechts- oder Gesetzeskunde, wieder hinweggeschwemmt.

ZWEITES KAPITEL

ROUSSEAU U N D DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION An dieser Stelle ist es unerläßlich, die deutsche Entwicklung ein Kapitel lang zu verlassen und hinüberzuschauen zu dem Ereignis, aus dem sich alle Probleme des modernen Staatslebens und damit auch die der politischen Erziehung herleiten: zur Französischen Revolution. Dort wurde der Volksstaat zum ersten Male auf abendländisch-historischem Boden durchexperimentiert und gleich eine ganze Skala seiner Möglichkeiten und seiner Gefahren durchgangen. Dort wurde bald erkannt, daß die Republik mit der aktiven und verantwortlichen Teilnahme der Bürger im Staate und mit ihrer Fähigkeit und Vorbildung für diese Aufgabe steht und fällt. Dort wurden alle Versuche des Staatsneubaues begleitet von Plänen zur Nationalerziehung, die in ihrer Verschiedenartigkeit und Spannweite jener Skala der Verfassungsexperimente entsprachen. Direkt und unmittelbar haben diese Pläne die deutsche Diskussion über die politische Erziehung so stark bestimmt, daß sie einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte ausmachen. Sie selbst können wiederum nicht gewürdigt werden ohne einen Blick zu ihrem Klassiker auf politischem wie auf pädagogischem Gebiete, zu Jean Jacques Rousseau (i). i. ROUSSEAU

Rousseau hatte in seinem großen, auch in Deutschland allbekannten Erziehungsbuche „Emile" das Exempel einer Individualerziehung aufgestellt, der Erziehung eines Kindes, das zunächst ganz in seinen menschlich-natürlichen Qualitäten gefestigt und sich seiner selbst bewußt werden soll, bevor es seine Schritte in das öffentliche Leben und Treiben setzt. Der „Emile" ist darum, besonders in Deutschland, oft einseitig als eine Verteidigungsschrift für die individuelle im Gegensatz zu jeder öffentlichen und sozial orientierten Erziehung verstanden worden. Und wirklich wird ja Emile nur zu dem Ende in die Gesellschaft und die politischen Verhältnisse eingeführt, sie kennen und durchschauen zu

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Rousseau und die französische Revolution

lernen und sein Menschentum ihnen zutrotz und in allen ihren Wechselfällen zu bewahren. Nur von ferne wird angedeutet, daß auch die Öffentlichkeit einen Anspruch auf Emile erheben und politische Dienste von ihm erwarten könnte. Aber Emile-homohumanus taugt nicht für diese Welt, oder besser: diese Welt findet an ihm ihr Gericht. Und die Gesetze der Staaten, die überall nur dazu dienen, die Privilegien der Mächtigen zu stärken, können gegenüber den inneren Gesetzen, die Emile im Herzen trägt, nicht bestehen (2). Aber damit ist erst die Hälfte dessen verstanden, was Rousseau über das Verhältnis von Politik und Erziehung hat aussagen wollen. Durch seine Schriften zieht sich die unaufhebbare Spannung zwischen dem individual-natürlichen Anspruch des Menschen auf der einen und der sozialen Forderung der staatlichen Vertragsgemeinschaft auf der anderen Seite. Der „Emile" ist ein konstruierter, ein abstrakter Mensch (3) in einem Zeitalter, das keinen eigentlichen Staat, kein Vaterland und keine wirklichen Bürger mehr kennt. E r soll auf natürlichste Weise so erzogen werden, daß er sich in der gegenwärtigen Welt behaupten kann. Eine ideale Gesellschaft allerdings, so wie Plato sie im Sinne hatte, muß einen turmhohen Anspruch auf die Erziehung ihrer Glieder erheben und darf auch das Eingreifen in ihre innerste Natur nicht scheuen. „Forc6 de combattre la nature ou les institutions sociales, il faut opter entre faire un homme ou un citoyen: car on ne peut faire ä la fois l'un et l'autre". Beides, die Bildung des wahren Menschen wie die des rechten Bürgers, sind erstrebenswerte und hohe Ziele — vorausgesetzt daß ein wirkliches Gemeinwesen vom Geiste der antiken noch möglich ist. Verächtlich ist nur das Produkt der Alltagserziehung von heute, welches weder das eine noch das andere ist, weder „homme" noch „citoyen", sondern „bourgeois" (4). Andere Schriften haben die Seite des Citoyen hervorgehoben und den idealen Bürgerstaat bis in alle Konsequenzen hinein durchdacht. So vor allem der „Contrat social", der wohl eine noch größere Wirkung ausgeübt hat als der Erziehungsroman. Zwei Lehren dieses klassischen Werkes sind es besonders, die in der Geschichte der politischen Erziehung wirksam geworden sind. Erstens die von der Unvertretbarkeit des souveränen Volkes mit ihrer inneren Konsequenz: der Verpflichtung zu politischer Selbsttätigkeit eines jeden Bürgers und dem daraus erwachsenden Anspruch, für dieses politische Mithandeln die notwendige Vorbil-

Rousseau

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dung zu empfangen. Und zweitens die Lehre von der ,,νοΐοηίέ g6n£rale", jenem anonymen, staatsimmanenten Gemeininteresse, das sich auch über jede demokratische Kontrolle, auch über die ,,νοΐοηΐέ de tous" hinwegsetzen kann und eine Erziehungsdiktatur, welche in der gegenwärtigen, verderbten Welt die Voraussetzungen der Demokratie erst schafft, geradezu fordert. Rousseau hat im „Contrat social" die Folgerungen auf eine Staatserziehimg hin nicht mehr gezogen — wohl deshalb nicht, weil er damals um eine Synthese der beiden Anspruchsbereiche Staat und Mensch oder Staat und Religion gerungen hat, wie sich aus den Manuskriptumarbeitungen und der Arbeit am Begriff der „religion civile" ersehen läßt (5). Deutlicher hat er sich schon früh in dem Encyclop£die-Artikel „De l'ficonomie politique" geäußert: In einem geordneten Staatswesen müsse dafür gesorgt werden, daß alle partikularen Interessen sich auf den Gemeinwillen hin richten; das könnten nur die Gesetze und die Erziehung bewirken. Die Erziehung müsse für alle gleich und gemeinsam sein, durchtränkt von den Maximen der 'νοίοηίέ g£n6rale' und ständig bezogen auf die Wohltaten des Staates. Sie müsse, nach dem Vorbild der kretischen, altpersischen und spartanischen, die Schüler dazu bringen, „nichts zu wollen als was die Gesellschaft will" (6). Noch schärfer formuliert er es in seinen „Consid6rations sur le gouvernement de Pologne", in denen er nicht wie im Emile den guten Menschen gegen eine schlechte Gesellschaft wappnen, sondern durch die ideale Gesellschaft den tauglichen Menschen schaffen will und eine staatsgelenkte, nur auf die Staatszwecke und die Staatsgesinnung bezogene Erziehung vorschlägt, die in ihrer Radikalität selten wieder ihresgleichen gefunden hat. „C'est l'6ducation qui doit donner aux ames la forme nationale, et dinger tellement leurs opinions et leurs goüts, qu'elles soient patriotes par inclination, par passion, par n6cessit6. Un enfant en ouvrant les yeux doit voir la patrie et jusqu'ä la mort ne doit voir qu'elle" (7). Alle müssen die Vaterlands- und Gesetzeshebe schon mit der Muttermilch einsaugen. Alle müssen gleich und alle zur Gleichheit erzogen werden. Der Unterricht soll Geschichte, Literatur, Erdund Gesetzeskunde nur des eigenen Landes umfassen. Stoff und Methode werden durch das Gesetz bestimmt. — Mit dieser Gleichheit ist nun freilich nicht die Knechtimg des Einzelnen, sondern die Aufhebung der individuellen in einer allgemeinen Gesinnung und Freiheit gemeint. Aber damit ist eben das Leitthema der modernen Politik gegeben: die Polarität der individuellen und der

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kollektiven Sittlichkeit. Jedenfalls war es der Autor des „Contrat social" und der „Considerations" viel mehr als der des „Emile" und seiner Idee der Menschenbildung, welcher im Munde aller Erziehungsredner der Nationalversammlung war und dessen Geist die Diktatur eines Robespierre ebenso wie die Erziehungspläne jener Zeit bestimmte.

2. IM NAMEN DER GLEICHHEIT

Lepeletier und Babeuf Die Revolution brachte schon in ihren ersten Handlungen einen Erlaß über die Säkularisierung des Bildungswesens. Die Anweisung an die lokalen Behörden, die „Aufsicht über den öffentlichen Unterricht und über die politische und moralische Unterweisung" (8) zu übernehmen, stellte aber mehr die Formulierung eines neuen Problems im säkularen Staate als eine Anleitung dar, nach der sich hätte irgendwie handeln lassen. Nicht verwunderlich also, daß alsbald eine Reihe von Denkschriften und Plänen entstand, welche die Lücke zu füllen, die Grundsätze einer staatlichen Erziehung festzulegen und konkrete Vorschläge für ihren Aufbau zu machen suchten. Es zeigte sich dabei von Anfang an, wie sehr sich die Revolutionäre unterschieden in dem, was sie als die eigentliche Errungenschaft der Revolution verstanden, die es durch die neue Erziehung zu sichern galt. Schon die erste dieser Planungen, enthalten in einer Denkschrift des Abbe Audrein von 1790, sieht die Verfassungssicherung als den Hauptinhalt der neuen Staatserziehung an, möchte den Eltern, die ja nicht im Verfassungsstaate aufgewachsen sind und darum nur schlechten Einfluß bringen können, jeden Erziehungsanteil entziehen und ein neues Geschlecht zu der „moralischen Einheit" hinführen, welcher die republikanische Staatsform bedarf (9). Talleyrand-Perigord, der im Namen des Unterrichtsausschusses der Nationalversammlung im folgenden Jahre einen Plan vorlegte, schlug im einzelnen vor, wie eine solche säkulare und einheitliche Moral in Lehrform gebracht werden und den ganzen Unterricht und das Schulleben durchziehen und bestimmen könne (10). Bald darauf ist für den moralisch-politischen Unterricht auch eine ganze Reihe von Lehrbüchern entstanden, die zum Teil wirklich in den Schulen benutzt und staatlich approbiert worden sind (11). Der Name „Bürger-Katechismus", den ein Teil von ihnen trägt und

Im Namen der Gleichheit

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der sich für die Gattung einführte, war ganz bewußt gewählt. Es sollten eigentlich Anti-Katechismen sein. Fast alle waren von ätzend-jakobinischem Geiste durchdrungen. Sie sollten nicht neben die bewährte Schul-Katechese treten, sondern genau ihren Platz besetzen. Und auch die zugehörige Heldengeschichte der Revolution, die bald allgemein nach dem „Recueil des actions ΙιέΓοiques et civiques des Röpublicains frangais" (12) gelehrt wurde, sollte — ob das ihren Propagatoren zum Bewußtsein kam oder nicht — die Legenda aurea ersetzen und Empfindungen, die bisher dem Heiligenkult zugeströmt waren, zum Kult der Nation und des Staats hinüberlenken (13). Die Mahnung Audreins und Talleyrands, nur durch eine Vereinheitlichung der Geister sei auf die Dauer die Verfassung zu sichern, fand erst in der Zeit des „Wohlfahrtsausschusses" weithin Gehör. Robespierre selber verlas vor dem Konvent schon in den ersten Tagen seines Regiments einen Schulplan, der sich in den Papieren eines kurz zuvor ermordeten Gesinnungsgenossen, des ehemaligen Pariser Parlamentspräsidenten Marquis Michel Lepeletier gefunden hatte und der am konsequentesten jene Ansätze weiterführt. Wir müssen ein ganz neues Volk schaffen — so lautet der Ausgangssatz —, neuformen von unten auf, uns seiner vollständig versichern und ihm eine Gestalt geben, die kein äußerer Einfluß mehr verändern kann. Wir müssen eine Erziehung gründen, die „wahrhaft national, republikanisch, in Form und Wirkung gemein für alle und allein imstande ist, das Menschengeschlecht zu regenerieren, sowohl am Leibe wie an der Seele" (14). Im Alter von vier Jahren sollen die Kinder dem Elternhause entzogen und staatlichen Erziehungsheimen zugewiesen werden. Ohne Unterschied und ohne Ausnahme werden sie dort auf öffentliche Kosten gemeinsam erzogen. Alle sollen dieselbe Kleidung, dieselbe Nahrung, denselben Unterricht erhalten, um in Geist, Sitte und Wissen uniform ins Leben zu treten. Ständig überwacht und in dauernder Übung sollen sie lernen, in eine „heilige Abhängigkeit von den Gesetzen und legitimen Gewalten" zu kommen, stets unter dem „heiligen Gesetz der Gleichheit" zu leben und „sich zu beugen unter das Joch einer exakten Disziplin". Handarbeit wird den größten Teil des Tages füllen, und die Annehmlichkeiten des Lebens sollen schon im Kindesalter im festen Verhältnis stehen zu den Leistungen solcher Arbeit. Nur diese eine Ungleichheit wird verstattet; alle anderen Verschiedenheiten werden gleichgemahlen in der „Mühle der Republik" (15). 3*

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Rousseau und die französische Revolution

Andere haben diese Vorschläge ergänzt und im Detail ausgeführt. Konzentration des Geschichtsunterrichts auf die Taten der Revolution, Nutzung der bildenden Künste für die nationale Erziehung, sonntägliche Predigten des Schulmeisters für jedermann über Politik und Moral, Einfügung der Kinder in die nationalen Kult- und Festhandlungen, tägliches Verlesen eines Amtsblattes in der Schule zur Vereinheitlichung des politischen Unterrichts ist gefordert, manches davon — jedenfalls in Paris — sogar durchgeführt worden. Bezeichnend für die Fanatiker der Gleichheit ist das Bewußtsein, daß ihr Ziel nicht durch Aufklärung allein zu erreichen ist, durch Wahrheiten, die jedermann einsichtig sind und sich auf die Dauer von selber durchsetzen müssen. Das wird bei dem Präkommunisten Babeuf besonders deutlich, der einige Jahre später Lepeletiers Plan erneuert hat. Die Republik muß bestimmen, so heißt es hier, was wahr ist und was nicht, was Sitte sein soll und welche Kenntnisse ein jeder braucht. Sie muß, durch das Instrument der Schule, die Gesinnungen ihrer Bürger so formen, wie es ihren Zwecken entspricht; „modifier le coeur", den Geist steuern und modellieren, hintreiben zur sinnentleerten „Freiheit" und Wohlbefindlichkeit im egalitären Staat (16).

3. IM NAMEN DER FREIHEIT

Mirabeau und Condorcet Gegen die totale Politisierung des Unterrichts, die Subordination des ganzen Erziehungswesens unter die Ziele des Staates und der Gesellschaft, erhoben sich frühzeitig warnende Stimmen. Auch von dieser Gegenseite her versuchte man Pläne für ein öffentliches Erziehungswesen zu entwerfen, die aber nun von ganz anderen Voraussetzungen ausgingen und ganz andere Ziele verfolgten. Unter ihnen erhielt besonders einer Ansehen und Publizität, der aus dem Nachlaß Mirabeaus oder doch jedenfalls unter seinem Namen veröffentlicht wurde und in seinem Umkreis entstanden ist (17). Für Mirabeau ist die wichtigste Errungenschaft der Revolution die gesicherte persönliche Freiheit, „l'existence particulifere", der alles Gesellschaftliche und alle Staatsmacht dienstbar ist. Diese Freiheit soll auch um der Förderung des öffentlichen Unterrichts und um der politischen Sicherung willen nicht angetastet werden. Denn eine jede gesetzliche Maß-

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nähme, sei sie auch zur Stärkung der Freiheit bestimmt, gebiert alsbald Verwaltungs- und Durchfuhrungsmaßnahmen sowie Einschränkungen aller Art, deren Unfreiheiten den Freiheitssinn eines solchen Gesetzes weit überwiegen. Aufklärung, Bildung und Wissenschaft finden allein ihren Pfad und bedürfen solcher Krücken nicht. Hat nicht auch die Revolution durch finstere Zeiten ihren Weg gefunden und ist sie etwas anderes als „das Werk der Gelehrsamkeit und der Philosophie"? Einer Philosophie also, die nicht auf staatlichen Instituten, sondern im freien Geist der Menschen erwuchs? Wohl kann der Staat für Aufklärung, Kunst und Wissenschaft ein besseres Klima schaffen, kann Lehrer beamten, kann für seine Ämter hohe Bildungsanforderungen stellen, kann Belohnungen verteilen und Preise aussetzen, insbesondere für die Naturwissenschaften, die das aufgeklärte Denken fördern, und für die Künste, die den Patriotismus nähren. Im übrigen aber wird er soviel als möglich dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Die Wettbewerbsfreiheit soll, in Analogie zur Smithschen Freihandelslehre, auch im Erziehungswesen alles im Gleichgewicht halten: „Enseigner est un genre de commerce". Mirabeaus Plan wurde von Rochow ins Deutsche übertragen. Pölitz, Rehberg, Ch. D. Voss, Humboldt, Jahn und Herbart haben sich mit ihm auseinandergesetzt und er war für die Deutschen lange der Modellplan freiheitlicher Erziehung im neuen Staate. Weniger bekannt wurde der ähnlich akzentuierte, aber sorgfältiger und folgerichtiger durchdachte Vorschlag, den Condorcet im Namen des Unterrichtsausschusses der Legislative ausgearbeitet und vorgetragen hat. Condorcet, Mathematiker, Geschichtsphilosoph, Mitarbeiter der Encyclop6die und einer der schärfsten Denker der Revolution, hatte sich ausgewiesen für diesen Auftrag durch eine Folge von Denkschriften „Sur l'instruction publique", die damals gerade erschienen und von denen das Projekt des Ausschusses im wesentlichen eine Kurzformulierung war (18). Condorcet macht als einer der ersten wirklich Ernst mit der Planung eines das ganze Land überziehenden Unterrichtswesens. Aber es ist nicht wie bei Audrein und bei Talleyrand die Verfassungssicherung, in deren Dienst das Schulwesen stehen und um derentwillen es politisch reglementiert werden soll. Sondern das Menschenrecht und die Einzelfreiheiten stehen auch hier voran, und um ihretwillen muß der Staat zum Schulunternehmer werden. Menschenrechte für alle, das heißt ja doch nicht nur Gleich-

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heit vor dem Recht, sondern das muß auch heißen: Gleichheit der Lebenschancen und darum gleiches Reckt aller auf Bildung. Und da die politische Gesellschaft keinen anderen Zweck als die Garantie der Menschenrechte hat, so gehört das Erziehungsangebot für alle Menschen zu ihren ersten und dringendsten Aufgaben. Der wirkliche Rechtsstaat muß zugleich auch Garant der Erziehungschancen seiner Bürger sein (19). Garantie soll er leisten und Angebot schaffen für jedermann. Bis ins letzte Dorf hinein ist darum für Schulen zu sorgen, und der detaillierte Plan Condorcets läßt bis zur Aufzählung der Orte, bis zum Budget und der Lehrerbestellung nichts außer acht. Aber das ganze bleibt Angebot. Ob sich der einzelne dessen bedient oder nicht, hegt in seiner Hand, und das Recht eines jeden auf die freie Wahl des Erziehers bleibt unverletzt. Natürlich soll die Schule auch der politischen Bildung dienen. Das wird sogar nun ihre wichtigste Aufgabe sein, den politischverantwortlichen Bürger auszurüsten mit dem, was er im neuen Staate braucht. Eine ganze Reihe von Maßnahmen schlägt Condorcet dafür vor, insbesondere die wissenschaftliche Entwicklung und didaktische Verwertung einer „arithm6tique politique", einer politisch-wirtschaftlichen Statistik, die alles Wissen für die Bürgertätigkeiten in Gesetzgebung und Verwaltung umfaßt; ferner ein großes Volksbildungswerk und eine Art Politicum-generale für Studenten. Dies alles dient aber nirgends dazu, dem Staat selbst einen Einfluß auf die Erziehungsinhalte zu verstatten. Ja der Staat als ein selbständiges Gebilde und Politik, Verwaltung, Rechtsprechimg als Tätigkeit staatlicher Beamter sollen überhaupt verschwinden, aufgelöst werden; sie sind Relikte eines alten Standesund Zunftwesens, das beseitigt werden muß. Der Staat ist nichts anderes als der Zusammenschluß einzelner Bürger, und alle seine Funktionen sollen künftig wechselnde Bürgergremien übernehmen. Einer spezifischen politischen Berufsausbildung bedarf es in der Zukunft nicht mehr, der rechtliche Sinn eines vernünftigen, geschulten Bürgers soll für dies alles ausreichen. So versieht zwar der Staat die einzelnen mit politischer Bildimg, aber diese Bildung ist von der Art, daß damit der Staat sich ganz selbst in die Hände der einzelnen gibt, daß er nichts anderes mehr ist, als Willen, Ausdruck und Funktion dieser seiner gebildeten Glieder. In diesem Sinne ist nun auch die Tätigkeit des Lehrers angelegt. Zunächst einmal gibt es keine besondere Lehrerbildung,

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denn damit würde ja wieder ein Berufsstand gezüchtet, eine staatlich orientierte Beamtenschaft. Ein jeder Bürger also kann sich um jede freie Lehrerstelle bewerben und wird von einem Fachgremium und der Bürgerversammlung des Ortes eingesetzt. Sodann gibt es kein behördliches Aufsichtswesen. Der Fachkollege des höheren Instituts in der fünfstufigen Gesamtorganisation des Bildungswesens inspiziert den Lehrer des niederen, den Volksschullehrer also der Oberlehrer und diesen wiederum der Professor. Damit stehen sie alle — so ist dieser Vorschlag zu verstehen — unter dem Eigengesetz der jeweiligen Wissenschaft und unter dem allmächtigen Gesetz der Aufklärung überhaupt und nicht unter dem einer Korporation, einer Behörde oder einer politischen Partei. Noch aber bleibt die Gefahr, daß der Lehrer im Unterricht selbst Meinungen pflanzt und Vorurteile weiterreicht, die er der Staatspraxis seiner Zeit entnimmt; daß also immer wieder sich aus dem gegenwärtigen Staatsgeist Lehren bilden, die auch den künftigen bestimmen wollen. Damit wäre aufs neue die Freiheit der Bürger bedroht, die Freiheit des einzelnen, seinen Stand außerhalb des Staates zu wählen und so den Staat selbst zu kontrollieren. Die Erziehung würde in den Dienst einer Lehre treten, einer sich verhärtenden amtlichen Staatsdoktrin. Dabei geht Condorcet nicht ab von der Voraussetzung der Aufklärer, daß es eine an sich bestehende wissenschaftliche Wahrheit und eine absolut vernünftige politische Ordnung gibt. Aber diese an sich unhistorischen Normen behalten für ihn eine geschichtliche Seite darin, daß sie erst Schritt für Schritt zutage kommen und Wirklichkeit werden können. Eine staatliche oder korporative Erziehungsdoktrin aber würde diesen Fortschritt hemmen. Sie würde den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse und der politischen Ansichten nur in versteinerter Form in alle Zukunft weiterreichen können. Condorcet sucht sich dieser Schwierigkeit und dem echten Problem der Staatsschule, das hier aufgezeigt ist, zu entheben durch eine scharfe Trennung von Erziehung und Unterricht. Der Staat darf überhaupt nicht erziehen, er muß sich darauf beschränken, Wissen zu vermitteln, Fakten mitzuteilen, ohne die Gesinnung irgendwie beeinflussen zu wollen. Allein unbedingt gesicherte Erkenntnisse, „des verit6s appuyees d'une preuve certaine, et g6neralement reconnues" (20), dürfen in doktrinärer Form verbreitet werden, alles andere ist neutral mitzuteilen, seine Geltung der

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freien Diskussion zu unterwerfen. Auch die Verfassung darf nur als Tatsache gelehrt, ja selbst die Menschenrechtserklärung nie als etwas vom Himmel Gefallenes dargestellt werden, sondern lediglich als der Versuch, ein an sich Absolutes in die unvollkommenen Formen menschlicher Satzung zu kleiden (21). Von den Problemen, ja der Unmöglichkeit solcher Trennung scheint Condorcet jedenfalls etwas zu ahnen, wenn er von den notwendigen Bestimmungen über Stoff und Ausmaß des Unterrichts, von den anzuwendenden Methoden und von den Schulbüchern spricht und sie normieren will an der „raison commune des hommes eclair6s". Ähnliche Gedanken sind seither immer wieder aufgetaucht, insbesondere in dem seit 1890 oft erörterten Problem, ob man politischen Unterricht erteilen könne, ohne damit bestimmte politische Ansichten zu fördern; ferner in der Problematik staatlicher Schulpläne, die gewöhnlich eine seit dreißig Jahren überholte Pädagogik paragraphieren; und schließlich auf höherer Ebene in der Frage, ob Wissenschaft überhaupt ohne subjektive Wertsetzung möglich ist. Die Schreckensherrschaft der folgenden Jahre hat diesen Plan verworfen und seinen Urheber umgebracht. Doch der Pendelschlag der Revolution ließ auf diese Zeit die der Thermidor-Reaktion folgen, und man entsann sich wieder jener Pläne, nach welchen der Staat zwar den politisch selbständigen Bürger heranbilden, bei dieser Tätigkeit aber um jeden Preis eine eigentliche Lehre und das Aufprägen einer geistigen und politischen Form vermeiden müsse. Auf Condorcets Prinzipien wurde von dem Abgeordneten Lakanal ein Projekt errichtet, das im November 1794 Gesetzeskraft gewann und in dem der Grundsatz der Unterrichtsfreiheit verankert war (22). Der Kommentar der Unterrichtskommission zur Verfassung des folgenden Jahres erklärte diese Freiheit: 1. als Garantie des Elternrechts auf freie Wahl des Unterrichts (droit d'apprendre), 2. als Freiheit des Unterrichtens und der Schulgründung (droit d'enseigner), und 3. als Freiheit der Unterrichtsmethoden (libert6 des mithodes instructives) (23). So hat die erste großstaatliche, durchaus von politischen Motiven bestimmte Schulgesetzgebimg die Freiheit des Lehrens und Lernens, die Freiheit auch gegenüber einer politischen Nutzbarmachung der Schule durch den Staat proklamiert.

Die Erziehungsarmee Napoleons

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4. DIE ERZIEHUNGSARMEE NAPOLEONS

Den Abschluß aller revolutionären Pläne und Gesetze bildet die berühmte „Universite Imperiale" Napoleons, gleichzeitig Vollendung und Perversion dessen, was die Revolutionäre gewollt. Gesetzlich begründet im Jahre 1806, verwirklicht durch die Dekrete von 1808 und konsequent verschärft 1811, wurde sie zur vollkommensten Staatsmonopolisierung des Unterrichts in der abendländischen Geschichte. Anregung zu diesem Plan, den Napoleon im Gegensatz zu seinen anderen Schöpfungen immer wieder aufs neue erwogen, verändert und vervollständigt hat, mögen die Statuten der Universität Turin gegeben haben, die auf Napoleon einen großen Eindruck gemacht haben sollen. Pate standen sicher auch die radikalen Projekte der Revolutionszeit. Aber die endliche Form der „Universit6" war doch ganz Napoleons Werk und von seinen eigenen politischen Zielen bestimmt. Es ging ja nicht mehr darum, mit außerordentlichen Mitteln die Errungenschaften der Revolution oder die νοίοηΐέ g6n6rale zum Wohle der Menschheit zu sichern, sondern es ging um den auf Pseudo-Plebiszite gestützten Machtstaat Napoleons, um dessen Vollkommenheit und Erhaltung. Napoleon hat selbst einmal seine Absicht mit den Worten charakterisiert: „Mon but principal, dans l'etablissement d'un corps enseignant, est d'avoir un moyen de diriger les opinions politiques et morales" (24). Dieser Absicht entsprechend organisierte die „Universite Impέriale" das gesamte Unterrichtswesen vom ersten Schuljahr bis zur akademischen Abschlußprüfung. Ein einziger Lehrkörper umfaßte alle Unterrichtenden und stieg in hierarchischer Ordnung vom Dorfschulmeister auf bis zum Grand-Maitre, der direkt den Weisungen des Kaisers unterstand. Dieses Corps hielt das Bildungsmonopol in Händen (25). Die Freiheiten, die man auf Grund eines Konkordats der katholischen Kirche zunächst noch zugestand, wurden durch das Abschlußdekret 1811 auf einen kümmerlichen Bereich zusammengepreßt. In dieser Mammut-Organisation sind alle Einzelheiten des Unterrichts durch eine Zentrale genauestens festgelegt. Jeder Gedanke einer Universitas ist aus dieser ,,Universit£" verschwunden. Das vordergründige Staatsinteresse kennt nur nutzgebotenes Spezialistentum. Die ehemaligen Universitäten sind in Fachschulen zersplittert; die Schullehrer stehen, ein jeder von seinen Kollegen getrennt, mehr unter der Gewalt des Fachinspektors als unter

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der des Rektors der Schule. Weder Lehrer noch Schüler noch Eltern haben einen Einfluß auf die Weisungen der Zentralbehörde. Schule und Hochschule sind Stätten staatlicher Wissens- und Meinungsverbreitung geworden. Die konsequente Verwirklichung der vom Staate getragenen und nur den Staatszwecken dienstbaren Schule hat nicht nur das französische Schulwesen bestimmt — bis heute hat Frankreich mit den Folgen dieser Gründung Napoleons zu schaffen —; sie hat in der Diskussion der politischen Erziehung aller europäischen Länder als Vorbild und mehr noch als Schreckensbild eine große Rolle gespielt. So auch in der deutschen Diskussion und Schulpolitik. Der Einfluß, den die Ereignisse und die Erziehungspläne der französischen Revolution und der Napoleon-Ära auf die pädagogische Diskussion in Deutschland während des ganzen 19. Jahrhunderts ausgeübt haben, kann kaum überschätzt werden (26). Es ist die klassische Epoche wie für die moderne Politik so für alle Bereiche, die mit der Politik verflochten sind.

DRITTES KAPITEL

D E U T S C H L A N D IM B A N N E DER R E V O L U T I O N i. ÄSTHETISCHER LIBERALISMUS

Humboldt und Schiller Waren Erziehungslehre und politische Theorie des 18. Jahrhunderts stark von rationalistischen Zügen bestimmt, so wuchs in anderen Bereichen des Geisteslebens, zumal in der schönen Literatur und im geschichtlichen Verstehen, eine neue Weise des Denkens und ein neues Ideal vom Menschen heran; ein Ideal der Vervollkommnung des Menschen in allen seinen Anlagen, der ästhetisch-harmonischen Formung der Persönlichkeit. Humanistische Traditionen, Rousseau und Shaftesbury trafen hier zusammen. In Herders „Ideen", in „Wilhelm Meisters Lehrjahren", in Schillers philosophischen Schriften erhob es sich zu den unvergänglichen Schöpfungen der deutschen Klassik. Es formte einen neuen Humanismus, auf die Antike weisend und sie doch als ein Moment nur in sich aufnehmend. Und es brachte auch in das rationalistisch sich verhärtende Bildungswesen neue Bewegung. In der Orientierung gegenüber der politischen Welt war diese neue Bildimg den Frühformen des liberalen Denkens nahekommen. Mit mehr Recht als Pestalozzi wurde Schiller Ehrenbürger der französischen Revolution. Deren Ablauf aber, den ganz Europa mit verhaltenem Atem verfolgte, brachte bald deutlichere Gruppierungen und Abgrenzungen. Es zeigte sich, daß der Machtanspruch und die Selbsterhabenheit des Staates auch den Volksstaat befallen und zu schrecklichen Gewalttaten führen konnte. Es zeigte sich, daß im Namen des Humanismus und unter Berufung auf die antiken Staaten der Mensch entwürdigt wurde wie nur je zuvor und daß, wie es Tocqueville später geistvoll gedeutet hat, der Etatismus der Revolution die getreue Fortsetzung des absoluten Regimes der Ludwige war. Unter diesen Eindrücken fügten sich die Kritiker des Staatsabsolutismus, nämlich die humanistische Geistesbewegung der deutschen Klassik und die ursprünglich wirtschaftstheoretische Strömung des smithschen

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Liberalismus zusammen und ergriffen Partei nun auch gegen die abstrakte Demokratie der „Volont6 generale" (i). Die pädagogische Literatur, welche diese Krise spiegelt, konzentriert sich auf die Jahre 1792—1794. Sie scheint mit ausgelöst oder doch beeinflußt von Burkes „Reflections on the Revolution in France" (1790, deutsch von Friedrich von Gentz 1793), dieser Absage des englischen Liberalen an die Revolution im Namen der historischen Entwicklung zur Freiheit. Wichtig wurde auch Mirabeaus „Discours sur l'dducation publique" (1791), die Warnung des Revolutionärs vor der Maßlosigkeit des Volksstaates, die schon in der französischen Fassung in Deutschland bekannt wurde, bald aber in Rochows Übersetzimg (1792) ein weiteres Publikum fand (2). Unter dem Eindruck von Mirabeaus Discours ist auch die Schrift entstanden, die man später als klassischen Ausdruck eines staatsfremden Frühliberalismus anzusprechen sich gewöhnt hat: Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen". Die politischen Ansichten, die in dieser Schrift entwickelt werden, hat Humboldt selber nicht lange aufrechterhalten. Um so bezeichnender sind sie für die Stimmung jener Jahre sowohl des Autors als auch seiner Gesinnungsgenossen, nicht zuletzt Schillers, der sich eifrig für die Drucklegung der Schrift verwendet hat. Freiheit des Individuums gegenüber dem Staate, Bildung des Menschen ohne alle Rücksicht auf seine öffentliche Funktion, natürliche Vielfalt mit ihrer ausgleichenden Wirkung im großen — das waren schon die Allmittel Mirabeaus, und das sind nun die Leitsätze Humboldts, mit ihren bekannten Folgerungen: „der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist". Schutz vor Feinden und Bösewichten ist sein eigentliches Amt, und jeder Schritt darüber hinaus ist schlecht. „Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muß" (3). Darin liegt die Absage an Talleyrand-Perigords Verfassungserziehung ebenso wie an Wöllners Religionsedikt, an die Gleichheitsidee der Revolutionäre ebenso wie an die Kants oder des preußischen Absolutismus. Tief ist allerdings Humboldt in dieser Zeit nicht iij das Wesen des Staates eingedrungen, und es geht auch in der Schrift nicht

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eigentlich um politische Probleme. Humboldt entwickelt hier vielmehr die ersten Züge seiner Anthropologie, und ihr muß auch die Staatslehre sich fügen. Der Adel des Menschen liegt in der Entfaltung seiner „inneren Kräfte", einer naturgegebenen „Energie", die gleichermaßen allen „Genuß" wie alle Tätigkeit begründet. Diese natürlichen Kräfte zu entwickeln, sie durch die zivilisatorischen Beanspruchungen hindurchzubringen und sie zu einem harmonischen Ganzen auszubilden, ist der eigentliche Sinn des Lebens und der Erziehung. Voraussetzung aber für dieses Ausbilden ist ihr freies Spiel, ihre Entwicklung und Bewährung in Freiheit. In diesen Freiheitsbegriff ist durchaus auch die politische Freiheit einbeschlossen, und man meint hier jedenfalls einen auch-politischen Inhalt der Erziehung zu fassen. Aber das Fatale dieser Freiheit ist, daß sie nur gewährt, nicht veranstaltet oder durch „positive Sorgfalt" hervorgebracht werden kann, daß also die Enthaltsamkeit des Staates von jeglicher Erziehungsfürsorge sein einziges Erziehungsmittel ist. In der antiken Zeit allerdings, der sonst so vorbildhaften, ist die Jugend zum Staate erzogen worden und haben die Bürger einen Teil ihrer Freiheit dem öffentlichen Leben geopfert. Das gibt Humboldt zu — im Gegensatz zu F. A. Wolf, der auch dieses, außer bei Sparta, völlig abstreitet. Aber den Alten mit ihrer größeren Spontaneität und Energie war diese Einschränkung weniger schädlich, und ihr Anteil an der Regierung brachte neue Kräfte in Tätigkeit. Auch in gegenwärtigen Repubüken mag das noch möglich sein. Zu den modernen Monarchien aber und ihren Vorzügen gehört gerade, „daß, da doch die Staatsverbindung immer nur als ein Mittel anzusehen ist, nicht soviel Kräfte der Individuen auf dieses Mittel verwandt zu werden brauchen, als in Republiken" (4). Auf der gegenwärtigen Stufe der Kultur soll eine freiere, d. h. unpolitische Lebensführung möglich sein. Wer bei einem fehlenden staatlichen Schulwesen für die Bildung aller sorgen soll, die nicht dem Adel oder dem reichsten Bürgertum angehören, läßt Humboldt hier fast unerörtert. Er denkt an die Gemeinde, an Familienverbände oder einen „Nationalverein" und deutet damit erst vage die Richtung an, in der sich später die Gedanken des Organisators der preußischen Staatsschule entwickeln, nämlich hin zum Selbstverwaltungsliberalismus eines Freiherrn vom Stein. Auch für diese frühe Zeit ist es allerdings unrichtig, von einem Programm isolierender Privaterziehung zu sprechen, wie das häufig im Hinblick auf Humboldts

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„Ideen" geschieht. Humboldt sieht als die vorteilhafteste Lage für den Bürger diejenige an, in welcher er zwar durch so viele Bande als möglich mit seinen Mitbürgern zusammengehalten, aber durch so wenige als möglich von der Regierung gefesselt sei. Denn „der isolierte Mensch vermag sich ebensowenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte" (5). Es ist also nicht so, daß Humboldt für jedes soziale Problem der Erziehung blind wäre. Was er aber ganz übersieht, ist die Möglichkeit, daß in dem freien Kräftespiel irgendwelche Sozialmächte oder Gruppen die Erziehung ganz an sich reißen und damit die Freiheit ihrerseits vergewaltigen könnten. Von dem schmalen Grate der politischen Freiheit ist ihm nichts bewußt, wie überhaupt eben das eigentlich Politische von Humboldt hier noch gar nicht entdeckt worden ist. Das andere große Dokument des „ästhetischen Liberalismus" jener Tage sind Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen". Schiller selbst hat diese Schrift in ihrer Erstfassung als eine politische, als eine Erörterung von Lebensfragen der Politik bezeichnet (6). Dieser Anspruch befremdet zunächst: Sollte Schiller wirklich geglaubt haben, die Wucht der politischen Fragen, die mit der französischen Revolution hereingebrochen waren, durch „ästhetische Erziehimg" aufzufangen? Schiller hat, in der Nachfolge Kants, als Prinzipien der Menschenwelt Natur und Sinnlichkeit auf der einen Seite und Form und Vernunft auf der anderen einander gegenübergestellt. Der elementare und intuitive ursprüngliche Mensch wird in Gemeinschaft mit seinesgleichen nur einen Natur- und Notstaat bilden können, in dem die Kräfte herrschen, die Stärksten regieren. Der vernünftige Mensch hingegen, der sittlich ist und von Ideen geleitet, wird den Vernunftstaat bilden, in dem Recht und Gesetze herrschen. Kann aber der sittliche Charakter des Einzelnen und die sittliche Ordnung des Staates nur unter Aufopferung des natürlichen Menschen zustande kommen? Hatten nicht in Frankreich die Menschen die natürlich-willkürlichen Formen zerbrochen, um alsbald im Namen der abstrakten Vernunft nur die Bestialität zur Herrschaft zu, erheben? Muß die harte Gegensätzlichkeit, wie Kant sie errichtet hatte, stehenbleiben oder nicht vielmehr überwunden werden durch eine Einheit von Natürlichkeit und Sittlichkeit, von Gefühl und Grundsatz, von Intuitivem und Spekulativem, von natürlicher Menschlichkeit und vernünftiger Rechtsordnung? Sicherlich: nur in einer

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solchen Einheit wird der sittliche Mensch und das freie Staatswesen gedeihen. Das Mittel, diese Einheit herzustellen, ist für Schiller die Bildung durch die schöne Kunst, die ästhetische Erziehung des Menschen. Die Kunst ist Wirklichkeit, aber geformt; sie ist Gesetzlichkeit, aber nicht moralisch, sondern schön. Sie schließt die beiden Bereiche der natürlichen Sinnlichkeit und der vernünftigen Ordnung zu einem zusammen; sie allein kann die Totalität des Menschen herstellen, „es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht" (7). Und da der Staat zu seinen Bürgern das gleiche Verhältnis beobachtet, in welchem diese zu sich selber stehen, so gibt es auch keinen anderen Weg, den Staat vernünftig zu machen, als die ästhetische Erziehung seiner Bürger und die ästhetische Gestaltung seiner Form: „der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß [moralisch] notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht" (8). Humboldt und Schiller stehen hier für die ganze Generation der deutschen literarischen Klassik, deren Beziehung auf und deren Beeinflussung durch das Revolutionsgeschehen vielfach untersucht worden ist (9). Eine Geistesbewegung, welche die allseitige Entfaltung des Menschen, die Ausformung zur schönen Individualität, die „Menschheit" aller Menschen auf ihr Panier geschrieben hatte, mußte mit Beifall sehen, wie der Mensch seine politischen Fesseln sprengte, um ein Staatswesen allseitiger Humanität zu errichten. Der Verlauf der Revolution aber lehrte, daß ein solches Staatswesen schon einer humanistisch gebildeten Menschheit bedürfte, um entstehen und bestehen zu können. Wie nun auch von den einzelnen die Voraussetzungen bezeichnet worden sind, die Erziehung des humanistisch-harmonischen Menschen, der „schönen Individualität" zuwegezubringen: darin stimmen alle überein, daß es zunächst und vor allem um diese Erziehimg und Entfaltung, um die Menschwerdung des Menschen gehe. Beim jungen Humboldt wird dabei von diesem einen Gedanken an den Menschen und die „höchste proportionierlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte" das Problem des Gemeinwesens, des Zusammenlebens der Menschen und seiner politischen Formen

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vollständig aufgezehrt. Es ist darum gar nicht richtig, Humboldt als charakteristischen Zeugen eines politischen Frühliberalismus anzusprechen — und dies geschieht auch erst, seit in der Folge der Ereignisse von 1848 und in bestimmtem damaligen politischen Zusammenhang Humboldts Frühschrift gedruckt und verbreitet worden ist. Das Problem des Politischen ist in dieser Schrift so gut wie gar nicht zu finden hinter ihrem eigentlichen Thema, dem der Menschenbildung und Geistesentfaltung. Bei Schiller sind Staat und Politik zwar einbezogen und ernstgenommen, aber allein von jener Menschenbildung aus konstruiert und ihren Erfordernissen unterstellt. So bleibt es auch später, wenn in seiner Dichtung das Politische als eine Macht, die in das Menschenleben hineinragt, Gestalt gewinnt (10). Und auf ähnliche Weise, wenn auch in mannigfaltiger Abstufung, bricht sich das Problem in den Werken der anderen zeitgenössischen Klassiker: es ist das Fremde, dem man eine Eigenwelt zu entfalten nicht verstatten darf und das erst in der Zukunft, in utopischer Zukunft vielleicht, vom Menschlichen her erreicht werden kann. Es mußte sich das Bildungsdenken der Klassik erst mit der Idee des Nationalen verbinden — und dazu bedurfte es des Katalysators Napoleon — um an das eigentlich politische Problem und damit auch an das Problem der politischen Erziehung wieder heranzukommen. 2. DIE PHILANTHROPISCH-PATRIOTISCHE BEWEGUNG Aber auch die herrschende Pädagogik der Aufklärung und des Philanthropismus ist durch das Revolutionsgeschehen ergriffen, zunächst verwirrt, dann auf eigentümliche Weise politisiert und so in das kommende Jahrhundert und in die Begegnung mit anderen Geistesströmungen hineingeführt worden. Für den Fortschrittsoptimismus der Aufklärer brachte der irrationale und inhumane Verlauf der Revolution eine Krise ihres Selbstbewußtseins, eine Erschütterung ihres auf Geradlinigkeit, Vernunft und Humanität bauenden Denkens. Denn was in Frankreich geschah, im Namen ihrer eigenen Ideologie geschah, das trat zu dieser Ideologie sogleich in so sichtbaren Widerspruch, daß diese wenn nicht im ganzen bedroht war, so zumindesten einer Berichtigung, einer Präzisierung im Reich des Politischen, der Macht und der Gerechtigkeit, aber auch der Erziehung unter diesem neuen Aspekte bedurfte.

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Umkehr der „Revisionisten" Zunächst hat die Gruppe der „Revisionisten", jener Pädagogen, die sich zur gemeinsamen Bearbeitung des philanthropischen Handbuches „Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens" zusammengeschlossen hatten, ihren eigenen Standpunkt einer .Revision' unterzogen und das Verhältnis von Staat und Schule neu durchdacht. Erinnern wir uns, daß in früheren Werken, besonders deutlich bei Ehlers, aber auch noch in den ersten Bänden des Revisionswerkes, der Staat als der gegebene Sachwalter der Erziehung, der Befreier von der Vormundschaft der Kirche, der natürliche Veranstalter und Lenker des Schulwesens erschienen war. Dies wird nun im 16. Bande des Werks (1792) ausdrücklich widerrufen. E. C. Trapp berichtigt, offenbar nach gemeinsamer Beratung der Mitarbeiter, die bisherigen Äußerungen, auch seine eigenen, zu diesem Gegenstand. In seinem Beitrag „Von der Notwendigkeit öffentlicher Schulen" (11) erklärt er die philanthropische Theorie des Wohlfahrtsstaates für nicht weiterhin haltbar. Noch war der Pariser „Wohlfahrts"Ausschuß nicht an der Arbeit, aber schon lehrten die Ereignisse, daß im Namen des Wohltuns das Rechttun aufgegeben, daß Eigentum angetastet und persönliche Freiheit gekränkt und so für Nebenzwecke des Staates der Hauptzweck, nämlich der der Rechtswahrung, preisgegeben wurde. Trapp will damit nicht die Staatsschule völlig aufgehoben sehen. Aber sie soll sich auf die bedürftigen Bürger beschränken und steht fast mit der Armenanstalt in einem Rang. Und auch dort darf der Staat nicht seine eigenen Lehren verbreiten wollen, wie er es von jeher versucht hat, seit er sich um die Schule kümmert. Und geradezu physiokratisch heißt es (das Freiwirtschaftsdenken kommt sogar in der sprachlichen Formulierung zum Ausdruck): „Die Vernunft kann niemand pachten und damit Alleinhandel treiben. Jeder folgt seiner eigenen, wer Schule hält und wer seine Kinder dahin schickt, wer Verbesserungen vorschlägt und wer sie annimmt oder verwirft" (12). Weiter noch geht der Gründer und Herausgeber des Revisionswerkes / . H. Campe in einem Journal-Aufsatz über Gesetzgebung und Nationalerziehung vom folgenden Jahre (13). Er sieht jetzt den Staat überhaupt als den Unterdrücker aller persönlichen Freiheit und aller „ingeniösen Pädagogik" an. Man sollte nur einmal ernst machen mit der Eindämmung des Staates, die 4

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guten Wirkungen würden sich dann erst zeigen. Ernst machen aber heißt hier: die staatlichen Schulen und Universitäten, die staatlichen Lehrerbesoldungen und Unterrichtsvorschriften aufheben. Um die allgemeine Schulbildung zu garantieren, zahle der Staat armen Kindern das Schulgeld, aber überlasse ihnen selbst die Schul- und Lehrerwahl. Statt Waisenhäuser zu gründen, suche er Adoptivfamilien und ersetze ihnen die Auslagen. Statt selber Schule zu halten, stelle er Gebäude, Bibliotheken, Leistungs- und Reisestipendien jedermann zur Verfügung. Gründlicher läßt sich wohl die Staatsleistung vom Staatseinfluß nicht trennen, als es hier vorgeschlagen 'wird. Dieses Umschwenken der Philanthropisten, die ihrer Lehre nach und in ihren früheren Schriften dem Merkantilismus und dem aufgeklärt-absoluten Staate nahestanden, zeigt nur an, wie sehr durch die Revolution alles in Bewegung geraten ist. Die eigentlich politische Dimension, die Frage nach der Abhängigkeit der Erziehung vom Staate wie die nach der Bedingtheit des Staates durch die Erziehung, hält jetzt erst ihren Einzug in das pädagogische Denken. Vorher — das zeigt sich besonders bei den preußischen Pädagogen der Fridericus-Zeit — war ein Fundus von Selbstverständlichkeiten da, an dem nicht gerüttelt wurde, ebenso wie etwa in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ein Unberührbares (oder doch nur von ganz wenigen Berührtes) den sicheren Boden aller Gespräche abgab. Jetzt ist das anders geworden. Auch den Pädagogen ist es von nun an nicht mehr erlassen, sich die politischen Fragen der Erziehung von Grund auf zu überlegen. Trapps Artikel und Campes (übrigens zunächst anonym veröffentlichter!) Aufsatz sind Zeichen dafür, daß diese neue Situation auch von den philanthropischen Pädagogen begriffen worden ist. Die patriotischen Gesellschaften

Das zeigt sich auch deutlich in der Entwicklung der patriotischen Gesellschaften und ihrer Tätigkeit (14). Vor 1790 waren sie ja aufklärerisch im weitesten Sinne orientiert, auf Verbreitung von Wissen, auf technische und ökonomische Verbesserung gerichtet. Ihr Name meinte nicht das Vaterland im staatlichen oder nationalen Sinne. „Patriotisch" war etwa gleichlautend mit „philanthropisch", „ein edler Patriotismus nichts anderes als ein Ausfluß der reinsten und feurigsten Menschenfreundlichkeit" (15). Die süddeutsche reichs- oder schweizerfreiheitliche Bewe-

Die philanthropisch-patriotische Bewegung gung, von der oben die Rede war, ist wohl in ihrem Geiste, aber nicht in ihren eigentlich politischen Intentionen repräsentativ für den ganzen .Patriotismus' gewesen. In den 90er Jahren gerät auch hier alles in Bewegung. Überbrückung ständischer Gegensätze ebenso wie die Ausrüstung für die bürgerlich-politische Mitarbeit werden als selbständige Aufgaben, stellenweise als die Hauptaufgaben angesprochen. Neue Programme oder Statuten, aber auch ganz neue Gesellschaften versuchen diesem neuen Anspruch gerecht zu werden. Durch innere Verbesserungen dem Vaterlande aufzuhelfen und dadurch der Zerspaltung und Revolution, dem „Factionen-Geist des heutigen Frankreichs" und der „Umkehrung" zuvorzukommen, war jetzt das Ziel. Auch der Versuch, die patriotischen Gesellschaften in ganz Deutschland zusammenzubringen, zu einer gemeinsamen Bewegung zu verbinden und so ins Große zu wirken, fällt in diese Zeit und muß durch die gemeinsame politische Stimmung veranlaßt sein (16). Daß die Verbindung mit politischen Fragen eine nicht oberflächliche und aus zufälligem Anlaß erwachsene war, zeigt sich auch in der weiteren Geschichte der patriotischen Gesellschaften. Während ihre Tätigkeit fast überall von der Jahrhundertwende an zurückging und ihren Schwung verlor, überflügelt von der national-idealistischen Bewegimg und eingedämmt durch die politischen Restaurationen, hat sie sich an zwei Stellen weiter entwickeln und bis in die Gegenwart lebendig erhalten können: in den Hansestädten und in der Schweiz. An diesen Stellen sind bürgerlich-demokratische Formen lebendig geblieben, hier haben deshalb die Gesellschaften in der lokalen Politik und im öffentlichen Leben ein Wirkungsfeld gehabt und ihre erzieherische Arbeit weiterhin entfalten können. Die Preisfrage der Erfurter Akademie von 1793 In ebendiesen Jahren ist durch eine Preisfrage eine lebhafte öffentliche Diskussion über die politische Erziehung ausgelöst worden. Veranstalter war die „Erfurter Gesellschaft oder Akademie gemeinnütziger Wissenschaften" (gegr. 1754), ein Zwischenwesen von Gelehrtenakademie und gemeinnütziger Gesellschaft, die man mit gewissem Recht an den Anfang der deutschen Patriotenbewegung gestellt hat (17). Dieselbe Institution, welche durch ihr Preisausschreiben des Jahres 1899 Kerschensteiners 4»

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berühmte Schrift „Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend" veranlaßte und auszeichnete, hat schon damals, im Jahre 1793, einen Preis ausgesetzt für eine populäre Schrift an das deutsche Volk, „wodurch dieses von der Güte seiner Verfassung belehrt und vor den Übeln ungemessener Freiheit und Gleichheit gewarnt werden sollte" (18). Außer dieser Popularschrift wurde jedem Bewerber eine theoretische Erörterung der folgenden vier Fragen abverlangt: 1. Auf wievielerlei Arten kann man die Untertanen eines deutschen Staates überzeugen, daß sie unter einer weisen, gerechten und milden Regierung leben? 2. Was heißt bürgerliche Freiheit und auf wievielerlei Wegen lassen sich richtige Begriffe davon unter alle Stände, besonders die niedrigsten Volksklassen verbreiten? 3. Wie müssen zur Erreichung dieses Endzwecks die häusliche Erziehung, der Unterricht in Schulen und auf Universitäten, in den Volksbüchern und Zeitschriften und anderen zur Nationalbildung gehörigen Anstalten eingerichtet werden? 4. Durch welche Mittel kann man, ohne auffallenden Zwang, es dahin bringen, daß die dazu vorgeschlagenen besten Einrichtungen wirklich ausgeführt werden? Zwanzig Bewerbungsschriften aus allen Teilen Deutschlands gingen ein. Sie wurden teils vollständig publiziert, teils in Auszügen oder durch Rezensionen bekanntgemacht (19). Natürlich hat die Art der Fragestellung von vornherein nicht jedermann zur Bewerbung veranlaßt. Stimmen wie die Campes oder des frühen Humboldt hätten ebenso wenig Aussicht auf Preis und Veröffentlichung gehabt, wie revolutionäre Vorschläge ä. la Lepeletier. Die Fragen setzen — auch die zweite kann darüber nicht hinwegtäuschen — überall die Richtigkeit und Erhaltenswürdigkeit der gegenwärtigen politischen Zustände voraus. Es sollte nur die Gesinnung der Untertanen darauf abgestimmt, Erziehungsmittel für die „Erhaltung der öffentlichen Ruhe" gefunden werden. Die Fragen selbst — der Mainzer Kurfürst als Patron der Akademie hatte sie aus anderen persönlich ausgewählt — wären also allenfalls interessant als Zeichen der politischen Beunruhigung und dafür, daß man Zuflucht bei der Erziehung und bei der aufklärenden Publizistik suchte. Die Antworten sind aber keineswegs alle dementsprechend ausgefallen, sondern legen mit ihrer Fülle von Stellungnahmen und

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Vorschlägen Zeugnis davon ab, wie gründlich sich die vielen Bewerber schon mit den gestellten Fragen beschäftigt hatten. Offenbar hat die Preisfrage nur ausgelöst, in Tinte und Druckerschwärze überführt, was die Geister sowieso bewegte. Einige der Schriften erwiderten gleich auf die erste Frage: von der Gerechtigkeit und Milde überzeugt eine Regierung nicht, sie sei denn gerecht und mild; und es folgt ein Katalog von Regierungstugenden im konstitutionellen Staat bis hin zum Petitionsrecht jedes Bürgers und zur öffentlichen Darlegung der staatlichen Finanzen. Die Art der Fragestellung hat vor allem aber die Beteiligten veranlaßt, über die Pflicht der Öffentlichkeit der Regierung als eine Forderung der Zeit nachzudenken und sich zu äußern. Ob man populäre Geschichtsbücher fordert, welche Greuel und Anarchie früherer Zeiten drastisch schildern, um die Ordnimg und das sittlich-ökonomische Wohl des gegenwärtigen Regimes in desto günstigeres Licht zu setzen; ob man Volkszeitungen, Kalender, ja Marionetten- und Theaterspiele zu fördern empfiehlt, die mit ihrem Inhalt der politischen Volksaufklärung dienen; ob man Religionsunterricht oder gar kirchliche Verkündigung mit einer Bürgerpflichtenlehre verquickt und aufbereitet sehen will — immer meldet sich darin das Bewußtsein der neuen Zeit, daß es künftig ohne das Volk, ohne sein Wohlwollen und seine Befriedigung nicht mehr zu machen sei. Auch ein bisher unumschränktes Regiment findet nun, so hatte die Revolution gelehrt, seine Schranken darin, daß es dem Volke Rechenschaft ablegen, im rechten Lichte erscheinen muß. „Es ist nicht genug, daß eine Regierung gut sei, sie muß es auch den Untertanen auf eine in die Augen fallende Art fühlbar machen" (20). Der Großteil dieser Erörterungen gehört in die Ära des aufgeklärt-absoluten Staates und steht den Gedanken der friderizianischen Staatspädagogen nahe. Nur weniges weist darüber hinaus — etwa wenn die Universitäten angerufen werden, von ihrem Podest herabzusteigen und die Mauer zwischen ausgetüfteltem Staatsrecht und natürlichem Rechtsbewußtsein des Volkes niederzureißen; oder wenn man fordert, daß ein gemeinverständliches Gesetzbuch geschaffen werde und ein jeder sich selbst belehren könne, was rechtens sei. Auch von der erzieherischen Verantwortung des höheren Bürgertums ist einmal die Rede, der Pflicht, das belehrende Gespräch mit dem einfachen Manne zu suchen, auf der Straße und im Wirtshaus, und damit zugleich

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das Urteil des anderen zu heben und das eigene zu erweitern. Ob aber neue Formen des politischen Lebens erstrebt oder alte erhalten werden sollen, alle müssen sie mit dem „König Volk" irgendwie rechnen. Der Staat ist auf ein pädagogisches und publizistisches Moment fürder angewiesen. Er kann die Politik nicht mehr im freien Raum und als reine „Staatsraison" handhaben. Auch in der Einnebelung des Volkes, auch im Mißbrauch der erzieherischen Mittel, die der Staat in Händen hat, ist der Anspruch des Volkes anerkannt, politisch ernst genommen zu werden. Politik und Erziehung sind von nun an nie mehr völlig zu trennen, das zeichnet sich in der Literatur zur Erfurter Preisfrage besonders deutlich ab (21). 3. SYSTEME DER STAATSPÄDAGOGIK

Auf die kürzeren Schriften der frühen neunziger Jahre, die großenteils unmittelbar unter dem Eindruck der Pariser Nachrichten stehen, folgt um die Jahrhundertwende eine Reihe von ausführlichen, systematischen Werken. Die Neuentdeckung der politischen Bedingtheit aller Erziehung verlangte ja ein von Grund auf neues System der Pädagogik. Sowieso war damals, unter dem Eindruck des Kantschen Systems der kritischen Philosophie, die Neigung zum Systematisieren wieder wach geworden. Die ins Kraut geschossene pädagogische Literatur des 18. Jahrhunderts, meist pragmatischen oder belletristischen Charakters, lechzte geradezu nach ordnender Zusammenschau, und Kant selber hatte gefordert, der „Mechanismus der Erziehungskunst" müsse nun „in Wissenschaft verwandelt werden" (22). Bei dieser Systembildung bietet sich erstaunlich vielen Autoren das neuentdeckte Verhältnis als das eigentliche Ordnungsprinzip an. Man will die Pädagogik als „Staatserziehungswissenschaft" begründen und glaubt, aus diesem einen Punkte alles kurieren zu können mit der Einseitigkeit, die Neuentdeckungen wohl notwendig eigen ist. Natürlich wird diese Aufgabe von den einzelnen sehr verschieden verstanden und angefaßt. Einmal scheint die Tendenz vorzuherrschen, die meist essayistisch oder belletristisch aufgetretene Pädagogik der Strenge des Kantischen Denkens zu unterwerfen und sie in das kritische System einzufügen (23). Auf der anderen Seite wird von den bestehenden Erziehungssystemen ausgegangen und der Plan einer Schulorganisation entwickelt, der das Vorhandene zu einem staatlichen Gesamtbau verbindet und auf organisatorischem Wege das

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politische Prinzip in das Schulwesen einführt. Dabei gilt als Voraussetzung, daß es eine absolute, natürlich-vernünftige Ordnung gebe, die jedenfalls annäherungsweise gefunden werden könne — so etwa wie schon ein Ratke und Comenius, aber auch einzelne der französischen Revolutionäre, das Erziehungswesen hatten „natürlich" organisieren wollen (24). Eine dritte Richtung schließlich sieht auf das historisch-Konkrete, verbindet den absolutistischen Staatsgedanken mit der aufkommenden Idee der Nation und will, daß die wissenschaftliche Pädagogik die Aufgabe dieser Stunde in diesem Volke ergreife. Hier taucht bereits der Terminus „Nationalerziehung" im Sinne des Fichteschen Nation-Begriffes auf (25). Diese Tendenzen überschneiden sich vielfach bei den einzelnen Autoren und sind von keinem konsequent zu Ende geführt. Besonders der letzte Gedanke schaut erst hier und da zaghaft hervor und beherrscht noch nirgends das Denken mit seiner späteren Ausschließlichkeit. Im Folgenden sollen darum nicht diese Richtungen als Einteilungsprinzip dienen, sondern die Staatsauffassung, die den Erziehungsplänen zugrunde liegt. Rechts- und Wohlfahrtsstaat sind im 18. Jahrhundert auseinandergetreten, in der Revolution in aller Schärfe aufeinandergeprallt. Eine dazwischenliegende Verbindungsform, nach welcher der Staat sich wohl um die moralischen Grundlagen des Rechts, nicht aber um materielles Wohlsein der Bürger kümmern soll, mag mit dem Namen Sittenstaat bezeichnet werden. Diesen drei Prinzipien des Staatsdenkens lassen sich die staatspädagogischen Systeme und Schriften einigermaßen zuordnen. Erziehung für den Rechtsstaat Der Rechtsstaatsgedanke stand in der derzeitigen Staatsphilosophie ganz unter dem herrschenden Einfluß des Kantischen Systems; wobei das Gewicht in Kants eigenen Schriften ganz auf dem Recht und nicht auf dem Staate liegt. Der Staat ist eine Form des politischen Übergangs, ein früher Rechtsverband, dem spätere, höhere Ordnungen folgen müssen und der schließlich aufgehoben werden soll in einem weltumspannenden Friedensrecht. Politische Erziehung im Sinne Kants ist also Erziehung zur Rechtsgesinnung, die — der menschheitsverbindenden Idee des Rechtes gemäß — nicht dem eigenen politischen Gemeinwesen irgendeinen Vorzug gibt, sondern „in weltbürgerlicher Absicht" handelt und zum „ewigen Frieden" führen will (26). Das ist nun — geschichtsphilosophisch wie pädagogisch — weniger

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die eigentümliche Lehre Kants, als der konsequenteste Ausdruck der aufgeklärt-naturrechtlichen Staatstheorie und einer ihr dienstbaren Lehre von der Erziehung. Dennoch stehen die Vertreter der Rechtsstaatserziehung dem Königsberger auch philosophisch nahe, W. T. Krug sowohl, der Leipziger Tagesphilosoph und zeitweilige Nachfolger Kants auf dem Königsberger Stuhl, als auch K. S. Zachariä, der publikationsfreudige Heidelberger und ebenfalls /. F. Faber, der den Staat als die „absolut notwendige Vereinigung der Menschen zur Realisierung des Vernunftvermögens" definiert und als vollkommenen Staat eine die ganze Menschheit umfassende Universalordnung wünscht (27). Wilhelm Traugott Krugs Werk „Der Staat und die Schule" sei aus dieser Gruppe hervorgehoben, weil es sie am treffendsten repräsentiert. Der Untertitel drückt das erwähnte Bewußtsein aus, daß nunmehr eine neue Wissenschaft zu finden sei: „zur Begründung einer Staatspädagogik" seien hier Politik und Pädagogik in ihrem gegenseitigen Verhältnisse dargestellt (28). Politik nun ist für Krug nichts anderes als die Verwirklichung des Rechts, des einen, natürlichen, in den positiven Satzungen sich spiegelnden Rechts, sowohl im Innern des Staats als auch im Verkehr mit andern Staaten. „Möchten daher die Oberhäupter und Führer der Staaten nie vergessen, daß sie eigentlich nichts anderes als sichtbare Stellvertreter der unsichtbaren Rechtsidee sind, daß sie nur in dieser ihrem Namen herrschen und daß alle ihre Gewalt zuerst und vornehmlich darauf gerichtet sein soll, jener Idee durchgängige Realität in der Welt der Erscheinungen zu verschaffen I" Die politische Form des Staates spielt gegenüber dieser Aufgabe keine bedeutende Rolle. Am besten ist das Recht in einer „synkratischen" Verfassung wie der englischen gesichert, aber auch in absolut regierten Staaten wie denen Friedrichs und Josephs II. kann es sich entfalten. Während der Staat also seinem Wesen nach ein Minimum bestimmter Aufgaben hat — einzig und allein die Wahrung und Ausbreitung des Rechts — so hat die Erziehung weitreichende Ziele. Sie umschließt den sachlichen und sprachlichen Unterricht, die moralische und ästhetische Bildung, die allgemeine Formung und Führung des Menschen. Nie können also Staat und Erziehung ein engeres Verhältnis haben als das einer gewissen Bedingtheit: die Schule braucht den Staat, und der Staat braucht die Schule (29). Die Schule braucht den Staat als äußere Sicherung, sie bedarf seines Rechtsschutzes und seiner organisatorischen und finan-

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ziellen Hilfe. Aber diese Abhängigkeit darf vom Staate nicht mißbraucht werden, weder für die Ausbildung staatsnützlicher „Routiniers in den bürgerlichen Geschäften des gemeinen Lebens", noch zum Aufbau einer Staatsgesinnung und zum Sichern einer gegenwärtigen Verfassung, noch auch zur Ausbreitung gewisser, dem Staatenützlich scheinender Methoden (etwa der Pestalozzischen) (30). Und umgekehrt: der Staat braucht die Schule, einmal weil er für sein ganzes Funktionieren gebildeter Bürger bedarf, dann aber weil sein Fundament, die Rechtsidee, durch die Schule gelegt und gesichert werden soll. Und hier liegt der Unterschied zum frühen Humboldt, der ja auch den Staat auf die Rechtssicherung beschränken wollte, und zu den Philanthropen in ihrer späteren, staatskritischen Zeit: daß der Staat nicht nur ein „Mittel" zu menschlicher Vervollkommnung ist oder ein Notinstitut zur Sicherung des Eigentums, sondern Träger des Rechts und damit eines hohen Wertes. Zum Recht also — gemeint ist immer die eine und absolute Naturrechtsidee — darf, ja soll der Staat erziehen. Denn damit dient die Erziehung nicht ihm, sondern einem Höheren, dem er selber dient, der Ordnungsmacht alles menschlichen Zusammenlebens. Sie ist in diesem Sinne, soweit sie staatliche Erziehung sein soll, zugleich auch Menschen- und Bürgererziehung, notwendige Sozialhilfe gerade des freiesten Staats (31). Erziehung für den Sittenstaat So säuberlich wie sich das Gebiet des Rechts damals von anderen Wertbereichen absondern zu lassen schien, so genau konnte auch der Staat in seinen Erziehungsaufgaben eingezäunt werden, solange er wirklich nur als ifecAfsinstitut verstanden wurde und solange sich das Recht auf den schmalen Bereich der Naturrechtsdefinitionen jener Tage beschränken ließ. Sobald man aber für dieses Recht ein gewisses moralisches Fundament für unabdingbar hielt, den Staat auch für diesen Bereich mit verantwortlich machte und ihn als Träger und Verwirklicher der Sittlichkeit ansah, wurde die Abgrenzung schwieriger — so in den staatspädagogischen Werken von K. H. L. Pölitz und Ch. D. Voß. Pölitz, Professor des „Natur- und Völkerrechts" zu Wittenberg, hat sich gegen die Spaltung der Welt in zwei Sphären, wie er sie den Kantianern vorwarf, gewehrt. Daß man den Zögling einmal als Menschen, ein andermal als rechtlichen Bürger betrachte, der Staat sich um die eine Hälfte kümmern, die andere aber nicht anrühren dürfe, erscheint ihm als Irrtum und Fiktion.

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Mensch und Bürger werden in der Literatur dieser Jahre immer wieder einander gegenübergestellt. Die Teilung scheint von Hobbes zu stammen, der sein philosophisches System in die Bücher „De homine" und „De cive" gegliedert hat. Als Gegensatz sind diese beiden Begriffe jedoch nicht gemeint, sondern als zwei Seiten, die persönliche und die soziale, des einen Menschen. Ebenso hat Pufendorf in seiner kurzen Naturrechtslehre „De officio hominis et civis" gesprochen, darin aber nur zwei Pflichtenbereiche desselben, einen Menschen gesehen. Die spätere Zeit hat sie als zwei feindliche Ansprüche einander gegenübergestellt. Durch Rousseaus ganzes Werk zieht sich die dialektische Spannung zwischen dem romantisch-naturhaft verstandenen eigentlichen Menschen und dem totalen Staatsbürger. Und in einem der Beschwerdehefte zu Beginn der französischen Revolution heißt es „On disire des citoyens et l'on n'a que des hommes". Das Gegenteil wollten die Neuhumanisten: den Menschen nicht als Bürger, ihn nur als Menschen ansehen und erziehen (32). Pölitz versucht diesen Gegensatz, den er als einen künstlichen ansieht, zu überbrücken, die „Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke der Menschheit und des Staates" (1806) darzustellen, wie er schon im Titel seines Buches kundtut (33). Er fordert von einem gültigen pädagogischen System, daß es „eine solche innere wissenschaftliche Einheit und einen solchen notwendigen Zusammenhang zwischen der Erziehung zum Menschen und der Erziehung zum Bürger bewirken muß, daß endlich die große Frage, in welchem Sinne die Rechte und Pflichten des Staates in Hinsicht auf die Erziehung mit den aus der praktischen Philosophie abgeleiteten Prinzipien für die Erziehung überhaupt als vereinigt und identisch dargestellt werden sollen, befriedigend gelöst werden könne" (34). Aus der „praktischen Philosophie" also leitet die Erziehung an sich ihre Grundsätze ab, die Erziehungswissenschaft ist Teil der Moralphilosophie und die Verwirklichung der Sittlichkeit das eigentliche Erziehungsziel. Ganz ebenso aber ist es das Ziel des Staates und seiner Entwicklung, „alles dem Zwecke der Sittlichkeit unterzuordnen" und vor allem anderen dafür zu sorgen, „daß die Menschengattung gut werde". Es ist also müßig, von der Selbständigkeit oder den Ansprüchen des einen gegenüber dem anderen zu sprechen. Staat und Erziehung sind vor eine gemeinsame Aufgabe gespannt, und diese Aufgabe ist nur „durch die Unterordnung aller einzelnen Erziehungszwecke unter den Zweck der Sittlichkeit und durch die Ausgleichung dieses höchsten Erziehungs-

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Zweckes mit dem Zweck des Staates" zu lösen. Ähnlich heißt es bei Voss: „Nur ein sittlich guter Mensch kann ein wirklich guter Staatsbürger sein" (35). Wenn nun daraufhin dem Staate eine ganze Reihe von Rechten über die Erziehung eingeräumt wird, besonders die zentrale Leitung aller Bildungsanstalten und die Sorge für einen einheitlichen Geist, der in ihnen herrschen soll, so kann man hier doch nicht von einer Macht des Staates über die Erziehimg sprechen, insofern in der Macht ein eigenmächtiges Verfügenkönnen liegt. Denn die Sittlichkeit kann ja nur in der freien Anerkennung des moralischen Gesetzes durch den Einzelnen bestehen, im unerzwungenen, der Einsicht entspringenden Gehorsam. Darum kann der Sittenstaat nichts erzwingen und überhaupt die Sittlichkeit nicht durch eine positive, bildnerische Aufgabe im Menschen aufgebaut, sondern eigentlich nur zutage gefördert werden. Sie ist als natürliche Moral in jedem Menschen vorhanden und wird ihm durch Aufklärung verfügbar. In dieser naturrechtlichen Auffassung, als gäbe es einen Menschen an und für sich, der nur freizulegen wäre, schwinden viele Probleme und Gefahren der Erziehung dahin, so auch die Gefahr einer staatlichen Erziehung, einen bestimmten Typus von Staatsbürger zu schaffen und die Freiheit individueller Entwicklung damit abzuschnüren. Naturrechtliches Denken zeigt sich bei Pölitz auch, wenn er versucht, die beste politische Form des Sittenstaates zu bestimmen. E r wehrt sich zunächst für die überkommene ständische Gliederung des Staats, ebenso wie es etwa Freiherr von Zedlitz tat, und verteidigt sie gegen die französische Gleichmacherei. Zugleich aber meint er, der heranwachsende Staatsbürger müsse doch „das Zufällige in dem historischen Ursprünge der einzelnen Stände kennenlernen". „ E r soll kein Revolutionär werden, der die bestehende Ordnung der Dinge erschüttert und umstößt; aber er soll diese Ordnung richtig beurteilen". Er soll lernen, „den Menschen einzig nach seinem persönlichen Werte und nach dem erreichten Grade seiner Kultur und moralischen Reife zu achten und zu behandeln" (36). In Friedrichs d. Gr. Namen, aber in bezeichnender Modifizierung seines Worts, werden die Regenten die ersten Bürger ihres Staates genannt. Mit der Forderung völlig freier, vom Elternhaus unbeeinflußter Berufswahl wird ebenfalls das ständische Prinzip durchbrochen. Eine besondere Adelserziehung hält Pölitz überhaupt nicht mehr für zeitgemäß, und auch Soldaten und Offiziere sollen nicht mehr gesondert für ihr Hand-

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werk, sondern vor allem als Menschen und Staatsbürger gebildet werden (37). So treten aus dem geplatzten Staatsrock des 18. Jahrhunderts überall liberale Gliedmaßen zutage. Der Hallensische „Kameralwissenschaftler" Ch. D. Voss in seinem „Versuch über die Erziehung für den Staat" (1799) (3®)» k t im ganzen etatistischer und ständischer gesonnen als Pölitz und nennt die „Beförderung der Regentensicherheit" mit als Zweck seines Buches. Aber auch für ihn ist die Sittlichkeit das Fundament des Staats, und die Vernunft, welche die Sittlichkeit freilegen kann. Hatte Fridericus gesagt: Raisoniert soviel ihr wollt, aber gehorcht!, so heißt es jetzt: Gehorsam wird man nur durch Raisonieren. „Die aufgeklärten Untertanen sind immer die folgsamsten." So muß die Regierung selbst dafür sorgen, daß ihr Handeln öffentlich sei und daß die Aufklärung verbreitet werde. Deutlicher als bei Pölitz tritt aber bei Voss noch ein Gedanke hervor, der das aufklärerische Denken übersteigt: die Konkretisierung der an sich universal-rationalistischen Staatslehre auf den eigenen und gegenwärtigen Staat hin. Die Staatsraison Altpreußens mag dabei mit Pate gestanden haben, aber dieser Zug weist auch schon hin auf das individualisierende Staats- und Geschichtsdenken der Romantik und des philosophischen Idealismus. Die Moral- und Erziehungspolitik des Staates müsse bestrebt sein — so heißt es bei Voss — „den allgemeinen Zweck aller Staaten (wie ihn die Vernunft gebietet) in einem existierenden Staate nach allen Modifikationen zu realisieren, welche dessen individuelle Beschaffenheit nötig macht." — „Jeder Staat bildet nämlich ein für sich bestehendes Ganze [s], das man als ein Individuum betrachten und darstellen kann" (39). Bei dieser Einsicht läßt sich die öffentliche Erziehungstätigkeit auf versittlichende Aufklärung natürlich nicht mehr beschränken; es wird sich vielmehr notwendig die Aufgabe stellen, diese Eigenart des Gemeinwesens zu erhalten und zu bestärken und einen „gemeinschaftlichen Nationalcharakter" auszubilden (40). Damit ist aber die scheinbar eliminierte Frage der Grenzen staatlichen Verfügungsrechts an einer anderen Stelle wieder aufgetaucht: das 19. Jahrhundert mit seinen eigenen Problemen der politischen Erziehung zeichnet sich ab. Erziehung für den

Wohlfahrtsstaat

Auch wo das Politische des 18. Jahrhunderts sich am reinsten erhalten zu haben scheint und der Staat Wohlfahrt und „Menschenglückseligkeit" verbreiten soll, auch dort erweist sich, daß

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das nicht mehr nur im Sinne vergangener Zeiten angängig ist, sondern daß neue Aufgaben herzudrängen und im alten Gehäuse unterzukommen suchen. Wohlfahrt — salut publique — auch dieses Wort hatte durch die Revolution einen neuen Klang bekommen. Nicht von ungefähr entsteht das radikalste Programm einer Wohlfahrtserziehung im damals so französisch orientierten Bayern, unter den Händen des Münchner Lyzeumslehrers A. J. Holzwart („Erziehung und Aufklärung einer Nation durch den Staat", 1806). Aber auch der „Grundriß der Staatserziehungswissenschaft" von Heinrich Stephani (1797/1804), dem Nürnberger Schulrat und zeitweiligen Amtsvorgesetzten Hegels, und die preußisch orientierten „Ideen über Nationalerziehung" (1804) von / . F. Zöllner, die Schleiermacher zu scharfer Kritik herausgefordert haben, sind hier als Beispiele mit heranzuziehen (41). Da ist vor allem einmal die organisatorische Macht, die dem rationalisierten Staate zur Verfügung steht und die nun auch für das Wohlfahrts- und Erziehungswesen eingespannt werden soll. Wie ein Bück ins 20. Jahrhundert mutet Stephanis Gemälde eines idealen Erziehungsstaates an. Ein eigenes Erziehungsministerium, ein System von Volks-, Berufs- und Beamtenschulen, öffentliche Volks- und Forschungsbibliotheken, Frauenschulen, Lehrerakademien und Anstalten für allgemeine Wehrerziehung sind darin vorgesehen. Die Kirchen ordnen sich dabei dem Erwachsenenbildungswesen unter; sind sie doch nach Stephani nichts anderes „als Anstalten zur weiteren sittlich-religiösen Erziehung einer Nation" (42). Im Grunde unterscheidet sich der Plan allerdings zunächst nur durch seine Konsequenz von der Aufklärungsdoktrin des 18. Jahrhunderts, und Aufklärung ist es auch, was den inneren und moralischen Zusammenhalt des Gemeinwesens sichern soll. Nur diejenigen taugen für die staatliche Lebensgemeinschaft, die „genau die Frage zu beantworten wissen, weswegen wir überhaupt in Staatsvereinen leben". „Wer über die Menschenrechte unaufgeklärt ist, der ist ein gefährliches Wesen". Wer aber Bescheid weiß über Recht, Staat und Wirtschaft, der wird auch rechtlich denken, gehorsam sein und brav seine Steuern zahlen. Ähnlich bei Zöllner, der sich scharf gegen die Ansicht wendet, Bildung und Aufklärung könnten der Regierungssicherheit zum Schaden werden. Im Gegenteil: die Unaufgeklärten seien es, die auf die Phrasen der Demagogen hereinfielen und aus denen sich die Revolutionäre rekrutierten.

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Schon bei Stephani glimmt allerdings eine Ahnung davon auf, daß mit rein instruierender Aufklärung doch nicht ganz auszukommen sei. So schreibt er vor, die allgemeine Unterweisung in Geschichte und „Statistik" müsse „eine höhere Tendenz in ihrem Vortrage erhalten" — soll heißen: durch ein gewisses Lehrpathos nicht nur Verständnis, sondern auch Empfindungen wecken und zur Stellungnahme aufrufen. Vom Unterricht in der Familien- und Haushaltskunde wird verlangt, er solle „häuslichen Sinn, . . . Geschmack an dem gemeinschaftlichen Familienleben, den häuslichen Freuden, der Familienliebe [I]" anregen. Und schließlich soll die Erziehimg „Patriotismus" einflößen, die tiefere Liebe zum eigenen Vaterland als zu allen anderen Ländern (43). Das gleiche meint Zöllner, nämlich den Patriotismus zum historisch gewachsenen Territorialstaate, wenn er von der Erziehung zum „Nationalgeist" spricht. Er wählt allerdings sehr viel kräftigere Mittel, um diesen Nationalgeist zu stärken. So will er die Sprache innerhalb der Ländergrenzen von Staats wegen vereinheitlichen lassen, die Volksliteratur zensieren und steuern, den Staat wirtschaftlich autark machen, um mit den ausländischen Waren die fremden Sitten und Bedürfnisse fernzuhalten. Die Schulen sollen jedem die Vorteile des eigenen Landes einprägen, das nationale Ehrgefühl stärken und den militärischen Geist als Wehrwillen wecken. Sie werden im Stoff und in den Lehrbüchern streng zentralisiert. Der Staat soll auch eine gewisse Zentralreligion ausmitteln, in deren Geist er ohne Widerspruch der Konfessionen seine Schulen führen und den „öffentlichen Kultus" festlegen kann. Ja, auch die Moral will Zöllner nationalisieren, indem er gewisse Unsitten durch die Öffentlichkeit mit einem „Nationalschimpf" belegen läßt (44). Holzwart dagegen geht hier noch einen Schritt weiter und strebt eine Erziehungseinheit von Staat und Kirche an, die im Genf der Reformationszeit ihresgleichen sucht. Eine „Religions-, Arbeits- und Ehrenpolizey" soll Fleiß und Betragen der Bürger beaufsichtigen und zusammen mit der Beamtenschaft „durch die ihnen anvertraute Staatsmacht die Hindernisse der Aufklärung und Sittlichkeit. . . beseitigen". Ein weitverästeltes Auszeichnungssystem für Schulfleiß, wie es heute noch in Frankreich üblich ist, staatliche Beaufsichtigung und Lenkung der Volkslektüre, eine Staatszeitung zur „Volksaufklärung" nach dem Muster des Pariser Moniteur, ja selbst die Benutzung von National-

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stolz, Eitelkeit und Vorurteilen des Volkes für bestimmte Staatszwecke werden hier bedenkenlos angeraten. Keiner soll „ohne das gehörige Maß vaterländisch-statistischer Kenntnisse und Überzeugungen [!] aus der Schule entlassen werden". Das Freiheitspathos naturrechtlicher Ansichten findet sich auf seltsame Weise in diese Vorschläge eingeflickt (45). So stehen die pädagogischen Lehren der Wohlfahrtspolitik auch dort, wo sie sich schon im Bereiche des Volks- und Verfassungsstaates wähnen, noch ganz im Beglückun^sstreben und im Staatsdirigismus des 18. Jahrhunderts. Oder ist es vielmehr so, daß sich ein Stück aus jener Epoche einfach weiterschleppt in die künftigen Zeiten und Teil der modernen Staatlichkeit überhaupt wird? Manche Züge der Revolution und vor allem der Napoleonische Staat scheinen darauf hinzudeuten — Holzwarts Entwurf fällt in, Zöllners und Stephanis kurz vor das Gründungsjahr der Napoleonischen „Universit6 In^riale". Neu gegenüber dem vergangenen Jahrhundert scheint vor allem das staatspatriotische Moment, aber auch es ist sowohl bei den Preußen wie bei den Bayern nicht ohne Tradition. Und es gehört wohl folgerichtig zum Wohlfahrtsstaate dazu, daß er sich wie wirtschaftspolitisch auch geistig auf sich selber beschränkt und das von außen Kommende abwehrt und nicht gelten läßt. Bei Fichte zeigt sich dieser Zug, der als Komponente des Patriotismus noch nicht recht beachtet worden ist, besonders deutlich. In seinem „Geschlossenen Handelsstaat" ist die Forderung der wirtschaftlichen, in den „Reden" die der geistigen Autonomie entwickelt — zwar keineswegs nur, aber doch auch vom wohlfahrtsstaatlichen Denken her. Und lange vorher hat schon Thomas Morus seine Utopier, diese frühgeborenen Wohlfahrtsstaatler, mit Patriotismus und geistig-sittlicher Selbstzufriedenheit ausgestattet.

Im ganzen zeugt diese reiche staatspädagogische Literatur der Jahrhundertwende von einer Situation des Ubergangs (46). Deutlich spiegelt sich darin die vorausgehende Zeit, an manchen Stellen aber zeichnet sich auch schon die künftige ab. Aufgeklärter Absolutismus und naturrechtlicher Bürgerstaat, Weltbürgertum und Staatspatriotismus überschneiden sich auf mannigfaltige Weise. Gemeinsam ist allen Werken der Versuch der rati-

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onalen Systematisierung dieses Bereiches, das Streben nach einer wissenschaftlichen Begründung der Erziehungs- wie eines Teiles der Staatslehre. Nach drei Richtungen ist das in diesen Systemen Eingefangene jedoch bald wieder auseinandergebrochen. Der ideale Humanismus der großen Dichter und Wilhelm von Humboldts erhob die Bildung so hoch, daß ein rational gefaßter Staat sie nie hätte bestimmen und sichern können. Die Zeit Fichtes und Jahns sodann entwarf ein so gewaltiges Bild vom Staate, daß eine rational festlegbare Bildung ihn nie zu erreichen vermochte. Romantik, Idealismus und „historische Schule" schließlich begründeten einen neuen Begriff von Wissenschaft, welcher an diesen aufklärungsbestimmten Systemen kein Genüge mehr fand. Freilich hat dies alles erst aus überlieferten Gedanken seinen Weg sich bahnen müssen. Und so hat manches aus der „Staatserziehungswissenschaft" noch lange fortgelebt.

VIERTES KAPITEL

R E F O R M Z E I T U N D N A T I O N A L E BEFREIUNG i. REFORMZEIT

In den Schriften der 90er Jahre und der Jahrhundertwende, den pädagogischen Systemen wie der schier unübersehbaren Broschüren- und Zeitschriftenliteratur, herrschten die Fragen des 18. Jahrhunderts, die nach der Staatlichkeit der Erziehung und nach der Schulung des Bürgers für sein Gemeinwesen, noch vor. Eine gewisse innere Bewegung kam in diese Literatur durch die Anteilnahme an der Revolution, durch die grandiose Szenerie, die Autoren und Leser nun vor Augen hatten und die bald das ganze politische Schrifttum beherrschte. Alles dies aber blieb noch papieren. Es fehlte trotz aller politischen Aufregung in Deutschland an Handelnsentschlossenheit. Die führenden Gruppen, das höhere Beamtentum insbesondere, waren zwar von der Notwendigkeit kräftiger Reformen überzeugt. Aber diese Einsicht führte zunächst mehr zu einer Stagnation der Verwaltung und Innenpolitik, als zu einer Befruchtung durch Heil und Unheil der Ereignisse in Frankreich. Dieser Stillstand hat auch die pädagogische Diskussion jener Jahre ausdörren lassen. Die umfangreichen Bücher über die Staatserziehungswissenschaft sind weitschweifig und ohne innere Spannung, einige, etwa das von Pölitz mit seinen hunderten von bibliographischen Angaben, muten geradezu alexandrinisch an. Der Staat erschien für den Pädagogismus des ausklingenden Jahrhunderts zunächst nicht als eine große und neue Idee, sondern als ein letztes Schutzdach, unter dem sich die angeschwollenen Quisquilien der Erziehung noch einmal zusammenstapeln ließen. Er selbst fühlte sich zu einer großen Vereinigungs- und Ordnungstat auch im Hinblick auf die Erziehung nicht mehr kräftig genug, und so blieben diese Gedanken von Ehlers früher Schrift bis zu Zöllners und Stephanis Projekten im Grunde fruchtlos. Es bedurfte der Napoleonischen Siegesfanfaren, der Schlachten von Austerlitz und Jena und des Rheinbunddramas, um eine 5

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Reformzeit und nationale Befreiung

breite Bewegung politischer Handelnsbereitschaft auszulösen und auch dem pädagogischen Denken einen neuen Schvrang und eine Richtung auf konkrete Aufgaben hin zu geben. Die Idee der Nation erhob sich aus der Vielfalt der politischen Gedanken, um sie für mehr als ein Jahrhundert zu beherrschen; zunächst noch ohne das Ziel der staatlichen Konkretion und verquickt mit offensinnigem Weltbürgertum, das man aber nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch in den Grenzen nationaler Eigenart zu Ausdruck und Wirklichkeit glaubte bringen zu können. Die Aufgabe der nationalen Erneuerung brachte die führenden Männer in ihrem Denken und Tun zusammen. Sie alle sind erfaßt von dem Gedanken der philosophischsten Epoche der deutschen Geschichte, bis in ihren amtlichen Schriftverkehr von der Sprache der idealistischen Philosophie bestimmt und doch sehr verschiedenen politischen und auch philosophischen Anschauungen zugehörend. Kants liberales und staats-asketisches Rechtsdenken, historischständische Entwicklungsgedanken nach Moser und Burke, Schellings Lehre vom Staate als einer verwirklichten Idee, als einer Objektivation des Geistigen, in der Freiheit und Notwendigkeit identisch werden — alles dies findet sich in den Gedanken der Reformer und Bildungspolitiker jener Zeit wieder. Keiner von ihnen, den Humboldt, Süvern, Schleiermacher, Nicolovius, Hardenberg, Niethammer oder Thiersch, hat sich einer dieser Konzeptionen gänzlich zugewandt. Alle haben zwischen ihnen gestanden, einmal der einen, einmal der anderen näher. Ihre Äußerungen und Maßnahmen im einzelnen geistesgeschichtlich zu lokalisieren ist mühsame Arbeit monographischer Forschung (i). Was diese Männer besonders in Preußen verband und zu gemeinsamem Werke zusammenschloß — die Vorgänge in Preußen stehen von nun an für das Bildungsdenken und die Schulpolitik in ganz Deutschland Modell — war nicht eine gleiche politische und philosophische Position, sondern einzig die Gemeinsamkeit ihres Erneuerungs- und Bildungspathos, ihr Glaube an die „moralische Wiedergeburt" des Staates und der Nation. Alle haben dabei dem neuhumanistischen Gedanken nahegestanden, daß diese moralische Wiedergeburt beim einzelnen Menschen und dem Aufruf seiner persönlichen, sittlichen Kräfte beginnen müsse und daß die Bildungsweise und das Schulwesen auf diesem Gedanken neu zu begründen seien. Die Pestalozzische Methode hat dabei nicht nur in den Köpfen der Reformer eine große Rolle gespielt,

Fichte

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sondern ist bald als Kernstück einer neuen Nationalerziehung fast in allen Teilen Deutschlands verbreitet worden. Neuhumanismus, Pestalozzianismus und die Schulpolitik der Reformzeit sind darum jetzt auf ihr Verhältnis zur politischen Erziehung hin zu untersuchen. Vorher sollen aber noch zwei Theorien gewürdigt werden, die nicht auf dem Wege der unmittelbaren schulgeschichtlichen Entwicklung liegen, die aber doch zwei historische Modellfälle des politisch-pädagogischen Denkens darstellen und als solche auch in die Folgezeit und bis in die jüngste Geschichte hinein gewirkt haben; es sind die Gedanken Fichtes und des Freiherrn vom Stein. 2. FICHTE

Bei Fichte liegt besonders deutlich zutage, wie die historischen Ereignisse seiner Zeit und das Unglück der Nation zum Kristallisator seiner Erziehungslehre geworden sind, zum unmittelbaren Anlaß seiner „Reden an die deutsche Nation". Diese Reden sind ein Aufruf zum Handeln in historischer Stunde, ein leidenschaftlicher Appell mehr als eine Lehre oder Abhandlung von der Erziehung. Daß sie aber trotz aller Bezogenheit auf den Kampf des Tages und auf die Befreiung der Nation sich nicht an die Eintagskräfte richten, sondern das Unglück begreifen wollen in seinen tiefsten Wurzeln, im Verfall der Sittlichkeit und der inneren Kraft des deutschen Volkes, das macht diese Reden zu einem klassischen Zeugnis der Pädagogik in ihrer Verschränkung mit dem politischen Geschehen der Zeit. Zeitbewußtsein In der Beurteilung des Zeitgeschehens liegt der Ursprung von Fichtes Erziehungstheorie. Über die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" hatte er noch vor der Katastrophe eine Reihe von Vorträgen gehalten (1804/05); hier knüpfte er auch mit seinen „Reden" an. Aber er richtet das zuvor im allgemeinen Entwickelte auf die gegenwärtige Stunde. Wir stehen, so heißt es nun, augenblicklich an einer welthistorischen Wende, am Übergang von der dritten Epoche der Weltgeschichte, dem Zeitalter der Sünde und des Abfalls, zu einer vierten, in der das Leben in der Idee wieder beginnt. Die soeben ablaufende Zeit ist gekennzeichnet durch das Denken der Aufklärung, das sich über die Alltagserfahrungen nicht zu erheben vermag und nach ihnen den 5*

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Reformzeit und nationale Befreiung

ganzen Kosmos bemißt; durch den egoistischen Individualismus zudem, Beglückungslehren anstelle wahrer Religion und durch ein politisches Streben, das den Staat entweder in einem abstrakten Reiche konstruiert oder auf niederste Empirie gründet (2). Heraufzuführen aber ist nun ein Zeitalter der wissenden Vernunft und des Lebens in der Idee. Die Ideen sind für Fichte göttlicher Urgrund, Jenseitiges im Diesseitigen, in Wissenschaft, Staat, Religion und Kunst zum Leben kommend und eigentliches Leben begründend. Daß der Staat bisher und gerade in der Form, welche die Aufklärungszeit ihm zu geben suchte, nicht geraten konnte, das hat eben darin seinen Grund, daß er fern von der Idee errichtet worden war und bestehen sollte „aus der Voraussetzung, jeder wolle sein Wohl, zu dem Zwecke, eben dadurch jeden wider seinen Dank und Willen zu zwingen, das allgemeine Wohl zu befördern" (3). Ob Rousseauscher Vertragsoder aufgeklärter Despotenstaat — so ist das zu verstehen — in jedem Falle ist die Grundlage brüchig und besteht in persönlichen Egoismen und im Wohlfahrtsstreben auf Gegenseitigkeit. Das kann nur anders werden, wenn das Gemeinwesen einen neuen Gehalt bekommt, wenn es sich nicht mehr auf das Privatinteresse der Bürger gründet, sondern eben auf die Idee. Staat E s hätte nun nahegelegen, auf dem dunklen Grund des kritisierten Auf klärungsstaates möglichst hell den „idealen" Staat zu zeichnen. Hier hätte Fichte nur an seine früheren Arbeiten anzuknüpfen brauchen; weniger an seine Revolutionsschrift (1793/95), die mit ihrem individualistischen Liberalismus nur einen Durchgangspunkt darstellt, als an den „geschlossenen Handelsstaat" (1800) und an die Vorlesungen über die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters". Aufgabe des Staates blieb auch in diesen Schriften die Garantie der freien geistigen Entwicklung der Einzelnen, die individuelle Geisteskultur im Sinne des Liberalismus. Der Weg dorthin führt zunächst über die rechtliche, dann aber auch die soziale Gleichheit, die Egalisierung der Bedingungen eines freigeistigen Lebens. Im wirtschaftlichen Egoismus, wie ihn der allgemeine Wettbewerb des freien Handels notwendig mit sich bringt, sah Fichte den Grund des egoistischen Denkens und Handelns überhaupt, die Basis der aufklärerischen Selbstbezogenheit. Hier sollte der Staat ansetzen und eine ausgleichende Rechts- und Wirtschaftsordnung erzwingen, welche

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die soziale Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben und für die freie geistige Entwicklung aller Bürger schafft — „rücksichtsloser Zwang des Staates in den niederen Sphären des Daseins wie Recht und Wirtschaft, um die Freiheit in den oberen Sphären der Kultur zu vertiefen" (4). Auf diesen seinen Zwangsbereich richtet in Fichtes früheren Schriften der Staat sein ganzes Augenmerk. Er folgt damit seinem inneren Gesetz, er zwingt die Bürger auf seinen Weg, nur auf das Recht und die Gleichheit, nicht aber auf ihr Behagen schauend. Indem er allerdings seinem eigenen Gesetze folgt, fördert er — meist ohne sein Wissen — die Zwecke der Menschheit. Hier ist eine höhere Kraft am Werke, von der schon Kant als „Naturabsicht", Hegel später als „List der Vernunft" gesprochen hat; Fichte nennt sie die „Kunst der Natur", die sich den Eigennutz und die rücksichtslosen Ansprüche des Staates zu Diensten macht und mit ihrer Hilfe ihr eigenes Ziel erreicht (5). Den Bürgern gegenüber aber zeigt sich der Staat nur als der Erzwinger seines eigenen Rechts, des Rechts, „den gesamten Überschuß aller Kräfte seiner Staatsbürger ohne Ausnahme für seine Zwecke zu verwenden" (6). Erzieherische Rechte und Pflichten gehören diesem Staate nicht zu. „Die höheren Zweige der Vernunftkultur: Religion, Wissenschaft, Tugend, können nie Zwecke des Staates werden" (7). Um Geistesbildung und Erziehung mag sich der Staat in ferner Zukunft kümmern, wenn er alle seine politischen Aufgaben gelöst haben wird und deshalb überschüssige Kräfte seiner Bürger zur Verfügung hat. Bis dahin aber mögen Wissenschaft und Bildung froh sein, wenn der „totale" — d. h. bei Fichte: nach Vollkommenheit strebende — Staat sie überhaupt duldet. Dies die Staatskonzeption am Vorabend der Napoleonischen Eroberung Deutschlands; man muß sie sich vergegenwärtigen, um auf diesem Hintergrunde um so deutlicher sich abheben zu sehen, was das neue der berühmten „Reden" des Winters 1807/08 ausmacht: der Gedanke der öffentlichen Erziehung und die Idee der Nation (8). Nation

Indem sich Fichte mit seinen beschwörenden Worten „an die deutsche Nation" wendet, entfernt er sich weit von den Vorlesungen über das „gegenwärtige Zeitalter", so sehr die beibe-

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haltene geschichtsphilosophische Konzeption und Fichtes ausdrückliche Anknüpfung an das frühere Werk darüber hinwegtäuschen könnten. Vorher war nur vom Staate die Rede gewesen, und die ganze Gedankenführung trotz mancher Originalität über die Ebene der Staatsliteratur der 90er Jahre nicht hinausgekommen. Nun aber wird alles unter den einen Gedanken der Nation gestellt, der geschichtlichen Geistes- und Kulturgemeinschaft, die hinter und über dem Staate steht und die teilhat am Reiche der Ideen. Die Nation, das ist zunächst das „Volk" im ganzen; d. h. nicht nur gemäß dem damals üblichen Sprachgebrauch das Volk der armen Stände, sondern das Volk jenseits aller Trennungen, „Volk in der höheren Bedeutung des Wortes" als Einheit aller Bürger des Staates. In diesem Sinne sind die Wörter „Volk" und „Nation" (nämlich Staatsnation) schon unter den Zeitgenossen, wenn auch nicht allgemein, in Gebrauch. Bei Fichte aber bedeutet Nation von vornherein mehr, nämlich Gemeinschaft aller Deutschen, und zwar nicht politische — er hat nie an politische Einheit gedacht — sondern ideelle Gemeinschaft, gemeinsame Ausprägimg eines Einmaligen, einer Idee, eines Volksgeistes (wie die historische Schule sagen wird), eines überindividuellen Individuums, — Allgemein-menschliches in besonderer und einmaliger Verwirklichimg. Damit ist sich Fichte bewußt, der Erziehung und dem menschlichen Streben überhaupt ein neues Ziel gesetzt zu haben. Wenn es einem Volke gelänge, die Idee der Nation im Staate zur Geltung zu bringen, sich damit über das Zivilisationsverderben und Machtstreben des politischen Kampfes zu erheben und die dem Menschen innewohnenden idealen und religiösen Kräfte zu wecken, so würde eine neue Epoche nicht nur der Erziehung, sondern der ganzen Geschichte anbrechen. Unter der Führung dieser Nation würde die Menschheit in ein neues, besseres Zeitalter eintreten. Zu solcher welthistorischen Rolle scheint für Fichte die deutsche Nation berufen, da er sie auf Grund einer Reihe von Kriterien — Urtümlichkeit und Symbolkraft der Sprache, Freiheitsglaube und schöpferische Begabung — für diejenige hält, welche die Menschheitsidee am besten verwirklichen kann. Sie zu ihrem Amte zu rufen und ihr den Weg zur Selbsterziehung zu weisen, das ist der mit prophetischem Pathos verkündete Sinn der „Reden an die deutsche Nation".

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Nationalerziehung Durch Erziehung also soll die neue Epoche nationalen und sittlichen Lebens heraufgeführt werden, eine vom Staate veranstaltete Erziehung, die sich in zwei Dingen von aller früheren zu unterscheiden hat: durch ihr Aktivitätsprinzip und durch ihr Hinführen zur Idee. Ihr Aktivitätsprinzip: Der bisherigen Erziehung hatte es an jeder inneren Ordnung gefehlt. Sie hatte Kenntnisse und Stoffe in beliebiger Reihenfolge und nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit aufgedrängt, ohne Rücksicht auf einen eigenen und dem Kinde entsprechenden Zusammenhang. Der Mensch besitzt aber schon als Kind eine natürliche Liebe zu geistiger Ordnung, welche der absoluten Ordnung der Ideen entspricht. Diese natürliche Liebe gilt es zu erhalten, daß das Kind sich mit dem, was ihm geboten wird, eine geordnete geistige Welt, seiner natürlichen inneren Ordnung entsprechend, selber aufbauen kann. Erkenntnis und Bildung wird so ein fortzeugender schöpferischer Akt; alles Erkannte und Gewußte bringt das Kind und der sich bildende Mensch selber hervor. Alles ist nur dann wahres Eigentum, wenn es aktiv ergriffen und im Lernenden neu erschaffen wird. Das sind Gedanken der Fichteschen Wissenschaftslehre, Gedanken aber auch, die in der Pestalozzischen Pädagogik in anderer Sprache entwickelt sind. Fichte hat Pestalozzi seit Ende der 20er Jahre persönlich gekannt, war ihm mindestens seit dem intensiven Zusammensein in Richterswil 1793 freundschaftlich eng verbunden und hat ihm geholfen, sich seiner Lehre von der selbsttätigen Erziehung bewußt zu werden. Er sah in Pestalozzis Erziehungsmethode das schöpferische Erziehungsprinzip schlechthin entwickelt, auf dem die ganze künftige Pädagogik, die neue Nationalerziehung insbesondere, aufzubauen sei (9). Dieses schöpferische Erkennen, Empfinden, Anschauen der pestalozzischen Erziehung ist allerdings nur „Mittel und Vorübung zu dem zweiten wesentlichen Teile derselben, der bürgerlichen und religiösen Erziehung" (10). Bürgerliche und religiöse Erziehung werden in einem Atem genannt und bedeuten gleichermaßen: Wegweisung zum Leben in der Idee, zu den metaphysischen Wurzeln des menschlichen Seins, zur „Liebe, die unmittelbar auf das Gute, schlechtweg als solches und um sein selbst willen gehe" (11). Leben in der Idee heißt für Fichte: in

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den Objektivierungen des Göttlichen, in der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, in dem Volke auch oder der Nation. Während aber der Ideengenuß in der Wissenschaft oder in der Kunst nur wenigen vorbehalten ist, kann am national- und am religiösIdeellen jedermann teilhaben. So eröffnet die bürgerliche und religiöse Erziehung den Weg, auf dem jeder, auch der letzte Mensch dem Reiche der Ideen zugehören kann. Ohne diese Bindung und allein auf sich bezogen ist jeder dem doppelten Tode verfallen: dem Tode der Seele, denn er glaubt an keinen Gott, und dem Tode des Geistes, denn er hat nichts, das ihn über sein zufällig-zeitliches Dasein erhebt. Ist er aber eingeführt in das Ideenreich, hat er teil an der Idee des Nationalen und an der Religion, so hat damit sein Leben Würde gewonnen. Er wird Stück eines in das Ewige hineinragenden Ganzen, tritt damit unter das göttliche Gesetz und erfährt schon im Leben „irdische Ewigkeit". Fichte sagt nun aber nicht, der Mensch müsse zur Nation, sondern: die Nation müsse zum Menschen erzogen werden (12). Das klingt an den liberalen und humanistischen Frühstandpunkt an, meint aber nicht mehr ein Menschentum beliebig freier Entfaltung im Spiel der Kräfte, sondern will sagen, daß das eigentliche Menschsein, nämlich das Leben in der Idee, allen Gliedern der Nation mitgeteilt werden muß. Von der bindungslosen, egoistischen Privatexistenz sollen die Menschen ja gerade fortgeführt werden zum ideell gebundenen und durch diese Bindung im höheren Sinne freien Denken. Die alte humanistische Freiheit mit ihrem Schwanken zwischen gut und böse muß durch die Erziehung gänzlich vernichtet und durch „strenge Notwendigkeit der Entschließungen zum Guten" abgelöst werden. So hat der Staat als der „Gott und seinem Gewissen allein verantwortliche Vormund der Unmündigen.. . das vollkommene Recht, die letzteren zu ihrem Heile zu zwingen" (13) und jene alte individualistische Freiheit unbarmherzig zu vernichten. Natürlich wird solcher Zwang nur vorübergehend bis zur späteren Mündigkeit notwendig sein; „her einen Zwingherrn zur Deutschheit! . . . Nach seinem Tode einen Senat" — so heißt es in politischer Analogie in einem späteren Entwirf (14). Es ist der gefährliche Übergangszwang der Staatsutopisten aller Zeiten, die gleiche Diktatur, die auch im Namen des „Sonnenstaats", im Namen der ,,νοΐοηίέ g6n6rale" oder im Namen des Proletariats gefordert worden ist und die hier von einer aristokratischen

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Schicht der schon Freien ausgeübt werden und mit Hilfe einer zwingenden Erziehung die Demokratie des Rechts und der Freiheit begründen soll. Die Erziehungsrepublik Praktisch fordert Fichte für die Nationalerziehung, sie müsse zunächst für alle Stände die gleiche sein. Das war ja schon im „Handelsstaat" und in den „Grundzügen" ausgeführt worden, daß alles beseitigt werden müsse, was eine Unterlegenheit und damit ein Abhängigkeitsverhältnis eines Teils der Bürger schaffen könne. Auch der Gebildetenstand hat als Stand nur noch eine vorübergehende — wenngleich welthistorische -γ Funktion, nämlich die Nationalerziehung in die Wege zu leiten. Künftig wird dann auch seine Sonderstellung ein Ende finden und die Bildung allen Menschen gleichermaßen zuteil werden können (15). Die neue Erziehung muß ferner -dwstaftserziehung sein. Denn in der Berührung mit der gegenwärtigen Welt der Erwachsenen ist ein Neuanfang nicht möglich. Die Kinder müssen herausgenommen werden „aus unserem verpesteten Dunstkreise" und in einer Gesellschaft idealen Geistes und hohen Verantwortungsbewußtseins so lange aufwachsen, „bis sie unser ganzes Verderben gehörig verabscheuen gelernt haben und vor aller Ansteckung dadurch völlig gesichert sind" (16). Sind einmal nur noch Generationen am Leben, welche die neue Erziehung durchgangen haben, so wird zu erwägen sein, welcher Teil der Nationalerziehung der Familie zurückgegeben werden kann — das wird davon abhängen, ob der „Druck, die Angst um das tägliche Auskommen, die kleinliche Genauigkeit und Gewinnsucht" des gegenwärtigen Familienalltags in der neuen Welt gänzlich weichen, d. h. ob auch die wirtschaftlich-utopischen Hoffnungen des „Handelsstaats" in Erfüllung gehen werden. Aber auch für den Fall scheint Fichte daran gedacht zu haben, für das Schulalter die Jugendgemeinschaften beizubehalten. Denn hier sollen die Zöglinge nicht nur abgesondert sein, sondern selbst ein Gemeinwesen bilden, „das seine genau bestimmte, in der Natur der Dinge gegründete und von der Vernunft durchaus geforderte Verfassung habe" (17). Hier hat das Kind eine Gemeinde mit zu schaffen, hier wird es gemäß seinen Fähigkeiten veranlaßt, anderen zu helfen, Aufsichten zu übernehmen, Verbesserungen einzuleiten, also Pflichten und Verantwortungen einer sich selbst regierenden Körperschaft mit zu tragen.

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Damit unterscheidet sich Fichte grundlegend von dem ganz auf Familienerziehung bauenden Pestalozzi. In Auseinandersetzung mit ihm entwickelt er auch die Einzelzüge seiner Erziehungsrepublik. „Ein Haupterfordernis dieser neuen Nationalerziehung ist es, daß in ihr Lernen und Arbeiten vereinigt sei", ferner daß die Erziehungsrepublik auch ökonomisch ein Abbild des ganzen Staatswesens gebe, daß sie also versuche (oder jedenfalls gegenüber den Zöglingen den Anschein erhalte), wirtschaftlich und mit ihren Arbeitskräften autark zu sein. Die lebensnotwendigen Grundarbeiten stehen im Vordergrund der Ausbildung: Acker- und Gartenbau, Viehzucht und die wichtigsten Handwerke, die ein Gemeinwesen zu seiner Selbsterhaltung braucht. Damit soll einmal die Mehrzahl der Bürger für ihre Lebensbestimmung, die Handarbeit, ausgebildet werden, zum andern jedermann das Bewußtsein bekommen, sich durch Handarbeit sein Brot verdienen zu können, worin alle freie Gesinnung und aufrechte Lebensführung ihr Rückgrat habe. Schließlich liegt darin die Hochachtung des Pragmatikers — und Fichtes Lebensphilosophie trägt pragmatische Züge (18) — vor der Werkarbeit als der Arbeit schlechthin, ein Gedanke, der Fichte z. B. mit Georg Kerschensteiner verbindet. Das Leitprinzip der Selbsttätigkeit soll aber nicht nur in der manuellen Arbeit oder in gymnastischen Übungen zur Geltung kommen, sondern auch im Unterricht, der ein engagierter Unterricht sein muß. Verfassungslehre, Bürger- und Rechtskunde führen den Schüler zur Idee des Gemeinwesens hin. Und der Geschichtsunterricht, der vor allem in die großen Zeiten deutscher Freiheit, der germanischen Abwehr römischen Vordringens und der Freiheiten des mittelalterlichen Stadtbürgertums einführt, begeistert ihn für die nationalen Aufgaben. So steht auch der Unterricht neben seinen religiösen Motiven unter dem einen Leitgedanken der Erziehung zur Idee der Nation. Die Bedeutung der „Reden" für die Geschichte und das Problem der politischen Erziehung Schülermitverantwortung und -Selbstverwaltung, Arbeitserziehung, bürgerkundlicher Unterricht, Leibesertüchtigung und Nationalgeschichte — das ist ein Programm, welches noch 100 Jahre später aktuell schien und von einem Fichtejünger als die letzte Weisheit der politischen Erziehung verkündet wurde (19). So nahe jedoch Fichtes Plan neuzeitlichen Vorschlägen für die poli-

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tische Erziehung kommt, so wenig ist doch das, was wir heute als das spezifisch Politische ansehen müssen, in den „Reden" überhaupt berührt. Die Reden fordern eine Gesamterneuerung Deutschlands. Sie wollen hinwegführen von der bisherigen politisch-moralischen Wirklichkeit und sie gänzlich umformen im idealistischen Sinne. Die unüberwindbare Realität jeder politischen wie pädagogischen Situation, wie sie schon Pestalozzi leidend erschaut hat, die ständige Spannung zwischen dem Geist und der Wirklichkeit, die sie dem handelnden Politiker und mitverantwortlichen Bürger wie auf der anderen Seite auch jedem Erzieher bringt, — kurz das eigentliche sittliche Problem des Politischen wie des Pädagogischen hat Fichte nicht gesehen. Seit jenen historischen Stunden in Berlin und mehr noch seit dem Tode Fichtes sind die Reden das Ziel begeisterter Zustimmung und heftigster Anfeindung gewesen (20). Zukunftsstark war sein Versuch, die Völker als Persönlichkeiten eigener Art und individuellen Wertes, als je besonderen „Spiegel der Gottheit" anzusehen (21). Geglückt ist ihm dieser Versuch nur halb, da er dann doch einen Maßstab fand, welchen er gleichmäßig an alle Nationen legte und welcher der eigenen Nation den absoluten Vorrang und die welterzieherische Rolle zuteilte. Der Gedanke der nationalen Individualität, den Fichte als einer der ersten ins Bewußtsein rief und der sich seither auf mannigfache Weise fruchtbar gezeigt hat, hat sich durch diese Bewertung schon in seiner Entstehungszeit eine Fracht unheilvollen Chauvinismus' aufgeladen, die seither hygroskopisch schwerer geworden ist und in unseren Tagen fast das ganze Schiff des Nationaldenkens zum Sinken gebracht hätte. Umstritten blieb ferner die optimistische Erwartung der Fichteschen Pädagogik, mit einer richtigen Methode alle Menschen zum gleichen, absoluten Erziehungserfolg führen zu können, — ein Methoden-Optimismus, den die Pädagogik seit Ratke und Comenius kennt, der bei Fichte zwar eine ganz andere Gestalt annahm als bei jenen Barockrationalisten, aber schon im Denken der eigenen Generation, in der romantischen und humanistischen Individualitätsidee, auf schweren Widerstand stieß. Von bleibender Bedeutung war der Gedanke der schöpferischen Selbsttätigkeit ebenso wie der der sozialen Erziehungsgemeinschaft. Beide waren schon vor Fichte ausgesprochen worden, durch ihn aber haben sie ihr Gewicht bekommen und haben die bis heute währende Diskussion um die Begriffe der Arbeits- und

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der Einheitsschule in Gang gesetzt. Direkten Einfluß haben die Reden auf den Einzug des Pestalozzianismus in Preußen und auf den bedeutenden Unterrichtsgesetzentwurf des Fichteaners Süvern gehabt (22). Noch nicht zur Geltung gekommen ist bis heute das, was Fichte über den Vorrang von geistig-sittlicher gegenüber technisch-praktischer Erziehung gerade im Hinblick auf Wehrkraft und Wehrwillen sagt. Bleiben muß schließlich auch von Fichtes idealistischem Ansatz die Einsicht in die große Aufgabe aller Erziehung, über die Flachheit des Alltags- und Realdenkens hinwegzukommen und den Sinn für das zu wecken, was aus der Ebene der Nützlichkeit und Rationalität lotrecht hinausweist.

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Moser und Rehberg Schon in seiner Jugendschrift über die französische Revolution hatte Fichte sich auseinandersetzen müssen mit einer geistesgeschichtlichen Bewegung, die das Politische ganz anders auffaßte als die Kantianer und als die nationalidealistische Philosophie. Montesquieu und Herder waren die Autoritäten in diesem Kreise, Burkes „Reflections on the revolution in France" sein aktuellstes Buch. Auf diesem Wege ist das individualisierende historische Bewußtsein und die Lehre vom Volksgeist in das politische Denken eingeführt worden. Hier wurde der Mensch als ein geschichtliches Wesen respektiert und für alle Veränderungen und Reformen ein organisches Wachstum aus dem Gewordenen und Bestehenden verlangt. August Wilhelm Rehbergs „Untersuchungen über die französische Revolution" haben mit ihrer Verteidigung des historisch Gewachsenen gegen den egalitären Utopismus der Revolutionäre Fichtes Frühschrift provoziert (23). Schon Justus Moser, der Lehrer Rehbergs, hatte in dieser Richtung auch Vorschläge zur politischen Erziehung gemacht und sein breites publizistisches Wirken der historisch-politischen Information und der Erziehung zur Mitarbeit am Staate gewidmet (24). Nicht eine Generation — so heißt es bei Moser und Rehberg — darf in der Überheblichkeit des Augenblicks den Staat von Grund auf neu erbauen wollen. Er ist das Werk zahlloser Geschlechter, deren Geist und Willen sich in den politischen Formen niedergeschlagen haben, zu dem das lebende Geschlecht zwar seinen erneuernden Beitrag

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geben, das es aber nicht zugrunde richten darf. Rehberg streitet dabei — besonders in seiner „Prüfung der Erziehungskunst" (1792) — ebenso gegen die Aufklärung, voran gegen Campe und seinen Revisionistenkreis, gegen die „Einseitigkeit, Engherzigkeit und Flachheit" ihrer Zweckpädagogik — wie auch gegen die Literatur des Sturm und Drang und die Genie-Verehrung von Rousseau und Goethe. In einer ungewöhnlichen Zusammenstellung sieht er die beiden gegnerischen Strömungen, den naturrechtlichen Rationalismus und den frühromantischen Leidenschaftskult, als eine Geistesbewegung an. Beide geben dem gegenwärtigen Menschen volle Autonomie, machen ihn zur Mitte der Weltgeschichte und leihen ihm das Recht, die Welt nach seinem Verstände oder Herzen einzurichten. Auch die Berufung auf ein „ursprüngliches Recht", auf einen in die Vorgeschichte zurückverlegten Anfangszustand, sieht er als einen solchen Willkürakt der gegenwärtigen Generation und als eine Verachtung der geschichtlichen Wirklichkeit an (25). „Es ist ein gefährlicher Irrtum, wenn viele Moralisten und Politiker meinen, die freie und bloß natürliche Entwicklung des Gefühls sei dazu hinlänglich, daß jeder selbst entdecke und einsehe, was sich für ihn ziemt". Darum müssen die „Verpflichtungen, welche aus den Verhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft entspringen . . . , den Menschen gelehrt werden" (26); gelehrt, überliefert, beigebracht, im Gegensatz zur aufklärenden Erziehung, die nur ins Bewußtsein ruft, was in jedem Menschen liegt. Gerade im Bereich des Politischen genügt keine formale Anregung, sondern geht es um ganz konkrete Inhalte. „Die bürgerliche Gesellschaft, ihre Einrichtungen, ihre Gesetze, die dadurch bestimmten Verhältnisse der Menschen in ihr, sind Erfindungen des menschlichen Verstandes; geheiligt nicht durch das ursprüngliche Gesetz der Vernunft — geheiligt durch die Erfahrung der Jahrhunderte, in denen die bürgerlichen Einrichtungen und Verhältnisse sich allmählich gebildet, und durch die sittliche Bande, die sie jedem Einzelnen, der in ihr geboren ward, auflegt" (27). Daß der berühmte Rousseau sein pädagogisches Hauptwerk an die Erfindung eines künstlichen, ungeschichtlichen und unsozialen Menschen verschwendet habe, das habe dem Zeitalter vor allem andern unendlich geschadet (28). Was also nach Rehberg die Erziehung zuvorderst bringen muß, ist die Einsicht in die historische Bedingtheit der Gegenwart, in die bestehende politische Ordnung und in die Pflichten des

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eigenen Standes — ohne daß sie damit zur philanthropischen Standes- und Nutzerziehung herabsinken darf. Von einem möglichen Zusammenhang seiner Erziehungsvorschläge mit der gleichzeitig von ihm befürworteten Selbstverwaltung ist bei ihm noch keine Rede. Ihm ist die Selbstverwaltung die wirksamste Wahrerin lokaler Eigenart und Ausdruck des konservativen, unzentralistischen Ständestaats; eine volkserzieherische Aufgabe hat sie nicht. Darin unterscheidet er sich von dem ihm persönlich und geistig sonst so nahestehenden Freiherrn vom Stein (29). Steins erziehende Selbstverwaltung Das Lebenswerk des Freiherrn vom Stein läßt sich im ganzen vielleicht nur aus seinen volkserzieherischen Antrieben deuten; ohne das eigentümliche pädagogische und moralische Pathos ist das Handeln dieses Mannes nicht zu denken, und in der Geschichte der Erziehung gebührt ihm ebenso wie in der allgemeinen politischen Geschichte ein Ehrenplatz. Dennoch ist er von pädagogischer Seite noch nicht recht gewürdigt worden (30). Das liegt einmal daran, daß er sich nie über die Volkserziehung systematisch geäußert, weder eine philosophische Fundierung noch eine sachliche Ausarbeitung seiner Grundsätze unternommen hat; zum anderen daran, daß überhaupt die historische Persönlichkeit Steins, seine geistige und politische Haltung, in der sich traditionelle und feudale Elemente mit liberalem Mut zur Erneuerung vielfach überschneiden, lange iimstritten blieb. Endlich hat den Pädagogen wohl die Sympathie gefehlt, die nötig ist, um aus dem zeitgeschichtlich Gebundenen im Werke Steins herauszusieben, was Bestand und gegenwärtiges Interesse haben mag. An dieser Stelle kann aus den Hauptgedanken des Freiherrn und aus seinen zerstreuten Äußerungen über Erziehungsfragen nur die Selbstdeutung seiner pädagogischen Bestrebungen herausgehoben werden. Zuvorderst steht natürlich der eine große und schöpferische Gedanke, durch den Stein das öffentliche Leben in Deutschland bereichert und bis heute mitgeformt hat: der Gedanke der erziehenden Selbstverwaltung. Zwar sind es auch praktisch-politische Erwägungen, aus denen dieser Gedanke erwachsen ist. Der zentralistische Staat Friedrichs war zusammengebrochen ;ein Neubau mußte auch organisatorisch andere Wege gehen, neue Hilfskräfte suchen, finanzielle Mittel sparen. Aber solche neuen Formen haben nur Sinn — und dort hebt Steins erzieherisches

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Denken an — wenn mit ihnen eine geistige und charakterliche Erneuerung Hand in Hand geht. So wie die Ursache eines solchen Zusammenbruchs nur in moralischer Schwäche liegen kann, „in der gesunkenen Moralität der Nation und der Schlaffheit, Trägheit... der Regierung", so kann auch nur durch die Aktivierung neuer sittlicher Kräfte die Krise überwunden werden. Die politische Selbstverwaltung schafft die Grundlage dafür. Dadurch daß die Menschen in lokalen und höheren Verwaltungsaufgaben eine verantwortliche öffentliche Tätigkeit erhalten, werden sie „vom müßigen sinnlichen Genuß . . . oder von Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke" abgelenkt und erhalten eine „Richtung auf das Gemeinnützige" hin (Nassauer Denkschrift). „Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinnes, die Benutzung der schlafenden und falschgeleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre — ein lebendiger, fest strebender, schaffender Geist anstelle von Formenkram und Dienstmechanism, ein aus der Fülle der Natur genommener Reichtum von Ansichten und Gefühlen" — das alles sind die moralischen und erzieherischen Folgen, die aus der Neuform der politischen Verwaltung erwachsen können (31). So sind es weniger der Staat und das politische Leben selbst, welche Ziel dieser Pläne und Maßnahmen wären, als vielmehr das öfEentlich-politische Handeln als Übungs- und Bewährungsfeld sozialer Sittlichkeit. Nicht auf treue Staatsbürger, sondern auf verantwortungsbereite Charaktere, auf öffentlichen Gemeingeist anstelle des bürgerlichen Eigennutzes zielt diese Erziehung ab. Daher auch Steins Abneigung gegen die aufgeklärt-absoluten Fürsten, gegen Friedrich d. Gr. zumal. Friedrich war für diesen Zusammenhang völlig blind. Er hat das eine — die Macht des Staates — heben wollen, ohne das andere — die sittliche Selbständigkeit der Bürger — mit zu stärken; ja eigentlich auf Kosten dieses anderen, das unter seinem absoluten und bürokratischen Regiment verkümmern mußte. „Die Nation werde erzogen, nach ihrer Individualität veredelt, nicht unterdrückt und in ihr verhaßte Formen von zweideutiger Güte eingezwängt" (32). Freilich: ein hastiges Überschütten bisheriger Untertanen mit Verantwortungen, für die sie nicht bereitet sind, würde den erzieherischen Dienst nicht tun. Die Menschen müssen Schritt um

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Schritt gewöhnt werden, selbständig zu handeln, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und schließlich auch in größerem Kreise zu wirken. Aber diese Notwendigkeit des Emporgeführtwerdens gilt für alle, und es geht nicht an, die mangelnde Bildung eines Volkes vorzuschützen, um es weiter unterdrückt zu halten und ihm den Weg zur Selbständigkeit zu versperren. Was heute an vielen Stellen in der Welt die Kolonialprobleme sind, das war für das Preußen der Reformzeit die Frage, wie mit den polnischen Landesteilen zu verfahren sei. Hier hat Stein mit aller Entschiedenheit jeden Vorwand zurückgewiesen, einem Volke seinen Anspruch auf Eigenart, Emporbildung und Selbständigkeit zu versagen. Mit dem schlechten Charakter, den man den Polen vorzuwerfen pflege, lasse sich nicht argumentieren; „ihn zu verbessern sei. . . Gegenstand der Bemühungen des Erziehers und Regenten" (33). Jugenderziehung Selbstverwaltung und Jugenderziehung sind für Stein wie zwei Halbkugeln, zwei sich ergänzende Bereiche einer gemeinsamen Aufgabe. „Was Erziehungsanstalten für die Jugend, das ist Teilnahme an staatlichen Angelegenheiten für die Älteren" (34). Die Selbstverwaltung allein bleibt in ihrer Wirkung begrenzt, solange sie nur die gegenwärtige Generation erreicht; „wichtiger ist es, die Kräfte des folgenden Geschlechts zu entwickeln. Dieses würde vorzüglich geschehen durch Anwendung der Pestalozzischen Methode, die die Selbsttätigkeit des Geistes erhöht, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle des Menschen erregt, das Leben in der Idee befördert und den Hang zum Leben im Genuß mindert und ihm entgegenwirkt" (35). Stein hat sicher in Pestalozzis Schriften gelesen und natürlich besonders den Roman „Lienhard und Gertrud" gekannt so wie das ganze gebildete Deutschland seiner Zeit. Daß er allerdings die Schriften seit 1797, besonders die „Nachforschungen", selber studiert hat, in denen erst die Politik, die Lehre von der „Selbsttätigkeit" und das Prinzip der „Methode" entwickelt werden und auf die er doch anzuspielen scheint in dem zitierten Satze, ist nicht nachzuweisen und nicht einmal sehr wahrscheinlich (36). E s bedurfte auch einer eigenen Lektüre der Formulierungen Pestalozzis nicht. Im Freundeskreise Steins ist immer wieder von Pestalozzi die Rede gewesen. Und Nicolovius, der enge Freund Pestalozzis, Empfänger seiner tiefsinnigsten Briefe und designierter „Erbe" seines Le-

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benswerkes, war seit der Königsberger Zeit auch dem Freiherm eng verbunden und steter Gast in seinem Hause. Und doch ist es wohl mehr eine Verwandtschaft und Parallelität des Denkens als eine Beeinflussung durch die Gedanken des Schweizer Pädagogen. Von den Männern der preußischen Reformzeit, die sich fast alle mit Pestalozzi beschäftigt haben, steht Stein seiner eigentlichen Intention am nächsten. Es ist das „Volk" Pestalozzis, dem auch Stein die Hauptaufmerksamkeit zuwendet, weniger die gymnasiale oder akademische Jugend. Das intellektuelle Bürgertum seiner Zeit sieht er vom Geiste der Aufklärung auf der einen, von der Spekulation der idealistischen Philosophie auf der anderen Seite durchsetzt; beides ist ihm gleichermaßen verhaßt. Nur von den breiten Schichten des Volkes könne man darum ausgehen bei dem Erziehungswerk. Sie und ihre Jugend gelte es zu fassen, ihre Geisteskräfte „durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode" zu entwickeln und in ihnen „jedes edle Lebensprinzip" zu stärken. Pestalozzischen Gedankengängen sehr ähnlich ist ferner das, was Stein über die Anknüpfimg aller politischen Mitarbeit an die persönlichen Interessen, an Besitz, Ort, Familie und Fähigkeiten sagt. Auf die „Lage" Pestalozzis will auch er alle Erziehung aufbauen. Ebensowenig wie bei Pestalozzi ist damit ein nur konservatives Prinzip und eine Milieu-Pädagogik gemeint. Es steckt vielmehr die Einsicht darin, daß weder Politik noch Erziehung einen neuen Menschen schaffen oder überhaupt absehen können von der Wirklichkeit, von den persönlichen und sozialen Kräften, die das Leben bestimmen, daß vielmehr Politik und Erziehimg innerhalb dieser Kräfte und sie nutzend sich durchsetzen müssen. Hier wird der meilenweite Unterschied zu Fichtes Nationalerziehung deutlich. Fichtes „Nation" ist eine durch Zwangserziehung und staatliche Gewalt zu errichtende Zukunftsgesellschaft. Pestalozzis Gedanken sollen dafür nur die Methode liefern, das Mittel, den Menschen der Zukunft zu schaffen. Wie weit ist er damit vom eigentlichen Pestalozzi entfernt, für den doch alle Erziehung im Hause, in der Familie ihren Schwerpunkt hat und der will, daß Herzensbindung und Familiengeist in den Staat eingehen, daß wir in unserer „Lage" Menschen werden müssen, bevor wir Staaten bilden können (37). Ganz ähnlich auch der Freiherr vom Stein: Alle seine Reformen wollen nicht die Gesellschaft umkehren, sondern die Lage der unteren Stände verbessern, den einzelnen von seiner Situation aus zu einer Teil6 Flitner

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habe am Gemeinwesen führen. Nicht daß der Besitzlose mit politischen Rechten überhäuft werde, möchte er erreichen, sondern daß alle zu einem eigenen Besitz gelangen und damit Unpolitisches Verantwortungsgefühl ein Fundament bekommt (38). Nicht daß die Menschheit selbst sich ändern werde, ist seine Hoffnung, sondern daß von den Menschen, wie sie in ihrem Alltag und in ihrer Begrenzung sind, die guten Kräfte zum allgemeinen Besten tätig werden. Wenn in diesem Zusammenhang von der Entwicklung kriegerischer Fähigkeiten und dem Bekämpfen unkriegerischer Gesinnung gesprochen wird, wenn über Frankreich manche haßerfüllte Äußerung fällt, so muß man sich vergegenwärtigen, daß diese Worte aus der Zeit größter vaterländischer Not stammen, in der die Befreiung des Landes das nächste Ziel auch aller Erziehung bildete und in der das Erwachen nationalen Bewußtseins und die Bildimg der Persönlichkeit den Reformern als eine untrennbare Sache galt. Das übereinstimmende politische Ziel ist es wohl auch, was das Gefühl der Gemeinsamkeit zwischen Stein und den neuhumanistischen Schulreformern hat überwiegen lassen. Stein selbst hat ja Süverns und Humboldts Berufung empfohlen. Und noch in seiner Brünner Denkschrift vom Jahre 1810 drückt er die Hoffnung aus, auch Österreich möge einen so vorzüglichen Mann wie Humboldt zur Leitung seines Erziehungswesens berufen, damit beide zusammen Geist und Charakter der deutschen Nation wohltätig beeinflussen und Erziehung und Politik zu gemeinsamer Wirkung zusammenführen könnten (39). Im Grunde hat aber unter der Leitung der Neuhumanisten das deutsche Schulwesen eine ganz andere Richtimg eingeschlagen, als Stein ihm hatte geben wollen. Humboldts und Süverns Pläne zur Nationalerziehung gehen, wenngleich sie die Pestalozzi-Volksschule mit aufnehmen, vom humanistischen Gymnasium aus und von der Idee der Wissenschaften, von der klassisch-philologischen als der eigentlichen Bildung. Man erinnere sich der hohen Bedeutung des „Genusses" für Humboldt, dieses Inbegriffes ästhetischer Empfänglichkeit für Geistiges und Schönes. Stein spricht vom Genuß nur feindselig und richtend. Nicht die Schärfe der Rezeptivität und die harmonisch-allseitige Entfaltung der deutschen Klassiker und Neuhumanisten liegt ihm im Sinn. Für ihn bleibt alle Erziehung auf praktische Sittlichkeit bezogen, auf Bewährung im öffentlichen Alltag, auf „Gemeingeist", „Bürgersinn" und „Hebung der Religion".

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Die beiden Ordres, die Stein in Schulfragen erlassen hat (40), bringen diese Gedanken zum Ausdruck. Sie fordern, „daß ein jeder das Nötige wisse und könne . . d a ß er seinen Beruf liebe, daß er ihn mit Ausdauer und Eifer treibe; nicht für sich, sondern mit eigener Aufopferung vorzüglich für das Beste der Gesellschaft, welcher er als Staats- und Weltbürger angehört. Gehöriges Wissen und Können, kräftiges Wollen, Bürgersinn und Religiosität sind es also, worauf die Schulen hinwirken müssen"; auf Empfindung ferner, auf Anschauung, Gefühl und Körperbeherrschung statt auf ästhetisierende Vielwisserei. Die Pestalozzischen Grundsätze werden auch hier wieder als wegweisend genannt. Bildungswert der Geschichte Über Einzelfragen der Schulführung und des Unterrichts hat Stein sich nicht geäußert und sie den Erfahrungen der Pädagogen überlassen. Nur von einem, Lehrbereich hat er die Bedeutung und Aufgabe näher erörtert: von der Geschichte. Er will sie ausgesprochen pragmatisch behandelt wissen, als Vaterlandsgeschichte zunächst, als Panorama der großen Taten im Kriege, in der Wissenschaft und der Staatsverwaltung, welche in der Jugend die Liebe zum Vaterland entzünden. Als antike Geschichte sodann, wie sie sich in der Lektüre der alten Autoren, der Historiker und Biographen präsentiert. Vor allem Plutarchs Heldenleben werden dem Studium empfohlen, denn an den Bildern großer Menschen werde sich die Jugend aufrichten und den Willen stärken für die hohen Opfer und Prüfungen, zu denen sie gegenwärtig aufgerufen sei (41). Aber auch als Weftgeschichte in ihrem Gesamtverlauf soll sie ein jeder Gebildete kennen: eine Forderung, die dem Goetheschen „Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben . . . " nahekommt. Die Weltgeschichte ist das große Lehrfeld "von Höhe und Tiefe des Menschen. Was Edelmut und Größe schafft und was „Trägheit, Sinnlichkeit und Gemeinheit oder verkehrte Anwendung großer Kräfte zerstört", das stellt sie dem Betrachter vor Augen. Hier erfährt der Mensch, wie es mit dem Menschen zugeht und wird davor bewahrt, sich durch Spekulation und metaphysisches Geschwätz ein Zerrbild vom Mitmenschen zu machen. Die spekulative Philosophie ist überhaupt der Gegenpol zur Geschichte in Steins Bildungskonzeption. Und hier wird noch 6»

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einmal der weite Abstand zu Fichte sichtbar. ^Den philosophischen Idealismus und seine Metaphysik sieht j Stein als einen Fehlweg des Denkens an, als ein Abirren von der Wirklichkeit, ja fast als einen „ideologischen Überbau", wie es spätere Zeiten formulieren sollten. Die deutsche Nation, von allen öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen und durch eine Bürokratie regiert, sei dadurch zum Handeln verdorben worden und verurteilt, Spekulation und Metaphysik mit solchem Ernst zu betreiben (42). Durch die Geschichte jedoch könne sie der Wirklichkeit wieder zugeführt werden; sie sei das fruchtbarste Bildungselement für jeden, der sich öffentlichen und nützlichen Dingen widmen wolle. Neben der Geschichte werden nur noch die englische Sprache und Literatur empfohlen, die aber nur wiederum der Erweiterung des geschichtlichen Horizontes dienen. In der englischen historischen Literatur herrsche „am meisten Sittlichkeit, Gemeingeist und gründliche Kenntnis der Fundamente der bürgerlichen Ordnung". Hier trete die Geschichte viel offener und wirklicher zutage als anderswo. Denn die freie, repräsentative Verfassimg und das öffentliche Austragen lege alle politischen Dinge viel deutlicher bloß. Das mache den besonderen Wert der englischen Geschichte aus und bedinge auch die Pflege der englischen Sprache (43). In seiner pragmatischen Auffassung der Geschichte denkt Stein offenbar weniger daran, daß in der historischen Darstellung durch richtige Auswahl lehrhaft und moralisierend pointiert werden soll, als daß die Geschichte durch sich selbst moralisch belehrt. Das zeigen seine Worte über die englische Geschichte: Je öffentlicher die politischen Geschehnisse verhandelt werden und je klarer der historische Verlauf vor aller Augen liegt, um so deutlicher werden auch die der Geschichte innewohnenden sittlichen und erzieherischen Kräfte wirksam sein. Solche Kräfte bewähren sich natürlich nicht allein an der Jugend, sondern an jedem Menschen. Sie müssen darum nicht nur für die Schule, sondern für die ganze nationale Volkserziehung fruchtbar gemacht werden. In diesen Erwägungen liegt wohl der wichtigste Antrieb zu der großen Publikation historischer Quellen, die Stein ins Leben gerufen hat: den Monumenta Germaniae historica. Wenn das Unternehmen lange Zeit aufs schärfste bekämpft worden ist, so haben seine Gegner sehr wohl die politisch-pädagogischen Absichten seines Begründers gespürt: daß nämlich die Besinnung

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auf die großen Taten der Geschichte und auf die Freiheit vergangener Zeiten Kräfte wecken sollte, die sich mit der wieder einziehenden Vielregiererei und Restauration der 20er Jahre nicht wohl vertrugen. Wenn man Stein bei diesen Anfeindungen jedoch mit den „Demokraten und Jakobinern" zusammenstellt, so hat man seinen Liberalismus völlig falsch interpretiert. Die naturrechtlich-egalitäre Doktrin ist ja gerade ««historisch, „im Hirn erzeugt, in der Luft gegründet", während sein Werk zu den echten geschichtlichen Kräften hinführen und der „revolutionären Schule" — ebenso wie dem ungeschichtlichen Absolutismus — entgegenwirken will (44). Erziehung der öffentlichen Meinung Neben der Geschichtslehre sollen Literatur und Presse in den Dienst der inneren Volkserneuerung treten. Während aber die Geschichte durch sich selbst belehrt, d. h. nur in ihrem tatsächlichen Verlauf erforscht und ins Bewußtsein gerufen werden muß, gibt es für Literatur und Publizistik nicht einen solchen im Faktischen liegenden Wahrheitsgrund. Sie dürfen also nicht ihrem freien Lauf überlassen, sondern müssen zum Guten geleitet werden, da sie selbst sonst zum Bösen leiten könnten. Zwax gehen hier die Termini durcheinander, und auch die Sache selbst bleibt letztlich ungeklärt: einmal ist für Stein die öffentliche Meinung ein an sich Bestehendes, dessen Kräfte nur nutzbar gemacht werden müssen; eine gute Macht, der man nur ihren gehörigen Raum zu schaffen braucht, ähnlich wie dem „Volksgeist" der Denker der historischen Schule. Ein andermal aber ist sie eine Kraft ohne Richtung, die gelenkt, geformt, beeinflußt werden muß, um das Rechte zu wirken; in diesem Sinne wird sie auch mit dem „Zeitgeist" gleichgesetzt, der ohne starke Zügel auf den gefährlichsten Wegen trottet und vor Ausbrüchen wie der französischen Revolution nie gesichert ist (45). Dieser Widerspruch in den einzelnen Formulierungen läßt sich durch Betrachten der Gesamtauffassung Steins jedenfalls teilweise auflösen. In seinem pädagogischen Optimismus — wir sehen hier ab von dem resignierten Altersstandpunkt — hält er die öffentliche Meinung und den unverderbten Geist der Nation für gut. Das ursprüngliche Volk ist starken und lauteren Sinnes. Doch haben die Mächte der Zeit in den letzten Generationen diesen Zustand getrübt: einmal der Absolutismus, der zu knechtischem Gehorsam und Untertanengeist erzog und die öffentliche Meinung im politischen Bereiche

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verfälschte; zum andern die aufklärerische Freigeisterei, die den zuvor allgemein religiösen Sinn verdarb. Aus diesem Verderben kann der Zeitgeist sich nicht selbst befreien, kann nicht das freie Spiel der Meinungen herausführen. Wenn also bei Stein von der Lenkung der öffentlichen Meinung die Rede ist, so bedeutet das vor allem: in der gegenwärtigen Stunde müsse den schlimmen Einflüssen des Zeitgeistes bewußt und energisch entgegengearbeitet, von den Regierungen die Erziehung und die Literatur in die Hand genommen und dem Verderben Einhalt geboten werden. Für den Deutschen mit seiner Leselust sei besonders die Literatur ein Erziehungsfaktor ohnegleichen. Durch Prämien solle man nützliche Bücher fördern, Lehrer und Professoren zu publizistischer Tätigkeit anhalten und den Einfluß, den die Gelehrten und Schriftsteller auf die öffentliche Meinung in Deutschland haben, benutzen (46). Auch die Presse müsse in gewissem Maße gelenkt und beaufsichtigt sein. In einer freien politischen Verfassung, in der alle Dinge öffentlich verhandelt werden und jeder die Möglichkeit habe, die Berichte zu kontrollieren, sei eine freie Presse zu wünschen. Ohne eine solche Repräsentativ-Verfassung jedoch würde bei bestehender Rede- und Preßfreiheit die öffentliche Meinung nur gewissenlosen Pamphletisten ausgeliefert. Bis zu dem freien und reifen Zustand des Verfassungsstaates also bleibe auch die Presse ein Lenkungsmittel des Staates unter seiner Kontrolle und Verwendung. Das gleiche gelte für die Redefreiheit und für die Lehrfreiheit auf den Universitäten; vorläufig sei ihre Beschränkung angebracht — künftige Zeiten mögen dieses Steuers entbehren können (47). So mischt sich Altes und Neues im Erziehungsdenken Steins. Er hat seine Vorschläge zur politischen Volkserziehung einmal mit den Vorteilen der Bell-Lancaster-Methode des gegenseitigen Unterrichts verglichen. So wie man dort die Schüler selbst mit zu Lehrern mache und damit ein ganzes „Schulmeisterheer" erspare, so müsse man auch das Beamtenheer ersparen, dem Bürger Vertrauen schenken und ihn seine Angelegenheiten nacheinander selbst in die Hand nehmen lassen (48). Aber auch in der BellLancaster-Schule braucht man einen Lehrer, der die Hilfslehrer lehrt und führt. So braucht auch die Selbstverwaltung und politische Volkserziehung den erziehenden Staat und führende Schichten. Hier hat der Reichsritter Stein die historischen Stände als die berufenen Erzieher angesehen und die jüngere Schicht des Staatsbeamtentums nicht gelten lassen wollen. Am Beamtentum ist auch

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die Auswirkung der Steinschen Ideen letzthin gescheitert. Hier stand die bedeutendste Erziehungsleistung des preußischen Staates, die berufspolitische Bildung der Staatsbeamten, gegen den neuen, großen Versuch politischer Volksbildung. Die erste behielt den Sieg. Die Fortschrittlichkeit und Überlegenheit des Beamtentums im 19. Jahrhundert wurde mit zum Anlaß für die politische Stagnation des Volkes. Gerade so hatte es der Freiherr — freilich die Leistungen der Beamtenschaft verkennend — befürchtet; gerade dies hatte er unterbinden wollen, was sich dann so ungehemmt entfaltet und so bittere Frucht getragen hat: Subalterngeist, Bürokratismus und Unverantwortlichkeit der regierten Untertanen. Wo man gegen diese Entwicklung auftrat, hat man sich der Gedanken Steins erinnert (49), und gerade heute könnten sie aufs neue ihre Fruchtbarkeit erweisen. λ. NEUHUMANISMUS U N D PESTALOZZIANISMUS

Neuhumanismus In die Theorie und Wirklichkeit der Schule haben die Erziehungsgedanken des Freiherrn vom Stein ebensowenig Eingang gefunden wie die Fichtes. Hier ist in jenen Jahren der Reform und des Aufbruchs der Neuhumanismus in alle Schlüsselstellungen eingerückt. Am reinsten wurde er vom humanistischen Gymnasium dargestellt, während die Volksschule ihn für ihre Zwecke umgeformt und mit dem Namen Pestalozzis verbunden hat. In den Gedanken und in der Wirksamkeit Wilhelm von Humboldts ist der Neuhumanismus und seine Schultheorie geschichtlich geworden. Die Staatslehre Humboldts hat sich in den Reformjahren gegenüber dem ästhetisch-liberalen Frühstandpunkt von 1792 gewandelt; das Verstehen der persönlichen Individualität war zu einem Verstehen auch der Individualität überindividueller menschlicher Verbände, des Staates und der Nation erwachsen. Humboldts Bildimgsidee jedoch ist im ganzen die gleiche geblieben wie in der schon besprochenen Jugendschrift. Das hohe Vorbild war auch jetzt noch Griechenland, wo auch das öffentliche Leben sich ganz der Ausformung des schönen Individuums gewidmet habe und selbst die Tugenden des Staatsmanns nur begründet gewesen seien auf „rein menschliche allgemeine Bildung, nicht auf die Kultur besonderer Talente und Kenntnisse" und auch nicht auf eine besondere Fähigkeit, das politische und soziale Leben zu meistern.

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"Wenn Humboldt in dieser Zeit zur Verstaatlichung des Schulwesens mehr getan hat als irgendein anderer Staatsmann, so steht dahinter weniger ein Gesinnungswandel als ein Wandel in der Wahl der Mittel, zu einem leistungsfähigen und in Zukunft auch autonomen Schulwesen zu gelangen; es ist in gemilderter Form der Gedanke Fichtes, daß der Weg zur Freiheit und Autonomie zunächst durch eine Periode der Nötigung hindurchführen müsse (50). So entstand von Staats wegen das humboldtisch-preußische Gymnasium in seiner reinen, aller Lebenspraxis und der politischsozialen Welt fremden Form, das auf den antiken Sprachen und auf der Mathematik als den Säulen formaler Bildung ruhte, in dem auch das Deutsche nur mit seiner sprachlichen Seite Aufnahme fand, während für die deutsch-klassische Literatur bestimmt war, sie müsse den Schülern just „mehr als dem Namen nach" bekannt werden (51). Ausgemerzt wurden von den bisherigen Fächern der Gelehrtenschule die „gemeinnützigen Kenntnisse", Literatur und Realienlehre der Antike, allgemeine „Enzyklopädie der Wissenschaften" und „juristische Enzyklopädie" (eine Frühform bürgerkundlichen Unterrichts); ferner Französisch als Pflichtfach — einmal aus nationalistischen Ressentiments heraus, zum andern weil der französischen Sprache als einer abgeleiteten, nach Fichtes Bestimmung nicht-ursprünglichen, kein eigentlicher Bildungs-, sondern nur ein Nutzwert zugesprochen wurde. Im ganzen ist das Humboldtsche Gymnasium eine staatlich organisierte und geförderte Schule mit striktester Staatsenthaltsamkeit und mit Vermeidung alles Politischen im Unterrichtsinhalt und Bildimgsideal. An der Auffassung vom Berufe der Deutschen zur unpolitischen Kultur- und Menschheitsnation hat Humboldt zeitlebens festgehalten. Und diese Humboldtsche Auffassung hat sich durchgesetzt und Schule und Universität auf lange Zeit bestimmt. Ihr gegenüber ist Ernst Moritz Arndt nicht durchgedrungen mit seiner Schulung zur „politischen Tugend" (52); auch F. L. Jahn nicht mit seiner Erziehung zum „deutschen Volkstum", zum Selbstbewußtsein der „Deutschheit" in einem nationalen Volksstaate. Nur die Turnbewegung Jahns, die von ihren Anhängern wie von ihren Gegnern als Teil einer liberalen Nationalerziehung angesehen wurde, hat sich durchgesetzt. Erst die Hitler-Zeit hat dann auch die politischpädagogischen Gedanken Jahns aufgefrischt, nicht ohne Entstellung und Überhöhung ihrer ohnehin bedenklichen Tendenzen (53). — Aber auch Humboldt näherstehende Männer haben mit ihrem

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Versuch, Politisches in das humanistische Bildungsideal aufzunehmen, nicht Fuß fassen können. Süvern nicht, von dem noch die Rede sein wird, und auch nicht F. I. Niethammer, der süddeutsche Schulpolitiker und Freund Hegels, der in seinem zeitberühmten Buche „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus" (1806) die humanistische Gelehrtenbildung verteidigt hat, daneben aber auch Gewerbe- und Bürgerschulen gelten ließ und im bayerischen Normativ von 1808 Anstalten für beide Zwecke nebeneinander stellte (54). Seinem eigentümlichen, für das Problem der politischen Erziehung fruchtbaren Gedanken, auch den Realien ein humanistisches Prinzip formaler und geistiger Grundbildung abzugewinnen, wurde durch den humanistischen Purismus der Humboldtschen Richtung, in Süddeutschland besonders vertreten durch den rührigen F. W. Thiersch, jede Wirkung abgegraben. Bis zum Ende des Jahrhunderts fast ist die höhere Schule von dem Gedanken beherrscht gewesen, daß sie nicht zum praktischen Leben und damit auch nicht zur sozialen und politischen Welt hinüberschielen dürfe, wolle sie ihren Auftrag geistig-ästhetischer Menschenbildung mit Anstand erfüllen. Pestalozzi Was der Humanismus für das höhere Bildungswesen, das sollte nach der Meinung der preußischen Reformer und der deutschen Bildungsbewegung die „Pestalozzische Lehrart" für den Neubau der Volksschule leisten. Ein Blick auf die Lehre des großen Schweizers ist hier unerläßlich, während der Kreis seiner Landsleute Fellenberg, Girard, Stapfer und Bonstetten, wenngleich auch sie zum Teil Widerhall in Deutschland fanden, übergangen werden muß (55). Von allen großen Pädagogen seit Plato hat vielleicht keiner die Fragen der Politik und der Pädagogik so innig ineinander verwebt gesehen, keiner um beide Bereiche und ihre gegenseitige Zuordnung so gerungen wie Pestalozzi. Von der ersten Veröffentlichung des Neunzehnjährigen, einer Plutarch-Nacherzählung über den Spartanerkönig Agis, bis zur Langenthaler Rede von 1826 hat Pestalozzi sich mit Fragen der Politik und der Gesellschaft beschäftigt. Die Politik bleibt ihm zeitlebens Bedingung und wichtiger Faktor einer wirksamen Erziehung, und die Erziehung bleibt ihm immer Bedingung und Wegbereiter einer geordneten politischen und sozialen Welt (56). Bei dieser Stetigkeit des Themas sind allerdings die bedeuten-



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den Wandlungen in seiner Durchführung nicht zu übersehen. Pestalozzis frühe Erziehungslehre bewegt sich ganz in den Bahnen der Zeitpädagogik. Er sieht seinen Wegbereiter in Rochow, wendet sich mahnend an die „Menschenfreunde" und zählt sich selbst der Gruppe der Philanthropen zu. Er will die Armen in der Armut und zur Armut erziehen, will sechsjährige Kinder anleiten, ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Die Wohnstube soll alles wirken, jede Anstalt gilt ihm als Notinstitut, die Neuhofgemeinschaft nur als eine erweiterte Familie. Sein großer Lehrroman war ursprünglich als „Katechismus für das Landvolk" gedacht und sollte „beruhigende Weisheit für die Armen", brauchbare Wahrheiten für die menschlichen „Lagen" enthalten. Der erste, berühmteste Teil schildert die moralische Umkehr eines Dorfes mit Hilfe des Patriarchensinnes eines Fürsten und der mütterlichen Kraft einer Frau. Alle erziehenden Einflüsse gehen von der „Individuallage" aus. Im Milieu seiner Familie ist Hummel ein Schuft geworden, das häusliche Milieu allein wird Lienhards Kinder zu guten Menschen machen. J a selbst der Leutnant und Schullehrer muß sich in Gertruds Stube Rat und Kräfte holen, wenn er an dem Besserungswerke mithelfen will. In den ersten Revolutionsjahren wendet sich Pestalozzi von diesem patriarchalischen und politisch-konservativen Denken ab und erklärt sich als „parteiisch fürs Volk". Die Fürsten und „großen Herrn", denen er bisher seine Dienste angetragen und die noch im Schlußteil seines Romans die ganze Welt hatten ins Geleis bringen sollen, haben offenbar versagt und haben ihren hohen Stand nur auf dem Podest des Unrechts halten können. Auch die biblisch-protestantische Obrigkeitslehre kann als Fürsprech hergebrachter Politik nicht dienen. „Der Heiland hat nie advokatisiert, am wenigsten für die großen Herren" (57). Hatte Pestalozzi in dieser Zeit zunächst alles von politischen Veränderungen erwartet und die zugehörige Pädagogik unklar gelassen, so vollzog sich schon 1793 unter dem Eindruck der Revolutionsgreuel und des bedeutsamen Zusammentreffens mit Fichte ein neuer Wandel. Politische und gesellschaftliche Formen an sich, so lautete die neue Wahrheit, bringen noch kein Heil. In der „inneren Gleichheit der menschlichen Verirrungen" hat jede politische Ordnung ihre eigene Entartungsmöglichkeit, verleitet als Form zum Formalismus, zur Verschanzung der menschlich-sittlichen Pflichten hinter der Mauer der Institution. Auch das gleiche Recht des demokratischen Staates ist seinem Wesen

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nach nichts anderes als gegenseitige Absprache, nicht mehr als Verzicht auf schrankenlosen Egoismus aus egoistischen Motiven — wie jedes Staatsrecht „in seinem Zweck tierisch, in seinen Mitteln vernünftig, ein Geschöpf der Masse ohne den Geist der Individualität und ohne innere Gefühle, folglich in seinem Wesen ohne Sittlichkeit" (58). WEIS nun den Glauben an politische Institutionen ablöst, ist die Pestalozzische „Meisterwahrheit", das Prinzip der Selbsttätigkeit, des Aufbaus der Person und ihrer Sittlichkeit aus spontanen Urakten, welche von der Erziehimg nur wachgerufen und stimuliert werden können. Entsprechend ihrem Autonomieprinzip und ihrer kantisch-fichteschen Wurzel ist diese neue Pädagogik von den Zeitgenossen, die sie besonders durch Gertruds Kinderlehre kennen lernten, in Verbindung gebracht worden mit den Prinzipien des politischen Liberalismus. Zweifellos mit Recht, wenngleich das Entsprechungsverhältnis ein sehr kompliziertes ist und politisch heterogene Elemente sich hier treffen. Keineswegs ganz aufgegeben ist der alte Wohnstuben- und Milieugedanke, doch erscheint er modifiziert in der Richtung der Lehre eines Frhrn. vom Stein. Die Gesellschaft wird ihren Wert danach haben, wieviele sittliche und menschliche Kräfte sie wecken und zur Geltung bringen kann. Der Staat, der das erkannt hat, wird also trachten, den Bereich des öffentlichen und Rechtlichen mit den Kräften und Werten, an denen das Herz der Bürger hängt, zu verknüpfen. Indem Gesetzgebung und Regierungspraxis „die Bande des Bluts und die wohlwollenden Verhältnisse aller sich nahestehenden Menschen" stärken, die „Gemütsstimmung der Bürger" mit dem Staate verknüpfen, werden sie zu ihrer Veredelung beitragen und den „Staatsbürger", der nur die „öffentliche Staatsscheinordnung" kennt, zum mittragenden, sittlichen Menschen machen. Hier liegen also auch Möglichkeiten für eine institutionelle Mithilfe des Staates beim Erziehungswerk (59). Aber das patriarchalische Moment ist doch aus dieser Milieulehre verwiesen und wird es vollends in der Schrift „An die Unschuld . . .", jener beschwörenden Mahnung an die Politiker, nicht zum Privilegienwesen der vomapoleonischen Zeit zurückzukehren, sondern die Freiheiten der alten Schweizer wiederherzustellen (60) — ähnlich wie die süddeutschen Patrioten, wie Möser, wie Rehberg und Stein sich nicht auf die .natürliche', sondern die geschichtliche Freiheit der alten Deutschen beriefen. Entscheidend für die Beurteilung des Staates ist, ob sich in ihm

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jene sittlichen Wesenskräfte, jener alte Gemeinsinn entfalten können. Keine Regierungsform enthält an sich schon dieses Prinzip. Es lebt im preußischen Kronland Neuenburg ebenso wie in den holländischen und italienischen Städten oder in den republikanischen Kantonen der alten Eidgenossenschaft. Für seine schweizerische Heimat allerdings möchte Pestalozzi die republikanische Ordnung wiedererrichtet sehen. Die Republik hat zwar weniger institutionelle Möglichkeiten, staatserzieherisch zu wirken und die Versittlichung der Individualkräfte und den Gemeingeist zu lenken. Aber sie gibt den Bürgern einen weiten Spielraum, diese Kräfte selbst zu entwickeln und zu betätigen „durch landständische Verfassungen, d. i. durch mitwirkende Repräsentation alles Edlen, Reinen, Hohen und Guten", „durch Repräsentation der Religiosität, der Kultur und des Eigentums", ständisch strukturierte und historisch bedingte Vertretung des Volkes, in der nicht nur Interessen, sondern auch Personen zur Geltung kommen. Je enger und persönlicher der Kreis, die Gruppe, der Stand ist, in dem sich die politischen Dinge abspielen und die Sozialbeziehungen bewähren können, um so größer ist die Hoffnung auf Obsiegen des Menschlich-Sittlichen. Je größer und anonymer dieser Kreis, um so leichter verhärtet sich der Einzelne auf dem Standpunkt des Egoismus und des entseelten Rechts. Die Gefahren der Masse in der modernen Gesellschaft wie überhaupt die nackte Wirklichkeit der Politik hat Pestalozzi mit scharfem und vorausschauendem Blick erkannt. Vielleicht zum ersten Male in der pädagogischen Literatur wird hier das Politische in schmerzlich-illusionslosem Realismus in seinen Gefahren und Eigengesetzen gesehen und dennoch der Wille gezeigt, den Kampf um seine erzieherische Versittlichung nie aufzugeben. Schulpolitik der ,.Reformzeit"

Die Schulpolitik steht in dieser Zeit im Zeichen der Verstaatlichung und der wachsenden Einheitlichkeit. Daß der Staat Veranstalter der Schule wurde und wie er es wurde, das war auch für das Schicksal der politischen Erziehung entscheidend. In Preußen erwirkte Humboldt die Begründung einer eigenen Unterrichtssektion, die zwar personal noch mit Kultus- und Medizinalwesen verbunden blieb, aber doch das Unterrichtswesen schon weitgehend staatlich-selbständig machte (61). Sodann wurden fast alle beruflichen und ständischen Sonderschulen beseitigt. Nunmehr gab es nur noch einen möglichen Bildungs-

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weg, der in der Elementarschule begann und über das Gymnasium zur Universität führte, gab es Bildimgsunterschiede nur noch entsprechend der Höhe, bis zu der man diesen Stufengang allgemeiner Menschenbildung erklomm. Die Festsetzung von Abiturnormen (1812) und einer allgemeinen Prüfung für Schulamtskandidaten (1810) gab dem Staat eine Kontrolle über die höhere Schule und über die Lehrerbildung. Durch eine große Zahl neuer Seminare kam auch praktisch die Bildung der Lehrer mehr und mehr in die Hand des Staates. Auch die Beschränkung der alten Patronatsrechte besonders im Hinblick auf die Lehrerwahl steht in diesem Zusammenhang. Allerdings sollten diese historischen Privilegien nicht von einem beamtlichen Staatszentralismus, sondern von Selbstverwaltungseinrichtungen und Sachverständigengremien abgelöst werden. Ansätze dazu brachten die Wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts, die Schuldeputation in den Provinzialregierungen und in den Städten (dort zusammengesetzt aus Fachbeamten, Lehrern, Mitgliedern der Stadtverwaltung und der Bürgerschaft) und die Bildung der „Schulvorstände" auf dem Lande (aus Patron, Prediger und Familienvätern). Damit war auch organisatorisch schon der Rückweg der Schule aus der Hand des Staates in die der Ortsbehörden und der Eltern angebahnt, wie er der liberalen Doktrin entsprach. Geradezu klassisch-wirtschaftlicher Liberalismus drückte sich aus in dem Gewerbegesetz von 1 8 1 1 , in dem Erziehimg und Unterricht wie alle anderen ungefährlichen Gewerbe jedermann auch ohne Befähigungsnachweis gestattet wurden. In der Regierungspraxis wurden allerdings schon vom folgenden Jahre an — wenngleich ohne gesetzliche Grundlage — die Lehrer auch der Privatschulen wieder geprüft (62). Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch in den anderen deutschen Staaten, wo sie aber im allgemeinen weniger einschneidende Veränderungen mit sich brachten. Ausgesprochen etatistisch und nach französischem Vorbild wurde das bayrische Schulwesen organisiert (1804). Die Verordnungen sagten dort mit deutlich sichtbarer Spitze jeder Erziehungsbestrebung den Kampf an, „durch welche der Bürger vom Staate getrennt und dem gemeinschaftlichen Staatszwecke ein anderer untergelegt werden will". Eine katholische und eine protestantische Lehrmethode gäbe es nicht, nur Sachverstand und Erfahrung dürften künftig für das Schulwesen maßgebend sein (63). Auch mit der Förderung einer Bürgerkunde in der allgemeinen Feiertagsschule knüpfte

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man an das Fach und an die Aufklärangsmotive des 18. Jahrhunderts an, ähnlich wie in Württemberg, wo die „Sonntagsschule" bis zum 18. Jahre obligatorisch war und neben der Katechese Real- und Bürgerkenntnisse bieten sollte (64). Diese verspäteten Aufklärungsmotive in Bayern blieben aber auf die Rheinbund-Aera beschränkt. Im ganzen brachte diese Zeit in den meisten Ländern nicht mehr als eine etwas straffere Organisation des Schulwesens. Wo die Schule dabei unter das Staatsrecht gestellt wurde, bedeutete das praktisch zunächst keine Änderung, sondern nur eine staatliche Legalisierung des überkommenen Aufsichts- und Rechtsgebrauchs (65). Die beiden widersprüchlichen Hauptmotive der Reformzeit, Staatlichkeit und Liberalismus, fanden sich auch in der Förderung der Pestalozzipädagogik zusammen. Daß überhaupt von Staats wegen eine bestimmte Unterrichtsmethode planmäßig ausgebreitet wurde, war eine Maßnahme im Stil und in der Tradition des aufgeklärten Fürstenstaats. Daß aber mit dieser Methode die politisch-pädagogischen Gedanken Pestalozzis gar nicht übernommen wurden, daß sie so, wie sie verstanden wurde, eigentlich unpolitisch war, das bezeugt wieder den liberalen und staatsabstinenten Charakter dieser Maßnahme des Staats. Unterschiede in der Auffassung dessen, was eigentlich Pestalozzis Lehrart sei, haben sich bald gezeigt. So klagte Wilhelm Harnisch, Leiter des Breslauer Pestalozzi-Seminars, daß die übermäßig humanistische und formale Bildung das Deutschtum und das Christentum ganz in Vergessenheit brächte und darüber der Unterricht über deutsches Wesen in Verfassung und Geschichte vernachlässigt werde (66). Er selbst hat das Politisch-Vaterländische stark in den Zusammenhang mit den Realien gebracht und durch seine „Weltkunde" den ganzen Zyklus der Realbildung fördern und an das heimatkundliche Prinzip anlehnen wollen. Viele Pestalozzianer sind ihm darin gefolgt, insofern nicht zu Unrecht, als die Formalbildung der pestalozzischen Methode nicht an bestimmte Bildungsstoffe, zumal nicht an die antike Bildung geknüpft war. Darüber hinaus hat Harnisch auch etwas von der sozialen Tendenz Pestalozzis aufgegriffen und die Mischung aller Stände, Schichten und Begabungen gefordert (67). Er steht dabei unter dem Eindruck von Fichtes Pestalozziverständnis, wie er überhaupt die Bedeutung von Fichtes Reden für die Ausbreitung des Pestalozzianismus für unüberschätzbar hält (68).

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Harnisch unterscheidet in Preußen zwei Richtungen der Pestalozzi·Anhänger: eine kirchlich-gläubige und eine .rationale'. In Wirklichkeit hat sich auf Pestalozzi eine Pädagogenphalanx berufen, die von plattestem Rationalismus philanthropisch-liberalistischer Färbung bis zu pietistischem Hochkonservativismus reichte. Harnischs eigene Stellung war unsicher. Er hat Beckedorff, den reaktionären Leiter der preußischen Volksschulpolitik nach 1820, unterstützt und die Politik seiner offiziösen „Jahrbücher" gelobt (69). Er hat anderseits der institutionellen Verweltlichung der Schule und des Lehrerstandes das Wort geredet (70). Ein weltlich organisiertes, sozial ausgeglichenes, in den Inhalten vaterländisch-kirchliches Schulwesen scheint sein Ideal gewesen zu sein. Die ,gläubige' Deutung der Lehre Pestalozzis ist besonders auch von dem designierten „Pestalozzi-Erben" Nicolovius gestützt worden, der in ihr vor allem „eine ihrem innersten Wesen nach echt religiöse Methode" sah, die große Möglichkeit, den Rationalismus der modernen Bildung zu überwinden (71). Er meinte damit zwar eine überkonfessionelle und idealistische Religiosität, die ihm die Feindschaft der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft" Eylerts und Beckedorffs zugezogen hat. Dennoch mag die ausgesprochene Betonung des religiösen Charakters der Pestalozzi-Erziehung schon durch den Einfluß, den Nicolovius auf die .Eleven' ausübte, dazu beigetragen haben, daß ein Großteil der Pestalozzianer ganz in den kirchlich-konservativen Kurs der Beckedorff-Aera einschwenkte und das sozialpädagogische Moment verloren ging (72). Die Behandlung der späteren Schulpolitik wird diese Zusammenhänge weiterführen und den anderen Hauptzweig des Pestalozzianismus, die „rationale Schule" um Adolf Diesterweg, noch zeigen. Fast jeder Gebildete hat sich in dieser Zeit mit Pestalozzis Ideen irgendwie beschäftigt, fast jedes Land hat seinen eigenen „Pestalozzianer" hervorgebracht und mit Reformaufgaben betraut (73). Eine Reaktion gegen den Reformgeist begann sich mancherorts noch vor den Befreiungskriegen abzuzeichnen. Sie kam schon bei der Bestellung von Humboldts Nachfolger Schuckmann in einer Kabinettsordre zum Ausdruck, welche die Unterrichtsbehörde ermahnt, das gründliche Wissen und die nötigen Kenntnisse für alle Stände nicht zu vernachlässigen; es müßten ferner „gesunde, klare Begriffe und solche Gesinnungen verbreitet wer-

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den, wodurch Nutzen fürs praktische Leben, wahre, sich in den Handlungen äußernde Moralität, Patriotismus, Anhänglichkeit an die Verfassung und Vertrauen und Folgsamkeit gegen die Regierung bewirkt und erhalten w e r d e . . . " (74). Hardenbergs Verfügung an Nicolovius vom gleichen Tage kommentiert diese Ordre: Der „übel verstandene Kosmopolitismus", hier wohl auch gemeint als die heimatlose Allgemeinbildung, sei verwerflich; an seiner Stelle müßten nützliche Fähigkeiten, Subordination, Leistungen für den Staat gefördert werden. Den jungen Männern solle der Weg in das tätige Leben, in die „notwendige Ordnung, Folgsamkeit und Bescheidenheit, die in jedem wohleingerichteten Staat stattfinden müsse", klar vor Augen liegen. Dienst und öffentliche Angelegenheiten müßten ihnen wichtig, „Patriotismus und Anhänglichkeit an das Vaterland" vorherrschend werden (75). Vorerst, bis zum Jahre 1819 etwa, ließen sich diese neuen Tendenzen noch eindämmen und behielt der Geist der preußischen Reformer noch die Oberhand. Allerdings wurden die vielen im Denken der Zeitgenossen durchgangenen Möglichkeiten einer Verbindung von Reformgeist und politischer Erziehung nicht verwirklicht, und die unpolitische Humboldtsche Form — als Gegengewicht gegen die falsche Politisierung durch den wieder aufkommenden Obrigkeitsstaat — behauptete im Schulwesen das Feld.

FÜNFTES KAPITEL DIE PÄDAGOGIK ALS WISSENSCHAFT i. PHILOSOPHISCHE PÄDAGOGIK Die Pädagogik entwickelt sich als Wissenschaft in modernem Sinne erst in der Begegnung mit der Philosophie des Idealismus und den Wissenschaftsprinzipien der Romantik, indem sie sich lossagt von dem konstruierenden Rationalismus des 18. Jahrhunderts, von der Jagd nach der einen und absoluten Methode und nach dem einen und absoluten Erziehungsziel. An die Stelle tritt das Gespräch mit der Philosophie und Ethik, die Einsicht in die historische Bedingtheit sowohl der Institutionen wie des Bildungsideals, das Verständnis für OrganischGewachsenes wie für die überindividuellen Organismen als Bildungsträger. In diesem Durchgang durch historisch-organisches und idiographisches Denken entwickelt sich die Pädagogik analog den Philologien, der Historie, der Rechtswissenschaft und der theologischen Hermeneutik. Wie diese bildet sie eine neue Systematik aus, eine Geschichte ihrer eigenen Entwicklung und eine vergleichende Betrachtung anderer nationaler und kultureller Bedingungen. Auf dem Bewußtsein, eine jetzt erst möglich gewordene wissenschaftliche Pädagogik mit zu begründen, baut besonders J. B. Graser seine Erziehungslehre auf. Schellingsche Sozialphilosophie und romantisches Organismus-Denken weisen ihm einen originellen Zugang auch zu den pädagogischen Problemen. So wie in der Sprache die einzelnen Laute nur Sinn haben in einem Wort und im Ganzen des Satzgefüges, so scheint ihm auch in der Erziehung das Ganze der Schaffens- und Erlebensgemeinschaft in jede einzelne Maßnahme und in jeden Unterricht hineinzuragen. Und nur innerhalb dieses Ganzen hat das einzelne, hat jede Ausbildung ihren Sinn. Der romantischen Volksgeist-Lehre gemäß ist das „Volk", und zwar besonders soweit es gesellschaftliche und politische Einheit gefunden hat, ein solches Ganzes. Der Volksschulunterricht bedarf in besonderem Maße dieses Zusam7

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menhangs. Er bildet unterrichtend an dem Ganzen mit und ruft es ins Bewußtsein; das Volksganze im Staate ist die gemeinsame Substanz, von der alle Bildung zehrt, auch wenn sie — wie z. B. für die intellektuellen und künstlerischen Eliten — als hochgezüchtete Spezialbildung weit über dieses Allgemeine hinauswachsen muß (i). Für die Allgemeinbildung und die Volksschule gilt also in besonderem Maße, daß sie sich nur entwickeln können innerhalb sozialer Organismen und politisch-konkreter Zusammenhänge. „Die Erziehung des Menschen ist nur im Staate möglich" wird darum apodiktisch erklärt. Der Staat ist (seinem Wesen nach) „eine wahre, ja die einzige Menschenerziehungsanstalt". „ E s kann darum keine Erziehung, nicht einmal die eines Individuums vor sich gehen, als nur innerhalb dieser und mit der nächsten Beziehung auf diese Anstalt" (2). Nur dann allerdings kommt dem Staat diese hohe Stellung zu, wenn er sich des einen Prinzips aller Menschenordnung und -bildung bewußt ist: des Prinzips der „Divinität". Er muß die Ordnung der Gottheit in seiner Ordnung, das Ebenbild Gottes in der Bildung des Menschen darstellen helfen (3). Hier klingt der in der Geschichte der Bildungsideen immer wieder auftauchende, von Mystik und Pietismus umgeprägte Mikrokosmosgedanke an, verbunden mit Zügen der Schellingschen Identitätsphilosophie. Die Pädagogik ist auf die Durchdringung der Welt, auf die Durchsäuerung des Lebens mit der Divinitätsidee gerichtet. Sie sucht das Leben — nicht in seinem alltäglich-vegetativen Gang, sondern in der Idee der Divinität, das „Leben in Gott, unter und für Menschen". Graser bekämpft in gleicher Weise den pädagogischen Humanismus, der die harmonische Vollendung nur des Einzelnen erstrebt, wie die Aufklärungspädagogik, die zwar auch fürs Leben erziehen will, darunter aber das möglichst verschleißlose Funktionieren und Prosperieren versteht — Graser selbst ist in dieser Richtung von Diesterweg mißdeutet worden. Eine solche Hinwendung zur Lebenswirklichkeit und Lebensgestaltung erfordert aber, daß auch praktische Erziehungsanweisungen gegeben werden. Graser hat hier konsequent in seiner „Elementarschule fürs Leben" eine Didaktik entwickelt und mit Lehrbeispielen und praktischen Ratschlägen durchflochten. Hier ist auch der Gemeinschaftserziehung, entsprechend ihrer hohen

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Bewertung, breiter Raum gegeben. Teils in anschaulichen Mustererzählungen, teils in Skizzen solchen Unterrichts werden die Entstehung einer Gemeinschaft, die notwendigen gesellschaftlichen und rechtlichen Absprachen, die Fortentwicklung des Rechts zur Idee der Gerechtigkeit, der Sozialordnung zur Sozialmoral und Frömmigkeit dargestellt (4). In den engeren Kreisen (Familie, Gemeinde) kann das eigene Interesse, die persönliche Bildung und Anschauung vorwalten. In den weiteren Bereichen müssen mit der zunehmenden Abstraktion die religiösen Bindekräfte stärker mitwirken. Gegenüber dem fernen Staate schon, der der Anschauung nicht mehr zugänglich ist, kann nur die abstrakte Sittlichkeit der Religion ein rechtes Verhältnis begründen (5). So ist auch gerade im Bereich des Politischen die „ D i v i n i t ä t . . . das Prinzip der einzig wahren Menschenerziehung". Nun ist aber nicht Graser derjenige gewesen, der in dieser Zeit und geistigen Situation das Problem der politischen und sozialen Erziehung entscheidend gefördert hat; auch Herbart nicht, der außerhalb der idealistischen Philosophie eine pädagogische Wissenschaft begründete, für unsern Problemkreis dabei aber wenig geleistet hat — wenngleich er nicht ganz der Unpolitische war, als den man ihn häufig hinstellt (6). Vielmehr hat Schleiermachers Pädagogik die eigentlich bedeutenden und fruchtbaren Gedanken auch für diesen Zusammenhang gebracht, und es darf wohl als ein Unglück unserer geschichtlichen Entwicklung bezeichnet werden, daß diese Gedanken zunächst so wenig Widerhall gefunden haben, so bald wieder von anderen und minderen Klängen übertönt worden sind. Das Besondere der Schleiermacherschen Pädagogik und Soziallehre besteht vor allem darin, daß mit dem utopisch-konstruierenden Denken gebrochen wird, daß die angemaßte Gottähnlichkeit aufgegeben wird, mit der die Aufklärer den Menschen und den Staat von Grund auf neu erschaffen wollten, mit der aber auch der Idealismus eines Fichte eine radikale Erneuerung des Menschen aus eigener Kraft und aus eigenem Verstände für möglich hielt. Schleiermachers Pädagogik setzt an in der konkreten, geistesgeschichtlich bedingten Situation des Menschen. Sie geht von den gewachsenen Gegebenheiten aus und sucht in ihnen, in der Dialektik von Sollen und Sein, die Erziehung aufzubauen. Nicht eine spekulative Lehre vom Staate oder vom Menschen geht voran, sondern eine Hermeneutik, ein Verstehenwollen des Gegebenen, innerhalb dessen alles Bessernwollen und 7*

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Emporbilden sich zunächst einmal ansiedeln muß. Pestalozzi ist in dieser dialektischen Sicht des pädagogischen Problems vorangegangen. Aber ihre eigentlich wissenschaftliche Ausformung hat sie erst bei Schleiermacher erfahren. Mit diesem Ausgangspunkt ist nun keineswegs eine politische Richtung, z. B. konservativer Tendenz, schon eingeschlagen. Es ist damit nur ein Fuß auf das feste Land der Gegebenheiten gesetzt, nicht etwa die Schrittrichtung schon bestimmt. Schleiermacher hat die Französische Revolution, besonders in ihrem Frühstadium, mit Sympathie verfolgt. Er hat sie allerdings nie als auf andere Länder übertragbar angesehen. Schon in den frühen Predigten und in einer Skizze zur Vertragslehre erscheint ihm der Staat als nicht vertraglich konstruierbar, sondern verwachsen mit Historie, Landschaft und Sprache, als ein individuelles Gebilde, durch eine individuelle, historisch bedingte Ethik erbaut. Mehr noch als der Staat mit seinen zufälligen Grenzen ist ein „natürliches Volk" ein solcher ethischer und individueller Organismus. Alle Antworten auf politische wie auf Erziehungsfragen können nur innerhalb eines solchen Ganzen gegeben werden — hier kommt er Gräser nahe und der historischen Schule, insbesondere Savigny, mit dem ihn auch persönliche Freundschaft verband. Schleiermacher prüft reihum die Ansprüche, die von den verschiedenen Staatsdefinitionen aus an die Erziehung gestellt werden. Er läßt sie ihre Grenze finden einmal in den persönlichen Eigentümlichkeiten des Einzelnen, des Zöglings, dessen Gegebenheiten ebenso zu respektieren sind wie die der Geschichte und der politisch-sozialen Wirklichkeit. Zum anderen aber ist der Staat für ihn seinem Wesen nach gar nicht dazu berufen, die Erziehung nach seinem Beheben und Geschmack einzurichten, willkürlich zu formen und aus ihrer Bahn zu drängen. Das heißt nicht, daß der Staat nicht Aufsicht führen und Schulen veranstalten soll. Er wird in diesen Schulen das zum Ausdruck bringen, was im Volke selber liegt, was seiner Sitte, seiner ethisch-historischen Individualität entspricht. Diese Art von Staatserziehung, die gewissermaßen das nachzeichnet, was schon historisch vorgegeben ist, wird niemand als solche anfechten und in ihrer Arbeit schmälern. Versucht hingegen die Regierung, anderes herbeizuführen, eigentlich „Substantielles" erzieherisch zu verändern, so überschreitet sie die Befugnisse des Staates und ist im allgemeinen damit auch zum Scheitern verurteilt.

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Nur in bestimmten geschichtlichen Augenblicken kann es notwendig sein, daß der Staat Aufgaben übernimmt, welche Volk und Sitte noch nicht enthalten; dort nämlich, wo verschiedene Staaten oder Stämme oder auch verschiedene Sozialschichten zu einem Ganzen verschmolzen werden müssen. Jeder Stamm und jeder Stand kann ja nur in seinem eigentümlichen Bereiche erziehen. Leben solche Gruppen in einem Aggregate mühelos nebeneinander, so braucht sich die Regierung nicht dreinzumischen. Früher oder später aber wird die Zeit kommen, wo das Nebeneinander nicht mehr tragbar ist und ein Gemeinsames sich herausbilden muß. Ein solches Gemeinsames kann aus dem Volks- oder Stammgeist allein nicht erwachsen. Hier tritt der Zeitpunkt ein, wo es notwendig wird, „jedem organischen Teil das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden und diesem Gefühl das des eigentümlichen Daseins unterzuordnen" (7). Hier muß die Erziehung etwas in das Volk hineintragen, was in ihm selbst noch nicht vorhanden ist. Nur in einem solchen Augenblick darf der Staat die Erziehung ganz selber in die Hand nehmen, „nur dann, wenn es darauf ankommt, eine höhere Potenz der Gemeinschaft und des Bewußtseins derselben zu stiften" (8). Ist diese Aufgabe erfüllt, so stellt er die Erziehung wieder unter die Leitung des Volkes selbst, wo sie im Zusammenwirken von Gemeinde, Kirche und Wissenschaft weitergeführt wird. Neben diesen Problemen besonderer historischer Momente besteht aber das der Sozialerziehung auch als eine ständige Frage jeglicher Pädagogik. Vier sittliche Gemeinschaften sind es, welche die Struktur des Soziallebens bestimmen: der Staat, die Kirche, der „wissenschaftliche Verein" (nämlich die sprachlich-kulturelle und Wissens-Gemeinschaft) und das freie „gesellige Leben". Innerhalb dieser Gemeinschaften hat der Staat oder genauer die politische Gemeinschaft (der Gedanke einer künftigen Ablösung des Nationalen durch die Staatengemeinschaft zeichnet sich schon ab) ein Vorrecht wegen der eigentümlichen Möglichkeit, die Struktur der Gesellschaft und das Sozialempfinden des Staatsvolkes zu verbessern (9). Schleiermacher sieht mit scharfem Blick die Übel des „Isoliertseins", der konfessionellen und ständischen Sozialtrennung, des falschen Korporationsgeistes und des Bildungsdünkels aller Schulgattungen (10). Er will keineswegs durch Einebnen der Bildung diese Unterschiede beseitigen, aber er will echte Gliederung und Strukturen an der Stelle unechter, willkürlicher Absonderung. So soll das Alter der Bildungs-

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differenzierung nicht zu früh angesetzt werden und die Schule als Bildungsgemeinschaft ausgleichend wirken. So sollen ferner Muttersprache und Realien als selbständige Bildungszentren entwickelt werden, statt daß die Bürgerschulen nur das Prinzip des humanistischen Gymnasiums auf niederem Niveau nachahmen. Damit soll ein System gleichwertiger und gleichberechtigter Schularten entstehen, die in ihrer Verschiedenheit einander achten können (11). Man muß sich den Unterschied dieser Konzeption zu der Humboldtschen, die das Bildungswesen des 19. Jahrhunderts bestimmt hat, deutlich machen: Hier verschiedene Bildungswege, die ihre eigene Qualität und ihr eigenes inneres Gewicht entwickeln können; bei Humboldt die eine Bildungstreppe, die von der Elementarschule bis zum akademischen Grade hinführt, die man so weit hinaufsteigt, wie man es sich nach Vermögen und Intelligenz leisten kann, und die notwendig die für das deutsche Bildungswesen so charakteristische Verbindung von ständischem Prestige und Schulbildung zuwege gebracht hat. Schleiermacher unterteilt den Bildungsgang, den Sozialbeziehungen entsprechend, in drei Stufen. In der ersten Periode frühester Kindheit herrschen die natürlichen Beziehungen des Elternhauses und engen Familienkreises, vornehmlich bestimmt durch die Empfindung der Pietät (12). Die zweite Periode beginnt mit dem Eintritt in die Schule als die Stätte ersten geselligen Verkehrs. Ordnung und Einrichtungen des gemeinsamen Lebens wirken auf die Gesinnung und schaffen einen sittlichen Gemeingeist (13). Das eigentlich Politische bleibt hier noch fern. „Die Entwicklung einer bestimmten politischen Gesinnung, welche erforderlich ist, um selbständig in das Leben einzugreifen, kann nur der dritten Periode vorbehalten bleiben". In diesem dritten Zeitraum, der der speziellen und teils selbständigen Berufsausbildung gewidmet ist, müssen sich der offene Sinn und die Verantwortungsbereitschaft für das staatlich-gesellschaftliche Leben ausformen. Ohne dieses übergreifende politische Bewußtsein würde die Berufslehre nur das einseitige Spezialistentum von „Banausen" hervorbringen. Das Politische eröffnet dem in die Arbeitswelt Eintretenden den sozialen Gesamtzusammenhang. Natürlich muß diesem Bildungsvorgang die Möglichkeit öffentlich praktischer Betätigung entsprechen. Die Reformen des Freiherrn vom Stein, die solchen tätigen Anteil aller am öffentlichen Leben ausbreiten wollen, sind die politische Voraussetzung und Ergänzung zu Schleiermachers Pädagogik. Nur ein

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Staat mit neuem Gefüge, in dem Regierung, Intelligenz und Volk zusammengeführt werden, wird die Aufgaben der Zeit lösen können. In diesem Sinne hat Schleiermacher Hardenbergs Maßnahmen als Hemmnisse einer neuen Sozialwelt empfunden und das Scheitern der Verfassung und die politische Ausschaltung des dritten Standes bedauert. Schleiermacher hat, indem er die Abhängigkeit der Pädagogik und ihre Wechselbeziehung zu anderen Lebensbereichen erkannte, die moderne Situation dieser Wissenschaft zum ersten Male klar formuliert. Er hat die politisch-soziale Welt in ihrem Verhältnis zur Erziehung an die rechte Stelle gerückt und damit ein wissenschaftliches Behandeln auch der politischen Erziehung erst ermöglicht. Er selbst hat dann vor allem die gesellschaftliche Seite der Erziehungsprobleme mit einer Schärfe gesehen wie vor ihm allein Pestalozzi. Seit Wilhelm Dilthey und Paul Natorp auf seine Bedeutung wieder aufmerksam gemacht haben, ist er ein unausschöpfbarer Klassiker der Pädagogik gerade in ihren sozialen Belangen. 2. HISTORISCHE P Ä D A G O G I K

Charakteristisch für die Konstituierung der modernen Geisteswissenschaften ist die Ausbildung ihrer historischen und vergleichenden Zweige. Das humanistische und romantische Denken hatte den Sinn dafür eröffnet, daß die Vielfalt der historischen Formen nicht nur der Gegenwart halber, als Vor- und Nebenstufen in einer Fortschrittsreihe ihren Sinn haben, sondern in sich selbst abgerundete Leistungen sind, den Formen der Gegenwart vergleichbar; daß ferner auch die Gegenwart in Wandlung begriffen ist, Teil eines höheren Lebensprozesses und nicht Erfüllung oder Verfehlung einer Norm. So beginnen die einzelnen Disziplinen ihre Eigenentwicklung zu erforschen (14), damit über den eigenen Standort auf neue Weise, nämlich im Sinne moderner Wissenschaftlichkeit, klar zu werden. Die ersten Ansätze zu einer Geschichte des Erziehungswesens von Mangelsdorf (1779) und Niemeyer (1796) stehen vor der Jahrhundertwende und tragen noch kaum Spuren vom neuen Begriff des Historischen und von moderner Interpretation (15). Auch die „Erziehungslehre" des Heidelberger Theologen und Pädagogen F. H. Ch. Schwarz verweist in ihrer ursprünglichen Fassung die Geschichte der Erziehung als Anhang in den letzten Band (1813) und trägt noch den Charakter einer Sammlung von

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Apergus über pädagogische Schriftsteller und erzieherische Praxis verschiedener Zeiten (16). Die Schilderung der Antike durch diesen für die philosophischen Zeitströmungen hellhörigen Pädagogen verrät jedoch schon mehr als allgemein-humanistische Sympathie. Hervorgehoben wird die spartanische als klassisches Beispiel einer wirklich öffentlichen Erziehung, als der Versuch, ein Volk innerhalb seiner durch Sitte, Geschichte und Religion abgezeichneten Grenzen zu letzter Konsequenz und innerer Vollendung zu führen und einen Nationalcharakter zu formen durch eine Nationalbildung, „in ihrer Art . . . trefflich und ein nie übertroffenes Muster" (17). Mit Sympathie und ausführlich wird ferner der Zusammenhang von Piatons Erziehungs- mit seiner Staatslehre aufgezeigt und die großartig-ideale Einheit, in der Plato zum Menschen und zum Bürger zugleich erziehen wollte, in Kontrast gesetzt zu den modernen Versuchen Rousseaus oder der Revisionisten, ohne die idealistische Grundlage Menschen und Bürger unter einen Hut zu bekommen. Auch die aristotelische Verbindung von Politik, Ethik und Pädagogik findet ihre Würdigung; Plato und Aristoteles werden als die Erziehungslehrer schlechthin der ganzen neueren Pädagogik vorgehalten (18). Schwarz konnte bei seiner Darstellung schon auf eine Reihe von historischen Untersuchungen und Materialsammlungen zur griechischen Pädagogik zurückgreifen (19). Sicher gab zu diesen Werken zunächst einfach die Griechenbegeisterung Anlaß und die humanistische Frage nach der Erziehung desjenigen Volkes, in der die „Menschheit" ihren höchsten und vollendetsten Ausdruck gefunden zu haben schien. Auf der anderen Seite scheint geradezu eine gewisse Opposition gegen den herrschenden pädagogischen Ästhetizismus in diesen Schriften zu stecken. Der von F. A. Wolf und W. v. Humboldt beherrschte Neuhumanismus mit seinem stark individualistischen Bildungsideal war ja mehr an der Dichtung und bildenden Kunst orientiert als an den pädagogischen Denkern und den bildungsgeschichtlichen Tatsachen Griechenlands. Die Untersuchung der griechischen Pädagogik — meist von Schulmännern durchgeführt, die sich zu jenem Höhenflug nicht entschließen konnten — erwies nun, welche bedeutende Rolle das politische und das Sozialmotiv in der griechischen Pädagogik gespielt haben. Und wenn dieser Erweis damals auch noch in den Anfängen stand und z. B. die spartanische Erziehung ganz dem idealisierenden Bilde Plutarchs und Xenophons nachzeichnete, Wunschbildern mehr als historischen Quellen, so ist doch

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die Bedeutung des Politischen für das griechische Bildungsdenken schon erfaßt. Die modernen Forschungen besonders Werner Jaegers und Η. I. Marrous haben diese Ansätze gerade gegen die neuhumanistische Griechendeutung überzeugend bestätigt und ausgebaut. Aus diesen Darstellungen oft recht einfältig-pragmatischer Art ragt Friedrich Cramers „Geschichte der Erziehung und des Unterrichts im Altertume" (1832/38) deutlich hervor, Ergebnis langer und methodisch-moderner Studien, das zu Unrecht kaum beachtet worden ist (20). Darin sind die Geschichte der Erziehungswirklichkeit und die der pädagogischen Theorie in sauberer Scheidung ihrer verschiedenartigen Quellen gesondert dargestellt und — vielleicht unter Schleiermachers Einfluß — die wichtigen Einsichten formuliert, daß jede Erziehung und Erziehungstheorie in kulturgeschichtlich bestimmten Situationen steht, daß also nur die weite geschichtliche Betrachtung den einzelnen Systemen gerecht werden kann und überhaupt die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik erst begründet. Die ausführliche Erörterung der griechischen Staatserziehung hat darum bei Cramer keinen unmittelbar pragmatischen Charakter, sondern dient — wie seine ganze Geschichtsbetrachtung — einer allgemeinen Erweiterung der Einsicht, hier der Einsicht in ein mögliches und tief durchdachtes Wechselverhältnis von Erziehung und Staat. Cramer hat sein Werk durch alle Zeiten fortführen wollen, hat auch ein Teilgebiet der mittelalterlichen Bildungsgeschichte mit modernen Mitteln erforscht. Seine „Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Niederlanden während des Mittelalters" hat Arbeit auf unbebautem Felde geleistet und ist streckenweise und in ihrer Betrachtungsart ein bis heute brauchbares Werk (21). Cramer hat schließlich seine geisteswissenschaftliche Methodik auch auf die Gegenwart gerichtet und die Volkserziehungsbestrebungen seiner Zeit auf dem Hintergrund der wissenschaftlichen und politischen Strömungen, der volkskundlichen, patriotisch-historischen und sozialen Interessen dargestellt und gedeutet (22). Mehr und mehr drang nun die geschichtliche Betrachtung in die pädagogische Diskussion ein. Auf den Spartanererzieher Lykurg hatte sich schon Süvern im Promemoria zu seinem Unterrichtsgesetz berufen, während die entschieden-Liberalen wie Zachariä, Dahlmann und Rotteck-Welcker gegen das spartanische Vorbild und auch gegen die platonische Staatserziehung polemisierten (23). Auch die persische Erziehung, wie sie von Xenophon in der Kyru-

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paedie geschildert wird, kam gelegentlich mit ins Gespräch (24). Schwarz' Erziehungslehre stellte in der zweiten Auflage (1828) den bisher nur angehängten historischen Teil mit erweiterter Darstellung der Antike den anderen Bänden voran. Ein neuer Impuls für die historische Betrachtung ging von Hegels Philosophie aus. Der Hegelianer Alexander Kaj>p veröffentlichte in seinen Büchern „Piatons Erziehungslehre" (1833) und „Aristoteles' Staatspädagogik" (1837) die pädagogischen Partien aus dem Gesamtwerk der Philosophen in deutscher Übersetzung und stellte sie nach systematischen Gesichtspunkten zusammen. Der stark pragmatische Charakter des Unternehmens wird im „Vor- und Nachbericht" zum Aristotelesbuch unumwunden zugegeben (25). Die Zeit der griechischen Polis stehe in Analogie zur Gegenwart. Was in der vorchristlichen Geschichte zur Zeit des Plato und Aristoteles möglich war, das sei jetzt auf der höheren Stufe der christlichen Welt wieder erreichbar und im Schulwesen wie in der Philosophie schon angebahnt: eine Staatserziehung und ihr begriffliches Selbstbewußtsein in einer Staatspädagogik. Die 'Staatserziehungswissenschaftler' der Napoleonzeit von Krug bis Stephani erkennt Kapp als Vorläufer dieser Wissenschaft an; jetzt aber sei sie nach den Hegeischen Grundsätzen zu entwickeln. Auch über die geschichtsphilosophische Bedeutung der Erziehungsgeschichte hat sich Kapp in Hegelschem Sinne durch eine besondere Schrift geäußert (26). Den Versuch, auch das Mittelalter für die Staatserziehung zu beanspruchen und damit eine Kontinuität des staatlichen Einflusses auf die Erziehung durch alle Zeiten nachzuweisen, hat wohl nur Ernst Münch unternommen, von dem im Zusammenhang der vergleichenden Pädagogik noch die Rede sein muß (27). Die moderne Geschichte besonders der Französischen Revolution hat ebenfalls Münch und nach ihm der Kieler Hegelianer G. Thaulow auf das Problem der Staatserziehung hin untersucht. Thaulow hatte sogar den Plan, „alle Quellen über diesen Gegenstand von der alten Perserzeit an bis auf unsere Zeit inklusive aller Entwürfe aus der Französischen Revolution und der in der Nationalversammlung und im Konvent gepflogenen Debatten herauszugeben" (28), ein Projekt, das allerdings wohl beim buchhändlerischen Mißerfolg seines ersten Schritts, der Herausgabe von Lepeletiers Erziehungsvorschlag, schon scheiterte. Immerhin hat Thaulow seine akademische Lehrtätigkeit als Pädagoge an der Universität Kiel hauptsächlich der modernen Geschichte der Staatserziehung gewidmet.

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So ist die pädagogische Geschichtsschreibung in ihren Anfängen nicht zu denken ohne die Griechenbegeisterung des Neuhumanismus; sie hat aber alsbald einen eigenen Beitrag zur neuhumanistischen Erziehungsdiskussion geliefert, hat die unlösbare Verflechtung des griechischen Erziehungsdenkens mit den politischen Formen der griechischen Welt aufgezeigt und damit auch das Nachdenken über die politische Erziehung der Gegenwart gefördert. Daß dabei die fiktiven Ratschläge aus Piatos „ S t a a t " nicht nur als Spiegel der griechischen Erziehungswirklichkeit, sondern auch als anwendbare Regel für moderne Zeiten angesehen wurden, ist nicht so wichtig wie überhaupt die neue Hereinnahme Piatos in das Erziehungsgespräch. Sie mag mitbestimmt sein durch eine verwandt empfundene geistige Situation: der deutsche Idealismus wie die Philosophie Piatos bezeichnen krisenhafte Situationen, in denen ein Bewußtsein davon aufkommt, daß die politische und die individuale Ethik in Spannung geraten, ja einander widersprechen können und daß es diese Spannung durch ein neues Denken und erziehendes Handeln zu überbrücken gelte (29). E s ist wohl bezeichnend, daß die nicht minder politische Gegenströmung zur platonischen Paideia, die pragmatisch-rhetorische Pädagogik des Isokrates, in dieser historischen Literatur kaum erwähnt wird. Langsam haben sich diese Studien über die antike Erziehung zu Gesamtdarstellungen der Geschichte der abendländischen Pädagogik ausgeweitet. Bis auch die modernen Epochen auf dem Niveau z. B. von Cramers Werk erforscht wurden, verging jedoch noch geraume Zeit. 3. V E R G L E I C H E N D E PÄDAGOGIK]

Erste Ansätze zu einer vergleichenden Pädagogik finden sich ebenfalls in dieser Epoche. Die K r a f t der idealistischen Geschichtsphilosophie allerdings, welche die historische Forschung so stark belebte, ist den vergleichenden Wissenschaften nicht zugute gekommen, und die literarische Vorliebe des 18. Jahrhunderts für fremde Kultur- und Bildungswelten, die oft mehr eine ironische Distanz von der eigenen Umgebung bezweckte als die Erkenntnis der fremden, war auch schon verklungen. Dennoch steht auch die pädagogische Morphologie in einem größeren Zusammenhang. In Frankreich waren gegen Ende des Jahrhunderts auf dem Gebiete der Osteologie die vergleichenden Naturwissenschaften entstanden. Goethe hatte mit seiner Einleitung in die vergleichende Anatomie

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und dem Versuche einer allgemeinen Vergleichungslehre den exakten Studien einen weiteren geistesphilosophischen Hintergrund gegeben. Und Wilhelm von Humboldt hat auf diesem Hintergrunde eine „vergleichende Anthropologie" erarbeiten wollen und dafür Materialien gesammelt, bis er das Thema als zu weit gespannt erkannte und sich beschränkte auf eine vergleichende Sprachwissenschaft (30). Für eine vergleichende Pädagogik hat wohl auch Montesquieu den Weg mit bereitet, indem er seiner Typologie der Staatsformen eine solche der Erziehungsgrundsätze jedenfalls andeutungsweise an die Seite stellte. Als erstes selbständiges Werk dieser Disziplin ist des Parisers Marc-Antoine Jullien „Esquisse et Vues priliminaires d'un Ouvrage sur l'Education comparde" (1817) anzusprechen (31). Jullien wollte die Pädagogik in den Rang einer positiven Wissenschaft erheben durch ein genaues Studium der besonderen, auch politisch-gesellschaftlichen Bedingungen aller Erziehungssysteme, allerdings noch mit dem Ziel, eines Tages durch Abstraktion von den jeweiligen Sonderheiten die Erfahrung aller Länder für den Aufbau des einen, vollkommenen Erziehungswesens zu verwerten. Er versprach sich von solcher Vergleichung aber auch eine politische Erziehungswirkung, nämlich ein wachsendes Verständnis der Völker füreinander, ein Schwinden der unheilvollen „preventions nationales". Sein Werk blieb unter den Zeitgenossen ohne großen Widerhall. Zunehmend entwickelten sich jedoch die Einzelbeschreibungen der Erziehungssysteme fremder Länder von Kuriositätensammlungen im Stile des 18. Jahrhunderts zu pragmatisch-vergleichenden Untersuchungen analog zu entsprechenden Werken auf dem Gebiete der Staatslehre. Es zeigt sich darin ein ähnlicher Antrieb wie in der historischen Pädagogik, nämlich das Bewußtsein der Einmaligkeit lokaler und historischer Situationen und der Notwendigkeit, die geistesgeschichtlichen und politischen Sonderbedingungen eines jeden Erziehungssystems zu erforschen. In der deutschen Literatur war es hier zumal England mit seiner Selbstverwaltungstradition, über das zunächst ganz vage, noch von Montesquieus Englandurteil beherrschte Vorstellungen umliefen, das aber nun Gegenstand weiteren Interesses und fundierter Untersuchungen wurde. Großes Aufsehen erregte das Buch von Steins Mitarbeiter und späterem Nachfolger Ludwig von Vincke „Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens" (1815), von dem der Herausgeber, der Historiker B. G. Niebuhr, sagt, daß es offensichtlich nicht zu historischer

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Belehrung allein, sondern „zu praktischer Beherzigung" geschrieben sei und daß den Verfasser nur die Last seiner Dienstgeschäfte verhindert habe, „eine Überarbeitung zu übernehmen mit Rücksicht, deutschen Ländern Einrichtungen wiederzugeben, die den hier geschilderten britischen dem Geiste nach entsprächen (und ohne Künstelei aus einheimischen Formen hergestellt werden könnten)" (32). Vincke sieht die planmäßige Nationalerziehung zwar als nützlichen Mitbildner des englischen öffentlichen Geistes, aber keineswegs als einen Hauptfaktor an, schon weil sie gar nicht alle Stände erfasse. Auch die Konstitution ist für ihn nicht das Entscheidende, wenngleich die von ihr garantierte Freiheit der öffentlichen Urteilsbildung nicht abgedungen werden kann. Die Hauptleistung aber ist „die ausgedehnte Teilnahme an den öffentlichen Geschäften", die durch sich selbst erzieherisch wirkt und „Verstand und Rechtlichkeit, Vaterlandsliebe und Gemeingeist, Gewandtheit und Selbständigkeit" hervorbringt. Die Erziehungsgedanken des Freiherrn vom Stein werden hier aus den englischen Zuständen abgelesen. Andere Werke setzten diese Betrachtungen auf staatswissenschaftlichem Gebiete fort und stellten dabei auch das englische Erziehungswesen mit ähnlichen Akzenten dar (33). Ein Gegenbild der freiheitlichen englischen Verhältnisse wurde der deutschen Erzieherwelt vor Augen geführt durch Friedrich Thierschs Schilderung Frankreichs in seinem umfangreichen Bericht „Über den gegenwärtigen Zustand des öffentlichen Unterrichts in den westlichen Staaten von Deutschland, in Holland, Frankreich und Belgien" vom Jahre 1838 (34). Amtliche und private Reisen zum Studium des Erziehungswesens benachbarter Länder waren seit einiger Zeit üblich. Ein berühmter Vorläufer des Buches von Thiersch war der offizielle Bericht, den der französische Philosoph und Reorganisator der 'Ecole normale' Victor Cousin über das preußische Schulwesen erstattete (35). Cousin war nach der Julirevolution im Auftrage der neuen französischen Regierung nach Deutschland gereist. Sein Bericht, der nicht nur in Frankreich, England und Amerika, sondern auch in Deutschland eine bedeutende Wirkung gehabt hat (36), hebt in gewisser Einseitigkeit die Verwirklichung philosophisch-idealistischer Grundsätze und den Fortschritt des Verstaatlichungsprozesses im preußischen Schulwesen hervor. War es doch die erklärte Aufgabe dieser Reise, bestimmte Züge des preußischen Systems für die Neuordnung des französischen Erziehungswesens fruchtbar zu machen (37).

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Ein deutsches Gegenwerk über die französische Erziehung ließ nicht lange auf sich warten, blieb aber ohne Rang und Erfolg (38). Um so wirksamer wurde Thierschs genannter Reisebericht, in dem Frankreichs Schulwesen den größten Raum einnimmt und Cousins Bewunderung für die deutschen Schulen schlecht vergolten, ja gegen ihn selbst und gegen seine Eliteschule scharf polemisiert wird. Thiersch, der bekannte Philhellene und leidenschaftlichste Propagator des Neuhumanismus in Süddeutschland (39), sieht das Erbe der Napoleonischen Universit6 als das eigentliche Verderben sowohl des humanistischen als auch des politisch-freiheitlichen Wesens der Bildung an. Schon aus dem Wortlaut des Napoleonischen Statuts leuchte „der politische Zweck der Institution . . . hervor: die Monopolisierung und Uniformität des Unterrichts, auf welche sie berechnet wird, ist das Mittel, der Zweck aber ist, eine Jugend zu erziehen, deren Pflichten in dem enthalten sind, was der Kaiser für sich, seine Monarchie und Dynastie begehrt" (40). Dieser Geist der Universite erhalte sich mit Zähigkeit aufrecht, am stärksten verkörpert in der Ecole normale, dieser kasernenähnlichen Abrichtungsanstalt jesuitischer Bildungstradition, in der ein jeder in die gleiche Schraube und Presse gezwängt werde — eine große Denk- und Lehrmaschine zu politischen Zwecken (41). Sie enthalte jedoch nur im kleinen, WEIS im großen das ganze französische Schulwesen sei: eine „mehr als chinesische Stutz- und Hobelbank des intellektuellen Zwanges", in der alle wahrhafte Erziehung mit ihrem notwendigen Prinzip der Freiheitlichkeit verkommen müsse. Das deutsche und das englische Bildungsprinzip werden diesem Zwangssystem gegenübergestellt. Das ganze Zerrbild soll natürlich als Warnung vor deutschen Politisierungsund Zentralisierungsbestrebungen dienen; es hat die staatsfeindliche Seite des schulpolitischen Liberalismus und der neuhumanistischen Bildungspolitik stärken helfen. In die gleiche Zeit fällt das erste große Werk einer auch über Europa hinausgreifenden vergleichend-deskriptiven Schullehre, I. H. von Wessenbergs „Elementarbildung des Volkes" (42). Auf kirchenpolitischem Gebiete ist Wessenberg, der langjährige Verweser des Fürstbistums Konstanz bis zu dessen Auflösung im Jahre 1827 (43), eine umstrittene Persönlichkeit gebheben. Im pädagogischen Bereiche aber sind seine hohen Verdienste unbestreitbar. Beeinflußt besonders von Sailer und Pestalozzi, hat er für die Hebung der Lehrer- und Geistlichenbildung, für die Volksund die Fortbildungsschule und für die Ausbreitung pädagogischen

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Denkens auch im Theologenstande Vorzügliches gewirkt. Auch am Erlaß der Verfassung sowie am politischen Aufbau des Landes Baden — der ja zu den bedeutendsten politischen Leistungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts gerechnet werden muß — war Wessenberg als Berater des Großherzogs Karl (gest. 1818) und als Mitglied der ersten Kammer hervorragend beteiligt (44); in der stets etwas stiefmütterlich behandelten Erziehungsgeschichte Süddeutschlands gebührt ihm ein bedeutender Platz. In seinen Mußejahren seit 1828 hat Wessenberg eine Anzahl großer Reisen nach Italien, Frankreich, Spanien, Belgien und Holland unternommen, die ihm wohl grundlegende Anschauung und Materialien zu seiner vergleichenden Arbeit über das Volksbildungswesen geboten haben. Eine umfangreiche statistische, volkskundliche und Reiseliteratur hat er außerdem durchforscht, um alle damals literarisch interessanten Länder bis nach Persien, Indien, Japan und Südamerika hin in seine Darstellung einbeziehen zu können. Aus dem französischen Erziehungswesen hebt er besonders die Diskussion um die Unterrichtsfreiheit hervor und unterstreicht die Gefahren eines jeglichen Monopols, des Staates, der Kirche oder sonst irgendeiner Macht. Die Schweiz ist für Wessenberg wie für das ganze pädagogische Deutschland das Land der großen modernen Erzieher, Pestalozzis, Girards, Fellenbergs. Besonders aber wird wieder die englische Erziehimg herausgestellt, welche die Kinder — ebenso wie man die schönen Parks dort hege — in Freiheit und Natürlichkeit gedeihen lasse und nur hier und da ein wenig korrigiere. ,,Man prägt den Kindern die kriechende Hochachtung nicht ein wie in anderen Ländern." — „Auch schon als Kind ist der Brite freier Bürger im väterlichen Hause" (45). Im ganzen werden die Maßstäbe eines gemäßigten Liberalismus an die dargestellten Erziehungssysteme angelegt und im Zusammenwirken der staatlichen und kirchlichen Kräfte der Weg einer Erneuerung des Volkes durch die Erziehung gesehen. In einem Anhang zu seinem Buche hat Wessenberg auch die Frage erörtert, wie die Volksschulen für die „Belebung des vaterländischen und konstitutionellen Sinnes" wirken könnten. Seine Vorschläge gleichen denen, die der Freiherr vom Stein für die Hebung des Geschichtsbewußtseins und der Vaterlandsliebe gemacht hat (46). Aus dem Freundeskreis Wessenbergs stammt auch ein zweites größeres Werk der vergleichenden Pädagogik, das sogar ausschließlich dem Verhältnis von Staat und Erziehung gewidmet ist und

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die Schulpolitik Frankreichs, der deutschen Staaten, der Eidgenossenschaft, Schwedens, Englands, Nordamerikas und der Niederlande nebeneinanderstellt. „Die Freiheit des Unterrichts mit besonderer Rücksicht auf das Königreich der Niederlande" lautet nicht ganz kennzeichnend der Titel dieser Studie. Als der anonyme „wahrheitsliebende Schweizer", als der sich der Autor bezeichnet, läßt sich eindeutig der im Aargau gebürtige, in Freiburg im Breisgau, dann in den Niederlanden und später in Stuttgart wirkende Historiker und Kirchenrechtler Emst Münch ansprechen (47). Politisch-liberaler Katholik wie Wessenberg, aber militanter und scharf antiklerikal, in Verbindung mit zahlreichen bedeutenden Männern seiner Zeit stehend, u. a. mit Rotteck, dem er eine Monographie widmete, mit dem Freiherrn vom Stein, mit Luden, Uhland und Görres, wurde er auf Empfehlung von Wessenberg und B. G. Niebuhr vom König der Niederlande Wilhelm I. nach Lüttich berufen (1828), wo er alsbald in die vorrevolutionären Wirren und in heftige persönliche und politische Anfeindungen hineingeriet. Die verwunderliche Tatsache, daß sich in der belgischen Opposition extremer Liberalismus und politischer Katholizismus zusammengeschlossen hatten, um die maßvoll-liberale Verfassung und das fortschrittliche Unterrichtswesen zu stürzen und eine schrankenlose Unterrichtsfreiheit auszurufen, das Erstaunen ferner darüber, daß das liberale Europa größtenteils diese Kämpfe und Bestrebungen mit Sympathie verfolgte, gaben den Anlaß zu Münchs Schrift. Sie untersucht die Unterrichtsfreiheit in den konstitutionellen und für konstitutionell geltenden Staaten und trägt insbesondere über das französische und das niederländische Erziehungswesen interessante Tatsachen zusammen (48). Das Ergebnis der Untersuchung hat allerdings sicher von vornherein festgestanden und wird aus den oberflächlichen Teilen der Arbeit — z. B. den historischen Ausblicken und dem Abschnitt über die nordamerikanische Erziehimg, von der gesagt wird, nichts sei für sie durch private, alles Nennenswerte durch staatliche Initiative geleistet worden — ebenso bestimmt abgeleitet wie aus den sorgfältig fundierten. Es lautet: völlige Freiheit kann nur dazu führen, daß der Unterricht der Machtgier einzelner Gruppen zum Opfer fällt. Daß die Klerikalen hier extrem-liberale Theorien stützen, beweist ihre eigenen Absichten, das Erziehungswesen auf dem Wege der Unterrichtsfreiheit an sich zu reißen. Allein der konstitutionelle Staat kann den Unterricht vor solchen Usurpationen schützen, indem er selbst ihn in die Hand nimmt. Kontrolle durch

Schulverfassungslehre

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die Eltern, freie Presse und Verfassung werden dafür sorgen, daß der Staat keinen Mißbrauch mit diesem Alleinrecht treiben kann. Münch selber ist schließlich den von ihm bekämpften Richtungen zum Opfer gefallen. Er mußte seinen Lehrstuhl aufgeben und in Süddeutschland ein Unterkommen suchen. Die politischen Ereignisse in Belgien, auf die er die Aufmerksamkeit gelenkt hat und in denen vielleicht zum ersten Male die Unterrichtsfrage entscheidend für ein ganzes Staatsschicksal geworden ist, brachten den europäischen Liberalismus an einen Scheideweg. Waren vorher staatliche und antistaatliche Strömungen innerhalb des liberalen Denkens ineinander verfilzt gewesen, so schieden sie sich von nun an. Die schulpolitischen Fragen blieben für das Bewußtsein dieser Trennung von großer Bedeutung (49). Die Urteile dieser Vergleichungsliteratur haben sich im liberalen Deutschland und in weiten Kreisen der Lehrerschaft durchgesetzt. A. Diesterweg reicht nur gängige Münze weiter, wenn er 1854 schreibt: „Was ist . . . das Hervorstechende in dem Leben des Engländers, in seinem Charakter, seinen Sitten, seinen Zuständen, seiner Verfassung? Antwort: die persönliche, die individuelle Freiheit [nämlich das germanische Prinzip I] . . . Ganz anders der Franzose.. . Das Wesen desselben besteht in der Abhängigkeit vom Staate. Der Romane und folglich der Franzose ist alles im Staate, er ist nichts ohne den Staat — eine Folge geschichtlich mächtiger Verhältnisse" (50).

4. S C H U L V E R F A S S U N G S L E H R E

Während die Zeit um die Jahrhundertwende, die Generation der noch der Aufklärung verhafteten „Staatserziehungswissenschaftler", reich war an Plänen für eine 'natürliche* Organisation des Schulwesens, hat sich die Folgegeneration der humanistischidealistischen und individualisierenden Pädagogik wenig mit Organisations- und Schulverfassungsfragen beschäftigt. Nur ein ordnungsliebender Schulmeister, der Gubener Gymnasial-Konrektor Wilhelm Sause, hat in seinem vierbändigen Lebenswerk ein bis in alle Konsequenzen verstaatlichtes Schulwesen durchdacht und aus dem Gedanken der griechischen Polis und der Hegeischen Staatsphilosophie eine Schulverfassungslehre entwickelt (51). 8 Flitoer

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Auch Sause weiß dabei, daß sich diese organisatorischen Fragen nicht an und für sich, nicht „denkbildlich" abhandeln lassen, sondern der Wirklichkeit angelehnt werden müssen. Er weiß, daß der Staat und seine Gesetze nur in zeitlicher und lokaler Konkretion, in den gewachsenen Verhältnissen der Gesellschaft zu betrachten sind. Die Erziehung muß „volksgemäß" sein, muß auf der Vergangenheit des Staates ruhen und die Zukunft aus ihr formen (52). Dennoch ist er überzeugt, daß die organisatorischen Fragen auf allgemeingültige Weise abgehandelt werden können, wenn man dabei nur an den richtigen Stellen Spielraum für die historischgeistige Entwicklung vorsieht. Die geistige Autonomie des Erziehungswesens zu garantieren, ist dabei eine Hauptaufgabe der staatlichen Gesetzgebung. Behördlich-utilitaristische Gesichtspunkte dürfen die Pädagogik und auch die Schulverwaltung nicht berühren. Die pädagogischen Fachleute wissen, was an der Zeit ist; sie müssen als demokratische Körperschaft des Geistes sich selbst verwalten, so wie es in den Universitäten schon in Grenzen üblich war (53). Sie müssen nicht dem Staat gegenüberstehen, sondern selbst Staat, konstituierender Teil des Staates sein mit den Privilegien einer bedeutenden Beamtenschaft. Sie sollen das Recht haben, in kritischen Zeiten in die Geschichte des Staates selbst einzugreifen und das Rad mit großem Schwünge weiterzutreiben. „ E s ereignet sich, daß die öffentliche Erziehung genötigt wird, mit der Lebensweise und den Ansichten eines großen Teiles des Volkes in einen schneidenden Gegensatz zu treten. So hat sie ein erschlaffendes Volk kräftig anzuregen; ein ausschweifendes auf Mäßigkeit und geordnete Lebensweise zurückzuführen; im Ringen um Freiheit die Jugend streng in gesetzlichen Schranken zurückzuhalten; nachsichtig gegen Verletzung äußerer Formen zu sein, wenn diese von vielen überschätzt, das Wesen der Sache dagegen gering geachtet werden sollte; streng auf die Beobachtung äußerer Formen zu dringen, wenn der unsaubere Geist der Unordnung und der Gesetzlosigkeit unter der Jugend sich zu regen beginnt" (54).

So soll die Lehrerschaft eine autonome pädagogische Korporation bilden, einen Staat im Staate. Kurzsichtig wäre es, die Vollmacht des Lehrers auf den Unterricht zu beschränken, wie es das preußische Landrecht noch tut. Der Lehrer muß wirklich Erzieher, d. h. Führer des ganzen Lebens sein. Privater Unterricht ebenso wie der Einfluß privater Personen, der alten Schulpatrone, aber auch der Gemeinden oder anderer lokaler Behörden, ist ganz zu

Schulverfassungslehre

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unterbinden (55). Da der naturrechtliche Anspruch des Kindes auf Erziehung nur durch den Staat, nicht aber durch die Eltern geschützt werden kann, darf den Eltern das letzte Wort in Erziehungsfragen nicht bleiben. Sie würden nur ihre eigenen ständischen Befangenheiten zu vererben suchen. So muß die Schule auch das 'Elternrecht', dessen naturrechtlicher Charakter überhaupt bezweifelt wird, in Konfliktsfällen übergehen, ja solchen „Maßregeln oder Anordnungen der Eltern, welche der Erziehung verderblich sind oder werden können, eifrig widerstreben" (56). Zwar ist es günstiger, wenn das Volk zur Einsicht in die Vorteile der Erziehungsmaßnahmen geführt werden kann. Ist das aber nicht möglich, so steht dem Staat das Zwangsrecht ohne weiteres zu. Der Erzieher „muß in jeder Hinsicht volle Gewalt über die Zöglinge kraft der bürgerlichen Gesetze besitzen: denn schadet irgendwo Halbheit der Maßregeln, ängstliche Umgrenzung der amtlichen Vollmacht im Zugestehen und Verneinen, so in der Erziehung. Der Erzieher von Amts und Rechts wegen ist den Zöglingen die höchste Behörde", die den „Geist der Autorität und des Gehorsams" aufrichten muß. Der also gestützten Erziehung obliegt es, „die Gesinnung der Zöglinge zu berichtigen und zu regeln. Denn nur auf diesem mühsamen Wege bildet sich allmählich eine öffentliche Meinung im Staate, welcher man in dessen Angelegenheiten Vollgültigkeit zuzuschreiben vermag" (57). Nur so wird der Staat in seinem Bestände gesichert und sein oberster Zweck, „die unbedingte Herrschaft des vernünftigen Willens", verwirklicht werden. Dieser „vernünftige Wille" ist ähnlich verstanden wie Hegels Weltprinzip, als zunehmende Identität des Einzelwillens und der im Staate real gewordenen absoluten Vernunft. Gegensätze zwischen dem Staat und dem Einzelnen, zwischen der Schule und der Familie werden durch die zunehmende Bildung aufgehoben. Die feindselige Stellung, die in Europa noch so viele gegen den Staat einnehmen und die aus barbarischer Lehnsgesinnung, aus mißverstandener christlicher Lehre und aus „maßloser Kirchenherrschaft" stammt, wird mehr und mehr zurückgehen und „jedes Staatsglied das eigene Wohl allein im Wohl des ganzen Staates erkennen und finden." Sause ist mit seiner Forderung einer absoluten Schulherrschaft des Lehrerstandes, die weder durch die Eltern noch durch die Kirchen oder durch politische Körperschaften begrenzt und beaufsichtigt wird, ein Einzelgänger geblieben. Doch weisen manche 8*

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Die Pädagogik als Wissenschaft

seiner Vorschläge hin auf den großen Sturmlauf der Lehrerschaft gegen die interessengebundene und erzieherisch ungerechtfertigte Bevormundung des Schulwesens von allen Seiten: auf die schulpolitischen Bewegungen des Jahres 1848.

So ist in diesen ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Pädagogik in eine neue Phase, ja vielleicht überhaupt erst in die Mündigkeit einer selbständigen Disziplin eingetreten. Und das Bewußtsein ihrer Verflochtenheit mit Politik und Gesellschaft hat seinen erheblichen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Vieles von diesen Ansätzen hat zunächst nicht weiterwachsen können und ist im Herbartianismus und Positivismus der Folgezeit verkümmert. Erst an der Wende zu diesem Jahrhundert wurden von Dilthey und seinen Schülern, von Kerschensteiner und der „Pädagogischen Bewegung", von der vergleichenden Erziehungswissenschaft besonders des Auslandes die soviel früher entstandenen Gedanken und Probleme weitergeführt.

SECHSTES KAPITEL

POLITISCHE T H E O R I E V O N A D A M MÜLLER BIS Z U K A R L M A R X i. KONSERVATIVE STAATSLEHRE

Auf dem Gebiete der Staatslehre sah das frühe 19. Jahrhundert ganz wie auf dem des juristischen und historischen Denkens einen Gegenstrom wider die rationalistischen Konstruktionen der Aufklärung, der Revolution und des Liberalismus. Romantisches und konservatives Denken trafen sich und machten das Recht der historischen Kontinuität, der gewachsenen Einheiten, der überpersönlichen und irrationalen Werte geltend. Demgegenüber erschien die Erziehung, besonders die zeitgenössische Erziehung der Philanthropen und Pestalozzianer, aber darüber hinaus der ganze Erziehungseifer der Epoche als Irrtum und Anmaßung. Und zwar auf zweierlei Art: einmal überhaupt als rationale Weise, sich des Menschen zu bemächtigen und ihn als einzelnen zur Persönlichkeit vervollkommnen zu wollen; zum anderen wegen des in den Erziehungsforderungen liegenden naturrechtlichen Anspruchs und seiner politischen Konsequenzen. In der Rationalität und Planmäßigkeit der Erziehung, die sich schon ausdrückt in der Schulpflicht und Schulorganisation, sahen die Konservativen und ihre Staatslehrer ein erstes Stück der aufklärerischen Welt. „Das Leben erziehet den Mann, und wenig bedeuten die Worte." Die bestehenden Ordnungen und Werte, die unbewußt übernommen werden, die Wirkungen des Volksgeistes und der korporativen Strukturen der Gesellschaft, die Herrschaftsformen vor allem sind die eigentlichen Erziehungsmächte, die seit Jahrtausenden wirken. Die modernen Veranstaltungen des Staates hingegen, seine Ambitionen, den Menschen auf dem Verwaltungswege zu bessern, sind erst durch Aufklärung und Revolution in Schwang gekommen und geeignet, die politische und soziale Ordnung der Welt zu ruinieren. So etwa heißt es bei Karl Ludwig von Haller, nach dessen „Restauration der Staatswissenschaften" man die ganze Epoche zu benennen pflegt. Daß der Staat „Universal-

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Politische Theorie von Adam Müller bis zu Karl Marx

Arzt und Schulmeister" sein, für Erziehung, Wohlfahrt, Kranke und Arme sorgen solle, das sei eine „unsinnige Lehre, die nicht nur aus keinem Rechtsgrund hergeleitet werden kann, sondern alle Freiheit, alle wahre Wohltätigkeit vernichtet" (i). Allein um den Regenten allen Dank für ihre freiwillige Fürsorge zu entziehen, haben die Revolutionäre diese Fürsorge in eine Staatspflicht verwandeln wollen. Die natürliche Ordnung erheische jedoch, daß ein jeder für sich selbst sorge, auch seine Kinder selbst unterrichte oder unterrichten lasse und sein Leben durch eigene Mittel erhalte. Das werde man wieder erkennen, wenn „die Wut des Systemisierens, Uniformierens und Gleichmachens" einmal vorüber sei (2). Die Folge dieser Haltung war, daß eigentliche Erziehungswerke im konservativen Lager kaum verfaßt worden sind und daß sich auch die Staatslehrer auf den Kampf gegen die Erziehungsbewegung beschränkt haben. Einzig Wilhelm Götte hat „Ideen über Erziehung und Unterricht im Geiste der Monarchie" bekanntgegeben, sich dabei aber im Sinne Hallers mehr gegen die veranstaltete Erziehung überhaupt als für sie ausgesprochen. „Gott hat für die Menschen keinen Schulplan entworfen; den haben erst die Philosophen gemacht, die aus der Erde ein großes Schulhaus zimmerten, in welchem unten im Souterrain die vorchristlichen Völker das ABC lernten und die folgenden, Classe für Classe, weiter stiegen, bis sie die summos honores der Menschenwürde capierten" (3). Mit diesen Philosophen ist nicht etwa Hegel gemeint, den Götte einmal „den gewaltigen" nennt, sondern die Philosophen der Aufklärung mit ihren Fortschritts- und Erziehungsideen, die philanthropischen Erzieher mit ihrer Nützlichkeitsbelehrung, die Kosmopoliten und Fremdtümler und alle die Schulplanschmiede, deren Vorschläge ja doch nur vom Gegenteil überzeugten und dahin brächten, „keine Erziehung als die des Lebens, keinen stärkeren Einfluß als den der Welt auf den Menschen anzuerkennen" (4). Die neuen Erziehungsund Gesellschaftslehren erinnern Götte an einen Garten im chinesischen oder französischen Stil, in dem alles mit Richtschnur und Winkelmaß abgeteilt ist, statt natürlich zu wachsen, so wie Gott es will. Auch der Staat sei, ebenso wie Wissenschaften und Künste, etwas Gewachsenes, sei nicht unser Produkt, sondern war eher als wir und stehe über uns. Der Staat ist „das Wesentliche, wir das Zufällige, er das Ewige, wir das Vergängliche, der Staat das, worin unser ganzes Sein, unser Leben und Weben, unser Glück etc. wurzelt. Durch den Staat ist der Mensch alles, ohne den Staat nichts, nicht einmal Mensch, sondern Tier" (5).

Konservative Staatslehre

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So erhebt sich der Staatsgedanke gelegentlich bis in die Nähe Hegels, aber ohne daß daraus im Namen dieses Staats und für seine Kraft und sein Fortleben die Erziehung herangezogen werden dürfte. Weder das individualistische, auf Persönlichkeitssteigerung bedachte Schulwesen des Neuhumanismus schien dem Staate zuträglich, noch die Pestalozzische Erziehung, die, wie Haller sagt, geradezu dahin berechnet sei, „den Zöglingen Gleichgültigkeit und Abneigung gegen die christliche Religion, Haß gegen alle natürlichen Oberen, Unzufriedenheit mit den sozialen Zuständen und revolutionäre Gesinnungen einzuflößen" (6). Denn in beiden Erziehungsbewegungen, der humanistischen sowohl wie der philanthropisch-pestalozzischen, steckte ein Stück Naturrecht, von dem schon mehrmals die Rede gewesen ist, nämlich der als Recht formulierte Anspruch eines jeden Menschen, sich auszubilden und „die summos honores der Menschenwürde zu capieren". Eben diesen Anspruch bekämpfen die konservativ und romantisch orientierten Staatstheoretiker; Adam Müller etwa, der in seinen „Elementen der Staatskunst" (1809) „getrost alles Naturrecht außer oder über oder vor dem positiven Rechte leugnen" will (7), oder Heinrich Leo, der spitzfedrige Gegner Rankes, Ruges und Diesterwegs, der in seiner „Naturlehre des Staates" gerade den Anspruch der Rationalisten, die „natürlichen" Staatsprinzipien zu kennen, bekämpft (8). „Natur" ist für ihn das historisch Gewachsene, gerade das Gegenteil von den Konstruktionen der Verstandesanmaßung, vom „Hinarbeiten in der Verfassung auf eine abstrakte Spitze" (9). Ein solches abstraktes Gebilde, den Staat der Jakobiner und Saint-Simonisten, nennt er unnatürliche Ideenherrschaft, „Ideokratie" — dieser Terminus hat vielleicht zwischen dem Ideologiebegriff der französischen Ideologenschule und dem so andersartigen des Marxismus als Verbindungsglied gewirkt, nämlich die Verfemung der Idee formuliert. Die französischen „Ideologen" um Destutt de Tracy hatten ja aus ihrer zunächst diagnostischen Ideenwissenschaft alsbald auch eine normative Staats- und Erziehungslehre abgeleitet, indem sie aus der Analyse der menschlichen Empfindungen das Wesen des Menschen erschließen und damit auch Bescheid geben wollten über die Formen für das geistes- und sozialhygienische Aufwachsen und Zusammenleben (10). Gerade diese Staats- und Erziehungslehre wird von Leo als „Ideokratie" dentinziert; ihr wird der wahrhaft „natürliche", nämlich historische Staat entgegengesetzt. Man hätte erwarten können, daß in diesen Kreisen die Möglich-

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keiten erörtert worden seien, die gewachsenen Kräfte, den Volksgeist, die irrationalen Bindungen planmäßig zu stärken und Wege anzubahnen, wie sie die „völkische Erziehung" dann eingeschlagen hat. Das blieb jedoch aus. Man wollte offenbar nicht in die Nahe der romantisch-liberalen Ideen der Arndts und Jahns geraten und versteifte sich gegen die moderne Erziehungsplanung überhaupt. „Der Herr, der die Welt geschaffen, hat dem Menschen zwar viele Macht über seinesgleichen gegeben; aber nicht alle, aber nicht die letzte, die entscheidende" (11). Allenfalls zur indirekten Staatserziehung, die stets durch Gesetz und Regierung in irgendeiner Form erfolgt, scheint man sich Gedanken gemacht zu haben, in der Art, wie sie schon aus Anlaß der Erfurter Preisfrage auch von konservativen Autoren angestellt worden sind. So schreibt etwa v. Haller im Sinne seiner Lehre von der unbeschränkten Souveränität des Fürsten, man müsse darauf achten, daß alle Vergünstigungen stets als solche erkenntlich bleiben und nie als Ansprüche der Untergebenen erscheinen. Dazu sei erforderlich die „Vermeidung eines aus der revolutionären Schule hervorgeholten falschen Canzley-Sprachgebrauchs" (12). So dürfe der Fürst seine Landeskinder nicht „Bürger" oder „Staatsbürger" nennen, weil ihnen damit schon ein ständisches Eigenrecht eingeräumt werde, sondern er müsse sie als Untertanen anreden, geschieden nach Stand und Grad ihrer Abhängigkeit. Seine Befehle müsse er im eigenen Namen erlassen, nicht etwa im Namen des Gesetzes oder des Staates, wodurch „das sogenannte Gesetz" oder der Staat über den Fürsten gestellt und damit indirekt revolutionäre Prinzipien anerkannt würden (worin also auch die Prinzipien Friedrichs des Großen einbeschlossen sind!). Aber damit erschöpft sich schon, was man als politisch-pädagogische Grundsätze Hallers und der konservativen Staatswissenschaftler ansprechen könnte. Eine schulpolitische Theorie haben sie ebensowenig entwickelt wie eine eigentliche Pädagogik. Sie wollen die Organisation nicht und brauchen darum auch keine pädagogische Lehre. Erziehen sollen die Ordnungen, so wie sie waren und wie sie sind. 2. LIBERALE STAATSWISSENSCHAFT

Auf liberaler Seite herrschte für lange Zeit das von Mirabeau und Kant formulierte Ideal des asketischen Rechtsstaates, der sich selbst jedes höhere Leben versagt. Seine Erziehungsaufgaben sind beschränkt auf den Bereich der Pflege des Rechts und einer gewissen Sozialmoral, und selbst hier muß sein Ziel sein.

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rasch die allgemeine Mündigkeit herzustellen und den Schulmeisterdienst baldmöglichst zu quittieren. So etwa heißt es bei dem schon genannten K. S. Zachariä, der auch biographisch die Verbindving schafft zwischen den Kantianern der „Staatserziehungswissenschaft" um die Jahrhundertwende und den liberalen Theoretikern der dreißiger Jahre. In seinen „Vierzig Büchern vom Staate" (1820/32) erkennt er die immanente Erziehungsfunktion des liberalen Staates an. Die Öffentlichkeit der Politik, die Wahlen, die Freiheit der Kultur, die ganze Geselligkeit stellen oft verborgene, aber natürliche Weisen dar, in denen er erziehend wirkt (13). Staatliche Maßnahmen jedoch, die darüber hinausgehen, würden beweisen, daß der Staat seine Bürger als sein Eigentum betrachtet, mit dem er willkürlich schalten und walten und dem er die Geistesform diktieren könne. Solche Maßnahmen würden „mit unsern Rechtsbegriffen, mit unseren Ansichten von der Heiligkeit der elterlichen Gewalt, von den Verhältnissen der Familien zum Staate, von dem Wesen der äußeren Freiheit im Widerspruch stehn". Und ganz wie bei Humboldt heißt es: „Die Griechen setzten die Freiheit in das Mitregieren; uns ist Unabhängigkeit von der Regierung Freiheit" (14). Wo das gesagt wird, da ist der Verfassungsstaat in seinem Wesen noch nicht verstanden. Aber dieser fast staatsfeindliche Liberalismus verlor an Boden, vor allem die Naturrechtsdiskussion hat ihn einschränken helfen. Hatten die Frühliberalen im Hinblick auf die Staatserziehung zumal des aufgeklärten Fürstenstaates das Menschenrecht auf freie Bildung besonders gegen den Staat entwickelt, so bekam jetzt, im Zusammenhang auch mit den erwähnten Modellgeschehnissen in Belgien, die Auffassung mehr Gewicht, der Staat müsse das Bildungsrecht der Kinder notfalls auch gegen die Eltern sichern. Der Gedanke der Staatserziehung nicht im Staatsinteresse, sondern zur Wahrung des Naturrechts auf Bildung gewinnt seit den dreißiger Jahren im liberalen Denken Raum. So schreibt der Leipziger Staatsrechtler Friedrich Bülau in seinem „Handbuch der Staatswirtschaftslehre" (15): „Die Kinder sind nicht Eigentum der Eltern; sie sind ihrer Obhut anvertraut, damit sie zu guten Menschen und Bürgern gebildet werden. . . Die Kinder können nicht selbst eine Einsicht darüber haben, ob sie gut oder schlecht erzogen werden, und noch weniger können sie ihr Recht auf eine gute Erziehung gegen die Eltern durchführen. Also schon als Beschützer der Schwachen und Unmündigen kann der Staat von den Eltern verlangen, daß sie diese Pflichten gegen die Kinder nicht

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verabsäumen" (16). Damit fallen dem Staat erhebliche Rechte, nach Bülau auch das Vorschreiben der Unterrichtsmethoden, zu. Die Einsicht eines Lakanal, daß Unterrichtsfreiheit auch Methodenfreiheit erfordere, ist bei den Späteren wieder in Vergessenheit geraten (17). Mannigfach sind die Abstufungen der liberalen Lehre des Vormärz und der innere Widerstreit ihres staatlichen und ihres antistaatlichen Prinzips. Robert von Mohl etwa sieht es als Lebensbedingung für den Rechtsstaat an, daß er auch Erziehungspflichten wahrzunehmen weiß, und räumt der „Bildungspolizei" ein weites Recht ein, während sich F. C. Dahlmann alles von der Selbstregelung des Bildungswesens verspricht (18). Ein Konzentrat der inneren Probleme des Liberalismus bietet das Staatslexikon von Rotteck und Welcher, hervorragend aus der Zeitliteratur sowohl wegen der enzyklopädischen Konsequenz, mit der es die liberale Lehre auf alle Gebiete des privaten und öffentlichen Lebens anwendet, als auch wegen seiner publizistischen Wirkung. Es hat ein Handbuch zur politischen Volksbelehrung sein wollen, hat sich vorgenommen, „alle in Stand zu setzen, die Rechte und Pflichten auszuüben, welche ihnen in der Eigenschaft als aktive Bürger eines konstitutionellen Staates oder überhaupt als mündige . . . Bürger eines Rechtsstaats zustehen" (19). Und es ist tatsächlich ein solches Volksbuch geworden, vielleicht gerade durch seine lexikalische Form, die bei den täglichen Lebensanlässen zur Informationssuche einlud und von konkreten Einzelfragen zu politisch-grundsätzlichen hinführte (20). Im aufgeklärten Bürgertum Süddeutschlands ist dieses Lexikon wohl das verbreitetste Profanwerk überhaupt gewesen und hat als allgemeines Arsenal liberaler Gedanken und Begriffe jahrzehntelang gedient. Die für unseren Zusammenhang wichtigen Artikel „Erziehung" und „Bildung" sind von Rotteck selber verfaßt, Meisterstücke klarer Formulierung und prägnanter Ausdruck der inneren Probleme des Liberalismus jener Zeit. Voraussetzungen des Liberalen sind: Erstens, der Mensch ist frei nach seinem Wesen, aber unfrei in seiner Situation, in den Schranken von Familie, Stand und Überlieferung. Sein Weg muß führen aus den beengenden Gegebenheiten in die Freiheit seiner Bestimmung, vom hilflosen Kinde zum autonomen Erwachsenen. „Homo non nascitur, sed fit." „Nicht schon die Geburt macht uns zum Menschen, sondern wir werden es erst durch die Erziehung, d. h. durch die Summe der auf Körper und Seele wirkenden Umstände" (21). Daß diese Um-

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stände keine zufälligen sind, sondern planmäßig die Ratio fördern und den selbständigen Menschen hervorbringen, das ist Geschäft und Ziel der Erziehung. Zweitens: auch der Staat ist seinen Gegebenheiten nach, in Recht und Verfassung, ein zufälliges Gebilde (die historische Fiktion eines Vertragsstaates ist preisgegeben). Aber er muß aus dem Zufälligen und Historisch-Gebrechlichen heraus und vernünftigen Normen zugeführt werden (22). Für beides, für den Weg des Menschen wie für den des Staates zu vernunftgemäßem und freiheitlichem Leben, ist alles nur von der Erziehung und Bildung zu hoffen. Die Erziehung darf also nicht dem Zufall überlassen bleiben, nicht dem freien Spiel kultureller Kräfte, von dem sich die Frühliberalen alles versprachen. Der Staat, für den sie eine Voraussetzung seines Bestehens bildet, muß sich um sie kümmern, muß das Geschäft der Aufklärung übernehmen. So kann z.B. das Recht nicht nur von Zwangsbestimmungen für den Übertretungsfall leben, sondern es setzt eine „freie Rechtsachtung", einen allgemeinen Willen zur Rechtlichkeit voraus, den der Staat bei den Bürgern wecken muß. Aber mehr noch: soll der Bürger durch eine liberale Konstitution an der Regierung teilhaben, so muß er die Voraussetzungen dafür mitbringen. Der Staat muß sich also um die „Erziehung der Bürger zur politischen Mündigkeit" kümmern, ohne welche „die Repräsentativ-Verfassung eine leere Form oder gar eine unheilvolle Täuschung ist". Diese beiden Leitgedanken bezeichnen also das Ziel staatlicher Erziehungsfürsorge: Recht auf Bildung und Bildimg zum Recht und zur „politischen Mündigkeit" für alle Bürger. Diese Begriffe aber drängen zu weiterer Präzision, und dabei gerät Rotteck notwendig an die Scheide der beiden Strömungen, des staatskritischen und des staatsbejahenden Liberalismus. Ein eigenes Erziehungsmonopol wird der Staat nicht errichten, damit griffe er nach der bürgerlichen Freiheit, die er ja gerade schützen will. Es genügt, wenn er für ein Angebot sorgt und sich im übrigen auf eine Leistungskontrolle der freien Erziehungsanstalten beschränkt. Aber: will er eine solche Kontrolle ausüben, so muß er offenbar Normen setzen, muß ein Maß „intellektueller, moralischer und technischer Bildung" bestimmen und mindestens jedem, der die bürgerlichen und politischen Rechte ausüben will, abverlangen. Und weiter: sowohl die allgemeine Rechtsgesinnung als auch die politische Mündigkeit verlangen Toleranz, Vorurteilsfreiheit und unbeeinflußte Meinungsbildung eines jeden. Offenbar muß der Staat sich also auch in private Institutionen

Politische Theorie von Adam Müller bis zu Karl Marx einschalten und dafür sorgen, daß alle zur Unfreiheit lenkende und Vorurteile oktroyierende Erziehung — Rotteck denkt hier natürlich an die kirchliche — unterbunden wird (23). Rotteck spürt, wie nahe er damit staatssouveränen Theorien kommt, die er sich ja gerade vom Leibe halten will. Er widersetzt sich ja ausdrücklich nicht nur dem Zentralismus eines Napoleon, sondern auch den Erziehungsgedanken Piatos für die sittliche Staatsidee. Wird die Erziehung „vom Staat und für den Staat" bestimmt, so ist die freie Entwicklung abgeschnitten und das Volk zu ewiger Stagnation verurteilt (24). So entsteht also ein Dilemma: staatliche Überwachung der Freiheit und Festlegung der Bildungsnormen durch die Definition der politischen Mündigkeit auf der einen — Gefährdung der höchsten Staatszwecke, nämlich der Erhaltung der persönlichen Freiheit und der Begünstigung des Fortschritts auf der anderen Seite. Rotteck findet die Grenzen zum einen wie zum anderen hin mit Hilfe seiner nirgends aufgetragenen, aber doch überall durchschimmernden Geschichtsphilosophie, der Lehre vom stetigen und berechenbaren geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt. Der Staat muß, um die Bildungsnormen festzusetzen, die „obwaltenden gesellschaftlichen Verhältnisse" und die „allgemeine Bildungsstufe des Volkes" ausmitteln, eine Art demoskopischer Selbsteinschätzung vornehmen und danach die Bildungsminima festlegen. J a er wird auch die Entwicklungslinie — gewissermaßen durch geometrisches Extrapolieren — in die Zukunft verlängern können und das Schulwesen festlegen nach den Grundsätzen einer geläuterten Pädagogik und nach „der erkennbaren Richtimg des vernünftigen Gesamtwillens" (25). Aus dieser Diagnose der gegenwärtigen Situation und der bevorstehenden Entwicklung (nicht nach seiner eigenen Willkür) darf der Staat den Maßstab nehmen, von da her darf er sowohl die Mindestbildung bestimmen, als auch kontrollieren, ob die Privaterziehung nicht dem vernünftigen Geist der Gesamtheit zuwider handelt. Rottecks Mitarbeiter K. Th. Welcker und K. H. Scheidler stellen in ihren diesem Zusammenhang zugehörigen Artikeln andere Probleme in den Vordergrund. Während Scheidler (Artikel „Pädagogik" und „Universitäten") den Staat vornehmlich über die Volkstümlichkeit der Erziehung wachen lassen will und sich dabei auf Jahns Volkstumsbegriff beruft, steht Welcker (Artikel „Sittlichkeit", „Belehrung", „Lehrfreiheit") den Erziehungsgedanken

Von Hegel zu Marx

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des Freiherrn vom Stein näher und will den Staat vor allem indirekt, durch die strukturierte Selbstverwaltung seines politischen Lebens, erzieherisch tätig sehen (26). Beide vertreten den französisch-orientierten, süddeutschen Liberalismus nicht mit der gleichen Konsequenz wie Rotteck, kommen aber im ganzen zu ähnlichen Folgerungen wie er, nämlich zu einer behutsamen Ablösung vom reinen Rechtsstaat der Frühliberalen zu dem sorgfältig eingegrenzten Bildungsstaat mit vornehmlich politisch-pädagogischen Pflichten. 3. VON HEGEL ZU MARX Hegel Die Geschichte des Staatsdenkens im frühen 19. Jahrhundert ist, so zeigte sich, gekennzeichnet durch zwei Hauptströmungen : eine realistisch-historische, die der Staatsräson ihr Eigenrecht zugesteht und teils der gewachsenen Staatsform und den überlieferten Rechten, teils den staatsimmanenten Prinzipien und einer absoluten Staatsidee mehr Bedeutung einräumt; und anderseits eine rational-vertragsstaatliche, die den Staat nur als Übereinkunft der ihn bildenden Individuen ansieht und von der möglichst großen Vernunft einer möglichst großen Zahl von Einzelbürgern alles erwartet. In der Geschichte der Bildungsprinzipien hält mit diesem Gegensatz seit der großen Geisteswende um 1700 ein anderer Schritt: der zwischen „humanitd" und „patriotisme", zwischen dem aus christlicher Sorge um die Einzelseele stammenden Individualbewußtsein und der auf Polisgedanken und Ideenrealismus zurückgehenden Politisierung des Menschen (27) — ein Kampf, von Rousseau wider sich selbst ausgetragen und von den deutschen pädagogischen Denkern der Revolutions- und Napoleonzeit in einer Unzahl von Kompromissen zwischen „Mensch" und „Bürger" nirgends zuende geführt. Diese Strömungen im Staats- und im Bildungsdenken fließen einmal zu einem mächtigen Strome zusammen, bevor sie sich wieder in verschiedene Arme trennen, im System Hegels, der letzten großen Einheit von individuellem und überindividuellem Wertsystem, von historisch-Gewachsenem und rational-Konstruiertem, von humanistischem und politischem Bildungsprinzip. Hegel selbst hat zwar seine pädagogischen Gedanken nie systematisch entwickelt. Er hat einmal an Niethammer geschrieben,

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er habe im Winter 1820/21 die Absicht gehabt, eine „Staatspädagogik" zu verfassen; aber was damit gemeint war, ist nicht sicher auszumachen (28). Schon der Hegelschüler Gustav Thaulow hat dann versucht, anthologisch die Erziehungsäußerungen Hegels zusammenzustellen und auf diese Weise eine Hegeische Pädagogik zu veröffentlichen (29). Die Hauptwirkung auch auf die pädagogische Diskussion ist aber zweifellos von Hegels eigenen Werken, seiner Geistesphilosophie und seiner Staatslehre ausgegangen, die zusammen eine Bildungslehre mit enthalten. Wollte man diese Bildungslehre in einen Satz zusammendrängen, so müßte er etwa lauten: „Erziehung hat den Menschen hineinzubilden in den objektiven Geist und in den Repräsentanten des objektiven Geistes, den Staat". Ihr Ziel ist die freie und bewußte Teilhabe des einzelnen Menschen am Geist (und an der Staatsgemeinschaft). Diese Teilhabe kann ihm nur werden dadurch, daß er sich den objektiven Ordnungen und den objektiven Bildungsgütem unterstellt. Verkehrt ist die Pädagogik der Philanthropen und Rousseauisten, die das „Kindische" hätschelt und pflegt. Denn dieses Kindische, Spontane, das „Natürliche" Rousseaus, hat keinen Teil am Geist und ist insofern ein defizienter Zustand, der überwunden werden muß. Was der Mensch sein soll, hat er nicht aus Instinkt, sondern muß er sich durch Zucht und Unterricht erst erwerben (30). Das bloß-Natürliche gilt es gerade zu überwinden, „die bloße Subjektivität des Benehmens, . . . die Unmittelbarkeit der Begierde,.. . die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens" zu bemeistern, indem man sich durch „Arbeit" dem Objektiven unterstellt. Dieses Objektive sind die Bildungsgüter, besonders die Kunde von der Antike, die Religion und die Philosophie einschließlich der philosophischen Geschichtsbetrachtung (31), die aber alle ihr Wesen und ihre Realität erst finden in der objektiven Gemeinschaftsordnung, dem Staat. Vorstufe dieser Gemeinschaftsordnimg und erster, anspruchslosester Bereich der Sittlichkeit ist die Familie. Hier dürfen persönliche Bande und Rücksichten noch vorwalten und alles Gemeinschaftliche stärken und versüßen. Mit dem Eintritt in die Schule kommt das Kind bereits auf eine nächste Stufe, nämlich in eine Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft hinein. Hier soll die Eigentümlichkeit des Kindes nicht mehr zu hoch veranschlagt werden, und die Behauptung, der Lehrer müsse die Individualität seiner Schüler studieren und danach sich richten, ist

Yon Hegel zu Maxx

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„ein leeres, ins Blaue gehende Gerede". „Die Eigentümlichkeit der Kinder wird im Kreise der Familie geduldet; aber mit der Schule beginnt ein Leben nach allgemeiner Ordnung, nach einer allen gemeinsamen Regel; da muß der Geist zum Ablegen seiner Absonderlichkeiten, zum Wissen und Wollen des Allgemeinen, zur Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung gebracht werden. Dies Umgestalten der Seele — nur dies heißt Erziehung" (32).

Eine weitere Stufe bringt sodann der Eintritt in den „Stand", den Kreis des Berufes, in die Trennung nach Tätigkeiten und Gewerben, die eine notwendige Trennung ist; „denn die allgemeine Substanz als lebendig existiert nur, insofern sie sich organisch besondert". Aber auch dies noch ist eine Vorstufe; erst über ihr findet sich die Instanz, in der sich die objektive Sittlichkeit sammelt und vollendet: der Staat. Der Staat ist „Wirklichkeit des göttlichen Willens, Träger des absoluten Geistes und aller Sittlichkeit". Die beste Erziehung weiß kein höheres Ziel, als den Menschen zum Bürger eines wohleingerichteten Staates zu machen (33). Weil der Staat „objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist" (34). Der Staat soll es darum zu seinem Gliede machen, soll die Übereinstimmung von Staats- und Einzelwillen herbeiführen und wird sich dazu verschiedener Mittel bedienen. Vor allem steht ihm seine eigene Form des Umgangs mit den Bürgern und die Grundlage dafür, nämlich Gesetz und Verfassung, zur Verfügung. Indem der Bürger zunächst durch Zwang und Gewöhnung dem Gesetz unterstellt wird, dann sich ihm freiwillig unterwirft und durch konstitutionelle Mitarbeit auch die Verfassung anerkennt und an ihr teilhat, wird er selbst ein sittliches Glied des Staates. Die Verfassungsurkunde möchte Hegel „auf Tafeln in den Kirchen aufgehängt, der erwachsenen Jugend beigebracht und zu einem stehenden Artikel des Schul- und kirchlichen Unterrichts gemacht" wissen (35). Selbstverwaltung und lokale Unabhängigkeit sowie eine gewisse Mitarbeit an der Gesetzgebung können den Staatsanteil der Einzelnen weiter fördern und „politische Gesinnung, Patriotismus überhaupt" erzeugen (36). Nicht daß die Unpersönlichkeit des modernen Staates wieder ganz rückgängig zu machen wäre. Die beruflichen und politischen Spezialisierungen unserer Zeit machen es für uns schwerer als es zum Beispiel für die Griechen WEIT, „das Gefühl und die tätige Vor-

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Stellung des Ganzen" zu bekommen. Auch von dieser politischen Seite her erhalten darum die klassischen Studien eine besondere Bedeutung, weil sie „die Art und Weise der Freiheit der alten Staaten, die innige Verbindung des öffentlichen und Privat-Lebens, des allgemeinen Sinnes und der Privat-Gesinnung" anschaulich machen und jene notwendige „Vorstellung des menschlichen Ganzen" geben (37). Solche sanften Mittel der Erziehung setzen allerdings voraus, daß die Einfügung in das Ganze, die harmonische Übereinstimmimg von Individuum und Staat tatsächlich zustande kommt. Unaufhebbare Konflikte gibt, es ja bei Hegel eigentlich nicht, und seine gelegentlichen Äußerungen über das „unendliche Recht" und den „unendlichen Wert" des Individuums müssen zurückstehen gegenüber der Lehre vom Recht des Weltgeistes und seiner Objektivierungen, der über alle Einzelrechte hinwegschreitet und um dessentwillen der Staat schließlich jede Gewalt brauchen darf, das Individuum sich einzuverleiben. Ja selbst der Krieg nach außen kann dem Staate als Erziehungsmittel dienen, die Einheit nach innen herzustellen, die Individuen aus ihrer „Partikularität" und ihrem „Versumpfen" herauszureißen und sie dem Staate wieder einzufügen (38). Nun hat allerdings die Hegeische Erhöhung und Überhöhung des Staates zu großen Mißverständnissen geführt, sowohl in der Hegelinterpretation als auch in der Ausnutzung und Umbildung der Hegeischen Lehre durch Spätere. Hegel hat nicht daran gedacht, die Erziehung total zu politisieren, wie es die Totalitaristen jüngster Vergangenheit wollten und von ihm gelernt zu haben glaubten. Wenn für Hegel der Staat den objektiven Geist repräsentiert, so hat sich für ihn der Staatsbegriff so ausgeweitet, daß das kulturelle und geistige Leben von ihm ganz mit umfaßt wird. Es ist in ihm „aufgehoben", nicht in dem Sinne, daß es ihm unterstellt wäre und die Politik den Vorrang beanspruchen könnte, sondern so, daß die Ganzheit der Geistesleistungen als eines genommen und von der Gemeinschaft des politischen und kulturellen Zusammenlebens nicht mehr abgetrennt wird. Und hier liegt Hegels eigentümliche Leistung für die Pädagogik, daß er gegenüber dem herrschenden Neuhumanismus ebenso wie gegenüber dem Aufklärungsdenken die Abspaltung des PolitischSozialen hat ungeschehen machen wollen, daß er gedanklich den Gegensatz von humanistischer Individualbildung und politischer Wirklichkeit überwunden hat. Ganz unabhängig von den besonderen Voraussetzungen der Hegeischen Philosophie stellt sich

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diese Aufgabe seither immer wieder: das Politisch-Gesellschaftliche als ein eigenes Bildungsprinzip im humanistischen Sinne zu erfassen und zusammen mit der individualistisch orientierten Erziehung „aufzuheben" in einem Gemeinsamen und Übergreifenden. Gerade dieses Zusammenklingen und aufeinander-Angewiesensein ist schon von der Schülergeneration nicht mehr recht verstanden worden. Der kolossalen Erhöhung des Staates hielten die unendliche Freiheit des Individuums und die Objektivationen des Geistes in allen seinen Bezirken unter den Epigonen nicht mehr die Waage. So steht Hegel unmittelbar am Rande vor dem „revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts", den K. Löwith so geistvoll beschrieben hat (39). Sein großartig-babylonisches Denkgebäude aber hat diesen Bruch mit herbeigeführt. Die Hegelianer Die Schüler und Anhänger Hegels haben in seinem Sinne eine Theorie der Staatserziehung zu entwickeln versucht. Fast alle haben sie dabei — unabhängig von ihrer politischen und theologischen Richtung, nach der man sie in „Alt-" und „Junghegelianer" zu scheiden pflegt (40) — den einen Gedanken als das Hauptmoment der Hegeischen Erziehungslehre erfaßt, daß der Staat vor allem durch seine Institutionen und Regierungsmaßnahmen fortwährend als Erzieher waltet und in diese objektiven Formen und Einrichtungen das Individuum hineinnötigen muß. „Der Staat enthält ein pädagogisches Moment durch alle seine Organismen h i n . . . Der Staat muß darauf ausgehen, durch die Vernunft seiner Einrichtungen die Bedeutung der Zufälligkeit der Subjekte aufzuheben. Er muß ihnen durch die Art seiner Organisation die Notwendigkeit der Freiheit notwendig machen. Gelingt ihm dies, so erzieht er . . . eben durch seine Institutionen, in deren Wesen das Subjekt, weil sie die herrschenden Mächte sind, sich hineinbilden muß" (Rosenkranz) (41). Die Pädagogik ist darum auch nicht schlechthin abzuhandeln, sondern nur in den konkreten Bereichen der ständischen Wirklichkeit, etwa als Erziehungsweg für die gelehrten und hohen beamteten Berufe, wie ihn A. Kapp in seiner „Gymnasialpädagogik" entwickelt (42). Diese staatlich-ständische Wirklichkeit muß neben den privaten Ansprüchen ihr Recht bekommen, ja oft gerade gegen sie und gegen die Familienerziehung behauptet werden. So soll die staatliche Schule auch dahin gelangen, „das vorerst fremde Gebiet 9

Flitnet

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der Familie zu dem ihrigen zu machen" und „im Namen des Staates die Familie selbst zu bilden" (43). Wie bei Hegel ist an einen konkreten Nationalunterricht in Sprache und Kultur, in Gesetzes- und Landeskunde hiermit gar nicht gedacht. Nur der Staat als Idee, abstrahiert von allem Gegenwärtigen, soll den Schülern deutlich werden und auf sie Einfluß gewinnen. Eine solche Politisierung wird nicht als Gegenzug zum humanistischen Bildungsideal verstanden, sondern vielmehr als seine Vollendung, als erreichte Einheit des persönlich unendlich berechtigten Individuums mit der Objektivität dessen, was bei Hegel und bei Kapp der Staat, bei Rosenkranz in weiterem und weniger politischem Sinne die vaterländische Gesellschaft ist (44). Gerade die für die Humanisten vorbildhafte Zeit, die griechische Antike des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts, schien ja den Beweis erbracht zu haben, daß humane und politische Bildung erst mit- und durcheinander vollendbar sind. In diesem Zeichen waren auch die früher erwähnten Bücher Kapps über die griechische Pädagogik entstanden (45). Die „Junghegelianer" haben aus den Hegeischen Gedanken sehr viel weitere Folgerungen gezogen, freilich die bei ihrem Meister noch sorgfältig ausbalancierte Waagschale des Individuums gegenüber der des Staates hoch emporschnellen lassen. Gustav Thaulow, der Kieler Pädagogik-Professor, glaubt seine Wissenschaft neu begründen zu können — „nachdem nun endlich das Denken nach langer Arbeit zu sich selbst gekommen ist" —, indem er sie als „Staatspädagogik" konzipiert. Er hat seine Vorlesungen und Seminarübungen thematisch ganz auf die Politik hin gerichtet, hat im Sinne der neuen historisch-pädagogischen Bewegung die Geschichte der Staatserziehung erforscht und eine Serie von Klassikereditionen auf diesem Gebiete vorbereitet (46). 1848 glaubt er den Zeitpunkt für die Nationalerziehung gekommen und sucht die Lehrerbewegung in seiner Richtung mitzureißen. Sein Aufruf bringt die große Lehrerversammlung in Kiel zustande, er selbst publiziert ihre Verhandlungen und Ergebnisse. Gleichzeitig läßt er seine Übersetzung eines der radikalsten Erziehungspläne der französischen Revolutionszeit erscheinen, den Entwurf des Michel Lepeletier, den er mit Robespierres Worten empfiehlt: „der Genius der Menschheit scheint diesen Entwurf gemacht zu haben" (47); „durch seine Großartigkeit, seinen eisernen Stil, das ergreifende einer mehr als menschlichen Humanität [!] vermag er einen Zündstoff in die Herzen der Regenten, der

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Reichen und der Lehrer zu werfen, der wundersam wirken könnte" (48). So identifiziert Thaulow seine Hegel-Pädagogik mit jenem Entwurf aus dem Robespierre-Kreise und hat auch in einem eigenen „Plan einer Nationalerziehung" Hegeische Gedanken und radikales Revolutionsdenken miteinander vermischt. Gemeinsamkeit und Verbindlichkeit einer Staatserziehung für alle soll danach die Standesgefühle, den Kastengeist, die Ungerechtigkeit aufheben und allen den Weg in alle Berufe eröffnen (49). Die Lehrer sämtlicher Schultypen müßten einheitlich vorgebildet werden und dadurch zu einer „gleichen Grundanschauung" gelangen, so daß sie auch die Jugend zur Gleichheit der Anschauungen führen könnten. Entscheidendes wird allerdings erst die Zeit nach der Schulentlassung, die Thaulow für alle in das 18. Lebensjahr setzen will, leisten. Zunächst der Wehrdienst, den er eine „politische Konfirmation als Seitenstück zu der kirchlichen" nennt und als eine der größten nationalen Wohltaten preist (50). Dann das öffentliche Leben des Staates, das sich selbst durch besondere Maßnahmen stets sinnfällig machen muß. „öffentliche feste Erinnerungen der Befreiungstage der Nation, Einführung des Geschworenengerichts und eines verständlichen deutschen Rechts, Einführung der XJrwahlen, Aufhebung aller Geburtsrechte, Verbannung aller Titel und Orden — das sind diejenigen Hebel der Nation, welche den Charakter der Nation mehr bilden als alle Schulen" (51). Verteilung der Zeitungen an jedermann und Abschaffung des Brief- und Zeitungsportos sollen den staatlichen Erziehungsvorgang stützen, für die Publizität aller politischen Ereignisse sorgen und die persönlichen Bande im ganzen Volke festigen (52). Zu einer breiten historischen Wirksamkeit gelangte die Hegelsche Philosophie, wenn auch wiederum mit wesentlichen Abwandlungen, in der Publizistik von Arnold Rüge. Seine gepfefferten „Jahrbücher", bis heute eine der aufschlußreichsten Quellen zur Universitäts- und Geistesgeschichte jener Zeit, haben auf eine Generation von Karl Marx bis Jacob Burckhardt bedeutenden Einfluß ausgeübt (53). Rüge hat seit seinen Jugendbegegnungen mit dem Frankfurter Pestalozzianer Georg Bunsen Pädagoge werden wollen — „es stand jetzt fest, ich wollte Erzieher werden und das neue Geschlecht zu einer Freiheit heranbilden helfen, von der das alte nichts wußte" (54). Weil er sich aber ausgerechnet die Franckeschen Anstalten für seine Lehrversuche gewählt hatte,

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glitt er bald auf seinen guten Absichten aus und wandte sich der Publizistik zu; seine Aufgabe hat er aber auch dort als die gleiche angesehen. Auf eine seltsame Weise ist es zum Bruch zwischen Rüge und seinem Inspirator Bunsen gekommen. Rüge hatte Bimsen seine Oedipus-Ubersetzung zugesandt, die ihm Bunsen jedoch beim nächsten Treffen unaufgeschnitten zurückreichte: „Wir sind Gegner der müßigen Schriftstellerei; wir arbeiten nur für die Besserung des künftigen Geschlechts und haben keine Zeit, solche überflüssigen Bücher zu lesen" (55). Rüge war zwar zunächst durch diese Worte gekränkt, hat dann aber in gewissem Sinne sich später genau dieselben Maßstäbe zueigen gemacht und alle Literatur und alles Geistesleben danach beurteilt, was es tauge für die Besserung und Befreiung des künftigen Geschlechts. Ganz hegelsch heißt es in den „Jahrbüchern", in denen sich Rüge mit Magers „Bürgerschule" auseinandersetzt: die wichtigste Aufgabe der Schule sei, daß sie lehre den Staat zu begreifen, wenn auch nicht im klaren Lichte der Idee, so doch propädeutisch in der „Vorstellung". Man dürfe darum nicht abgehen von den bewährten Mitteln solcher Staatserziehung, von der Universalgeschichte und den humanistischen Studien. Denn der Umgang mit der antiken Welt stelle „die beinahe durchsichtige Verwirklichung der einfachen Momente der Staatsidee" vor Augen und führe „an die Grenzen der philosophischen Erkenntnis dieser Idee heran" (56). Im Namen dieses hegelschen Humanismus protestiert Rüge ebenso gegen Magers Bürgerschule wie gegen die Zurücksetzung des Geschichtsunterrichts durch die preußischen Abiturnormen von 1834. Aber beim Lehren dieser abstrakten Staatsidee läßt Rüge es nicht bewenden. Das Gebot der Stunde fordert — so erklärt er —, daß das politische Prinzip nicht nur als Idee erkannt, sondern daß es in alle Bereiche des Geistes und der Bildung hineingetragen und überall wirksam wird. Es ist in Deutschland nur zu üblich, daß ein solches Prinzip theoretisch erfaßt, dann aber isoliert und auf ein Nebengeleise abgeschoben wird. So hat der Protestantismus, der das Freiheitsprinzip auf religiösem Gebiete entdeckte, gleichzeitig den Sinn für politische Freiheit erstickt (57). Diese hat darum erst im katholischen Frankreich revolutionär durchbrechen können. Ihr gegenüber ist die abstrakte Geistesfreiheit, auf die sich die deutschen Intellektuellen zurückgezogen haben, nicht mehr zu halten; die Deutschen sind „mit ihrer Privatsitt-

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lichkeit und egoistischen Religiosität gegen die politische Sittlichkeit und den religiösen Aufschwung des Staatssinnes, wie beides in der französischen Geschichte auf eine welterschütternde Weise auftritt, unendlich zurück" (58). 'Religiöser Aufschwung des Staatssinns' — die Staatsverfassung muß die Religion in sich aufnehmen, das reformatorische Pathos der Religion muß „legalisiert", in das Staatsprinzip eingebildet werden; man findet sich an Rousseaus „religion civile", die bei Rüge „religion politique" heißen müßte, erinnert. Aber nicht nur die Religion, sondern das ganze Bildungsund Geistesleben soll in die Freiheit aufgenommen werden; das heißt nun gerade nicht in die Freiheit im Sinne liberaler Emanzipation, die Rüge abstrakt und zusammenhanglos nennt, sondern nur im Sinne ihrer Übereinstimmung mit der einen politischen Freiheit, „libert6 sans phrase", der Freiheit schlechthin. Rüge fordert also nicht weniger als die vollständige Politisierung der Bildung, der Kunst und der Wissenschaft. Der alexandrinische Betrieb in zusammenhanglosen Fächern, die „römische" Jurisprudenz, die „griechische" Theologie, die „romantische" Literatur und die ganze ihnen anhängende Bildungswelt gehören zum alten Eisen, sind zu verschrotten und einzuschmelzen in der politischen Erziehung des ganzen Volkes. Der Geist muß herausgetrieben werden aus seinem Reservate, muß allen zuteil werden und alle teilhaben lassen an Verwaltung und Justiz, am Staat und schließlich an dem Aufbau einer germanischen Großmacht, den Rüge als den Schlußstein des neuen Erziehungswerks vor Augen hat (59). Hier wird der „Bruch" im Denken und Freiheitsstreben des 19. Jahrhunderts ebenso sichtbar wie in den Lehren Max Stirners, der auch die Erziehung ganz in den Dienst der Freiheit stellen will, sich dabei aber in der entgegengesetzten Richtung ebensoweit wie Rüge vom Wege entfernt (60). An die Stelle der riesenhaften Überhöhung des Staates tritt bei ihm die vollständige Isolierung des Individuums und das Ideal einer von Grund auf subjektivistischen Bildimg. Das Bewußtsein vom schmalen Grate der Freiheit und von den Bindungen und Entschlüssen, die sie voraussetzt, ist bei diesen Hegelianern erloschen. Marx Auf diesem Hintergrunde, im „Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems", ist auch Karl Marx zu sehen, bei dem an die Stelle der radikalen Politisierung die radikale Sozialisierung des Erziehungsgeschehens tritt. Marx' Schriften enthalten nur wenige

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Bemerkungen über die Erziehung, und nur eine sorgfältige Analyse seiner Lehre vom Menschen könnte den Bereich innerhalb des Gesellschaftsprozesses zeigen, in dem allenfalls die Erziehung ihren Platz fände. Einige Andeutungen müssen darum hier genügen (61). Für Marx kann die Erziehung nicht weiterserviert werden als der moralisch-intellektuelle Zweitaufguß bürgerlicher Überlieferung oder als eine Einführung in die objektive Kultur- und Geisteswelt. Denn der Bereich des Geistigen, Sittlichen, Intellektuellen ist für ihn ja „Überbau", Sekundärerscheinung der Arbeits- und Gesellschaftsformen; die allgemeine Überschätzung dieses Bereichs bekämpft er als „Ideologie". „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein", sagt er in genauem Gegensatz zu Hegels Wort, daß die Wirklichkeit nicht aushalten könne, sei das Reich der Theorie und der Vorstellung einmal revolutioniert (62). Erst durch die Arbeitsteilung hat nach Marx das Bewußtsein den ursprünglichen Zusammenhang mit dem „Sein" verloren. Die Erziehung darf also nicht dem Ballon des Intellekts noch weiteren Auftrieb geben, sondern muß ihn wieder zu Boden holen, muß zum „Sein" wieder hinführen, muß schon das Kind eingewöhnen in die Produktions- und Sozialwelt — jedoch in die künftige, die klassenlose, in welcher der ganze Mensch wiederhergestellt, Sein und Bewußtsein, Arbeit und Geist wieder vereinigt sind. Sie wird darum von vornherein Produktion und Geistesschulung miteinander verbinden (63). Solche Erziehung kann zwiefach in die Zukunft hineinwirken. Einmal wird die Gewöhnung an eine solche gesellige Arbeitsform der Schule in der kommenden Generation die entsprechenden Formen des Lebens vorbereiten. Zum andern wird aber auch ein neues „Bewußtsein" geschaffen werden, das mit helfen wird, den alten Zustand zu beseitigen. Ein selbstbewußter und in diesem Sinne gebildeter Proletarier wird nicht mehr gesonnen sein, in seiner bisherigen rechtlosen Stellung zu bleiben. So kann die Erziehung die Revolution vorbereiten und beschleunigen. Damit ist dem „Überbau" des Bewußtseins wieder ein Spielraum gegönnt, wenngleich nur insofern, als die Zeit für sein Wirken reif, d. h. die ökonomischsoziale Voraussetzung erfüllt sein muß. Innerhalb dieses Spielraums kann, wie die politisch-aufklärerische Arbeit, so auch die Erziehung wirken, Erziehung zum Klassenbewußtsein, zur Revolution, zum Internationalismus und zur künftigen klassenlosen Gesellschaft (64).

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Sucht man die konkreten Vorstellungen, die hinter der allgemeinen Formel „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion" stehen, so findet man sich verwiesen auf die frühen französischen Sozialisten Saint-Simon und Charles Fourier, deren Theorie und Pläne Marx bei seinen Lesern als bekannt voraussetzen konnte. In der „Deutschen Ideologie" findet sich ein Hinweis, der diese sich inhaltlich schon ergebende Verbindung ausdrücklich herstellt. Es heißt dort in der Kritik von Karl Grüns Buch über die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Grün habe die Schriften Fouriers einseitig und irreführend dargestellt. Es sei nicht einzusehen, „weshalb er nicht auch auf Fouriers Ausführungen über Erziehung einging, die bei weitem das Beste sind, was in dieser Art existiert, und die genialsten Beobachtungen enthalten" (65). Marx und Engels zählen Fourier im ganzen zum „kritischutopischen" Sozialismus und werfen ihm damit vor, daß er durch vorbildliche Einzelgründungen statt geradezu durch eine Gesamtrevolution die neue Ordnung ins Leben rufen wollte. Dennoch behält er für sie die Bedeutung eines Klassikers mit höchst wertvollen Einsichten; und die zitierte Äußerung berechtigt, den spärlichen Andeutungen von Marx und Engels durch Beiziehen der Fourierschen Gedanken etwas Anschaulichkeit und Hintergrund zu geben (66). Voraussetzung der Erziehungslehre Fouriers ist seine Anthropologie, die den Menschen vornehmlich als Triebwesen ansieht und saubere politische und soziale Verhältnisse nur dort erwartet, wo alle Menschen ihre Triebe so weit als möglich befriedigen können. Zu den ursprünglichen Trieben wird allerdings auch der nach harmonischem Zusammenleben mit allen Menschen, ein Sozialtrieb also, gerechnet. Aber auch das Verlangen nach Wohlleben und Glücksgütern gehört dazu, so daß die erwartete Zukunftsgesellschaft nicht entstehen kann, ohne daß alle Menschen zuvor oder zugleich in Wohlstand kommen, was Fourier mit Hilfe des anbrechenden Industrialismus für möglich hält. Hier ist die Marxsche Überzeugung von der ökonomischen Voraussetzung alles höheren Lebens vorweggenommen. Fourier steht der Philosophie und den philosophischen Erziehungslehren ebenso feindlich gegenüber wie Marx aller „Ideologie". Auch die geistige Bildung und die Welt der objektiven Bildungsgüter bedeuten hier wenig. Eine neue Zeit ist nur durch hohe Gütererzeugung, Prosperität und neue Gesellschaftsformen herbeizuführen. Darum hat auch die

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Erziehung sich vorerst um die Arbeit und um die Formen der Gesellschaft zu kümmern. Durch ein ausgeklügeltes Anreiz-, Belohnungs- und Rangsystem soll das Kind schon in den ersten vier Lebensjahren in den Stand gelangen, in mehreren Handwerken mitzuarbeiten und seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, ja sich einen gewissen Wohlstand und Luxus zu schaffen (siel). Zu diesem Ende werden die Kinder vom ersten Lebenstage an kaserniert, in großen Sälen öffentlich-hygienisch aufgezogen, zu zwanzigst mit Hilfe eines sinnreichen Mechanismus gleichzeitig geschaukelt, von ihren Müttern nur dann gesehen, wenn diese zur vorgeschriebenen Stunde zum Stillen antreten müssen usf. (67). In den ersten neun Lebensjahren soll die Erziehung allein die körperlichen und industriellen Fähigkeiten entwickeln. Sie appelliert dabei an den Sozialtrieb, den Nachahmungstrieb und den Ehrgeiz. Durch häufigen Arbeitswechsel, Auf- und Abstieg, Kontakt mit älteren und fortgeschritteneren Kindern wird die Anstelligkeit fortwährend stimuliert und belohnt. Dennoch soll kein Akkord- und Ausbeutungssystem entstehen, soll der Arbeitsgang der Reihe nach alle Anlagen entwickeln, polytechnisch in alle Arbeiten einführen und so 'humanistisch'-harmonisch den Einzelnen und die Gemeinschaft bilden (68). Dabei wird allerdings mit der Vielzahl der genannten Anreizungsmittel, Beförderungen, Orden und Auszeichnungen, Privilegien und sonst erdenklichen Stimulantien das Sozialgefüge vielmehr zermürbt und zerkrümelt als aufgebaut, und der Vorschlag mahnt in vielen Zügen an das System progressiver Leistungsbelohnung in der Sowjetunion (69). Auf solche Weise soll also das neue Geschlecht der in etwa dreißig Berufen gleichmäßig geschulten „harmoniens" herangezogen werden. Durch den „Mechanismus" des Bildungsgangs, in dem auch die wechselseitige Erziehung nach Bell und Lancaster eine Rolle spielt, wird ein Sozialgefühl erzeugt, das allen moralischen und politischen Aufgaben gewachsen ist. Das Politische im hergebrachten Sinne der Staatspolitik wird mit der Zeit sowieso verschwinden. Zunächst wird die „Phalanstfere", die Erziehungskolonie, die politisch-soziale Einheit sein, und in Zukunft die neue Gemeinschaft ohne staatliche Grenzen. Marx' Anschauungen über Erziehung lassen sich mit dem detaillierten und oft abstrusen pädagogischen System Fouriers nicht ohne weiteres gleichsetzen. Doch mögen die hervorgehobenen Züge, die sich im ganzen in die Marxschen Gedanken einfügen, als mögliches Kolorit dessen magere Andeutungen etwas farbiger werden

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lassen. Marx' Lehre von der „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion" lehnt sich jedenfalls nicht an die Pestalozzische oder an die Fichtesche Arbeitserziehung an, sondern an die Gedanken des sogenannten westlichen Sozialismus. Sie wurde historisch bedeutsam in den späteren, ausdrücklich auf Marx sich berufenden Schulprogrammen der deutschen Sozialdemokratie (70).

SIEBENTES KAPITEL

SCHULPOLITIK IM VORMÄRZ i. DIE SCHULPOLITISCHE ENTWICKLUNG 1815-1847 Die Probleme und der Verlauf der achtundvierziger Bewegung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens sind nur verständlich aus der vorangegangenen Entwicklung der Schulpolitik. Wiederum haben die Vorgänge in Preußen, nachgeahmt von den Regierungen anderer Länder und lebhaft diskutiert von der schulpolitischen Literatur, im Vordergrund gestanden. Die Krönung der preußischen Schulreformen war vorbereitet in dem von Süvern entworfenen, am 27. 6.1819 vorgelegten Unterrichtsgesetz. Als Insignien waren der pädagogische Neuhumanismus und der Fichtesche Nationalerziehungsgedanke gewählt. „Die öffentlichen allgemeinen Schulen sollen mit dem Staat und seinem Endzwecke in dem Verhältnisse stehen, daß sie, als Stamm und Mittelpunkt für die Jugenderziehung des Volks, die Grundlage der gesamten Nationalerziehung bilden. Die Erziehung der Jugend für ihre bürgerliche Bestimmung auf ihre möglichste, allgemeinmenschliche Ausbildung zu gründen, sie dadurch zum Eintritt in die Staatsgemeinschaft zweckmäßig vorzubereiten und ihr treue Liebe für König und Staat einzuflößen, muß ihr durchgängiges, eifriges Bestreben sein" (1). Ein System nationaler Jugendbildung soll alle Kinder umspannen. Unter den Schulen sollen bei aller Mannigfaltigkeit „äußere Verhältnisse doch keinen wesentlichen Unterschied . . w e d e r in Ansehung der inneren Verfassung noch der aufzunehmenden Jugend bestimmen" (2). Der Staat selbst ist eine „Erziehungsanstalt im großen", er gibt „immittelbar durch alles, was von ihm ausgeht, seinen Genossen eine bestimmte Richtimg und ein eigentümliches Gepräge des Geistes wie der Gesinnung". Die Schulen sind dabei seine besonderen Instrumente, die er auf den Geist seines politischen Handelns abstimmen muß. Sein erzieherisches Streben wird aber um so mehr fruchten, „je freier es von den Zwecken irgendeiner einseitigen mechanischen Einzwängung und Ablichtung gehalten wird, je mehr es auf freie

Die schulpolitische Entwicklung 1815 — 1847 Entwicklung der Nationalkräfte, die ja nichts anders als allgemein menschliche unter der besonderen Form der Nationalität sind, gerichtet ist" (3). Alles das klingt für das heutige Ohr kaum nach Gesetzesentwurf und -erläuterung; es ist eine Abhandlung in der Sprache und Denkweise eines Fichte, Humboldt, Freiherrn vom Stein und im Pathos der nationalen Erhebung. Hier hätte der Neuhumanismus nicht in seiner individualistisch-ästhetischen Form, sondern in Verbindung mit den politisch-pädagogischen Gedanken jener Tage eine zeitentsprechende, auch die Sozialprobleme dieser Generation aufnehmende Wirkung gefunden. Das Schicksal des Süvernschen Plans ist bekannt. E r wurde auf den Dienst- und Gutachterweg komplimentiert, jahrelang herumgereicht und 1826 endgültig in den Akten begraben (4). Von den zahlreichen Gutachten, die ihn zur Strecke gebracht haben, sei nur das von Ludolf von Beckedorff erwähnt, dem vortragenden Rat für das evangelische Elementarschulwesen im Kultusministerium 1820—27. E r schreibt, ein Schulgesetz überhaupt und insbesondere dieser Entwurf setze voraus, daß eine gleichförmige Bildung sowohl in Kenntnissen und Fertigkeiten als in der Gesinnung erstrebenswert sei. Dieser Gedanke einer durch die Staatsgemeinschaft herzustellenden allgemeinen Gleichheit unter den von Natur aus Ungleichen sei verfehlt und säe nur Neid, Eifersucht und Hader. „Die natürliche Ungleichheit ist . . . kein Hindernis, sondern im Gegenteil das eigentliche Band der Gesellschaft; sie soll daher keineswegs aufgehoben, sondern vielmehr befestigt und gesichert werden". Eine „sogenannte allgemeine Bildung" tauge vielleicht für Staaten mit demokratischer Verfassung, nicht aber für die Monarchie, die auf Berufs- und Standesschulen, auf solides Wissen für den beschränkten Kreis zählen müsse. Überhaupt liege eine Überschätzung der Aufgaben, aber auch der Möglichkeiten der Schule in solchem Vorsatz, sie zur „Grundlage der gesamten Nationalerziehung" machen zu wollen, ganz abgesehen von der mangelnden rechtlichen Basis für einen derartigen Eingriff in die Aufgaben von Kirche und Elternhaus (5). Dieses Gutachten Beckedorffs ist charakteristischer als die zahlreichen anderen für eine neue Ära innerhalb der preußischen Regierung, ja innerhalb der meisten europäischen Kabinette. E s ist die Zeit von Metternichs Warnung an Preußen vor der „revolutionärmoralischen Zucht" im neuen Erziehungs- und Turnwesen (6); die Zeit der Karlsbader Beschlüsse, der Absetzung von De Wette und Arndt, der Verhaftung Jahns, des Verbots von Görres' Rhei-

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nischem Merkur. Damals unterbreitete der Bischof Eylert dem ihm geneigten König ein Gutachten „Über das Verderben der jetzigen Zeit", in welchem das Übermaß intellektueller Bildung, die vielen Lehrgegenstände und Schulbücher, die pädagogischen Experimente der letzten dreißig Jahre und die unnötige Vielwisserei auf den Seminaren für dieses „Verderben" verantwortlich gemacht werden (7). Eylert und Beckedorff arbeiteten dann zusammen mit einer Kommission ein Promemoria zur Verbesserung des Schulwesens aus, das den Geist der Reformzeit zu diskreditieren, ja mit Stumpf und Stiel auszurotten trachtete (8). Man müsse feststellen — so heißt es dort — daß der Anlaß zu dieser Zeitverderbnis „hauptsächlich und zunächst in der Wirksamkeit derjenigen Personen des Ministeriums der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten beruht, welchen seit 1809 fast ausschließlich die Leitung dieses höchst wichtigen Gegenstandes anvertraut war". Geistiges Rückgrat dieser ministeriellen Wirksamkeit sei vor allem Fichte gewesen, der mit seinen „Reden" die Republik habe propagieren, Stand, Geburt und Autorität untergraben, die Erziehung auf die Erde statt auf den Himmel richten, Pestalozzis Methode verbreiten wollen und unter anderem für die Phrasen des Kotzebue-Mörders Sand direkt verantwortlich sei (9). Neben Fichte steht Schleiermacher, besonders mit seinen „Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn", weiter Jahns „Deutsches Volkstum" und Arndts politische Schriften, zusammen ein System philosophischer und demagogischer Grundsätze, die geeignet seien, Moral, Kirche und Staat zu ruinieren. In einer Reihe von Ordres und Maßnahmen fand diese Wendung ihren offiziellen Niederschlag. 1820 wurde eine Untersuchung der Behörden und der Lehrerschaft auf politisch und religiös gefährliche Elemente hin verfügt, 1822 das Ministerium bevollmächtigt, „Teilnehmer oder Beförderer der demagogischen Umtriebe jeder Art" durch administrative Verfügung ihrer Ämter zu entsetzen (10). 1824 gebot ein Reskript, daß bei der Anstellung von Lehrern nicht nur die Unschädlichkeit ihrer Gesinnung, sondern vielmehr die politische Vertrauenswürdigkeit zu prüfen sei. Dabei wurde festgestellt, daß der Zweck der Unterrichtsanstalten „neben der wissenschaftlichen Bildung auch darin besteht, in den Zöglingen Gesinnungen der Anhänglichkeit, der Treue und des Gehorsams am Landesherrn und am Staate zu erwecken und zu befestigen, und daß daher Lehrstellen nur denjenigen, die auch in dieser letztgenannten Beziehung volles Ver-

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trauen verdienen, übertragen werden sollen" (11). In der Verwaltung wurde die von Stein eingeleitete Politik der Dezentralisation fortgesetzt. Der Kontrollmöglichkeiten von oben herab gerade in geistlicher Beziehung wollte man sich damit jedoch nicht entschlagen. So bekamen die neu bestellten Generalsuperintendenten die Weisung, den Charakter der Elementar- und Bürgerschulen als „Vorbereitungsanstalten für die Kirche" zu überwachen und auch auf „die religiöse und kirchliche Tendenz der gelehrten Schulen" vorzüglich ihr Augenmerk zu richten (12). Kommentiert und begleitet wurden die Regierungsmaßnahmen durch Beckedorffs offiziöse „Jahrbücher des preußischen Volksschulwesens", die von dem gleichen patriarchalisch-theokratischen Geist durchzogen waren wie die genannten Verfügungen. Ganz in den Dienst dieser Bestrebungen stellte sich auch Eduard Glanzow alias J. Fr. Wilh. Pustkuchen, durch seine WilhelmMeister-Persiflagen zu trauriger Berühmtheit gelangt, der sich selbst als den Ideenvater der Beckedorfischen Grundsätze bezeichnete und in seiner Schrift „Kritik der Schulen und der pädagogischen Ultras unsrer Zeit" in mancher Hinsicht den offiziellen Kurs noch überbot (13). Nicht nur im Namen der „Anhänglichkeit an das Bestehende und Bewährte", sondern auch für die „Anerkennung der Zuverlässigkeit vorgefaßter Urteile" suchte er im Schulwesen wieder Bahn zu brechen und sah das ganze Zeitübel verkörpert in der modernen Pädagogik, die „in all ihren hundertfachen Farbwechseln das ihr schulgegebene Revolutionsprinzip immer gleichmäßig in sich trage" (14). Daß aber doch diese Tendenzen nicht klar zum Siege kamen, daß Süvern und Beckedorff, Johannes Schulze, Nicolovius und Eylert zusammen im Ministerium für die geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten wirkten, fichtesche und hegelsche Elemente zusammen mit verwaltungsversiertem Liberalismus und konservativer Staatsromantik, ist wohl vor allem der vermittelnden Natur des Ministers v. Altenstein zu danken. Der liberal orientierte Neuhumanismus hat sich dadurch und vielleicht nur unter der Bedingung im Schulwesen halten und fest einnisten können, daß das Politische mehr und mehr herausgelöst und er auf seine „reine", ästhetische und staatsabgewandte Ausgangsform zurückgeführt wurde. Eine Reihe von Maßnahmen Altensteins und seines Umkreises haben offenbar ganz konsequent darauf hin-

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gewirkt, alle Politica aus der Schule zu verweisen. Schon in der Zeit von Karlsbad war ja das Turnen, das seit Jahn politisch verstanden wurde, zunächst unter strenge Aufsicht gestellt, 1820 dann ganz verboten worden. Für alle Beamten untersagt war auch seit 1820 das Tragen der „unschicklichen" „sogen, altdeutschen Tracht" nicht nur in Amtsfunktionen, sondern überhaupt (15). In den Lehrerseminaren wurde nebst der Naturkunde die Belehrung über die „organischen Einrichtungen des Vaterlandes" ausdrücklich eingeschränkt, weil in diesem Bereiche „das Übel der Überbildung für die Lehrer und Zöglinge der Volksschulen" besonders schädlich werden könne (16). 1831 wurde verboten, Tagesbegebenheiten oder Gegenstände der Politik zu Beispielen, Vorschriften, Diktaten und ähnlichem heranzuziehen (17). Entsprechend wurden in den höheren Schulen aus den Abiturnonnen die bisherige Betonung und Ausweitung des Faches Geschichte, das „insonderheit genaue Bekanntschaft mit der Entwicklung, Verfassung und den inneren Verhältnissen der jetzt bestehenden Staaten" hatte vermitteln sollen, fallengelassen und die Geschichte überhaupt aus den Hauptfächern gestrichen (18). Daß man auch den Privatunterricht wieder aus der Gewerbefreiheit herausnahm und unter eine Lizenzpflicht stellte, war nur folgerichtig. Die entsprechende Kabinettsordre betont, die Zeugnisse für die Unterrichtserlaubnis sollten sich nicht auf die Beurteilung der Kenntnisse und Lehrbefähigung beschränken, „sondern sich auf Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnungen in religiöser und politischer Hinsicht erstrecken" (19). — Erst nach dem Tode Friedrich Wilhelms und Altensteins (1840) ist durch das Ministerium Eichhorn eine nicht mehr politisch neutralisierende, sondern antihumanistische, in mancher Hinsicht geradezu bildungsfeindliche Tendenz offiziell geworden (20). Nur anzudeuten ist wiederum die Parallelentwicklung in einigen anderen deutschen Staaten. Überall nahm die Verstaatlichung des Schulwesens zu, wurden die Lehrer dem Beamtenstatus angenähert und der ihnen gelegentlich noch zustehenden geistlichen Rechtsprivilegien entledigt (21). Gesetzliche Neuordnung des Volksschulwesens wurde überall angestrebt; sie kam in einigen Ländern wie in Sachsen (1835) ™ d Württemberg (1836) auch zustande, während andere, wie ja auch Preußen, es nie zu einem Schulgesetz gebracht haben. Auch die Lehrerbildung ging weiter auf die Seminare über und nahm geregelte Formen an. Das alles hat vor allem das Bewußtsein der Lehrerschaft wachgerufen, im

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Staatsdienste zu stehen und eine selbständige öffentliche Verantwortung zu tragen. Am konsequentesten staatlich organisiert war das Schulwesen in Hannover und in Hessen-Darmstadt, das hannoversche in großer fachmännischer Selbständigkeit unter der Leitung des verdienten Friedrich Kohlrausch, der auch selbst einen Nationalerziehungsplan entworfen hat (22); das hessische nach den Plänen von Ernst Zimmermann, ganz angelehnt an die politische Selbstverwaltung, aber unter Ausschluß der Lehrerschaft aus den höheren leitenden und aufsichtsführenden Stellen (23). Wie immer diese Staatlichkeit gehandhabt wurde und wie sehr man die Schule zu neutralisieren suchte, sie war ein Politikum geworden; das wußten nicht nur die Lehrer, sondern auch die Politiker und die Öffentlichkeit, wie sich bald, im Jahre 1848 nämlich, zeigen sollte. Der politische Unterricht hat seinen am Ende des 18. Jahrhunderts erreichten Stand so gut wie überall wieder preisgeben müssen. Die zunehmende Spaltung des Unterrichts in Einzelfächer hat auch das Sammelgebiet „Gemeinnützige Kenntnisse" zerlegt und meist in Natur- und Erdkunde aufgeteilt, wobei die Staats- und Bürgerkunde zwischen Tür und Angel geriet (24). Einige Anläufe, das Fach zu erneuern, wie sie sich in Württemberg, Bayern und Sachsen verfolgen lassen, erreichten nicht ihr Ziel (25). Das liberale Ministerium Wallerstein in Bayern in den 30er Jahren versuchte am entschiedensten, dieses ganze Problem noch einmal aufzunehmen, auf neue Weise zu bewältigen und ein „religiös und politisch gebildetes Geschlecht" heraufzuführen (26). Das folgende Ministerium Abel (seit 1837) das alles wieder durchkreuzt und sich bald unter den Schulmännern noch kräftiger in Verruf gebracht als das Eichhornsche in Preußen. Der Sturz Abels im Jahre 1847 ist überall in Deutschland von der Lehrerschaft bejubelt worden. Die literarische Diskussion der Schulpolitik, von jeher verschränkt mit der Literatur über fachpädagogische Fragen, konzentriert sich in diesen Jahrzehnten auf die Fehde zwischen humanistischem und realistischem Bildungsprinzip. Das erste wurde am reinsten verkündet von Friedrich Wilhelm Thiersch, der in Bayern die maßvollen Einrichtungen Niethammers auflöste und die höhere Schule in Süddeutschland völlig zu hellenisieren trachtete. Thiersch sah aber nicht, wie etwa Schiller es tat, in der ästhetisch-humanistischen Bildung ein neues Prinzip auch für

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das politische Leben. Nicht die Antike sollte hereinwirken in die Gegenwart und sie bewältigen helfen, vielmehr die Gegenwart sich ihrer selbst entäußern und zurücksteigen ins Altertum. „Die gegenwärtige Bildung und Ordnung von Europa wird noch allein durch jenen Überrest der Vergangenheit und durch den Uberrest der von ihr genährten Neigungen, Überzeugungen und Bestrebungen gehalten und geschirmt. Wird aber dieser in dem mit überwiegender Gewalt herandringenden Strome des Neuen vollends aufgelöst, so zweifle niemand, daß auch der übrige Bau vollends in Trümmer geht u n d . . . auf dem Gebiete der Bildung Barbarei, auf dem der Politik Anarchie hervortritt" (27). Gegen Thiersch stand Karl Mager auf, der in dem Buch „Deutsche Bürgerschule" und in seiner Zeitschrift „Pädagogische Revue" (seit 1840) für die realistische Mittelstandsschule eintrat und es nicht schwer hatte, unter den Gegnern des antiquarischen Humanismus eine breite Anhängerschaft zu gewinnen. Tiefer, aber weniger bekannt, waren die Gedanken des Berliner Direktors A.G. Spüleke, der den Kulturprozeß durch zwei nebeneinander notwendige Grundformen menschlichen Lebens gefördert sah und, ihnen entsprechend, die Schule zweiteilen wollte. Das ideale und theoretische Erkennen in Philosophie und Geisteswissenschaft ebenso wie das Ordnen und Gestalten der Welt in Kunst, Naturbemeisterung und Politik erfordere je einen eigenen Schultypus zur Vorbereitung und Einübimg, der auch seinen eigentümlichen Bildungsgedanken zu entwickeln habe. Aber diese Pläne sinnvoller Vermittlung, in denen Niethammers Gedanken fortlebten und die am Ende des Jahrhunderts etwa von Friedrich Paulsen wieder aufgenommen wurden, fanden kein Gehör, und es blieb bei dem Kampfe der Parteien, der auch für das Problem der politischen Erziehung wenig ersprießlich verlief. Thiersch betrachtete die vergötterte Antike einseitig vom Literarisch-Ästhetischen her und ließ den Polis-Gedanken ganz außer acht. Mager und nach ihm die Herbartianer hoben den formalen Bildungswert gerade der Realien hervor, übersahen aber die Notwendigkeit einer Bildungsordnung, in der das Politisch-Soziale seinen Platz gehabt hätte. Die politische Erziehung wurde auf diese Weise bald nur noch von einer Gruppe von Schulmännern ernsthaft erörtert, die man die rationalen Pestalozzianer nannte und die bald Adolf Diesterweg einmütig als ihren Sprecher anerkannten.

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2. ADOLF D I E S T E R W E G Diesterweg war von naturwissenschaftlichen Studien her zum Lehrerberuf gekommen, zunächst wohl mit der Absicht, sich dort hauptsächlich wissenschaftlicher Weiterarbeit zu widmen (28). Eine flüchtige Begegnung mit dem Pestalozzianismus hatte keinen sonderlichen Eindruck hinterlassen; Basedow und Rochow waren zunächst seine pädagogischen Gewährsmänner. Der Elberfelder Rektor J . F. Wilberg, der ihn für die Fragen der Volks- und Lehrerbildung gewonnen hat, war selber ganz dem Philanthropismus verschrieben. Und als Diesterweg seine erste selbständige Aufgabe mit der Leitung des neuen Lehrerseminars in Moers i. d. Rheinprovinz übernahm, da nannte er den Seminaristen in seiner Eröffnungsrede Rochow und Basedow als die Namen, welche sie stets heilig zu halten hätten. Dort begannen alsbald die Kämpfe, aus denen Diesterweg zeitlebens nicht mehr herauskommen sollte. Zunächst ging es um die Institution der Seminare überhaupt, die man wieder aufzuheben oder doch erheblich einzuschränken Miene machte. Diesterweg schuf sich bald eine eigene Zeitschrift für seine geschwinde Feder, die „Rheinischen Blätter", die 1827 zum ersten Male erschienen und bis zu seinem Tode und darüber hinaus das ganze Jahrhundert hindurch als die führende Lehrerzeitung bestanden haben. Seit 1832 Leiter des Stadtschullehrerseminars zu Berlin, geriet er besonders seiner Zeitschrift wegen in den Angriffshagel der Christlich-Konservativen, hat sich aber bis 1847 im Amte, dann als freier Redakteur energisch seiner Haut gewehrt. Hegels Philosophie hat er seit dem gastweisen Besuch einiger Vorlesungen verachtet und sich von ihr abgestoßen gefühlt. Thiersch hat er leidenschaftlich um des Realprinzips willen bekämpft, wobei die Extreme mit unversöhnlicher Einseitigkeit aufeinander stießen. Herbart, dem er in mancher Beziehung wohl nahegekommen wäre, hat er wegen seines Verhaltens gegenüber den „Göttinger Sieben" abgelehnt, seine Schriften deswegen nicht beachtet. Dagegen besuchte er Schleiermachers Kolleg in Berlin mit Begeisterung. Und I.B.Gräser verehrte er als einen der bedeutendsten Denker überhaupt, hat allerdings dessen „Erziehung fürs Leben" zu Unrecht mit der eigenen, eines jeden „Divinitäts"-Prinzips baren Lebenserziehung identifiziert. Pestalozzi hat er zwar immer viel im Munde geführt, doch ist er in seine Schriften und seine Gedanken nie sehr tief eingedrungen. Für die Geschichte der deutschen Pädagogik im 19. Jahrhun10 Flitoer

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dert ist es dennoch außerordentlich bedeutsam geworden, wie Diesterweg Pestalozzi verstanden und damit die große Bewegimg, die sich an den Namen des Schweizers knüpfte, beeinflußt hat. In einem frühen Aufsatz in den Rheinischen Blättern über die „Pestalozzische Schule" hat Diesterweg nicht nur den Schülern, sondern auch ihrem Meister Pestalozzi und seiner „weltumgestaltenden Idee" und „alles regenerierenden Methode" eine magere Zukunft geweissagt und die Ansicht vertreten, „daß Pestalozzi unausführbare Dinge angestrebt hat, daß es geratener ist, im gewöhnlichen und im höheren Sinne des Wortes praktisch brauchbare Erziehungs- und Lehrmittel aufzustellen, als in der hochtrabenden Weise der Schriften und namentlich der Reden Pestalozzis fortzufahren" (29). Später ist er jedoch sehr für ihn eingetreten und hat das Prinzip der Selbsttätigkeit als wesentlich erkannt. Sein Bekenntnis zu den Philanthropisten hielt er dabei aufrecht: Basedow, Rochow, Salzmann, GutsMuths haben nach seiner Meinung den Grund gelegt für den realistischen und anschaulichen Unterricht; ihr Dienst für die moderne Pädagogik wird von künftigen Generationen erst wieder ganz gewürdigt werden (30). Pestalozzi steht zwischen ihnen und der Moderne als unentbehrliches Bindeglied. Er entdeckte das formale Bildungsprinzip, die Elementarmethode, die Notwendigkeit der Entfaltung der inneren Kräfte des Verstandes wie des Gemüts und brachte damit die gehörige Ergänzung zu der vorher einseitigen Methode der Philanthropen. Seine eigene Einseitigkeit war dabei die Abstraktion vom Realen, der reine Formalismus. In der Verbindung der beiden Prinzipien, des philanthropischen mit dem pestalozzischen, liegt nun die große Möglichkeit der eigenen Zeit. „So stehen wir in der Tat gegenwärtig an dem Anfange einer wirklichen Vollendung, eines endlichen Abschlusses" (31). Die „abstrakten" Lebens- und Denkformen ebenso wie den abstrakten Unterricht wird man nun überall durch Konkretes, durch das „Praktische im höheren und edlen Sinne des Wortes" ersetzen: in der Religion durch praktische Frömmigkeit, im Staate durch Vereine, Korporationen und Volksinitiative, in der Universität („deren Name schon ihre abstrakte Natur bezeichnet") und in der Schule durch „individuelle" und konkrete Erziehung, soll heißen: durch Differenzierung und Spezialisierung, durch Fortbildung des Allgemeinen zum Besonderen und durch Verflechtung des Wissens mit dem wirklichen Leben, mit seinen sozialen und praktisch-ethischen Aufgaben.

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Was Diesterweg im einzelnen (bis 1850) über die politische Erziehung gedacht und geschrieben hat — sie ist ein Grundthema seines ganzen Schrifttums — stimmt im wesentlichen mit dem oben ausführlich charakterisierten Programm des staatszugewandten Liberalismus überein (32). Das pädagogische Prinzip der Selbsttätigkeit, das an die Stelle von Autorität, Glauben und Unterordnung getreten sei und sich unfehlbar durchsetzen werde, erheische die analogen politischen Formen. Zwischen dem erzogenen Volke und den Staatsformen werde sonst ein Riß aufklaffen, der — wie es die Unruhen von 1830 schon angedeutet haben — unbedingt zum Ruin des ganzen Staatswesens führen müsse. Tätigkeit für die Massen in der Gemeinde, in der Berufsvertretung und in der Staatspolitik seien durch die Zeit geboten; das Prinzip der Politik müsse mit dem der Pädagogik Schritt halten (33). Diesterwegs Hinwendung zum Konkreten im Gegensatz zur rationalistischen Weltoffenheit der sonstigen Liberalen brachte es mit sich, daß er nicht allgemein-weltbürgerlich, sondern auf die deutsche Nation und ihre Besonderheit, auf das „Prinzip des germanischen Lebens" hin erziehen wollte. Er knüpfte damit an bei Fichte, Arndt, Stein, besonders aber bei Jahn, den er auch persönlich kennengelernt und dem er in seinem „Pädagogischen Jahrbuch" 1854 eine panegyrische Biographie gewidmet hat. Dem Jahnschen Einheitsprinzip allerdings stimmte er nicht bei: die Vielfalt der Deutschen in Gruppen, Meinungen, literarischen Stilen und Glaubensgemeinschaften ist ihm Ausdruck ihres germanischen Individualitätswillens und Freiheitsbewußtseins. Auch „in nationaler Beziehung überwiegt daher das Prinzip der Freiheit das Prinzip der Einheit" (34). Das „germanische Prinzip" Diesterwegs besteht in dem Bekenntnis zur deutschen Geschichte, in der er allerdings wie Fichte eklektisch nur gewisse Momente gelten läßt: die Freiheitsliebe und die Verfassungsprinzipien der alten Germanen, das freie Stadtbürgertum des Mittelalters, die Befreiungstat Luthers und schließlich auch den toleranten Rationalismus Friedrichs II. — mit Vorbehalten allerdings wegen seiner sprachlich-kulturellen Fremdtümelei. Das germanische Prinzip liegt femer im Bekenntnis zum „deutschen Wesen", das Diesterweg gekennzeichnet sieht durch Gemüt, Geradheit, Derbheit, Gründlichkeit, Treue, Häuslichkeit, Naturfreude, Wehrwillen und schließlich durch eine Reihe von politischen und religiösen Tugenden, die im konstitutionellen Liberalismus und im liberalen und vernünftigen Christentum zuhause sind (35). 10*

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Diesem „germanischen Prinzip" zuliebe soll sich die Schule auch von den überwiegend humanistischen Studien, der „klassischen Borniertheit", befreien. Denn Deutschlands Heil ruht „in keiner Beziehung, nun und nimmer, im Romanisieren". „Das Germanische ist ein im Geist und Blut Gewachsenes, das Römische ein Erbautes", sagt er in Anlehnung an Görres und Fichte (36). Müsse man darum schon um der Überfremdungsgefahr willen den Kult der Antike bekämpfen, so sei das gleicherweise aus pädagogischen Motiven geboten. Nur die Erziehung fürs Leben habe eigentlich erzieherischen Wert. Das klassische Altertum tauge dafür nicht, die Realien müßten an seiner Stelle in den Mittelpunkt des Unterrichts rücken. Zu den Realien zählen auch die politischen Kenntnisse. Menschenrechte, Gesetzbuch, Verwaltungs- und Regierungswesen, Rechte und Pflichten der Bürger sind für jedermann wichtiger als philologische Spitzfindigkeiten. Diese Dinge sollen im Unterricht ihren Platz finden. Sie sollen in den höheren Klassen und in der Fortbildungsschule immer mehr in den Vordergrund treten, ja sie sollen, als einziges Obligatorium über das Schulpflichtalter hinaus, bis ins 24. Lebensjahr für jedermann fortgeführt werden (37)· J e freier die Staatsformen sich ausbilden, um so straffer muß nach Diesterweg legales Denken und Handeln einem jeden durch solchen Unterricht einverleibt werden. So wie es unumstößliche Naturgesetze und unumstößliche Vernunftgesetze gibt, so wird es im aufgeklärten Staate auch unumstößliche Staatsgesetze geben. Um dieser Nonnen willen werden sogar die liberalen pädagogischen Prinzipien geopfert: „Ohne Erziehung der Jugend zur Gesetzlichkeit und darum in Gesetzlichkeit, Zucht, Sitte, Respekt und Strenge gibt es keine starken Männer und keinen starken Staat. Dabei bleibt es" (38). Mit Stein und Jahn, aber auch mit den französischen Sozialisten teilt Diesterweg das Vertrauen in das „Volk" als den ursprünglichen und eigentlichen Träger des germanischen Prinzips. Die Volkstümlichkeit sei am reinsten in den mittleren und unteren Ständen anzutreffen; von ihnen auch müsse der Impuls zu einer deutschen Entwicklung ausgehen. Denn die oberen Schichten hätten zu lange unter dem Einfluß der romanischen Sprache und Sitte gestanden und seien zu der nötigen Erneuerung des Volkstums nicht wohl tauglich (39). Bedenkt man aber, daß es gerade der Rationalismus war, den ein Stein und ein Jahn als romanisch empfanden und den Diesterweg in seiner Rückwen-

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dung zu den Philanthropen erneuern will, so werden auch hier die Verschiebung und der Unterschied deutlich. Diesterwegs Anlehnung ans 18. Jahrhundert — die manche Parallelen zum Rückgang der nachhegelschen Philosophie auf das 18. Jahrhundert zeigt (40) — bedeutet eine Absage an die humanistische und idealistische Pädagogik der Zwischenzeit. Seine Lehre hätte mit dem, was sie aus jener großen Epoche übernahm und neuzuformen willens war, fruchtbare Ansätze bringen können. Das menschenbildende Prinzip eines Pestalozzi auf die politischen Realien angewandt, die .Bildung fürs Leben' eines Gräser, das sozialpädagogische Motiv eines Schleiermacher und das vaterländische eines Jahn — das zusammen hat auf die zeitgenössische Lehrergeneration Eindruck zu machen nicht verfehlt. Der Gesamtrahmen seiner synkretistischen Bildungsphilosophie allerdings, sein Verzicht auf jeden Bildungskanon, sein Hintasten zu einem positivistischen Wissenschaftsbegriff, seine Beschränkung des Prinzips der humanen Selbsttätigkeit auf die Realstoffe, seine Umdeutung Pestalozzis, Schleiermachers und Grasers haben die Pädagogik in ein Fahrwasser hineingesteuert, in dem sie sich nicht lange halten konnte. Das politische Motiv in Diesterwegs pädagogischem Denken und Wirken blieb aber verbunden mit jener Erziehungsphilosophie, die den Ansprüchen bald nicht mehr genügte. Es ist Diesterweg darum — so groß sein Einfluß war — nicht möglich gewesen, den politischen Schwung der Lehrerschaft jener Tage zu nützen und die politische Erziehung damit wirklich in Bewegung zu setzen. Was er jedoch für das berufsständische Bewußtsein der Lehrer auch gegenüber den Behörden, was er für die Lehrervereinsbewegung ausgerichtet hat, das bleibt als seine Leistung bestehen und ist auch für das soziale und kulturpolitische Gefüge des Schulwesens wichtig geworden.

ACHTES KAPITEL

DIE PÄDAGOGISCHE BEWEGUNG DES JAHRES 1848 i. DIE VERSAMMLUNGEN DER LEHRER

An den politischen Ereignissen des Jahres 1848 haben Schul- und Universitätslehrer sich stark beteiligt, oft auch im Brennpunkt der Ereignisse mitgewirkt. Darüber hinaus aber ist das politische Geschehen begleitet gewesen von einer eigentlichen Bewegung der Lehrerschaft, die in ganz Deutschland in einer Unzahl von Versammlungen, Aufrufen und Petitionen ihre Forderungen vorgebracht und das Geschehen zu beeinflussen versucht hat. Pädagogische, patriotische und ständische Motive überschneiden sich in diesen Forderungen vielfach; die Elemente politischer Erziehung lassen sich daraus nur unvollkommen isolieren (1). Lehrertage waren nichts völlig Neues. Schon seit den dreißiger Jahren hatten sich Philologen zusammengeschlossen und ihre Treffen abgehalten, seit 1845 auch Real- und Bürgerschullehrer — nur unter den Volksschullehrern war es noch nicht zu größeren Vereinigungen gekommen. Man hatte bei jenen Zusammenkünften fachwissenschaftliche und allgemein-pädagogische Fragen erörtert, gelegentlich aber auch schon schulpolitische Probleme diskutiert und die Frage der politischen Erziehimg wieder aufgenommen. So hatte der sächsische Gymnasiallehrerverein sich verwenden wollen für die Gründung eines Modell-Gymnasiums mit ausgesprochen national-deutschem Lehrplan, wo die deutsche Sprache in das Zentrum des Unterrichts gestellt, Turnen, Gesetzeskunde und Vaterlandsreisen in den Plan eingefügt und die Leitung demokratisch vom Lehrerkollegium wahrgenommen werden sollte. Solche Projekte und Fragen blieben jedoch vor 1848 ganz am Rande der Vereinstätigkeit. Schon wenige Tage nach den Ereignissen der Märzmitte wurde das anders. In Wien und Berlin waren Presse- und Versammlungsfreiheit proklamiert worden (2), und wie aus geöffneten Schleusen strömten überall die Forderungen hervor. Noch im gleichen Monat

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erschien von Friedrich Kapp, Direktor des Gymnasiums zu Hamm, ein „Aufruf zur Umgestaltung der deutschen Nationalerziehung" (3). Kapp hatte schon vorher an die Lehrer der Stadt Hamm eine Adresse gerichtet und sie ermahnt, der geschichtlichen Stunde Rechnung zu tragen, alle Kinder über die politischen Rechte des Bürgers zu belehren und durch Turnen und Singen den Vaterlandsgeist wieder aufzurichten (4). Sein zweiter Appell nun wandte sich an die Lehrerschaft von ganz Deutschland und gipfelte in der Autonomieformel: „Der deutsche Lehrerstand erklärt sich hiermit für mündig". Die geistliche und rechtliche Bevormundung finde ihr Ende; Schul- und Universitätswesen würden jetzt staatlich organisiert und der Selbstverwaltung der Fachleute übergeben. Die Volksschule werde künftig als Pflegestätte des deutschen Volkstums walten. Befreit von Despotismus und Hierarchie könnten die Schulen nun ein freies, selbstbewußtes deutsches Volk heranbilden (5). Andere Flugschriften folgten. Im April richtete der Berliner Seminarlehrer Eduard Hintze, ein Freund Diesterwegs, einen „Aufruf an den preußischen Lehrerstand" (6). Er fordert darin vor allem die Freiheit des Lehrerstandes, Vorbedingung für die Freiheit des ganzen politischen Lebens. Gleich wichtig ist ihm aber auch die Einheit der Lehrerschaft, ihr ständischer Zusammenhalt ebenso wie die Gleichheit der Ausbildung und der Aufstiegschancen. Jeder Lehrer soll künftig an der Universität seine Ausbildung empfangen, jeder seine Laufbahn in der Volksschule beginnen und erst später bei besonderer Tüchtigkeit in die höhere Schule aufsteigen. Denn die Sozialstruktur der Schule und des Lehrerstandes könne nicht verbessert werden und der Lehrer damit auch seine Sozialaufgabe im ganzen nicht erfüllen, solange man sich nicht an die Beseitigung des „heillosen Unterschieds zwischen Studierten und Nichtstudierten" heranwage. Solche Schriften gaben zunächst nur die Meinung von einzelnen wieder. Die Stunde forderte jedoch Repräsentation, gemeinschaftliche Aussagen der ganzen Lehrerschaft. Diesterweg vor allem feuerte die Lehrer an, sich zu solchen Kundgebungen des gemeinsamen Willens zu versammeln und diese Zusammenkünfte möglichst gleich zu einer ständigen Einrichtung regelmäßig tagender Synoden zu erheben. Andere wie Gustav Thaulow und der Leipziger Lehrer Hermann Köchly handelten gleich selber und beraumten von sich aus Ort und Stunde für die ersten Versammlungen an (7).

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So kamen schon in den Ostertagen, im April 1848, die ersten großen Lehrertrefien zustande. In Leipzig fanden unter der Leitung von Köchly und dem regsamen Redakteur der „Schulzeitung" Julius Kell Erzieher aller Sparten, Volksschul- wie Universitätslehrer, zusammen. Hier wurde besonders das Problem diskutiert, das Mager in seiner „Pädagogischen Revue" immer wieder erörtert hatte: ob nicht die geforderte Verstaatlichung der Schule zu Staatsmißbräuchen verführe und ob man damit nicht vom Regen kirchlicher in die Traufe staatlicher Bevormundung gerate. Das Ergebnis des Kongresses lautete: Staatsschule und Verfassungsstaat — der Aufbau der Bildung durch den Staat wie die Kontrolle des Staates einschließlich seiner Bildungspolitik durch den gebildeten Staatsbürger — gehören zusammen wie Deckel und Schale eines Gefäßes. Gleichzeitig tagten die Berliner Lehrer in den Tivolisälen. Der Seminarlehrer Hintze, Verfasser des genannten „Aufrufs", gab dort den Takt an und wußte die Mehrheit der Versammelten zum Mitspiel zu gewinnen. Neben der nimmehr immer wiederholten Forderung staatlich-fachlicher Gesamtorganisation war besonders wieder der Gedanke notwendiger Vereinheitlichung des Lehrerstandes in Vorbildung und Aufstiegschancen bemerkenswert. E s war im wesentlichen Hintzes Programm, das dort zu einer „Petition vom 26. April 1848 an die Vertreter des Preußischen Volkes" in Thesen zusammengefaßt wurde und das in dieser Form zahllose spätere Lehrerversammlungen in ganz Deutschland beeinflußt hat, ja oft von ihnen unverkürzt übernommen worden ist (8). Ein anderes Gesicht zeigte die Tagung der Volksschullehrer der preußischen Rheinprovinz in St. Goar am 18. und 19. Mai. Hier war die leitende und bedeutendste Persönlichkeit der Regierungs- und Schulrat L. D. W. Landfermann, ein in den Rheinlanden hochpopulärer Schulmann, der als Burschenschafter jahrelang Festimgshaft hatte durchstehen müssen, ohne seinen Mut und Reformeifer dabei zu verlieren (9). In den Rheinlanden stand man gegenüber den Berliner Zentralbehörden immer in der Abwehr und wollte sich auch einem konstitutionellen Staat, wie er damals bevorzustehen schien, nicht preisgeben. Deis Mitspracherecht der Lokalbehörden und die Wahrung der provinziellen Eigenheiten auch im Schulwesen war hier eine der wichtigsten Forderungen. Eine andere war die Aufrechterhaltung des konfessionellen Charakters der Schule und des Religionsunterrichts

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in der bisherigen Form. Es gab hier eben einen politischen Liberalismus mit durchaus katholischem Hintergrund, wohl nicht unbeeinflußt von dessen französischem Haupt, dem Abb6 F.R.de Lamennais (10). Lamennais, der durch eine leidenschaftliche Schrift gegen Napoleons Universite schon 1814 aufgetreten war, hatte in seinem Kampf für Liberalismus und Unterrichtsfreiheit zu beweisen unternommen, daß ein modernes Staatswesen immöglich auf einer Profanphilosophie aufgebaut werden könne (11). Wenn Katholizismus und Liberalismus bei Lamennais wie bei den Rheinischen Schulmännern zusammentrafen, so war das nicht, wie z. B. Münch behauptet hatte, eine Zweckverbindung von an sich extremen Gegnern, sondern hier ein echter Zusammenklang von naturrechtlichen Ordnungsgedanken und katholischer Religiosität. Auch in der Frage des Elternrechts und in der Anbindung der politischen Rechte an ein gewisses Schulbildungsmaß stimmten die Rheinländer mit Lamennais überein. Wie in der Oster- so wurde auch in der Pfingstwoche eine große Zahl von Lehrertagungen durchgeführt (12). Von ihnen gewann die der preußisch-sächsischen Lehrer in Magdeburg Bedeutung, einmal deswegen, weil hier zum ersten Male in Preußen sich die Lehrer aller Schulgattungen in einem Konferenzsaal fanden — in Berlin waren alle derartigen Bestrebungen gescheitert — ; zum andern, weil die staatsbürgerliche Erziehung stark in den Vordergrund gerückt wurde und seither ein wichtiges Thema der achtundvierziger Bewegung blieb. Der Greifswalder Gymnasialdirektor R. H. Hiecke, der sich schon durch sein wirksames Eintreten für den selbständigen Deutschunterricht einen Namen gemacht hatte (13), verlangte eine Prüfung politischer Mündigkeit, einen vorbereitenden Unterricht dafür und eine abschließende „politische Weihe", in der die Mündigkeit feierlich erklärt, eine Nationalkokarde verliehen und Waffen- und Stimmrecht erteilt werden sollten. Durch eine Resolution der Versammlung wurde dieses Hieckesche Programm unterstützt. Als im Juli der erste Entwurf der preußischen Verfassungsurkunde veröffentlicht wurde, in der nur in allgemeinster Form die Unterrichtsfreiheit und die Staatsaufsicht garantiert waren, sammelte sich ein Kreis von 21 unbefriedigten Abgeordneten (meist aus dem Lehrerstande) und arbeitete, unter Beiziehung von Diesterweg und Kapp, ein in kurze Leitsätze gefaßtes Programm aus, das sogleich gedruckt und in Tausenden von Exemplaren in alle Gegenden Deutschlands verschickt wurde. In diesem

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Flugblatt, das unter Gefolgsleuten und Gegnern ein vielfaches Echo fand, heißt es (14): § 2. Der Staat gewährleistet dem Kinde jedes Preußen den zur allgemeinen Menschen-, Bürger- und Nationalbildung erforderlichen Unterricht.

Das war der Versuch, das Diesterwegsche Erziehungsprogramm in eine Formel zu pressen. „Nationalbildung" heißt hier nicht mehr für die ganze Nation gültige, sondern national orientierte und Nationalgefühl weckende Bildung. §§ 3 und 4. Dieser Unterricht wird auf den verschiedenen Stufen der Volksschule unentgeltlich erteilt. Auch in allen höheren Bildungsanstalten empfangen Unbemittelte . . . freien Unterricht. Der Unterricht ist allen Konfessionen gemeinschaftlich. Der allgemeine Religionsunterricht verbleibt der Schule, der konfessionelle ist von derselben ausgeschlossen.

Diese Forderungen gelten der sozialen Aufgabe der Schule. Gemeint ist damit nicht nur die zu schaffende Gleichberechtigung der Bildungschancen und Berufsmöglichkeiten, sondern der Sozialausgleich überhaupt, dadurch daß der Umgang aller Besitzstände miteinander durch die Schule zur Gewohnheit wird. Hieran knüpfte ein Berliner Arbeiterkongreß im August sein Schulprogramm — das wohl als das erste bildungspolitische Programm einer Arbeiterversammlung anzusprechen ist, das je aufgestellt wurde —; er ging jedoch noch weiter, indem er auch Bücher und Kleider für die Schulkinder zu Lasten der Öffentlichkeit legen und die Kleider von Kindern aus wohlhabenden Häusern durch Verordnungen regeln und einschränken wollte. Dieses letzte Motiv der Sozialerziehung geht auf Lepeletier, vielleicht gar auf Thomas Morus und seine utopistischen Nachfahren zurück und hat sich später ja in besonderen Schulkitteln und -trachten an manchen Stellen, zum Beispiel in der französischen Staatsschule, durchgesetzt (15). — Den heftigsten Widerspruch forderte im „Programm der 2 1 " der vierte Paragraph heraus, der den Religionsunterricht nur in „allgemeiner" Form der Schule, in konfessioneller allein den Kirchen zuweist. Auch dieser Vorschlag sollte der Erziehung zur nationalen und sozialen Einheit dienen. Ein halbes Jahrhundert früher hätte er nicht viel Anstoß erregt; aber die Stimmung hatte sich seither völlig gewandelt, und die Lehrerschaft hat sich gerade in der achtundvierziger Bewegung durch ihre Gleichsetzung des politischen mit dem religiösen Liberalismus viele Sympathien verscherzt.

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Mehr und mehr versuchten die lokalen und provinziellen Gruppen miteinander in Verbindung zu kommen und sich zu einer gesamtdeutschen Bewegung zusammenzutun. Von der nächsten großen Versammlung erwartete man im Sommer den Anstoß zu einem solchen Zusammenschluß. Als dann auf den August nach Dresden ein zweiter sächsischer Lehrertag anberaumt wurde, wurden aus allen Teilen Deutschlands Adressen dahin gerichtet, es müsse dort der entscheidende Schritt getan und die Vereinigung aller deutschen Lehrer ausgerufen werden. Vorbereitet wurde dieser Schritt, als sich die über 1100 Lehrer dort versammelt hatten, durch die Hauptrede von Köchly, der wiederum der eigentliche Kopf der Veranstaltung war. Köchly gab dort einen neuen Begriff der Volksschule als Streitparole aus. „Deutsche Volksschule" dürfe sich künftig nur die Schule des ganzen deutschen Volkes nennen, eine Schule also, die alle Stufen des Unterrichts „von der Kinderbewahranstalt an bis hinauf zur Universität" umfasse, die in allen deutschen Staaten die gleichen Züge trage und auf diese Weise das soziale und überstaatliche Einheitsbewußtsein des deutschen Volkes ausdrücke und weiter befestige. Eine solche Schule biete für den heraufzuführenden Volksstaat, für seine Verwirklichung und für seinen Bestand „die sicherste, ja die alleinige Gewähr" (16). Höhepunkt dieser Dresdener Tagung war dann der einmütige Entschluß der Teilnehmenden, mit dieser Volksschule den Anfang zu machen, indem man die Lehrer aller Schulen und Länder zu einem „Allgemeinen deutschen Lehrerverein" zusammenschloß. Den Anstoß dazu gab der als Ehrengast anwesende K. F. W. Wander, der „rote Wander" genannt, Prototyp des politischen und auf die Politisierung der ganzen Zunft hinarbeitenden Lehrers, wie ihn so nur die Jahrhundertmitte gekannt hat; ein Mann, der lebenslänglich mit den Behörden im Kampf stand und dessen Name nach Diesterwegs einer der bekanntesten in der deutschen Lehrerschaft war (17). Wander verlas der feierlich schweigenden Versammlung den Gründungsaufruf für den neuen Nationalverein. Das langersehnte einige Deutschland werde nun endlich in der Paulskirche erbaut. „Aber was würde der herrlichste Bau nützen, wenn nicht der rechte Geist in ihm lebte?" Diesen Geist zu wecken, zu kräftigen und zu leiten, ist die Aufgabe der Volkserziehung, eine Aufgabe, welche die vereinigte Kraft aller Lehrer und darum eine Vereinigung des Lehrerstandes erheischt. Alle Landschaftsund Standesgrenzen müssen fallen. „Alles sammelt sich unter der Fahne der Einheit. Deutsche Lehrer, reißet auch Ihr die Euch

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trennenden Schranken nieder! Lasset uns als Brüder arbeiten an dem großen Werke, das uns anvertraut ist: an der Bildung des deutschen Volkes!" (18). Eine erste Versammlung dieses allgemeindeutschen Lehrervereins wurde sogleich auf Ende September nach Eisenach einberufen. Diese Lehrerversammlung in Eisenach — in der Stadt des Wartburgfestes — war nicht so beschickt, wie man es erwartet hatte (19). Volksschullehrer waren nur wenige erschienen, schon weil den meisten die Mittel zu einer solchen Reise fehlten. Und die süddeutschen Staaten waren schwach, Württemberg und Baden überhaupt nicht vertreten; die kurzfristige Anberaumimg wurde dafür verantwortlich gemacht. Kernpunkte dar Verhandlungen waren wieder die einheitliche Schulorganisation — in gewissem Sinne eine Vorwegnahme des Einheitsschulgedankens und seiner sozialen Motive —; ferner, wie üblich, die konfessionelle Religionsunterweisung. Dazu kam eine lebhafte Debatte über den Deutschunterricht, den die meisten Teilnehmer verselbständigt und zur Förderung des nationalen Selbstbewußtseins gekräftigt, einige sogar schon in den Mittelpunkt des ganzen Lehrplans gestellt sehen wollten (20). Umformung des Geschichtsunterrichts und Staatsbürgerkunde als selbständiges Lehrfach wurden nur von einzelnen gefordert. Weitgehende Sozialwünsche etwa im Sinne des Berliner Arbeiterkongresses trug der Linkshegelianer C. L. Michelet, Lehrer am Französischen Gymnasium in Berlin, vor, ohne damit aber Resonanz zu finden (21). Beifall hatte jedoch die schon auf früheren Konferenzen gestellte Forderung kollegialer statt der gewohnten autoritären Schulleitung. Der von Köchly stammende Ausspruch, der Direktor dürfe nichts anderes sein als 'primus inter pares', wurde rasch zum Schlagwort und sollte ausdrücken, daß eine liberalere Organisationsform der Schule Voraussetzung sei dafür, daß ein liberalerer Geist in ihren vier Wänden einziehe und freie Menschen in ihr erzogen würden. — Natürlich kehrten auch in Eisenach die Forderungen wieder, die wie eine Litanei an allen Konferenzen abgesungen wurden: die nach Staatlichkeit der Schule, nach fachlicher Aufsicht und nach einem besonderen, unabhängigen Unterrichtsministerium. Die in Eisenach angenommenen Statuten des Lehrervereins nannten als seinen Zweck die „Verbrüderung aller Lehrer der verschiedenen Schulen Deutschlands" und die „Herstellung und Fortbildung eines geordneten Schul- und Erziehungswesens zur Förderung national-deutscher und sittlich-religiöser Volksbildung" (22).

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An die Frankfurter Nationalversammlung wurde eine Resolution gesandt, man möchte die Beratung über den Teil der Grundrechte, welcher Erziehung und Schule betreffe, so lange aussetzen, bis darüber ein „deutscher Lehrertag" gehört worden sei. Dieser Lehrertag sei auf Kosten der Reichsregierung sogleich zu bilden durch freie, unmittelbare Wahl von Abgeordneten aller Schulgattungen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel (23). Aufgabe eines solchen Lehrertages sei es, die „Grundsätze der deutschen Erziehung und des Unterrichts" festzustellen, das Verhältnis der Schule zum Staat und zur Kirche zu definieren, über Bildung und Stellung des Lehrerstandes Vorschläge zu machen und eine allgemeine deutsche Schulordnung zu entwerfen. Er sollte eine konsultative Körperschaft zu Händen der Nationalversammlung bilden, ähnlich wie spätere Landesschulkonferenzen und Beiräte, jedoch nicht von oben ernannt, sondern durch Proporzwahlen aus den Lehrkörpern hervorgegangen. Wenn die preußische Regierung seit Ende August überall Provinzialkonferenzen einberief, welche Vorschläge für ein Unterrichtsgesetz ausarbeiten sollten, so wurde damit ein ähnlicher Gedanke, von oben her und gewissermaßen präventiv, schon verwirklicht (24). Der Lehrerstand war damit als politische Körperschaft, die in Schuldingen mitzusprechen hat, schon anerkannt. Die Petition für einen Reichs-Lehrertag freilich wanderte in Frankfurt ebenso wie die zahllosen anderen Erziehungspetitionen auf die Aktenberge eines zuständigen Ausschusses, während die Kultusdebatte unbeirrt weiterging. Die Lehrer versuchten darum, auf andere Weise einen Einfluß auf die Verfassung und besonders auf die darin vorgesehenen Schulartikel zu gewinnen. Auf Oktober war ein Kongreß, welcher Vertreter der Lehrer aus den süd- und westdeutschen Staaten zusammenführen sollte, absichtlich just nach Frankfurt bestellt worden, nachdem sich vorher (im August) Delegationen der norddeutschen Lehrer in Hamburg getroffen hatten (25). Diese überstaatlichen Zusammenschlüsse hatten die Vorstufe bilden sollen zu der nationalen Vereinigung der Lehrer; sie waren nur durch die hastige Einberufung des gesamtdeutschen Lehrertages nach Eisenach mit diesem in eine ungewollte Konkurrenz getreten. Eine Delegation der Eisenacher stellte nun den Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen Lehrerbunde und den in Frankfurt versammelten süd- und westdeutschen Lehrern her (26). Gemeinsam versuchte man sofort, mit den Lehrern unter den Abgeordneten der Nationalversammlung in Kontakt zu kom-

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men, und erwirkte eine offizielle Zusammenkunft von Vertretern des Lehrerkongresses mit dem Schulausschuß des Parlaments. Dadurch erhielt der Kongreß Einfluß wenigstens auf die zweite Lesung der Unterrichtsartikel innerhalb der Grundrechte. Die nächste Tagung des Allgemeinen deutschen Lehrervereins im folgenden Jahre war nur noch mäßig besucht (27). Die Tagungsfreudigkeit war teils im Verlauf der weiteren politischen Ereignisse zusammen mit dem Glauben an eine tiefgreifende Veränderung geschwunden, teils auch durch die Gleichförmigkeit der Versammlungen und Proklamationen erschöpft. 2. DIE POLITISCH-PÄDAGOGISCHEN FORDERUNGEN DER LEHRER

Neben diesen Hauptversammlungen wurde eine Unzahl von kleineren Konferenzen abgehalten — es hat damals wenige Bezirke in Deutschland gegeben, in denen nicht mindestens ein solches Lehrertreffen stattgefunden hätte. Überall wurden ähnliche Wünsche laut, wurden auf ähnliche Weise soziale, pädagogische und politische Wünsche miteinander verkoppelt. Auffällig ist dabei die berufsständische Einseitigkeit der ganzen Bewegung. Alle Fragen des Schulwesens dachte man zwischen Staat und Lehrerschaft auszuhandeln. Nirgends hat mein vorgesehen, auch nur einzelne Vertreter der Eltern, der Arbeiterschaft und der Zünfte, der Wirtschaft oder der Kirchen herbeizuziehen und mitsprechen zu lassen. Die wichtigsten Forderungen der Lehrer, soweit sie das Gebiet der politischen Erziehung berühren, lassen sich aus den vielen Tagesprotokollen und Petitionen etwa folgendermaßen resümieren : i. Die Schule werde Staatsanstalt. In dieser Forderung strömen viele Motive zusammen. Das Unabhängigkeitsstreben gegenüber der Kirche und Sozialwünsche für den Berufsstand haben sicher einen großen Anteil daran. Aber auch Motive, die in engerem Sinne in unsern Zusammenhang gehören, sind beteiligt gewesen. Einmal konnte das große Vereinigungswerk, der Zusammenschluß aller Schularten und -bezirke, wie er seit Köchlys Dresdener Rede zum allgemeinen Programm gehörte, nur in einer staatlichen Schulorganisation gelingen, nur indem sich die Staatsmacht hinwegsetzte über die Unzahl parti-

Die politisch-pädagogischen Forderungen der Lehrer kulärer Interessen. Zum anderen konnte der Lehrer, gerade um seiner politischen Sendung willen, nicht mehr Gemeindediener fürs Kinderhüten sein, er, der sich doch vielmehr als Erzieher der Gemeinde, als Wegbereiter für eine neue politische Ordnung und aufgeklärte Lebensform fühlte. Voraussetzung für diesen Wunsch war natürlich, daß der Staat eine solche Auffassung vom Lehramt zuließ. Daß etwa Wander und Mager zeitweise sehr scharf gegen die weitere Verstaatlichung der Schule polemisiert haben, war bedingt durch ihren Pessimismus gegenüber dem bestehenden Staat. Den notwendigen Zusammenhang von Staatsschule und Verfassungsstaat hatte ja schon der Leipziger Kongreß dargetan (28). 2. Allem Unterricht werde Freiheit eingeräumt und garantiert, besonders Freiheit der Unterrichtsmethoden und der Mittelwahl; nicht aber unbegrenzte Freiheit, sondern nur solche, die „einer vernünftigen Aufklärung und Erziehung nicht hinderlich" ist (29). Diese Einschränkung richtet sich nicht gegen eine extreme Linke, sondern gegen die antiaufklärerische Arbeit kirchlicher Erziehung. Immerhin ist ein Grundsatzproblem hier gesehen und formuliert, nämlich die Notwendigkeit, gegenüber freiheitsbedrohender Erziehung die Freiheit der Erziehung einzugrenzen. 3. „Volkstümliche Gemütsbildung" und „Erweckung des Geistes deutscher Nationalität" sollen zur Erstaufgabe der Schule erhoben werden. Damit ist zweierlei gemeint. Einmal die inhaltliche Nationalisierung, die Konzentration auf die Deutschkunde in weitester Bedeutung, wobei sich in „Volkstümlichkeit", „Gemütsbildung", „echt-deutschem Lebensprinzip" und ähnlichen Worten der romantisch-teutsche Charakter der ganzen Bewegung ausspricht, der sich mit ihrem aufklärerischen Liberalismus nie ganz mühelos verband (30). Zum andern meinen aber diese Formulierungen auch: planmäßige Erziehung zu einem Nationalbewußtsein. In diesem Sinne wird gefordert: 4. Umformung des Schulinneren, sowohl des Fächerkanons als auch des Inhalts der einzelnen Fächer.

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Die pädagogische Bewegung des Jahres 1848 Die einen dachten dabei an eine „Verdeutschung" der überlieferten Fächer, eine Konzentration des Geschichtsunterrichts auf die Nationalgeschichte und eine Ablösung der biblischen Erzählungen, die als undeutsch empfunden würden, durch solche aus der deutschen Kirchengeschichte (31); auch an die Nutzung des Turnens hat man gedacht, das man als Training für eine allgemeine Volksbewaffnung einrichten oder auch direkt mit militärischem Exerzieren verbinden wollte (32). Andere wollten aber neue, der neuen Aufgabe gewidmete Fächer einführen, etwa eine deutsche Volkskunde, die in Sagen, Märchen und deutscher Poesie die nationalen Geistesgüter pflegen sollte (33), oder auch eine Verfassungs- und Gesetzeskunde, dieses seit 1 8 1 5 wieder ganz darniederliegende Fach, dem mein mit Tagesgeschichte und Unterricht nach politischen Katechismen nun auf die Beine zu helfen dachte (34). Schließlich wurde verlangt:

5. Einheitliche Organisation und einheitlicher Lehrplan für alle Schulen Deutschlands (35). Das Werk der Paulskirche sollte damit nicht nur in der Organisation des deutschen Schulwesens seine Entsprechung finden, sondern die Schulen wollten selbst die Aufgabe übernehmen, die äußere politische Einheit durch eine innere Einheit des Willens und der Gesinnung zu erfüllen und fest zu begründen. Natürlich wurden überall auch Gegenstimmen laut und der i. und der 5. Punkt wurden etwa im Preußischen Rheinland nicht unterstützt. Im ganzen wurde in Nord- und Mitteldeutschland stärker auf die Ausschaltung der Kirche, auf Einheitlichkeit und auf Beschränkung der Lehrfreiheit durch den Verfassungsstaat gedrungen, in Süd- und Westdeutschland mehr die provinziale Eigentümlichkeit, die weitere Freiheit des Unterrichts und die gegenseitige Kontrolle von Kirche, Gemeinde und Staat angestrebt. Dennoch kann man von einer Gesamtbewegung der deutschen Lehrerschaft sprechen. Die Unterschiede wurden überwogen von dem gemeinsamen Wunsch nach einem geeinten Deutschland, nach konstitutionellen Regierungsformen und nach einer an den Geistesgütern der deutschen Vergangenheit sich aufrichtenden, freien Erziehung für das ganze Volk, die den Verfassungsstaat mit schaffen und sichern sollte.

Die Arbeit des Frankfurter Parlaments

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3. DIE ARBEIT DES FRANKFURTER PARLAMENTS Nur ein Teil der Forderungen der Lehrerschaft hat sich in der parlamentarischen Arbeit der Nationalversammlung durchsetzen können. Auch die Frankfurter haben ja ihre Verfassung nicht im leeren Raum zu errichten versucht, sondern bewußt in der Tradition der Verfassungsgeschichte und in ständiger Auseinandersetzung mit den großen Verfassungsvorbildern gehandelt. Die Virgina Bill of Rights von 1776 und die französische Menschenrechtserklärung hatten über die Erziehung noch nichts enthalten. In der französischen Konstitution von 1795 jedoch war ein staatliches Schulwesen schon verankert (36). Und die belgische Verfassung von 1831 hatte in ihre Bürgerrechtspräambel zweierlei aufgenommen, die staatliche Erziehungsorganisation (die konsequenterweise an dieser Stelle wohl als Bürgerrecht auf Bildung hätte erscheinen müssen) und die Unterrichtsfreiheit mit dem charakteristischen Zusatz, Vergehen dürften nur auf gesetzlichem Wege unterdrückt — soll heißen: nicht etwa durch eine staatsgelenkte Erziehung im voraus verhindert — werden

(37)· Schon in den politischen Versammlungen, die den achtundvierziger Ereignissen vorausgingen, waren auch in Deutschland Forderungen im Sinne der belgischen Verfassung laut geworden. So hatte G. von Struve im Namen einer Offenburger Tagung badischer Radikaler geschrieben: „Wir verlangen Gewissens- und Lehrfreiheit... Wir verlangen, daß die Bildung durch Unterricht allen gleich zugänglich werde. Die Mittel dazu hat die Gesamtheit in gerechter Verteilung aufzubringen" (38). Während in Paris die erste Volkserklärung der Februarrevolution unentgeltliche und gleiche Erziehung für alle mit allgemeinem Schulzwang zur Staatsschule forderte, war in der deutschen achtundvierziger Bewegung fast überall das liberal-staatskritische Moment stärker. Der Heidelberger Siebenerausschuß mit von Gagern und Welcker, der das Frankfurter Vorparlament berief, setzte Glaubensfreiheit und Freiheit der Bildimg in den Katalog der Freiheitsrechte, der als Vorform des späteren Grundrechtskatalogs anzusehen ist. Auch im Frankfurter Vorparlament spielten die liberalen Unterrichtsforderungen eine bedeutende Rolle. Struve legte im Namen der Linksliberalen einen Rechtskatalog vor, der Bildung für alle, Abschaffung des Schulgelds und Ausschaltung der Kirche in Schuldingen garantieren sollte. Der hessische Ministerpräsident H. K. Jaup hat die Freiheit der Bildung als „Lehrfreiheit und Lernfreiheit" präzi11 Flitner

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Die pädagogische Bewegung des Jahres 1848

siert (39). In dieser Doppelung ist sie dann in den Grundrechtskatalog des Vorparlaments eingegangen — es ist das „droit d'apprendre et droit d'enseigner" der Französischen Revolution. Auch das Recht auf Bildung sollte gesichert und der Unterricht für alle Volksklassen, Gewerbe und Berufe aus Staatsmitteln bestritten werden (40). Ein Verfassungsausschuß des gewählten Hauptparlaments mit Robert von Mohl und F. C. Dahlmann formulierte dann mäßiger: freien Unterricht nur für Unbemittelte und nur für die Volksund Gewerbeschulen; und Lehrfreiheit an öffentlichen Anstalten nur für den, der seine Befähigung nachgewiesen hat. Doch stieß diese letzte Einschränkung im Plenum als illiberal auf harten Widerstand, ebenso wie man um der Freiheitsdoktrin willen die Proklamation des Schulzwangs ängstlich vermied. Die endgültige Formulierung der Schulartikel, wie sie unter den Grundrechten am 27. Dezember 1848 verkündet wurden und dann einen Teil der Reichsverfassimg vom 29. 3.1849 bildeten, lautet: Artikel VI § 22 (Reichsverfassung § 152). Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. § 2 3 (§ 153)· Das Unterrichts- und Erziehungswesen steht unter der Oberaufsicht des Staats und ist, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit als solcher enthoben. § 24 (§ 154). Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen, zu leiten und an solchen Unterricht zu erteilen, steht jedem Deutschen frei, wenn er seine Befähigung der betreffenden Staatsbehörde nachgewiesen hat. Der häusliche Unterricht unterliegt keiner Beschränkung. § 2 5 (§ I 55)· Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen überall genügend gesorgt werden. Eltern oder deren Stellvertreter dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht ohne den Unterricht lassen, welcher für die unteren Volksschulen vorgeschrieben ist. § 26 (§ 156). Die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener. Der Staat stellt unter gesetzlich geordneter Beteiligung der Gemeinden aus der Zahl der Geprüften die Lehrer der Volksschulen an. §27 (§157). Für den Unterricht in Volksschulen und niederen Gewerbeschulen wird kein Schulgeld bezahlt. Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Unterrichtsanstalten freier Unterricht gewährt werden. § 28 (§ 158). Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will (41).

Die Arbeit des Frankfurter Parlaments

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Überwiegt hier dem Wortlaut nach die altliberale Tendenz möglichster Freizügigkeit, so ist doch schon manches enthalten, was darüber hinausweist. Die Lehrfreiheit wird verkündet, jedoch an einen staatlichen Nachweis der Lehrbefähigung geknüpft. Das Recht eines jeden auf Bildung ist durch eine ausreichende Anzahl von Schulen und durch die Pflicht der Eltern, für Schulbesuch oder entsprechenden Unterricht des Kindes zu sorgen, gesichert. Staatlichkeit soll aber nicht Staatszentralismus heißen: der Gemeinde steht bei der Lehrerwahl eine Stimme zu. Geht schon die Lernpflicht über die belgischen Grundrechte hinaus, so ist durch die Proklamation der Schulgeldfreiheit in der Volks- und Gewerbeschule sowie durch das staatliche Stipendienwesen — wohlgemerkt: beides in den Grundrechten festgelegt! — der Weg des staatskritischen Altliberalismus verlassen und eine ausgesprochen sozialstaatliche Richtung eingeschlagen. Das ist weniger eine Nachahmimg der Wohlfahrtsexperimente der französischen Februarrevolution, als vielmehr ein Eingehen auf die Forderungen der Lehrerschaft: ein Sonderstück im Verfassungstext, das aus dessen mittelständischem Gesamttenor herausfällt. Ebenso auffällig ist die Garantie der Beamtenrechte für Lehrer, die trotz zahlreicher Gegenstimmen aufgenommen wurde. Rechtsgarantien für einen einzelnen Berufsstand gehören ja an sich nicht in einen allgemeinen Katalog der natürlichen Grundrechte, was die Gegner dieses Paragraphen auch nachdrücklich geltend machten. Daß sie doch aufgenommen wurden, zeigt wiederum den Einfluß des Lehrerstandes auf die Frankfurter Arbeit, nicht nur durch die mehr als 100 Abgeordneten, die selbst Lehrer oder Dozenten waren, sondern auch durch den Nachdruck, mit dem die vielen Lehrerversammlungen ihre Forderungen geltend gemacht und der Frankfurter Versammlung zugeleitet hatten. Damit hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß der Stand des Lehrers eben nicht ein Berufsstand unter anderen ist, sondern daß ihm eine politische Funktion zufällt und daß ein intaktes und unabhängiges Schulwesen die Voraussetzung für einen funktionierenden Verfassungsstaat bildet. Eine politische Erziehung im engeren Sinne wurde zwar in der Debatte berührt, ging aber in den Verfassungstext nicht ein, wie auch die anfangs aufgenommene Formel „Recht auf allgemeine Menschen- und Bürgerbildung" in der zweiten Lesung der Unterrichtsartikel fallen gelassen wurde (42). Die Bedeutung der achtundvierziger Bewegung für die politische 11·

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Die pädagogische Bewegung des Jahres 1848

Erziehung liegt einmal in der Formulierung der Grundrechte. Von den abstrakt-naturrechtlichen Formeln der Französischen Revolution hatte man sich abgewandt und konkrete politische Aufgaben in den Katalog aufgenommen, unter denen die Erwirkung der deutschen Einheit im Vordergrund stand, zu denen aber auch eine allgemeine deutsche Volksbildung gehörte. Die Grundrechtssätze sind in die Verfassungen oder Gesetzgebung der einzelnen deutschen Staaten, ihr Geist ist in den Rechtsgeist der folgenden Jahrzehnte übergegangen (43). Zum anderen aber liegt die Bedeutung dieser Ereignisse in der Politisierung der Lehrerschaft, in dem neuen berufsständischen Selbstgefühl, das sich wesentlich aus einem politisch-pädagogischen Auftragsbewußtsein speiste. Der Lehrer hat sich im Verfassungsstaat mit Recht eine ganz bestimmte Aufgabe zuerkannt, und darum sind auch, besonders in den folgenden zwei Jahrzehnten, die Lehrer mit solcher Leidenschaft für den Verfassungsstaat eingetreten. Die Gedanken der Achtundvierziger zur politischen Erziehung bringen inhaltlich wenig Neues, ja bewegen sich oft in aufklärerischer Schmalspur des 18. Jahrhunderts oder in den Bahnen eines turnväterisch-polterndenNationalismus. Das neueBewußtsein der Lehrerschaft jedoch, für die Menschenrechte, für die politische Freiheit und für die innere Einheit der Deutschen in hohem Maße verantwortlich zu sein, hat eine Chance sowohl für das Erziehungswesen wie für die deutsche Politik in sich getragen, die durch den Lauf der Dinge nur zum kleinen Teil genutzt worden ist.

NEUNTES KAPITEL

POLITIK U N D ERZIEHUNGSTHEORIE BIS 1870 i. DIE SCHULPOLITIK BIS 1870

Die Schulpolitik der folgenden Zeit stand zunächst noch ganz unter dem Eindruck der Revolutionsereignisse. Dafür daß die Lehrerschaft so rege an ihnen teilgenommen hatte, wurde die aufklärerische Bildung auf den Seminaren und das lockere Schulregiment verantwortlich gemacht, während man die schulrechtlichen, die sozialen und ökonomischen Momente ganz übersah. In Preußen etwa wurden die der Öffentlichkeit und dem Lehrerstande gegebenen Versprechungen schrittweise wieder zurückgenommen. Schon im Dezember 1848 gab eine Kabinetts-Ordre dem herrschaftlichen Unwillen über die „politische Aufregung" im Lehrerstande freien Lauf und bezeichnete als die Hauptaufgabe der Schule die Erziehung zu religiös-untertänigem Gehorsam und zur Liebe für Fürst und Vaterland (1). Und auf einer Seminarlehrerkonferenz 1849 fuhr der König die Teilnehmer, Direktoren und Lehrer, mit den Worten an: „All' das Elend, das im verflossenen Jahre hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, . . . mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüte meiner Untertanen ausgerottet und deren Herz von mir abgewendet haben" (2). Die jetzt erfolgende Berufung O. v. Raumers als Minister für Kultus und Unterricht wurde allgemein verstanden „als ein Akt der wieder zu festem Regiment entschlossenen Obrigkeit des Staates, und er selber faßte seine Aufgabe nicht anders auf" (Wiese). „Er war ein fester Charakter und ein treuer Diener seines Königs; er teilte dessen Uberzeugung, daß die Forderungen der neuen Zeit wie im Staat so in der Kirche und Schule heilbringend nur auf den alten Grundlagen des christlichen Gemeinschaftslebens erfüllt werden könnten, daß es daher vor allem darauf ankomme, diese neu zu befestigen und der Flut revolutionärer Strebungen den Damm legitimer Ordnung und Autorität entgegenzusetzen" (3). Unter Raumers Regiment wurden die Fröbelschen Kindergärten verboten.

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Politik und Erziehungstheorie bis 1870

und zwar auf Grund der Schrift eines Neffen von Fröbel, mit dem dieser sich keineswegs identifizierte. „Wie aus der Broschüre .Hochschulen für Mädchen und Kindergärten etc. von Karl Fröbel' erhellt" — so heißt es in dem entsprechenden Reskript — „bilden die Kindergärten einen Teil des Fröbelschen sozialistischen Systems, das auf Heranbildung der Jugend zum Atheismus berechnet ist. Schulen etc., welche nach Fröbelschen oder ähnlichen Grundsätzen errichtet werden sollen, können daher nicht geduldet werden" (4). Die umstrittenste Leistung der Raumerschen Amtsperiode aber bilden die vom Geheimen Rat Ferdinand, Stiehl verfaßten und nach ihm benannten drei Regulative vom 1., 2. und 3. Oktober 1854. Was diese Regulative im Hinblick auf die Konfessionalisierung der evangelischen Schulen haben leisten wollen mit ihren vorgeschriebenen Memorierstoffen, der strikten Beschränkung des Unterrichts auf die Formulierungen der Lehrbücher, ihrer Diskreditierung allgemeiner Menschen- und Geistesbildung als „wirkungslos oder schädlich", mit ihren Vorschriften für die Seminarausbildung, welche die wissenschaftliche Pädagogik und Psychologie verbannen und durch eine Zusammenstellung der in der Bibel enthaltenen pädagogischen Grundsätze ersetzen sollen — das alles ist schon mehrfach dargestellt worden. Was in unserem Zusammenhang herausgehoben werden muß, ist die staatspatriotische Tendenz der Stiehlschen Normen. Statt einer vielseitigen Allgemeinbildung, so heißt es da, soll auf den Seminaren alles in den Grenzen dessen gehalten werden, was für die elementaren Aufgaben des Lehrers erforderlich ist, nämlich „mitzuwirken, daß die Jugend erzogen werde in christlicher, vaterländischer Gesinnung und in häuslicher Tugend" (5). Der Unterrichtsstoff solle „in seinen christlichen, nationalen und verständig nützlichen Beziehungen" so behandelt werden, daß er auf Herz, Gemüt und Charakter einwirke. Genaue Weisungen werden über die Privatlektüre der Seminaristen erteilt, welche die Lehrkräfte regelmäßig zu kontrollieren hätten. „Ausgeschlossen von dieser Privatlektüre muß die sogen, klassische Literatur bleiben; dagegen findet Aufnahme, was nach Inhalt und Tendenz kirchliches Leben, christliche Sitte, Patriotismus und sinnige Betrachtung der Natur zu fördern, u n d . . . in Kopf und Herz des Volkes überzugehen geeignet ist" (6). Solche nützliche Literatur wird aufgezählt: Biographien der Reformatoren, Paul Gerhardts und Jakob Speners, eine Zeitschrift des Rauhen Hauses, Grimms Märchen,

Die Schulpolitik bis 1870

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die Volksschriften von Gotthelf, Claudius, Krummacher und Hebel und eine Reihe von politisch-patriotischen Büchern, nämlich, außer zwei nationalen Volksschullesebüchern mit den Namen „Vaterland" und „Germania" (7), eine Sammlung preußischvaterländischer Gedichte unter dem Titel „Preußens Ehrenspiegel" (8); ferner Werner Hahns vaterländische Biographien Friedrichs I., Friedrich Wilhelms III., der Königin Luise und des Generals von Zieten, die durchtränkt sind von der Moral, daß Anhänglichkeit an das Königshaus den Gottessegen mit Sicherheit nach sich ziehe (9). Schließlich empfiehlt der Katalog noch die von einem christlichen Verein herausgegebene „Geschichte der Französischen Revolution" von Gustav Jahn, die darlegt, wie das Land der Königsmörder von Gott heimgesucht wird; und die vom gleichen Autor verfaßte pragmatische Darstellung der deutschen Freiheitskriege 1 8 1 3 — 1 8 1 5 , welche direkt in die Frage einmündet: „ W a s sollen wir daraus lernen?" (10). Die Antwort lautet: daß man bei Ereignissen wie Napoleons Eroberungen ebensowenig wie bei dem scheinbaren Obsiegen der „demokratischen Narrenpossen" des Jahres 1848 verzagen und an der Gottesordnung zweifeln dürfe; daß Gott gelegentlich das Böse als Besen brauche, um auszukehren — Napoleon oder die Demokraten von 1848; daß man aber dem Bösen damals wie heute nicht die kleinste Insel Elba lassen dürfe, um Gottes unausbleiblichen Sieg nicht unnötig hinauszuzögern. Auf welcher Seite heute Gott kämpfe, darüber könne kein Zweifel aufkommen, da die Demokraten und Unruhestifter sich ja schon in ihrem Programm ein für allemal von seiner Ordnung losgesagt hätten (11). Im ganzen dürfe der Geschichtsunterricht an den Seminaren, so fährt der Text der Regulative fort, sich nicht in die allgemeine Weltgeschichte verlieren und damit Unklarheit und Verbildung erzeugen, sondern er müsse sich auf die deutsche und vornehmlich auf die preußische Geschichte beschränken. Denn es sei die Aufgabe der künftigen Lehrer, „bei dem heranwachsenden Geschlecht und in ihrer Umgebung [d. h. nicht nur als Jugend-, sondern auch als politische Volksbildner] Kenntnis der vaterländischen Erinnerungen, Einrichtungen und Personen aus der Vergangenheit und Gegenwart, und damit Achtung und Liebe zu der Herrscherfamilie vermitteln zu helfen" (12); oder, wie das dritte Regulativ noch deutlicher sagt, „durch lebendiges Wort die Jugend einzuführen in die Kenntnis der Geschichte unserer Herrscher und unseres Volkes, wie der göttlichen Leitung, die

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sich in derselben offenbart" (13). Als Anknüpfungspunkte dazu eignen sich besonders patriotische Lieder und patriotische und kirchliche Gedenktage, die feierlich zu begehen seien, nämlich: der Krönungstag von 1701, Luthers Geburts- und Todestag, die Schlacht bei Belle-Alliance, die Geburtstage von Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV., die Schlacht bei Leipzig und der Reformationstag, „ohne daß die Erweiterung dieser Zahl nach provinziellen Rücksichten ausgeschlossen wäre". Wichtig für die innere Struktur der Schule wurde die Ablösung des bisher offiziell angestrebten freiheitlichen und erweckenden Unterrichts durch eine betonte Hörigkeit des Lehrers gegenüber Schulplan und Lehrbuch und eine ebenso betonte Hörigkeit der Schüler gegenüber dem Lehrer, der als Herr über sie, die armen Menschenkinder, gesetzt sei und sie regieren und erziehen müsse. Mit pietistischer Strenge wird die lutherische Obrigkeitslehre auf das Verhältnis von Lehrer und Schüler übertragen: „Denn das ist wahres Leben der christlichen Schule, daß sie, gegründet auf Gottes Wort und unter seine Zucht sich stellend, eine Anstalt ist, die nütze sei zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit.. . " (14). Man vergleiche die Redeweise mit derjenigen aus der Zeit des Neuhumanismus und der Pestalozzibewegung! Und in den anderen Ländern tönte es nicht besser. In Sachsen waren wegen ihrer politischen Aktivität 5 1 Lehrer entlassen worden. Den übrigen wurde unter Androhung des gleichen Schicksals jede politische Tätigkeit und Versammlungsteilnahme verboten (15). In Württemberg mußte 1850 jeder Lehrer eine ministerielle Rüge für die achtundvierziger Schulereignisse unterzeichnen, ebenso eine Straf- und Entlassungsdrohung für den Wiederholungsfall. Für Lehrer anderseits, die sich „durch Anhänglichkeit und treue Hingebung an die Sache der Monarchie, der Ordnung und des Rechts . . . gegenüber umwälzerischen Bestrebungen ausgezeichnet haben", schlug man Belohnungen vor (16). In Bayern bekämpft das Normativ für Lehrerbildung von 1857 scharf die Viellernerei, die zu „Wissensdünkel, Anmaßung, Unzufriedenheit und Ungehorsam" verleitet habe und verbannt alles, was nicht dazu dient, „glaubens- und kirchlichtreu«, religiös-sittliche, dem König treu ergebene, den Gesetzen gehorsame, einfach aber gründlich unterrichtete . . . Lehrer heranzuziehen" (17). Uberall wurden auch neue Schulbücher in diesem Geiste eingeführt, deren berühmtestes, das „Illustrierte Volksschullesebuch'' von Eduard Brock, in

Schulrecht und Schulveriassungslehre viele Länder Eingang fand und eins der verbreitetsten Lesebücher der deutschen Schulgeschichte wurde (18). Darin sind die Lesestücke im Jahreszyklus der kirchlichen und vaterländischen Feierund Gedenktage angeordnet. Das katechetische und das monarchisch-vaterländische Prinzip durchdringen den ganzen Stoff, auch Realien und Künste, und sollen die innere Einheit des Unterrichts herstellen. Die deutschen Klassiker, Goethe und Schiller, sind in den Büchern dieser Zeit so gut wie völlig übergangen und zwar, wie die Verfasser ausdrücklich erklären, wegen ihrer „gewiß nicht kirchlichen Überzeugung" (19). So haben die Stiehlschen Regulative auch ihre entsprechende Schulbuchform gefunden. Die Lehrerschaft hat sich, wie besonders die Geschichte der Lehrervereine zeigt, gegen diese Zumutungen gesträubt. Sie hat einmal nicht anerkannt, daß die wissenschaftliche Pädagogik durch eine Zusammenstellung biblischer Sätze könne vertreten werden, als sei Psychologie und Jugendkunde, Soziallehre und Politik in der Bibel material ausgebreitet und zeitlos gültig dargelegt. Sie hat sich ferner gegen die Zweischneidigkeit der Regierungsforderungen gewehrt, daß man zwar den politisch uninteressierten und untätigen Schulmeister wollte, ihm aber gleichzeitig vorschrieb, er solle eine bestimmte soziale und politische Lehre, nämlich die des christlich-konservativen Obrigkeitsstaates und einer patriarchalischen Gesellschaftsform, ausbreiten und einüben. Soviel steckte eben vom Pestalozzianismus in der Lehrerschaft noch drin, daß ihr ein tätiges und freies Interesse an dem, was sie unterrichtete, unabdingbar war. 2. SCHULRECHT.UND SCHULVERFASSUNGSLEHREJ In der gleichen Zeit gewannen Schulrecht und Schulveriassungslehre — beide oft unter einem dieser Namen zusammengefaßt — die Prägung einer selbständigen Disziplin. Seit der Reformationszeit war das Schulrecht mit dem Kirchenrecht verschmolzen und nach und nach durch Verordnungen sehr ungleichen Rechtscharakters erweitert worden. Als ein Teil des Staatsrechts wurde es zuerst in Preußen (1794), dann auch in anderen Staaten bezeichnet, ohne daß es damit zu einer eigentlichen Schulgesetzgebung gekommen wäre. Auch als um 1835 in einigen Ländern Gesetze erlassen wurden, betrafen diese doch nur das Volksschulwesen. Übersichtliche Darstellungen des positiven Rechts kamen nirgends zustande, und die Regierungspraxis

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bewies, daß es selbst den Behörden keineswegs immer gelungen ist, sich durch das Dickicht der Bestimmungen und des unsicher werdenden Gebrauchsrechts hindurchzufinden (20). Aber auch die Konstruktion eines .reinen' Rechts, die Systematisierung des Schulrechts entsprechend der Natur und der Vernunft, wozu die Zeit sonst so neigte, ließ in diesem Gebiete auf sich warten. Die Systeme der .Staatserziehungswissenschaft' um die Jahrhundertwende verquickten noch Pädagogik, Staatslehre und Theorie der Schulorganisation miteinander. Auch Robert von Mohl in seiner „Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats" (21) handelte die staatlichen Unterrichtsanstalten noch in einer Reihe mit Sittenpolizei, staatlicher Religionsförderung, öffentlichen Kunstmuseen, hygienischen Maßnahmen und Armenförderung ab. Von anderen wurde die Möglichkeit einer selbständigen vernünftigen Systematik überhaupt bestritten (22). Gleichwohl hat es an Ansätzen dazu auch vor 1848 nicht ganz gefehlt. So hat Heinrich Gräfe „das Rechtsverhältnis der Volksschule nach innen und außen nach Grundsätzen der Vernunft dargestellt" (23) und der schon erwähnte W. Sause den Entwurf einer „rechtmäßigen" Schulverfassung und Schulorganisation versucht (24). Es hängt mit der Tendenz zur Rationalisierung und staatlichen Institutionalisierung zusammen, die schon im 18. Jahrhundert bestand und die sich in der Bewegung von 1848 erneuerte, daß sich nunmehr auch das Schulrecht konstituierte und eigene systematische Werke hervorbrachte. Zunächst hat noch einmal Gräfe, ein nachmals geprüfter und in Festungshaft bewährter Kämpfer für die Verfassung in Kurhessen, die Rechtsprinzipien der Schule im Verfassungsstaate niedergelegt (25). Für Gräfe ist der Staat die Oberinstanz für alle sozialen, geistigen und sittlichen Belange; „er ist die höchste Vereinigung von Menschen zur Erreichung ihrer Menschenbestimmung, und er soll hierzu alle Wege ebnen, alle Mittel und Einrichtungen dem Einzelnen zur Benutzimg darbieten"; ja selbst die Kirche wird er sich unterstellen und in seine Aufgaben einbeziehen. Sein Wesen liegt aber in der strikten Begrenzung der Einzelrechte und -Sphären. Kirche und Schule sind Staatsanstalten, aber mit genauer Eingrenzung ihrer Abhängigkeit. Die Lehrfreiheit gilt nicht nur im Bereiche der geistlichen und wissenschaftlichen Lehre, sondern in sorgfältiger Abstufung auch in der Volksschule und auf dem Gymnasium. Die Einzelentscheidungen, z. B. über das Verbot rückständiger Lehrmetho-

Schulrecht und Schulverfassungslehre den, können nicht vom Staate selbst, sondern nur von Sachverständigengremien getroffen werden (26). Überhaupt liegt die Eigenart des Bildungswesens im freien Staate in der Balance, die es zwischen den Schutz- und den geistigen Mächten einhalten kann. Die Schule darf keinesfalls aus der Hand der Kirche in die der „Juristen und Verwaltungsmänner'' fallen, — „das wäre . . . in der Tat ein schlechter Tausch" (27). Vielmehr muß sie im Uberschneidungsbereich verschiedener Kräftefelder schweben: für Organisation und Recht müssen staatliche, für den sittlichen Gehalt kirchliche, für Stoff und Methoden pädagogische Kräfte überwiegen, ohne daß die jeweils anderen ausgeschaltet wären. Das sind für Gräfe die Prinzipien einer liberalen Schulordnung, die er nun bis in die einzelnen Fragen der Regierungspolitik, der Aufsicht, der Lehrerbildung und des Kindesrechts hinein verfolgt. Dieser Gedanke ist noch sorgfältiger durchgeführt in K. Kirschs Deutschem Volksschulrecht (1854). Hier ist ein ganzes System von .checks and balances' errichtet. Außer dem Staat, der Kirche und dem pädagogischen Fachurteil sind auch die Eltern und die Gemeinde sorgfältig eingeflochten, um den Lokal- und den Familienbedürfnissen gerecht zu werden (28). Die Freiheitlichkeit des Verfassungsstaates besteht in der gegenseitigen Kontrolle der verschiedenen Prinzipien und Interessen, in der rechtlichen Verankerung und schulpolitischen Geltung von politischen, sittlich-religiösen, wissenschaftlichen, sozialen und familiären Aufgaben. Unter diesem Gesichtspunkt hat Kirsch sowohl das .natürliche' Recht wie auch die positiven Satzungen der einzelnen deutschen Staaten mit Rückblicken auf ihre Geschichte vorgetragen. Rein auf das positive Recht und die erlassenen Verwaltungsbestimmungen hat sich Ludwig von Rönne beschränken wollen in seinem systematischen Werk „Das Unterrichtswesen des preußischen Staates" (1855), das aus Verwaltungsrecht, Beamtenrecht, Strafrecht und allgemeinem Staatsrecht die das Unterrichtswesen betreffenden Teile zusammenstellt. Der öffentliche Unterricht, obgleich allgemein als eine „Hauptseite der Staatstätigkeit" anerkannt, habe noch immer die notwendige rechtliche und gesetzliche Gessamtordnung nicht erhalten. Darum müsse wenigstens aus dem Vorhandenen, aus Einzelgesetzen, Reskripten und Verfügungen, ein System geschaffen und auf diese Weise der rechtliche Charakter des Schulwesens gefestigt werden.

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Rönnes einleitende historische Darstellung zeigt seine Sympathie für die freie, griechische Poliserziehung, für die unabhängigen Humanisten und für die „Pestalozzische oder rationale Schule", die leider gerade von der „orthodoxen" verdrängt werde. Die Stiehlschen Regulative verfolgen seines Ermessens das Ziel, „den Geist mit dem bestimmten Dogma der Kirche und des Staates zu erfüllen und die Schule auf den hierdurch bedingten Unterrichtskreis möglichst einzuschränken" (29). Das Gesamtanliegen, das selbst bei diesem nüchternen Bauwerk positiver Satzungen aus den Ritzen hervorschauen kann, ist eine bestimmte staatliche Rechtlichkeit und staatsgesicherte Freiheit (30), die Rönne später auch als Reichstagsabgeordneter politisch vertreten hat. Als eigentlicher Begründer einer wissenschaftlichen, deskriptiven wie systematischen Schulverwaltungslehre aber ist Lorenz von Stein anzusprechen (31). In seinem Denken begegneten sich Hegeische Philosophie und französische Sozial- und Wirtschaftslehren. Hegelsch spricht er von der „Geschichte, in welcher der Geist sich zum eigenen Gegenstande seiner eigenen Arbeit macht", und sieht in ihr einen Prozeß fortschreitenden Bewußtseins und zunehmender Objektivierung. Dem französischen Denken verpflichtet ist er dort, wo er den Staat in ständige Wechselbeziehung und Spannung zur Gesellschaft setzt, die sozialen und ökonomischen Faktoren in den Entwicklungsprozeß einbezieht und nicht den Staatsgedanken oder die Verfassungslehre, sondern die StaatsWirklichkeit, nämlich die Verwaltung, in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen rückt. Der Lehre von der inneren Verwaltung (der ehemaligen „Polizey") stellt er die Lehre vom Bildungswesen als andere Hemisphäre gegenüber. Das Bildungswesen ist das Feld der Begegnung des Geistes und der Gesittung mit der Gemeinschaft. Mit der historischen Entwicklung des Geistes, dem „unermeßlichen Fortschritt" im Wandel der Jahrhunderte, hält die Objektivierung und Institutionalisierung der Bildung gleichen Schritt. Die Wissenschaft dieses Jahrhunderts hat den schicksalhaften Auftrag, diesen Prozeß zu durchleuchten, „den Organismus und die Aufgabe seines Bildungswesens zum Bewußtsein" zu bringen. Zum Bewußtsein bringen heißt: es mit den Mitteln der vergleichenden und historischen Wissenschaft, mit soziologischen und staatsrechtlichen Kategorien durchforschen. Vergleichend hat Stein die wichtigsten europäischen Staaten, über die er sich durch Korrespondenten informiert hat, her-

Schulrecht und Schulverfassungslehre angezogen. Historisch sucht er die Erziehungswirklichkeit und ihr Verhältnis zu Staat und Gesellschaft von der griechischen Antike an bis ins 19. Jahrhundert darzustellen — eine Arbeit, die ihm sichtlich über den Kopf gewachsen ist und nun als dreibändiges Zwischenstück seine „Verwaltungslehre" zu sprengen droht, die aber zu den originellsten Leistungen der historischen Pädagogik gehört. In der antiken Welt sieht Stein die Bildung ganz der freien Tätigkeit des Individuums und damit dem Zufall überlassen (32). Die Ansätze zu staatlichen Bildungselementen im öffentlichen Kultus fallen nicht ins Gewicht, denn die eigentliche Bildungsidee blieb individualistisch, ebenso wie die Bildungspraxis vom Staate nicht geregelt wurde. Die „germanische Zeit" — Stein folgt in seiner Einteilung der hegelschen Geschichtsphilosophie — macht das Bildungswesen zur Pflicht der Gemeinschaft und setzt die Bildung aller Völker als eine Aufgabe des Reichs (Karl der Große). Dieses Reich allerdings verästelt sich in Stände und Körperschaften, Träger jeweils einer eigenen Bildungsordnung und Bildungsidee. In der Zeit des Humanismus treten Gehalte und Lehrprinzip der Antike ein in die „germanische Körperschaftlichkeit". In der Neuzeit endlich arbeitet sich eine neue Staatsidee empor und schmilzt den ständischen wie den humanistischen Bildungsgedanken ein. „ E s gibt keine Bildung und kein Bildungswesen mehr ohne den Staat, und keinen Staat ohne sein Bildungswesen und ohne seine Bildung" (33). In dieser neuen Epoche wird sich die Bildung, befreit von früheren Ordnungen, gemäß den Aufgaben des Lebens entwickeln; jeder Bereich wird sein eigenes Bildungsorgan und sein eigenes Bildungswesen empfangen, jeder Zweig der Bildung eigene Schulen und eigene Lehrer erhalten. Der Begriff der staatlichen Bildung wird ein „System des positiven Bildungswesens" hervorbringen, das zu einem bedeutenden Teil der Staatsverwaltung wird. „Der wissenschaftliche Gedanke wird zur praktischen Tat. Die Pädagogik und Methodenlehre werden aus den rein theoretischen Untersuchungen... zu den leitenden Faktoren für die staatliche Verwaltung der öffentlichen Bildung" (34). Unterrichtswesen und Unterrichtsgesetzgebung legen Zeugnis ab vom Maß der Klarheit und der Freiheit jedes Volksgeistes. Die Verwaltungswissenschaft darf nicht nur das positive Recht beschreiben, sondern muß die darin zum Ausdruck kommenden geistigen und sozialen Strömungen verstehen und möglichst allen Erziehern

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verständlich machen (35). Sie wird zeigen, daß die Entwicklung auf ein Bildungswesen drängt, welches das ganze Volk umfaßt und durch Allgemeinheit und Unentgeltlichkeit den sozialen Ausgleich der Gesellschaft vollendet. Damit findet sich auch ein fester Wertmaßstab für Steins vergleichende Betrachtungen der verschiedenen Staaten. Jeder Staat steht desto höher, je höher alle Angehörigen des Staates gebildet sind, je stärker das Prinzip der sozialen Bildung öffentlich-rechtlich anerkannt und in der Verwaltung wirklich betätigt wird und je mehr diese Staatsaufgabe ins allgemeine Bewußtsein eintritt. Dieser Bewußtmachung widmet Stein sein Werk, hier liegt das Pathos seiner historischen und verwaltungsrechtlichen Untersuchung des Bildungswesens. Die Begründer von Schulrecht und Schulverwaltungslehre auf dem Boden der Rechtswissenschaft, unter denen besonders noch Rudolf von Gneist zu nennen wäre, haben so auf doppelte Weise einen Rechtsgeist in das Schulwesen hineintragen und es damit der Regierungspolitik der Gegenwart entziehen wollen. Sie haben einerseits auf das positive Staatsrecht rekurriert und es gegen die herrschende Verwaltungspraxis geltend gemacht, so vor allem Gneist in einem Breslauer Schulstreit (36), so aber auch Rönne in seinem deskriptiven Verwaltungsrecht. Sie versuchten aber auf der anderen Seite auch zu definieren, worin ein gerechtes Schulrecht bestehe. Als wichtigste Züge erscheinen dabei: die gegenseitige, ausbalancierte Kontrolle der an der Erziehung interessierten Gemeinschaften (Gräfe, Kirsch) und die Verantwortung der Schule für die innere Einheit des Staatsvolkes, die sowohl in konstitutioneller (Gneist) als auch in sozialer Hinsicht (L. v. Stein) geltend gemacht wird (37). 3. DIE „CHRISTLICH-GYMNASIALEN"

Wenn Diesterweg die Schulpolitik der Zeit nach 1850 als das Vorgehen isolierter Regierungsspitzen gegen die herzenseinige Lehrerschaft hinstellen wollte, so ignorierte er damit eine breite Bewegung unter den deutschen Pädagogen, die eine Erneuerung der Schule aus dem Geiste reformatorischen Christentums erstrebte und die man, in zu enger Fassung ihrer Herkunft und ihres Wirkungsbereiches, die „christlich-gymnasiale'' genannt hat. Die Bezeichnung drückt immerhin richtig aus, daß man hier die Gymnasialbildung, d. h. den Schulhumanismus und die ganze

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Bildungsbewegung des Jahrhunderts, bejahte und christlich durchdringen wollte, also nicht teilnahm an den geradezu bildungsfeindlich zu nennenden Tendenzen, die sich in den preußischen Regulativen ausdrückten (38). Zum Bewußtsein ihrer selbst scheint diese Bewegung gekommen zu sein, als man in den Jahren nach 1848 unter der Voraussetzung, der Geist der Lehrerschaft habe sich in den Revolutionsunruhen als widerkirchlich erwiesen, an mehreren Stellen Privatschulen auf gesichert-christlicher Grundlage errichten wollte; so ein „Preußisches Nationalgymnasium" in Königsberg und ein „Christliches Gymnasium" in Gütersloh, gewidmet der Erziehung „zu wahrer Gottesfurcht und Patriotismus". Diese separatistische Bewegung rief die christlichen Lehrer der öffentlichen Schulen auf den Plan. War es wirklich so weit, daß das Christentum sich aussondern mußte an eigene Stätten? War mit der in den Verfassungstexten ausgesprochenen Trennung von der Kirche die Schule auch ihres christlichen Charakters beraubt oder blieb nicht das Christentum ihre selbstverständliche Grundlage? Galt es nicht, statt Sonderanstalten zu gründen, die schon durch ihren Namen die anderen Schulen zu unchristlichen stempeln, vielmehr die vorhandenen Schulen wieder mit christlichem Geiste zu erfüllen (39)? „Gottesfurcht und Patriotismus" lautet die Devise und das Erziehungsprogramm auch dieser Gruppe. Schon in der ersten Jahrhunderthälfte hatte sich eine Reihe von konfessionellen Erziehungsplänen gegen die zunehmende Verstaatlichung der Schule gewandt. So hatte F. A. Krummacher „Die christliche Volksschule im Bunde mit der Kirche" stärken, den Staat aus der Jugenderziehung ganz ausschließen, den Schullehrer als Kirchendiener einsetzen wollen und alle staatsbürgerliche als durch religiöse Bildung erübrigt angesehen (40). Der unter Altenstein in der preußischen Unterrichtsabteilung wirkende Bischof Rulemann Eylert hatte den Einfluß des Staates auf die Schule zugunsten dessen der Kirche verkleinern wollen. Das landeskirchliche Prinzip des Einklangs von Staat und Kirche war seit den zwanziger Jahren ins Wanken geraten. Und die verschiedenen Versuche, es zu erneuern — das romantisch-ständische Staatskirchentum der protestantischen Fürsten, der unständische Pietismus z. B. der einflußreichen „Evangelischen Kirchenzeitung" von E. W. Hengstenberg und das konstitutionelle christliche Königtum eines F. J . Stahl — zeigten in ihren Differenzen, daß die Stellung der Kirche im Staate keine selbstverständliche mehr war.

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In dieser Strömung, aber eigentümlich sich ausprägend, fand sich die Gruppe der „Christlich-Gymnasialen" zusammen. Ihre ersten Werke kamen aus der Feder lutherischer Moraltheologen: die „Grundzüge der Erziehungslehre" (1849) des Gießeners Gustav Baur und die „Evangelische Pädagogik" (1853) des Tübingers Christian Palmer (41). Das Bewußtsein einer großen Bewegung aber tauchte erst auf, als es dem Ulmer (später Stuttgarter) Gymnasialdirektor K. A. Schmid gelang, eine große Zahl akademisch graduierter Schulmänner, Theologen und Universitätsprofessoren zu einem Gemeinschaftswerk zu vereinigen, das in zwanzigjähriger Arbeit als „Schmids Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" (1859 ff.) zustande kam und bald weite Verbreitung und bedeutenden Einfluß auf die Erzieherwelt gewann. Besonders der süddeutsche Protestantismus und eine Reihe von Tübinger Professoren kamen hier zu Wort; als Mitherausgeber zeichneten der erwähnte Palmer und der Neuphilologe J. D. Wildermuth, Gatte der gefeierten schwäbischen Schriftstellerin Ottilie Wildermuth. — Seit dem Fragment gebliebenen Revisionswerk, in dem ja ebenfalls eine ganz bestimmte Pädagogengruppe ihre Ansichten zu enzyklopädischer Darstellung gebracht hatte, war kein solches Unternehmen mehr zustande gekommen (42). Reins Enzyklopädie und das Handbuch von Nohl und Pallat setzten diese vom Bewußtsein einer Reformbewegung getragenen zyklischen Darstellungen von Pädagogik und Erziehungswesen später fort. Eine solche Gruppe oszilliert mit ihren Aussagen notwendig in einer gewissen Spielbreite, und sie hat in diesem Falle auch ausdrücklich den einzelnen Mitarbeitern Bewegungsfreiheit lassen wollen. In ihrem Mittelweg suchte sie sich jedoch abzugrenzen gegen den Pietismus auf der einen und die romantisch-ständischen Ansichten z. B. Friedrich Wilhelms IV. auf der anderen Seite. Sie knüpfte an bei Schleiermacher und bei der „vernünftigen Orthodoxie" (Wernle) des 18. Jahrhunderts. Politisch stand sie auf dem Boden des Verfassungsstaates und wollte kein demütig-unwissendes, sondern ein aufgeklärtes Volk mit politischer Bildung und mit selbständigem Urteil über Regierung und Konstitution, das sowohl gegen „Maulhelden der Demokratie" wie gegen royalistischen und imperialistischen Fanatismus gefeit sei (43). Darum müsse die Schule die politischen Probleme aufnehmen, sowohl stofflich als auch durch eine Umgestaltung ihres Unterrichtsprinzips. Stofflich in der Lektüre der antiken Klassiker, in der

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Geschichte und Heimatkunde, im Singen und bedingt auch im Turnen; als Prinzip insbesondere durch Ausbildung des Rechtsgefühls und der Fähigkeit des Vertrauens und Gehorchens. „Das Schulregiment ist das politische ,hic salta' des Lehrers". Es muß eine Nachahmung des Regiments der Eltern in der Familie sein und eine .Vorahmung' des Regiments der Obrigkeit im Staate, welche beide in der Gottesfurcht wurzeln, „die ebenso gehorchen wie nicht gehorchen [!] lehrt" (44), also auch die Grenzen des Obrigkeitsgehorsams festlegt. Darum laufen „auch von der Politik aus die pädagogischen und psychologischen Fäden auf den Zentralpunkt, auf die Erzeugung christlicher Gesinnung zurück". In der Erneuerung des Nationaldenkens und in der ganzen Bildungsidee knüpfen die Christlich-Gymnasialen an die Zeit der Befreiungskriege und des Neuhumanismus an. Die Karlsbader Beschlüsse sind für sie eine Reaktion „im Dienste des Despotentums", welche auch der Idee der Nationalbildung Hohn gesprochen habe (45). Die Schulen und insbesondere die höheren Schulen — so hatte es einer der Führer der Christlich-Gymnasialen, der Schulrat Heiland, in einem berühmt gewordenen Berliner Vortrag 1864 betont (46) — sind Pflegestätten des nationalen Geisteslebens und Bewußtseins. Wie bei den neuhumanistischen Reformern wird auch hier die Kenntnis der Antike als unentbehrliche Vorstufe zur Kenntnis des nationalen Geisteslebens angesprochen und damit gegen die pietistische und romantisch-ständische Verfemimg der klassischen Bildung polemisiert. Die Antike sei zudem auch die unerläßliche Vorstufe für die Kenntnis und das Verständnis des Christentums — (die bibelkritischen Erkenntnisse über den stoisch-hellenistischen Hintergrund der neutestamentlichen Schriften setzten sich damals auch im positiven Protestantismus durch). So sei also gerade das Gymnasium die Stätte der wichtigsten Schulaufgaben, der Pflege nationalen Geisteslebens und christlicher Bildung und — wie damit ohne weiteres gleichgesetzt wird — lebendigen Vaterlandsgefühls und lebendigen Glaubens (47). Völlig ungerechtfertigt sei der Vorwurf, das Gymnasium entferne sich vom praktischen Leben. Vielmehr diene es ihm in vorzüglichem Maße, „indem es dem Könige und dem Volke geschickte und treue Diener, der Kirche Christi gläubige Bekenner und mutige Zeugen erzieht" (48). Noch enger wird diese Verbindung hergestellt und mit einem christlich-deutschen Sendungsbewußtsein umschlungen in den späten, nach der Reichsgründung verfaßten Teilen des Werks. 12 Flitncr

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Das Christentum habe die nationale Gliederung der Menschheit als göttliche Institution erwiesen und darum den wahren Patriotismus erst möglich gemacht. Wie die deutsche Nation zur Aufnahme des Evangeliums auf besondere Weise angelegt und berufen sei, so auch zur Pflege des Patriotismus. Darum komme bei der Erziehimg der deutschen Jugend zur Vaterlandsliebe alles darauf an, „daß die von Gott gewollte Verbindung zwischen der deutschen Volkstümlichkeit und dem Evangelium bewahrt und lebendig erhalten werde" (49). Keines Volkes Geschichte und nationale Größe hänge so sehr mit der kirchlichen Entwicklung zusammen. Darin Hege die Weltaufgabe der Deutschen, welcher auch die Schule zu dienen habe. „Die deutsche Jugend muß dazu erzogen werden, daß sie ihr Volk liebe und ihre Abstammung von ihm als ihre Ehre schätzen lerne um der weltgeschichtlichen und insbesondere um der davon nicht zu trennenden religionsgeschichtlichen Mission willen, zu welcher das deutsche Volk berufen ist" (50).

Weniger von der allein-deutschen Sendimg überzeugt war der Vortragende Rat im Preußischen Unterrichtsministerium Ludwig Wiese, der ebenfalls dieser Gruppe zugehörte und auch an der Enzyklopädie mitgearbeitet hat. Berühmt geworden ist er durch seine „Deutschen Briefe über englische Erziehung", welche, entschieden auf Nutzanwendung zielend, die Überlieferung der pädagogischen Reiseberichte fortsetzten und großes Aufsehen erregten, weil sie das schematisch-liberalistische Englandbild durchbrachen. Wiese hebt in der englischen Erziehung als vorbildlich heraus das Vorwalten von Sitte und Gewöhnung, der schon früh betonte Respekt vor Ordnung und Autorität, die Hochschätzung der Charakter- gegenüber der Wissensbildung und die feste Tradition der Bildungsweise, die ohne Krisen des Bildungsideals sich stetig auf der Grundlage religiöser und nationaler Gesinnung halte. „Der Deutsche ist nicht genug Mann, Bürger, Christ, sondern Beamter oder Gelehrter" (51). In England ist von Erziehung zur Nationalität kaum die Rede. Die Praxis auf diesem Gebiete jedoch ist der deutschen weit überlegen, trotz aller Standesunterschiede und trotz des intensiven religiösen Lebens, das nur von den deutschen Liberalen als der Nationalerziehung hinderlich verschrieen werde. Diese Religiosität, so lehre das englische Beispiel, sei die Voraussetzung zu politischem Aufschwung. Zeiten des Unglaubens und der Zweifelsucht haben nie eine nationale Erhebung gesehen. Es wäre darum verkehrt, eine nationale Einseitigkeit anstelle der

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bisherigen intellektuellen zu setzen. Insonderheit die deutsche Nationalität „hatte gleichsam auf das Christentum geharrt, um in ihm zu sich selbst zu kommen und ihre eigentümliche Lebenskraft zu entfalten" (52). Nur in der Verschwisterung des religiösen und des nationalen Bildungsprinzips und in ihrem gemeinsamen A u f b a u aus der humanistischen Bildungswelt könne ein solches Versagen des deutschen Volkes, wie es sich in der Revolution von 1848 offenbart habe, künftig vermieden werden. Was auf katholischer Seite seit Lamennais und den katholischen Achtundvierzigern schon angebahnt war, das haben auf evangelischer die Christlich-Gymnasialen verstanden und durchdacht, daß nämlich die christliche Glaubenslehre nicht von sich aus mit einer konservativen Lehre der Gesellschaft und Politik zusammengehöre, sondern daß gerade ein positives Christentum von seinen Anhängern fordern müsse, sich aus christlichem Geiste eine eigene Stellungnahme in Fragen der Sozialordnung, der Erziehung und der Politik zu erarbeiten. So gehört diese Bewegung in den Zusammenhang der Versuche des Protestantismus seit der Jahrhundertmitte, die Entkirchlichung sowohl des Arbeiterstandes als auch des liberalen Bürgertums aufzuhalten und wieder rückgängig zu machen. Das ist ihre besondere Bedeutung im pädagogischen Raum. Durch die Umgruppierungen, die in den Regulativen und in der Theologie A . Ritschis, im Protestantenverein und im Kulturkampf sich ausdrückten, geriet die Gruppe in das Niemandsland zwischen den Parteien und verlor seit den achtziger Jahren ihren Einfluß.

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ZEHNTES KAPITEL

DIE ERZIEHENDEN VERBÄNDE IM 19. JAHRHUNDERT Der Stand und die Beschaffenheit der Quellen, die den Nachlebenden zur Verfügung stehen, hat diese Untersuchung notwendig an die literarisch-theoretischen Äußerungen gebunden und nur gelegentliche Ausblicke auf die erzieherische Wirklichkeit und auf die sozialen Bildungskräfte und -verbände erlaubt. Diese bemächtigen sich zwar fortwährend auch der Theorie und stehen mit ihr in mannigfachen Wechselbeziehungen. Aber sie sind doch etwas eigenes; das soll zur Korrektur der problemgeschichtlichen Darstellung jedenfalls essayistisch und rückblickend noch angedeutet werden. STAAT UND KIRCHE Vom Staat und seinem wirklichen Einfluß auf das Bildungswesen und auf die politische Erziehung ist schon viel die Rede gewesen. Daß er sich der Erziehungsaufgaben annahm, war — wie ein durchgehender Faden dieser Untersuchung zeigen sollte — selbstverständlich und unausweichlich für ihn. Und wenn im 19. Jahrhundert zeitweise diese Aufgaben ihrem Inhalt nach bestritten und vom Staate selbst reduziert worden sind, so war doch auch dies wieder Ausdruck einer bestimmten Auffassung von politischer Erziehung, nämlich der des staatsfreien Liberalismus, der durch harmonisch gebildete Individuen auch den Staat am besten erhalten sah, oder der eines romantischen Konservativismus, der in den unangetasteten Überlieferungen und den beschränkten Lebenskreisen auch die politisch-soziale Welt patriarchalisch sichern wollte. Freilich ist dann im Laufe des Jahrhunderts der schmale Grat einer echten politischen Erziehung, einer Erziehung, die weder abseits ihrer öffentlichen Aufgaben gehalten noch zum Instrument der Politik degradiert wird, oft verlassen worden. Und auch die Theoretiker der Erziehung haben ihn meist verfehlt und ihre schönen Pläne entweder von vornherein im idealistischen

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Niemandsland gehegt oder so in Opposition zum vorhandenen Staat entwickelt, daß sie keine Aussicht hatten, gehört oder berücksichtigt zu werden. So waren die Reformjahre wohl die einzige Zeit im 19. Jahrhundert, wo ein Erziehungsdenken, das auf die politische Realität gerichtet war, und eine Politik, die bewußt ihre erzieherische Verantwortung aufnahm, zusammenklangen. Es war nur eine kurze Zeit — ihre Mitte sehen wir in diesem Zusammenhang in der Amtsperiode des Freiherrn vom Stein — es ist nur Weniges gelungen und vollendet worden, was sich damals anbahnte, aber das Bildungswesen des 19. Jahrhunderts hat von diesen Anstößen gelebt. Einmal noch, in den sechziger Jahren, zeigt sich am Horizont wieder eine solche Möglichkeit eines Einbruchs der Erziehungsgedanken in den Staat und die Staatsführung selbst, eines Zusammenklingens von politischer Erziehung und erziehender Politik, nämlich in den Plänen des Badischen Großherzogs Friedrich I. und seines Freundes Heinrich Geizer (1). Es war der Gedanke der nationalen Einigung, der diese neuen Pläne und die ersten Schritte zu ihrer Verwirklichung veranlaßt hat, dieser Einigung, die mehr war als ein politisches Desiderat, die von der überwältigenden Mehrheit des geistigen Deutschland als ein unaufschiebbarer und überzeitiger Schritt der Genesung und Vollendung angesehen wurde. Wollte man nun die Erziehung in den Dienst einer solchen Einigung stellen, so war das, wenn wir den Geist jener Tage recht verstehen, nicht so gemeint, als werde hier pädagogisches Handeln einem politischen Zwecke Untertan. Vielmehr erschien diese Einigung als unabweisbare Aufgabe, Hilfe in einer geistigen Not, die das Bildungswesen angehe wie nur irgend etwas. Es mußte im Sinne Schleiermachers eine „höhere Potenz der Gemeinschaft" und des Gemeinschaftsbewußtseins gestiftet werden, wenn politisches und geistiges Leben ihren Zusammenhang wieder finden sollten. Als Haupt eines kleinen Kreises liberal gesinnter Fürsten hat Friedrich I. von Baden auf dem Vertragswege den Zusammenschluß der deutschen Länder anzubahnen versucht. Führer der Koalition sollte Preußen werden, ein liberales Preußen, wie es nach der erwarteten Thronfolge von Prinz Wilhelm bevorzustehen schien. Es war klar, daß bei einem solchen freiwilligen Verbände zunächst einige größere deutsche Staaten abseits stehen würden. Doch hoffte man, durch Stärkung des sich ohnehin ausbreitenden Gedankens der deutschen Einheit im Volke und auf konstitutionellem Wege zu einer stufenweisen Erweiterung der Koalition

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und schließlich zu einem engen Bunde der „Vereinigten Staaten von Deutschland" zu kommen. Als dann 1861 in Preußen die neue Ära unter Wilhelm I., dem Schwager des Großherzogs, anbrach, schien die Verwirklichung dieses Koalitionsplans nahegerückt. Die in seinem Sinne unternommenen diplomatischen Schritte und ihr Fehlschlagen hat H. Oncken erforscht und dargestellt. Die Diplomatie war jedoch nur der eine Weg zu dem gesteckten Ziele. Ein anderer, gleichzeitig beschrittener, auf den sich bei den Rückschlägen der äußeren Politik mehr und mehr das Augenmerk Friedrichs richtete, war der einer geistigen und gefühlsmäßigen Vorbereitung des Volkes — zunächst im eigenen Staate, dann in der ganzen Nation — auf den nationalen Zusammenschluß und auf die allgemeine Geltung freiheitlicher und rechtsstaatlicher Prinzipien. Friedrich und sein treuer Mitarbeiter auf diesem Gebiete, der Basler Historiker Heinrich Geizer, wollten mit diesem Volkserziehungsplan anknüpfen an eine Idee des Badischen Markgrafen und späteren Großherzogs Karl Friedrich (1746—1811), der unter der Mitarbeit von Herder die Errichtung eines „patriotischen Instituts für den Allgemeingeist Deutschlands" geplant hatte, in dem man alle Kräfte zur „patriotischen Aufklärung" und „praktischen Geistes- und Sittenkultur" hatte vereinigen und die von einem Fürstenbund zu verbreitenden Prinzipien für die Sprachund Geschichtspflege, für die bessere Erziehung aller Stände und für die Einrichtungen von Staat, Kirche und Schule hatte ausarbeiten wollen. Eine bewußte Parallele wurde weiter zu der pädagogisch-politischen Konzeption des Freiherm vom Stein gezogen; sein Name stand über der vom Großherzog eröffneten Stiftung für dieses Projekt. Es ist nicht weniger als „die Anbahnung einer Reform unserer gesamten nationalen Erziehung von der Universität bis zur Volksschule" hin, was man hier in den Blick faßte. Dabei dachte man von einem Zentrum auszugehen: Mit Hilfe der Stein-Stiftung sollte zunächst eine Elite-Schule errichtet werden, in welcher der Prinz und künftige Nachfolger des Großherzogs zusammen mit den fähigsten Söhnen des Landes eine gymnasiale und vaterländischliberale Bildung erhalten könne. Diese Sehlde sollte — so hoffte man — auch von anderen Fürsten dotiert und beschickt werden und sich zu einer Zentralschule für deutsche Politiker entwickeln, zu einer Pflanzstätte hoher Bildung, sittlicher Staatsführung und konstitutioneller Einigungsgesinnung. Mit einer solchen reformierten Erziehung der Regierenden hoffte man dann in der nächsten

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Generation eine neue Erziehung für alle heraufführen zu können. Im eigenen Lande suchte Friedrich eine solche schon jetzt anzubahnen, indem er zunächst die bisherigen, durchweg geistlichen Aufsichtsbehörden durch einen Oberschulrat ersetzte, ferner eine Reihe von Maßnahmen in der personalen und Bildungspolitik ergriff, zu der auch die Einforderung eines ausführlichen Gutachtens von G. G. Gervinus zur Bildungsreform und die Berufung des aus Sachsen emigrierten Achtundvierzigers Köchly an die Universität Heidelberg gehörten. Diesen Maßnahmen war — anders als der erfolgreich installierten Prinzenschule — aus personal bedingten Schwierigkeiten heraus kein sonderlicher Erfolg beschieden. Geizer hatte sich nicht bewegen lassen, die Leitung des Oberschulrates selber zu übernehmen — er wollte lieber persönlicher Berater des Großherzogs bleiben. Und die stattdessen zum Zuge kommenden Regierungsbeamten waren mit dem großen Gedanken der Stiftung nicht vertraut und zu bedeutenden Reformen nicht fähig. Auch die Hoffnungen, die Stein-Stiftung auszuweiten und besonders das damals schon allmaßgebende Preußen für den Gedanken zu gewinnen, mußten Stück um Stück begraben werden. Eine Reihe von Vorstößen wurde in Berlin unternommen. Geizer trug den Plan dem preußischen König selber vor und arbeitete auf dessen Aufforderung hin auch eine Denkschrift aus. Nach anfänglichem Wohlwollen hat man jedoch in Berlin den Plänen ein verbindliches Interesse nicht geschenkt. Offenbar hat dabei auch die Gegnerschaft Bismarcks, dem die Selbständigkeit Geizers und der badischen Pläne nicht in das eigene Konzept paßte und der an die Möglichkeit solcher Volkserziehung nicht glaubte, eine Rolle gespielt. Seit 1862 zeigte sich deutlich, daß der preußische Weg gewaltsamer Selbststärkung zu den badischen Plänen einer freiwilligen Gruppierung um Preußen fast entgegengesetzt verlief. Großherzog Friedrich hat den preußischen Verfassungsstreit 1862/66 nur als Rechtsbruch und Regierungswillkür angesehen und Bismarck sein Verhalten gegenüber dem Augustenburger nie verziehen. Er hat die Bismarcksche Machtpolitik nicht billigen können und auch später, als er die Reichsgründung um des hohen Zieles willen unterstützte, nie vergessen, daß ohne die innere Einigung auch die äußere nicht werde ein gesundes und friedliebendes Staatswesen zustande bringen können. Neben der von einer Eliteerziehung ausgehenden Reform des Bildungswesens dachten Großherzog Friedrich und Geizer beson-

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ders an persönliche und publizistische Ansprache der gebildeten Schichten. Geizer hat von 1864 an sowohl seine Vorlesungen in Basel als auch seine „Protestantischen Monatsblätter" der Aufgabe der Stein-Stiftung unterstellt. Der Zeitschrift verlieh er von da ab den neuen Untertitel: „Studien der deutschen Gegenwart für den sozialen und religiösen Frieden der Zukunft". Er deutete damit an und hatte davon auch Großherzog Friedrich überzeugt, daß die Krise des deutschen Nationallebens nur Teil einer viel größeren Krise sei, die das religiöse und soziale Leben erfaßt habe; die sich ausdrücke in dem unsicheren Verhältnisse des Christentums zur Politik (besonders auch in den Lehren eines F. J. Stahl), aber ebenso in der Struktur der Gesellschaft, im Abseitsstehen des Arbeiterstandes wie in der sozialen Selbstgenügsamkeit und politischen Uninteressiertheit der Gebildeten. Durch die „Monatsblätter" zieht sich wie ein roter Faden der Gedanke: ohne daß hier alle Kräfte sich zusammentun und ein neues Erziehungswesen, ein erneuertes, irenisches Christentum, eine ständisch ausgeglichene Gesellschaft und ein einiges Deutschland schaffen, werden sich die äußeren politischen Erfolge als Trug erweisen und die Menschen deutscher Zunge und protestantischen Glaubens dunklen Zeiten entgegengehen. Mit den fortschreitenden Ereignissen hat dann auch dieser Nationalerziehungsplan sich modifiziert, ohne daß Gelzer und Großherzog Friedrich von den Hauptpunkten abgewichen wären. Die erwähnte Denkschrift an König Wilhelm über „Die Aufgaben des Hauses Hohenzollern und Preußens" geht ein auf die Situation nach 1866, auf die erhöhte Gefahr unabsehbarer politischer, religiöser und sozialer Entzweiungen, die aus dem preußischen Erfolg erwachsen könnten. Nur die Erziehung der politisch tragenden Eliten könne da vorbeugen und heilen. „Erst wenn alle Stufen und Kreise unserer 'oberen Klassen' [gemeint sind alle Kreise höherer Verantwortimg und Wirksamkeit] in lebendiger Berührung mit der Wirklichkeit für die politischen und sittlichen Aufgaben des aufstrebenden Vaterlandes erzogen werden, erst dann ist die Aussicht für Deutschland vorhanden, daß nach der Jahrhunderte alten -politischen Verkrüppelung, aus der wir uns eben aufraffen, eine lebensfähige, jedem Tüchtigen und Begabten sich öffnende, politisch geschulte Aristokratie sich bilde, wie eine große, zum Handeln und Wachsen berufene Nation sie bedarf". Der Plan eines Zentralinstituts für politische Wissenschaften, für Lehrerbildung und für Sprachpflege wird hier dem preußischen König

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und wenig später auch der Öffentlichkeit unterbreitet. — Durch die Ereignisse von 1870/71 wurde das Schicksal dieses Plans vollends in die Hände Preußens gelegt. Mit der Gegnerschaft Bismarcks und der Gleichgültigkeit des Kaisers war es besiegelt. Eine Möglichkeit, ein Plan blieb also auch diese Unternehmung, aber einer, der sich unterschied von den vielen anderen dadurch, daß ein Landeshaupt und ein Volkserzieher darin zusammengewirkt hatten, daß er von oben her verwirklicht werden sollte, aber auch auf die unteren Kräfte zur Mitarbeit zählte, daß er also mit den pädagogischen Konsequenzen des Konstitutionsprinzips ernst machen wollte und auch schon erste Schritte auf diesem Wege getan hatte. Ob die Fundamente dieses Plans einer günstigeren Realität hätten standhalten können oder auf einer Überschätzung volkserzieherischer Möglichkeiten ruhten, bleibe dahingestellt. Als ein von idealem Ethos getragener Versuch, erkannte politische Aufgaben an einem Krisenpunkte der deutschen Geschichte aus dem Bereiche politischer Selbstgesetzlichkeit herüberzuziehen in den der Menschenbildung und der verfassungsmäßigen Mitwirkung des Volkes, bleibt er des Gedenkens würdig. Die Kirchen haben im ganzen die staatliche Schulpolitik und die in den Schulen gepflegte Staatsgesinnung mit unterstützt und vollstreckt (2). Das war dadurch gegeben, daß Schulverwaltung und Schulinspektion in Personalunion mit kirchlichen Ämtern standen, daß ferner auch andere Stellen, etwa die Seminarleitung, sehr oft mit Kirchenmännern besetzt waren. Das schließt nicht aus, daß in Einzelfragen Staat und Kirche oft auseinandergingen, ja auch in höchsten Instanzen gegeneinander wirkten. Aber die konservative Lehre eines Friedrich Julius Stahl, daß der Glaube an den persönlichen Gott und das monarchische Staatsprinzip fest zueinander gehören, hat nicht nur die vorherrschende amtliche Doktrin — keinesfalls allein für Preußen — wiedergegeben, sondern ist in Form der Predigt und Unterweisimg überall auch dem Kirchenvolke nahegebracht worden. Die achtundvierziger Revolution wurde vom Evangelischen Kirchentag 1849 ak „Lästerung und Schändung irdischer und göttlicher Majestät" verurteilt. Die gegebenen und vor Gott beeideten Verfassungen galten offenbar nichts, die Kirche hat sich in mehreren Ländern aktiv für ihre Aufhebung eingesetzt. An der lutherischen Auslegung des vierten Gebots, durch welche der Gehorsam gegen die Obrigkeit dem Kindergehorsam gegen die Eltern gleichgesetzt wurde, hielt man

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in der Kirche wie in der Schulinspektion fest. Preußische Pastoren glaubten 1863 für den Landtag nicht mehr beten zu können, weil er die königliche Polenpolitik mißbilligt und damit öffentlich gegen das vierte Gebot verstoßen habe. Wo freilich liberale Momente im Staatswesen Fuß faßten wie in Baden und in der Pfalz, unter Bismarck auch wieder in Preußen, da hat die Kirche, besonders die katholische, von den süddeutschen Landtagen über den Katholikentag 1849 und den päpstlichen Syllabus von 1864 bis zum Kulturkampf der siebziger Jahre gegen den Staat Stellung genommen, gelegentlich auch von den strengen Lutheranern unterstützt, wie in Bayern, wo 1869 die lutherische und die katholische Kirche zusammen gegen das liberale Volksschulgesetz kämpften. Mit den christlich-sozialen Bewegungen beider Konfessionen, die zunächst in patriarchalischer und karitativer Gesinnung handelten, dann aber an manchen Stellen auch die christlich-konservative Staats- und Soziallehre in Frage stellten, traten auch in den Kirchen neue Kräfte hervor. In der Erziehung und Volksbildung sind sie jedoch vorläufig noch kaum wirksam gewesen. UNIVERSITÄTEN UND STUDENTENVERBÄNDE Die deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts sind gegründet oder erneuert worden im Geiste des idealistischen Liberalismus (3). Sie haben durch das Modell ihrer Organisation, ihre vorbehaltlose Forschungsgesinnung, ihren Kampf um die staatliche Anerkennung der Unterrichtsfreiheit und durch die ganze Art ihrer Lehre diesen Liberalismus verkörpert und auch auf die Studenten ausgestrahlt. In der ersten Jahrhunderthälfte war dabei die idealistische Universitätstheorie der Humboldt-Zeit noch in voller Geltung, nach der alle Disziplinen in einem philosophischen Zusammenhange stehen und jede einzelne in dieses Ganze, das zugleich ein BiWwwgszusammenhang ist, einführt. Wo man es dabei vom Fache her mit der Politik zu tun hatte, etwa in der Rechtsphilosophie, der Staatslehre oder der politischen Geschichte, da war die strenge Wissenschaftsgesinnung ebenso selbstverständlich wie das Bewußtsein, an einer Bildungsaufgabe mitzuarbeiten, nämlich die Nation mit Hilfe der Wissenschaft zu geistiger Mündigkeit und Freiheit und zum Bewußtsein ihres besonderen Parts im Konzert der Nationen hinzuführen. Einzelne haben sich dabei auch direkt an die Öffentlichkeit gewandt, Rotteck etwa, von dem

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die Rede war, oder F. Ch. Schlosser, dessen Bücher bis heute in jedem Antiquariatskatalog erscheinen. Einem Ranke hat man jedoch seinen halb widerwillig durchgeführten Versuch, durch seine Historisch-politische Zeitschrift ins Größere zu wirken, nicht abgenommen; offenbar weil man spürte, daß nicht ein Bildungspathos, sondern eine parteiische Absicht hinter dem Unternehmen stand. Als dann um die Jahrhundertmitte der Bildungszusammenhang der Hochschule mit seinen philosophischen Voraussetzungen problematisch wurde und in den meisten Forschungsgebieten eine positivistische Wissenschaftlichkeit sich ausbreitete, da schien es für die Professoren an der Zeit, sich ihres eigentlich politischen Auftrages neben ihrer Forschung zu besinnen. Der gutgläubige Liberalismus der Frankfurter Nationalversammlung (die man auch das „Professoren-Parlament" genannt hat) schien gescheitert. Jetzt galt es für notwendig, die Einsicht in die Realität des Politischen zu fördern, das heraufziehende Zeitalter nationaler Machtpolitik zu interpretieren und die Wissenschaft in den Dienst neuer Kräfte zu stellen. So hat jedenfalls eine Gruppe von Historikern ihren Beruf und die Zeichen der Zeit aufgefaßt, Droysen in seiner „Geschichte der preußischen Politik", die man den „historiographischen Auftakt zum Werk Bismarcks" genannt hat; Sybel, der „cum ira et studio" Geschichte schreiben wollte (ob sich Friedrich Heer, der das gleiche ankündigt, dieser Genossenschaft bewußt ist?); und Treitschke, der in seinem fanatisch-aktiven Nationalismus in einer wissenschaftlichen Zeitschrift das Wort formuliert hat, das ein Halbjahrhundert später in jeder Nummer des „Stürmer" wiederholt wurde: „Die Juden sind unser Unglück!". Das war Verrat nicht nur an der liberalen Überlieferung der Universität, sondern auch an ihrem Bildungsauftrag, nämlich zu einer Prüfung „sine ira" auch in politicis hinzuführen, eine sorgfältige Stellungnahme immer neu zu untersuchen und zu klären, statt politische Fanatismen zu unterstützen. Daß es nur eine Gruppe von Professoren war, welche auf diese Weise politisch zu erziehen dachte, daß sie auf scharfe Gegnerschaft auch in der Universität stieß, daß gelegentlich auch versucht wurde, die einströmenden politischen Probleme wissenschaftlich zu klären und mit den Studenten zu diskutieren (so von Prof. Birnbaum in Leipzig 18720.), sei zu Ehren der Universität angemerkt. An den Hochschulen waren aber von jeher die geselligen Einrichtungen und studentischen Gemeinschaften ebenso bestimmend

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und prägend wie das eigentliche Studium. Die studentischen Gruppen — Landsmannschaften und „Orden" zunächst — haben in ihrer Geselligkeit auch Ziele der Selbsterziehung verfolgt, sich gegenseitig zu einem ständischen Benehmen, teils auch zu einem Kodex von Ehren und Tugenden angehalten und im „Komment" diszipliniert. Politische Ziele haben sie vor dem 19. Jahrhundert nicht gehabt, es sei denn, man betrachte die beanspruchte Nobilität und die Pflege des Standesbewußtseins schon als ein politisches Bekenntnis. Ein gewisser landsmannschaftlicher Patriotismus, wie er sich in der Feier des „Landesvaters" ausdrückt, war vielen von ihnen gemein (4). Das wurde völlig anders mit den Freiheitskriegen, in denen auch die akademische Jugend die Fahnen ergriffen und sich ausgezeichnet hatte. Mit der Gründung der Urburschenschaft erhielten die Vereinigungen ganz neue Aufgaben, die zu gutem Teil Aufgaben der politischen Selbsterziehung waren. Man wollte einen einigen Studentenstaat gründen, über alle Länder- und Universitätsgrenzen hinweg, und der sollte „ein bedeutungsvolles Sinnbild für den politischen Staat sein, dessen Einheit man erträumte, ein Bild ihres in Gleichheit und Freiheit erblühenden Volkes". Man beseitigte den ständischen Dünkel, erklärte auch die armen Studenten als gleichberechtigt und gab die anmaßende Absonderung und Verachtung gegenüber dem Bürgerstand auf. Man beschränkte die Schlägereien und ließ das Duell nur in ernsten Ehrenfällen, oft erst nach Entscheidung eines Ehrengerichtes, zu. Man wollte christlichen Glauben und sittliche Lebensführung verbinden mit nationalem Selbstbewußtsein. Im ganzen war es eine echte und große Bewegung, ausgelöst durch das Geschehen der Zeit, auf politische, soziale, sittliche und religiöse Erneuerung gerichtet und sich selbst in den Dienst solcher Erneuerung und Erziehung stellend. Von den anfänglichen Auswüchsen, besonders dem Arndt-JaJhnschen Teutonentum, kann man zwar nicht absehen, aber ebensowenig den hohen Idealismus und Selbsterziehungswillen verkennen, der die Burschenschafter beseelte. Die Karlsbader Beschlüsse von 1819, in denen die Burschenschaften besonders genannt und verfehmt wurden, haben diese hoffnungsvolle Bewegung schwer geschädigt. Einmal zerstreuten sie die Studenten und gaben den ständischen Korps und den alten Landsmannschaften wieder Auftrieb. Zum andern veranlaßten sie die Burschenschafter, eindeutig politisch Partei zu ergreifen und zur Agitation und zum politischen Handeln überzugehen. Die

Universitäten und Studentenverbände

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Verfassung, die beim Bamberger Burschentag 1827 für die neubegründete Allgemeine Deutsche Burschenschaft aufgestellt wurde, setzt als Ziel die „Vorbereitung zur Herbeiführung eines frei und gerecht geordneten und in Volksfreiheit gesicherten Staatslebens im deutschen Volke vermittels Beförderung eines freien, wissenschaftlichen, sittlichen und volkstümlichen Lebens auf der Hochschule und einer kräftigen Entwicklung des Körpers". Das ist eine Aufgabe der politischen Selbsterziehung, deutlich hingerichtet auf den konstitutionellen Staat, aber doch eben eindeutig als erzieherische Aufgabe formuliert. Auf dem Burschentag in Frankfurt 1831 wurde dann, besonders auf das Betreiben der Germanen, das Wort „Vorbereitung" gestrichen und das Herbeiführen eines neuen politischen Zustandes zum Zwecke gesetzt. Im folgenden Jahre formulierte man sogar, das Ziel sei „die Erregung einer Revolution, um durch diese die Freiheit und Einheit Deutschlands zu erreichen". Damit war der Charakter der Erziehungsgemeinschaft aufgegeben und an die Stelle politischer Selbsterziehung die politische Aktion getreten, eine vollauf verständliche, aber doch unheilvolle Entwicklung, die zu dem Sturm auf die Frankfurter Hauptwache (1833) und zur Verfolgung und unmenschlichen Einkerkerung der Burschenschafter geführt hat. Bis 1848 war die Bewegung damit fast völlig gelähmt. Dafür kam aber Ende der dreißiger Jahre eine andere Strömung auf, die manches aus der Urburschenschaft zu erneuern und in zeitgemäßer Form auszubilden versuchte: der studentische „Progreß". Ausgehend von den freien Studentengruppen, wirkte er auch in die Korporationen hinein und sagte dem ganzen Standesund Privilegienwesen unter den Studenten den Kampf an. Damit meinte er zunächst die rechtliche Sonderstellung des Studenten durch die akademische Gerichtsbarkeit, die Absonderung gegen das Bürgertum, das öffentliche Farbentragen und das Duell mit seiner ganzen Begriffswelt von Ehre, Kavaliersparole und Satisfaktionsfähigkeit; weiter aber auch die inneren Ungleichheiten etwa in der Stellung der Füxe oder dem Ranggefälle zwischen den verschiedenen Korporationen und die ganze Art der Absonderung, die sich im Korporationswesen ausdrückte. Er wollte die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auch unter den Studenten verwirklicht sehen und zu diesem Zwecke allgemeine Studentenschaften ein jeder Universität und deren Zusammenschluß in allen Landen deutscher Zunge. In den achtundvierziger Ereignissen, in denen die Studenten nicht nur an vielen Stellen mitwirkten, son-

Die erziehenden Verbände im 19. Jahrhundert dem sich im Eisenacher Allgemeinen Deutschen Studententag auch einen eigenen Höhepunkt schufen, kamen vor allem diese progressistischen Bestrebungen zum Zuge. Um so stärker sind sie durch die nachfolgende Zeit wieder zurückgedrängt worden, wo sich viele Verbände ihrer liberalen Aufwallung schämten und desto treulicher die alten Formen wieder herstellten. Vor allem die Korps bekannten sich wieder zu dem Grundsatz, allen politischen Fragen fernzubleiben und allein ihre Standesformen zu pflegen. In den Burschenschaften hörte jedoch der Streit zwischen reformerisch und traditionell Gesinnten nicht wieder auf und führte zu zahlreichen Spaltungen und Neugründungen. Daneben traten die konfessionellen Verbände auf den Plan, die sich zum Teil ganz in die tradierten Formen einfügten, zum Teil aber, besonders auf katholischer Seite, den Sozialproblemen des Industriezeitalters aufgeschlossen zeigten. Eine neue Bewegung entstand unter dem Eindruck der Reichsgründung und der Bismarckschen Sozialpolitik in den „Vereinen Deutscher Studenten", die sich im Kyff häuserverband zusammenschlossen (1881). Wiederum war es ein politischer Inhalt, der diese bald kräftige und aufstrebende Bewegung zustande brachte; sie sah „in der nationalen und staatsbürgerlichen Erziehung zu einem Volke" ihre Bildungsaufgabe und setzte sich damit durch, indem die älteren Verbindungen bald keine schlechteren Patrioten sein wollten und ein Wettstreit vaterländischer Bestrebungen und Veranstaltungen entstand. Viel guter Wille ist dabei am Werk gewesen; es ging darum, der politischen Einigung nun auch den inneren Zusammenschluß der Nation folgen zu lassen und in der Akademikerschaft dafür ein Exempel zu geben. Bismarck selbst hat die Bewegung unterstützt und wurde dafür zu ihrem Heros erhoben. — Aber was war das für ein Patriotismus, den die Kyffhäuserleute pflegten I Bramabarsierende Nationalisten wollten alles, WEIS nicht „deutsch" war, von der Universität fortdrängen, denunzierten jedermann, der nicht bismarckisch dachte, als „Reichsfeind", veranstalteten eine Protestkundgebung, als mit der Operation Kaiser Friedrichs III. ein englischer Spezialist beauftragt wurde. Kern ihrer Deutschtumserziehung aber war ihr wütender Antisemitismus, mit dem sie allen liberalen und verfassungsstaatlichen Traditionen des Studententums absagten und selbst zu Totengräbern ihres Einigungsstrebens wurden, indem an dieser Frage eine Kluft im ganzen Universitätswesen aufriß, wie sie frühere

Die Lehrerschaft

Zeiten wohl kaum gesehen haben. So zeigen sich die Ansätze politischer Selbsterziehung, die so verheißungsvoll begonnen hatten und in der Frankfurter Nationalversammlung auch schon Früchte zu tragen schienen — waren doch mindestens 150 bis 160 der Abgeordneten alte Burschenschafter — am Ende des Jahrhunderts in Mißwachs und Verkümmerung. Ja, in der letztgenannten Bewegung, wie auch in der gleichzeitigen Entwicklung der Korps, scheint ein Teil des späteren politischen und sozialen Versagens der deutschen Akademikerschaft schon im Modell vorweggenommen. DIE LEHRERSCHAFT,

Die Lehrerschaft war in einem Maße, wie es nur echte Geistesbewegungen mit sich bringen, seit dem Anfang des Jahrhunderts vom Neuhumanismus und von der Pestalozzi-Pädagogik erfaßt (5). Es hat wenige Gegenden Deutschlands gegeben, in denen die Grundgedanken dieser Bewegung nicht auf irgendeine Weise Boden gefunden hätten, und wäre es auch nur in der primitivsten Form des einen Satzes, daß alle Erziehimg die Selbsttätigkeit in Bewegung setzen und den Menschen zu freier Persönlichkeitsentfaltung anleiten müsse. Freilich ist diesem Grundgedanken durch die pietistische Form, die der Pestalozzianismus an vielen Orten annahm, ein Teil auch seiner politischen Bedeutung genommen worden. Aber die von den Regierungen und Behörden beförderte Restauration der autoritären Schulordnimg hat von nun an mit dem Widerstand jedenfalls eines Teils der Lehrerschaft rechnen müssen. Nicht daß in der Schulwirklichkeit schon ein freiheitlicherer Erziehungsstil eingezogen wäre — es hat noch sehr lange gedauert, bis das in größerem Maße geschah. Aber als Aufgabe der Selbstbildung zunächst und der freiheitlicheren Ordnung des Aufsichtswesens ist dieses Neue doch ergriffen worden. Es ist, im Hinblick auf unsem Zusammenhang, wohl das Hauptproblem der Lehrerschaft im 19. Jahrhundert gewesen, wie sie selbst zu einer freiheitlicheren Form der Aus- und Weiterbildung gelangen und wie sie die Anerkennung des Lehrers als eines freien und in Bildungsdingen mitsprechenden Menschen erwirken könne. Die Lehrerverbände sind gleichermaßen durch den Wunsch nach Weiterbildung wie durch berufspolitische Motive ins Leben gerufen worden. Sie haben in der Revolution von 1848 mit solcher Kraft sich konstituiert und in die Schulpolitik eingegriffen, daß sie nicht mehr zu übergehen waren. Von da an haben sie für zwei Jahrzehnte ein eminent politisches und auf politische Selbsterziehung gerich-

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tetes Interesse repräsentiert, haben ihre Führer und Organe im Streit wider die obrigkeitliche Bevormundung gefunden und den Geist der Stiehlschen Regulative bekämpft. Nach 1870, mit dem Kulturkampf und mit dem Einzug liberaler Maßnahmen, haben sich auch hier die Grenzen verschoben und hat die Lehrerschaft ihren politischen Elan, der weitgehend von der Opposition gegen den konservativen und kirchlichen Staat sich nährte, eingebüßt. Eine im engeren Sinne politisch-bürgerliche Belehrung hat es bis 1880 kaum gegeben. Und wo es sie gab, wird sie oft nicht anders ausgesehen haben als die, welche uns Jeremias Gotthelf, sicher aus seinen Inspektionserfahrungen im Bernerlande, in den „Leiden und Freuden eines Schulmeisters" schildert. Mit der Verfassungskunde fängt sie an: Lehrer. Kinder, was isch e Verfassig ? He, was isch e Verfassig ? Was han ih ech gseit? Du Mädeli, du Stüdeiii He, wenn e Schriftsteller es Buch zsämmetreyt, wie seyt me de ? Er heig s Buch vr . . . vrfass . . . Kinder. Vrfasset. L. Ja, Kinder: vrfasset, also wüsst dr jetz, was e Vrfassig ist. U na dr Vrfassig si verschiedene Rät, di z'bifehle hei, dene me folge soll. Wie heiße die Rät? E r . . . Erz . . . Erzieh . . . K. Erziehungsrat. L. Mi cha η ihm ο Kirchenrat säge, we me will, u de gits no meh Rät. ..

So geht es weiter mit der unausrottbar-bewährten Methode, durch Soufflieren einzelner Silben den Gedankenfluß in Gang zu bringen, bis als Krönung dieser Lektion die Tagsatzimg und der Landammann drankommen. L. U we de dTagbsatzig zsämechunnt, wer isch de dr Oberist vo dene ? Dr Lan . . . Land . . .

worauf die Kinder „Dr Landjäger" rufen und der Schulkommissär nicht mehr umhin kann, einzuschreiten und seine Bedenken gegen das neumodische Fach zu äußern. ZÜNFTE, GESELLENVERBÄNDE. A R B E I T E R V E R E I N E

Auch die Zünfte und Innungen als zunächst rein berufsständische Vereinigungen haben von jeher eine Reihe von erzieherischen Aufgaben wahrgenommen, nicht nur in der Lehrlingsausbildung, sondern auch in gegenseitiger Beaufsichtigung und Wahrung eines Berufs- und Lebensethos (6). Wo sie mitgewirkt haben an der kommunalen Verwaltung, haben sie auch gewisse politische

Zünfte, Gesellenverbände, Arbeitervereine

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Fertigkeiten entwickelt und tradiert und mit Vorstellungen von der politischen Welt und ihren Regeln und Möglichkeiten verbunden. Der politischen Entwicklung gemäß sind im 17. und 18. Jahrhundert dabei städtischer Patriotismus und patriarchalisch gesinnte Treue zum Landesfürsten miteinander verschmolzen, ein gewisser Oppositionsgeist aus städtisch-ständischem Selbstgefühl gegenüber dem Fürstentum aber wach geblieben. Für den Handwerker und Kleinbürger waren es dann die Napoleonkriege viel mehr als die ferne Revolution, die in jede Stadt ihre sichtbaren Wirkungen erstreckten und spüren ließen, daß eine neue Ära des politischen Lebens heraufgezogen war. Die Befreiungszeit brachte den Anfang eines nationalen Patriotismus, der sich zum Staats- und Stadtpatriotismus des 18. Jahrhunderts in Gegensatz stellte. Von den zwanziger Jahren an wurden auch die Ideen von 1789, die Worte von der Freiheit und der Gleichheit aller Menschen, von Schuhmachern, Druckern und bücherlesenden Handwerkern studiert und weitererzählt, und in den Handwerkervereinen wurde politisch debattiert. Alles dies war in jenen Jahren sicher noch auf Ansätze beschränkt, aber es ebbte nicht ab, sondern wuchs und mehrte sich. In den achtundvierziger Ereignissen sind Handwerker und Industriearbeiter überall dabeigewesen. An einigen Stellen haben sie bald auch einen außerordentlichen Lernund Bildungseifer entwickelt, haben Naturwissenschaften, Philosophie und politische Klassiker studiert, um in den wissenschaftlichen Sozialismus einzudringen und ihn auch im Gespräch behaupten zu können. Hatten die Zünfte schon durch Staatseinschränkung und durch die Erhöhung der Gewerbefreiheit an Autorität verloren, so sind sie, mit der liberalen Politisierung des Gesellenstandes, auch in ihrem inneren Ansehen als erziehende Gemeinschaften sehr geschmälert worden. Dabei hatten die Gesellen zunächst, ebenso wie die aufkommende Industriearbeiterschaft, andere Sorgen als die der politischen und der Jugenderziehung. Ihr Arbeiten, Hören, Lesen — von dem man sich allerdings keine übertriebene Vorstellung machen soll — diente mehr einer Selbstschulung, einer Ausrüstung für den Kampf, war also ein Stück ihrer politischen Aktivität. Daß der Berliner Arbeiterkongreß im August 1848 auch schon ein Programm für das Bildungswesen aufstellte, war wohl hauptsächlich eine Reaktion auf die Schulforderungen der bürgerlichen Verbände und der Lehrerbewegung. Auch die Tagung der Internationalen Arbeiterassoziation in Genf (1866) wiederholte nur den Marxschen Ge13 Flitter

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Die erziehenden Verbände im 19. Jahrhundert

danken der polytechnischen Erziehung durch die Produktionsschule und entwarf keinen eigenen Plan. Das „Gothaer Programm" (1875) schließlich forderte ein staatliches Erziehungsmonopol und zeigte ein erstes Sichabfinden mit den gegebenen Mächten. Auch in seinen spärlichen Forderungen aber ist ein ernsthafter Wille, sich der Erziehungsprobleme anzunehmen, noch nicht zu sehen. Ja, indem mit den Anfängen der Volksbildungsbewegung von bürgerlicher Seite der Versuch unternommen wurde, die ganze Sozialproblematik auf Bildungsfragen zu reduzieren, d. h. den Arbeiter die richtige Einstellung zu Staat und Gesellschaft zu lehren, wurde die Arbeiterschaft in Opposition gegen die bürgerliche Erziehung und das Erziehungsdenken im ganzen gedrängt. Ihr galt es nun vor allem, den Unwert dieser Versuche, den Unwert überhaupt einer ideologischen Betrachtung der Gesellschaftsprobleme darzutun. „Die Menschen ändern sich erst mit ihren Lebensverhältnissen . . . Die neue Menschheit erwächst erst aus einer neuen Gesellschaft." „Innerhalb einer solchen Auffassung konnten naturgemäß Erziehungsfragen der Jugend oder gar der Kindheit nicht mehr im Mittelpunkt des Gegenwartsinteresses stehen, sondern wurden als Aufgaben, die erst spätere glücklichere Generationen zu beschäftigen haben werden, der Zukunft zugeschoben" (Adler). Erst am Jahrhundertende ist durch die Revision der marxistischen Lehre, durch die Gründung der Arbeiter-Jugendverbände und durch das energische Anpacken der pädagogischen Probleme auf den großen Parteitagen ein neuer Kurs eingeschlagen worden. Von da an hat sich die Arbeiterschaft den Erziehungsfragen und auch der politischen und sozialen Erziehung entschieden zugewandt. Wichtiger noch als die eigene Erziehungslehre und Jugendarbeit der sozialistischen Verbände ist die Tatsache des anwachsenden und sich formierenden Sozialismus geworden. Seine Entwicklung in den achtziger Jahren hat die Regierungen und die Gesellschaft alarmiert und hat ein intensives Nachdenken über politische und soziale Probleme in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissenschaft in Bewegung gesetzt. Damit bahnt sich auch eine neue Epoche der politischen Erziehung an.

Eine Fülle von Möglichkeiten im Wandel des 18. und ig. Jahrhunderts ist so durchgangen worden, theoretische Konzeptionen aus den verschiedensten Bereichen des Denkens und der Wissen-

Schluß

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schaft, ebenso wie praktische Formen, in denen der Staat seinen Einfluß auf das Unterrichtswesen geltend gemacht, die Richtung seiner Schulpolitik und den Lehrstil in den Schulen festgelegt hat. Das Verhältnis von Politik und Erziehung erwies sich dabei als von jeher problematisch und spannungsreich. Es enthält Aufgaben, die geistig und institutionell bewältigt werden müssen, die sich aber nicht durch Radikallösungen im Stile eines Lepeletier oder der humanistischen Ästheten erledigen und hinausweisen lassen, ohne sich alsbald zu einer anderen Tür wieder hereinzudrängen. Zwischen der großen Zahl verfehlter Versuche der Entpolitisierung und nicht minder verfehlter und gefährlicher Versuche der Politisierung zeigte sich der historischen Betrachtung ein schmaler Weg von echten Möglichkeiten — im Streben der „Patrioten" etwa, in den Gedanken und Maßnahmen des Freiherrn vom Stein, in der Pädagogik Pestalozzis und Schleiermachers, bei Süvern und den liberalen Staatstheoretikern, in der Achtundvierziger- und in der Schulrechtsbewegung, beim badischen Großherzog wie bei den demokratischen Lehrerführern — ein schmaler Grat, der oft nur stückweis gefunden und garzubald wieder verloren wurde. Es war nicht bequem, diesen Weg nachzugehen, — ein mühsamer Gang durch manche wahrgenommene und manche verfehlte Möglichkeit, durch naheliegende und immer wiederkehrende Irrtümer, durch Finden und Verlieren; ein Gang, der aber doch Erfahrungen und Klärung brachte, der fortgesetzt werden muß bis in die unmittelbare Gegenwart hinein und der die, welche ihn mitgehen wollen, nicht nur zur rückbückenden "Stellungnahme, sondern auch zu vorausschauender Mithilfe bringen soll.

ANMERKUNGEN ι. K A P I T E L 16

ι) Zit. aus Lorenz v. Stein, Verwaltungslehre Bd. V, Stuttgart 1868, S. 30. 2) V. L. v. Seckendorf!, Teutscher Fürstenstaat (zuerst 1656), Frankfurt 1660, T. II, Cap. XIV, nach S. 226 (Paginierung hier unterbrochen). J. J. Becher, Polit. Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte und Länder (zuerst 1668), erw. Fassung Frankfurt/Leipzig 1754. Lit.: R. Pahner, V.L.v.Seckendorff und seine Gedanken über Erziehung und Unterricht, Diss. Leipzig 1892; A. Heubaum, J. J. Becher, in Monatshefte der Comenius-Gesellschaft Bd. 9, Berlin 1900. 3) Noch nicht in den ersten Fassungen 1642 ff.; hg. von J. Müller in: Sammlung selten gewordener pädagogischer Schriften H. 10, Zschopau 1883, s. Anhang S. 104 f. 17 4) Ebd. S. 105 ff. 5) Vgl. Eduard Spranger, Zur Geschichte der deutschen Volksschule, Heidelberg 1949; Fritz Neukamm, Wirtschaft und Schule in Württemberg von 1700—1836, Heidelberg 1955; August Gans, Das ökonomische Motiv in der preuß. Pädagogik des 18. Jhs., Halle 1930. 18 6) J. B. Basedow: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt, Hamburg 1768; Ders.: Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, Leipzig 1770; (Ausgew. Schriften hg. von H. Göring, Langensalza 1880). Vorausgegangen war Martin Ehlers, Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen notwendigen Erfordernissen, Altona/Lübeck 1766. Vgl. Reinh. Schumann, Die Auffassung des Philanthropinismus von Gesellschaft und Staat, Diss. Leipzig 1905, und die (schwache) Arbeit von W. Weil, Der Gedanke der Nationalerziehung bei La Chalotais, Ehlers und Basedow, Diss. Frankfurt 1925. 7) Ausgew. Schriften S. 200 ff. 8) Allerdings war hier in der Schweiz die Staatsform auch eine andere, aber von deutschen philanthropischen Schulen ist ähnliches überliefert; vgl. V. Buol, Erziehung zur Demokratie in der schweizerischen Volksschule, Zürich 1950, S. 29 ff.

Anmerkungen zu Seiten 19 — 22 19

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9) Basedow, Ausgew. Schriften S. 194 ff., Methodenbuch IX, 14; Elementarwerk Buch V (Von den Pflichten gegen das Vaterland). 10) Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens, hg. von H. J. Campe, 16 Bde., Hamburg 1785—92, hier Bd. III, S. 435 ff. Villaume hat sich weiter mit diesem Thema beschäftigt in den Vermischten Abhandlungen, s. 1.1793 (eine davon abgedr. in den „Schriften zur Nationalerziehung in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts", hg. von H. König, (Ost-)Berlin 1954). Vgl. G. Funk, Die Pädagogik P. Villaumes, Diss. Leipzig 1894. 20 11) Allgem. Revision III, S. 523 und 535. 12) Ebd. S. 537. 21 13) L.-R. de Caradeux de La Chalotais, Essai d'6ducation nationale ou Plan detudes pour la jeunesse, Paris 1763; das Buch ist in einer bestimmten Situation, nämlich unmittelbar nach der Auflösung der Jesuitenkollegien (1762) entstanden, aus der Notwendigkeit heraus, das Bildungswesen nun neu und säkular zu organisieren. Es ist von dem Göttinger Historiker und Rechtslehrer A. W. Schlözer in deutscher Übersetzung herausgegeben worden (1771) und hat die philanthropische Pädagogik stark beeinflußt. Basedow bezeugt, die Abhandlung gelesen zu haben, will aber die meisten ihrer Gedanken selbst schon vorher in seinem Methodenbuch ausgesprochen haben. Übertrieben worden ist dieser Einfluß von A. Pinloche, La r6forme de l'6ducation en Allemagne au i8 e sifecle, Paris 1889 (dt. Leipzig 1896); Pinloche kennt die deutschen Vorläufer nicht. Vgl. E. Künoldt, Caradeux de L a Chalotais und sein Verhältnis zu Basedow, Oldenburg/ Leipzig 1897. Über La Chalotais vgl. auch Kap. II, Anm. 1. 14) Kab.Ordre an Zedlitz vom 5. 9. 1779, vgl. F. Vollmer in Mon. Germ. Paed. 56, 217. 15) Benutzt i. d. 2. Aufl., Kopenhagen 1776; vgl. E. Schöbel, Die pädagogischen Bestrebungen von F. G. Resewitz, Diss. Leipzig 1912. 16) Die Erziehung des Bürgers . . . S. 108. 22 17) F. G. Resewitz, Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung (Zeitschrift, größtenteils von Resewitz selbst verfaßt), Bd. II, Berlin/Stettin 1779, H. 3, S. 95 ff. 18) „II [le professeur en droit] se bornera done ä donner ä ses 61&ves une id6e du droit du citoyen, du droit d'un peuple et du monarque, et de ce qu'on appelle le droit public; toutefois il avertira la jeunesse que ce droit public, manquant de puissance corrective pour le faire observer, n'est qu'un vain fantöme que les souverains ^talent dans les factums et dans les manifestes, lors

Anmerkungen zu Seite 22—25 mfemes qu'ils le violent. II finira ses lejons par l'explication du code Fr6d6ric, q u i . . . doit fetre commun de chaque citoyen", Instruction pour la direction de l'Acad6mie des Nobles k Berlin, Oeuvres IX, S. 82. S. auch J. Bona Meyer, Friedrich d. Gr. pädag. Schriften, Leipzig 1885, S. 198. 19) K. A. Frh. v. Zedlitz, Über die Einrichtung einer Volkslehre in einem eigentlich monarchischen Staate (1777), abgedr. in Mosers Neuem Patriot. Archiv I, 1792; ders., Sur l'instruction publique, in Histoire (Nouveaux M6moires) de l'Acad6mie Royale des sciences et belles-lettres, Berlin 1779; ders., Sur le Patriotisme, consid6r6 comme objet d'6ducation, Berlin 1777. Vgl. C. Rethwisch, Der Staatsminister Frh. von Zedlitz und Preußens höheres Schulwesen im Zeitalter Friedrichs d. Gr., 2. Aufl. Berlin 1886. 20) Neues Patriot. Archiv I, 379. 21) Ebd. 381. 22) „Entwicklung unsrer Kräfte und Fähigkeiten durch das gesellschaftliche Leben ist . . . auf Erden unsere Bestimmung, der Endzweck unsers Hierseins, der Wille Gottes, unsere Glückseligkeit, also Hauptgrundsatz in der Sittenlehre, der Religion und der Vernunft, in der Politik, in der Pädagogik . . .", Neues Patr. Archiv I, 373. 23) F. E. von Rochow, Sämtliche pädag. Schriften, hg. von F. Jonas und F. Wienecke, 4 Bde., Berlin 1907/10. O. Gerlach, Die Idee der Nationalerziehung i. d. Geschichte d. preuß. Volksschule, I. (einziger) Band: Die Nationalerziehung im 18. Jh. dargestellt an ihrem Hauptvertreter Rochow, Langensalza 1932, Zit. dort S. 175. Rochow hat die Nation bereits als einen individuellen Organismus verstanden und durch Erziehung ausformen wollen. „Vom Nationalcharakter durch Volksschulen" heißt seine pädag. Hauptschrift (1779). Das Wort „Nationalcharakter" hat natürlich hier noch nicht die Bedeutung, die es etwa in der Fichte-Zeit gewann; aber der Gedanke, daß ein Volk einen Individualwert, einen eigenen „Charakter" hat und daß Staat und Schule diesen Charakter ausbilden müssen, liegt doch schon darin. 24) Vgl. Hans Hubrig, Die patriot. Gesellschaften des 18. Jhs., im Druck bei J. Beltz/Weinheim (1957), benutzt im Ms. (Diss. Göttingen 1950, Zitate beziehen sich auf das Ms.). 25) Hubrig S. 234, 76, 187. 26) Patriotisches Archiv hg. von F. K. v. Moser 1784s., später fortgesetzt als Neues Patriotisches Archiv. F. K. v. Moser ist nicht zu verwechseln mit seinem Vater, dem Staatsrechtler Joh. Jak. Moser, dessen Bedeutung für die Pädagogik A. Heubaum gewürdigt hat (Geschichte d. deutschen Bildungswesens I, 296ft.). 27) F. K. v. Moser, Von dem deutschen National-Geist, s. 1. 1765, S. 13. Die Württembergischen Ständerechte, die aus dem

Anmerkungen zu Seite 25 — 28

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Tübinger Vertrag von 1514 stammen, waren zwar eben damals, unter Hzg. Karl Eugen, heftig umkämpft, in welchem Zusammenhang auch Mosers Vater ins Gefängnis geworfen wurde, wurden aber 1770 wieder hergestellt. In Mecklenburg hatte der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 eine konstitutionelle Grundlage geschaffen. 28) Vgl. K. Schwarber, Schweizerische Einflüsse auf die Entwicklung des deutschen Patriotismus im 18. Jh., Basler Zs. f. Geschichte u. Altertumskunde Bd. 31, Basel 1932; Ed. Ziehen, Die deutsche Schweizerbegeisterung 1750—1815, Frankfurt 1922; H. Fleig, Die Schweiz im Schrifttum der deutschen Befreiungszeit, Basel 1942; R. Labhardt, Wilhelm Teil als Patriot und Revolutionär 1700—1800, Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Bd. 27, Basel 1947; Moser im Patr. Archiv IV, S. 358. 26 29) Patr. Archiv VI, S. 412 (wohl auch Anspielung auf die Verwendung von Kriegsinvaliden als Schulmeister). 30) Hubrig (s. Änm. 24) S. 120, 217, 222. 31) Vgl. Rudolf Stadelmann/Wolfram Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, Berlin 1955, S. 186f., S. 202; Hildegard Neumann, Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750—1850, Diss. Tübingen, maschschr. 1955, S. 25 f. Im Verfassungsstaat Württemberg waren die Voraussetzungen für ein weiteres politisches Interesse des Volkes besser als sonst irgendwo, was die immer noch hohe Zahl von 20 Exemplaren des Landrechts erklärt. 27 32) Pflichten der Untertanen gegen ihren Landesherrn, zum Gebrauch der Trivialschulen im Hochstift Speyer, Bruchsal 1785, abgedr. im Neuen Patr. Archiv I, 3090.; Moser ebd. I, 3170. 33) Patr. Archiv I, 535. 28 34) J . G. Schlosser, Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk (zuerst 1771), 3. Aufl. Frankfurt 1776, S. 1400. u. 82ff. 35) Vgl. O. v. Hippel, Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung, Diss. Göttingen 1939. Die Aufklärung und Hebung des Bauernstandes war das eigentliche Sozialproblem der Zeit, dem sich alle patriotischen Bestrebungen zuwandten. Es nahm die Stelle ein, die später den Problemen der Industriearbeiterschaft zufiel. 36) J . F. Feddersen, Christliches Sittenbuch, Hamburg 1783; F. E. v. Rochow, Summarium oder Menschenkatechismus in kurzen Sätzen, Schleswig 1796; A. D. Richter, Kurzer Entwurf einer Staatskunde von Kursachsen, Leipzig 1772; K. G. Svarez und C. Gossler, Unterricht. . ., Berlin 1793. 37) Die Anfänge einer eigenen Staatslehre auf der Universität liegen bereits im 15./16. Jh., vgl. St. d'Irsay, Histoire des Univers i t y I, Paris 1933, S. 251. Über die Bildung des Adels s. O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949,

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Anmerkungen zu Seiten 28 — 29 und österreichische Adelsbibliotheken des 15. bis 18. Jahrhunderts, in Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956. F. Debitsch, Die staatsbürgerliche Erziehung an den deutschen Ritterakademien, Diss. Halle 1927 (das Wort „staatsbürgerlich" ist hier natürlich fehl am Platze). Über Adels- und Standesbildung handeln, in der Tradition der Spiegel-Literatur: Th. Abbt, Gedanken von den Einrichtungen der ersten Studien eines jungen Herrn, 2 Berlin 1780; M. Ehlers, Winke für Prinzen und Prinzenerzieher, Hamburg 1786/87; F. Breyer, Einige Ideen über Erziehung der Fürstensöhne, Stuttgart 1797; K. F. Lossius, Über die öffentl. Erziehung der Kinder aus den vornehmen u. gebildeten Ständen, und ihre mögliche Vereinigung m. d. gemeinbürgerlichen, Erfurt 1806.

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38) Es standen z. B. Heraldik und Genealogie oft noch mit auf dem Plan. 39) M. Fleischmann, Aus der Frühzeit der Bürgerkunde an höheren Schulen, Berlin 1913, S. 38 u. 45 ff. 40) Einige Titel solcher Katechismen und Bürgerkunden für den Schulgebrauch: (G. Schmieder,) Auszug aus einigen Churf. Sachs. Mandaten, wie auch andern Obrigkeitlichen Verordnungen in Fragen und Antworten, für die Jugend d. dt. Schulen . . ., Dresden 1778, Fortsetzg. ebd. 1792; (Anon.,) Auszug der Sächsischen Rechte für Sachsens Jugend, Dresden 1780; (W. G. von Wangerow,) Über die Erlernung der Landesgesetze in den Volksschulen, Leipzig 1789; J. Ch. Förster, Auszug aus denj. kurfürstl. sächs. Landesgesetzen, die den Unterthanen zu wissen nöthig sind, zum Unterricht in den Schulen, Leipzig 1794; C. Ch. Nenke, Unterricht von den Pflichten der Kinder gegen Altern, Vormünder, den Staat und ihre Mitbürger und den daraus erwachsenden Rechten... f. d. preuß. Staaten — Ein Lehrbuch f. gemeine Stadt- und Landschulen im letzten halben Jahre d. Schulunterrichts, Berlin 1792; ders., Unterrichtsbüchlein über Verbrechen und Strafen, Berlin 1792; Ch. F. Sintenis, Briefe über die wichtigsten Gegenstände der Menschheit, Leipzig 1796; K. A. v. Tittmann, Über den Unterricht i. d. Strafgesetzen auf Schulen, Leipzig 1799; ders., Unterricht über Rechte u. Verbindlichkeiten der Untertanen in wohleingerichteten Staaten, zum Gebrauch für Schulen..., Leipzig 1800; R. Z. Becker, Auszug aus denj. kurhess. Landesverordnungen, welche einem jeden zu wissen notwendig sind, für den Bürger und Landmann sowie zum Gebrauch in den Schulen, 1804; Ch. G. Käuffer, Grundlage zum Unterricht i. d. Oberlausitzer Landesverfassung . . . f. Schulen, Görlitz 1808. 41) F. Bünger, Entwicklungsgeschichte buchs, Leipzig 1898, S. 80 u. 201. 42) Ebd. S. 156. 43) Fleischmann a. a. O., S. 50 ff.

des

Volksschullese-

Anmerkungen zu Seiten 31—33

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2. K A P I T E L 31

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1) Natürlich steht auch Rousseau schon in einer geschichtlichen Entwicklung des Staatserziehungsgedankens darin, die unter anderm Aspekt als dem unseren dargestellt ist bei Louis Grimaud, Histoire de la liberty d'enseignement en France, Paris/Grenoble 1944 ff., Bd. I, S. 59 u. 79 f. Der Bürger ist vor allem Glied des Staates, seine Kinder gehören nicht ihm, sondern dem Volke, so heißt es schon bei F6nelon (1717), bei Malesherbes, bei Combalusier, Pellicier, Morelly u. a. Der Feind, gegen den sich diese Betonung des Staatsanspruchs hauptsächlich richtet, ist die Kirche und ihr Ordenswesen. Sie in ihrer Stellung als die eigentliche Bildungsmacht des Landes zu erschüttern, ist auch das Hauptziel des schon erwähnten, in Frankreich wie in Deutschland vieldiskutierten Entwurfs von La Chalotais „Essai d'6ducation nationale" von 1763 (s. Kap. I, Anm. 13). Bei La Chalotais gehört das Erziehungswesen zum Kunst- und Räderwerk des aufgeklärten Fürstenstaats, der völliges Verfügungsrecht darüber hat, die Anzahl der Schüler und Studierenden nach seinen Bedürfnissen festsetzt, die Unterrichtsgegenstände bestimmt, die Schulbücher entwirft usf. E r sorgt dafür, daß jeder die ihm gemäße Bildung erhält, mit seinen Kenntnissen sich aber auf seinen Lebens- und Arbeitskreis beschränkt, damit er auch mit seinen Ansprüchen nicht darüber hinauswachse. Schon Lesen und Schreiben sind für La Chalotais Standeswissen, das vieleMenschen entbehren können, Essai S. 37 f., Künoldt S. 31. Gegen solche Pläne wurden aber auch in Frankreich schon frühliberale Stimmen laut, so ein anonymer „Appel k la raison" (1762, Grimaud I, 83), in dem vor dem Verderben einer staatlichen Erziehungsorganisation gewarnt wird. Auch die französischen Protestanten haben sehr vor einem Staatsmonopol gewarnt und dabei als erste ihren Anspruch auf Unterrichtsfreiheit im Naturrecht begründet (Grimaud I, 60 f.; I, 86). Sie standen dabei allerdings in älteren Traditionen, welche die Glaubens- und damit auch die Lehrfreiheit als Naturrecht beanspruchten und bis in die Reformationszeit und zu den vorreformatorischen Sekten zurückreichten. Ihre Argumente wurden später von einer anderen Gruppe übernommen und gegen den neuen Staat gekehrt: von den Katholiken gegen den unchristlichen Staat der Revolution.

2) Emile Buch V (Ausg. v. F. u. P. Richard, Paris 1939, bes. S. 607) und Buch IV (Richard S. 280). 3) II faut done . . . consid6rer dans notre έΐένε l'homme abstrait. Ed. Richard S. 12. 4) Ebd. S. 9 f. 33 5) K. D. Erdmann, Das Verhältnis von Staat und Religion nach der Sozialphilosophie Rousseaus (Der Begriff der „religion

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Anmerkungen zu Seite 33—35

civile"), Histor. Studien H. 271, Berlin 1935; jetzt auch Hermann Röhrs, Jean-Jacques Rousseau, Vision und Wirklichkeit, Heidelberg 1956, bes. S. 100 £E. 6) Oeuvres completes vol. III, p. 181 f. Terminologisch interessant ist die Bemerkung, in Rom sei jedes Haus eine „6cole des citoyens" gewesen, ebd. 7) Ebd. III, 401. 34 8) Grimaud II, 19. Über die der Revolutionszeit unmittelbar vorausgehenden Erziehungspläne kann wiederum nicht gehandelt werden; als die wichtigsten seien genannt: C. A. Helv6tius, De l'homme, Oeuvres t. IV, London 1781; Abb6 G. F. Coyer, Plan d'6ducation publique, Paris 1770; Turgot, bes. Lettre ä, Mme. Graffigny von 1751, Oeuvres t. II, Paris 1844, S. 785 fiE.; vgl. J. Edelheim, Beiträge zur Geschichte der Sozialpädagogik, Berlin/Bern 1902 (großenteils veraltet), und L. Waelfes, Turgot als Pädagog, Diss. Bonn 1901. Über die Erziehungsforderungen der „Cahiers des dol^ances" s. Grimaud I, 102. 9) Abb6 Audrein, Memoire sur Γ Education nationale franfaise, Paris 1791; ,,unit6 morale" — das Motto der Schrift lautet: Una gens, una mens. 10) Ch. Μ. de Talleyrand-P6rigord, Rapport sur l'Instruction publique fait au nom du Comit6 de Constitution ä l'Assembl6e Nationale les 10., 11. et 19. septembre 1791, Paris 1791; Grimaud II, 71. 11) Die wichtigsten dieser Katechismen sind mit ihren Titeln aufgeführt bei Grimaud II, 173 f. 35 12) Darüber F. A. Aulard in der Zs. La R6volution frangaise 1914/II, S. 193 ff. 13) Programmatisch ausgedrückt bei Rabaut St.-Etienne: Man müsse große Nationaleinrichtungen schaffen, mittels derer alle Bürger durch die Gleichheit ihrer Erlebnisse und Eindrücke zu gleichen Empfindungen geführt würden, und könne sich dabei an bewährte Vorbilder halten, nämlich die der Priesterschaft „mit ihrem Katechismus, ihren Prozessionen, ihren Zeremonien, ihren Hymnen, ihren Predigten, ihren Wallfahrten, ihren Heiligenbildern" ; M. Göhring, Die Anfänge staatspolitischer Erziehung in der Neuzeit, in: Bildungsfragen der Gegenwart (Festschrift f. Th. Bäuerle), hg. v. F. Arnold/E. Spranger/W. Erbe, Stuttgart 1953, S. 218. 14) Plan d'Education nationale de Michel Lepeletier pr6sent6 ä la Convention Nationale, au nom de la Commission d'Instruction publique, Paris (1793); dt.: Michel Lepelletiers Plan einer Nationalerziehung, hg. von G. Thaulow, Kiel 1848 (abgedr. b. R. Alt, Erziehungsprogramme d. Französ. Revolution, (Ost-) Berlin 1949, dort S. 124).

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15) Ebd. S. 125, 132. 16) Vgl. Ph. Buonarotti, Conspiration pour l'Egalit6 dite de Babeuf, Brüssel 1928,1, 228; Grimaud II, 322. 17) (H. G. V. R. Marquis de Mirabeau,) Travail sur l'6ducation publique, publ. par P. J . G. Cabanis, Paris 1791, bestehend aus vier Abhandlungen, von denen der schon früher (Aug. 1791) publizierte „Discours de M. Mirabeau l'aln£ sur l'dducation publique" besonders wichtig ist. Mit Mirabeau l'ain6 ist nicht der heute als M. d. Ältere bezeichnete Vater M. gemeint, sondern der bekannte Revolutionär, der hier im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder so genannt wird. Die Verfasserschaft ist bis heute nicht gesichert, doch müssen die Schriften mindestens aus dem unmittelbaren Gedanken- und Freundeskreise Mirabeaus stammen. Dt.: Herrn Mirabeau des älteren Discurs über die Nationalerziehung 1791, nach seinem Tode gedruckt u. übersetzt auch mit einigen Noten und einem Vorbericht begleitet von Fr. Ebh. v. Rochow (!), Berlin 1792. 18) M. J . A. de Condorcet, Sur 1'Instruction publique, Oeuvres hg. v. A. Condorcet-O'Connor und M. F. Arago, Paris 1847/49, Bd. VII, S. 167 ff.; ders., Rapport et projet de d6cret sur l'organisation g6n6rale de l'instruction publique, ebd. S. 449 ff. Nachträglich wird mir bekannt: Eberhard Weis, Liberalismus und Totalitarismus i. d. Erziehungsplänen des französ. Nationalkonvents 1792/93, Histor. Jahrbuch Jg. 74, 1955, S. 383 ff.; dort noch manche interessante Ergänzungen, bes. auch die Voten von Duval, welche die Nachwirkung von Rousseaus „Consid6rations" veranschaulichen. 19) Oeuvres VII, 441 f., 478; 169, 449, 220; 200. 20) Ebd. VII, 302. 21) Ebd. VII, 455 u. 2 1 1 . 22) Nicht schon als einen Umschwung kann ich das Dekret vom 2 0 . 1 2 . 1 7 9 3 ansehen (wie E. Weis es tut S. 393), obgleich es den Grundsatz der Unterrichtsfreiheit auch schon ausspricht. Es drückt zwar schon den öffentl. Überdruß am Dirigismus des Wohlfahrtsausschusses und den Schrecken vor den aufsteigenden Staatsschulden aus, verlangt aber politische Zulassungszeugnisse und ständige Kontrolle für die Lehrer, gibt genaue Vorschriften für den Unterrichtsinhalt und sieht staatliche Lehrbücher vor. 23) Verf. angen. am 22. 8. 1795, Art. 300; Gesetz v. 25. 10. 1795. Text bei J . B. Duvergier, Collection complete des lois et d6crets. . . Paris 1824 ff., Bd. VIII, 435; über den Kommentar vgl. Grimaud II, 206. 24) Nach dem Bericht des Staatsrats Palet de la Loz^re, Opinions de Napoteon sur divers sujets . . ., Paris 1833, S. 172; Grimaud IV, 27 (Hervorhebung vom Vf.).

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Anmerkungen zu Seiten 41—46

25) Art. ι d. Gesetzes vom 10. 5. 1806, Grimaud IV, 55 und 61 ; Vgl. F. A. Aulard, Napolion Ier et le monopole universitäre, Paris 1911; S. Hessen im Handbuch von Nohl/Pallat Bd. IV, 3; M. Hinz, Die University Imperiale de Napoleon I., Diss. Erlangen 1928; moderne Apologie: J. Dontenville, La crdation de l'Universit6 de France par Napoleon, Revue des dtudes napol. 1929/II. 42 26) Einige Beispiele direkten Einflusses: Über La Calotais' Essai, seine deutsche Fassung und s. Wirkung auf d. philanthrop. Pädag. s. Kap. I, Anm. 13. Talleyrand -Pdrigord wird zitiert von Bülau, R. v. Mohl, E. v. Münch (s. u.). Mirabeaus „Discours" wurde von Rochow übertragen, Rehberg, Pölitz Ch. D. Voss, Herbart, Jahn setzen sich mit ihm auseinander; zu Humboldts früher Staatsschrift hat er offenbar den Anstoß gegeben. G. Thaulow hat 1848 den Entwurf von Lepeletier übersetzt und die Absicht gehabt, alle bedeutenden Erziehungsentwürfe der Revolution sowie die Unterrichtsverhandlungen der Nationalversammlung herauszugeben. E. v. Münch (s. u.) würdigt Talleyrand, Condorcet, Lepeletier, Lakanal u. a. Campe widmet einen Aufsatz über die Nationalerziehung dem französischen Nationalkonvent. Zahlreich sind auch die Auseinandersetzungen mit Napoleons Universit6, vgl. unten Kap. V, 3 (bes. Thiersch).

3. KAPITEL 44

1) Vgl. Maurice Boucher, La Revolution de 1789 vue par les Ecrivains allemands ses contemporains, Paris 1954; z u r Terminologie .liberal' — .demokratisch' s. L. Bergsträßer, Gesch. d. polit. Parteien in Deutschland, »Mannheim 1932, S. 47 ff. 2) Ähnlich A. W. Rehberg, der Mirabeaus Schrift rezensiert hat, und sein Kreis. 3) Das in diesem Zusammenhang wichtigste Kap. VI wurde als selbständ. Aufsatz publiziert in der Berlinischen Monatsschrift Dez. 1792 (XX, 597 ff.), Akademie-Ausgabe I, 140 ff. S. a. Wilh. v. Humboldt, Schriften zur Anthropologie u. Bildungslehre, hg. von Andreas Flitner, Düsseldorf/München 1956, S. 135 ff. Zitate: Akademie-Ausg. I, 129 u. 146. 45 4) Ebd. I, 144; F. A. Wolf über Erziehung, Schule, Universität (Consilia scholastica), hg. v. W. Körte, Quedlinburg/Leipzig 1835, S. 5 u. 47. 46 5) an Forster 1. 6. 1792, zusammenfassend über die „Ideen"; A. Leitzmann, Georg u. Therese Forster u. d. Brüder Humboldt, Bonn 1936, S. 90. 6) Brief a. d. Herzog v. Augustenburg v. 13. 7. 1793 (Histor.krit. Ausg. v. O. Güntter u. G. Witkowski Bd. 18, 126 ff.).

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7) 2 3· Brief, Anfang. 8) 4. Brief, 27. Brief. 9) A. Stern, Der Einfluß d. franz. Revolution auf d. dt. Geistesleben, 1928, und M. Boucher (s. Anm. 1), dort S. 185 weitere Lit. 10) Vgl. Paul Böckmann, Politik u. Dichtung im Werk Fr. Schillers, Zs. „Ruperto-Carola", Juni 1955 (Jg. 7, H. 17). 11) Allgemeine Revision d. gesamten Schul- u. Erziehungswesens, Bd. 16, Wien/Braunschweig 1792. 12) Ebd. S. 42 u. 31. 13) J. H. Campe, Grundsätze der Gesetzgebung, die öffentliche Religion und die Nationalerziehung betreffend, Schleswigsches Journal (Fortsetzung des Braunschw. Journals) Bd. I, Altona, Februar 1793. Die Verfasserschaft Campes für diesen anonymen Aufsatz ist gesichert durch sein eigenes Zeugnis in: Reise durch England und Frankreich Bd. II, Braunschweig 1803, S. 288. 14) Dazu wieder besonders Hans Hubrig, Die patriotischen Gesellschaften (s. Kap. I, Anm. 24), wo auch alle vorhandenen Monographien aufgeführt sind. 15) Isaak Iselin 1762, zit. nach Hubrig S. 167. 16) Vgl. Hubrig S. 83, 214, 217, 106 ff. 17) Hubrig S. 58 ff. Das Direktionsrecht des Mainzer Kurfürsten unterscheidet sie aber wesentlich von den demokratisch organisierten eigentl. Patriotischen Gesellschaften. Ihr geistiges Haupt war lange Zeit der Koadjutor Dalberg, Freund Humboldts und der Weimarer; er muß auch an dem Preisausschreiben mitgewirkt haben. 18) Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. IX, Kiel 1794, Intelligenzblatt. 19) Acta Academiae Electoralis Moguntiae scientiarum utilium quae Erfurti est, ad annum 1793, Erfurt 1794; J . G. B. Pfeil, Zuruf eines deutschen Patrioten an seine deutschen Mitbürger, insonderheit auf dem Lande, by den jetzigen Unruhen in Frankreich, Leipzig 1794; F. T. Schmidt, An die guten Völker Deutschlands bey den bedenklichen Vorgängen der gegenwärtigen Zeit, Berlin 1793; Prediger Happach, Handbüchlein für deutsche Bürger und Bauern, wenn sie sich von ihrem Glück, von ihren Fürsten und Obrigkeiten, von Gleichheit und Freiheit richtige Begriffe machen wollen, 1794. Die theoretischen Abhandlungen über die vier Fragen von den besten sieben Bewerbern sind auszugsweise abgedruckt i. d. Akademieakten 1793. Alle eingegangenen Schriften sind rezensiert in der Erfurter gelehrten Zeitung 1793, H. 46— 48 und 1794 H. 5, einige auch in der Neuen Allgem. Dt. Bibliothek, Intelligenzblatt S. 147 ff. 20) Neue Allgem. Dt. Bibliothek, Intelligenzbl. S. 148. 21) Acta Academiae 1793, S. 3 und S. 52.

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22) Immanuel Kant über Pädagogik, hg. von F. Th. Rink, Königsberg 1803, S. 17. 23) Das geben als Programm ausdrücklich an Pölitz (s. u.) Bd. I, Motto u. Vorrede, u. Anonymus, Idee der bürgerlichen Erziehung, in: Philos. Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hg. v. F. I. Niethammer (später in Gemeinschaft mit Fichte), Bd. V, 1797, H. 4. Zum folg. vgl. auch Jakob Weber, Forderungen eines Moralunterrichts i. d. pädag. Literatur seit den Philanthropen, Diss. München (maschschr., Ref. Aloys Fischer) 1929, S. 19 ff. 24) So besonders Stephani u. Holzwart, s. u. 25) So Pölitz, Voss und Zöllner, s. u. 26) Kant/Rink S. 17 ff., 145, 122. 27) W. T. Krug, Der Staat und die Schule, Leipzig 1810; K. S. Zachariä, Über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den Staat, Leipzig 1802; J. F. Faber, Über das wahre Verhältnis des Staates zur Erziehung, Ansbach 1809. 28) Zeitlich liegt das Werk (1810) schon außerhalb der für dieses Kapitel gezogenen Grenzen, doch gehört es ganz in diesen Zusammenhang. 29) Der Staat und die Schule, S. 33 u. 103. 30) Ebd. 133, 142 f. 31) Vgl. Hubert Brocher, Das Problem der staatsbürgerlichen Bildung und Erziehung vom Ausgang d. 18. Jhs. bis z. Ende d. preuß. Reformzeit, Diss. Köln 1936, S. 5 ff. 32) Grimaud II, 71; D. Heusinger, Etwas über den Ausdruck: Erziehung zum Menschen und Bürger, in Philosophisches Journal (hg. v. Niethammer u. Fichte) Bd. I, Neu-Strelitz 1795, H . 3. 33) K. H. L. Pölitz, Die Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke der Menschheit und des Staats practisch dargestellt, 2 Teile, Leipzig 1806. Das Werk ist eine bibliographische Fundgrube zur pädagogischen Zeitgeschichte, der auch dieses Buch viel verdankt. 34) Ebd. I, S. VI; P. Pohle, System der Staats- u. Nationalerziehung bei K. H. L. Pölitz, Diss. Bonn 1936, S. 135 f. 35) Die Erziehungswissenschaft..., S. 29 u. S. VI; ähnlich Ch. D. Voss, Versuch über die Erziehung für den Staat — als Bedürfnis unsrer Zeit zur Beförderung des Bürgerwohls und der Regentensicherheit, Halle 1799, Teil I, S. 30. 36) Die Erziehungswissenschaft... I, 320 ff. 37) E b d .

11,305; 11,57, 11,103, I , 3 1 9 f . - I I , 304.

11,314,

II, 300 f. 38) S. Anm. 35, 2 Teile. 39) Voss I, 86; Pölitz II, 5 und Voss I, 268 ff. 40) Die geistige Vollkommenheit der so entstehenden Nation wird auch über ihr politisches Schicksal gegenüber anderen Mäch-

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ten entscheiden, Pölitz II, 101 u. II, 13 f.; ähnlich bei Voss I, 41 „Die kultiviertesten Staaten sind immer die mächtigsten". 61 41) A. J . Holzwart, Erziehung und Aufklärung einer Nation durch den Staat, München 1806; H. Stephani, Grundriß der Staatserziehungswissenschaft, Weißenfels/Leipzig 1797, und: System der öffentlichen Erziehung (1. Aufl. 1804), 2. Aufl. Erlangen 1813 (Mit der hiesigen Zuordnung ist aber Stephani nicht ausreichend charakterisiert, vgl. Aloys Fischer, Leben und Werk Bd. 3/4, S. 235 ff., und M. Imhof, Staatspädagogik vor 100 Jahren im Systeme H. Stephanie, Diss. Würzburg 1916); J . F. Zöllner, Ideen über Nationalerziehung, besonders in Rücksicht auf die Königlich Preußischen Staaten, Berlin 1804 (Auszüge in A. Heubaum, Die Nationalerziehung in ihren Vertretern Zöllner und Stephani, Schroedels päd. Klassiker XIV, Halle 1904, dort auch Abdruck der Rezension von Schleiermacher). 42) Stephani, System S. 85 u. 84. 62 43) Ebd. S. 118, 120 ff. 44) Zöllner S. 254 ff. Der Gedanke einer staatsgeförderten Volksliteratur taucht wohl bei Zöllner und Stephani zuerst auf. 63 45) Holzwart, Erziehung u. Aufklärung S. 158 ff., 168 ff., 179 f. 46) Zu erwähnen sind noch K. A. v. Rade, Die Erziehung des Menschen zum Staatsbürger, Hof 1803 (betont die wachsende Rechtssicherung durch Staatserziehung); F. Rambach, Von der Erziehung zum Patriotismus und über Bürgerschulen, Berlin 1802 (Patriotismus ist hier vor allem ein im Staate verankertes Pflichtbewußtsein) ; F. L. Walther, Über die Erziehung sofern sie ein Gegenstand der Politik ist, Hof 1787, und D. E. Beyschlag, Von der Verbindung der häuslichen Erziehung mit der öffentlichen, 3. Teil, Nördlingen 1789/90, s. H. Brocher (Anm. 31).

4. K A P I T E L 66

1) Eduard Spranger, Philosophie u. Pädagogik der preußischen Reformzeit, Hist. Zs. Bd. 104, 1910; ders., Wilhelm v. Humboldt u. die Reform d. Bildungswesens, Berlin 1910; W. Süvern, Joh. Wilh. Süvern, Preußens Schulreformer nach dem Tilsiter Frieden, Langensalza 1929; F. Kade, Schleiermachers Anteil a. d. Reform d. preuß. Bildungswesens von 1808 bis 1818, Leipzig 1925; Fritz Fischer, Ludwig Nicolovius (Forschungen z. Kirchen- u. Geistesgeschichte hg. v. E. Seeberg u. a., Bd. 19), Stuttgart 1939; H. Loewe, Die Entwicklung des Schulkampfs in Bayern bis zum vollst. Siege d. Neuhumanismus, Mon. Germ. Paed. Beih. II, Berlin 1917; E. Quittschau, Das religiöse Bildungsideal des Vormärz,

2o8

Anmerkungen zu Seiten 68—71

Gotha 1931 (unter anderem Titel als Diss. Greifswald 1931). Über Niethammer und Altenstein fehlen entsprech. Monographien, vielleicht gibt die Auffindung von Niethammers Nachlaß (siehe H. Döderlein in Zs. f. Religions- u. Geistesgeschichte 1948/1) Anlaß zu einer solchen. 68 2) J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05), Sämtl. Werke, Berlin 1845/46, Bd. VII, 2. Vorlesung. Über die vorausgehende politische Entwicklung Fichtes kann hier nicht gesprochen werden. Erinnert sei nur daran, daß Fichte, auf seine Frühzeit rückschauend, sich bezeichnet hat als einen „jungen Menschen, der sein Vaterland aufgegeben hatte und an keinem Staate hing" (S. W W . V, 288); daß er gegen A. W. Rehbergs Untersuchungen über die Französische Revolution seine „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" (1793/95, S.WW. Bd. VI) verfaßt und das abstrakte Naturrecht der Revolution gegen die Lehre vom historisch und organisch Gewachsenen verteidigt hatte. Dort hatte er, zugunsten der abstrakten Autonomie des Individuums, jede Erziehung durch und für den Staat strikte abgelehnt und war damit, selbst als Apologet der Revolution, den liberalen Revolutionsgegnern nahegetreten (vgl. R. Strecker, Die Anfänge von Fichtes Staatsphilosophie, Leipzig 1917, S. 1390.). Fichte und Humboldt, der leidenschaftliche Künder und der bedeutendste Organisator der Staatserziehung, haben sich ihr in jenen Jahren mit gleicher Entschiedenheit widersetzt. 3) Reden an die deutsche Nation, S. 100 (zit. nach der Ausgabe von E. Spranger, Phil. Bibl. 204, Leipzig 1944; aufzufinden in den S.WW. Bd. V I I durch jeweiliges Hinzuzählen von 253, in der Ausgabe von F. Medicus, Leipzig 1908ff., Bd. V, durch Hinzuzählen von 364 zur hier genannten Seitenzahl). 69 4) Vgl. Nico Wallner, Fichte als politischer Denker, Halle 1926, S. 124. 5) Grundzüge, S.WW. VII, 144^, 168, 203; Kant, Idee zu einer allgem. Geschichte in weltbürgerl. Absicht (1784) / Hegel, Philosophie der Weltgeschichte (Lasson I, 83)/Fichte, S.WW. VII, 144 u. 166. 6) S.WW. VII, 208. Fichte unterscheidet dabei „bürgerliche Freiheit" (völlige Gleichheit und Staatshörigkeit aller) und „politische Freiheit" (Mitregierung). Nötig ist in seinem Idealstaat nur die erste, ebd. 158 s . 7) Ebd. 166. 8) Die Hauptgedanken finden sich schon in der Schrift „Der Patriotismus und sein Gegenteil", 2. Dialog (1807), hg. von H. Schulz, Leipzig 1928. 71 q1 Zu Fichtes Pestalozziverhältnis verl. bes. sein 2. Gesoräch

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über den Patriotismus (s. Anm. 8) und Ruth Schefold, Der Einfluß Pestalozzis auf die preuß.-deutsche Erhebung, Diss. Tübingen (Ref. R. Stadelmann) 1944, maschschr., S. 45ft. Über die persönliche Begegnung s. H. Schönebaum, Pestalozzi Bd. II, Erfurt 1931, S. 78 ff. 10) Reden S. 158. 11) Ebd. S. 31. 12) Ebd. S. 101. 13) Ebd. S. 28, 183. 14) Vgl. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 'München/Berlin 1919, S. 119. 15) Reden S. 173. 16) Ebd. S. 168 f. 17) Ebd. S. 153f., 40. 18) Besonders deutlich herausgearbeitet von O. F. Bollnow, Die Pädagogik der deutschen Romantik, Stuttgart 1952, S. 75 ff. 19) Durch Joh. Langermann, der eine Stein-Fichte-Schule mit diesem Programm gründete. 20) Vgl. Richard Wagner, Fichtes Anteil an der Einführung der Pestalozzischen Methode in Preußen, Leipzig 1914. Dagegen Rud. Körner, Die Wirkung der Reden Fichtes (Forschungen zur brandenb. u. preuß. Geschichte X L , 1 S. 655.) ,der mit politischkonservativer Tendenz die Wirkung Fichtes bagatellisiert und, wenngleich einseitig, nachweist, daß weit mehr als die Zeitgenossen Fichtes die Liberalen nach seinem Tode von den „Reden" begeistert worden sind. Zu ergänzen ist z.B., daß das offizielle Promemoria der Hochkonservativen Eylert und Beckedorff (15. 2. 1821) Fichtes Reden für die Verbreitung des Pestalozzianismus und für den ganzen Geist des Unterrichtsministeriums bis 1819 verantwortlich macht (s. u. Kap. VII, 1). Eine Würdigung des Fichte-Nachlebens müßte die Materialien von Wagner; Körner und R. Schefold (s. Anm. 9) verarbeiten und durch eine Untersuchung der pädagogischen Literatur des 19. Jahrhunderts ergänzen. 21) Reden S. 214. 22) S. Anm. 20. 23) A. W. Rehberg, Untersuchungen über die französische Revolution, in Sämtliche Schriften I, Hannover 1828; Rezensionen Rehbergs i. d. Allgemeinen Literaturzeitung, Jena/Leipzig 1790/93; Erich Weniger, Rehberg und Stein, Niedersächsisches Jahrbuch II, Hildesheim 1925. 24) J . Möser, Sämmtliche Werke hg. von B. R. Abeken, Berlin 1842f.; F. Buchholz, J . Mosers Gedanken über Erziehung, Diss. Jena 1914; M. Gleich, Die Pädagogik des preuß. Konservativismus i. d. Eooche seiner Entstehung. Diss. Münster i q ^ :

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s. hier bes. d. Brief Mosers an Badesow, S. WW. X, 117, ferner Patriot. PI wtasien, Einleitung zu Bd. II, und S. W W . I X . 240. 77 25) Auch Rehberg hatte die Anfänge der Revolution begrüßt und mit Hoffnungen für ein neues Zeitalter der bürgerlichen Freiheit begleitet, vgl. s. Rezensionen der Revolutionsliteratur i. d. Allgem. Lit.-Ztg. (s. Anm. 23, Verzeichnis in S. Sehr. II, 746.), dann aber dieselbe Entwicklung genommen wie ein großer Teil der deutschen Liberalen. Unter seinen Rezensionen findet sich auch eine von Mirabeaus Travail sur l'6ducation publique (Allg. Lit.-Ztg. 1792, Nr. 62), in der scharfsinnig auf die inneren Schwierigkeiten einer liberalen Staatserziehung hingewiesen wird. Die Äußerungen gegen Naturrecht u. Leidenschaftskult S. Sehr. I, 339» 345 ff·« 3 6 ° ( a u s ganz ähnlichen Motiven stammt Pestalozzis Goethe-Klage in der „Abendstunde"). Der naturrechtliche Utopismus diene nur dazu, „die letzten Bande aufzulösen, wodurch der Mensch an Ordnung, Vernunft und sittliche Geselligkeit festgehalten werde", S. Sehr. I, 359. 26) Ebd. I, 367 (Hervorhebung von Rehberg). 27) Ebd. I, 368. 28) Ebd. I, 375S. 78 29) Vgl. E. Weniger (s. Anm. 23), S. 13 ff. In diesen Umkreis gehört auch Ernst Brandes, dessen pädagogische Stellung jetzt untersucht worden ist von Paula Eigen, Ernst Brandes (1758 bis 1810) im Kampf mit der Revolution in der Erziehung (Göttinger Studien hg. v. H. Nohl, H . 35), Weinheim 1954. 30) J . Langermann, Steins politisch-pädagogisches Testament, Berlin-Zehlendorf 1910, ist als historische Würdigung nicht anzusehen. E. Krieck hat, von seinen Voraussetzungen her und auf Grund der damaligen Quellenlage, einen Versuch unternommen in: Die deutsche Staatsidee, Jena 1917. 79 31) Frh. vom Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, hg. von E. Botzenhart, Berlin 1931/37, II, 227. Zum folgenden vgl. Franz Schnabel, Frh. vom Stein, Leipzig/ Berlin 1931; G. Ritter, Stein — eine politische Biographie, Stuttgart/Berlin 1931; Hans Rothfels, Stein und die Neugründung der Selbstverwaltung, Zs. f. Religions- u. Geistesgeschichte, 1. Jg. 1948; H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jh., Stuttgart 1950. 32) Botzenhart II, 229. 80 33) Ebd. II, 229. 34) Ebd. VI, 558. 35) Brünner Denkschrift v. 1810, ebd. I I I , 225 (Hervorhebung vom Vf.). Wie weit die Denkschriften auf Stein selber zurückgehen und welches der Anteil seiner Mitarbeiter ist, läßt sich im

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einzelnen nicht bestimmen. „Leben in der Idee" klingt nicht wie Steins eigene Formulierang. 36) Vgl. immerhin G. H. Pertz, Leben d. Ministers Frh. vom Stein, Berlin 18490., I, 266 und Botzenhart I, 440. 81 37) Pestalozzi, An die Unschuld. . ., Ges. Werke hg. v. E. Bosshart u. a., Bd. VI, Zürich 1946, S. 266. 82 38) So auch Pestalozzi in Lienhart und Gertrud und in der Abhandlung über den Bauern, ebenso Moser und Rehberg. 39) Botzenhart I I I , 256. 83 40) F. Fischer, Ludwig Nicolovius, Stuttgart 1939, S. 2 6 4 ! 41) Botzenhart I I I , 140; I I I , 214; I, 262. 84 42) Ebd. I I I , 484!.; ähnl. I I , 467 und II, 475. 43) Ebd. I I I , 485; V, 295 ff. 85 44) Ebd. VI, 32. 45) Vgl. R u t h Flad, Studien zur polit. BegrifEsbildung in Deutschland während d. preuß. Reform — Der Begriff der öffentlichen Meinung bei Stein, Arndt und Humboldt, Berlin/ Leipzig 1929, bes. S. 26f. 86 46) Botzenhart I I I , 251«.; I I I , 148; R. Flad S. 32. 47) R. Flad S. 45 f. 48) Botzenhart V, 508. 87 49) Vgl. dazu das (Anm. 31) zitierte Werk von H. Heffter. 88 50) So auch Hardenberg und Altenstein, vgl. R u t h Schefold (s. Anm. 9), S. 66. 51) F. Schultze, Die Abiturientenprüfung vornehml. im preuß. Staate, Berlin 1831, nach Fr. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts Bd. I I , 'Berlin/Leipzig 1921, S. 294. 52) Arndt und J a h n sind — obgleich sie sicher für die Lehrerschaft eine Bedeutung gehabt haben — hier nicht ausführlich gewürdigt worden, einmal weil ihre Gedanken in diesem Gebiete nicht sonderlich originell zu nennen, zum andern aus den Freiheiten heraus, die sich der Verfasser überhaupt nimmt (s. Vorwort). Über ihre allgemeine pädagogische Bedeutung* s. O. F. Bollnow, Die Pädagogik der deutschen Romantik, Stuttgart 1952. Arndt ist erst in der Befreiungszeit zu politisch-pädagogischen Aufgaben hingeführt worden. Noch in den „Fragmenten über Menschenbildung" (1805) lehnt er die politische Erziehung ab, soweit sie nicht in die Altertumskunde eingeschlossen sei.. Dem heranwachsenden, unreifen Menschen könne die Politik nur Schaden bringen. „Ich sage daher gerade heraus, alle politischen Erziehungen taugen nichts und machen halbe Barbaren". Spartaner, Kreter, Römer haben das bewiesen, auch das zeitgenössische England, „wo der Bube schon das Vaterländische mitbesorgt und an allem teilnimmt", während Humanität und Künste darunter leiden müßten (Fragmente über Menschen14«

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88 bildung, Altona 1805, II, 200 fi.). In der späten Napoleonzeit, als Arndt dann sein ganzes Wirken in den Dienst publizistischer Vorbereitung der Befreiungskriege stellte, wurden ihm gerade „Humanität und Künste" suspekt, die alte ästhetisch-gesellige Bildung, die idealistische Philosophie und Kultur, die zur Wirklichkeit und zu den politischen Problemen der Zeit keine Beziehung mehr hätten. Er hat seine Erziehungsgedanken dann stark an die des Freiherrn vom Stein angelehnt, in dessen persönlicher Umgebung er ja damals stand. Wie dieser hat er ständische Verfassungen errichten, altdeutsche Freiheiten erneuern, das Rechtsbewußtsein im Kleinbesitz verankern und jedermann zur politischen Mitverantwortung aufrufen wollen. So ist auch das Wort von der „politischen Tugend" zu verstehen, die er in den Deutschen entwickeln will. Im Gegensatz zu Stein bekennt er sich namentlich zur Demokratie („alle Staaten, auch die noch keine Demokratien sind, werden von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr demokratisch werden", Ges. Werke hg. v. A. Leffson u. W. Steffens, Berlin/Leipzig 1912, XI, 95 u. 106), versteht darunter aber nicht den jakobinischen, sondern einen in Zünften und Gilden strukturierten Staat (X, 82; XI, 119). Die Hauptmittel der politischen Erziehung, wie er sie verbreiten will, sind: Förderung der Literatur, die „einen deutschen Leib und eine vaterländische A r t " hat — seine ganze eigene Publizistik hat er unter diesen Anspruch gestellt (IX, 66 u. 197!). Ferner die Pflege der deutschen Sprache, in der er den Träger des Volksgeistes und aller nationalen Werte sah. Die Wehrpflicht sodann, die den Bürger wieder einsetze in seine naturgegebene sittliche und politische Verantwortung, wie er sie von alters her habe tragen müssen. Und schließlich Feste und Spiele, wie es sie ebenfalls früher gegeben habe, was aber durch Reformation, Puritanismus und Polizeiwesen erstickt worden sei. In vormilitärischen Übungsgemeinschaften wollte er die Kinder zu „kriegerischen Spielen" anleiten und „kleine politische Staaten" aus diesen Übungsgegemeinschaften machen. „Aber nicht allein den politischen Sinn werden diese spielenden Gesellschaften wecken; sie werden auch ein deutsches Volk, echte deutsche Männer werden sie erwecken" (Bilder kriegerischer Spiele und Vorübungen, verfaßt 1813, publ. Bonn 1848, bes. S. 25 f.). Der Gedanke, öffentliche Feste für die Nationalerziehung zu nutzen, den in Frankreich besonders Mirabeau und Condorcet ausführlich erörtert hatten, wurde dann von dem Jenaer Historiker und Burschenschaftsführer Heinrich Luden mächtig ausgemalt und in System gebracht (Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik, Jena 1811, §§ 1720.). 53) Über Jahn vgl. vorige Anm., Anfang. Erziehung ist für Jahn vor allem Hinweisung zum „Volkstum", womit das gemein-

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88 same Wesen eines Volkes bezeichnet ist, das sich im Denken, Empfinden und Sprechen ausdrückt. Jahn hat, was sich bei Arndt erst angedeutet findet, das ganze Volk auch politisch zur Vereinigung in einem Volksstaate hinführen wollen und damit ein unausschöpfbares Thema für das 19. Jahrhundert eröffnet. Ein Volk ohne Staat gilt ihm ebensowenig wie ein Staat ohne Volk; die Erziehung muß darum auch den neuen Staat vorbereiten und eine „Staatskunde" in diesem Sinne enthalten. Erziehungsmittel sind ihm wie Arndt die Pflege der Sprache, die er selbst durch kecke Weiterbildungen überall vom Fremdgut zu reinigen sucht; dann die große deutsche Literatur, deren patriotisch besonders wertvollen und bildenden Texte er in einer eigenen Reihe, Deutsche Bücherhalle oder „Bardenhain" genannt, zugänglich machen möchte. Auch für die Vaterlandsgeschichte will er eine Quellensammlung veranstalten lassen und eine Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung durch Preisausschreiben anregen (WW. hg. v . C. Euler, Hof 1884/87, I, 248 u. 256). Denn wie die Literatur so wird die Vaterlandsgeschichte erziehend und als „Tatenerhalterin und Tatenzünderin" wirken. Strenge Kritik übt Jahn an der Standesschule, die er besonders in ihren philanthropischen Vertretern bekämpft. Aber auch der humanistischen Betonung der Individualerziehung widersetzt er sich. Nicht als Einzelner könne der Mensch etwas aus sich hervorbringen, erst „ i n der Gesellschaft wird er durch Liebe und Not der Ausbilder seiner Anlagen, der Entwickler seiner Fähigkeiten" ( W W I, 187; II/2, 563; vgl. Bollnow S. 95). U m der Sozialerziehung willen befürwortet er eine Schule mit einem Einheitskern: Menschen- und Staatsbürgerbildung sollen alle gemeinsam erhalten; in Wahlfächern kann sich daneben jeder für seine künftige Bestimmung vorbereiten ( W W I, 185 u. 257). — Als Teil der nationalen Erziehung hat Jahn auch sein Turnen angesehen. Die Sache selbst w a r nicht neu, Jahn konnte sich auf die Revisionisten und GutsMuths berufen. Doch er hat eine Volksbewegung daraus gemacht und mit seinem Geist das Wesen des Turnens bis zum Beginn der modernen, unter anderen Zeichen stehenden Massensportbewegung bestimmt. Bei beiden, bei Jahn noch mehr als bei Arndt, ist die liberale Vaterlandsliebe durchsetzt mit Chauvinismus und Teutomanie. Nicht von ungefähr sind sie von A. Bäumler, K . Bungardt und anderen nationalsozialistischen Pädagogen verherrlicht, in mancher Beziehung allerdings auch entstellt worden, so daß es unserer Zeit besonders schwerfällt, sie gerecht zu beurteilen. Erinnert sei an den Satz von Arndt aus „Germanien und Europa", den F. W . Foerster hervorgehoben, wenngleich entstellt zitiert h a t : „es müßte ein großes Tyrannen-und Feldherrngenie auf-

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Anmerkungen zu Seite 89—92 stehen, welches erobernd und verderbend die Deutschen zu einer Masse zusammenarbeitete", Altona 1803, S. 421. 54) F. I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus, Jena 1808. 55) Fellenberg hat in seinem Erziehungsstaat sozialpädagogische Grundsätze zu verwirklichen und durch einen nationalethischen Geschichtsunterricht zu unterstützen gesucht, war selbst auch leidenschaftlich politisch interessiert (Sein umfangreicher Nachlaß hat endlich eine vorzügliche Bearbeitung erfahren durch K . Guggisberg, Ph. E. v. Fellenberg und sein Erziehungsstaat, 2 Bde., Bern 1953, s. bes. I, 4250. und II, 2150.). Von P. Girard gehört hierher die Schrift Projet d'6ducation publique pour la Repüblique helv6tique, Polit. Jahrbuch d. Schweiz. Eidgenossenschaft, Bern 1799. Ph. A. Stapfer leitete in der Zeit der Helvetik das Ministerium der Künste und Wissenschaften und plante ein Schweizerisches Schulgesetz und eine Nationalerziehung unter Mitwirkung Pestalozzis. Bonstettens gedankenreiche Abhandlung „Über Nationalbildung" (Zürich 1802) wurde auch in Süddeutschland viel gelesen. Sie macht Vorschläge für eine ständisch zu festigende Gesellschaft, der sie erzieherisch zu einem überständischen Gemeingeist verhelfen will. Die Regierungs- und Erziehungsformen Englands (und Dänemarks) geben das Vorbild (s. bes. S. 168f., 34, 201 ff.). 56) Vgl. Hans Barth, Pestalozzis Philosophie der Politik, Erlenbach-Zürich 1954, S. 24 ff. (Dazu die Rezension von E. Spranger in Schweiz. Monatshefte 34. Jg. H. 11, Febr. 1955). Zum folgenden: E. Spranger, Pestalozzis „Nachforschungen", eine Analyse, Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Berlin 1935; Th. Litt, Der lebendige Pestalozzi, drei sozialpädagogische Besinnungen, Heidelberg 1952; A. Reble, Pestalozzis Menschenbild und die Gegenwart, Stuttgart 1952; W. Flitner, Pestalozzis Nationalpädagogik, eine Analyse der Schrift „An die Unschuld usw." (1815), Zs. Die Erziehung Jg. XII/9, 1937· 57) J a 0