Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre [Reprint 2021 ed.]
 9783112448984, 9783112448977

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Die großen Probleme in der

Geschichte der Hirnlehre Akademische

Antrittsvorlesung von

Dr. med. Döllken Professor an der Universität Leipzig

Leipzig V e r l a g von V e i t & Comp. 1911

Druck yon Metzger & Wittig in Leipzig

W a s ist uns ein Problem? Die Aufgabe, die uns nach dem heutigen Stande der Wissenschaft wichtig, der Lösung wert erscheint. In der Seelenlehre gibt es aber ein Problem, das über Ort und Zeit hinaus bis heute Lebenskraft hat, die Frage nach dem Wesen der Seele. Unendliche Arbeit, unendliche Mühe, zahllose Methoden wurden aufgeboten seit Jahrtausenden. Aus dem einen Vorwurf sind viele geworden, manche gelöst, mehr noch ungelöst, viel mehr ist noch zu leisten, als entschieden ist. Von den frühesten Zeit an haben Orient und Okzident die Betrachtung der p s y c h i s c h e n E r s c h e i n u n g e n im Menschen auf einer ganz verschiedenen Basis aufgebaut. Alle o r i e n t a l i s c h e n Völker behandelten von jeher die psychischen Erscheinungen rein p h ä n o m e n o l o g i s c h , ohne sich um ihre m a t e r i e l l e Grundlage wesentlich zu kümmern. Nur hin und wieder wird betont, daß bei psychischen Prozessen das Herz beteiligt ist. Einen wirklichen Lokalisationsversuch kann ich darin nicht erblicken. Fast verwunderlich ist es, daß nicht einmal im alten Ägypten, wo scheinbar durch die Einbalsamierung der Leichen die Vorbedingungen für die Kenntnis des menschlichen und tierischen Körpers günstig lagen, Rudimente einer Hirnanatomie und Hirnphysiologie zu finden sind. Anders die a b e n d l ä n d i s c h e n Völkerrassen. Sowie die Griechen anfingen, sich mit der Lehre von der Seele wissenschaftlich zu befassen, versuchten sie die m a t e r i e l l e n Grundlagen der psychischen Funktionen und ihren Sitz im Körper zu bestimmen. Diese sehr verschiedenartige Betrachtungsweise psychischer Vorgänge finden wir in der ganzen Folgezeit weiter, wo nicht etwa zufällig starke Einflüsse aus dem anderen Kreise modifizierend einwirkten. Die interessantesten Repräsentanten beider Richtungen aus späterer Zeit, im 17. Jahrhundert, die sogar im regen persönlichen Verkehr gestanden haben und ganz rein den orientalischen und den okzidentalischen Typus vertreten, sind S p i n o z a und D e s c a r t e s , der eine Jude, der andere Romane. l*

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Sehen wir uns genauer an, was in sehr entlegenen' Zeiten geschrieben ist, drängt sich zuerst die Frage auf: Können wir die Alten verstehen, vermögen wir überhaupt ihren Gedankengängen zu folgen? Wenn heute der introspektive Philosoph und der Mediziner oder Biologe ihre Ansicht über die Seele austauschen, so werden sie größtenteils aneinander vorbeireden. Die Grundlagen und Voraussetzungen des einen sind nicht die des andern. Ich brauche nur auf den Streit um H a e e k e l und sein Werk hinzuweisen, um gleich das treffende moderne Beispiel dafür zu bringen. Wie sollte es da möglich sein, uns in die primitivere und ganz anders geartete Sprache vergangener Jahrtausende zu versetzen, das auszudenken, was für jene Forscher selbstverständliche Voraussetzung gewesen ist und gar einzudringen in die für die Seelenlehre unendlich wichtige, aber uns absolut verschlossene Gefühlswelt der Alten? Was wir an Dokumenten aus alten Zeiten haben, besitzen wir nur als historische Notiz. Wir können es uns n ä h e r b r i n g e n und müssen es d e u t e n . Dieser Satz kann gar nicht oft genug betont werden. Wie aber sollen wir es deuten, wenn wir das größte und bedeutendste Problem der Biologie, die Deszendenztheorie, schon in der Seelenwanderungslehre der Inder und der Ägypter finden? Die alten Ägypter kennen die stufenweise Entwicklung der Seele, die vom niedersten Tier ihren Ursprung nimmt und ihre Vollendung im Menschen findet. Dürfen wir da von einer nur dichterischen Phantasie reden, weil unsere heutigen, auch noch nicht ganz vollständigen Beweise, für u n s einleuchtender und besser sind als die ihrigen? Vergessen wir doch nicht, daß ein Teil u n s e r e r Beweismittel auch noch einzelne dogmatische Grundlagen hat, die rein gefühlsmäßig erfaßt werden müssen und daß die Dogmen nicht einmal für alle modernen B i o l o g e n positiven Gefühlswert haben. Betrachten wir die älteste g r i e c h i s c h e Seelenlehre, so spricht sie uns sehr viel leichter an als die orientalische. In die Gedankenwelt und Betrachtungsweise der uns stammverwandten Griechen des Altertums können wir uns einigermaßen hineinarbeiten. In ihre Gefühlswelt aber auch nicht trotz aller überlieferter Poesie und trotz unserer humanistischen Bildung. So muß uns auch von ihren Problemen manches dunkel und unzugängig bleiben. Mit den Griechen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts beginnt eine Hirnlehre im engeren Sinne des Wortes. Ihre Genese können wir nicht mehr verfolgen. Nur ein Teil der Schriften besonders

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bedeutsamer Forscher und eine Reihe von Zitaten über andere sind uns erhalten geblieben. Das aber können wir feststellen, schon im griechischen Altertum sind die m e i s t e n w i c h t i g e n P r o b l e m e der H i r n l e h r e scharf und klar herausgearbeitet, Probleme, die auch uns zum Teil noch als solche beschäftigen und die noch ihrer Lösung harren. Nicht alles, was zu irgend einer Zeit großes Problem war, hat seine Wertigkeit für immer behalten können. Der Fortschritt spricht ein machtvolles Wort und wissenschaftliche Zeitströmungen bringen Modeprobleme. In allen Zeiten biologischer Wissenschaft ist das der Gang des Fortschritts. Überragende Geister stellen auf deduktivem oder höchstens auf induktiv deduktivem Wege Sätze auf, die zwar aus der Zeit geboren, doch ihr weit vorauseilen, vorläufig nichts als Postulate sind, und der Beweise harren. Auf der anderen Seite nimmt die Technik ihren ruhigen Fortgang, häuft großes Material an und schafft damit die notwendigen Grundlagen für die Einsicht und Erkenntnis kommender Zeiten. Diese induktive Methode bleibt für die Naturforschung der wichtigste Teil. Wenn auch der Sandkornarbeiter, der Einzelheiten exakt erforscht und Material sammelt, sehr selten selbst die richtige Verwertung dafür findet, seine Vorarbeiten sind notwendig für den kommenden Genius, der den weiten Blick hat, Tatsächliches und Geahntes in Einklang zu bringen weiß. Den empirischen Weg in der Hirnlehre hat vor dem Postulat B a c o s das Altertum betreten. Als er zu Beginn des Mittelalters verlassen wurde, folgte bald ein völliger Stillstand in unserer Wissenschaft. Auch die scharfsinnigsten Philosophen vermochten für lange Jahrhunderte keine neuen großen Gesichtspunkte zu bringen.

Lokalisationsproblcme. Gleich bei den ältesten griechischen Forschern tritt uns das Problem der Probleme entgegen. Wo im K ö r p e r ist der Sitz d e r Seele? A l k m a i o n von K r o t o n um 550 v. Chr. ist nicht der erste gewesen, der die Frage gestellt und beantwortet hat. Aber er war der e r s t e Mediziner und Philosoph, der auf Grund seiner a n a t o m i s c h e n Arbeiten (Tierzergliederungen) den Satz aufstellte, die Seele hat ihren Sitz im G e h i r n . Die Empfindungen gehen von den Sinnesorganen durch Kanäle zum Gehirn. „Das Gehirn ist der

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bedeutsamer Forscher und eine Reihe von Zitaten über andere sind uns erhalten geblieben. Das aber können wir feststellen, schon im griechischen Altertum sind die m e i s t e n w i c h t i g e n P r o b l e m e der H i r n l e h r e scharf und klar herausgearbeitet, Probleme, die auch uns zum Teil noch als solche beschäftigen und die noch ihrer Lösung harren. Nicht alles, was zu irgend einer Zeit großes Problem war, hat seine Wertigkeit für immer behalten können. Der Fortschritt spricht ein machtvolles Wort und wissenschaftliche Zeitströmungen bringen Modeprobleme. In allen Zeiten biologischer Wissenschaft ist das der Gang des Fortschritts. Überragende Geister stellen auf deduktivem oder höchstens auf induktiv deduktivem Wege Sätze auf, die zwar aus der Zeit geboren, doch ihr weit vorauseilen, vorläufig nichts als Postulate sind, und der Beweise harren. Auf der anderen Seite nimmt die Technik ihren ruhigen Fortgang, häuft großes Material an und schafft damit die notwendigen Grundlagen für die Einsicht und Erkenntnis kommender Zeiten. Diese induktive Methode bleibt für die Naturforschung der wichtigste Teil. Wenn auch der Sandkornarbeiter, der Einzelheiten exakt erforscht und Material sammelt, sehr selten selbst die richtige Verwertung dafür findet, seine Vorarbeiten sind notwendig für den kommenden Genius, der den weiten Blick hat, Tatsächliches und Geahntes in Einklang zu bringen weiß. Den empirischen Weg in der Hirnlehre hat vor dem Postulat B a c o s das Altertum betreten. Als er zu Beginn des Mittelalters verlassen wurde, folgte bald ein völliger Stillstand in unserer Wissenschaft. Auch die scharfsinnigsten Philosophen vermochten für lange Jahrhunderte keine neuen großen Gesichtspunkte zu bringen.

Lokalisationsproblcme. Gleich bei den ältesten griechischen Forschern tritt uns das Problem der Probleme entgegen. Wo im K ö r p e r ist der Sitz d e r Seele? A l k m a i o n von K r o t o n um 550 v. Chr. ist nicht der erste gewesen, der die Frage gestellt und beantwortet hat. Aber er war der e r s t e Mediziner und Philosoph, der auf Grund seiner a n a t o m i s c h e n Arbeiten (Tierzergliederungen) den Satz aufstellte, die Seele hat ihren Sitz im G e h i r n . Die Empfindungen gehen von den Sinnesorganen durch Kanäle zum Gehirn. „Das Gehirn ist der

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Herr des Ganzen, dem die Kraft des Denkens ^ anvertraut ist." A l k i n a i o n trennt scharf die bewußten Empfindungen {ulad-avia&ai) von der Intelligenz (cpoovtiv Denken). Damit ahnt er das größte Problem u n s e r e r Zeit voraus, die Lehre von den Sinneszentren und den Denkzentren im Gehirn (Soury). Noch einmal taucht der Gedanke bei E r a s i s t r a t o s auf, dann schlummert er 2000 Jahre, bis F l e c h s i g ihn 1894 aus klaren anatomischen und physiologischen Grundlagen heraus zu einem wirklichen Leben gebracht hat. Daß Feuerteilchen die Seelensubstanz bilden, haben die Philosophen noch bis auf D e s c a r t e s behauptet. Schon vor A l k m a i o n und noch lange Zeit nachher hielt man daran fest, das Gehirn sei die Stätte der Zeugungsprodukte. Aber schon im Altertum wurde die Annahme durch ein falsches physiologisches Experiment so nachdrücklich widerlegt, daß sie dauernd verschwand. A n a x a g o r a s von K l a z o m e n a i um 500 v. Chr. hat wohl zuerst systematisch anatomische Studien am Gehirn versucht und die seitlichen Hirnhöhlen entdeckt.

Driisenproblem. Was der größte A r z t und H e i l k ü n s t l e r des Altertums H i p p o k r a t e s von K o s 460 (459) bis 377 v. Chr. über das Gehirn gelehrt hat, wissen wir leider nicht. Die Schriften der hippokratischen Schule, deren Entstehung mindestens ein Jahrhundert umfaßt, erklären in der Hauptsache das Gehirn für eine schwammige, kalte, klebrige Drüse, die den überschüssigen Schleim aus dem Körper sammelt und durch die Nase und den Eachen abfließen läßt. Nur ein späteres Buch der Sammlung (de morbo sacro) läßt die seelischen Funktionen im Gehirn wohnen und den Lebensgeist (Pneuma) vom Gehirn in den übrigen Körper gelangen. — Menschliche Gehirne in toto haben die Hippokratiker bestimmt nicht gesehen.

Probleme der Empfindungslosigkeit, der Temperaturregulierung, der Haarerzeugung, des Schlafes. Eine eigenartige Stellung in der Hirnlehre nimmt A r i s t o t e l e s von S t a g i r a 384—322 v. Chr. ein. Der Begründer der vergleichenden Anatomie, ein Forscher von einem ungewöhnlich umfassenden biologischen Wissen, kann nie selbst ein Säugergehirn gesehen haben. E r zuerst hat die Analogisierung der Organe im Tierreich durchgeführt und er zuerst verfällt in den Fehler, der im späteren Altertum

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Herr des Ganzen, dem die Kraft des Denkens ^ anvertraut ist." A l k i n a i o n trennt scharf die bewußten Empfindungen {ulad-avia&ai) von der Intelligenz (cpoovtiv Denken). Damit ahnt er das größte Problem u n s e r e r Zeit voraus, die Lehre von den Sinneszentren und den Denkzentren im Gehirn (Soury). Noch einmal taucht der Gedanke bei E r a s i s t r a t o s auf, dann schlummert er 2000 Jahre, bis F l e c h s i g ihn 1894 aus klaren anatomischen und physiologischen Grundlagen heraus zu einem wirklichen Leben gebracht hat. Daß Feuerteilchen die Seelensubstanz bilden, haben die Philosophen noch bis auf D e s c a r t e s behauptet. Schon vor A l k m a i o n und noch lange Zeit nachher hielt man daran fest, das Gehirn sei die Stätte der Zeugungsprodukte. Aber schon im Altertum wurde die Annahme durch ein falsches physiologisches Experiment so nachdrücklich widerlegt, daß sie dauernd verschwand. A n a x a g o r a s von K l a z o m e n a i um 500 v. Chr. hat wohl zuerst systematisch anatomische Studien am Gehirn versucht und die seitlichen Hirnhöhlen entdeckt.

Driisenproblem. Was der größte A r z t und H e i l k ü n s t l e r des Altertums H i p p o k r a t e s von K o s 460 (459) bis 377 v. Chr. über das Gehirn gelehrt hat, wissen wir leider nicht. Die Schriften der hippokratischen Schule, deren Entstehung mindestens ein Jahrhundert umfaßt, erklären in der Hauptsache das Gehirn für eine schwammige, kalte, klebrige Drüse, die den überschüssigen Schleim aus dem Körper sammelt und durch die Nase und den Eachen abfließen läßt. Nur ein späteres Buch der Sammlung (de morbo sacro) läßt die seelischen Funktionen im Gehirn wohnen und den Lebensgeist (Pneuma) vom Gehirn in den übrigen Körper gelangen. — Menschliche Gehirne in toto haben die Hippokratiker bestimmt nicht gesehen.

Probleme der Empfindungslosigkeit, der Temperaturregulierung, der Haarerzeugung, des Schlafes. Eine eigenartige Stellung in der Hirnlehre nimmt A r i s t o t e l e s von S t a g i r a 384—322 v. Chr. ein. Der Begründer der vergleichenden Anatomie, ein Forscher von einem ungewöhnlich umfassenden biologischen Wissen, kann nie selbst ein Säugergehirn gesehen haben. E r zuerst hat die Analogisierung der Organe im Tierreich durchgeführt und er zuerst verfällt in den Fehler, der im späteren Altertum

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Herr des Ganzen, dem die Kraft des Denkens ^ anvertraut ist." A l k i n a i o n trennt scharf die bewußten Empfindungen {ulad-avia&ai) von der Intelligenz (cpoovtiv Denken). Damit ahnt er das größte Problem u n s e r e r Zeit voraus, die Lehre von den Sinneszentren und den Denkzentren im Gehirn (Soury). Noch einmal taucht der Gedanke bei E r a s i s t r a t o s auf, dann schlummert er 2000 Jahre, bis F l e c h s i g ihn 1894 aus klaren anatomischen und physiologischen Grundlagen heraus zu einem wirklichen Leben gebracht hat. Daß Feuerteilchen die Seelensubstanz bilden, haben die Philosophen noch bis auf D e s c a r t e s behauptet. Schon vor A l k m a i o n und noch lange Zeit nachher hielt man daran fest, das Gehirn sei die Stätte der Zeugungsprodukte. Aber schon im Altertum wurde die Annahme durch ein falsches physiologisches Experiment so nachdrücklich widerlegt, daß sie dauernd verschwand. A n a x a g o r a s von K l a z o m e n a i um 500 v. Chr. hat wohl zuerst systematisch anatomische Studien am Gehirn versucht und die seitlichen Hirnhöhlen entdeckt.

Driisenproblem. Was der größte A r z t und H e i l k ü n s t l e r des Altertums H i p p o k r a t e s von K o s 460 (459) bis 377 v. Chr. über das Gehirn gelehrt hat, wissen wir leider nicht. Die Schriften der hippokratischen Schule, deren Entstehung mindestens ein Jahrhundert umfaßt, erklären in der Hauptsache das Gehirn für eine schwammige, kalte, klebrige Drüse, die den überschüssigen Schleim aus dem Körper sammelt und durch die Nase und den Eachen abfließen läßt. Nur ein späteres Buch der Sammlung (de morbo sacro) läßt die seelischen Funktionen im Gehirn wohnen und den Lebensgeist (Pneuma) vom Gehirn in den übrigen Körper gelangen. — Menschliche Gehirne in toto haben die Hippokratiker bestimmt nicht gesehen.

Probleme der Empfindungslosigkeit, der Temperaturregulierung, der Haarerzeugung, des Schlafes. Eine eigenartige Stellung in der Hirnlehre nimmt A r i s t o t e l e s von S t a g i r a 384—322 v. Chr. ein. Der Begründer der vergleichenden Anatomie, ein Forscher von einem ungewöhnlich umfassenden biologischen Wissen, kann nie selbst ein Säugergehirn gesehen haben. E r zuerst hat die Analogisierung der Organe im Tierreich durchgeführt und er zuerst verfällt in den Fehler, der im späteren Altertum

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noch so oft verhängnisvoll geworden ist. A r i s t o t e l e s überträgt das, was er an e i n e m Tier beobachtet hat, ohne weiteres auf das andere. E r schreibt daher dem m e n s c h l i c h e n Gehirn Formen zu, die er nur bei Fischen gesehen haben kann. Im übrigen folgt er der älteren Hippokratischen Lehre in der Drüsenlehre größtenteils. A r i s t o t e l e s ist L o k a l i s t . F ü r seine Seelenfunktionen des Begehrens, der Empfindung, der Bewegung sucht er den Sitz im Körper. Es ist leicht zu verstehen, daß ihm die bisherigen biologischen Beweise für die Lokalisation des Seelensitzes nicht genügen. Ein vielleicht eigner Fund, die Anästhesie der Hirnmasse, spricht ihm gegen das Gehirn. Nerven kennt er so wenig wie frühere Forscher. So trifft er ebenso zufällig im H e r z e n auf das falsche Organ, wie andere spekulativ auf das richtige Organ, das G e h i r n , gekommen sind. Nur für den Teil der Seele, den Geist, welcher dem Menschen allein eigentümlich ist, vermag er im Herzen kein Organ zu finden. Der Geist [vovg) ist ihm daher nicht an den Körper gebunden. Noch einen seltsamen Satz bringt A r i s t o t e l e s oder übernimmt ihn wohl aus der Populärphysiologie. H a a r e und G e h i r n stehen in enger Relation und wenn im Alter das Gehirn schrumpft, fallen die Haare aus. Die Lehre hat bis in das späte Mittelalter für sehr bedeutungsvoll gegolten. Glücklicher war er in zwei anderen Fragen. E r fand, daß das Gehirn gegen m e c h a n i s c h e R e i z u n g u n e m p f i n d l i c h ist. Die Tatsache ist in späteren Zeiten noch oft der Gegenstand experimenteller Nachprüfung gewesen. Der Physiologe A. v. H a l l e r und seine Schule im 18. Jahrhundert haben enorm viel Zeit und Arbeit darauf verwandt, den Satz des A r i s t o t e l e s zu beweisen. A r i s t o t e l e s schreibt dem Gehirn die Funktion der T e m p e r a t u r r e g u l i e r u n g des Körpers zu. Der Einfluß des Gehirns auf die Körpertemperatur steht uns seit langer Zeit zweifellos fest. Um so merkwürdiger ist es, daß die meisten neueren Autoren dem A r i s t o t e l e s für seine Behauptung einen ganz direkten Vorwurf machen. Allerdings lassen sich die antiken B e w e i s e nur mit dem Ausdruck grotesk bezeichnen. In dem glücklichen Zufallstreffer des A r i s t o t e l e s verbirgt sich aber ein wichtiges Problem, welches heute noch nicht angefangen hat, spruchreif zu werden, welches neben seiner lokalistischen noch eine ebenso wichtige weitere Basis hat. Auch der S c h l a f soll eine Funktion des Gehirns sein, da nur die Tiere schlafen, die ein Gehirn haben.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Das Problem der G e h i r n g r ö ß e , für den Mknn das größere Gehirn, für die F r a u ein kleineres, dürfte A r i s t o t e l e s aus der Kopfgröße abgeleitet haben. F ü r die Lage des Gehirns nimmt er nur den vorderen Teil des Schädels in Anspruch, ein Analogieschluß vom Fischgehirn hergenommen. Die chinesische Medizin übrigens lehrt genau dasselbe und bildet sogar ein solches Gebilde im Menschenkopf ab. An positiven anatomischen Entdeckungen hat A r i s t o t e l e s die des mittleren Hirnventrikels, der Lagebestimmung des Kleinhirns bei gewissen Tierklassen, der genauem Beschreibung des Chiasma nervorum opticorum gemacht. Überblicken wir, was in diesen ältesten Zeiten einer Hirnlehre an Wissenschaft vom Bau und Funktionen des Gehirns wirklich geleistet worden ist, so sehen wir das heiße Bemühen der Forscher, für bestimmte Erscheinungen des Lebens das Gehirn verantwortlich zu machen. Viel mehr aber noch drängt sich die Betrachtung auf, wie winzig schmal die Brücke ist, die bei ihnen von einer unendlich kleinen materiellen, biologischen Basis zu dem großen Gebäude der psychologischen Ideen führt. Und nicht einmal eine ununterbrochene Brücke ist es, ein großer Spalt klafft zwischen beiden Gebieten. Den meisten Forschern ist es gewiß nicht klar geworden, daß die wichtigsten Verbindungsglieder in ihrem Lehrgebäude fehlen und durch die Ü b e r z e u g u n g ersetzt werden müssen. Nur dem scharfsinnigen A r i s t o t e l e s ist der Mangel nicht entgangen. E r hat in seinen Büchern über die Seele versucht, den Sprung zu vermeiden und seinem (vovg) Geist, der nur dem Menschen eignet, eine unkörperliche Sonderstellung zu geben. Dürfen wir da noch die Orientalen den Griechen gegenüber nur Dichter und Phantasten nennen, weil sie nicht mit der unsichern materiellen Basis gearbeitet haben? Ein Mangel liegt jedoch darin, daß die Orientalen von vornherein darauf verzichten, von zwei Seiten ihre Probleme in Angriff zu nehmen. Es ist aber das große Verdienst der alten Griechen, den Anfang dazu gemacht zu haben.

Erstes morphologisches Problem. P r a x a g o r a s von K o s 340 v. Chr. tritt mit einem morphologischen Problem auf. E r bezeichnet das Gehirn als einen Auswuchs des Rückenmarks. Näheres wissen wir über seinen Satz nicht. Im

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Das Problem der G e h i r n g r ö ß e , für den Mknn das größere Gehirn, für die F r a u ein kleineres, dürfte A r i s t o t e l e s aus der Kopfgröße abgeleitet haben. F ü r die Lage des Gehirns nimmt er nur den vorderen Teil des Schädels in Anspruch, ein Analogieschluß vom Fischgehirn hergenommen. Die chinesische Medizin übrigens lehrt genau dasselbe und bildet sogar ein solches Gebilde im Menschenkopf ab. An positiven anatomischen Entdeckungen hat A r i s t o t e l e s die des mittleren Hirnventrikels, der Lagebestimmung des Kleinhirns bei gewissen Tierklassen, der genauem Beschreibung des Chiasma nervorum opticorum gemacht. Überblicken wir, was in diesen ältesten Zeiten einer Hirnlehre an Wissenschaft vom Bau und Funktionen des Gehirns wirklich geleistet worden ist, so sehen wir das heiße Bemühen der Forscher, für bestimmte Erscheinungen des Lebens das Gehirn verantwortlich zu machen. Viel mehr aber noch drängt sich die Betrachtung auf, wie winzig schmal die Brücke ist, die bei ihnen von einer unendlich kleinen materiellen, biologischen Basis zu dem großen Gebäude der psychologischen Ideen führt. Und nicht einmal eine ununterbrochene Brücke ist es, ein großer Spalt klafft zwischen beiden Gebieten. Den meisten Forschern ist es gewiß nicht klar geworden, daß die wichtigsten Verbindungsglieder in ihrem Lehrgebäude fehlen und durch die Ü b e r z e u g u n g ersetzt werden müssen. Nur dem scharfsinnigen A r i s t o t e l e s ist der Mangel nicht entgangen. E r hat in seinen Büchern über die Seele versucht, den Sprung zu vermeiden und seinem (vovg) Geist, der nur dem Menschen eignet, eine unkörperliche Sonderstellung zu geben. Dürfen wir da noch die Orientalen den Griechen gegenüber nur Dichter und Phantasten nennen, weil sie nicht mit der unsichern materiellen Basis gearbeitet haben? Ein Mangel liegt jedoch darin, daß die Orientalen von vornherein darauf verzichten, von zwei Seiten ihre Probleme in Angriff zu nehmen. Es ist aber das große Verdienst der alten Griechen, den Anfang dazu gemacht zu haben.

Erstes morphologisches Problem. P r a x a g o r a s von K o s 340 v. Chr. tritt mit einem morphologischen Problem auf. E r bezeichnet das Gehirn als einen Auswuchs des Rückenmarks. Näheres wissen wir über seinen Satz nicht. Im

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spätem Mittelalter wurde der Satz über die morphologische und physiologische Stellung des Rückenmarks sehr lange und sehr lebhaft erörtert. Eine Entscheidung ist erst vor 100 Jahren von G a l l angebahnt und die sichere Lösung noch viel später erreicht worden, daß nämlich das Rückenmark selbständige Eigenapparate besitzt und mit dem Gehirn durch zuleitende und ableitende Nervenbahnen verbunden ist.

Fortschritte der Technik.

Topische Lokalisation.

Bei allen frühen griechischen Forschern und ihren. Schulen war die empirische Grundlage dürftig und alle leitenden Gedanken waren ganz vorwiegend spekulativ erschlossen. Eine wirkliche anatomische Forschung, wie wir sie heute kennen, hat es in Griechenland nicht gegeben. Die religiöse und abergläubische Scheu vor der Zergliederung menschlicher Leichen war unüberwindlich. Gelegentliche Tierzergliederungen einzelner Forscher und chirurgische Erfahrungen in den zahlreichen Kriegen der Griechen genügten nicht zu einer auch nur einigermaßen eingehenden Kenntnis der anatomischen Verhältnisse bei Mensch oder Tier. Am schlechtesten mußte es naturgemäß um die Hirnanatomie bestellt sein. Die versteckte Lage im Schädel, der harte Knochen, das in dem heißen Lande rasch verderbende Gehirn waren schwer zu überwindende Widerstände, die einer gedeihlichen Arbeit und einem wissenschaftlichen Fortschritt sehr hinderlich sein mußten. Als die griechische Kultur durch A l e x a n d e r s Siegeszug über einen großen Teil der antiken Welt sich ausgebreitet hatte, fanden die biologischen Wissenschaften in Alexandria eine günstige Stätte. Grade für anatomische Studien lagen die Verhältnisse günstig. Das Königshaus der Ptolemäer mit seiner Vorliebe für die Wissenschaft bot Gelegenheit zu intensivem wie extensivem Arbeiten. Die vielfache Beschäftigung der Ägypter mit menschlichen und tierischen Leichen nahm der antiken Scheu vor toten menschlichen Körpern den Boden. So kommt die Anatomie in der glänzenden Frühepoche Alexandrias auf die Stufe einer w i r k l i c h e n W i s s e n s c h a f t . Zwar ist es nicht ganz sicher, daß H e r o p h i l o s von C h a l k e d o n geb. 300 v. Chr. m e n s c h l i c h e Gehirne seziert hat. Seine Schriften sind nicht erhalten. Die Alten aber, welche ihn zitieren, haben immer betont, daß er Anatomie am M e n s c h e n getrieben habe. Was uns von seinen zahlreichen, konkreten anatomischen

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spätem Mittelalter wurde der Satz über die morphologische und physiologische Stellung des Rückenmarks sehr lange und sehr lebhaft erörtert. Eine Entscheidung ist erst vor 100 Jahren von G a l l angebahnt und die sichere Lösung noch viel später erreicht worden, daß nämlich das Rückenmark selbständige Eigenapparate besitzt und mit dem Gehirn durch zuleitende und ableitende Nervenbahnen verbunden ist.

Fortschritte der Technik.

Topische Lokalisation.

Bei allen frühen griechischen Forschern und ihren. Schulen war die empirische Grundlage dürftig und alle leitenden Gedanken waren ganz vorwiegend spekulativ erschlossen. Eine wirkliche anatomische Forschung, wie wir sie heute kennen, hat es in Griechenland nicht gegeben. Die religiöse und abergläubische Scheu vor der Zergliederung menschlicher Leichen war unüberwindlich. Gelegentliche Tierzergliederungen einzelner Forscher und chirurgische Erfahrungen in den zahlreichen Kriegen der Griechen genügten nicht zu einer auch nur einigermaßen eingehenden Kenntnis der anatomischen Verhältnisse bei Mensch oder Tier. Am schlechtesten mußte es naturgemäß um die Hirnanatomie bestellt sein. Die versteckte Lage im Schädel, der harte Knochen, das in dem heißen Lande rasch verderbende Gehirn waren schwer zu überwindende Widerstände, die einer gedeihlichen Arbeit und einem wissenschaftlichen Fortschritt sehr hinderlich sein mußten. Als die griechische Kultur durch A l e x a n d e r s Siegeszug über einen großen Teil der antiken Welt sich ausgebreitet hatte, fanden die biologischen Wissenschaften in Alexandria eine günstige Stätte. Grade für anatomische Studien lagen die Verhältnisse günstig. Das Königshaus der Ptolemäer mit seiner Vorliebe für die Wissenschaft bot Gelegenheit zu intensivem wie extensivem Arbeiten. Die vielfache Beschäftigung der Ägypter mit menschlichen und tierischen Leichen nahm der antiken Scheu vor toten menschlichen Körpern den Boden. So kommt die Anatomie in der glänzenden Frühepoche Alexandrias auf die Stufe einer w i r k l i c h e n W i s s e n s c h a f t . Zwar ist es nicht ganz sicher, daß H e r o p h i l o s von C h a l k e d o n geb. 300 v. Chr. m e n s c h l i c h e Gehirne seziert hat. Seine Schriften sind nicht erhalten. Die Alten aber, welche ihn zitieren, haben immer betont, daß er Anatomie am M e n s c h e n getrieben habe. Was uns von seinen zahlreichen, konkreten anatomischen

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Die großen Probleme in der Geschichte der Himlehre.

Funden am Gehirn mitgeteilt wird, paßt allerdings nur auf Tierhirne. Er beschreibt richtig Hirnhäute, Blutleiter, das arterielle Wundernetz am Boden des Gehirns der Tiere, Adergeflechte, Hirnliöhlen, besonders die hintere Hirnhöhle, unterscheidet endlich die Nerven von den Sehnen. Da er — vielleicht auf Grund chirurgischer Erfahrungen — die K l e i n h i r n h ö h l e für das Wichtigste im Gehirn hält, sucht er in ihr den S e e l e n s i t z . So legt er den Grund zu dem bedeutendsten und h a r t n ä c k i g s t e n I r r t u m in der Geschichte der Hirnlehre. S ö m m e r r i n g hielt im Jahre 1800 noch daran fest, daß die Seele in Hirnhöhlen haust. Noch bedeutender als H e r o p h i l o s ist sein Zeitgenosse E r a s i s t r a t o s von J u l i s 330—250 v. Chr. Er kann nur zeitweilig in Alexandria geforscht haben, da er später am Seleukidenhof in Antiochia Arzt war. Die wichtigsten Entdeckungen über das Gehirn machte er erst gegen das Ende seines Lebens. Bereits zu G a l e n s Zeiten existierten seine Schriften nicht mehr vollständig und sind später ganz verloren gegangen. Nur aus zahlreichen Zitaten lernen wir ihn noch gut kennen. Er war sicher der größte Anatom des Altertums, nur bei ihm finden wir wirkliches anatomisches Denken. Höchstwahrscheinlich hat er m e n s c h l i c h e Gehirne gesehen und studiert. Er unterscheidet B e w e g u n g s - und E m p f i n d u n g s n e r v e n , die alle aus dem Gehirn entspringen sollen und kennt das N e r v e n mark. Auf die Verschiedenheiten im Bau des Großhirns und Kleinhirns macht er aufmerksam. Das Gehirn hat nach ihm v i e r z u s a m m e n h ä n g e n d e H ö h l e n . E r a s i s t r a t o s erkennt die Wichtigkeit der H i r n w i n d u n g e n und n e n n t den M e n s c h e n d a s int e l l i g e n t e s t e Wesen, weil ^er die m e i s t e n H i r n w i n d u n g e n habe. Dieses unendlich fruchtbare und weit ausschauende Problem ist nicht einmal als leise Unterströmung mit in die Zukunft gegangen. Es blieb isoliert und wurde vergessen, nachdem es G a l e n mit einigen spöttischen Worten abgetan hatte. Im 19. Jahrhundert mußte es ganz neu entdeckt werden und rückte sofort in die vorderste Linie. Klarer und prägnanter als die frühern bringt E r a s i s t r a t o s die Anschauung von den v e r s c h i e d e n e n F u n k t i o n e n des Gehirns zur Geltung. Das Gehirn ist das Z e n t r u m der S i n n e s e m p f i n d u n g e n und der A u s g a n g s p u n k t der K ö r p e r b e w e g u n g e n durch die Nerven. Außerdem ist es die Stätte der Intelligenz und der Seele. Auch nach E r a s i s t r a t o s wird das Pneuma im Herzen bereitet, steigt als Lebensgeist auf und wird im Gehirn in den Seelengeist

Die großen Probleme" in der Geschichte der Hirnlehre.

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umgewandelt. Den eigentlichen S e e l e n s i t z , das Seelenprinzip, verlegt er in die S u b s t a n z des K l e i n h i r n s . Bedauerlich bleibt es, daß E r a s i s t r a t o s noch mehr Arzt gewesen ist, als er Biologe war. Er ist Begründer einer bedeutenden ärztlichen Schule und hat ihr die Lehre gegeben: Die feineren physiologischen Verhältnisse im Körper sind für den Arzt wertloses Wissen. Der Satz ist ebenso falsch, wie er ein richtiges Moment enthält. Der reine Heilkünstler braucht natürlich keine feinere Physiologie. Wenn aber n u r Ä r z t e Biologen und Physiologen sind, so wird der Ausspruch völlig unsinnig. Die Erasistrateer aber haben die Worte ihres großen Meisters absolut genommen und nur wörtlich gedeutet. Sie sind Heilkünstler geworden und haben für die Biologie gar nichts geleistet. Den Begründer der experimentellen Hirnphysiologie A s k l e p i a d e s von P r u s a , geboren um 124 v. Chr., kennen wir nur aus unvollkommenen antiken Zitaten. Der Kirchenvater T e r t u l l i a n tadelt ihn heftig dafür, daß er aus Hirn- und Herzexperimenten an Tieren schließt, die menschliche Seele habe ihren Sitz weder im Herzen noch im Gehirn. A s k l e p i a d e s hatte beobachtet, daß manche Tiere nach Entfernung des Gehirns oder des Herzens noch kurze Zeit fortleben können. Natürlich ist der viel weiter gefaßte Seelenbegriff des A s k l e p i a d e s etwas ganz anderes als die anima des Tertullian, daher die Polemik im Grunde gegenstandslos. Fortschritte im Wissen vom Bau des Gehirns verdanken wir R u p h o s von E p h e s o s bald nach 100 n. Chr. und M a r i n o s , dem Lehrer Galens.

Yentilationsproblem. Ein Forscher aus der Zeit um Christi Geburt, dessen Name nicht überliefert ist, tritt mit einer Theorie auf, welche die Mönche im Mittelalter ganz intensiv beschäftigt hat. Die Z i r b e l d r ü s e , die beweglich der mittleren Hirnhöhle aufsitzt, wirkt wie ein S c h o r n s t e i n v e n t i l und gleichzeitig wie ein Kolben. Sie leitet das Pneuma aus der mittleren in die Kleinhirnhöhle und läßt die überflüssigen Lebensgeister nach oben entweichen, wenn sie sich in allzu bedrohlicher Menge in den Höhlen angesammelt haben.

Galenos. Nicht leicht ist es, der Bedeutung des G a l e n o s von P e r g a m o s , 130—201 n. Chr., für die Hirnlehre gerecht zu werden. Er war ein

Die großen Probleme" in der Geschichte der Hirnlehre.

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umgewandelt. Den eigentlichen S e e l e n s i t z , das Seelenprinzip, verlegt er in die S u b s t a n z des K l e i n h i r n s . Bedauerlich bleibt es, daß E r a s i s t r a t o s noch mehr Arzt gewesen ist, als er Biologe war. Er ist Begründer einer bedeutenden ärztlichen Schule und hat ihr die Lehre gegeben: Die feineren physiologischen Verhältnisse im Körper sind für den Arzt wertloses Wissen. Der Satz ist ebenso falsch, wie er ein richtiges Moment enthält. Der reine Heilkünstler braucht natürlich keine feinere Physiologie. Wenn aber n u r Ä r z t e Biologen und Physiologen sind, so wird der Ausspruch völlig unsinnig. Die Erasistrateer aber haben die Worte ihres großen Meisters absolut genommen und nur wörtlich gedeutet. Sie sind Heilkünstler geworden und haben für die Biologie gar nichts geleistet. Den Begründer der experimentellen Hirnphysiologie A s k l e p i a d e s von P r u s a , geboren um 124 v. Chr., kennen wir nur aus unvollkommenen antiken Zitaten. Der Kirchenvater T e r t u l l i a n tadelt ihn heftig dafür, daß er aus Hirn- und Herzexperimenten an Tieren schließt, die menschliche Seele habe ihren Sitz weder im Herzen noch im Gehirn. A s k l e p i a d e s hatte beobachtet, daß manche Tiere nach Entfernung des Gehirns oder des Herzens noch kurze Zeit fortleben können. Natürlich ist der viel weiter gefaßte Seelenbegriff des A s k l e p i a d e s etwas ganz anderes als die anima des Tertullian, daher die Polemik im Grunde gegenstandslos. Fortschritte im Wissen vom Bau des Gehirns verdanken wir R u p h o s von E p h e s o s bald nach 100 n. Chr. und M a r i n o s , dem Lehrer Galens.

Yentilationsproblem. Ein Forscher aus der Zeit um Christi Geburt, dessen Name nicht überliefert ist, tritt mit einer Theorie auf, welche die Mönche im Mittelalter ganz intensiv beschäftigt hat. Die Z i r b e l d r ü s e , die beweglich der mittleren Hirnhöhle aufsitzt, wirkt wie ein S c h o r n s t e i n v e n t i l und gleichzeitig wie ein Kolben. Sie leitet das Pneuma aus der mittleren in die Kleinhirnhöhle und läßt die überflüssigen Lebensgeister nach oben entweichen, wenn sie sich in allzu bedrohlicher Menge in den Höhlen angesammelt haben.

Galenos. Nicht leicht ist es, der Bedeutung des G a l e n o s von P e r g a m o s , 130—201 n. Chr., für die Hirnlehre gerecht zu werden. Er war ein

Die großen Probleme" in der Geschichte der Hirnlehre.

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umgewandelt. Den eigentlichen S e e l e n s i t z , das Seelenprinzip, verlegt er in die S u b s t a n z des K l e i n h i r n s . Bedauerlich bleibt es, daß E r a s i s t r a t o s noch mehr Arzt gewesen ist, als er Biologe war. Er ist Begründer einer bedeutenden ärztlichen Schule und hat ihr die Lehre gegeben: Die feineren physiologischen Verhältnisse im Körper sind für den Arzt wertloses Wissen. Der Satz ist ebenso falsch, wie er ein richtiges Moment enthält. Der reine Heilkünstler braucht natürlich keine feinere Physiologie. Wenn aber n u r Ä r z t e Biologen und Physiologen sind, so wird der Ausspruch völlig unsinnig. Die Erasistrateer aber haben die Worte ihres großen Meisters absolut genommen und nur wörtlich gedeutet. Sie sind Heilkünstler geworden und haben für die Biologie gar nichts geleistet. Den Begründer der experimentellen Hirnphysiologie A s k l e p i a d e s von P r u s a , geboren um 124 v. Chr., kennen wir nur aus unvollkommenen antiken Zitaten. Der Kirchenvater T e r t u l l i a n tadelt ihn heftig dafür, daß er aus Hirn- und Herzexperimenten an Tieren schließt, die menschliche Seele habe ihren Sitz weder im Herzen noch im Gehirn. A s k l e p i a d e s hatte beobachtet, daß manche Tiere nach Entfernung des Gehirns oder des Herzens noch kurze Zeit fortleben können. Natürlich ist der viel weiter gefaßte Seelenbegriff des A s k l e p i a d e s etwas ganz anderes als die anima des Tertullian, daher die Polemik im Grunde gegenstandslos. Fortschritte im Wissen vom Bau des Gehirns verdanken wir R u p h o s von E p h e s o s bald nach 100 n. Chr. und M a r i n o s , dem Lehrer Galens.

Yentilationsproblem. Ein Forscher aus der Zeit um Christi Geburt, dessen Name nicht überliefert ist, tritt mit einer Theorie auf, welche die Mönche im Mittelalter ganz intensiv beschäftigt hat. Die Z i r b e l d r ü s e , die beweglich der mittleren Hirnhöhle aufsitzt, wirkt wie ein S c h o r n s t e i n v e n t i l und gleichzeitig wie ein Kolben. Sie leitet das Pneuma aus der mittleren in die Kleinhirnhöhle und läßt die überflüssigen Lebensgeister nach oben entweichen, wenn sie sich in allzu bedrohlicher Menge in den Höhlen angesammelt haben.

Galenos. Nicht leicht ist es, der Bedeutung des G a l e n o s von P e r g a m o s , 130—201 n. Chr., für die Hirnlehre gerecht zu werden. Er war ein

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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Der Höhepunkt und das Ende der antiken Anatomie und Physiologie ist mit G a l e n erreicht. Eine empirische Basis für die Hirnlehre ist wenigstens in ihren Anfängen geschaffen. Werfen wir nun wieder die Frage auf, genügte jetzt die unvollkommene Kenntnis der äußeren Form des Gehirns und einiger physiologischer und pathologischer Daten, um die bestehende Hirnlehre zu rechtfertigen? Die meisten Theorien sind falsch, ihre Grundlagen völlig unzureichend. Auf wirklich induktivem Wege sind kaum Schlüsse gewonnen worden. Alles über die Lokalisation der Seele, der Intelligenz, des Sitzes der Empfindungen, der Pneumabereitung und Pneumawanderung, der Schleimsekretion usw. sind äußerst schwach und falsch gestützte aprioristische Behauptungen — also Phantasien — wenigstens für jene Zeit. Gewiß war manches eine glückliche Vorahnung und einigen der Vorahnungen verdanken wir den größten Fortschritt. Aus G a l e n o s weitschweifigen Schriften können wir sehen, daß ihm das Bewußtsein der mangelnden Kontinuität zwischen dem materiellen Substrat und seinen theoretischen Konstruktionen nie gekommen ist. Sein Dogma von der Zweckmäßigkeit aller Dinge, sein ausschließlich teleologisches Denken in den exakten Wissenschaften konnten ihm nirgends zeigen, daß er einen Sprung vom Forschungsergebnis zur Spekulation machen mußte.

Patristische Hirnanatomie. Hlrnliöhlentheorie. Topischc Lokalisation. Im Westen machten die nun bald einsetzenden großen Umwälzungen und Völkerverschiebungen eine Entwicklung der Wissenschaft für lange Jahrhunderte unmöglich. Im Osten absorbierten die heftigen religiösen Kämpfe das ganze Interesse. Da das Christentum als Heilsreligion im doppelten Sinne des Wortes begründet worden war, konnte die Stimmung der frühesten Christen der Medizin nicht von vornherein ungünstig sein. Wichtiger aber war das Interesse der christlichen Kirche an zwei medizinischen Fragen, nach einer Möglichkeit der Auferstehung des Fleisches und nach dem Seelensitz. Daher befassen sich schon die ältesten Kirchenväter mit Anatomie. Sie studieren eifrig die Schriften der alten Mediziner, kommentieren, kritisieren an der Hand ihres Dogmas und wählen aus, was dem Dogma nicht zu widersprechen scheint.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

T e r t u l l i a n 150—230 n. Chr. lehnt sich (in de anima) noch ganz ausgesprochen in Auffassung und Darstellung an die antike griechische Medizin an. Die Seele ist ihm noch körperlich, wohnt im Herzen und wird zugleich mit dem Körper erzeugt. F i r m i a n u s L a c t a n t i u s um 300 n. Chr. hält das Denken für eine Bewegung des G e i s t e s , den er im K o p f vermutet, während er nach der Bibel die S e e l e im H e r z e n sucht. E r betont scharf, daß das Tier keine Vernunft hat (animal irrationale), während der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen (animal rationale) ist. G r e g o r i u s von N y s s a 332—395 n. Chr. sieht in den H i r n h ä u t e n das wichtige Prinzip, da sie überall eindringen und sich auch auf das Rückenmark fortsetzen. E r erklärt, daß Dünste aus Herz und Leber, gemischt und entstanden aus Feuchtigkeit und Wärme, das Herz nähren. Eine noch feinere Subtilisation der Dünste tränkt die Hirnhäute. Einer besonderen Schätzung hat sich stets N e m e s i u s von E m e s a , geb. 340 n. Chr., zu erfreuen gehabt. Auf dem Gebiete der Biologie ist er wohl der gelehrteste und belesenste Kirchenvater. Bei ihm finden wir den naturwissenschaftlichen E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n in seiner weitesten Fassung ausgesprochen. Es gibt eine ununterbrochene Stufenreihe, die von den anorganischen Bildungen bis zum vollkommensten Lebewesen, dem Menschen, ansteigt. Auf dem Gebiete der theoretischen Hirnforschung ist N e m e s i u s nicht selbständig, wie früher vielfach angenommen wurde. E r läßt die Seele durch den unkörperlichen Seelengeist (Ilvsvfxa ipvxixöv) auf Bewegungen und Sinnesempfindungen einwirken. Die große Bedeutung des N e m e s i u s liegt in seiner H i r n h ö h l e n h y p o t h e s e . E r lokalisiert bestimmte Geisteskräfte und verlegt sie in die Ventrikel. D i e E i n b i l d u n g s k r a f t r e s i d i e r t in d e r v o r d e r e n , d i e V e r n u n f t in d e r m i t t l e r e n , d i e E r i n n e r u n g in d e r h i n t e r e n H i r n h ö h l e . Diese, in ihrer Fassung phantastische, Spekulation ist bis in die neueste Zeit eine unendlich beliebte gewesen und ist von Theologen und Medizinern immer wiederholt worden. Auch die ältesten schematischen Abbildungen des Gehirns führen als wichtigste Bezeichnung die drei Höhlenkräfte des N e m e s i u s . Der letzte Vertreter der Theorie war der große Anatom S ö m m e r r i n g 1800 n. Chr. N e m e s i u s geht auf ältere Quellen zurück. Bei G a l e n finden sich wenigstens Anklänge an eine Lokalisation der Seelenvermögen in der H i r n s u b s t a n z u n d V e n t r i k e l . Ob aber dem gelehrten Kirchenvater oder dem berühmten byzantinischen

Die großen Probleme iu der Geschichte der Hirnlehre.

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Nervenarzt P o s e i d o n i o s um 400 n. Chr. die feine topische Spekulation zuzuschreiben ist oder ob beide unabhängig voneinander denselben Gedanken gehabt haben, ist nicht zu entscheiden. Die Poseidoniosfrage bedarf dringend einer erneuten Bearbeitung.

Byzantinische Lehren. Die eifersüchtigen Schatzhüter antiker griechischer Kultur (Neuburger), die Byzantiner, vermochten eine Weiterentwicklung der Medizin nicht anzubahnen. Ihr historischer Sinn, ihre philologische Befähigung bewirkten, daß ihre Arzte mit Eifer und Verständnis die medizinische Literatur des Altertums sammelten, aber auch, daß ihnen der große S a m m l e r und K o m p i l a t o r und m i n d e r bed e u t e n d e F o r s c h e r G a l e n die größte medizinische Autorität wurde. In den langen Jahrhunderten byzantinischer Kultur finden wir trotz vielfacher Beschäftigung mit Psychologie seitens der Ärzte nur zweimal erwähnenswerte Probleme. Leider nur in einem kurzen Satz das eine bei dem kaiserlichen Leibarzt T h e o p h i l o s um 640 n. Chr.: Die Entwicklung des Gehirns und Rückenmarkes bedingt Form und Gestalt der einhüllenden Knochen, nämlich des Schädels und der Wirbelsäule. T h e o p h i l o s fügt als captatio benevolentiae die in der antiken Literatur beliebte Phrase hinzu, das wissen alle gebildeten Arzte. Das Problem ist erst um 1800 von Gall wieder aufgenommen worden und hat später große Wichtigkeit in der verg l e i c h e n d e n Hirnanatomie erlangt. I o a n n e s A k t u a r i o s , der letzte byzantinische Arzt zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ärztlich, philosophisch und literarisch gleich ausgezeichnet geschult, spricht mit einiger Bestimmtheit den Gedanken aus, daß die Funktionen der Sinnesnerven im Großhirn lokalisiert sind. Im ganzen aber folgt er dem G a l e n o s und Nemesius. Von Byzanz kam die griechische Medizin über Syrien und Persien zu den Arabern, die eine riesige Übersetzertätigkeit entfalteten. Zu einem originalen Gedanken über Hirn und Seele haben sie es nicht gebracht.

Abendländische Medizin.

Hirnlehre Gralenos'.

Als irii Abendlande die politischen Verhältnisse einigermaßen gefestigt waren, begannen auch wissenschaftliche Neigungen wieder zu erwachen. In der Medizin und Psychologie knüpfen sie an die

Die großen Probleme iu der Geschichte der Hirnlehre.

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Nervenarzt P o s e i d o n i o s um 400 n. Chr. die feine topische Spekulation zuzuschreiben ist oder ob beide unabhängig voneinander denselben Gedanken gehabt haben, ist nicht zu entscheiden. Die Poseidoniosfrage bedarf dringend einer erneuten Bearbeitung.

Byzantinische Lehren. Die eifersüchtigen Schatzhüter antiker griechischer Kultur (Neuburger), die Byzantiner, vermochten eine Weiterentwicklung der Medizin nicht anzubahnen. Ihr historischer Sinn, ihre philologische Befähigung bewirkten, daß ihre Arzte mit Eifer und Verständnis die medizinische Literatur des Altertums sammelten, aber auch, daß ihnen der große S a m m l e r und K o m p i l a t o r und m i n d e r bed e u t e n d e F o r s c h e r G a l e n die größte medizinische Autorität wurde. In den langen Jahrhunderten byzantinischer Kultur finden wir trotz vielfacher Beschäftigung mit Psychologie seitens der Ärzte nur zweimal erwähnenswerte Probleme. Leider nur in einem kurzen Satz das eine bei dem kaiserlichen Leibarzt T h e o p h i l o s um 640 n. Chr.: Die Entwicklung des Gehirns und Rückenmarkes bedingt Form und Gestalt der einhüllenden Knochen, nämlich des Schädels und der Wirbelsäule. T h e o p h i l o s fügt als captatio benevolentiae die in der antiken Literatur beliebte Phrase hinzu, das wissen alle gebildeten Arzte. Das Problem ist erst um 1800 von Gall wieder aufgenommen worden und hat später große Wichtigkeit in der verg l e i c h e n d e n Hirnanatomie erlangt. I o a n n e s A k t u a r i o s , der letzte byzantinische Arzt zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ärztlich, philosophisch und literarisch gleich ausgezeichnet geschult, spricht mit einiger Bestimmtheit den Gedanken aus, daß die Funktionen der Sinnesnerven im Großhirn lokalisiert sind. Im ganzen aber folgt er dem G a l e n o s und Nemesius. Von Byzanz kam die griechische Medizin über Syrien und Persien zu den Arabern, die eine riesige Übersetzertätigkeit entfalteten. Zu einem originalen Gedanken über Hirn und Seele haben sie es nicht gebracht.

Abendländische Medizin.

Hirnlehre Gralenos'.

Als irii Abendlande die politischen Verhältnisse einigermaßen gefestigt waren, begannen auch wissenschaftliche Neigungen wieder zu erwachen. In der Medizin und Psychologie knüpfen sie an die

Die großen Probleme iu der Geschichte der Hirnlehre.

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Nervenarzt P o s e i d o n i o s um 400 n. Chr. die feine topische Spekulation zuzuschreiben ist oder ob beide unabhängig voneinander denselben Gedanken gehabt haben, ist nicht zu entscheiden. Die Poseidoniosfrage bedarf dringend einer erneuten Bearbeitung.

Byzantinische Lehren. Die eifersüchtigen Schatzhüter antiker griechischer Kultur (Neuburger), die Byzantiner, vermochten eine Weiterentwicklung der Medizin nicht anzubahnen. Ihr historischer Sinn, ihre philologische Befähigung bewirkten, daß ihre Arzte mit Eifer und Verständnis die medizinische Literatur des Altertums sammelten, aber auch, daß ihnen der große S a m m l e r und K o m p i l a t o r und m i n d e r bed e u t e n d e F o r s c h e r G a l e n die größte medizinische Autorität wurde. In den langen Jahrhunderten byzantinischer Kultur finden wir trotz vielfacher Beschäftigung mit Psychologie seitens der Ärzte nur zweimal erwähnenswerte Probleme. Leider nur in einem kurzen Satz das eine bei dem kaiserlichen Leibarzt T h e o p h i l o s um 640 n. Chr.: Die Entwicklung des Gehirns und Rückenmarkes bedingt Form und Gestalt der einhüllenden Knochen, nämlich des Schädels und der Wirbelsäule. T h e o p h i l o s fügt als captatio benevolentiae die in der antiken Literatur beliebte Phrase hinzu, das wissen alle gebildeten Arzte. Das Problem ist erst um 1800 von Gall wieder aufgenommen worden und hat später große Wichtigkeit in der verg l e i c h e n d e n Hirnanatomie erlangt. I o a n n e s A k t u a r i o s , der letzte byzantinische Arzt zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ärztlich, philosophisch und literarisch gleich ausgezeichnet geschult, spricht mit einiger Bestimmtheit den Gedanken aus, daß die Funktionen der Sinnesnerven im Großhirn lokalisiert sind. Im ganzen aber folgt er dem G a l e n o s und Nemesius. Von Byzanz kam die griechische Medizin über Syrien und Persien zu den Arabern, die eine riesige Übersetzertätigkeit entfalteten. Zu einem originalen Gedanken über Hirn und Seele haben sie es nicht gebracht.

Abendländische Medizin.

Hirnlehre Gralenos'.

Als irii Abendlande die politischen Verhältnisse einigermaßen gefestigt waren, begannen auch wissenschaftliche Neigungen wieder zu erwachen. In der Medizin und Psychologie knüpfen sie an die

16 Antike an, aber nicht direkt, sondern auf dem Umwege über die Araber. Ihre Pflegstätte fand die Wissenschaft in den Klöstern. Der Mönch K o n s t a n t i n von K a r t h a g o (gest. 1087 n. Chr. in Monte Cassino) hatte große Wanderungen in Asien unternommen und ein bedeutendes literarisches Material von den Arabern mitgebracht. In der Ruhe seines Klosters entfaltete er eine rege Tätigkeit als Übersetzer. Er übertrug die in Italien ganz unbekannten Werke des G a l e n o s aus dem Arabischen in das Lateinische. Da er in seinen zahlreichen Übertragungen häufig den Verfasser der Schrift nicht nannte, wurde er von den späteren mönchischen Schriftstellern nicht selten als Autor galenischer Gedanken und Funde zitiert. Bei der Wichtigkeit der Psychologie für die christliche Kirche suchten die geistlichen Psychologen des Mittelalters auch eifrig nach exakten körperlichen Grundlagen für ihre Lehren. Der fromme G a l e n o s mit seinem ausschließlich teleologischen Denken stand naturgemäß ihrer Betrachtungsweise besonders nahe. So sehen wir wieder die Geistlichen als theoretische Anatomen und zwar als reine Galenisten. Das gilt nicht nur für das nächste Jahrhundert nach C o n s t a n t i n für A d e l a r d de B a t h , W i l h e l m von C o n c h e s , A l a n u s ab I n s u l i s , A l b e r t u s M a g n u s . Noch M e l a n c h t h o n schrieb 1550 ein Lehrbuch galenischer Anatomie für seine Studenten in drei verschiedenen Fassungen. J a selbst im 18. Jahrhundert tauchen noch ähnliche Werke auf. Inzwischen war auf der medizinischen Schule in S a l e r n o und den neu begründeten Universitäten die A n a t o m i e zu neuem Leben erwacht. An den Fortschritten der Anatomie, die im 14. und 15. Jahrhundert nur sehr allmählich eine praktische Kunst wurde, nahm das Gehirn, das Organ, welches sich am sprödesten gegen die anatomische Technik verhält, zuletzt und nur langsam teil. Bis a u f V e s a l 1514—1564 ist kein bemerkenswerter Fortschritt über G a l e n hinaus zu verzeichnen. E i n b e s o n d e r e s Verdienst hat der große niederdeutsche Anatom für die Hirnlehre. Er räumt endlich mit der kritiklosen Übertragung von anatomischen Funden am Tier auf menschliche Verhältnisse auf. „Das erste Studium für den Menschen ist der Mensch." So verdienstvoll und nötig damals die Worte waren, jene Zeit konnte nicht die nahe liegende Konsequenz ziehen, damit in das Studium

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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einer v e r g l e i c h e n d e n Anatomie einzutreten. In der allgemeinen Anatomie hat Vesal bahnbrechend gewirkt, die Hirnanatomie wenigstens um einige Funde bereichert. Interessant ist es, daß er eine physiologische Behauptung des G a l e n o s anatomisch widerlegte. Die Ballonhypothese (Ventilation) der hinteren Hirnhöhle ist falsch, weil der Kleinhirnwurm unbeweglich befestigt ist. Wie vor ihm schon B e r e n g a r wies er nach, daß der Mensch kein arterielles Wundernetz hat. Allmählich wurden die wichtigsten F o r m v e r h ä l t n i s s e des G e h i r n s besser studiert. Es war schon eine große Tat, wenn Varoli 1573 seine Sektionstechnik so weit fortbildete, daß er eine Gehirnbasis zur Anschauung bringen und zum Teil richtig beschreiben konnte. Er mußte wieder entdecken, daß das Kückenmark kein isoliertes Organ ist, sondern aus dem Gehirn und dem Kleinhirn entspringt. Sein Hauptverdienst besteht aber in seinem Nachweis, daß die Hirnhöhlen kein Pneuma, sondern eine Flüssigkeit führen. In den Adergeflechten der Ventrikel sah er den Beweis für eine D r ü s e n t ä t i g k e i t des Gehirns, ein Gedanke, der bis auf den heutigen Tag in den verschiedensten Modifikationen immer wieder geäußert wird. Weist doch wirklich nicht nur Art und Ausbildung der Adergeflechte bei niederen Tieren, sondern auch das physiologische Experiment am lebenden und überlebenden Organ zwingend darauf hin, daß in der Drüsentheorie des Gehirns ein großes Zukunftsproblem enthalten ist. Nicht allerdings in dem Sinne, daß es sich im Gehirn um eine einfach sezernierende Drüse und eine Abwässerleitung handelt. Das W i n d u n g s p r o b l e m ist Varoli nicht ganz aufgegangen. Es ist nach ihm in der Anlage der Windungen etwa dasselbe Prinzip wie für die Gedärme anzunehmen. Vor allen Dingen ermöglichen die Furchen zwischen den Windungen ein besseres Eindringen und eine größere Verbreitung der Blutgefäße und damit eine günstige Ernährung des Gehirns. Besondere Bewunderung und Anerkennung hat Varoli stets für seine Darlegungen über den Sitz der g e i s t i g e n T ä t i g k e i t gefunden. In seiner Zeit war er fast der einzige Gelehrte, der die Behauptung vom Seelensitz in den Hirnhöhlen für unsinnig erklärte. Die Seele ist ein unkörperliches, unorganisches Wesen. Sie braucht aber zur Wahrnehmung der Außenwelt ein materielles Substrat, welches die verschiedenen Sinnesempfindungen aufnimmt, umwandelt und dann als unkörperliche Symbole der unkörperlichen, nicht D ö l l k e n , Probleme.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlohrc.

lokalisierten Seele übermittelt. Das körperliche 'Substrat ist die Substanz des Gehirns, in der die Sinnesnerven endigen. Alles vage Spekulationen ohne den Versuch irgend eines exakten Nachweises. Bei B a r t h o l i n i in Kopenhagen 1611 sehe ich zuerst eine wirkliche v e r g l e i c h e n d anatomische Betrachtung. Bei Fischen ist das Rückenmark das Primäre und Wesentliche, das Gehirn aber nur seine Entwicklung und Fortsetzung. Natürlich glaubt er den Befund ohne weiteres auf den Menschen übertragen zu können. Die Körperbewegungen verlegt er in die Markstrahlung des Gehirns. Als Organ der Sinnesempfindungen aber sieht er die graue Hirnrinde an. So glänzend dieser Gedanke später gerechtfertigt worden ist, die Zeitgenossen hatten recht, wenn sie ihn, beweislos wie er damals war, als Aperçu, als literarische Kuriosität angesehen haben. Während der jüngere B a r t h o l i n i , der Entdecker der M a r k k ü g e l c h e n im Gehirn, ferner die Engländer H i g h m o r , G l i s s o n , W h a r t o n um 1650 mit geringem Erfolg die Drüsentheorie zu verteidigen suchen, bringen endlich H e l m o n t 1644 und S c h n e i d e r 1660 mit ausreichenden Gründen aus der Anatomie und Pathologie die Ansicht von der Schleimabsonderung des Gehirns definitiv zu Fall. Als M a l p i g h i 1665 mit dem eben erfundenen Mikroskop das Gehirn — meist fixiert (in gekochtem Zustande) — untersuchte, konnte er zwar Fasern in der weißen Substanz entdecken. In der g r a u e n S u b s t a n z glaubte er aber lauter k l e i n e D r ü s e n zu sehen, deren A u s f ü h r u n g s g ä n g e die h o h l e n M a r k f a s e r n seien. Nichts als Irrtümer — außer den Fasern. Hier haben wir den ältesten Beweis, daß das Mikroskop ein gefährliches Werkzeug für den Voreingenommenen ist. M a l p i g h i sah, was er sich vorher dachte. Ruyscli in Amsterdam bekämpfte die Theorie. Er hat sich einen Weltruf durch seine Gefäßinjektionspräparate erworben. Da er in der sehr gefäßreichen Hirnrinde ein ungemein dichtes Gefäßnetz sah, kam er auf den Gedanken, es sei dort für andere Körperbestandteile kein Platz mehr, die Rinde bestehe nur aus Gefäßschlingen. Der letzte wichtige Vertreter einer Drüsentheorie war V e r h e y e n 1718. Er stellte den Satz auf, daß die H i r n d r ü s e n ähnlich wie die N i e r e n eine F l ü s s i g k e i t a u s s c h e i d e n und diese Flüssigkeit ist der T r ä g e r des Geistes. Der unsinnige Vergleich war der Tod für die Drüsenlehre. Kein Gegner ließ sich die Gelegenheit

19 entgehen, das Lächerliche in der Idee gebührend hervorzuheben und zu betonen, daß der Hirnurin wohl kaum die Quelle höchsten Denkens sein könne.

Dcscartes. Der glänzende Abschluß einer alten Zeit und der große Verkünder einer neuen Ära der Hirnlehre ist der Philosoph D e s c a r t e s 1596—1650. Der Jesuitenzögling von L a Flèche verleugnet nirgends, auch nicht in den anatomischen Schriften, seine ausgezeichnete scholastische Bildung. Nicht jedoch in erstarrten Formen, überall ist D e s c a r t e s Reformator. Das Talent zu naturwissenschaftlicher Betrachtung fehlt ihm allerdings. Immer ist er Mathematiker und Philosoph, der in Wirklichkeit nur die deduktive Methode kennt. Sein eifriges Bestreben geht aber dahin, Voraussetzungen und Behauptungen durch empirische Forschungen zu stützen. Jahrelang hat er in Holland die Bücher aus seinem Hause verbannt und nur praktische anatomische, zumal hirnanatomische Studien getrieben. Auffallend ist, daß er selbst nirgendwo versucht, die Brücke zu schlagen zwischen seinen m a t e r i e l l e n G r u n d l a g e n und s e i n e m p s y c h o l o g i s c h e m L e h r g e b ä u d e . Ihm muß also völlig bewußt gewesen sein, daß es zwischen beiden eine d i r e k t e Verbindung nicht gab. So zog er mathematische und mechanische Beweise vor. In D e s c a r t e s erblicke ich die subtilste Vereinigung von der a l t e n L o k a l i s a t i o n s i d e e der nebelhaften Gemeinseele mit dem n e u e n , bei ihm noch nicht ausgebauten P r i n z i p e i n e r L o k a l i s a t i o n der bewußten S i n n e s e i n d r ü c k e und ihrer V e r b i n d u n g e n . Die tote Zirbeltheorie erlebt eine eigentümliche Auferstehung. Für D e s c a r t e s ist der Geist denkende Natur, die Vorgänge der geistigen Natur sind Arten oder Modi des Denkens, der Körper ist ausgedehnte Natur, die Vorgänge der körperlichen Natur nur Arten der Ausdehnung, d. h. Bewegung (Kuno F i s c h e r ) . K ö r p e r und S e e l e können nur durch Bewegungen miteinander v e r b u n d e n sein. Dazu bedarf es eines b e w e g l i c h e n Organs und dieses Organ ist die Z i r b e l . Durch sie ist die Seele wahrhaft mit dem ganzen Körper verbunden. Hier s e t z t die S e e l e mit ihrer Wirksamkeit u n m i t t e l b a r ein. Die Zirbel ist in der Mitte des Gehirns zwischen der vorderen und hinteren Hirnhöhle beweglich aufgehängt. Die geringsten Bewegungen der Zirbel ändern den Lauf der Lebensgeister, die als Flamme im Herzen entstehen und umgekehrt, die 2*

19 entgehen, das Lächerliche in der Idee gebührend hervorzuheben und zu betonen, daß der Hirnurin wohl kaum die Quelle höchsten Denkens sein könne.

Dcscartes. Der glänzende Abschluß einer alten Zeit und der große Verkünder einer neuen Ära der Hirnlehre ist der Philosoph D e s c a r t e s 1596—1650. Der Jesuitenzögling von L a Flèche verleugnet nirgends, auch nicht in den anatomischen Schriften, seine ausgezeichnete scholastische Bildung. Nicht jedoch in erstarrten Formen, überall ist D e s c a r t e s Reformator. Das Talent zu naturwissenschaftlicher Betrachtung fehlt ihm allerdings. Immer ist er Mathematiker und Philosoph, der in Wirklichkeit nur die deduktive Methode kennt. Sein eifriges Bestreben geht aber dahin, Voraussetzungen und Behauptungen durch empirische Forschungen zu stützen. Jahrelang hat er in Holland die Bücher aus seinem Hause verbannt und nur praktische anatomische, zumal hirnanatomische Studien getrieben. Auffallend ist, daß er selbst nirgendwo versucht, die Brücke zu schlagen zwischen seinen m a t e r i e l l e n G r u n d l a g e n und s e i n e m p s y c h o l o g i s c h e m L e h r g e b ä u d e . Ihm muß also völlig bewußt gewesen sein, daß es zwischen beiden eine d i r e k t e Verbindung nicht gab. So zog er mathematische und mechanische Beweise vor. In D e s c a r t e s erblicke ich die subtilste Vereinigung von der a l t e n L o k a l i s a t i o n s i d e e der nebelhaften Gemeinseele mit dem n e u e n , bei ihm noch nicht ausgebauten P r i n z i p e i n e r L o k a l i s a t i o n der bewußten S i n n e s e i n d r ü c k e und ihrer V e r b i n d u n g e n . Die tote Zirbeltheorie erlebt eine eigentümliche Auferstehung. Für D e s c a r t e s ist der Geist denkende Natur, die Vorgänge der geistigen Natur sind Arten oder Modi des Denkens, der Körper ist ausgedehnte Natur, die Vorgänge der körperlichen Natur nur Arten der Ausdehnung, d. h. Bewegung (Kuno F i s c h e r ) . K ö r p e r und S e e l e können nur durch Bewegungen miteinander v e r b u n d e n sein. Dazu bedarf es eines b e w e g l i c h e n Organs und dieses Organ ist die Z i r b e l . Durch sie ist die Seele wahrhaft mit dem ganzen Körper verbunden. Hier s e t z t die S e e l e mit ihrer Wirksamkeit u n m i t t e l b a r ein. Die Zirbel ist in der Mitte des Gehirns zwischen der vorderen und hinteren Hirnhöhle beweglich aufgehängt. Die geringsten Bewegungen der Zirbel ändern den Lauf der Lebensgeister, die als Flamme im Herzen entstehen und umgekehrt, die 2*

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

geringste Änderung im Lauf der Geister beeinflußt die Bewegung der Zirbel. Da alle unsere Organe symmetrisch sind, erscheint die Zirbel als der geeignete Ort für die Vereinigung der zwiefachen Organeindrücke. Die Sinneseindrücke, durch die Lebensgeister bedingt, lokalisiert D e s c a r t e s an b e s t i m m t e n Stellen der Hirnobertläche, freilich nicht in der Einde, sondern in der Ventrikeloberfläche. Hier werden sie umgeschaltet und laufen in den N e r v e n r ö h r c h e n , die dadurch eine p l a s t i s c h e L a g e ä n d e r u n g (Biegung) erfahren, zur Z i r b e l , dem „ h a u p t s ä c h l i c h e n Sitz der S e e l e " , dem Teil, mit dem die Seele am engsten verbunden ist. Können wir zweifeln, daß D e s c a r t e s hier nach einem oberen, leitenden Prinzip im Gehirn für die Geistestätigkeit 1 sucht und damit zum Vorläufer aller späteren Assoziationstheorien wird? Somit hat auch er geholfen, das größte und wichtigste lokalistische Problem anzubahnen und trotz aller Irrtümer nicht den schlechtesten Ausgangspunkt geschaffen. Der starre Dualismus seiner Hypothese in einer Zeit, als der wissenschaftliche Dualismus im Absterben begriffen war, nahm seinem Lehrgebäude Lebenskraft und Überzeugungskraft. Dazu kam die erkennbare Haltlosigkeit der anatomisch-physiologischen Unterlagen. Der Kampf aber, den die wissenschaftliche Medizin gegen das großartige Spekulationsgebäude des französischen Denkers unternahm, hat der empirischen Forschung viel genützt. Interessant ist es, festzustellen, daß führende Mediziner, genau so spekulativ wie D e s c a r t e s , einfach den Seelensitz von der Zirbel in den Balken (Lancisi 1713) und als Gemeinsinn (sensorium commune) in die weiße Markmasse (centrum ovale) des Großhirns (Vieussens 1641 —1717) wandern ließen. Daß aber methodologischer Scharfsinn und mathematische Fähigkeiten auch ohne ausreichende materielle Unterlage fast bis ins einzelne richtige naturwissenschaftliche Tatsachen erschließen können, hat D e s c a r t e s durch die Entdeckung der Reflexe bewiesen. Er beschreibt die Einzelheiten des R e f l e x v o r g a n g e s genau und bildet dazu ein f ü n f z e l l i g e s R e f l e x o r g a n ab. Wenn die (ihm allerdings wesentliche) Zirbelverbindung weggelassen wird, ist sein Schema noch für unsere heutige Auffassung brauchbar. Der Vorgang bekam keinen kurzen, treffenden Namen und fand nur wenig 1

Es ist nicht selbständig, die Seele setzt an ihm an.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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Interesse bei den Physiologen. Die Engländer W h y t t 1751 und M a y o 1823 kamen durch ihre Experimente einer Lösung des Problems nahe. Aber erst M a r s h a l l H a l l 1833 und J o h a n n e s M ü l l e r 1833 konnten unabhängig voneinander O r d n u n g und K l a r h e i t in der R e f l e x f r a g e schaffen. In der Fassung J o h a n n e s M ü l l e r s hat die Lehre dauernde Geltung behalten. W e n n je die alte Weisheit Geltung hatte, daß die Berührung mit der Außenwelt, mit den zahllosen Sinneseindrücken, die den ganzen Tag auf uns eindringen, bewußt und unbewußt in uns verarbeitet und organisiert werden, uns eine neue Kombination oder Erfindung nahe legt ( T a i n e ) , gilt sie für die Formulierung der Reflexlehre. C h a r l e s B e l l hatte endlich 1811 die seit E r a s i s t r a t o s geahnte, später oft behauptete und wieder verworfene Existenz der sensibeln und motorischen Nervenfasern anatomisch und physiologisch für Rückenmark und verlängertes Mark einwandfrei erwiesen, v. B a e r , B u r d a c h , L e g a l l o i s , M a g e n d i e , prüften nach, fanden neue Momente, kamen aber nicht über Zweifel hinaus und konnten nicht differenzieren. Im ganzen war aber so enorm vorgearbeitet worden und andere waren der richtigen Lösung schon so nahe gekommen, daß es uns nicht merkwürdig erscheinen kann, wenn g l e i c h z e i t i g zwei scharfsinnige Forscher, voneinander u n b e e i n f l u ß t , die richtige scharfe F o r m u l i e r u n g der R e f l e x l e h r e gefunden haben. F ü r die moderne Nervenphysiologie ist die Reflexerscheinung das wichtigste A r b e i t s p r o b l e m mit einer schon deutlich erkennbaren Zukunftsentwicklung. E s hat bereits angefangen, dem Gehirn seine ausschließlich führende Stellung [yyafiovtxóv) wieder zu entreißen und anderen Teilen des Reflexbogens ebenfalls einen bestimmten, wesentlichen Anteil an psychischen Funktionen zuzuweisen.

Neuzeit. W i l l i s in O x f o r d 1622—1675 steht am Eingang einer neuen Zeit, die mit neuen Mitteln und neuen Forschungsmethoden eine wirkliche Hirnanatomie und Hirnphysiologie schuf. Durch eifrige Präparation von Tier- und Menschengehirnen erweiterte er die Kenntnis vom Bau des Organs. Ins Kleinhirn verlegte er den Sitz ür die automatischen Vorgänge und besonders für die vegetativen Funktionen des Körpers. Damit war das Kleinhirn als Zentrum für Atmung und Kreislauf der S i t z d e s L e b e n s im Gehirn. Auch

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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Interesse bei den Physiologen. Die Engländer W h y t t 1751 und M a y o 1823 kamen durch ihre Experimente einer Lösung des Problems nahe. Aber erst M a r s h a l l H a l l 1833 und J o h a n n e s M ü l l e r 1833 konnten unabhängig voneinander O r d n u n g und K l a r h e i t in der R e f l e x f r a g e schaffen. In der Fassung J o h a n n e s M ü l l e r s hat die Lehre dauernde Geltung behalten. W e n n je die alte Weisheit Geltung hatte, daß die Berührung mit der Außenwelt, mit den zahllosen Sinneseindrücken, die den ganzen Tag auf uns eindringen, bewußt und unbewußt in uns verarbeitet und organisiert werden, uns eine neue Kombination oder Erfindung nahe legt ( T a i n e ) , gilt sie für die Formulierung der Reflexlehre. C h a r l e s B e l l hatte endlich 1811 die seit E r a s i s t r a t o s geahnte, später oft behauptete und wieder verworfene Existenz der sensibeln und motorischen Nervenfasern anatomisch und physiologisch für Rückenmark und verlängertes Mark einwandfrei erwiesen, v. B a e r , B u r d a c h , L e g a l l o i s , M a g e n d i e , prüften nach, fanden neue Momente, kamen aber nicht über Zweifel hinaus und konnten nicht differenzieren. Im ganzen war aber so enorm vorgearbeitet worden und andere waren der richtigen Lösung schon so nahe gekommen, daß es uns nicht merkwürdig erscheinen kann, wenn g l e i c h z e i t i g zwei scharfsinnige Forscher, voneinander u n b e e i n f l u ß t , die richtige scharfe F o r m u l i e r u n g der R e f l e x l e h r e gefunden haben. F ü r die moderne Nervenphysiologie ist die Reflexerscheinung das wichtigste A r b e i t s p r o b l e m mit einer schon deutlich erkennbaren Zukunftsentwicklung. E s hat bereits angefangen, dem Gehirn seine ausschließlich führende Stellung [yyafiovtxóv) wieder zu entreißen und anderen Teilen des Reflexbogens ebenfalls einen bestimmten, wesentlichen Anteil an psychischen Funktionen zuzuweisen.

Neuzeit. W i l l i s in O x f o r d 1622—1675 steht am Eingang einer neuen Zeit, die mit neuen Mitteln und neuen Forschungsmethoden eine wirkliche Hirnanatomie und Hirnphysiologie schuf. Durch eifrige Präparation von Tier- und Menschengehirnen erweiterte er die Kenntnis vom Bau des Organs. Ins Kleinhirn verlegte er den Sitz ür die automatischen Vorgänge und besonders für die vegetativen Funktionen des Körpers. Damit war das Kleinhirn als Zentrum für Atmung und Kreislauf der S i t z d e s L e b e n s im Gehirn. Auch

22 eine einzelne u m s c h r i e b e n e F ä h i g k e i t sucht i l l i s im Gehirn, indem er ein Musikzentrum im Kleinhirn lokalisiert. Das ist der B e g i n n einer t o p i s c h e n L o k a l i s a t i o n komplexer psychischer Funktionen, dem Streitproblem des 19. Jahrhunderts. An dieser Stelle ist auch S t e n s o n 1638—-1686 zu erwähnen, der Kritiker und Verneiner. Er kennzeichnete mit Schärfe und Bestimmtheit die Spekulationen und Theorien des D e s c a r t e s und W i l l i s als das, was sie sind: Phantasien, denen ein realer Boden fehlt, von denen kein gangbarer Weg zu dem damals bekannten Tatsachenmaterial führt. Der Hinweis auf die empirische Methode und die präzise Formulierung der notwendig einzuschlagenden Bahnen muß uns Achtung vor dem Scharfsinn des Dänen einflößen. Selbst hat er nichts Positives für die Hirnlehre geschaffen. Daß er durch seine K r i t i k der Hirnphysiologie die Wege vorgezeichnet und bestimmend gewirkt hat, ist mehr als unwahrscheinlich, so oft auch die Behauptung aufgestellt und nachgebetet worden ist. Der ganze Entwicklungsgang der Hirnlehre des ausgehenden 17. Jahrhunderts führte auch ohne S t e n s o n naturgemäß auf anatomische Tatsachen und auf das Experiment.

Anatomische Probleme. Allmählich bildete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein rein anatomisches Problem heraus: eingehende Kenntnis der einzelnen Teile des Gehirns. Noch konnte jeder, der ein Skalpell in die Hand nahm und mit offenen Augen einen Schnitt durch das Organ machte, Neues entdecken. Aber die weiche, rasch verderbliche Hirnmasse stellte einem präparatorischen Vorgehen große Hindernisse in den Weg. Erst die Härtung des Gehirns durch Gefrierenlassen ( G e n n a r i 1782) und durch Weingeist und Salpetersäure (Vicq d ' A z y r 1786) ließ eine gründliche Durchforschung auch der inneren Teile des Gehirns zu, da nun bei der Präparation die gegenseitige Lage der Teile leidlich erhalten blieb. Die bedeutendsten Forscher und Künstler auf diesem Gebiet Vicq d ' A z y r und S ö m m e r r i n g 1778 legten ihre Funde in vorbildlichen, künstlerisch nie wieder erreichten Tafelwerken nieder. Um die Jahrhundertwende konnte man endlich nach langer Arbeit zahlloser Kräfte sagen, daß in den äußeren morphologischen Verhältnissen des Gehirns, soweit sie sich dem bloßen Auge darstellen, neue Entdeckungen nicht mehr zu machen waren.

22 eine einzelne u m s c h r i e b e n e F ä h i g k e i t sucht i l l i s im Gehirn, indem er ein Musikzentrum im Kleinhirn lokalisiert. Das ist der B e g i n n einer t o p i s c h e n L o k a l i s a t i o n komplexer psychischer Funktionen, dem Streitproblem des 19. Jahrhunderts. An dieser Stelle ist auch S t e n s o n 1638—-1686 zu erwähnen, der Kritiker und Verneiner. Er kennzeichnete mit Schärfe und Bestimmtheit die Spekulationen und Theorien des D e s c a r t e s und W i l l i s als das, was sie sind: Phantasien, denen ein realer Boden fehlt, von denen kein gangbarer Weg zu dem damals bekannten Tatsachenmaterial führt. Der Hinweis auf die empirische Methode und die präzise Formulierung der notwendig einzuschlagenden Bahnen muß uns Achtung vor dem Scharfsinn des Dänen einflößen. Selbst hat er nichts Positives für die Hirnlehre geschaffen. Daß er durch seine K r i t i k der Hirnphysiologie die Wege vorgezeichnet und bestimmend gewirkt hat, ist mehr als unwahrscheinlich, so oft auch die Behauptung aufgestellt und nachgebetet worden ist. Der ganze Entwicklungsgang der Hirnlehre des ausgehenden 17. Jahrhunderts führte auch ohne S t e n s o n naturgemäß auf anatomische Tatsachen und auf das Experiment.

Anatomische Probleme. Allmählich bildete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein rein anatomisches Problem heraus: eingehende Kenntnis der einzelnen Teile des Gehirns. Noch konnte jeder, der ein Skalpell in die Hand nahm und mit offenen Augen einen Schnitt durch das Organ machte, Neues entdecken. Aber die weiche, rasch verderbliche Hirnmasse stellte einem präparatorischen Vorgehen große Hindernisse in den Weg. Erst die Härtung des Gehirns durch Gefrierenlassen ( G e n n a r i 1782) und durch Weingeist und Salpetersäure (Vicq d ' A z y r 1786) ließ eine gründliche Durchforschung auch der inneren Teile des Gehirns zu, da nun bei der Präparation die gegenseitige Lage der Teile leidlich erhalten blieb. Die bedeutendsten Forscher und Künstler auf diesem Gebiet Vicq d ' A z y r und S ö m m e r r i n g 1778 legten ihre Funde in vorbildlichen, künstlerisch nie wieder erreichten Tafelwerken nieder. Um die Jahrhundertwende konnte man endlich nach langer Arbeit zahlloser Kräfte sagen, daß in den äußeren morphologischen Verhältnissen des Gehirns, soweit sie sich dem bloßen Auge darstellen, neue Entdeckungen nicht mehr zu machen waren.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Das Mikroskop.

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Nervenfaser und Nervenzelle.

Eine neue Ära begann erst mit einer neuen technischen Methode. Gall 1800 benutzte die eben erworbene Kenntnis von dem faserigen Bau der leitenden weißen Substanz des Gehirns, um mit großem Geschick und scharfem Blick manche Wege gewisser Nervenleitungen im Gehirn festzustellen. Aber die Methode, die immer nur Bruchstücke der Leitungsbahnen darstellte, ist nur eine Vorbereitung für die bald anschließende mikroskopische Erforschung der leitenden Hirn- und Rückenmarkbahnen. Bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte M a l p i g h i sich ohne Erfolg bemüht, an seinen in Ol gekochten Gehirnen mikroskopische Entdeckungen zu machen und andere nach ihm. Vielleicht hat L e e u w e n h o e k 1632—1723 bereits Nervenfasern gesehen und abgebildet. Sicher gelang es F o n t a n a im Jahre 1781 bei 700facher mikroskopischer Vergrößerung w i r k l i c h e N e r v e n f a s e r n — „Zylinder, die einfachen und ersten organischen Elemente der Nerven" — zu sehen. Es dauerte aber noch einige Zeit, bis E h r e n b e r g 1833 fand, daß das ganze Seelenorgan aus allerfeinsten Röhrchen zusammengesetzt ist und daß die graue Substanz aus G a n g l i e n zellen besteht. H a n n o v e r in K o p e n h a g e n machte dann 1840 die weittragende Entdeckung, daß ein d i r e k t e r Z u s a m m e n h a n g zwischen G a n g l i e n z e l l e und N e r v e n f a s e r besteht. Damit war ein großes Problem gelöst, der a n a t o m i s c h e N a c h w e i s von dem Z u s a m m e n h a n g des N e r v e n z e n t r u m s mit seinem E n d o r g a n an der K ö r p e r o b e r f l ä c h e . Doch bedurfte es noch großer Arbeit, bis die prinzipielle Lösung sich in Wirklichkeit umsetzen ließ. Daß H a n n o v e r den Zusammenhang wirklich g e s e h e n hat, ist mir wahrscheinlich. Sicher gesehen und abgebildet haben ihn H e l m holtz 1842 bei Wirbellosen, K ö l l i k e r 1844 in den Spinalganglien, R o b i n sowie R. W a g n e r 1847 im Rückenmark und Gehirn. Ein enormer Fortschritt war die Erfindung der lückenlosen Serien von Schnitten durch das Zentralnervensystem von S t i l l i n g 1842. Sie erst ermöglichte die eigentliche Kenntnis und Rekonstruktion der Innenarchitektonik. Größere Bedeutung noch gewann die M*ethode durch die K a r m i n t i n k t i o n G e r l a c h s 1858 und mehr noch durch die M a r k s c h e i d e n f ä r b u n g W e i g e r t s 1882—1885. Nun erst ließen sich F a s e r b a h n e n im Gehirn und Rückenmark auf weitere Strecken verfolgen. Um aber Anfang und Ende der Strecken festzustellen, war noch meist eine Ergänzung nötig. 1850 fand

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

T ü r k , daß Leitungsunterbrechung im Rückenmark bestimmte Faserbahnen im Rückenmark nach aufwärts bis zu bestimmten Endpunkten e n t a r t e n läßt. Der Grund dafür wird durch das Wallersche Gesetz 1852 ausgedrückt: Eine Nervenfaser (Achsenzylinder und Markscheide) degeneriert, wenn sie nicht mehr unter dem Einfluß ihrer Ursprungszelle steht und zwar für das ganze Gebiet, welches von der Zelle abgetrennt ist. Gerade die Anwendung der T ü r k schenMethode auf dem pathologisch anatomischen (zuerst F l e c h s i g , W e s t p h a l , v. S t r ü m p e l l ) und noch mehr auf dem experimentellen Gebiet (zuerst S i n g e r , S c h i e f f e r d e c k e r ) haben uns eine ausgedehnte Kenntnis der meisten F a s e r s y s t e m e des Zentralnervensystems, der isolierten nervösen Verbindungen zwischen korrespondierenden Ganglienzellkomplexen gebracht. Weder R. W a g n e r 1847, noch D e i t e r s 1865, noch G e r l a c h 1870 konnten die postulierte V e r b i n d u n g zwischen zwei N e r v e n zellen entdecken. Die Art dieser Verbindung ist bis heute ein wichtiges Zeitproblem geblieben. K o n t a k t oder d i r e k t e V e r b i n d u n g ist auch jetzt noch die Frage. Es gibt keinen Befund und keine Behauptung, die nicht von anderer Seite direkt bestritten würde. Der Kampf um die N e u r o n t h e o r i e ist noch nicht endgültig entschieden. Ein sehr wichtiges anderes Resultat haben dagegen die Einzelarbeiten auf dem Gebiet, es sind bereits mehrere Tausend, gebracht. Härtung, Fixation, Färbung, Imprägnation des Nervengewebes wurden enorm verfeinert. Die Metboden von Golgi seit 1873, A p a t h y 1887, R e t z i u s 1890, B e t h e 1895, R a m ó n y C a j a l 1901, B i e l schowsky 1902, Nissl 1892 gaben ungeahnte Aufschlüsse über die feinere und feinste Struktur der Nervenfasern und Nervenzellen, das wundervolle Fibrillenwerk und die Zellkörnung. Eine große Zahl glänzender Namen knüpft sich an die Durchforschung des mikroskopischen Hirnbaus, unendliche Arbeit und Mühe und Scharfsinn sind auf die Riesenarbeit verwandt worden, in dem noch manches Problem schlummert. Die Anatomie ist meist Grundlage und Ausgangspunkt der wichtigen Hirnprobleme gewesen. Ebenso wie die anatomische Entdeckung der motorischen und sensibeln Wurzeln des Rückenmarks durch Bell erst die Reflexlehre möglich machte, hat die Fibrillenlehre angefangen, uns ein Verständnis für die Wertigkeit der Ganglienzelle und der einzelnen Teile des Leitungsbogens wenigstens anzubahnen (Bethe 1897). Ob auch der F a k t o r Z e i t , den

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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y. M o n a k o w wieder in die Hirnlehre, vorläufig noch tastend und unbestimmt, hineinzutragen versucht, sich als Problem erweisen wird?

Vergleichend anatomische Probleme. Noch in frühen Stadien und in lebhaftem Fluß steht ein anderes Problem, die v e r g l e i c h e n d e H i r n l e h r e . Physiologisch und psychologisch auch jetzt noch nicht -über die Anfänge hinaus hat sie dagegen anatomisch größere Resultate aufzuweisen. Ihre Wurzeln reichen über A r i s t o t e l e s zurück. Gute äußere Formenbeschreibungen gaben C a r u s 1814, L e u r e t und G r a t i o l e t 1839—1857. Aber erst die mikroskopischen Arbeiten von S t i e d a 1869 beginnen das Hauptproblem vorzubereiten: Stufenfolge der Entwicklung des Gehirns in der Tierreihe und Stellung des menschlichen Gehirns. Später haben andere wie G e g e n b a u r 1870, S p i t z k a 1879, B u r k h a r d t 1894 klare Problemstellung schaffen und durch die Vergleichung der gröberen morphologischen Verhältnisse, wie durch Ergründung des feineren Baus viele wichtige Tatsachen verkündet. Besonders in der neuesten Zeit haben aber E d i n g e r seit 1883 und seine Schule durch ihre Untersuchungen zahlreiche Fragen aufwerfen und schon teilweise beantworten können. Zum V e r s t ä n d n i s der p h y l o g e n e t i s c h e n Entwicklung des Gehirns hat ganz besonders das Studium der O n t o g e n e s e beigetragen. Die Anfänge der Arbeiten auf dem entwicklungsgeschichtlichen Gebiet überhaupt gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert beginnt D ö l l i n g e r mit dem Studium der Entwicklung des Gehirns und bald ist gerade dieses Gebiet auf allerbreitester vergleichend anatomischer Basis von T i e d e m a n n , K ö l l i k e r , His, K u p f f e r erforscht worden. Dieselbe Wichtigkeit hat die Ontogenese des Gehirns noch für ein anderes Problem, für die Lokalisation, erhalten.

Nervenstrom. Nicht beantwortet werden kann bis jetzt das große Problem von der A r t der Nerventätigkeit. Die Vermutung der Alten von luftartigen oder feurigen Lebensgeistern, die in den Zentralorganen besondere Gestaltung annehmen, war haltlos. Die Sekretion und Zirkulation eines flüssigen Seelenprinzips in Gehirn und Nerven konnte nicht durch Beweise gestützt werden. Ebensowenig ließen sich die elektrischen Theorien H a u s e n s 1742, P r o c h a s k a s 1782 von Polarität zwischen den nervösen Massen und R e i l s 1808 von

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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y. M o n a k o w wieder in die Hirnlehre, vorläufig noch tastend und unbestimmt, hineinzutragen versucht, sich als Problem erweisen wird?

Vergleichend anatomische Probleme. Noch in frühen Stadien und in lebhaftem Fluß steht ein anderes Problem, die v e r g l e i c h e n d e H i r n l e h r e . Physiologisch und psychologisch auch jetzt noch nicht -über die Anfänge hinaus hat sie dagegen anatomisch größere Resultate aufzuweisen. Ihre Wurzeln reichen über A r i s t o t e l e s zurück. Gute äußere Formenbeschreibungen gaben C a r u s 1814, L e u r e t und G r a t i o l e t 1839—1857. Aber erst die mikroskopischen Arbeiten von S t i e d a 1869 beginnen das Hauptproblem vorzubereiten: Stufenfolge der Entwicklung des Gehirns in der Tierreihe und Stellung des menschlichen Gehirns. Später haben andere wie G e g e n b a u r 1870, S p i t z k a 1879, B u r k h a r d t 1894 klare Problemstellung schaffen und durch die Vergleichung der gröberen morphologischen Verhältnisse, wie durch Ergründung des feineren Baus viele wichtige Tatsachen verkündet. Besonders in der neuesten Zeit haben aber E d i n g e r seit 1883 und seine Schule durch ihre Untersuchungen zahlreiche Fragen aufwerfen und schon teilweise beantworten können. Zum V e r s t ä n d n i s der p h y l o g e n e t i s c h e n Entwicklung des Gehirns hat ganz besonders das Studium der O n t o g e n e s e beigetragen. Die Anfänge der Arbeiten auf dem entwicklungsgeschichtlichen Gebiet überhaupt gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert beginnt D ö l l i n g e r mit dem Studium der Entwicklung des Gehirns und bald ist gerade dieses Gebiet auf allerbreitester vergleichend anatomischer Basis von T i e d e m a n n , K ö l l i k e r , His, K u p f f e r erforscht worden. Dieselbe Wichtigkeit hat die Ontogenese des Gehirns noch für ein anderes Problem, für die Lokalisation, erhalten.

Nervenstrom. Nicht beantwortet werden kann bis jetzt das große Problem von der A r t der Nerventätigkeit. Die Vermutung der Alten von luftartigen oder feurigen Lebensgeistern, die in den Zentralorganen besondere Gestaltung annehmen, war haltlos. Die Sekretion und Zirkulation eines flüssigen Seelenprinzips in Gehirn und Nerven konnte nicht durch Beweise gestützt werden. Ebensowenig ließen sich die elektrischen Theorien H a u s e n s 1742, P r o c h a s k a s 1782 von Polarität zwischen den nervösen Massen und R e i l s 1808 von

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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y. M o n a k o w wieder in die Hirnlehre, vorläufig noch tastend und unbestimmt, hineinzutragen versucht, sich als Problem erweisen wird?

Vergleichend anatomische Probleme. Noch in frühen Stadien und in lebhaftem Fluß steht ein anderes Problem, die v e r g l e i c h e n d e H i r n l e h r e . Physiologisch und psychologisch auch jetzt noch nicht -über die Anfänge hinaus hat sie dagegen anatomisch größere Resultate aufzuweisen. Ihre Wurzeln reichen über A r i s t o t e l e s zurück. Gute äußere Formenbeschreibungen gaben C a r u s 1814, L e u r e t und G r a t i o l e t 1839—1857. Aber erst die mikroskopischen Arbeiten von S t i e d a 1869 beginnen das Hauptproblem vorzubereiten: Stufenfolge der Entwicklung des Gehirns in der Tierreihe und Stellung des menschlichen Gehirns. Später haben andere wie G e g e n b a u r 1870, S p i t z k a 1879, B u r k h a r d t 1894 klare Problemstellung schaffen und durch die Vergleichung der gröberen morphologischen Verhältnisse, wie durch Ergründung des feineren Baus viele wichtige Tatsachen verkündet. Besonders in der neuesten Zeit haben aber E d i n g e r seit 1883 und seine Schule durch ihre Untersuchungen zahlreiche Fragen aufwerfen und schon teilweise beantworten können. Zum V e r s t ä n d n i s der p h y l o g e n e t i s c h e n Entwicklung des Gehirns hat ganz besonders das Studium der O n t o g e n e s e beigetragen. Die Anfänge der Arbeiten auf dem entwicklungsgeschichtlichen Gebiet überhaupt gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert beginnt D ö l l i n g e r mit dem Studium der Entwicklung des Gehirns und bald ist gerade dieses Gebiet auf allerbreitester vergleichend anatomischer Basis von T i e d e m a n n , K ö l l i k e r , His, K u p f f e r erforscht worden. Dieselbe Wichtigkeit hat die Ontogenese des Gehirns noch für ein anderes Problem, für die Lokalisation, erhalten.

Nervenstrom. Nicht beantwortet werden kann bis jetzt das große Problem von der A r t der Nerventätigkeit. Die Vermutung der Alten von luftartigen oder feurigen Lebensgeistern, die in den Zentralorganen besondere Gestaltung annehmen, war haltlos. Die Sekretion und Zirkulation eines flüssigen Seelenprinzips in Gehirn und Nerven konnte nicht durch Beweise gestützt werden. Ebensowenig ließen sich die elektrischen Theorien H a u s e n s 1742, P r o c h a s k a s 1782 von Polarität zwischen den nervösen Massen und R e i l s 1808 von

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

den e l e k t r o m o t o r i s c h e n K r ä f t e n der g r a u e n und weißen S u b s t a n z nach Art einer galvanischen Säule halten. Als unrichtig erwies sich die spätere Anschauung, daß der elektrische Strom leitendes Prinzip in der Nervenfaser, seit Du B o i s - R e y m o n d 1843, sei. Nun stehen wir wieder am Anfang. Das Wesen der Reizleitung in Nervenzelle und Nervenfaser kennen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, ob das wirksame Prinzip in den Fibrillen der Nervenfaser oder in der Zwischensubstanz geleitet wird. Nur vermuten dürfen wir, daß der Nervenstrom eine Analogisierung mit dem elektrischen Strom zuläßt.

Lokalisationsprobleme.

Sitz des Lebens.

Seit W i l l i s beschäftigten sich die Physiologen intensiv mit der Frage nach dem Sitz des Lebens im Gehirn. Lebensprinzip und Seele waren zwar nicht mehr identisch wie bei den Alten. Es klang aber doch noch als leiser Unterton mit durch, daß an der Stelle des Gehirns, welche Trägerin des Lebens ist, besonders nahe Beziehungen zur Seele gesucht werden können. Die Anima vegetativa W i l l i s ' zeitigte das Kleinhirnexperiment. Mangelhafte Fragestellung und äußerst unvollkommene Technik zeigten den Experimentatoren, daß Verletzungen des Kleinhirns und des 4. Ventrikels tödlich, zuweilen momentan tödlich wirken. Die Versuche waren äußerst roh angestellt, ohne jede Rücksicht auf die großen Gefäße, die bei den Versuchen stets schwer verletzt wurden. Die Schlußfolgerung war: das Kleinhirn ist der Sitz des Lebens. Erst L o r r y gelang es 1760 mit besserer Technik nachzuweisen, daß weder dem Großhirn, noch dem Kleinhirn, noch dem Rückenmark, sondern einer u m s c h r i e b e n e n S t e l l e im v e r l ä n g e r t e n M a r k v i t a l e B e d e u t u n g zukommt. A r n e m a n n 1786, der den Befund bestätigte, erklärte endlich, daß die kolossalen Blutungen beim Kleinhirnexperiment den Tod verursacht hätten und nicht die Verletzung des Kleinhirns. Nicht die Bedeutung eines wichtigen Problems hat die Frage nach dem Z e n t r u m für A t m u n g und H e r z b e w e g u n g angenommen. A. v. H a l l e r wies die große S e l b s t ä n d i g k e i t der Atmung und der Herztätigkeit nach. Doch drängten die chirurgischen und physiologischen Erfahrungen darauf hin, daß sich im Zentralnervensystem eine Vertretung für die beiden Funktionen finden müsse. Es gelang dann L e g a l l o i s 1812, die entsprechenden Zentren im verlängerten Mark nachzuweisen.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

den e l e k t r o m o t o r i s c h e n K r ä f t e n der g r a u e n und weißen S u b s t a n z nach Art einer galvanischen Säule halten. Als unrichtig erwies sich die spätere Anschauung, daß der elektrische Strom leitendes Prinzip in der Nervenfaser, seit Du B o i s - R e y m o n d 1843, sei. Nun stehen wir wieder am Anfang. Das Wesen der Reizleitung in Nervenzelle und Nervenfaser kennen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, ob das wirksame Prinzip in den Fibrillen der Nervenfaser oder in der Zwischensubstanz geleitet wird. Nur vermuten dürfen wir, daß der Nervenstrom eine Analogisierung mit dem elektrischen Strom zuläßt.

Lokalisationsprobleme.

Sitz des Lebens.

Seit W i l l i s beschäftigten sich die Physiologen intensiv mit der Frage nach dem Sitz des Lebens im Gehirn. Lebensprinzip und Seele waren zwar nicht mehr identisch wie bei den Alten. Es klang aber doch noch als leiser Unterton mit durch, daß an der Stelle des Gehirns, welche Trägerin des Lebens ist, besonders nahe Beziehungen zur Seele gesucht werden können. Die Anima vegetativa W i l l i s ' zeitigte das Kleinhirnexperiment. Mangelhafte Fragestellung und äußerst unvollkommene Technik zeigten den Experimentatoren, daß Verletzungen des Kleinhirns und des 4. Ventrikels tödlich, zuweilen momentan tödlich wirken. Die Versuche waren äußerst roh angestellt, ohne jede Rücksicht auf die großen Gefäße, die bei den Versuchen stets schwer verletzt wurden. Die Schlußfolgerung war: das Kleinhirn ist der Sitz des Lebens. Erst L o r r y gelang es 1760 mit besserer Technik nachzuweisen, daß weder dem Großhirn, noch dem Kleinhirn, noch dem Rückenmark, sondern einer u m s c h r i e b e n e n S t e l l e im v e r l ä n g e r t e n M a r k v i t a l e B e d e u t u n g zukommt. A r n e m a n n 1786, der den Befund bestätigte, erklärte endlich, daß die kolossalen Blutungen beim Kleinhirnexperiment den Tod verursacht hätten und nicht die Verletzung des Kleinhirns. Nicht die Bedeutung eines wichtigen Problems hat die Frage nach dem Z e n t r u m für A t m u n g und H e r z b e w e g u n g angenommen. A. v. H a l l e r wies die große S e l b s t ä n d i g k e i t der Atmung und der Herztätigkeit nach. Doch drängten die chirurgischen und physiologischen Erfahrungen darauf hin, daß sich im Zentralnervensystem eine Vertretung für die beiden Funktionen finden müsse. Es gelang dann L e g a l l o i s 1812, die entsprechenden Zentren im verlängerten Mark nachzuweisen.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Bewegung des Gehirns.

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Sensibilität der Dura.

Zu einem großen Problem wuchs im 17. Jahrhundert die Frage nach der H i r n b e w e g u n g aus. G a l e n o s kannte die Pulsation des Gehirns als rhythmische Bewegung des Ventrikelpneumas. Im späteren Mittelalter beschrieben die Chirurgen und manche Anatomen die Pulsation des Gehirns oder der Hirnhäute, manche Anatomen leugneten sie. L a u r e n t i u s 1602 erklärte, daß kein Zweifel an der Hirnbewegung bestehen könne. Trotzdem fand sehr bald die Ansicht allgemeine Verbreitung, dem Gehirn gehe jede Beweglichkeit ab. Ein Zeichen, daß physiologische und klinische Beobachtungen nicht gemacht wurden, sondern alles, auch die e i n f a c h s t e n Beobachtungstatsachen, auf spekulativem Wege erledigt wurden. W i l l i s 1664 dekretierte: Cerebrum ipsum quidem motu caret. Nur die Dura, bewege sich bei Erbrechen und Krämpfen durch Zusammenziehen ihrer Fasern. Die seltsamste Theorie stellte P a c c h i o n i 1701 auf: Die Dura ist ein Muskel, der durch Einsenkung vier Hirnkammern bildet und gewissermaßen das Herz des Kopfes ist. Der Muskel treibt automatisch das Sekret der Rindenzellen in die Nervenröhren und läßt beim Erschlaffen das zur Bildung des Saftes nötige Blut ins Gehirn. Sehr bald darauf aber 1703 bewies das E x p e r i m e n t u m R i d l e i a n u m (Ridley), daß die H i r n s u b s t a n z s e l b s t auch nach Durchschneidung der Dura bewegt wird. Doch sah R i d l e y nur die von der Z i r k u l a t i o n abhängige Bewegung. S c h l i c h t i n g 1750 stellte auch die r e s p i r a t o r i s c h e n Bewegungen des Gehirns fest und leugnete die Muskeltätigkeit der Dura. Jedoch wurde eine endgültige Lösung der Frage erst durch A. v. H a l l e r gegeben. Nur durch die Autorität A. v. H a l l e r s 1757—66 wurde die Frage nach der S e n s i b i l i t ä t der D u r a ein viel bearbeitetes Z e i t p r o b l e m der Physiologie. Bislang hatte die Dura für empfindlich gegolten, die Empfindlichkeit war vielfach experimentell nachgewiesen worden. Im Gegensatz dazu fanden H a l l er und seine Schüler uns unverständlicherweise eine Unempfindlichkeit der harten Hirnhaut. Merkwürdigerweise erklärten nun auch Anatomen — sogar Sö mm err i n g und noch B u r d a c h 1820 —, die Dura habe keine Nerven fasern. L u s c h k a 1850 mußte die Versorgung der Dura mit sensibeln Nerven (Trigeminus, Vagus) wieder nachweisen.

Funktionelle Zentren. H i p p o k r a t e s und G a l e n o s kannten das Gesetz der kontralateralen Lähmung nach Verletzungen des Gehirns (Kopfes). Sprach-

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Bewegung des Gehirns.

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Sensibilität der Dura.

Zu einem großen Problem wuchs im 17. Jahrhundert die Frage nach der H i r n b e w e g u n g aus. G a l e n o s kannte die Pulsation des Gehirns als rhythmische Bewegung des Ventrikelpneumas. Im späteren Mittelalter beschrieben die Chirurgen und manche Anatomen die Pulsation des Gehirns oder der Hirnhäute, manche Anatomen leugneten sie. L a u r e n t i u s 1602 erklärte, daß kein Zweifel an der Hirnbewegung bestehen könne. Trotzdem fand sehr bald die Ansicht allgemeine Verbreitung, dem Gehirn gehe jede Beweglichkeit ab. Ein Zeichen, daß physiologische und klinische Beobachtungen nicht gemacht wurden, sondern alles, auch die e i n f a c h s t e n Beobachtungstatsachen, auf spekulativem Wege erledigt wurden. W i l l i s 1664 dekretierte: Cerebrum ipsum quidem motu caret. Nur die Dura, bewege sich bei Erbrechen und Krämpfen durch Zusammenziehen ihrer Fasern. Die seltsamste Theorie stellte P a c c h i o n i 1701 auf: Die Dura ist ein Muskel, der durch Einsenkung vier Hirnkammern bildet und gewissermaßen das Herz des Kopfes ist. Der Muskel treibt automatisch das Sekret der Rindenzellen in die Nervenröhren und läßt beim Erschlaffen das zur Bildung des Saftes nötige Blut ins Gehirn. Sehr bald darauf aber 1703 bewies das E x p e r i m e n t u m R i d l e i a n u m (Ridley), daß die H i r n s u b s t a n z s e l b s t auch nach Durchschneidung der Dura bewegt wird. Doch sah R i d l e y nur die von der Z i r k u l a t i o n abhängige Bewegung. S c h l i c h t i n g 1750 stellte auch die r e s p i r a t o r i s c h e n Bewegungen des Gehirns fest und leugnete die Muskeltätigkeit der Dura. Jedoch wurde eine endgültige Lösung der Frage erst durch A. v. H a l l e r gegeben. Nur durch die Autorität A. v. H a l l e r s 1757—66 wurde die Frage nach der S e n s i b i l i t ä t der D u r a ein viel bearbeitetes Z e i t p r o b l e m der Physiologie. Bislang hatte die Dura für empfindlich gegolten, die Empfindlichkeit war vielfach experimentell nachgewiesen worden. Im Gegensatz dazu fanden H a l l er und seine Schüler uns unverständlicherweise eine Unempfindlichkeit der harten Hirnhaut. Merkwürdigerweise erklärten nun auch Anatomen — sogar Sö mm err i n g und noch B u r d a c h 1820 —, die Dura habe keine Nerven fasern. L u s c h k a 1850 mußte die Versorgung der Dura mit sensibeln Nerven (Trigeminus, Vagus) wieder nachweisen.

Funktionelle Zentren. H i p p o k r a t e s und G a l e n o s kannten das Gesetz der kontralateralen Lähmung nach Verletzungen des Gehirns (Kopfes). Sprach-

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Störungen undLähmungen wurden von W i l h e l m v. S a l i c e t o 1210—77 und von A m b r o i s e P a r é 1517—-90 nach Hirnverletzungen beobachtet. Obwohl man aber seit alter Zeit Seelenvermögen und Sinneseindrücke in das Gehirn verlegte, es fehlte jeder Versuch einer genauem L o k a l i s a t i o n b e s t i m m t e r N e r v e n f u n k t i o n e n . Das erste b e w e i s e n d e E x p e r i m e n t dieser Art wurde von P o u r f o u r du P e t i t 1710 gemacht. Er zerstörte bei Hunden Teile der H i r n r i n d e und beobachtete S c h w ä c h e der kontralateralen Extremitäten, er zerstörte E i n d e u n d M a r k einer Hemisphäre zum Teil und fand nur auf der G e g e n s e i t e L ä h m u n g der Extremitäten, der Schnauze und Halbseitenblindheit. Der Anteil der Hirnrinde am Eesultat war ihm völlig klar, ebenso der Grund, weshalb sich die Lähmungen in der entgegengesetzten Körperhälfte finden, da er fast gleichzeitig die K r e u z u n g der P y r a m i d e n f a s e r n im verlängerten Mark entdeckt hatte und den Befund richtig deutete. Damit war P e t i t seiner Zeit so weit vorausgeeilt, daß man trotz der analogen, bestätigenden Eeiz versuche von M o l i n e l l i 1721 (1731) und der Nachprüfungen durch die französischen Chirurgen L o u i s , S a u c e r o t t e u.a. 1753—78, 1788 nicht auf ihm aufbauen konnte. Die wissenschaftliche Großtat wurde als eine solche nicht erkannt und vergessen, so daß der sehr belesene B u r d a c h 1820 die Experimente nicht mehr erwähnt. Die Physiologen des 18. Jahrhunderts hatten wenig Interesse für das Lokalisationsproblem, soweit das Großhirn in Frage kam und A l b r e c h t von H a l l e r grub ihm völlig den Boden ab. Er nahm einen e i n h e i t l i c h e n S e e l e n s i t z im G r o ß h i r n m a r k an und erklärte, daß jeder Teil des Gehirns durch einen andern vertreten werden könne. Gegen Ende des Jahrhunderts aber drängte die richtige, nicht schulmäßige Deutung der vielen vorliegenden physiologischen Experimente, der chirurgischen und pathologischen Erfahrungen, ebenso manche philosophische Anschauungen immer zwingender auf die Notwendigkeit der Lokalisation psychischer Funktionen im Gehirn hin. Noch fehlten aber die positiven Unterlagen. S ö m m e r r i n g 1796 lokalisierte. Aber er suchte noch das Organ der psychischen Funktionen in den Hirnhöhlen. Die neue Ära eröffnet Gal 1 1796. Er erkennt richtig die Bedeutung der g r a u e n H i r n r i n d e als eines K o m p l e x e s f u n k t i o n e l l d i f f e r e n t e r Organe. Nach einer damals schon absterbenden philosophischen Lehre schreibt er d i f f e r e n t e S e e l e n v e r -

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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m ö g e n den verschiedenen Organen in der Emde zu. Er behauptet weiter, daß die Ausbildung jedes Hirnorgans die darüber liegende S c h ä d e l s t e l l e besonders formt: das alte Problem des T h e o p h i l o s . 1 Zufall und Willkür waren bei diesem p h r e n o l o g i s c h e n S y s t e m so deutlich, daß es in der Form nirgends Anerkennung finden konnte.

Lokalisation der Sprache. Der L o k a l i s a t i o n s g e d a n k e aber blieb, gewann an Boden und knüpfte direkt an Gall an. G a l l hatte nach dem Sitz der Sprache im Stirnlappen gesucht. Zahlreiche Autoren in Frankreich und Deutschland suchten nach ihm ebenfalls den Sitz der Sprache. Da sie nicht funktionelle und organische Sprachstörungen unterscheiden konnten, blieben ihre Lokalisationsversuche Vermutungen. Nur die beiden Schweizer D a x 1836, Vater und Sohn, hatten das Glück, eine organische Sprachstörung nahezu richtig zu lokalisieren. A b e r erst die k l a r e P r o b l e m f o r m u l i e r u n g B r o c a s 1863 wirkte bahnbrechend. B r o c a fand Sprachstörungen bei Zerstörungen im Stirnhirn und lokalisierte aus seinen Funden die a r t i k u l i e r t e S p r a c h e im h i n t e r n T e i l der d r i t t e n l i n k e n S t i r n w i n d u n g . Gleichzeitig sprach er den Satz aus, daß j e d e H i r n w i n d u n g das Organ e i n e r b e s o n d e r e n p s y c h i s c h e n F u n k t i o n sei. 1 Der Anatom G a l l ist von dem Phrenologen zu trennen. Nur dieselbe Neigung, die ihn trieb, das Gehim anatomisch zu erforschen, brachte ihn zu anatomisierenden Studien am Lebenden. Zeitlich gehen die phrenologischen (das Wort stammt nicht von Gall) Versuche, in ihren Anfängen wenigstens, den rein hirnanatomischen Arbeiten voraus. Er selbst hat nur einen Teil seiner anatomischen und physiologischen Untersuchungen in Zusammenhang mit seiner Psychologie zu bringen gesucht. Gerade von G a l l s wichtigsten und bedeutendsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Himanatomie führt kein direkter Weg zur Organologie. In der Anatomie ist er exakter .Forscher, der die Kenntnis vom Hirnbau mehr gefördert hat als alle seine Zeitgenossen. In der Organologie ist er ausschließlich Künstler mit einem großen Sinn für Formen und einer enormen Begabung für eine bestimmte Richtung der praktischen Psychologie. Der Versuch jedoch, das, was er als Künstler erschaut hatte, in eine einfache, einheitliche Formel zu bringen, schlug fehl. Die Formel war zu eng, die unbewußten Voraussetzungen, Ergänzungen und Inponderabilien, die dem Erfinder zu Gebote standen, fehlten in ihr. Daher vermochte die kritische Nachprüfung, welche sich nur an den Schädel hielt, eine Bestätigung der psychologischen Spekulationen G a l l s nicht zu erbringen. Die beiden genialen Grundgedanken aber haben sich mit der fortschreitenden Forschung als zweifellos richtig erwiesen.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

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m ö g e n den verschiedenen Organen in der Emde zu. Er behauptet weiter, daß die Ausbildung jedes Hirnorgans die darüber liegende S c h ä d e l s t e l l e besonders formt: das alte Problem des T h e o p h i l o s . 1 Zufall und Willkür waren bei diesem p h r e n o l o g i s c h e n S y s t e m so deutlich, daß es in der Form nirgends Anerkennung finden konnte.

Lokalisation der Sprache. Der L o k a l i s a t i o n s g e d a n k e aber blieb, gewann an Boden und knüpfte direkt an Gall an. G a l l hatte nach dem Sitz der Sprache im Stirnlappen gesucht. Zahlreiche Autoren in Frankreich und Deutschland suchten nach ihm ebenfalls den Sitz der Sprache. Da sie nicht funktionelle und organische Sprachstörungen unterscheiden konnten, blieben ihre Lokalisationsversuche Vermutungen. Nur die beiden Schweizer D a x 1836, Vater und Sohn, hatten das Glück, eine organische Sprachstörung nahezu richtig zu lokalisieren. A b e r erst die k l a r e P r o b l e m f o r m u l i e r u n g B r o c a s 1863 wirkte bahnbrechend. B r o c a fand Sprachstörungen bei Zerstörungen im Stirnhirn und lokalisierte aus seinen Funden die a r t i k u l i e r t e S p r a c h e im h i n t e r n T e i l der d r i t t e n l i n k e n S t i r n w i n d u n g . Gleichzeitig sprach er den Satz aus, daß j e d e H i r n w i n d u n g das Organ e i n e r b e s o n d e r e n p s y c h i s c h e n F u n k t i o n sei. 1 Der Anatom G a l l ist von dem Phrenologen zu trennen. Nur dieselbe Neigung, die ihn trieb, das Gehim anatomisch zu erforschen, brachte ihn zu anatomisierenden Studien am Lebenden. Zeitlich gehen die phrenologischen (das Wort stammt nicht von Gall) Versuche, in ihren Anfängen wenigstens, den rein hirnanatomischen Arbeiten voraus. Er selbst hat nur einen Teil seiner anatomischen und physiologischen Untersuchungen in Zusammenhang mit seiner Psychologie zu bringen gesucht. Gerade von G a l l s wichtigsten und bedeutendsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Himanatomie führt kein direkter Weg zur Organologie. In der Anatomie ist er exakter .Forscher, der die Kenntnis vom Hirnbau mehr gefördert hat als alle seine Zeitgenossen. In der Organologie ist er ausschließlich Künstler mit einem großen Sinn für Formen und einer enormen Begabung für eine bestimmte Richtung der praktischen Psychologie. Der Versuch jedoch, das, was er als Künstler erschaut hatte, in eine einfache, einheitliche Formel zu bringen, schlug fehl. Die Formel war zu eng, die unbewußten Voraussetzungen, Ergänzungen und Inponderabilien, die dem Erfinder zu Gebote standen, fehlten in ihr. Daher vermochte die kritische Nachprüfung, welche sich nur an den Schädel hielt, eine Bestätigung der psychologischen Spekulationen G a l l s nicht zu erbringen. Die beiden genialen Grundgedanken aber haben sich mit der fortschreitenden Forschung als zweifellos richtig erwiesen.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Hirnwindungsproblem. Die Bedeutung der Hirnwindungen und ihre histologische Differenzierung wurde besonders von M e y n e r t seit 1865 erforscht. Er versuchte vergleichend anatomisch die Oberflächengestaltung des Gehirns zu ergründen, indem er vom Raubtiergehirn ausging. Doch war seine Grundlage nicht richtig. Für spezifisch menschlich hielt er die höhere Ausbildung der Windungen um die Fossa Sylvii. Das Windungsproblem harrt trotz intensiver späterer Bearbeitung noch der Lösung. Wir verdanken M e y n e r t mehr Entdeckungen in der feineren Anatomie des Gehirns als irgend einem andern Forscher. Besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß vor ihm die landläufige Meinung war, die Nervenfasern laufen vom Sinnesorgan direkt bis zur Hirnrinde. Daß alle Sinnesleitungen auf ihrem Wege umgeschaltet (unterbrochen) werden, hat erst M e y n e r t gefunden. Er unterschied zuerst scharf die Projektionsfaserung, Verbindung von tieferen Teilen und Rinde und die Assoziationsfaserung, Verbindung der Windungen (Rindenteile) untereinander. „ D i e I n t e l l i g e n z i s t e i n e F u n k t i o n der A s s o z i a t i o n s f a s e r u n g . "

Lokalisation der Körperbewegungen und der Sinne. Nun war die Zeit reif für die Wiederentdeckung der alten, längst völlig vergessenen Funde von P o u r f o u r du P e t i t und von Molinelli. Nun konnte man den hohen Wert eines solchen Fundamentalversuchs erkennen, ihn mit besseren Methoden ausbauen und durch Hilfswissenschaften ergänzen. J a c k s o n 1870 schon erkannte aus seinen Studien über Rindenepilepsie, daß bestimmte Teile der Hirnwindungen eine funktionelle Gliederung für die Extremitätenbewegung aufweisen. Dann endlich stießen F r i t s c h und H i t z i g 1870 die alte Lehre von der Unempfindlichkeit der Hirnrinde um. Sie bestimmten durch e l e k t r i s c h e R e i z u n g der G r o ß h i r n r i n d e s e h r g e n a u die Punkte, Foci und Zentren, von denen aus B e w e g u n g der M u s k u l a t u r des Skeletts und der Eingeweide verursacht werden kann. Damit war eine L o k a l i s a t i o n n e r v ö s e r F u n k t i o n e n auf der H i r n o b e r f l ä c h e so scharf und sicher gegeben, wie man nicht hatte ahnen können. Rasch folgte das Kontrollexperiment der Umschneidung und A u s s c h n e i d u n g umschriebener Rindenstellen mit demselben sichern Erfolg des A u s f a l l s einer bestimmten S i n n e s f u n k t i o n oder Bew egungs f u n k t ion.

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Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Hirnwindungsproblem. Die Bedeutung der Hirnwindungen und ihre histologische Differenzierung wurde besonders von M e y n e r t seit 1865 erforscht. Er versuchte vergleichend anatomisch die Oberflächengestaltung des Gehirns zu ergründen, indem er vom Raubtiergehirn ausging. Doch war seine Grundlage nicht richtig. Für spezifisch menschlich hielt er die höhere Ausbildung der Windungen um die Fossa Sylvii. Das Windungsproblem harrt trotz intensiver späterer Bearbeitung noch der Lösung. Wir verdanken M e y n e r t mehr Entdeckungen in der feineren Anatomie des Gehirns als irgend einem andern Forscher. Besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß vor ihm die landläufige Meinung war, die Nervenfasern laufen vom Sinnesorgan direkt bis zur Hirnrinde. Daß alle Sinnesleitungen auf ihrem Wege umgeschaltet (unterbrochen) werden, hat erst M e y n e r t gefunden. Er unterschied zuerst scharf die Projektionsfaserung, Verbindung von tieferen Teilen und Rinde und die Assoziationsfaserung, Verbindung der Windungen (Rindenteile) untereinander. „ D i e I n t e l l i g e n z i s t e i n e F u n k t i o n der A s s o z i a t i o n s f a s e r u n g . "

Lokalisation der Körperbewegungen und der Sinne. Nun war die Zeit reif für die Wiederentdeckung der alten, längst völlig vergessenen Funde von P o u r f o u r du P e t i t und von Molinelli. Nun konnte man den hohen Wert eines solchen Fundamentalversuchs erkennen, ihn mit besseren Methoden ausbauen und durch Hilfswissenschaften ergänzen. J a c k s o n 1870 schon erkannte aus seinen Studien über Rindenepilepsie, daß bestimmte Teile der Hirnwindungen eine funktionelle Gliederung für die Extremitätenbewegung aufweisen. Dann endlich stießen F r i t s c h und H i t z i g 1870 die alte Lehre von der Unempfindlichkeit der Hirnrinde um. Sie bestimmten durch e l e k t r i s c h e R e i z u n g der G r o ß h i r n r i n d e s e h r g e n a u die Punkte, Foci und Zentren, von denen aus B e w e g u n g der M u s k u l a t u r des Skeletts und der Eingeweide verursacht werden kann. Damit war eine L o k a l i s a t i o n n e r v ö s e r F u n k t i o n e n auf der H i r n o b e r f l ä c h e so scharf und sicher gegeben, wie man nicht hatte ahnen können. Rasch folgte das Kontrollexperiment der Umschneidung und A u s s c h n e i d u n g umschriebener Rindenstellen mit demselben sichern Erfolg des A u s f a l l s einer bestimmten S i n n e s f u n k t i o n oder Bew egungs f u n k t ion.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlchre.

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Zahllose Nachuntersuchungen und Variationen vermittelten bald eine gute Kenntnis der Lokalisation der Sinne und Bewegungen nicht nur auf der Oberfläche, sondern auch in den tieferen Teilen des Gehirns. Das große Material versuchte Münk zusammenfassend zu verwenden, indem er die ganze G r o ß h i r n r i n d e in umschriebene Z e n t r e n für S i n n e und für B e w e g u n g e n aufteilte. Dem stand jedoch entgegen, daß bestimmte partielle Zerstörungen der menschlichen Großhirnrinde keine Änderung in der Funktion der Sinneszentren brachten, wohl aber eine Alteration komplexer Fähigkeiten (Sprechen, Schreiben usw.).

Entwicklungsgesckicktliche Lokalisation.

Flccksig.

Eine kräftige Stütze fand die Lokalisationslehre in der Entwicklungsgeschichte. Ohne irgend welche Vorarbeiten 1 auf dem Gebiete entdeckte F l e c h s i g 1876, daß im fötalen und jungen kindlichen Gehirn und Rückenmark, welches in seinen äußeren Formen schon völlig fertig ist, noch eine Entwicklung stattfindet: Die R e i f u n g des N e r v e n m a r k s . Die Reifung prägt das L o k a l i s a t i o n s p r i n z i p im R ü c k e n m a r k in schärfster Form aus. Die einzelnen Leitungsbahnen entwickeln sich sukzessive in isolierter, raumbeschränkter Lokalisation. 1894 konnte F l e c h s i g auch für a l l e Leitungen im G e h i r n denselben Satz aufstellen. Er hat ihn 1904 als myelogenetisches Grundgesetz formuliert: G l i e d e r u n g der z e n t r a l e n F a s e r m a s s e n auf G r u n d der a n n ä h e r n d g l e i c h z e i t i g e n U m m a r k u n g g l e i c h w e r t i g e r E l e m e n t e , der s u k z e s s i v e n M a r k u m h ü l l u n g v e r s c h i e d e n wertiger Fasergruppen. Myelogenetisch hat F l e c h s i g nachgewiesen und 1894 in seiner Rektoratsrede vorgetragen, daß in Übereinstimmung mit den pathologischen Tatsachen umschriebene Felder, die den k l e i n e r e n Teil der Hirnrinde bilden, Projektionsfasern erhalten. Sie sind demnach S i n n e s z e n t r e n oder B e w e g u n g s z e n t r e n , welche die Verbindungssysteme von und zur Peripherie des Körpers empfangen oder aussenden. Zwischen ihnen nehmen den g r ö ß e r e n Teil der Hirnoberfläche die A s s o z i a t i o n s z e n t r e n ein, die nur mit den Projektionszentren und unter einander durch Assoziationsfasern verknüpft 2 sind. 1

Längst vergessen war die überhaupt nie beachtete Entdeckung G a l l s , das Gehirn des Neugeborenen sei eine weiche Masse, die im mittlem und hintern Teil einige Nervenfasern erkennen läßt. 2 E i n z e l n e Projektionsfasern kommen in ihnen vor.

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlchre.

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Zahllose Nachuntersuchungen und Variationen vermittelten bald eine gute Kenntnis der Lokalisation der Sinne und Bewegungen nicht nur auf der Oberfläche, sondern auch in den tieferen Teilen des Gehirns. Das große Material versuchte Münk zusammenfassend zu verwenden, indem er die ganze G r o ß h i r n r i n d e in umschriebene Z e n t r e n für S i n n e und für B e w e g u n g e n aufteilte. Dem stand jedoch entgegen, daß bestimmte partielle Zerstörungen der menschlichen Großhirnrinde keine Änderung in der Funktion der Sinneszentren brachten, wohl aber eine Alteration komplexer Fähigkeiten (Sprechen, Schreiben usw.).

Entwicklungsgesckicktliche Lokalisation.

Flccksig.

Eine kräftige Stütze fand die Lokalisationslehre in der Entwicklungsgeschichte. Ohne irgend welche Vorarbeiten 1 auf dem Gebiete entdeckte F l e c h s i g 1876, daß im fötalen und jungen kindlichen Gehirn und Rückenmark, welches in seinen äußeren Formen schon völlig fertig ist, noch eine Entwicklung stattfindet: Die R e i f u n g des N e r v e n m a r k s . Die Reifung prägt das L o k a l i s a t i o n s p r i n z i p im R ü c k e n m a r k in schärfster Form aus. Die einzelnen Leitungsbahnen entwickeln sich sukzessive in isolierter, raumbeschränkter Lokalisation. 1894 konnte F l e c h s i g auch für a l l e Leitungen im G e h i r n denselben Satz aufstellen. Er hat ihn 1904 als myelogenetisches Grundgesetz formuliert: G l i e d e r u n g der z e n t r a l e n F a s e r m a s s e n auf G r u n d der a n n ä h e r n d g l e i c h z e i t i g e n U m m a r k u n g g l e i c h w e r t i g e r E l e m e n t e , der s u k z e s s i v e n M a r k u m h ü l l u n g v e r s c h i e d e n wertiger Fasergruppen. Myelogenetisch hat F l e c h s i g nachgewiesen und 1894 in seiner Rektoratsrede vorgetragen, daß in Übereinstimmung mit den pathologischen Tatsachen umschriebene Felder, die den k l e i n e r e n Teil der Hirnrinde bilden, Projektionsfasern erhalten. Sie sind demnach S i n n e s z e n t r e n oder B e w e g u n g s z e n t r e n , welche die Verbindungssysteme von und zur Peripherie des Körpers empfangen oder aussenden. Zwischen ihnen nehmen den g r ö ß e r e n Teil der Hirnoberfläche die A s s o z i a t i o n s z e n t r e n ein, die nur mit den Projektionszentren und unter einander durch Assoziationsfasern verknüpft 2 sind. 1

Längst vergessen war die überhaupt nie beachtete Entdeckung G a l l s , das Gehirn des Neugeborenen sei eine weiche Masse, die im mittlem und hintern Teil einige Nervenfasern erkennen läßt. 2 E i n z e l n e Projektionsfasern kommen in ihnen vor.

32

Die großen Probleme in der Geschichte der Hirnlehre.

Die A s s o z i a t i o n s z e n t r e n können daher nicht einfachen Sinnes und Bewegungsfunktionen dienen, sondern legen nieder, sammeln, verarbeiten, was ihnen in Sinneseindrücken von den Projektionszentren zugeführt wird. Damit sind sie die Zentren für komplexe psychische Erscheinungen, f ü r h ö h e r e g e i s t i g e F u n k t i o n e n . Am besten gekannt ist bis jetzt das h i n t e r e g r o ß e A s s o z i a t i o n s z e n t r u m zwischen Sehsphäre, Hörsphäre und Körperfühlsphäre. Sein „Funktionskreis ist die Bildung und das Sammeln von Vorstellungen äußerer Objekte und von Wortklangbildern, die Verknüpfung derselben untereinander, mithin das eigentliche p o s i t i v e W i s s e n , nicht minder die phantastische Vorstellungstätigkeit, die Vorbereitung der Rede nach Gedankeninhalt und sprachlicher Formung u. dgl. m. — kurz die wesentlichsten Bestandteile dessen, was die Sprache speziell als „ G e i s t " bezeichnet". Die Gliederung, welche wir im Gefüge des „Geistes" introspektiv wahrzunehmen vermögen, steht in deutlichen Beziehungen zu keineswegs transzendenten, dem anatomischen Verständnis durchaus zugänglichen Bauverhältnissen des Gehirns. Aus ihnen können wir das seelische Geschehen weitgehend rekonstruieren und objektiv ableiten. Dieser durchgehende Parallelismus tritt um so deutlicher hervor, je weiter wir in den Bauplan des Seelenorgans eindringen ( F l e c h s i g 1896). Uberblicken wir wieder das Gewonnene vor dem Jahre 1894, so sehen wir abermals ein großes Mißverhältnis, nur im umgekehrten Sinne gegen frühere Zeiten. Jetzt ein enormes Tatsachenmaterial, eine sehr breite empirische Basis, zahlreiche wichtige Einzelprobleme und dem gegenüber das Fehlen eines führenden Gedankens. Da mußte es als befreiende Tat empfunden werden und wurde mit Begeisterung begrüßt, als F l e c h s i g 1894 die große leitende Idee aussprach, die in den Lokalisationsproblemen liegt. Nicht viele große umfassende Theorien sind uns gegeben worden, seit wir eine Hirnlehre haben und alle sind große spekulative Lokalisationsideen, A l k m a i o n , N e m e s i u s , D e s c a r t e s . 250 Jahre mußten nach dem letzten großen Denker D e s c a r t e s vergehen, bis F l e c h s i g aus physiologischem und anatomischem Denken heraus Gewonnenes und Erschautes zusammenfassend mit einem ungeahnten Fortschritt uns die endliche Lösung des Seelenproblems in greifbarere Nähe brachte.

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