Die pittoreske Landschaft in der europäischen Literatur der Romantik: Chateaubriand – Eichendorff – Manzoni [1 ed.] 9783737006590, 9783847106593

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Die pittoreske Landschaft in der europäischen Literatur der Romantik: Chateaubriand – Eichendorff – Manzoni [1 ed.]
 9783737006590, 9783847106593

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Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst

Band 11

Herausgegeben von Uwe Baumann, Michael Bernsen und Paul Geyer

Carina Jung

Die pittoreske Landschaft in der europäischen Literatur der Romantik Chateaubriand – Eichendorff – Manzoni

V& R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-610X ISBN 978-3-7370-0659-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Andreas Achenbach: »Blick vom Rolandsbogen auf das Siebengebirge«, 1834, Öl auf Leinwand, Quelle: Sammlung RheinRomantik Bonn, Sammlungsnummer: 22.

Meinen Eltern

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Das Pittoreske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begriffsgeschichte und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der pittoreske englische Landschaftsgarten . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die neue Wahrnehmung von Natur im Landschaftsgarten 2.2.2 Die Theoretiker des Pittoresken . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 William Gilpins Forderung nach einem neuen Umgang mit Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Uvedale Price und die ästhetische Kategorie des Pittoresken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Das Pittoreske in Richard Payne Knights Assoziationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Pittoreske Landschaftsdarstellungen in der europäischen Literatur der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 FranÅois-Ren8 de Chateaubriands Reiseberichte . . . . . . . . . . . 3.1.1 Forschungsstand: Chateaubriand, Meister der romantischen Landschaftsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Techniken und Funktionsweisen der Korrespondenzlandschaft in Ren8, Atala und der Nuit am8ricaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Landschaften der voyages . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Die malerische Landschaft der tableaux de la nature . 3.1.3.2 Die pittoreske Struktur der Tableaus . . . . . . . . . . 3.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 81 81

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Inhalt

3.2 Joseph von Eichendorffs Jugendroman Ahnung und Gegenwart . . 3.2.1 Forschungsstand: symbolische Landschaften und ihr schlafendes Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Verlockungen: ein anti-idyllischer Roman . . . . . . . . . . . 3.2.3 Jagd und Trieb in der entfesselten Natur . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Ästhetik der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Alessandro Manzonis Geschichtsroman I Promessi Sposi . . . . . . 3.3.1 Forschungsstand: die Promessi Sposi als Anti-Idylle und neue Ansätze der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Promessi Sposi und die Modelle romantischer Landschaftsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Das große Landschaftstableau des Romans: »Quel ramo del lago di Como…« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Das Pittoreske im Eingangstableau von Fermo e Lucia und den Promessi Sposi . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Das Pittoreske und der historiographische Anspruch der Promessi Sposi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Auf dem Weg ihrer Entstehung haben mich einige Menschen begleitet, denen ich für ihre Unterstützung danken möchte. Mein Dank gebührt zunächst meinem Doktorvater Professor Dr. Michael Bernsen, nicht nur für seinen wertvollen und verlässlichen Rat und sein Vertrauen in meine Arbeit, sondern auch für die Förderung, die er mir seit dem Studium zuteil werden lassen hat, und für alles, was ich seitdem von ihm lernen konnte. Meinen aufrichtigen Dank möchte ich auch an meinen Zweitbetreuer Professor Dr. Michel Delon richten, der die Begeisterung für mein Thema geteilt und meine Erkenntnisse durch seine zahlreichen Anregungen bereichert hat. Für sein Interesse an meiner Arbeit und seine Bereitschaft, an meiner Prüfung in Bonn teilzunehmen, spreche ich überdies Professor Dr. Patrizio Collini meinen herzlichen Dank aus. Professor Dr. Mechthild Albert danke ich für Ihr Einverständnis, den Vorsitz zu übernehmen, und dafür, gleichermaßen dazu beigetragen zu haben, dass mir dieser Tag in sehr positiver Erinnerung geblieben ist. Für die interessanten Gespräche und den konstruktiven Austausch in inhaltlichen Fragen und darüber hinaus danke ich meinen Kollegen am Lehrstuhl sowie den Doktoranden und Mitgliedern des Graduiertenkollegs der Universitäten Bonn, Paris-Sorbonne und Florenz, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist und durch das mir viele wertvolle Erfahrungen ermöglicht wurden. Meinen herzlichen Dank möchte ich zudem meiner ›Lektorin‹ Lieselotte Wenz aussprechen für ihre aufmerksame Durchsicht der gesamten Arbeit, ihr Interesse und ihre Hilfsbereitschaft auf allen Etappen meines bisherigen Weges, die mir sehr viel bedeutet. Mein besonderer Dank gilt schließlich meiner Familie und meinen Freunden, die auf ganz verschiedene Weise zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen haben, darunter Constanze, Julian und Sara, auf die ich mich immer verlassen konnte.

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Danksagung

Vor allem danke ich meinen Eltern für ihre großzügige, uneingeschränkte Unterstützung, ihren Rückhalt und ihr offenes Ohr. Alexander gilt abschließend mein aufrichtiger Dank für seinen liebevollen Beistand während dieses Projekts und für alles andere, womit er mein Leben bereichert. Bonn, August 2016

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Einleitung

Das Interesse an pittoresken Landschaften entwickelt sich zunächst in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Pittoreske Gartenanlagen können als Höhepunkt der Entwicklung des englischen Landschaftsgartens gelten, was sich in der europaweiten Begeisterung und regen Nachahmung des neuen Ideals widerspiegelt.1 Die intensive und schnelle Rezeption lässt erkennen, dass in der Ästhetik des Pittoresken ein Verständnis von Natur und Mensch zum Ausdruck kommt, das auf außergewöhnliche Weise dem Geist der Epoche entspricht. Sie lässt dadurch grundlegende Rückschlüsse im Hinblick auf Fragen der Wahrnehmung, der Subjektivität und des Weltverständnisses an der Schwelle zur europäischen Moderne zu. Die Landschaft als Untersuchungsgegenstand der Geisteswissenschaften weckt solcherlei Überlegungen bereits von sich aus, da sie überhaupt erst durch die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung und Distanznahme von der Natur entsteht. Bei aller Widersprüchlichkeit, die dem Landschaftsbegriff sogar innerhalb einzelner Disziplinen anhaftet,2 lässt sich ein Konsens darin ausmachen, dass Landschaft als ästhetisch vergegenwärtigte Natur ein Produkt des Menschen ist und damit immer auf diesen verweist: »Zum Sehen von Natur als Landschaft gehört korrelativ ein Subjekt, das Natur in einem konstitutiven Akt des Sehens zur Landschaft macht.«3 Damit ist zugleich die wichtigste Vorbedingung der Landschaftserfahrung benannt, nämlich die Fähigkeit des Menschen, sich von der Natur abzugrenzen, aus ihr ›herauszutreten‹ und ein Be1 Zur außergewöhnlichen Verbreitung des pittoresken Landschaftsgartens, der um 1800 das bevorzugte Gartenmodell in ganz Europa – von Stockholm im Norden bis Neapel im Süden – darstellte, vgl. John Dixon Hunt, The Picturesque Garden in Europe, London, Thames & Hudson, 2002, bes. S. 8. 2 Die Definitionsschwierigkeit des Begriffs ergibt sich bereits aus der Interdisziplinarität des Themas. Zur Debatte, ob das Phänomen in den Geisteswissenschaften ausschließlich als ästhetisches zu betrachten ist, vgl. stellvertretend Rainer Piepmeier »Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹«, in: Westfälische Forschungen 30 (1980), S. 8–46. 3 Ebd., S. 15.

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Einleitung

wusstsein für die eigene Wahrnehmung zu entwickeln: »Die ästhetische Landschaft […] ist das Ergebnis eines Gegenübertretens, eines Gegenüberstehens.«4 Aus ihrer Abhängigkeit vom betrachtenden Subjekt ergeben sich dabei gleichzeitig die historische und die kulturspezifische Dimension der Landschaft: »Die sinnliche, die ästhetische Wahrnehmung von Natur erfolgt nicht unmittelbar, sondern präformiert durch Vorstellungen, Symbolisierungen, kulturelle Muster.«5 Die Erfahrung der Landschaft unterliegt damit Faktoren wie dem Geschmack, der Mode und vor allem dem jeweiligen theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Verständnis der Natur. »Natur [ist] immer nur zu Bedingungen vorgegebener oder erlernter Wahrnehmungsmuster zugänglich.«6 Die Landschaft präsentiert sich daher als eine Art Vermittlungsinstanz, mit deren Hilfe die Natur für den Menschen erfahrbar wird: »Eine Landschaft zu sehen bedeutet, sich ein Stück sichtbarer Welt zum virtuellen ästhetischen Bild […] zurecht-zu-sehen.«7 Ihr Wesen liegt somit aber auch immer darin, auf diese Vorbedingungen ihrer Entstehung zu verweisen und sie zu reflektieren. Dies gilt in besonderem Maß, wenn die Landschaft zum Gegenstand künstlerischer oder literarischer Darstellung wird. Der erste Fall geht bereits mit der Entstehung des Begriffs einher : Landschaft bzw. paesaggio oder paysage bezeichnet ursprünglich keineswegs den real vorgefundenen Naturausschnitt, sondern das Landschaftsgemälde.8 Die neue Gattung entsteht an der Schwelle zur Neuzeit und geht mit der Erfindung der Zentralperspektive einher, durch die

4 Matthias Eberle / Adrian von Buttlar, »Landschaft und Landschaftsgarten«, in: Werner Busch / Peter Schmoock (Hrsg.), Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim / Berlin, Quadriga, 1987, S. 390–418, hier S. 391. Schon Schiller schlussfolgert in dieser Weise über die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung der Natur durch den Menschen: »Erst wenn er in seinem ästhetischen Stande sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.« (»Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen, theoretische Schriften, hrsg. von Peter-Andr8 Alt / Albert Meier / Wolfgang Riedel, München, Hanser Verlag, 2004, S. 570–669, hier S. 651, 25. Brief) 5 Groh, Ruth und Dieter, »Kulturelle Muster und ästhetische Naturerfahrung«, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Ästhetik und Naturerfahrung (Exempla aesthetica. 1), Stuttgart / Bad Cannstatt, Frommann Holzboog, 1994, S. 27–41, hier S. 27. 6 Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung (Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft. 23), Stuttgart, Metzler, 1981, S. 4. 7 Manfred Schmeling / Monika Schmitz-Emans, »Einleitung«, in: ders. / dies. (Hrsg.), Das Paradigma der Landschaft in Moderne und Postmoderne. (Post-) Modernist Terrains: Landscapes – Settings – Spaces (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft. 34), Würzburg, Königshausen und Neumann, 2007, S. 21–36, hier S. 22. 8 Vgl. hierzu Walburga Hülk, »›Paesaggio‹ in der italienischen Literatur der Renaissance und der Jahrhundertwende«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 22 (1998), S. 137–149.

Einleitung

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das betrachtende Subjekt erstmals zum Zentrum der Welt wird.9 Demgegenüber setzt die literarische Landschaftsdarstellung interessanterweise erst bedeutend später ein. Auch wenn in der Forschung kontrovers diskutiert wird, ob sich in Petrarcas berühmtem Mont Ventoux-Brief (1336) bereits Anklänge einer ästhetischen Naturwahrnehmung finden lassen,10 steht außer Frage, dass die literarische Landschaftsdarstellung noch bis ins 17. Jahrhundert überwiegend rhetorisch und topisch gestaltet ist.11 Während in solchen Fällen die Malerei noch als Vorbild dient, emanzipiert sich die literarische Landschaft im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung neuer Beschreibungsverfahren aus dem Wettstreit mit dieser. Ist für die ästhetische Wahrnehmung von Natur als Landschaft allgemein bereits eine Distanz zum Gegenstand notwendig, so gilt dies in besonderem Maß für die poetische Landschaft: »[…] the rise of the literary landscape is inseparable from the rise of modern self, and, specifically, the rise of ›Man‹.«12 Gegenüber der Landschaft der Malerei zeichnet sich die moderne literarische Landschaft somit durch ihren hohen Reflexionsgehalt aus: Der wesentliche Unterschied zwischen der gemalten und der poetischen Landschaft liegt […] vor allem darin, dass in dem sprachlichen Gegenstandsentwurf ungleich mehr von den Bedingungen möglicher Gegenstandserfahrung erkennbar wird.13

9 Vgl. hierzu Barbara Eschenburg, Landschaft in der deutschen Malerei. Vom späten Mittelalter bis heute, München, Beck, 1987, S. 7f. 10 Die Diskussion wurde angestoßen von Joachim Ritters Aufsatz »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze (Bibliothek Suhrkamp. 379), Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1974, S. 141–163. Der 1963 erstmals veröffentlichte Beitrag ist vor allem aufgrund seiner Rückführung der Landschaftserfahrung auf die Herausbildung moderner Subjektivität bedeutsam. Die These, Petrarcas Brief stelle das erste Zeugnis literarischer Landschaftsdarstellung dar, hat jedoch für Kritik gesorgt. Vgl. zur weiteren Forschungsdebatte Karlheinz Stierle, Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln. 29), Krefeld, Scherpe, 1979; Bernhard König, »Petrarcas Landschaften«, in: Romanische Forschungen 92 (1980), S. 251–282; Groh, Ruth und Dieter, »Petrarca und der Mont Ventoux«, in: Merkur 46 (1992), S. 290–307. Die gesamte Debatte wird ausführlich dargelegt von Birgit Ulmer; vgl. Die Entdeckung der Landschaft in der italienischen Literatur an der Schwelle zur Moderne (Dialoghi / Dialogues. Literatur und Kultur Italiens und Frankreichs. 15), Frankfurt am Main u. a., Peter Lang, 2010, S. 34ff. 11 Vgl. Rainer Gruenter, »Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 34 (1953), S. 110–120, hier S. 120; Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990, S. 94ff. 12 Jeremy Adler, »Time, Self, Divinity : The Landscape of Ideas from Petrach to Goethe«, in: Heinke Wunderlich (Hrsg.), ›Landschaft‹ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts. 13), Heidelberg, Carl Winter, 1995, S. 25–50, hier S. 35. 13 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 76.

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Einleitung

So liegt es in der Natur der literarischen Landschaft, weniger ein bestimmtes Landschaftserlebnis zu simulieren, als vielmehr im Medium der Sprache die Bedingungen zu reflektieren, unter denen sich der Prozess der ästhetischen Erfahrung vollzieht. In dem Moment, da sich die Literatur von der Nachahmungs- zur Schöpfungsästhetik wandelt, avanciert die literarische Landschaft zu einem besonderen Explorationsfeld für die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur und den Möglichkeiten und Grenzen seiner Wahrnehmung: Ist Landschaft nämlich eine besondere Rezeptionsform von Natur, eine spezifische Weise, die Welt zu lesen, dann erfolgt in der literarischen Präsentation einer solchen Lektüre eine Lesbarmachung zweiter Stufe, die die erste keineswegs maßstabsgetreu abzubilden braucht. Die Rezeption von Natur als Landschaft und die Rezeption dieser Rezeption im System literarischer Gattungen und Normen sind zwei Prozesse, die auch gegenläufig denkbar sind.14

Im Hinblick auf die Reflexion der Wahrnehmungsbedingungen kann zudem die pittoreske Landschaft selbst eine Sonderstellung unter den verschiedenen Landschaftsmodellen für sich beanspruchen. Als spezielle Form des englischen Landschaftsgartens resultiert sie aus dem Bedürfnis, das »Erleben der eigenen Subjektivität«15, das die Landschaftserfahrung ermöglicht, in die Kunstwelt des Gartens hineinzuholen. Im Gegensatz zum klassizistischen Barockgarten, dem Vorgänger des Landschaftsgartens, repräsentiert die frei zugängliche Parklandschaft aufklärerisches, liberales Gedankengut und ein neues Interesse an der Individualität und Subjektivität des Betrachters. Ihre Natürlichkeit und ihr Abwechslungsreichtum sind ganz darauf ausgelegt, das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen des Spaziergängers zu reizen und ihm ein besonders intensives ästhetisches Erlebnis zu bieten. Diese ›Befreiung des Blicks‹ gipfelt in der Theorie des Pittoresken, die den Park von jeglichem Verstehenshorizont befreit und das Interesse von inhaltlichen auf formale – der Malerei zugeschriebene16 – Aspekte verlagert. Verschlungene Wegenetze, raue, unregelmäßige Formen und Materialien, abrupte Wechsel und ständig neue Ansichten sorgen in der pittoresken Landschaft dafür, dem Betrachter die gewohnte Gesamtschau vorzuenthalten und stattdessen seine Neugierde wachzuhalten. In dieser erkennen die Theoretiker des Pittoresken eine Grundeigenschaft des Menschen, die durch die Kunst stimuliert werden muss. Der »Garten der Frei14 Ebd., S. 21f. 15 Wolfgang Kehn, »Ästhetische Landschaftserfahrung und Landschaftsgestaltung in der Spätaufklärung: Der Beitrag von Christian Cay Lorenz Hirschfelds Gartentheorie«, in: Wunderlich (Hrsg.), ›Landschaft‹ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, S. 1–23, hier S. 12. 16 Der Begriff bedeutet gemäß seiner Etymologie zunächst »bildhaft«, »wie in einem Gemälde« oder »in der Weise der Malerei«.

Einleitung

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heit«17 bietet dem Betrachter uneingeschränkte ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten, konfrontiert ihn aber gleichzeitig mit der Begrenztheit seiner perzeptiven Fähigkeiten: »Die pittoreske Landschaft […] führt von sich aus keine Idee von Natur mit sich, sie treibt zunächst die ästhetische Erfahrung zur Reflexion auf das subjektive Wahrnehmungsvermögen weiter.«18 Unterliegt dem Phänomen der Landschaft immer schon das kritische Bewusstsein für die eigene Wahrnehmung und damit ein Moment der Entfremdung,19 so avanciert dieser Aspekt im Fall des Pittoresken zum eigentlichen Thema der Landschaft. Die Kombination der beiden Empfindungen der Freiheit auf der einen und der Verunsicherung auf der anderen Seite verleiht dem Pittoresken seine charakteristische dichotome Struktur. Übersetzt in die Kunstform des Gartens, der sich in allen Epochen als mustergültiges Modell des jeweiligen Weltentwurfs und seiner epistemologischen Bedingungen verstehen lässt,20 gewinnen diese Überlegungen ihre besondere Kontur und Anschaulichkeit. Mit Blick auf die intensive Ausbreitung des pittoresken Landschaftsgartens und seine Bedeutung für die europäische Kulturgeschichte soll hier nun die These aufgestellt werden, dass die in der Ästhetik formulierte Anthropologie einen hohen repräsentativen Wert für die Identität des modernen europäischen Subjekts besitzt. In seiner Phänomenologie des Geistes (1807) beschreibt Hegel diese Identität als eine zerrissene, die sich zwar die Freiheit erkämpft hat (und damit zu sich selbst gefunden hat), dafür aber den Preis der unwiderruflichen Entfremdung von der Natur und der Welt zahlen muss.21 In dieser »Macht der 17 Eberle / von Buttlar, »Landschaft und Landschaftsgarten«, S. 408. 18 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 56. 19 Vgl. hierzu Schmeling / Schmitz-Emans: »[D]as menschliche Betrachter-Ich wird nur deshalb zum Zentrum der Welt, weil diese kein absolutes Zentrum mehr hat. Die Ordnung der Landschaft erscheint als Ersatz dafür, dass es keine absolute Ordnung der Dinge mehr gibt.« (Das Paradigma der Landschaft, S. 23, »Einleitung«) Vgl. außerdem ihre These: »›Landschaft‹ ist immer schon ein ›sentimentalisches‹ Konzept im Sinne Friedrich Schillers gewesen.« (Ebd., S. 25) 20 Vgl. hierzu z. B. Ulrich Gaier, »Garten als inszenierte Natur«, in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs (Konstanzer Bibliothek. 13), Konstanz, Universitäts-Verlag, 1989, S. 133–158; außerdem Michael Bernsen, »Metamorphosen der Natur: Die Epistemologie des Gartens in der italienischen Literatur der Neuzeit«, in: Peter Kuon / Barbara Marx (Hrsg.), Metamorphosen / Metamorfosi, Frankfurt am Main u. a., Peter Lang, 2005, S. 71–88. 21 Vgl. hierzu z. B. Hegels Darstellung des »sich entfremdeten Geistes«: »Indem das reine Ich selbst sich außer sich und zerrissen anschaut, ist in dieser Zerrissenheit zugleich alles, was Kontinuität und Allgemeinheit hat, was Gesetz, gut und recht heißt, auseinander und zu Grunde gegangen; alles Gleiche ist aufgelöst, […] das reine Ich selbst ist absolut zersetzt.« Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg, Meiner, 1952, S. 368. Vgl. weiterführend Joachim Ritters Interpretation von Hegels Subjektivitätsbegriff in »Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität«, in: ders., Subjektivität, S. 11–35; Hegel und die französische Revolution (Arbeitsgemeinschaft für

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Einleitung

Differenz und Entzweiung«22 zeigen sich zugleich die Überlegenheit und die Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft. Die Möglichkeiten der Verwirklichung der neuen Freiheit, die Hegel als zentrale Aufgabe seiner Epoche sieht, werden in den großen Werken der europäischen Kulturgeschichte bereits seit Beginn der Neuzeit ausgelotet.23 Als solches kann auch der pittoreske Landschaftsgarten gelten. Entstanden in eben jenem Zeitraum, in dem Hegel die ›Emanzipation des Geistes‹ vervollkommnet sieht, inszeniert er als erstes Landschaftsmodell eine komplexe, dynamische, in ständigem Wandel begriffene Welt, von deren neuen Erfahrungsmöglichkeiten der Betrachter profitieren kann, wenn er die Unsicherheit seines neuen Standpunkts zu überwinden weiß. In dieser Arbeit soll nun untersucht werden, wie sich der von der Ästhetik des Pittoresken vorgetragene Entwurf des Menschen in dem besonderen Medium der literarischen Landschaftsdarstellung niederschlägt. Zugrunde liegt dabei die genannte These, dass die pittoreske Landschaft als ein in hohem Maße anschauliches und aussagekräftiges Modell der europäischen Identität verstanden werden kann, das nicht zufällig an der Schwelle zur Moderne den Kontinent erobert. Den Gegenstand der Analyse konstituieren Werke von FranÅois-Ren8 de Chateaubriand, Joseph von Eichendorff und Alessandro Manzoni. In ihnen finden sich drei Autoren der europäischen Romantik, die sich die pittoreske Ästhetik in besonderer Weise zu eigen machen, was teilweise sogar über die Landschaftsdarstellung hinaus gehen und die Grundzüge des gesamten Werks ergreifen kann. Die Arbeit zieht folglich eine vertiefte Betrachtung der drei Autoren vor, statt durch eine breitere Textauswahl und eine leitmotivische Untersuchung des Pittoresken eine quantitativ stabilere Aussage im Hinblick auf die Frage nach der europäischen Identität treffen zu wollen. Dennoch können die drei Autoren zum literarischen ›Höhenkamm‹ gezählt werden, in dem Europa seine anthropologischen Leitbilder reflektiert.24 Darüber hinaus ermöglicht die Untersuchung, auf diese Weise grundlegende neue Einsichten in die besprochenen Werke zu gewinnen. Die Landschaft präsentiert sich dabei als besonForschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Geisteswissenschaften. 63), Köln u. a., Westdeutscher Verlag, 1957. 22 Ritter, »Subjektivität und industrielle Gesellschaft«, S. 26. 23 In seiner Ästhetik bezeichnet Hegel Hamlet als die erste Inkarnation des modernen zerrissenen Bewusstseins. Ihm folgen Don Juan, l’Avare, Faust, Werther, Jacopo Ortis, Ren8 und Manfred. (Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 2 Bde., hrsg. von Rüdiger Bubner, Stuttgart, Reclam, 1971, Bd. 2, Dritter Teil, »Die Poesie«, S. 341–353) Zu den modernen Subjektentwürfen der europäischen Kulturgeschichte vgl. weiterführend Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2007. 24 Vgl. hierzu Paul Geyer, »Literaturgeschichte als Gründungsmythos einer Europäischen Kulturgeschichte der Zukunft«, in: Anja Ernst / Paul Geyer (Hrsg.), Die Romantik. Ein Gründungsmythos der europäischen Moderne (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst. 3), Göttingen, V& R unipress, 2010, S. 35–54, hier S. 45ff.

Einleitung

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derer Schlüssel für die Interpretation, da sich hier das jeweilige Programm des Autors in konzentrierter, paradigmatischer Form veranschaulicht findet.25 In Eichendorffs und Chateaubriands Gesamtwerk nimmt die Landschaftsthematik einen breiten Raum ein und ist daher in der Forschung zu den beiden Autoren stark repräsentiert. Es wurde jedoch bisher nie ein Bezug zur englischen Theorie des Pittoresken hergestellt, wodurch weitere, fundamentale Bedeutungsschichten der Werke erschlossen werden können. So zeigt sich, dass Chateaubriand in seinen Reiseberichten, die neben einem kurzen Blick auf Atala (1801) und Ren8 (1802) im Vordergrund der Untersuchung stehen werden, das Paradigma der romantischen Korrespondenzlandschaft überwindet und die übliche Lesart damit relativiert werden muss. Insbesondere der Voyage en Am8rique (1827) präsentiert sich als Erprobungsraum neuer Darstellungsverfahren. In Eichendorffs Fall konzentriert sich die Analyse auf seinen ersten Roman Ahnung und Gegenwart (1815), der zwar das Jugendwerk des Autors darstellt, dabei aber bereits alle wichtigen Entwicklungen der gesamten Schaffensphase antizipiert und daher hier im Fokus stehen kann. Die Innovationskraft dieses als typisch romantisch gelesenen Romans zeigt sich besonders im Rekurs auf die Ästhetik des Pittoresken, der er sich in verschiedener Hinsicht bedient. Dies gilt ebenso für Manzonis Roman I Promessi Sposi (1827), der den letzten Teil der Untersuchung konstituiert. Hier bietet die Tatsache, dass mit Fermo e Lucia (1823) und der endgültigen 1842-Fassung insgesamt drei verschiedene Versionen des Romans vorliegen, die Möglichkeit, durch einen Vergleich der Landschaftsszenen neue Einsichten in den komplexen Roman zu erlangen. In dem berühmten Eingangstableau des Werkes stellt Manzoni bereits die Weichen für das gesamte Handlungsgeschehen und präsentiert damit gleichzeitig die Grundpfeiler seiner Geschichts- und Weltvorstellung. Die Ästhetik des Pittoresken kann hier sogar Aufschluss über sein Selbstverständnis als Historiker geben, das er in seinem großen Romanprojekt in einzigartiger Weise entwirft. So können die in den literarischen Landschaften entworfenen Inszenierungen des Betrachters ein breites Spektrum füllen, das von einer neuen Wertschätzung der modernen, dynamischen Welt bis hin zur Darstellung des völligen Autonomieverlusts des Individuums reichen kann. Im Folgenden wird die Ästhetik des Pittoresken zunächst ausführlich dargestellt. Eine solche detaillierte Besprechung der betreffenden englischen Schriften ist bisher in der Forschung nicht unternommen worden. So kann durch die Darstellung der Theorien von William Gilpin, Uvedale Price und Richard Payne Knight der wahrnehmungsund erkenntniskritische Kern der Ästhetik dargelegt werden, der in der For25 Hier ergeben sich aus der Wahl der Gattung Prosa zudem weitere Möglichkeiten für die Interpretation, wie z. B. die Analogisierung der Ästhetik des Pittoresken und der Landschaft als Zeichensystem mit den verschiedenen Ebenen eines Erzähltextes.

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Einleitung

schung zumeist hinter einem abweichenden Verständnis des Begriffs pittoresk in den Hintergrund geraten muss bzw. gar keine Beachtung findet.

2

Das Pittoreske

2.1

Begriffsgeschichte und Forschungsstand

Der englische Begriff picturesque bedeutet gemäß seiner Etymologie zunächst einmal »bildhaft«, »in der Weise der Malerei« oder »wie in einem Gemälde«.26 Er stammt ursprünglich aus dem Italienischen und wurde nach heutigem Kenntnisstand von Giorgio Vasari in seinem 1550 erschienenen Werk Le vite de’ piffl eccellenti architetti, pittori e scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri zum ersten Mal verwendet.27 Mit der Bezeichnung »alla pittoresca« bewertet er einen bestimmten Zeichenstil, bei dem durch Hell-Dunkel-Effekte und die Verwischung der Konturen die besondere ›malerische‹ Wirkung erzielt wird.28 Ab dem späten 17. Jahrhundert breitet der Begriff sich dann von Italien ausgehend auch in den anderen europäischen Sprachen aus, wie es mit zahlreichen Fachausdrücken aus dem Bereich der Malerei geschieht, für die Italien in dieser Zeit noch immer Vorbildcharakter besitzt. Pittoresk – oder pittoresque im 26 The Oxford Dictionary of English Etymology gibt zum Begriff picturesque an: »such as would make an effective or striking picture«, »to express in the style of a picture«, »in the style of a painter«. (Hrsg. von C. T. Onions, Oxford, Clarendon Press, 1966, S. 678) 27 Weitere Verwendung fand der italienische Begriff auch in den während der 1660er Jahre erschienenen kunsttheoretischen Schriften des venezianischen Malers Marco Boschini, die in der Forschung als ausschlaggebend für die weitere Verbreitung des Begriffs angeführt werden. Vgl. hierzu Philip Sohm, Pittoresco. Marco Boschini, his critics, and their critiques of painterly brushwork in seventeenth- and eighteenth-century Italy (Cambridge Studies in the History of Art), New York u. a., Cambridge University Press, 1991, »Introduction«; außerdem Götz Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln, DuMont, 1986, S. 390. 28 Vgl. Vasari: »[…] altri, di chiaro e scuro, si conducono su fogli tinti, che fanno un mezzo, e la penna fa il lineamento, cioH il dintorno o profilo, e l’inchiostro poi con un poco d’acqua fa una tinta dolce che lo vela ed ombra; di poi, con un pennello sottile intinto nella biacca stemperata con la gomma si lumeggia il disegno: e questo modo H molto alla pittoresca, e mostra piF l’ordine del colorito.« (Le vite de’ piF eccelenti pittori, scultori ed architettori scritte da Giorgio Vasari pittore aretino, hrsg. von Gaetano Milanesi, Florenz, Sansoni, 1878, Bd. 1, S. 175)

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Das Pittoreske

Französischen – dient dabei in der Regel zunächst weiterhin zur Beschreibung bestimmter Malweisen.29 So benutzt ihn der englische Kunsthistoriker William Aglionby 1685 zur Beschreibung eines freien, skizzenhaften Stils: »This the Italians call working A la pittoresk, that is boldly.«30 Und auch der niederländische Maler Gerard de Lairesse verwendet ihn in ähnlicher Weise, wenn er in seinem 1707 erschienenen Groot Schilderboek zwischen dem ›hohen‹, klassizistischen Stil und dem ›niederen‹, noch unkonventionellen ›malerischen‹ Stil der neuen Landschaftsmalerei unterscheidet.31 Mit der neuen Stilrichtung des Rokoko und dem Gefallen am Unregelmäßigen, Asymmetrischen kann die freie, spielerische Malweise in Frankreich ab 1730 sogar zum »genre pittoresque« avancieren, das den »go0t nouveau« repräsentiert.32 Bis weit ins 18. Jahrhundert konkurriert nun der neue Geschmack mit dem klassischen Schönheitsideal: »L’.me aime la sym8trie, mais elle aime aussi les contrastes«, wie Montesquieu in seinem 1757 erschienenen Essai sur le go0t erklärt.33 Der Essai stellt ein aussagekräftiges Zeugnis für die neue Vorliebe einer Ästhetik der Vielfalt und der Kontraste dar, die für die Sinne interessanter ist als die klassischen Ideale der Symmetrie und der Geschlossenheit, die eher den Verstand ansprechen (»la 29 Wil Munsters korrigiert den Forschungsstand zur Übernahme des Begriffs ins Französische, indem er die erste Verwendung auf 1658 datiert: In seinen Versen an »Monsieur Mignart, le plus grand peintre de notre siHcle« beschreibt Scarron das Leben des Malers als »vivre / la pittoresque«, womit der Autor bewusst auf den italienischen Originalausdruck alla pittoresca anspielt. Der Begriff ist jedoch zu dieser Zeit noch nicht im französischen Sprachgebrauch geläufig. Er etabliert sich erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, z. B. mit Roger de Piles Cours de peinture par principes von 1708. Vgl. Munsters, La po8tique du pittoresque en France de 1700 / 1830 (Histoire des id8es et critique litt8raire. 297), GenHve, Droz, 1991, S. 26. 30 Painting Illustrated in Three Diallogues…Together with the Lives of the Most Eminent Painters…, zitiert bei Walter J. Hipple Jr., The Beautiful, the Sublime & the Picturesque in Eighteenth-Century British Aesthetic Theory, Carbondale, The Southern Illinois University Press, 1957, S. 185. 31 Vgl. zur Gattung der Landschaftsmalerei und ihrem neuartigen, ›malerischen‹ Stil Eschenburg, Landschaft in der deutschen Malerei, S. 95ff. Eschenburg legt dar, dass mit dem ›Malerischen‹ »sämtliche Oberflächenerscheinungen der Erde zu fassen [waren]. Bei dieser Betrachtungsweise ging es weniger um die Bedeutungszusammenhänge der Dinge als vielmehr um den Augenreiz, dem alle Dinge gleich sind, sofern sie nur die gewünschten Empfindungen im Betrachter auslösen. Die zentralen Begriffe sind Interessantheit, Mannigfaltigkeit und Abwechslung.« (S. 95) 32 Vgl. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, S. 362. Der Begriff pittoresk wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts allgemein häufig im Zusammhang mit den Eigenschaften frei, skizzenhaft, originell oder rau zur Beschreibung der Malweise verwendet. Vgl. hierzu auch Johannes Dobai: »Diese Begriffe wurzelten in der Literatur- und Kunstlehre der Renaissance und teils auch in der Antike, ihre Verschmelzung begann aber erst im 17. Jahrhundert. […] Die meisten Kunstkenner der Barockzeit waren der Ansicht, dass sich das Genie des Künstlers in seinen rauen, malerischen Skizzen am offensten zeige.« (Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, Bd. 1: 1700–1750, Bern, Benteli, 1974, S. 551) 33 Montesquieu, Œuvres complHtes (L’Int8grale), hrsg. von Daniel Oster, Paris, Pditions du Seuil, 1964, S. 847.

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raison […] fait que la sym8trie pla%t / l’.me«34). Der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts viel besprochene Reiz des Je ne sais quoi verdeutlicht den Geschmackswandel besonders eingängig. Vor allem Marivaux stellt mit seiner berühmten Allegorie zweier Gärten eine Theorie dieses neuen Ideals bereit: Gegenüber dem schönen Garten kann der des Je ne sais quoi den Betrachter durch seine ständigen Überraschungen langanhaltend faszinieren, ein Potenzial, das Marivaux allen Künsten und vor allem der Sprache zuspricht.35 Im Laufe des Jahrhunderts etabliert sich so eine Ästhetik des Interessanten, die mit der späteren ästhetischen Kategorie des Pittoresken eng verknüpft ist.36 Die Entwicklungen gehen hier vor allem von Frankreich und England aus, wo es im Rahmen des Empirismus und des Sensualismus zu interessanten wechselseitigen Einflüssen kommt.37 Im Zusammenhang mit diesen neuen ästhetischen Idealen, die alle Formen künstlerischer Gestaltung durchdringen, lässt sich dann auch eine Übertragung des Begriffs pittoresk auf andere Bereiche außerhalb der Kunsttheorie beobachten, wobei die Grundbedeutung »in der Weise der Malerei« gewahrt bleibt. In der Literatur und Rhetorik wird der Begriff schon in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zur Beschreibung eines lebhaften, abwechslungsreichen und anschaulichen Stils benutzt.38 Diese literaturtheoretische Verwendung des Begriffs ist vor allem in Frankreich von zentraler Bedeutung, wo sich mit dem Aufkommen der deskriptiven Poesie auch eine eigene po8sie pittoresque entwickelt, wie Wil Munsters in seiner ausführlichen Untersuchung La po8tique du pittoresque en France de 1700 / 1830 zeigt. Vor dem Hintergrund der gegenseitigen Durchdringung von Malerei und Dichtung gemäß Horaz’ Formel ut pictura poesis entwickeln sich die Stilbezeichnungen

34 Ebd. 35 Vgl. Marivaux, Journaux et Œuvres diverses, hrsg. von Fr8d8ric Deloffre / Michel Gilot, Paris, Garnier, 1988, S. 346–351. Die Auslösung von Überraschungen und die Reizung der Neugierde werden später im Landschaftsgarten zu zentralen Anliegen. Vgl. dazu unten, Kap. 2.2.1 und Kap. 2.2.2.1. 36 Im Zusammenhang mit der Theorie des Interessanten sind vor allem Diderots Kunstbetrachtungen und Reflexionen über die ästhetische Wahrnehmung bedeutsam. Vgl. hierzu Karlheinz Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff (Bild und Text), München, Wilhelm Fink, 1997, Kapitel »Ästhetik des Interessanten. Dargestellte Bilderfahrung in Diderots Salons«. 37 Michel Delon bündelt die entsprechenden ästhetischen, anthropologischen und philosophischen Neuerungen unter dem Begriff der Energie. Vgl. seine wichtige Studie L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres (1770–1820) (Litt8ratures Modernes), Paris, PUF, 1988. Zu den Einflüssen Englands auf den französischen go0t nouveau im Verlauf des 18. Jahrhunderts vgl. z. B. Jean Ehrard, »Nature et jardins dans la pens8e franÅaise du 18e siHcle«, in: Dix-huitiHme siHcle 45 (2013), S. 365–377. 38 Alexander Pope gebraucht z. B. den Begriff in dieser Weise schon in den Anmerkungen zu seiner 1717 veröffentlichten Übersetzung von Homers Ilias. Vgl. Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 185.

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descriptif und pittoresque zu Schlagwörtern der Literaturtheorie und -kritik.39 Während sie zeitweise (wie d8crire/description und peindre/peinture) sogar synonym verwendet werden, zeichnet sich der pittoreske Stil in der Regel dadurch aus, die Natur im Hinblick auf ihr Potenzial für die Imaginationskraft darzustellen.40 Die entscheidenden Impulse zur weiteren Entwicklung des Begriffs gehen in dieser Zeit jedoch von England aus und resultieren aus seiner Anbindung an die Theorie der Landschaftsgestaltung. Das Phänomen des Landschaftsparks entsteht in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts und die Diskussion über die jeweiligen Gestaltungsmaßnahmen, die in Form von Gartentraktaten geführt wird, stellt einen zentralen Bestandteil des intellektuellen Lebens dar.41 Pittoresk dient nun in diesem Umfeld dazu, bestimmte Landschaftsarrangements zu beschreiben, die besonders reizvoll erscheinen und dem Betrachter ästhetisches amusement bieten.42 Als Maßstab zur Beurteilung und Diskussion solcher Szenen dienten die großen barock-klassizistischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts, Nicolas Poussin, sein Schwager Gaspard Dughet, Claude Lorrain, Salvator Rosa und einige holländische Maler dieser Epoche, wie zum Beispiel Jacob van Ruisdael. Die jungen Adligen, die im Rahmen ihrer Grand Tour ab dem Ende des 17. Jahrhunderts nach Italien kommen, können hier sowohl die berühmten Landschaftsgemälde als auch die bevorzugten Motive der Künstler, allen voran die römische campagna, besichtigen.43 In England entwickelt sich daraufhin ein regelrechter Kult um die betreffenden Landschaftsgemälde, der die Entwicklung des Landschaftsparks entscheidend beeinflusst: Das größte Vergnügen empfindet der Spaziergänger im Landschaftspark nun durch die Entdeckung pittoresker Szenen, das heißt durch Landschaftsausschnitte, die an 39 Vgl. hierzu Munsters, La po8tique du pittoresque, S. 153ff. 40 Vgl. ebd., S. 168ff. Delon spricht von einem »passage d’une linguistique de la clart8 / une linguistique de l’expression, d’une esth8tique de l’imitation / une esth8tique de la cr8ation«, der sich im 18. Jahrhundert vollzieht, vgl. L’id8e d’8nergie en tournant des LumiHres, S. 58ff. und S. 131ff. 41 Die Diskussion wurde hauptsächlich von gebildeten Kunstkennern, den sogenannten dilettanti geführt. Sir Francis Dashwood gründete in den 1730er Jahren die Society of Dilettanti, in der unter zahlreichen vermögenden Kunstliebhabern auch Uvedale Price und Richard Payne Knight Mitglieder waren. Vgl. dazu auch Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik, S. 801f. 42 Vgl. zu dieser neuen Verwendung des Begriffs in England vor allem Christopher Hussey, The Picturesque. Studies in a Point of View, London / Edinburgh, Frank Cass & Co., 21967 (11927), S. 32ff. Laut Hussey haben vor allem die Dichter James Thomson (The Seasons) und John Dyer (Grongar Hill) mit ihren literarischen Landschaftsdarstellungen die Wandlung des Begriffs vorangetrieben. 43 Zur Rezeption der italienischen Malerei in England und deren Auswirkung auf den Begriffsgebrauch vgl. Elizabeth W. Manwaring, Italian Landscape in Eighteenth Century England, London, Frank Cass & Co., 1965 (11925), S. 167ff.

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die klassischen Arrangements der Gemälde erinnern und mit ihnen verglichen werden können. »Comparing objects and tracing resemblances« hatte Joseph Addison schon 1712 in seiner bedeutenden Schrift The Pleasures of the Imagination als eines der wertvollen secondary pleasures beschrieben.44 Während der Begriff als Entlehnung aus dem Italienischen also bisher überwiegend zur Bezeichnung eines bestimmten, der Malerei eigenen Stils verwendet wurde, erlangt das englische picturesque durch die Gartentheorie seine Grundbedeutung »effektvoll im Sinne eines Bildeindrucks«, »wie in einem Gemälde«. Durch die Reiseliteratur, die im 18. Jahrhundert ein florierendes Genre und ein »Diskussionsforum für moderne (Landschafts-) Ästhetik«45 darstellt, breitet sich der neue englische Geschmack auch in andere Länder aus und lässt die Faszination für pittoreske, malerische Landschaften in weiten Teilen Europas zum Kultphänomen werden. Das neue Landschaftsideal wird jedoch nicht nur in Form der Parkgestaltung aufgegriffen, sondern auch in der unberührten Natur aufgespürt: »Precipices, mountains, torrents, wolves, numblings, Salvator Rosa!«, wie Horace Walpole 1739 bei seiner Alpenüberquerung auf dem Weg nach Italien ausrief.46 In Frankreich entstehen ab Mitte des Jahrhunderts zahlreiche Voyages pittoresques, Reiseberichte, in denen die Autoren von besonders malerischen Routen, Landschaften, Ruinen oder Gärten berichten,47 und in England entwickelt sich aus den Frühformen des Tourismus der Typ des picturesque tourist.48 Durch die Reisebewegung und die Aufwertung der heimischen, englischen Kulturlandschaft verbreitet sich der Begriff nun in weiten Teilen der Gesellschaft und wird zum Modewort. Gegen Ende des Jahrhunderts gelangt die Bewegung auf ihren Höhepunkt, wozu vor allem die Reiseberichte des Vikars William Gilpin beitragen, die als Handbuch veröffentlicht werden und in den 1780er Jahren ganzen Scharen von Touristen als Anleitung zum ›richtigen‹ Reisen dienen. Mit Gilpins 1792 veröffentlichtem Werk Three Essays: 44 Die Schrift erschien zunächst in Form einzelner Artikel in der Zeitschrift The Spectator. Ein Ausschnitt des hier relevanten Artikels findet sich in Malcolm Andrews Anthologie The Picturesque. Literary Sources and Documents, die alle wichtigen Texte und Theorien um die Ästhetik des Pittoresken umfasst und teilweise erstmals zugänglich macht. (3 Bde., Mountfield, Helm Information, 1994, hier Bd. 1, S. 65f.) 45 Erdmut Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820 (Litterae. 122), Freiburg im Breisgau / Berlin, Rombach, 2005, S. 89. 46 The Letters of Horace Walpole, Earl of Oxford, 8 Bde., hrsg. von Peter Cunningham, London, Richard Bentley, 1923, Bd. 1, S. 26. 47 Vgl. hierzu Munsters, La po8tique du pittoresque, S. 203ff. Der Verfasser dieses Genres zeigt sich laut Munsters »toujours attentif aux d8tails pittoresques des hommes, des paysages et des architectures qui font couleur locale.« Kennzeichnend ist »l’emploi fr8quent du mot ›pittoresque‹ lui-mÞme pour d8signer la chose en ses formes les plus vari8es.« (Ebd., S. 204) 48 Vgl. zu diesem neuen Typ des Reisenden Malcolm Andrews, The Search for the Picturesque. Landscape Aesthetics and Tourism in Britain (1760–1800), Aldershot, Scolar Press, 1989, bes. S. 3ff. und S. 67ff.

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on Picturesque Beauty ; on Picturesque Travel; and on Sketching Landscape: to which is added a Poem, on Landscape Painting beginnt die intensivste Phase der Auseinandersetzung mit dem Pittoresken und seine Theoretisierung. Gilpin und die beiden Gutsbesitzer Uvedale Price und Richard Payne Knight, die als die drei führenden Theoretiker des Pittoresken gelten, lösen den Begriff in ihren Schriften aus seiner engen Bindung an die Landschaftsmalerei und das Malerische im Allgemeinen. Über einen bestimmten Modus der Naturwahrnehmung und des Umgangs mit Landschaft, den vor allem Gilpin noch fordert, entwickelt sich das Pittoreske durch Price und Payne Knight zu einer speziellen, neuen Form der Landschaftsgartengestaltung und zur eigenen ästhetischen Kategorie. Durch die rahmengebende Thematik des Landschaftsgartens, die in dieser Form nur in England existiert, gewinnt der Begriff hier seine entscheidende wahrnehmungs- und erkenntniskritische Bedeutung. Die Theorien von Gilpin, Price und Payne Knight verleihen ihm eine besondere Tiefendimension im Hinblick auf Fragen der (Natur-) Wahrnehmung, der Welterfahrung und der Erkenntnismöglichkeiten.49 Dieses besondere Potenzial des Pittoresken wird durch die Vielfalt an unterschiedlichen Bedeutungsnuancen, möglichen Gebrauchsweisen und Kontexten, denen sich der Begriff pittoresk in anderen Ländern beugen muss, eher verdunkelt. Besonders für Italien lässt sich konstatieren, dass eine theoretische Diskussion um das neue Landschaftsideal weitgehend ausbleibt. Grund hierfür ist die Sonderstellung der italienischen Romantik, die hinter anderen europäischen Nationalliteraturen deutlich zurückbleibt.50 Auch außerhalb Italiens lässt sich jedoch an den jeweiligen Verwendungsweisen des Begriffs beobachten, dass die Loslösung von der Konnotation des Malerischen und seine Öffnung für erkenntniskritische Implikationen nie mit der gleichen Konsequenz vollzogen wurde, wie sie die englischen Theoretiker des Pittoresken durchsetzen.51 Auf diese These und die notwendige Unterscheidung zwischen 49 In Deutschland bestimmt die erkenntnistheoretische Funktion des Kunstwerks (das heißt z. B. das Theorem der Vieldeutigkeit oder der Relativität des Betrachterstandpunkts) ebenfalls die ästhetische Debatte des späten 18. Jahrhunderts. (Vgl. hierzu Bernd Brunemeier, Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit. Die semantische Qualität und Kommunikativitätsfunktion des Kunstwerks in der Poetik und Ästhetik der Goethezeit (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft. 13), Amsterdam, Grüner, 1983) Da die Gartentheorie aber noch hinter dem englischen Vorbild zurückbleibt – Hirschfelds Gartentheorie wird dies in Kap. 2.2 exemplarisch veranschaulichen –, beeinflussen Erkenntnistheorie und Landschaftsästhetik sich hier nicht in ähnlich produktiver Weise, wie es in England der Fall ist. 50 Entsprechend existiert in Italien nur ein größerer pittoresker Landschaftsgarten, die Parkanlage des Schlosses von Caserta in der Nähe von Neapel. Auch die literarische Auseinandersetzung mit der pittoresken Landschaft erfolgt weniger intensiv als in anderen Ländern. Neben Manzoni sind vor allem Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802) zu nennen, die die neue Landschaftsästhetik aufgreifen. 51 Vgl. hierzu z. B. Munsters, der innerhalb seiner ausgiebigen Analyse des Begriffs des Pittoresken in Frankreich konstatiert: »Tout le long du XIXe siHcle, ›pittoresque‹ garda cette

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zwei verschiedenen Bedeutungsschichten wird im Lauf unserer Untersuchungen noch des Öfteren zurückzukommen sein. Schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigt sich, dass die englische Theorie des Pittoresken keine langfristige Wirkung innerhalb der Geschichte der Ästhetik entfalten kann und sich die besonders von Price geforderte eigenständige ästhetische Kategorie nicht etabliert.52 Zum einen lässt sich beobachten, dass pittoresk weiterhin als Stilbezeichnung innerhalb der Kunst und der Dichtungslehre verwendet wird. Der Begriff beschreibt dann einen lebendigen, verspielten, phantasievollen Stil, der dem klassischen Abbilddiskurs entgegensteht und das neue Ideal des Romantischen repräsentiert.53 So gebraucht August Wilhelm Schlegel den Begriff in seinen Berliner Vorlesungen von 1801/1802 als Kampfbegriff gegen die klassische Dichtkunst, die er als ›architektonisch‹ und ›plastisch‹ bezeichnet.54 Und auch in Frankreich setzen sich die Romantiker in ihren theoretischen Schriften mit dem Begriff auseinander und fassen darunter all die Facetten der Wirklichkeit, die das klassische Schönheitsideal aus der Literatur und Kunst ferngehalten hatte.55 Diese po8sie pittoresque erlebt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Frankreich ihre Blütezeit und gipfelt in Werken wie Hugos Les Orientales.56 Dient der Begriff dagegen zur Klassifizierung bestimmter Landschaften, lässt sich zum anderen in den folgenden Jahrzehnten eine fortschreitende Banalisierung des Begriffs beobachten, die im Grunde bis heute fortwirkt. Einen Höhepunkt findet diese Entwicklung in der Genremalerei des 19. Jahrhunderts, wenn Gemälde von beschaulichen Motiven, reicher Farbigkeit und ungeordnet wirkender Vielfalt als pittoresk bezeichnet werden. Diese Entwicklung gilt auch für England, wo die Ideen des picturesque movement allein in der Werbung der Tourismusbranche für besonders malerische Landschafts-

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signification premiHre de ›relatif / la peinture‹ / ›propre au peintre‹.« (La po8tique du pittoresque, S. 32) Das Pittoreske findet sich heute in keinem der wichtigen Lexika der Philosophie (z. B. The Cambridge Dictionary of Philosophy, The Oxford Dictionary of Philosophy, Historisches Wörterbuch der Philosophie) und konnte sich in dieser Disziplin nie neben dem Schönen und dem Erhabenen behaupten. Die beiden Begriffe pittoresk und romantisch wurden schon im 18. Jahrhundert zeitweise synonym verwendet, da sich auch romantisch zunächst auf Landschaften bezog. Letzteres erhielt jedoch schon bald eine Tiefendimension und implizierte sodann ein besonderes Wahrnehmungserlebnis des Individuums im Angesicht der Landschaft. Vgl. hierzu Michel Delon, »Romantique: sur l’apparition du mot en franÅais«, in: Ernst / Geyer (Hrsg.), Die Romantik, S. 99–109. Vgl. außerdem Raymond Immerwahr, »›Romantic‹ and its Cognates in England, Germany, and France before 1790«, in: Hans Eichner (Hrsg.), ›Romantic‹ and its Cognates. The European History of a Word, Manchester, University Press, 1972, S. 17–97, bes. S. 41ff. Vgl. hierzu Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, S. 494. In dieser Weise thematisiert ihn vor allem Hugo in seinem berühmten Pr8face de Cromwell. Vgl. dazu Munsters, La po8tique du pittoresque, S. 192ff. Vgl. ebd., S. 203f.

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ansichten bis heute fortwirken.57 So ist von Gilpins, Prices und Payne Knights Theorie des Pittoresken im heutigen Sprachgebrauch nichts übrig geblieben, vielmehr finden sich in der Begriffsverwendung sogar Anklänge ans Kitschige, Nostalgische.58 Die Vielschichtigkeit des Begriffs spiegelt sich schließlich auch in der Forschungsliteratur wider. Es lässt sich beobachten, dass das Pittoreske im engeren Sinn, so wie es in der englischen Theorie Ende des 18. Jahrhunderts entworfen wurde, fast ausschließlich Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen geworden ist.59 Im Bereich der Literaturwissenschaft lässt sich die Auseinandersetzung mit den zentralen englischen Schriften weitgehend auf die Anglistik eingrenzen. Hier sind einige Arbeiten entstanden, die sich gezielt mit Gilpins, Prices und Payne Knights Konzeptionen des Begriffs befassen und die wahrnehmungs- und erkenntniskritische Dimension des Pittoresken thematisieren.60 In den anderen Philologien zeigt sich dagegen, dass das Pittoreske eher im 57 Vgl. hierzu Andrews, The Search for the Picturesque, S. vii. 58 Zur Problematik des Begriffs im heutigen Sprachgebrauch vgl. auch Carl Paul Barbier : »Far from being incisive, ›picturesque‹ may mean today anything from vivid, colourful, striking, to curious, quaint, odd, even charming and old-fashioned. It can variously be applied to a face, to the coloured jerseys of a rugby scrum, or to a row of half-timbered cottages; and being a graphic adjective, should call up a definite visual image. Rarely does it summon more than a sketchy vignette, unless supplementary information be given, when the adjective itself becomes almost superfluous, at most only predisposing one to visualize the object.« (William Gilpin. His drawings, teaching, and theory of the Picturesque, Oxford, University Press, 1963, S. i) Vgl. außerdem John Dixon Hunt: »The term ›picturesque‹ is indeed a capacious label, including more ideas than just an appeal to painting: the same landscapes were and continue to this day to be called ›English‹, ›modern‹, ›rococo‹, ›natural‹, even ›informal‹. (The Picturesque Garden in Europe, S. 8) 59 Neben den zahlreichen Arbeiten aus dem Bereich der Landschaftsarchitektur ist hier vor allem die 2006 erschienene Monographie von Kerstin Walter zu nennen: Das Pittoreske. Die Theorie des englischen Landschaftsgartens als Baustein zum Verständnis von Kunst der Gegenwart (Benrather Schriften. Bibliothek zur Schlossarchitektur des 18. Jahrhunderts und zur Europäischen Gartenkunst. 2), Düsseldorf, Wernersche Verlagsgesellschaft. Walter legt darin die englische Theorie des Pittoresken ausführlich dar und macht ihre kulturkritischen, rezeptionsästhetischen und kunsttheoretischen Implikationen für die Interpretation zeitgenössischer Kunst fruchtbar. Die wahrnehmungskritischen Schriften zum Pittoresken stellen, so ihr Fazit, einen Schlüssel für das Verständnis aktueller Werke dar. 60 Elisabeth Manwaring untersucht bereits in ihrer 1925 erschienenen Studie Italian Landscape in Eighteenth Century England pittoreske Landschaftsdarstellungen in englischen Romanen des 18. Jahrhunderts, arbeitet dabei aber noch mit der älteren Bedeutung von pittoresk, die sich auf die italienische Barockmalerei bezieht. (Vgl. das Kapitel »The Landscape Arts and the Picturesque in the Novel of the Eighteenth Century«, S. 201ff.) Alan Liu legt einen interessanten Ansatz vor, indem er das Pittoreske vor dem Hintergrund der machtpolitischen Dimension des Landschaftsgartens liest und in seinen literarischen Gestaltungen Ausdrücke eines »arrested desire« erkennt. Als Beispiel dient ihm Wordsworths An Evening Walk. (Wordsworth. The Sense of History, Stanford, University Press, 1989, S. 62ff.) Darüber hinaus sind vor allem die Arbeiten von Eckhard Lobsien zu nennen. Sie werden im Folgenden noch vorgestellt.

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Hinblick auf seine Grundbedeutung des Malerischen und als Ausdruck einer neuen, romantischen (Natur-) Empfindsamkeit das Interesse auf sich zieht. Hier lässt sich zwischen Ansätzen unterscheiden, die entweder die Entwicklung der Landschaftsästhetik im 18. Jahrhundert und ihren literarischen Niederschlag thematisieren,61 oder das Pittoreske als ästhetisches und poetologisches Prinzip in den verschiedenen Künsten untersuchen.62 Der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der englischen Theorie des Pittoresken lässt sich auf die Studie The Picturesque. Studies in a Point of View (1927) des Architekturkritikers und Journalisten Christopher Hussey zurückführen. Sie sorgt dafür, dass das Pittoreske, das im 19. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten war, erstmals Gegenstand der kunsthistorischen Forschung wird. Hussey vertritt in seiner Untersuchung die These, dass das Pittoreske erstmals für die Anerkennung der Rolle der Imagination im Wahrnehmungsprozess gesorgt und damit sowohl der Romantik als auch modernen Denkweisen und rezeptionsästhetischen Fragen im Allgemeinen den Weg bereitet hat: It occurred at the point when an art shifted its appeal from the reason to the imagination. […] Thus the picturesque interregnum between classic and romantic art was necessary in order to enable the imagination to form the habit of feeling through the eyes.63

In den folgenden Jahrzehnten entstehen dann verschiedene Arbeiten, die sich intensiv mit den englischen Schriften auseinandersetzen und das Pittoreske als eigenständiges ästhetisches Prinzip ins Visier nehmen. Hier sind vor allem die Untersuchungen von Nikolaus Pevsner und Walter J. Hipple Jr. hervorzuheben. Pevsner leistet mit seinen zahlreichen, in den 40er Jahren verfassten Artikeln den wichtigsten Forschungsbeitrag zum Pittoresken im Bereich der Architektur.64 Er 61 Vgl. hierzu vor allem Sophie Le M8nahHze, L’Invention du Jardin Romantique en France 1761–1808, Neuilly-sur-Seine, Spiralinthe, 2001; außerdem Massimo Venturi Ferriolo, Giardini e paesaggio dei romantici (Kepos. 9), Milano, Guerini, 1998, bes. S. 50ff. 62 Als besonders wertvoll präsentiert sich hier die 1991 erschienene Untersuchung von Wil Munsters La po8tique du pittoresque en France de 1700 / 1830, die die verschiedenen Bedeutungsstationen des französischen Begriffs pittoresque nachzeichnet und dabei alle relevanten poetologischen und programmatischen Schriften bespricht. Die Arbeit spiegelt die Bedeutsamkeit des pittoresken Stils in Frankreich. Hier sei außerdem auf den interessanten Ansatz von Annette Richards verwiesen, die das Pittoreske als Stilprinzip in der Musik untersucht: The Free Fantasia and the Musical Picturesque (New Perspectives in Music History and Criticism), Cambridge, University Press, 2001. 63 Hussey, The Picturesque, S. 4. 64 Unter den neueren Arbeiten aus dem Bereich der Architektur, die sich gezielt mit den englischen Schriften auseinandersetzen und ihren Wert für gegenwärtige Theorien herausstellen, vgl. Sidney K. Robinson, Inquiry into the Picturesque, Chicago, The University of Chicago Press, 1991; J. Mordaunt Crook, The Dilemma of Style. Architectural Ideas from the Picturesque to the Post-Modern, London / Chicago, University of Chicago Press, 1987.

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beschreibt das Pittoreske als »Schönheitsideal der Irregularität und der Phantasie«65, das den einflussreichsten englischen Beitrag zur europäischen Kunstgeschichte darstellt. Diese Bedeutsamkeit des Pittoresken stellt auch Hipple in seiner Untersuchung The Beautiful, the Sublime & the Picturesque in EighteenthCentury British Aesthetic Theory (1957) heraus, jedoch aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik. Er bespricht darin alle relevanten Autoren und Schriften des 18. Jahrhunderts, die sich mit den Ästhetiken des Schönen, Erhabenen und Pittoresken auseinandersetzen. Dabei beleuchtet er sowohl das Potenzial als auch die letztendlichen Schwierigkeiten des Pittoresken, sich als eigenständige ästhetische Kategorie durchzusetzen.66 Ab den 1960er Jahren lassen sich daraufhin im angloamerikanischen Raum einzelne Ansätze beobachten, die zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen des Pittoresken unterscheiden. In Abgrenzung zu der weiteren, an der Malerei orientierten Bedeutung des Begriffs extrapolieren diese Untersuchungen aus Gilpins, Prices und Payne Knights Schriften eine engere Definition des Begriffs, die die wahrnehmungskritischen Aspekte der Ästhetik in den Vordergrund stellt. Der Literaturwissenschaftler Martin Price weist in seinem 1965 erschienenen Aufsatz »The Picturesque Moment« erstmals daraufhin, dass es sich im Fall besonders malerischer, angenehm zu betrachtender Bildkompositionen nur um »the picturesque […] taken in its most fundamental sense« handelt.67 Die 65 Nikolaus Pevsner, Architektur und Design. Von der Romantik zur Sachlichkeit (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts), München, Prestel, 1971, S. 15. Der Sammelband umfasst zahlreiche Artikel, die Pevsner in den 40er Jahren in der Zeitschrift Architectural Review veröffentlicht hat. So auch den wichtigen Beitrag »The Genesis of the Picturesque« (1944), der in der deutschen Übersetzung unter dem Titel »Von der Entstehung des Malerischen als Kunstprinzip« ebenfalls darin enthalten ist. Vgl. außerdem sein Buch The Englishness of English Art. An Expanded and Annotated Version of the Reith Lectures Broadcast in October and November 1955 (London, Architectural Press, 1956), in dem er die Bedeutung des pittoresken Landschaftsgartens für die europäische Kunstgeschichte herausstellt. (Vgl. bes. S. 163ff.) 66 Hipples Ansatz ermöglicht, die Frage der Abgrenzung zwischen den drei Kategorien und ihre entscheidenden Unterschiede zu beleuchten. Zum Pittoresken vgl. bes. The Beautiful, the Sublime & the Picturesque, S. 185ff. 67 Martin Price, »The Picturesque Moment«, in: Frederick W. Hilles / Harold Bloom (Hrsg.), From Sensibility to Romanticism. Essays Presented to Frederick A. Pottle, New York, Oxford University Press, 1965, S. 259–292, hier S. 266. Vgl. ebd.: »Its standard is that of pictorial composition rather than the features of ruggedness and abrupt transitions that where to be abstracted from it. There is the typical picturesque preference for the composed view from a low point to a spectacular but sprawling vista, and there is the picturesque celebration of clouds.« Zur Unterscheidung der beiden Bedeutungen vgl. auch die Arbeiten des amerikanischen Landschaftsarchitekten John Dixon Hunt, der der Entwicklung des Pittoresken ein »movement from a learned and universally translatable picturesque to one much more hospitable to the language of forms and to the vague, the local, the sentimental, and the subjective« zugrunde legt. (Gardens and the Picturesque. Studies in the History of Landscape Architecture, Cambridge Massachusetts / London, MIT Press, 1997, S. 128) Vgl. auch bereits

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tiefergehende Konzeption des Pittoresken erläutert er demgegenüber mit den Begriffen structure und texture des New Criticism und vergleicht die pittoreske Landschaft mit einem poetischen Text, in dem der inhaltliche Zusammenhang von einer verwirrend komplexen Oberfläche verdeckt wird. Der Betrachter der Landschaft ist »trapped in a dazzling play of perspective […], haunted by the difficulties of ›reading‹ the structure and identifying the interpenetrating spaces.«68 An diesen neuen Ansatz knüpft dann 1981 Eckhard Lobsien an, der mit seiner Monographie Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung einen bedeutenden Forschungsbeitrag sowohl im Hinblick auf die Theorie des Pittoresken als auch für den Bereich der literarischen Landschaftsdarstellung leistet. Lobsien zeigt am Beispiel amerikanischer Lyrik und Prosa des 18. und 19. Jahrhunderts, dass literarische Landschaften kein konkretes Landschaftserlebnis simulieren wollen, sondern vielmehr im Medium der Sprache die Bedingungen reflektieren, unter denen der ästhetische Gegenstand der Landschaft überhaupt erfahrbar wird. Das Pittoreske erweist sich in diesem Zusammenhang als ein Sonderfall der Landschaftserfahrung, da es durch seine erhöhte Komplexität bereits von sich aus eine »Reflexion auf die Bedingungen von Bedeutungskonstitutionen und deren Ersetzbarkeit« darstellt.69 In seinem 1986 erschienenen Aufsatz »Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken« konzipiert Lobsien die drei Landschaftstypen vor dem Hintergrund der empiristischen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts als Zeichensysteme. Der sinnlich erfahrene Gegenstand ›Landschaft‹ setzt beim Betrachter bestimmte Assoziationsvorgänge und Verknüpfungen der Ideen in Gang, aus denen sich das ästhetische Urteil ›schön‹, ›erhaben‹ oder ›pittoresk‹ ergibt. Letzteres trifft dabei jedoch gerade auf solche Kunstgegenstände zu, die durch eine Vielzahl an Reibungspunkten den Wahrnehmungsprozess erschweren und den Betrachter so daran hindern, das Wahrgenommene zu interpretieren und Bedeutungen abzuleiten.70 Lobsien stellt damit erstmals systematisch den wahrnehmungskritischen Kern der Theorie des Pittoresken heraus und macht damit auf ihren eigentlichen Wert aufmerksam. Ist die pittoreske Landschaft zudem Gegenstand literarischer Darstellung, lassen sich hier besonders vielversprechende Interpretationsmöglichkeiten ansetzen. In den letzten Jahrzehnten lässt sich abschließend beobachten, dass das Pitsein erstes Werk zur Landschaftsästhetik des 18. Jahrhunderts: The Figure in the Landscape: Poetry, Painting, and Gardening during the Eighteenth Century, Baltimore / London, The Johns Hopkins University Press, 1976, bes. S. 192ff. 68 Martin Price, »The Picturesque Moment«, S. 262. 69 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. 70 Vgl. Lobsien, »Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken«, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Landschaft (Suhrkamp-Taschenbuch. 2069), Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1986, S. 159–177, hier S. 160ff.

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toreske in ganz verschiedenen Disziplinen und vor dem Hintergrund unterschiedlichster Forschungsinteressen thematisiert wird. Malcolm Andrews leistet mit seinem 1989 erschienenen Standardwerk The Search for the Picturesque. Landscape Aesthetics and Tourism in Britain, 1760–1800 einen erheblichen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Erforschung des picturesque movement und untersucht seine Auswirkungen auf die Entwicklung des Tourismus.71 Stephen Copley und Peter Garside wählen mit ihrem Band The Politics of the Picturesque. Literature, landscape and aesthetics since 1770 (1994) einen interdisziplinären Ansatz und nähern sich dem Pittoresken durch sozialhistorisch ausgerichtete Einzeluntersuchungen, die die Vielfältigkeit des Themas widerspiegeln.72 Ebenso zeigt sich, dass das Pittoreske immer wieder im Hinblick auf seine europäische Dimension zum Forschungsgegenstand wird. So behandelt John Dixon Hunt in seinem neuesten Werk The Picturesque Garden in Europe (2002) die Rezeption des pittoresken Landschaftsgartens in den anderen Ländern Europas und knüpft damit an Pevsners These von der Bedeutsamkeit des Pittoresken für die europäische Kunstgeschichte an.73 Im Folgenden soll das Pittoreske im Hinblick auf seine wahrnehmungs- und erkenntniskritischen Implikationen untersucht werden. Eine derartige ausführliche Darstellung der zentralen Schriften ist in der Forschung bisher ausgeblieben, obwohl hierin der größte Mehrwert der Ästhetik für weiterführende Betrachtungen liegt, wie auch Lobsien festhält: Die gesamte Diskussion um ›picturesque‹, wie sie ab etwa 1780 in England mit großer Intensität geführt wurde, läßt sich am zweckmäßigsten unter dem Aspekt einer hermeneutischen Schwellenhebung betrachten, also der Ausbildung eines gesteigerten Bewußtseins für die Voraussetzungen von Bedeutungskonstitutionen und deren Substituierbarkeit.74

71 Andrews legt mit The Picturesque. Literary Sources & Documents (1994) außerdem eine neue umfassende Zusammenstellung aller wichtigen Texte zum Pittoresken vor, die die Kontroverse um das neue Ideal ab den 1790er Jahren vollständig abbildet. 72 Das Spektrum der Beiträge umfasst u. a. pittoreske Mode, die pittoreske Reisebewegung, die Auswirkungen des Pittoresken auf die Landwirtschaft und die pittoreske Ästhetik in der Stadtplanung. Vgl. Stephen Copley / Peter Garside (Hrsg.), The Politics of the Picturesque. Literature, landscape and aesthetics since 1770, Cambridge, University Press, 1994. Auch Andrews weist im Vorwort seiner Textsammlung auf die diffuse Verbreitung des Themas hin: »The term is peculiarly complex. In recent years it has been inordinately problematised: the Picturesque has been gendered, politicized, deconstructed, rehistoricized and so on. Every single ›-ism‹ has preyed upon it.« (The Picturesque, Bd. 1, S. 4) 73 Pevsner weist hierauf erstmals in den 50er Jahren hin, vgl. The Englishness of English Art, S. 163ff. In seiner Studie The Picturesque Garden and its influence outside the British Isles (Washington, Trustees for Harvard University, 1974) setzt er diesen Ansatz weiter fort. 74 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 50.

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Auf diese Weise wird auch zu sehen sein, inwiefern in dem neuen Landschaftsideal nicht nur Entwicklungen gipfeln, die sich bereits im Verlauf des gesamten Jahrhunderts Bahn gebrochen haben, sondern sich hierin gleichzeitig ein Umbruch manifestiert, der für die geistesgeschichtlichen Entwicklungen bis heute bedeutsam ist.

2.2

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2.2.1 Die neue Wahrnehmung von Natur im Landschaftsgarten Die Erprobung neuer Wahrnehmungsweisen bestimmt im 18. Jahrhundert von England ausgehend die Gestaltung von Landschaftsgärten in weiten Teilen Europas. Durch die Einwirkungen des Sensualismus und des Empirismus entwickelt sich die Gartentheorie zum Medium und Diskussionsforum für wahrnehmungstheoretische Überlegungen. Viele Gestaltungsmaßnahmen, die ab den 1790er Jahren in die Theorie des Pittoresken einfließen, werden bereits im Lauf des Jahrhunderts entwickelt und vorbereitet, so dass sich ein kurzer Blick auf die entsprechenden Neuerungen anbietet, bevor im Folgenden die zentralen Schriften der Theoretiker des Pittoresken untersucht werden.75 Indem schon die ersten Landschaftsparks sozusagen als dreidimensionale Umsetzung der barocken Landschaftsgemälde konzipiert werden, verändern sie die Rolle des Betrachters entscheidend. Bereits die Anlagen William Kents (1685–1748), der als erster großer englischer Landschaftsarchitekt gilt, stellen Abfolgen einzelner Landschaftsszenen dar, die an die Gemälde der großen Maler erinnern sollen. Die Konsequenzen dieses Einflusses der Landschaftsmalerei, den Alexander Pope auf die prägnante Formel »All gardening is landscape painting«76 bringt, sind dabei weitreichender, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Zum einen wird durch die Verarbeitung der Szenen im Landschaftspark ein ›bildhaftes‹ Sehen gefordert, das wie oben dargelegt den Be75 Zur Entwicklung und Theorie des englischen Landschaftsgartens im Allgemeinen vgl. die folgenden Standardwerke: H. F. Clark, The English Landscape Garden, Gloucester, Pleiades, 1948; Miles Hadfield, The English Landscape Garden, Aylesbury, Shire Publications, 1977; Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln, DuMont, 1989; Valentin Hammerschmidt / Joachim Wilke, Die Entdeckung der Landschaft. Englische Gärten des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt, 1990; John Dixon Hunt und Peter Willis bieten eine umfangreiche Zusammenstellung aller wichtigen Texte und Theorien: The Genius of the Place. The English Landscape Garden 1620–1820, London, Elek, 1979. 76 Joseph Spence, Anecdotes, Observations, and Characters of Books and Men. Collected from Conversation, 2 Bde., Oxford, Clarendon Press, 1966, Bd. 1, S. 252. Zum ut pictura hortusIdeal vgl. auch Hunt, Gardens and the Picturesque, S. 105ff.

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deutungswandel des englischen picturesque prägt. Der Betrachter muss im Rekurs auf sein Wissen, seine Erfahrungen und Erinnerungen sowie seine Einbildungskraft die pittoresken Szenen selbst als solche erkennen und empfindet durch dieses Erlebnis und den Vergleich der Szenen ästhetisches Vergnügen. Diesen besonderen Modus der Landschaftswahrnehmung wird Gilpin später aufgreifen und weiterentwickeln. Zum anderen ist der Betrachter im Landschaftspark aber auch gezwungen, sich durch die Landschaft zu bewegen, denn die einzelnen prospects erschließen sich ihm nur im Gehen. Diese Veränderung der Betrachterrolle stellt eine entscheidende Weiche für die weitere Erprobung neuer Wahrnehmungsweisen dar. Während der Betrachter des geometrischen Barockgartens einen Überblick über die Anlage gewinnen kann und die Schönheit der Natur damit als »durch die Form anschaulich ausgedrückte[n] Verstandesbegriff«77 auffasst, geraten die Objekte im Landschaftspark buchstäblich in Bewegung. Mit dem Gang durch die »›Gemäldegalerie‹ unter freiem Himmel«78 wird die Distanz zum Wahrnehmungsgegenstand aufgehoben, die im Barockgarten die Deutung des Gesehenen als Symbol für die absolutistische Macht des Regenten ermöglicht. Der Landschaftsgarten ist damit ein »Garten der Freiheit«79, indem er nicht mehr der Verherrlichung seines Besitzers dient, sondern stattdessen auf das Individuum ausgerichtet ist: Der ideale Benutzer des Englischen Gartens war der mit Muße genießende Spaziergänger, der sich ablenken und unabhängig von seinem gesellschaftlichen Stand als Individuum fühlen wollte.80

Hierin zeigt sich auch die politisch-gesellschaftliche Dimension des Landschaftsparks, der bereits in seinen Anfängen liberales Gedankengut und die unabhängige Geisteshaltung des Landadels verkörpern soll. Durch die frühe Glorious Revolution (1688–1689) kommt es in England bereits im 18. Jahrhundert zu einer Umstrukturierung der Landwirtschaft: weg vom Feudalsystem hin zu einer immer stärkeren ökonomischen, kapitalistischen Ausprägung.81 Während die Neugier am ungezierten, ländlichen Leben sich in französischen 77 78 79 80 81

Kehn, »Ästhetische Landschaftserfahrung«, S. 1. Von Buttlar, Der Landschaftsgarten, S. 14. Eberle / von Buttlar, »Landschaft und Landschaftsgarten«, S. 408. Eschenburg, Landschaft in der deutschen Malerei, S. 101. Die Revolution der Landwirtschaft, die sich später auch in andere Länder Europas ausbreitet, geht zunächst von England aus. Hier werden die sogenannten enclosures angelegt, ›Einhegungen‹ von Seiten der Landadligen auf ehemaligem Gemeindeland, das nun zur intensiveren privaten Nutzung des Bodens dienen sollte. Diese neue Form der Landwirtschaft wirkt sich auf die Gartenkunst aus, indem sich zum einen durch die Hecken, künstlichen Weiden und Baumkulturen das Bild der englischen Natur selbst veränderte und zum anderen die künstlerische Einstellung zur Landschaft durch die neue Rolle des Landadligen kultiviert und gefördert wurde. (Vgl. hierzu auch Lobsien, Landschaft in Texten, S. 62f.; Eschenburg, Landschaft in der deutschen Malerei, S. 96f.)

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Adelskreisen noch auf das Schäferspiel beschränkt, widmet sich der englische Gutsherr dem Studium der Landwirtschaft, um Pächter und zahlreiche angestellte Bauern selbst anleiten zu können. Mit der Bewirtschaftung des Besitzes geht auch die Gartenkunst einher, die zu einem seiner Hauptinteressen wird.82 Die ›Befreiung des Blicks‹ im Landschaftspark vollzieht sich also auch im übertragenen Sinn. Dabei ist es interessant zu beobachten, wie sie im Lauf des Jahrhunderts immer deutlichere Züge annimmt und parallel zur Rezeption der Theorien des Sensualismus wirkungsästhetische Aspekte bei der Gestaltung der Landschaftsgärten immer mehr in den Vordergrund treten. Obwohl Kents ›begehbare Gemälde‹ die Landschaft bereits für das individuelle Imaginationsvermögen geöffnet haben, fordern sie doch noch eine bestimmte Rezeptionshaltung von Seiten des Betrachters. Neben der Landschaftsmalerei enthalten sie Anspielungen auf die griechische Mythologie, aber auch zum Beispiel Büsten zeitgenössischer nationaler Helden wie John Milton, Isaac Newton oder Alexander Pope.83 So wird dem gebildeten Betrachter zumeist »ein festes literarisches Programm angeboten«84, das es zu erschließen gilt. Demgegenüber leitet Lancelot ›Capability‹ Brown (1716–1783), der unter anderem das von Kent gestaltete Stowe überarbeitet, eine neue, entscheidende Phase des Landschaftsgartens ein. Er eliminiert alle literarischen und mythologischen Reminiszenzen und sorgt damit nicht nur für eine weitere ›Demokratisierung‹ des Parks, sondern revolutioniert ihn auch in wirkungsästhetischer Hinsicht. Indem er das lesbare Programm der Anlage durch ein rein formales ersetzt, realisiert er einen weiteren Schritt hin zu einer individuellen, freien Wahrnehmung des Landschaftsgartens, die wiederum für die Theorie des Pittoresken ausschlaggebend 82 Zu dieser politisch-gesellschaftlichen Dimension des englischen Landschaftsgartens vgl. weiterführend Adrian von Buttlar, Der englische Landsitz 1715–1760. Symbol eines liberalen Weltentwurfs (Studia Iconologica. 4), Mittenwald, Mäander, 1982. Zur weiteren Entwicklung der politischen Bedeutung vgl. Anne Helmreich, The English Garden and National Identity. The Competing Styles of Garden Design, 1870–1914 (Modern Architecture and Cultural Identity), Cambridge, University Press, 2002. Die abweichende Situation Frankreichs, wo sich die durch den Landschaftsgarten vorgeführte liberale und soziale Gesinnung zumeist als Fiktion erweist, stellt Sophie Le M8nahHze heraus: »Le jardin pittoresque entre ouverture et exclusion: les paradoxes de l’intimit8«, in: Simone Bernard-Griffiths u. a. (Hrsg.), Jardins et intimit8 dans la litt8rature europ8enne (1750–1920). Actes du colloque du Centre de Recherches R8volutioniares et Romantiques. Clermont-Ferrand, 22–24 mars 2006 (R8volutions et Romantismes. 12), Clermont-Ferrand, Presses Universitaires Blaise Pascal, 2008, S. 41–54. 83 Der Landschaftsgarten und die frühe Phase des Pittoresken haben für die Besinnung auf die nationale Identität eine entscheidende Rolle gespielt und erstmals die antiken Vorbilder in den Hintergrund gedrängt. Vgl. hierzu Andrews, The Search for the Picturesque, S. 12ff. Der Zusammenhang zwischen Gartenkunst und nationalistischen Bestrebungen kann im 18. Jahrhundert für ganz Europa gelten. Vgl. Sophie Le M8nahHze, »Paysage et sentiment national entre lumiHres et romantisme«, in: Arlette Bouloumi8 / Isabelle Trivisani-Moreau (Hrsg.), Le g8nie du lieu. Des paysages en litt8rature, Paris, Imago, 2005, S. 117–127. 84 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 64.

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sein wird: »[D]ie Szenerie wird zum epistemologischen Explorationsfeld.«85 Da der Park nicht mehr allegorisch gedeutet werden muss und keinen bestimmten ikonographischen Verstehenshorizont mehr besitzt, öffnet er sich wieder ein Stück weiter für die individuelle Erprobung des Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögens. Hiermit realisiert der Landschaftsgarten einen Umbruch, der für die gesamte Epoche kennzeichnend ist: »In dem Wechsel von Kent zu Brown vollzieht sich auf dem Gebiet der Gartenkunst jener für das 18. Jahrhundert signifikante Wechsel von einem rhetorischen zum ästhetischen Paradigma.«86 Mit seiner Gestaltung von Fernblicken, wohlgeordneten Baumgruppen, sanft gewelltem Terrain und sich schlängelnder Seen bewegt sich Brown jedoch immer im Rahmen des klassischen Schönheitsideals und des Prinzips der Einheit in der Vielfalt,87 eine Reglementierung, die die Theoretiker des Pittoresken später als Erstarrung kritisieren werden. Humphrey Repton (1752–1818), der ab 1780 als Landschaftsarchitekt tätig war, entwickelt den Landschaftsgarten in dieser Hinsicht bereits weiter und steht den Ideen des Pittoresken am nächsten.88 Seine entscheidende Neuerung liegt darin, die natürlichen Gegebenheiten und damit die Charakteristik der jeweiligen Naturlandschaft wertzuschätzen und seine Gestaltungsmaßnahmen an ihr zu orientieren.89 Statt das gesamte Terrain nach einem bestimmten, als schön empfundenen Muster zu überformen, respektiert er die Ungleichheit einzelner Landschaftsteile und privilegiert damit die Prinzipien von Vielfalt und Abwechslungsreichtum in einer bisher ungekannten Weise. Die ›Befreiung des Blicks‹ gelangt durch Repton zu einem neuen Höhepunkt, indem der Betrachtungsvorgang nicht mehr gelenkt wird und der Spaziergänger ständig wechselnde Ansichten genießen kann, die zudem noch die charakteristischen Eigenheiten des jeweiligen Naturausschnitts aufweisen. Mit diesem Schritt schafft Repton die entscheidende Voraussetzung für die Theorie des Pittoresken. Er überwindet mit seiner Wertschätzung von Natürlichkeit, Vielfalt und Individualität nicht nur das klassische Schönheits- und Einheitsideal, sondern bereitet der Phantasie und den subjektiven Stimmungen sowohl des Gestalters als auch des Betrachters einen nie gekannten Spielraum. 85 Ebd., S. 66. 86 Ebd. 87 Zu Browns Gestaltungsmaßnahmen vgl. weiterführend David Watkin, The English Vision. The Picturesque in Architecture, Landscape and Garden Design, London, Murray, 1982, S. 67ff. 88 1803 erscheint sein wichtigstes Werk Observations on the Theory and Practice of Landscape Gardening. Zu Reptons Bedeutung für die Theorie des Pittoresken vgl. auch Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 224ff. 89 Horace Walpole nennt bereits in seinem 1771 verfassten Essay The History of the Modern Taste in Gardening die Natürlichkeit als Hauptmerkmal der pittoresken Landschaft, die er aufgrund dieser Eigenschaft als ›moderne‹ Landschaft klassifiziert. Vgl. hierzu auch Hunt, The Picturesque Garden in Europe, S. 8f.

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Das neue ästhetische Vergnügen an der Vielfalt im Landschaftsgarten korrespondiert dabei mit einer Geschmackswandlung, die sich bereits in weiten Teilen Europas durchsetzt und der Rezeption der englischen Anlagen und Traktate eine enorme Dynamik verleiht. In Deutschland erscheint von 1779 bis 1885 in fünf Bänden Hirschfelds Theorie der Gartenkunst, die sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit den englischen Theorien auszeichnet. Laut Hirschfeld soll sich der Landschaftsgarten in unterschiedliche ›Gegenden‹ aufteilen, die durch keine Blickachse verbunden sind und so die Spannung des Betrachters steigern. Der Gartengestalter müsse »wie das Drama, noch mehr, wie die landschaftliche Natur selbst, die Kunst der Verwickelung beobachten; nicht vorher sehen lassen, wohin man kommt, welche Szene folgt.«90 Der Effekt der Neugierde, die von Kunstgegenständen gereizt und wachgehalten werden soll, spielt in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle.91 Während Hirschfeld hier noch einen Spannungsanstieg wie im Drama fordert und damit das klassische Einheitsideal respektiert, werden die Theoretiker des Pittoresken das Prinzip der curiosity später von allen moralischen Zwecken befreien und zur reinen Potenzierung der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten einsetzen. In der Theorie der Gartenkunst wird die Einheitsperspektive zwar bereits spielerisch unterlaufen, Hirschfeld spricht der Vielfalt jedoch noch nicht dieselbe Freiheit zu wie beispielsweise Repton. Die Gartenkunst soll »durch Abwechslung und Contraste die Empfindung erfrischen«92, der somit intensivierte, angehaltene Wahrnehmungsprozess bleibt dabei aber noch zweckgerichtet und mündet am Ende in die Vorstellung eines Ganzen: Jedes Element muss so angeordnet sein, »daß bei aller Gegenwart und Mannigfaltigkeit anderer Gegenstände, die zugleich wahrgenommen werden, doch immer die Eindrücke aller gleichsam in einer ununterbrochenen Linie« zusammenlaufen.93 In Frankreich finden die neuen Ideale der Landschaftsgestaltung vor allem in Jacques Delilles didaktischem Gedicht Les Jardins – ou l’art d’embellir les paysages (1782) ein wertvolles Zeugnis. Den Neuerungen im englischen Park entsprechend lehnt auch Delille die Starrheit und Künstlichkeit der älteren Anlagen ab und fordert wie Repton den Landschaftsarchitekten auf, sich in den g8nie du lieu einzufühlen und seine Gestaltungsmaßnahmen mit den natürlichen Ei-

90 Christian C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst. 5 Bände in zwei Bänden, Hildesheim / New York, Olms, 1973, Bd. 4, S. 128. 91 Vgl. z. B. den Abschnitt »De la curiosit8« in Montesquieus Essai sur le go0t. (Œuvres complHtes, S. 846) Joseph Addison führt novelty schon 1712 in seinen Pleasures of the Imagination als ästhetische Kategorie ein, die die Neugierde des Betrachters bedient. Vgl. hierzu unten, Kap. 2.2.2.1. 92 Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 4, S. 128. 93 Ebd., Bd. 1, S. 228f.

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genheiten zu höchstmöglichem ästhetischen Reiz zu verbinden.94 Dieser Reiz liegt dann im ständigen Wechsel des Wahrnehmungsangebots und damit in der Vervielfältigung des Vergnügens des Spaziergängers: Vous marchez : l’horizon vous ob8it ; la terre S’8lHve ou redescend, s’8tend ou se resserre. Vos sites, vos plaisirs, changent / chaque pas.95

Delille betont dabei immer wieder die Wichtigkeit von Vielfalt, Bewegung, Abwechslungsreichtum und angenehmen Kontrasten, so dass die Sinne des Betrachters in stetiger Spannung gehalten werden: Variez les sujets, ou que leur aspect change : Rapproch8s, 8loign8s, entrevus, d8couverts, Qu’ils offrent tour / tour vingt spectacles divers. Que de l’effet qui suit l’adroite incertitude Laisse / l’œil curieux sa douce inqui8tude ; Qu’enfin les ornements avec go0t soient plac8s, Jamais trop impr8vus, jamais trop annonc8s. Surtout du mouvement : sans lui, sans sa magie, L’esprit d8soccup8 retombe en l8thargie ;96

Gegenüber Hirschfeld emanzipiert Delille die »douce inqui8tude« der Neugierde bereits von ihren moralischen Zwecken.97 Interessant ist aber darüber hinaus auch seine Forderung nach einem harmonischen Mittelmaß an Vielfalt und Kontrasten, das den Betrachter zwar fordert, ihn aber gleichsam nicht überfordert. Diesen Mittelzustand, der sich aus der Vermischung verschiedener Stilkategorien ergibt,98 werden Gilpin, Price und Payne Knight in ihren Theorien 94 Im ersten Gesang des Gedichts heißt es: »Avant tout, connaissez votre site ; et du lieu / Adorez le G8nie, et consultez le Dieu.« (Les Jardins – ou l’Art d’embellir les Paysages, Paris, Chapsal, 1844, S. 20) Zur älteren Gartenform erklärt er : »Il fut un temps funeste oF, tourmentant la terre, / Aux sites les plus beaux l’art d8clarait la guerre.« (Ebd., S. 21) 95 Ebd., S. 22. 96 Ebd., S. 25f. 97 Vgl. hierzu Jean Deprun, der am Beispiel dieser Szene aufzeigt, inwiefern der Wandel der Gartentheorie im 18. Jahrhundert auch eine Bedeutungsverschiebung der inqui8tude widerspiegelt. Während die starren, geometrischen Formen des Barockgartens den Geist und die Imagination gefangen hielten und auf diese Weise Ängste im Betrachter schürten, wird die inqui8tude im englischen Garten durch den Abwechslungsreichtum der Anlage bewusst herbeigeführt und gewinnt dabei eine positivere Konnotation: »[…] la pointe de l’angoisse s’est 8mouss8e en chemin. L’inqui8tude subsiste sous ses deux faces: agitation et insatisfaction.« La philosophie de l’inqui8tude en France au XVIIIe siHcle (BibliothHque d’Histoire de la Philosophie), Paris, Librairie Philosophique J. Vrin, 1979, S. 54, vgl. auch S. 45ff. Vgl. zu diesem Aspekt der neuen Gartenform auch Delon, L’id8e d’8nergie en tournant des LumiHres, S. 126ff. 98 Das Ideal der Vielfalt bezieht sich bei Delille auch bereits auf die Verbindung unterschied-

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ausführlich thematisieren und als eines der Hauptkriterien des Pittoresken definieren. Die aufgezeigten Stationen der Entwicklung des Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert machen bereits deutlich, dass die Landschaft immer mehr dem individuellen Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen zur Verfügung gestellt wird. Sie richtet sich nicht mehr an den Verstand des Betrachters, wie es noch im klassizistischen Barockgarten der Fall war, sondern ermöglicht ihm ein »Erleben der eigenen Subjektivität«99. Dabei werden solcherlei Gestaltungsmaßnahmen bevorzugt, die den Rezeptionsprozess intensivieren, ihn damit aber gleichzeitig auch erschweren. Der Verlauf der Wahrnehmung selbst gerät in den Blick. Mit der Ästhetik des Pittoresken, die ab den 1790er Jahren formuliert wird, findet diese neue Art der Landschaftswahrnehmung ihren theoretischen Ausdruck und ihre größte Entfaltung. Sie kann als Produkt zahlreicher philosophischer und ästhetischer Neuerungen in der Zeit der europäischen Aufklärung betrachtet werden, die erstmals den subjektiven, individuellen Wahrnehmungsprozess erkunden. Im Folgenden werden die zentralen Inhalte der Ästhetik des Pittoresken anhand ihrer drei wichtigsten Theoretiker vorgestellt.

2.2.2 Die Theoretiker des Pittoresken 2.2.2.1 William Gilpins Forderung nach einem neuen Umgang mit Natur Der Vikar William Gilpin (1724–1804) setzt sich Zeit seines Lebens intensiv mit dem Thema der Landschaftsbetrachtung auseinander und kann sowohl als erster Theoretiker des Pittoresken sowie als Urheber des picturesque movement gelten.100 Auch seine frühen Schriften beinhalten bereits wichtige Impulse für die spätere Formulierung einer Theorie des Pittoresken. Am Beginn seiner Auseinandersetzung mit der Gestaltung und Rezeption der Landschaft steht sein Besuch des von William Kent gestalteten Stowe im Jahr 1747. Gilpin verarbeitet seine Eindrücke in der didaktischen Schrift A Dialogue upon the Gardens of the Right Honourable the Lord Viscount Cobham at Stowe in Buckinghamshire, die licher ästhetischer Kategorien, die nicht mehr strikt voneinander getrennt werden müssen, wie es die klassische Doktrin vorgegeben hatte. Die Natur verbindet Hohes und Niedriges und so soll es auch in der Kunst sein: »Avez-vous donc connu ces rapports invisibles / Des corps inanim8s et des Þtres sensibles ? /Avez-vous entendu des eaux, des pr8s, des bois, / La muette 8loquence et la secrHte voix ? / Rendez-nous ces effets. Que du riant au sombre, / Du noble au gracieux, les passages sans nombre / M’int8ressent toujours. Simple et grand, fort et doux, / Unissez tous les tons pour plaire / tous les go0ts.« (Les Jardins, S. 24) 99 Kehn, »Ästhetische Landschaftserfahrung«, S. 12. 100 Vgl. zu Gilpins Einfluss auf die neue Reisebewegung und den Aufschwung des Tourismus Andrews, The Search for the Picturesque, S. viii, S. 39ff. und S. 85ff.

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im Folgejahr anonym erscheint. In dem Dialog unterhalten sich die beiden fiktiven Gartenbesucher Callophilus und Polypthon über die Abfolge von Effekten, die sich ihnen beim Spaziergang durch den Park darbietet. Sie erfüllen ihre didaktische Aufgabe, indem sie die neuen Gestaltungsmaßnahmen identifizieren, sich darüber austauschen und ihre Funktion erklären. So beschwert sich zum Beispiel Polypthon über eine Hecke, die ihnen plötzlich die Aussicht versperrt, woraufhin Callophilus ihn folgendermaßen belehrt: You have already had a great many fine Views, and that you may not be cloyed, this Hedge steps in to keep your Attention awake. One Extreme recommends another : The Moralists observe, that a little Adversity quickens our Relish for the Enjoyment of Life; and it is the Man of Taste’s Care not to distribute his Beauties with too profuse a Hand, for a Reason of the same kind.101

Auch in diesem frühen Landschaftsgarten dienen bereits Sichtbarrieren wie die Hecke als Mittel, um die Spannung und die Imaginationstätigkeit des Spaziergängers wachzuhalten. Callophilus und Polypthon besprechen jedoch nicht nur die jeweiligen Funktionen der Gestaltungsmaßnahmen, sondern vergleichen die vorgefundenen Bilder mit anderen Landschaftsszenen aus ihrer Erinnerung.102 Mit seinem didaktischen Werk fordert Gilpin einen bestimmten Umgang mit Landschaft, der in einer ›bildhaften‹ Wahrnehmung der Natur besteht. Der in dieser Betrachtungsweise geschulte Naturbeobachter selektiert aus seinem gesamten Wahrnehmungsbereich diejenigen Ausschnitte heraus, die sich dazu eignen, ein nach seinen Vorstellungen stimmiges und harmonisches Bild zu konstruieren. Welche Naturszenen als solche Bilder dienen können, geben die berühmten Werke der Landschaftsmalerei vor. Sie bilden wie oben gesehen in dieser frühen Phase des Landschaftsgartens den Maßstab für das »hunting after beautiful Objects«.103 Pittoreske Landschaft verleiht hier noch vordergründig durch diesen ›Wiedererkennungswert‹ und den Vergleich der Szenen ästhetisches Vergnügen, wie Addsion es in seinen Pleasures of the Imagination beschrieben hatte. Gilpin findet diesen Genuss jedoch nicht nur im Landschaftsgarten, sondern auch in der freien, wilden Natur der britischen Inseln, wo der entsprechend geschulte Reisende ebenso pittoreske Landschaftsszenen auffinden kann. Diese Aufwertung der heimischen, rauen Landschaften, die dem tradierten Landschaftsideal der barockklassizistischen Malerei eigentlich widersprechen, stellt eine wichtige Etappe für die Entwicklung des Pittoresken dar. In den 1760er und 1770er Jahren unternimmt Gilpin zahlreiche ausgiebige 101 William Gilpin, A Dialogue upon the Gardens of the Rt. Hon. The Lord Viscount Cobham at Stowe in Buckinghamshire, in: Michael Charlesworth (Hrsg.), The English Garden. Literary Sources and Documents, 3 Bde., Mountfield, Helm Information, 1993, Bd. 2, S. 79. 102 Vgl. z. B. ebd., S. 79f. 103 Ebd., S. 83.

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Reisen, um die Natur der britischen Inseln zu studieren. Die dabei angefertigten Notizen und Skizzen werden über Freunde des Vikars, unter anderem die Dichter William Mason und Thomas Gray, einer größeren Leserschaft zugefügt, da Gilpin selbst sie zunächst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hat. Im Zuge der aufkommenden Tourismusbewegung beginnen die Schriften großen Einfluss auf andere Reisende auszuüben. Seine Manuskripte werden ab 1782 in Form einer Buchreihe veröffentlicht und stellen bald das bevorzugte Handbuch des picturesque tourist dar, der auf der Suche pittoresker Landschaftsszenen die englische Natur erkundet. In den Reisebeschreibungen, zum Beispiel den Observations on the River Wye, and Several Parts of South Wales, relative chiefly to Picturesque Beauty ; made in the Summer of the Year 1770104, beginnt Gilpin bereits seine Vorstellung des Pittoresken weiterzuentwickeln und theoretisch zu formulieren. Der wichtigste Impuls, der von seinen frühen Schriften ausgeht, besteht in der neuen Wertschätzung rauer, natürlicher Formen und Materialien, für die er seine Leser zu begeistern wusste: »both for the intrinsic interest of those natural forms and for the contributions they would make to the understanding and to the composition […] of designed landscapes.«105 In seinem 1792 erschienenen Werk Three Essays: on Picturesque Beauty ; on Picturesque Travel; and on Sketching Landscape: to which is added a Poem, on Landscape Painting, der ersten theoretischen Schrift über das Pittoreske, entwickelt Gilpin diese Überlegungen weiter fort. Bereits aus dem Titel des ersten, aus kunsttheoretischer Sicht bedeutendsten Essay geht hervor, dass Gilpin das Pittoreske als Sonderform des Schönen begreift. Der Essay beginnt zudem mit dem Kapitel »Disputes about Beauty«106 und tatsächlich muss Gilpins Forderung 104 Die einzelnen Bücher der Reihe erscheinen jeweils mit dem Titel »Observations / Remaks … relative chiefly to Picturesque Beauty«, so z. B. die darunter wichtigste Schrift »Observations on the River Wye, and Several Parts of South Wales, relative chiefly to Picturesque Beauty ; made in the Summer of the Year 1770«. Eine Auswahl der Texte findet sich in Malcolm Andrews Anthologie The Picturesque. Literary Sources and Documents, Bd. 2. Zu Gilpins Reisen sowie zu weiterführenden biographischen Informationen vgl. Barbier, William Gilpin. 105 Hunt, The Picturesque Garden in Europe, S. 66. Hunt hebt die Bedeutung dieses neuen Ideals für die Gartenkunst hervor: »Now, as a result of more frequent and enthusiastic movement through both rural and wild territory, a wholly fresh treaty between designed, cultural and ›wild‹ landscapes was inaugurated. The consequences of this exchange, to which Gilpin contributed so extensively, are still being explored today.« (S. 66f.) Zur Weiterentwicklung des Pittoresken durch Gilpins Reisen vgl. auch Hipple: »It was in Gilpin’s picturesque travels, which began to appear in 1782, that the picturesque of roughness and intricacy was defined and popularized.« (The Beautiful, The Sublime, and the Picturesque, S. 193) 106 William Gilpin, Three Essays: On Picturesque Beauty; on Picturesque Travel; and on Sketching Landscape: to which is added a Poem, on Landscape Painting, in: Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 2, S. 6. Im Folgenden zitiere ich hieraus unter Angabe des Kurztitels »Three Essays« und der Seitenzahl im fortlaufenden Text.

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nach pittoresker Schönheit vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion um das traditionelle Schönheitsideal betrachtet werden.107 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts distanziert man sich mehr und mehr von der Vorstellung, Schönheit sei eine durch Regeln definierbare Objekteigenschaft und verlagert das Interesse stattdessen auf die Wirkung, die Kunstgegenstände im individuellen Rezeptionsbewusstsein auslösen können. Die Forderung nach einer Klassifizierung dieser Wirkungen geht mit dem Versuch der Etablierung eines Systems ästhetischer Kategorien einher, worüber eine Fülle von Schriften entsteht. Als besonders einflussreich erweist sich die 1757 erschienene Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful von Edmund Burke (1729–1797). Für die Entstehung des Pittoresken kommt Burkes Untersuchung eine zentrale Rolle zu, da vor allem Gilpin und Price sich zur Abgrenzung des Pittoresken immer wieder auf die beiden bereits bestehenden Kategorien beziehen. Ihre wichtigsten Aspekte sollen aus diesem Grund hier vorab kurz vorgestellt werden. Die Enquiry stellt ein physiologisches Erklärungsmodell der beiden ästhetischen Kategorien des Schönen und des Erhabenen dar. So wie die empiristische Kunsttheorie davon ausgeht, dass das Kunstwerk bestimmte Ideen und Reaktionen im Betrachter auslöst, beschreibt auch Burke die psychologischen Effekte, die schöne und erhabene Objekte auf den Betrachter ausüben. Er geht dabei von der Annahme aus, dass Menschen mit dem gleichen Bildungsstand und der gleichen Erfahrung aufgrund ihrer identischen Wahrnehmungsorgane auf bestimmte optische Auslöser gleichermaßen reagieren, das heißt dieselben Emotionen empfinden. Die relevanten Emotionen, also solche, die eine gewisse Stärke erreichen, ordnet er pauschal den beiden Bereichen pain und pleasure zu. Diese beiden Kategorien weisen wiederum klar unterscheidbare psychologische Effekte auf: Most of the ideas which are capable of making a powerful impression on the mind, whether simply of Pain or Pleasure, or of the modifications of those, may be reduced very nearly to these two heads, self-preservation and society ; to the ends of one or the other of which all our passions are calculated to answer.108 107 In diesem Licht müssen auch die kleineren Unsicherheiten in der Argumentation gesehen werden, die der erste Essay On Picturesque Beauty vereinzelt noch erkennen lässt. Gilpin bittet aus diesem Grund auch Joshua Reynolds in seiner Funktion als Vorsitzender der Royal Academy of Arts um eine Stellungnahme zu dem noch unveröffentlichten Manuskript. Reynolds zeigt sich Gilpin darin weitgehend einer Meinung und sein Antwortbrief wird den Essays bei der Publikation vorangestellt. Mit der Veröffentlichung leitet Gilpin so eine heftige Kontroverse um das Pittoreske ein. Vgl. zu dem Briefwechsel und Reynolds Meinung zur Unterscheidung zwischen beauty und picturesque beauty auch Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 199ff. 108 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, Menston, The Scholar Press, 1970, S. 57.

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Der Bereich society bezeichnet den Gesellschaftstrieb des Menschen, sein natürliches Bedürfnis, sich als Teil der Gemeinschaft zu erfahren. Diese Befindlichkeit wird durch schöne Objekte ausgelöst: I call beauty a social quality ; for where woman and men, and not only they, but when other animals give us a sense of joy and pleasure in beholding them, (and there are many that do so) they inspire us with sentiments of tenderness and affection towards their persons; we like to have them near us, and we enter willingly into a kind of relation with them, unless we should have strong reasons to the contrary.109

Während das Schöne Wohlbefinden (pleasure) hervorruft und die sozialen Qualitäten des Betrachters freisetzt, können Objekte, die dem Betrachter Schmerz (pain) verursachen und ihm Gefahr signalisieren, seine individuellen Selbsterhaltungstriebe aktivieren. Solche Objekte subsumiert Burke unter der Kategorie des Erhabenen: The passions which belong to self-preservation, turn on pain and danger ; they are simply painful when their causes immediately affect us; they are delightful when we have an idea of pain and danger, without being actually in such circumstances; this delight I have not called pleasure, because it turns on pain, and because it is different enough from any idea of positive pleasure. Whatever excites this delight, I call Sublime. The passions belonging to self-preservation are the strongest of all the passions.110

Er analysiert im Folgenden die Nervenspannungen und Verarbeitungsmechanismen, die schöne und erhabene Objekte im Betrachter in Gang setzen. Während schöne Objekte zu einer außergewöhnlichen Entspannung der Nervenfasern führen, wird der Prozess der Selbsterhaltung durch eine extreme Anspannung der Nerven im Angesicht der Bedrohung ausgelöst. Um Schmerz in Lust (delight) umzuwandeln, ist neben dem richtigen Training der Nerven (»Exercise necessary for the finer organs«111) eine gewisse Distanz zur Gefahrenquelle notwendig, die eine tatsächliche, akute Lebensbedrohung verhindert. So entsteht die für das Erhabene charakteristische Mischung aus Schrecken und Vergnügen im Moment der gelungenen Selbstbewahrung: […] if the pain and terror are so modified as not to be actually noxious; if the pain is not carried to violence, and the terror is not conversant about the present destruction of 109 Ebd., S. 66f. Der Begriff social richtet sich hier auf die empathischen, zwischenmenschlichen Qualitäten des Menschen im Allgemeinen und klammert sexuelle, geschlechtliche Bindungen aus: »There are two sorts of societies. The first is, the society of sex. The passion belonging to this is called love, and it contains a mixture of lust; its object is the beauty of women. The other is the great society with man and all other animals. The passion subservient to this is called likewise love, but it has no mixture of lust, and its object is beauty ; which is a name I shall apply to all such qualities in things as induce in us a sense of affection and tenderness, or some other passion the most nearly resembling these.« (Ebd., S. 85f.) 110 Ebd., S. 84f. 111 So lautet der Titel des entsprechenden Kapitels, vgl. ebd., S. 256.

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the person, as these emotions clear the parts, whether fine, or gross, of a dangerous and troublesome incumbrance, they are capable of producing delight; not pleasure, but a sort of delightful horror, a sort of tranquility tinged with terror; […] Its object is the sublime. Its highest degree I call astonishment.112

Objekte, die solche Reaktionen im Betrachter auslösen können, verortet Burke vor allem in der Natur. Ein großer Teil seiner Untersuchung befasst sich damit, die verschiedenen Objekteigenschaften zu klassifizieren, die für das Schöne und das Erhabene konstitutiv sind. Dabei richtet er sein Interesse besonders auf die Form von Objekten und nicht so sehr auf deren Inhalt, eine Verlagerung, die für die Theorie des Pittoresken besonders ausschlaggebend ist. In einem zusammenfassenden Vergleich erhabener und schöner Objekte heißt es: For sublime objects are vast in their dimensions, beautiful ones comparatively small; beauty should be smooth, and polished; the great, rugged and negligent; beauty should shun the right line, yet deviate from it insensibly ; the great in many cases loves the right line, and when it deviates, it often makes a strong deviation; beauty should not be obscure; the great ought to be dark and gloomy ; beauty should be light and delicate; the great ought to be solid, and even massive. They are indeed ideas of a very different nature, one being founded on pain, the other on pleasure.113

Erhabene Objekte sind laut Burke weit dimensioniert, gewaltig, dunkel, massiv und uneben, schöne dagegen klein, beschaulich, glatt, hell und gleichmäßig. Diese Eigenschaften spielen vor allem für Gilpins Three Essays eine wichtige Rolle, während mit Prices Versuch der Etablierung des Pittoresken als dritte ästhetische Kategorie die anthropologischen Positionen des Schönen und Erhabenen, das heißt der Gesellschafts- und der Selbsterhaltungstrieb, in den Vordergrund treten. Gilpin reagiert zunächst insofern auf Burkes Enquiry, als dass er neben dem Schönen die spezielle Form der picturesque beauty erkennt. Auch wenn das Pittoreske zunächst noch Eigenschaft des Schönen bleibt, muss laut Gilpin klar zwischen schönen und pittoresken Objekten unterschieden werden: »between those, which please the eye in their natural state; and those, which please from some quality, capable of being illustrated by painting.«114 (Three Essays, S. 7) Diese besondere Qualität des Pittoresken, seine Affinität zum Gemälde, liegt laut Gilpin im Objekt selbst, was ihn zu der Frage führt, worin genau die Kennzeichen 112 Ebd., S. 257. 113 Ebd., S. 237f. 114 Hervorhebung dort, wie in allen folgenden Zitaten aus diesem Werk. Gilpin definiert den Begriff picturesque auch schon in seinem 1768 veröffentlichten Handbuch An Essay on Prints. In dem vorangestellten Teil »Explanation of terms« heißt es dazu: »a term expressive of that peculiar kind of beauty, which is agreeable in a picture.« (London, Strahan, 51802 (11768), S. xii) Im Lauf der Three Essays vermischt Gilpin die Begriffe picturesque und beauty jedoch verschiedentlich noch.

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pittoresker und schöner Objekte liegen. Als eine der wichtigsten Eigenschaften des Schönen führt er wie Burke seine Ebenmäßigkeit (smoothness oder meist synonym verwendet neatness) auf, die ihm eine einmalige Eleganz verleiht, »as if the eye delighted in gliding smoothly over a surface.« (Ebd., S. 8) Die Unebenmäßigkeit dagegen, die beim Betrachten eines schönen Objekts einen störenden Widerstand bedeuten würde, bestimmt er als kennzeichnend für das Pittoreske: Nay, farther, we do not scruple to assert, that roughness forms the most essential point of difference between the beautiful, and the picturesque; as it seems to be that particular quality, which makes objects chiefly pleasing in painting. (Ebd.)

Roughness ist nicht nur charakteristisch für ein ansprechendes Gemälde, sondern findet sich auch in der Natur selbst. Das neue Ideal ist »observable in the smaller, as well as in the larger parts of nature – in the outline, and bark of a tree, as in the rude summit, and craggy sides of a mountain.« (Ebd.) Im Folgenden nennt Gilpin verschiedene Methoden, wie im traditionellen Sinn als schön geltende Landschaftselemente in pittoreske Objekte umgestaltet werden können. Die zur damaligen Zeit viel besprochene Ästhetik der Ruine besitzt in diesem Zusammenhang besondere Anschaulichkeit.115 Bisher sprachen Bauten mit harmonischen Proportionen und symmetrischer Aufteilung das Auge an, but if we introduce it in a picture, it immediately becomes a formal object, and ceases to please. Should we wish to give it picturesque beauty, we must use the mallet, instead of the chisel: we must beat down one half of it, deface the other, and throw the mutilated members around in heaps. In short, from a smooth building we must turn it into a rough ruin. (Ebd.)

Gilpins pragmatische und tatkräftige Verwandlung des »smooth building« verdeutlicht nicht nur auf anschauliche Weise, was er mit dem Begriff roughness impliziert, sondern verweist auch auf die völlige Ästhetisierung der Ruine, die für das Pittoreske typisch ist. Klassische und gotische Gartengebäude in Ruinenform hatten schon Mitte des Jahrhunderts zur Thematisierung der antiken und nationalen Vergangenheit Einzug in den Landschaftspark gehalten. In den späteren Theorien zum Pittoresken lässt sich demgegenüber beobachten, dass von den moralischen Konnotationen der Ruine weitgehend Abstand genommen wird und stattdessen ihre ästhetischen Qualitäten in den Blick rücken. Bei Gilpin lässt sich keine grundlegende hierarchische Unterscheidung zwischen den Naturdingen mehr erkennen, wie sie ausgehend von der barocken Kunst noch bis 115 Ruinen stellten schon seit langer Zeit einen festen Bestandteil des Landschaftsgartens dar. Zum »Cult of the Ruin« in der englischen Landschaftskunst vgl. Watkin, The English Vision, S. 45ff.; zu einer dementsprechenden Auslegung des Pittoresken vgl. außerdem aktuell Sabrina Ferri, »Time in Ruins: Melancholy and Modernity in the Pre-Romantic Natural Picturesque«, in: Italian Studies 69, 2 (2014), S. 204–230.

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weit ins 18. Jahrhundert hinein gewirkt hatte.116 Die Ruine repräsentiert zwar noch immer einen Abfall vom klassischen Schönheitsideal und markiert damit einen Verfallsprozess. Sie verliert jedoch ihre traditionelle Vanitas-Funktion, indem sie nicht mehr mahnend für die conditio humana steht, sondern durch ihre gebrochene Oberfläche vielmehr das ästhetische Vergnügen des Betrachters steigert.117 So veranschaulicht die Ruine bei Gilpin nur in besonders prägnanter Weise, was für den gesamten Landschaftspark gelten soll: Turn the lawn into a piece of broken ground: plant rugged oaks instead of flowering shrubs: break the edges of the walk: give it the rudeness of a road; mark it with wheeltracks; and scatter around a few stones, and brushwood; in a word, instead of making the whole smooth, make it rough; and you make it also picturesque. (Ebd.)

Gilpin begreift pittoreske Objekte in Abgrenzung zu schönen als Verfallsprodukte, die zum Beispiel Gebrauchsspuren aufweisen und damit für den Betrachter ästhetisch viel reizvoller sind als die vollkommenen Originale. Frei nach dem Leitsatz »smoothness offends in picture« (Three Essays, S. 8) fordert er, die Bevorzugung von roughness solle alle Bereiche der Kunst durchdringen, so auch zum Beispiel die Portraitmalerei. Auch hier schiebt sich »die handwerkliche Dimension jeder Kunst und jedes einzelnen Kunstwerks […] vor die reine Anschauung des Ideals.«118 Jugend erscheint im Portrait zu glatt und mühelos, Alter dagegen rau, reibungsvoll und damit ästhetisch wertvoller : »A lovely face of youth smiling with all it’s sweet« verwöhnt das Auge, aber pittoresk ist »the patriarchal head […] which gives that dignity of character ; that force of expression: those lines of wisdom, and experience.« (Ebd., S. 9) Es sind die »rough touches of age« oder auch die durch Anspannung und Leidenschaft bewegten Züge, die dem Gesicht pittoreske Schönheit verleihen. (Ebd.) Im Hinblick auf die Landschaft steht Gilpins roughness zunächst einmal für den »Verzicht auf 116 Vgl. hierzu auch Eschenburg, die die »prinzipielle Gleichheit aller Dinge der Natur« als Kennzeichen des neuen Landschaftsideals des Malerischen gegenüber der barocken Theorie begreift. (Landschaft in der deutschen Malerei, S. 95) Gilpin betont diese Gleichheit immer wieder. Vgl. z. B. Three Essays, S. 21: »We persue beauty in every shape; through nature, through art; and all it’s various arrangements in form, and colour ; admiring it in the grandest objects, and not rejecting it in the humblest.« 117 Andrews begreift diesen Wandel der Ästhetik der Ruine sogar als exemplarisch für die gesamte Entwicklung des Pittoresken: »An example of the shift might be taken from the changing attitudes towards ruined castles. The ›classic‹, ›learned‹ response would see the ruin primarily as a moral emblem of mutability : the later response would be less inclined to interpret than to indulge random melancholic associations or admire the rugged contours of broken masonry and the mixed tints of lichen and moss.« (The Search for the Picturesque, S. viii) Ähnlich schlussfolgert Delon in seiner Untersuchung zur Idee der Energie im 18. Jahrhundert: »Les ruines sont moins vieillesse, caducit8 que jeunesse, dynamisme originel.« (L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, S. 129) 118 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 52f.

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Idealisierung oder metaphorisierende Generalisierung.«119 Indem das pittoreske Objekt den Abfall von vollkommener, müheloser Schönheit ins Bild setzt, weist es »einen wesentlichen Mangel auf, es ist Anti-Ideal.«120 Die Bedeutung von roughness geht jedoch noch über ihre antonymische Funktion im Bezug zu klassischer Schönheit und smoothness hinaus. Gilpin geht im Folgenden der Frage nach, warum sich raue Objekte als besonders geeignet für die Malerei erweisen und nennt in diesem Zusammenhang weitere konstitutive Merkmale des Pittoresken. So führen raue Objekte dazu, dem Landschaftsbild Vielfalt (variety) zu verleihen und so das Wahrnehmungsangebot zu steigern. Dies muss bei der Gestaltung einer pittoresken Szene beachtet werden: Picturesque composition consists in uniting in one whole a variety of parts; and these parts can only be obtained from rough objects. If the smooth mountains, and plains were broken by different objects, the composition might be good, on a supposition the great lines of it were so before. (Three Essays, S. 11)

Ebenmäßige Hügel können dem Betrachter nicht das gleiche ästhetische amusement verschaffen wie aufgebrochene Felswände, die sich als »variety of parts« darbieten, wie es für jede pittoreske Bildkomposition gelten soll. Die Vielfalt darf dabei jedoch niemals solche Dimensionen annehmen, dass die grundsätzliche Einheit des Bildes zu sehr gestört wird: The great foundation of picturesque beauty is the happy union of simplicity and variety. Break the surface […], add trees, rocks, and declivities; that is, give it roughness, and you give it also variety. Thus by enriching the parts of a united whole with roughness, you obtain the combined idea of simplicity, and variety ; from whence results the picturesque. (Ebd., S. 16)

Gilpin respektiert hier bis zu einem bestimmten Grad noch das klassische Einheitsideal, wobei er es durch seine zentrale Forderung »break the surface« bereits einer starken Auflockerung unterzieht, ein Zwischenzustand, der sich auch bereits in Popes Diktum andeutet, das Gilpin seinen Three Essays voranstellt: »Here order in variety we see, where all things differ, yet, where all agree.« Price und Payne Knight werden das Einheitsideal später weiter auflockern, wobei ein bestimmter mittlerer Wert, die »happy union of simplicity and variety« immer charakteristisch für das Pittoreske bleiben wird. Über die Vielfalt hinaus bieten raue Objekte dabei noch einen weiteren Vorteil. Sie eignen sich deshalb so sehr für die Malerei, weil sie ein besonderes Spiel mit Licht-SchattenEffekten ermöglichen: It is the various surfaces of objects, sometimes turning to the light in one way, and sometimes in another, that give the painter his choice of opportunities in massing, and 119 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171. 120 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 53.

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graduating both his lights, and shades. – The richness also of the light depends on the breaks, and little recesses, which it finds on the surfaces of bodies. What the painter calls richness on a surface, is only a variety of little parts; on which the light shining shews all it’s small inequalities, and roughnesses […]. (Three Essays, S. 13f.)

Durch seine Unebenmäßigkeiten und die Vielfalt der Oberflächenerscheinung reflektiert das pittoreske Objekt Licht auf besondere Art und macht es dem Künstler möglich, zahlreiche Abstufungen zwischen Licht und Schatten darzustellen. Die auf diese Weise entstehenden Kontraste (contrasts) stellen das dritte Merkmal des Pittoresken dar. Es gilt auch für die Farbgebung, da glatte Oberflächen meist einfarbig dargestellt werden müssen, während raue wiederum auch Vielfalt in der Farbwahl zulassen. Bei der Darstellung einer rauen Felswand kann der Maler mehrere Töne einer Grundfarbe verwenden, »so that in fact the rich colours of the ground arise generally from it’s broken surface.« (Three Essays, S. 14) Roughness, variety und contrast präsentieren sich also gemäß Gilpins Definition als entscheidende Merkmale pittoresker Schönheit, wobei simplicity zusätzlich angeführt werden kann, da ein bestimmtes Maß an Vervielfältigung der ästhetischen Reize nicht überschritten werden soll. Betrachtet man die Merkmale in ihrer Gesamtheit, wird deutlich, dass es Gilpin bei seiner Beschäftigung mit der Malerei und der Gartenkunst vor allem um einen neuartigen, intensiveren Wahrnehmungsmodus geht. Vor dem oben dargelegten Hintergrund, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts »das individuelle Rezeptionsbewußtsein als Ort der Kunst und auch als Ort der Landschaft«121 erkannt wird, präsentiert sich die pittoreske Landschaft damit als »Inbegriff von Landschaft überhaupt.«122 Mit seiner Forderung nach rauen, kontrastreichen Oberflächen und seinem Leitsatz »break the surface« (z. B. ebd., S. 16) durchbricht Gilpin nicht nur buchstäblich das traditionelle Schönheitsideal, sondern richtet das Interesse auch weg vom Objekt und hin zum Wahrnehmungsprozess selbst. Eckhard Lobsiens Ansatz, die Landschaft vor dem Hintergrund der empiristischen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts als ein Zeichensystem zu verstehen, erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders wertvoll. Lobsien bezieht sich dabei auf Lockes 1690 erschienenen Essay Concerning Humane Understanding, dessen sensualistische Erkenntnistheorie tatsächlich für das gesamte 18. Jahrhundert von fundamentaler Bedeutung ist.123 Locke spricht sich in seiner Studie gegen die Tradition des Rationalismus aus, nach der bestimmte angeborene Ideen das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt bestimmen. Gemäß den Grundsätzen 121 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 160. 122 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163. 123 Vgl. zu dem Essay und seiner Wirkung im 18. Jahrhundert auch Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, S. 363ff.

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des Empirismus stellt er sich demgegenüber einen induktiven Weg zur Erkenntnis vor, der auf der Beobachtung der Natur basiert. In dem ersten Buch seines Essays beschreibt er die Seele des Menschen als einen Spiegel (oder eine Wachstafel), auf dem die einfachen Sinneswahrnehmungen unverfälscht abgebildet und eingeprägt werden können. Diese Eindrücke bezeichnet Locke als simple ideas. Im Bewusstsein werden diese einfachen Ideen dann mit Hilfe bestimmter angeborener Fähigkeiten wie Verstand, Lust und Wille strukturiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Die dabei entstehenden zusammengesetzten Ideen nennt Locke complex ideas. Sie sind sowohl Produkte der Sinneswahrnehmung als auch verschiedener Bewusstseinsvorgänge wie der Erinnerung, des Vergleichs- und Abstraktionsvermögens. Das Zusammenwirken der beiden Bereiche ermöglicht dem Menschen, ein intuitives, begrenztes Wissen von den in sich unendlich komplexen Dingen (particular things) zu erlangen.124 Die Spezifik der pittoresken Landschaft mit ihren Merkmalen roughness, variety und contrast lässt sich nun anhand von Lockes Unterscheidung zwischen simple und complex ideas sehr gut darlegen. Betrachtet man das Pittoreske wie Lobsien vor dem Hintergrund der empiristischen Kunsttheorie als ein semiotisches Zeichenmodell, das bestimmte Reaktionen im Betrachter auslöst, ist für das Pittoreske gerade »die Immanenz der ästhetischen Erfahrung«125 charakteristisch. Die Abgrenzung zum Schönen und Erhabenen kann dies verdeutlichen. Wie auch von Burke beschrieben, zeichnet sich das Schöne durch Ebenmäßigkeit und Überschaubarkeit aus. Bei der Betrachtung eines solchen Gegenstandes kann unser Bewusstsein, das vor allem nach den Prinzipien Kontiguität (Berührung) und Similarität (Ähnlichkeit) arbeitet, die Zeichenstruktur der Einheit in der Vielfalt identifizieren. Das Similaritätsprinzip hat überwogen und wir empfinden Bestätigung in unserem »Bemühen um Herstellung und Stabilisierung einstimmiger Kontexte«126 bzw. pleasure, um mit Burke zu sprechen. Das Erhabene weist demgegenüber in seiner Überdimensionalität eine für das Bewusstsein unbeherrschbare Vielfalt auf. Durch Überraschung oder Überforderung reißt es das Rezeptionsbewusstsein aus dem Nachvollzug der semiotischen Präsentation heraus und veranlasst es »über metaphorische Assoziationen zu Interpretationsakten […]. Auf diese Weise wird es zum Index für etwas anderes (göttliche Allmacht, menschliche Bedingtheit).«127 Sowohl die schöne als auch 124 David Hume führt Lockes sensualistisches Erkenntnismodell mit seiner Enquiry into the Human Understanding 1748 weiter fort, indem er die Sensibilität des Menschen als sein einziges Erkenntnisinstrument bezeichnet und der Vernunft eine widerstreitende Kraft im Erkenntnisprozess zuschreibt. (Vgl. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, S. 385ff.) 125 Lobsien, Landschaften in Texten, S. 53. 126 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 162. 127 Ebd., S. 162f.

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die erhabene Landschaft ermöglichen uns damit, die aufgenommenen simple ideas in complex ideas aufzustufen, das heißt »eine metaphorische oder allegorische Interpretation des Wahrgenommenen durchzuführen.«128 Das ästhetische Urteil ›schön‹ oder ›erhaben‹ entsteht überhaupt erst durch diese Aufstufung. Die pittoreske Landschaft zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, genau diesen Akt der Interpretation und Bedeutungszuweisung zu verhindern. Wenn Gilpin fordert, glatte Oberflächen aufzubrechen und damit roughness, variety und contrast zu produzieren, gleichzeitig aber ein bestimmtes Maß an Vielfalt nicht zu überschreiten (simplicity), schafft er einen Landschaftstyp, der genau zwischen der schönen und der erhabenen Landschaft anzusiedeln ist. Lobsien definiert diese Mittelstellung wie folgt: »Anders als das Schöne ist das Pittoreske eine unideale Vielfalt ohne Einheit, anders als das Erhabene eine durchaus beherrschbare Vielfalt.«129 Der Betrachter der pittoresken Landschaft findet also weder seine rezeptiven Fähigkeiten im Betrachtungsvorgang bestätigt, noch wird er aus dem Wahrnehmungsfeld herausgeführt und zu höheren Interpretationsakten veranlasst. Gilpins Forderungen verhindern, dass die Betrachtung der Landschaft auf einen bestimmten Sinnhorizont hinausläuft und rücken erstmals den Wahrnehmungsprozess selbst in den Fokus. Die pittoreske Landschaft weist eine solche Fülle von Kontrasten, Variationen, Überraschungen auf, daß der Betrachter gänzlich mit deren Realisierung befaßt ist, sich ihren Wirkungen hingibt und nicht durch emblematische Verweisungen aus dem Wahrnehmungsfeld herausgelockt wird.130

Indem die Landschaftserfahrung nun völlig vom Ziel der Deutung befreit ist, wie es sich in der Entwicklung der Gartenkunst bereits angekündigt hatte, wird der Reichtum der ästhetischen Erfahrung unerschöpflich. Gilpin beschreibt diese Erfahrung hauptsächlich in seinem zweiten Essay On Picturesque Travel, einer Art Reiseanleitung, in der er potenzielle sources of amusement für den pittoresken Reisenden auflistet. Schon die Natur an sich kann in ihrer Vielfalt als unversiegbare Quelle ästhetischen Vergnügens betrachtet werden: »the great works of nature, in her simplest and purest stile, open inexhausted springs of amusement.« (Three Essays, S. 20) Dabei spielt das Überraschungsmoment und die Kategorie des Neuen eine entscheidende Rolle: Nor is there in travelling a greater pleasure, than when a scene of grandeur bursts unexpectedly upon the eye, accompanied with some accidental circumstance of the atmosphere, which harmonizes with it, and gives it double value. (Three Essays, S. 21) 128 Ebd., S. 163. 129 Ebd. 130 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 53.

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Joseph Addison hatte bereits 1712 in seinen Pleasures of the Imagination neben greatness und beauty novelty (oder uncommon) als eine dritte ästhetische Kategorie eingeführt. Mit diesem Ansatz stellte er grundlegende Weichen für die spätere Einführung des Pittoresken. Während Addison seine drei Kategorien jedoch noch im Rahmen eines theologischen Weltmodells entfaltet,131 denken Gilpin, Price und Payne Knight die Konsequenzen der dritten Kategorie unter wirkungsästhetischen Prämissen weiter fort. Das Neue dient schon bei Addison im Grunde allein dazu, das Imaginationsvermögen zu beschäftigen, auch wenn er diese Qualität theologisch überformt, indem er sie als Impuls zur Erkundung der Wunder der Schöpfung bewertet.132 Im Lauf des Jahrhunderts löst sich dieser theologische Auslegungshorizont und das Neue, Interessante wird als rein ästhetische Qualität wertgeschätzt. Novelty oder auch curiosity beflügeln die Entdeckerfreude des Reisenden, die Gilpin als erste source of amusement bezeichnet. Die Neugierde versetzt den Betrachter in einen angenehmen Zustand der Spannung und Erwartung: We suppose the country to have been unexplored. Under this circumstance the mind is kept constantly in an agreeable suspence. The love of novelty is the foundation of this pleasure. Every distant horizon promises something new ; and with this pleasing expectation we follow nature through all her walks.133 (Three Essays, S. 22)

Das tatsächliche Auffinden der erhofften Szene stellt dann die zweite Quelle ästhetischen Vergnügens dar. Gemeinsam mit der Vielfalt an Reizen, die die pittoreske Landschaft bietet, kann das Überraschungsmoment hier eine besonders intensive Wirkung erreichen: We are most delighted, when some grand scene, tho perhaps of incorrect composition, rising before the eye, strikes us beyond the power of thought – when the vox faucibus haeret; and every mental operation is suspended. In this pause of intellect; this deliquium of the soul, an enthusiastic sensation of pleasure overspreads it, previous to any examination by the rules of art. The general idea of the scene makes an impression, 131 Das Erhabene dient bei Addison zur Vergegenwärtigung der Größe und Allmacht Gottes. Das Schöne bestätigt den Menschen in seiner Zugehörigkeit zu Gottes Schöpfung und weckt in ihm den Drang zur Fortpflanzung. Das Neue wiederum beflügelt den Menschen, die Wunder der Schöpfung erkunden zu wollen. (Vgl. Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 17ff.) 132 Vgl. hierzu auch Lobsien, Landschaft in Texten, S. 48. 133 Vgl. hierzu auch Delille, der den Reiz der Landschaftserfahrung ganz ähnlich beschrieben hatte, indem er den Landschaftsgestalter aufforderte: »Laisse / l’œil curieux sa douce inqui8tude.« (Les Jardins, S. 25; vgl. auch oben, Kap. 2.2.1 und Deprun, La philosophie de l’inqui8tude, S. 54) Vgl. außerdem Delons Definition moderner Schönheit: »La beaut8 moderne se d8finit comme une surprise continue, c’est-/-dire une progression dans la surprise. Elle n’est plus un 8tat, mais un processus et une relation. Elle est une 8nergie.« (L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, S. 70)

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before any appeal is made to the judgement. We rather feel, that [sic] survey it. (Ebd., S. 22)

Gilpin beschreibt hier genau den Zustand, der sich im Bewusstsein abspielt, bevor es zu einer Interpretation des Wahrgenommenen, zu einer Aufstufung der simple ideas zu complex ideas kommen kann. Die Landschaft beschäftigt allein das Rezeptionsvermögen und erzeugt darin ein extremes Wohlbefinden (»an enthusiastic sensation of pleasure«). Die Erfahrung muss (noch) nicht in ein ästhetisches Urteil überführt werden (»previous to any examination by the rules of art«), wofür die unter anderem von Locke beschriebenen rationalen Fähigkeiten zuständig wären. Gilpin entwickelt seine Überlegungen zum Pittoresken hier in entscheidender Weise fort, indem ästhetisches Vergnügen nicht mehr erst durch den Vergleich von Landschaften oder eine bestimmte gemäldeähnliche ›Bildhaftigkeit‹ der Szene entsteht. Der größte Genuss liegt vielmehr darin, dass die Textur der Landschaft (»some grand scene, tho perhaps of incorrect composition«) das Rezeptionsvermögen so sehr beschäftigt, dass sich der Wahrnehmungsvorgang darin erschöpfen kann. Dem Betrachter, der eigentlich bemüht ist, das Gesehene zu deuten, kommt eine sehr passive Rolle zu, was aber positiv bewertet wird. Damit stellt die pittoreske Landschaft auch einen Angriff auf die instrumentelle Vernunft dar, was aus der zitierten Passage sehr deutlich hervorgeht (»beyond the power of thought«, »every mental operation is suspended«, »pause of intellect«, »before any appeal is made to the judgement«). Die Deutung ist nicht mehr das Ziel des Wahrnehmungsprozesses, im Gegenteil würde sie das ästhetische Vergnügen sogar mindern, da sie die vorgefundene Vielfalt zwangsläufig vereinfachen müsste. An diesem Punkt enthüllt sich die erkenntniskritische Dimension des Pittoresken. Bei Gilpin deutet sie sich bereits an, Price und Payne Knight werden sie weiter ausführen. Wenn der Wahrnehmungsvorgang sich in der Beschäftigung des Rezeptionsvermögens erschöpft, das heißt allein die Textur der Landschaft im Vordergrund steht, dann thematisiert das Pittoreske letztlich die Erkenntnismöglichkeiten selbst, es »ikonisiert das empiristische Rezeptionsbewußtsein.«134 Die ›Negativität‹ des Pittoresken besteht darin, dass es nicht wie das Schöne oder Erhabene durch einen Interpretationsakt entsteht, sondern eben gerade dadurch, dass dieser ausbleibt. Seine Funktion liegt damit in der Selbstreflexion, wie auch Lobsien feststellt: »Die pittoreske Landschaft […] führt von sich aus keine Idee von Natur mit sich, sie treibt zunächst die ästhetische Erfahrung zur Reflexion auf das subjektive Wahrnehmungsvermögen weiter.«135 Bei Gilpin artikuliert sich diese Wahrnehmungs- und Erkenntniskritik vor allem darin, dass er ästhetisches Vergnügen vor dem Interpretati134 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163. 135 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 56.

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onsakt ansiedelt. Diese Verschiebung basiert auf der Vorstellung einer so komplexen und reichen Wirklichkeit, dass der menschliche Verstand ihr gegenüber immer nur einschränkend wirken kann. Die pittoreske Landschaft beleuchtet damit auch die Willkür von Bedeutungszuweisungen durch das wahrnehmende Subjekt. Gilpins Vorstellung vom Reichtum der Wirklichkeit zeigt sich am besten in seinen Anleitungen zur Zeichnung pittoresker Landschaften.136 Sein dritter Essay On Sketching Landscape ist ganz diesem Thema gewidmet, wobei die zentralen Elemente auch bereits in den ersten Essay On Picturesque Beauty eingeflochten sind. Mit seiner Forderung nach roughness, variety und contrast leitet Gilpin den Künstler letztendlich an, den ursprünglichen Reichtum der Wirklichkeit, der in der Vorstellung verarmt, wieder zu evozieren. So sollen auch Landschaftselemente, die vermeintlich monochrome Oberflächen aufweisen, wie zum Beispiel die Wasseroberfläche eines Sees oder das Gefieder eines Schwans, rau und kontrastreich dargestellt werden: »Even the plumage of the swan, which to the inaccurate observer appears only of one simple hue, is in fact varied with a thousand soft shadows, and brilliant touches, at once discoverable to the picturesque eye.« (Three Essays, S. 15)137 Indem der Künstler glatte Oberflächen mit seiner Zeichnung durchbricht, annulliert er die vereinheitlichende, vereinfachende Wirkung der menschlichen Wahrnehmung. Gegenüber dem Schönen und dem Erhabenen kommt das Pittoreske der Komplexität der Wirklichkeit am nächsten. Es ist »durchgängig durch Oppositionen konstituiert […]: es ist das ungleich reichere Zeichensystem.«138 In seinem dritten Essay bringt Gilpin seine Forderung, die unendliche Vielfalt der Wirklichkeit zu evozieren auch auf die Formel: »finishing offends«139 (Ebd., S. 34), was deutlich macht, dass die Komplexität immer nur suggeriert werden kann. Je akkurater der Zeichner zu sein versucht, desto eher bewirkt er wieder eine Einschränkung des Bedeutungspotenzials, desto eher liefert er selbst eine Interpretation des Gegenstands. Bei der künstlerischen Schöpfung einer pitto-

136 Gilpins Adressierung zeigt, wie sehr das pittoreske Reisen bereits in Mode gekommen war: »This essay is meant chiefly to assist the picturesque traveller in talking views from nature.« (Three Essays, S. 26) Ein geschulter Blick (»an eye learned in the art«, ebd.) und eine gewisse Vertrautheit mit der Thematik (»accustomed to picturesque ideas«, ebd.) wird für das Verständnis der Anleitungen vorausgesetzt. 137 Zu den Anmerkungen zur Darstellung der Wasseroberfläche vgl. auch Three Essays, S. 14. 138 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171. Im Bezug auf Lockes Erkenntnismodell entsprechen »die pittoresken Qualitäten […] folglich den particular things, den konkreten und in sich unendlich komplexen Phänomenen, die erst im Bewußtsein in allgemeine und vergleichsweise ärmere simple ideas zerfällt werden.« (Ebd., S. 170) 139 Gilpin präzisiert hierzu: »The art of painting, in it’s highest perfection, cannot give the richness of nature. When we examine any natural form, we find the multiplicity of it’s parts beyond the highest finishing: and indeed generally an attempt at the highest finishing would end in stiffness.« (Three Essays, S. 29)

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resken Szene bedarf es also einer gewissen Verunklarung, einer Rückführung des Gedachten ins ausschließlich Visuelle, wie auch Lobsien darlegt: Man kann sagen, daß die Herstellung pittoresker Gegenstände eine Umkehrung des empiristischen Prozesses darstellt: einfache Ausgangsideen werden spielerisch dissoziiert und differenziert, bis sie jenen Punkt überschreiten, von dem an sie durch eigene, aktive Rezeptionsleistungen wiedergewonnen werden müssen.140

Dem Künstler obliegt es, das richtige Maß an spielerischer Dissoziierung und Differenzierung zu realisieren, so dass das Rezeptionsbewusstsein des Betrachters aktiv werden kann, um die Landschaft ›wiederzugewinnen‹. Martin Price erkennt in diesem bestimmten Grad an Verunklarung das wichtigste Kennzeichen des Pittoresken: The Picturesque in general recommends the rough or rugged, the crumbling form, the complex or difficult harmony. It seeks a tension between the disorderly or irrelevant and the perfected form. Its favorite scenes are those in which form emerges only with study or is at the point of dissolution. […] the aesthetic interest lies […] in the internal conflict between the centrifugal forces of dissolution and the centripetal pull of form.141

Im Bereich zwischen der Harmonie der Form und ihrer Auflösung (»dissolution«), die irrelevant wäre oder Überforderung bedeuten würde, kann das Pittoreske seine größte Antriebskraft für das Rezeptionsvermögen und damit seinen ästhetischen Wert entwickeln. Es »simuliert eine Situation vor jeder Ordnung, eine Situation, die sich nur um den Preis arbiträrer Konstruktionen vereindeutigen ließe.«142 Mit seiner Forderung nach picturesque beauty führt Gilpin einen neuen Umgang mit Natur ein, dessen Ausgangspunkt eine tiefgreifende Kritik der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten bildet. Ästhetisches Vergnügen entsteht bei ihm dadurch, dass der Wahrnehmungsprozess durch Vielfalt, Kontraste und Reibungspunkte in Formen und Materialien derart erschwert wird, dass es zu keiner Deutung des Gesehenen kommen kann. In diesem Zustand wird die Phantasie stimuliert und die Mannigfaltigkeit der Natur indirekt evoziert. Aus dem Versuch, die zwangsläufig immer vereinfachende und einseitige Perspektive des Betrachters aufzuheben, entsteht Ende des Jahrhunderts mit Gilpin sogar die neue Kunstform des pittoresken Reisens. Der picturesque tourist bedient sich eines kleinen konvexen Spiegels, durch den er die Landschaft mit dem Rücken zu ihr in immer neuen Perspektiven und Ausschnitten betrachten kann.143 Zwar gab er sich dadurch in der Folgezeit vor allem dem Gespött der 140 141 142 143

Ebd., S. 170. Martin Price, »The Picturesque Moment«, S. 277. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. Zum pittoresken Reisen und den Bemühungen des picturesque tourist die ›richtige‹ Ansicht der Natur zu bekommen vgl. ausführlich das Kapitel »Picturesque Travel« in Hussey, The

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Karikaturisten hin,144 doch verdeutlicht dieser Umgang mit der Landschaft besonders anschaulich, wie sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur im Vergleich zur vorigen Epoche gewandelt hatte. Für die Reflexion und Hinterfragung der Wahrnehmungsfähigkeiten bieten sich Price und Payne Knight in ihren Landschaftsgärten zusätzliche Möglichkeiten.

2.2.2.2 Uvedale Price und die ästhetische Kategorie des Pittoresken Während das Pittoreske in Gilpins Anleitungen zum Zeichnen von Landschaftsszenen und zum ›richtigen‹ pittoresken Reisen in erster Linie einen neuartigen, intensiveren Modus der Naturwahrnehmung beschreibt, erproben die beiden benachbarten Gutsherren Sir Uvedale Price (1747–1829) und Richard Payne Knight (1750–1824) das neue Ideal in der Praxis der Parkgestaltung. Beide gelangen über die Umgestaltung ihrer Besitze zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem Pittoresken. Vertraut mit den Entwicklungen in der Gartenkunst und der Diskussion um Gilpins picturesque beauty waren die beiden gebildeten Kunstkenner vor allem durch ihre aktive Mitgliedschaft in der Society of Dilettanti.145 Zudem hatten beide die Grand Tour absolviert und Payne Knight verfügte sogar über die bedeutendste Sammlung an Lorrain-Gemälden in Europa. 1794, also zwei Jahre nach Erscheinen der Three Essays, veröffentlichen sowohl Price als auch Payne Knight ihre erste Schrift zum Pittoresken und entfachen damit eine heftige Kontroverse, an der auch Humphrey Repton beteiligt ist.146 Payne Knight leitet mit seinem Lehrgedicht The Landscape, a Didactic Poem in Three Books. Adressed to Uvedale Price, Esq., »the first manifesto of the picturesque controversy«147, die Diskussion um die neuen Maßnahmen in der Parkgestaltung ein und einige Monate später folgt ihm Price mit der Veröffentlichung seines Hauptwerks An Essay on the Picturesque, As Compared with

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Picturesque, bes. S. 113ff. Zu den Utensilien des Reisenden und dem Claude glass vgl. weiterführend Andrews, The Search for the Picturesque, S. 67ff. Vgl. hierzu Hunt, The Picturesque Garden in Europe, S. 11f.; Andrews, The Search for the Picturesque, S. 71f. Zu biographischen Informationen über Price und Payne Knight vgl. Robinson, Inquiry into the Picturesque; Andrew Ballantyne, Architecture, landscape and liberty. Richard Payne Knight and the picturesque, Cambridge, University Press, 1997. Insbesondere zwischen Price und Repton kam es zu regen Meinungsverschiedenheiten, die in einem Briefwechsel der beiden dokumentiert sind. Die Kontroverse zog im Folgenden weite Kreise und führte dazu, dass auch Autoren wie Walter Scott, William Wordsworth, Charles Dickens oder Georg Eliot schriftlich Stellung bezogen. Für eine Zusammenstellung der wichtigsten Schriften dieser späten Phase des Pittoresken vgl. Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 3; Hunt / Willis (Hrsg.), The Genius of the Place; Charlesworth (Hrsg.), The English Garden, Bd. 3. Eine ausführliche Darstellung der Price-Repton-Kontroverse bietet Hipple in The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 238ff. Ebd., S. 247.

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the Sublime and the Beautiful, and on the Use of Stuying Pictures, for the Purpose of Improving Real Landscape. Insbesondere Price knüpft dabei unmittelbar an Gilpins Essays an. Er kritisiert dessen Verzicht auf eine klare Trennung und Loslösung des Pittoresken vom Schönen und plädiert für die Etablierung des Pittoresken als eigenständige dritte ästhetische Kategorie neben dem Schönen und dem Erhabenen. Diese Gleichstellung stellt neben der Loslösung des Pittoresken von der Malerei, von der es sich laut Price vollständig emanzipiert hat, das Hauptziel des Essay on the Picturesque dar : I hope to shew in the course of this work, that the picturesque has a character not less separate and distinct than either the sublime or the beautiful, nor less independent of the art of painting.148

Gegenüber Gilpins Anleitung zur künstlerischen Gestaltung und Rezeption der pittoresken Qualitäten roughness, variety und contrast geraten bei Prices und Payne Knights Überlegungen zur konkreten Parkgestaltung die anthropologischen Implikationen des Pittoresken noch stärker in den Blick. Ihre Beschreibungen der eigenen Umgestaltungsmaßnahmen und die daraus abgeleiteten Vorgaben an den Landschaftsarchitekten sind besonders aufschlussreich im Hinblick auf die neue Rolle des Betrachters, die das Pittoreske fordert. Die ›Befreiung des Blicks‹ hin zu einem »Erleben der eigenen Subjektivität«149 im Landschaftspark, wie es durch die Neuerungen in der Gartenkunst bereits das ganze Jahrhundert hindurch gefördert worden war, findet hier einen Höhepunkt. Prices Schriften zum Pittoresken150 und besonders sein Essay on the Picturesque können in diesem Zusammenhang als Kern der Theorie des Pittoresken, als »principal monument of picturesque doctrine«151, bezeichnet werden. Bereits ein Blick auf den Aufbau des in zwei Hauptteile und zahlreiche Unterkapitel gegliederten Essays lässt Prices strategisches Vorgehen deutlich werden: Der erste Teil legt dem Leser Schritt für Schritt die Notwendigkeit einer dritten ästhetischen Kategorie des Pittoresken dar. Schon im Vorwort kündigt Price an, 148 Uvedale Price, Essays on the Picturesque, as compared with the Sublime and the Beautiful; and, on the Use of studying Pictures, for the Purpose of improving Real Landscape, 3 Bde., Farnborough, Gregg International Publishers, 1971 (11810), Bd. 1, S. 40. In dieser 1810 erstmals veröffentlichten Sammelausgabe stellt Price alle seine Schriften zum Pittoresken neu zusammen und fügt einen aktuellen Kommentar hinzu. Sein Essay on the Picturesque konstituiert den ersten Band der Ausgabe. Ich zitiere hieraus im Folgenden unter Angabe des Kurztitels »Essays« und der Seitenzahl im fortlaufenden Text. 149 Kehn, »Ästhetische Landschaftserfahrung«, S. 12. 150 Neben dem Essay on the Picturesque ist hier vor allem sein Dialogue on the Distinct Characters of the Picturesque and the Beautiful (1801) zu nennen. Der Dialogue stellt eine Reaktion auf Payne Knights Neuausgabe seines Gedichts The Landscape dar, in der dieser Price in einer längeren Anmerkung scharf kritisiert hatte. 151 Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 202.

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es handle sich um »something more than a mere book of gardening« (Essays, S. v) und beklagt die bisherige Verkennung pittoresker Reize in der Gartenkunst: »[…] how much the character of the picturesque has been neglected, or sacrificed to a false idea of beauty.« (Essays, S. xi) Mit den Erfahrungen, die er selbst bei der Umgestaltung seines Anwesens Foxley (Herefordshire) gemacht hat, will er nun auf die Theorie der Landschaftsgestaltung Einfluss nehmen und dem Betrachter neue Arten ästhetischen Vergnügens eröffnen: »I have been desirous of opening new sources of innocent, and easily attained pleasures.« (Ebd.) Um seine Forderung nach der Eigenständigkeit des Pittoresken und seine Loslösung von der Malerei zu rechtfertigen, beschreibt Price im ersten Teil seines Essays die Eigenschaften pittoresker Objekte und gelangt durch die kontinuierliche Abgrenzung vom Schönen und Erhabenen schließlich zu einer Definition des Pittoresken.152 Im zweiten Teil stehen dann vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse die konkreten Maßnahmen zur Parkgestaltung im Vordergrund. Price legt hier vor allem die von ihm empfundenen Mängel von Kents und Browns Gärten dar, um seine zuvor entwickelte Theorie des Pittoresken zu bekräftigen und positioniert sich so innerhalb der theoretischen Debatte. In beiden Teilen steht damit das Wahrnehmungserlebnis des Betrachters im Vordergrund, im ersten Teil im Hinblick auf allgemeinere wirkungsästhetische Fragestellungen, im zweiten Teil hinsichtlich der konkreten umzusetzenden Gestaltungsmaßnahmen. Schon Prices Erläuterungen zur Funktion der Malerei für die Landschaftsgestaltung zu Beginn seines Essays verdeutlichen sein Bestreben, das Landschaftserlebnis ganz dem individuellen Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen zu Diensten zu stellen. Er kritisiert die etymologische Herleitung, die auch Gilpin zur Bestimmung des Begriffs picturesque noch bemüht hatte, und argumentiert, Objekte, die im Gemälde Gefallen erregten, seien nicht zwangsläufig pittoresk und andersherum: »and hence we ought to conclude, what certainly is not meant, that all objects which please in pictures are therefore picturesque.«153 (Essays, S. 39) Statt die berühmten Landschaftsgemälde zu studieren, um sie in der Natur oder im Landschaftsgarten wiederzufinden und so ästhetisches Vergnügen empfinden zu können, soll laut Price das Interesse 152 Vgl. hierzu auch Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 208: »The organization of this book is rhetorical; it is designed to lead the reader by gradual induction to ›believe in‹ the picturesque, the abstract theory of which is presented only at the end of the first part of the treatise.« 153 Andrews weist daraufhin, dass Price zugunsten der Loslösung des Pittoresken von der Malerei einen neuen Begriff hätte wählen können, da die Ästhetik bei ihm eine viel komplexere Dimension im Hinblick auf die Rolle des Betrachters erhält. Dies hätte dem Fortbestand der Ästhetik vielleicht bessere Erfolgsaussichten verliehen. (Vgl. The Search for the Picturesque, S. 58)

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vielmehr der Natur selbst gelten. Das Studium der Landschaftsmalerei könne lediglich dazu verhelfen, ein besseres Gespür für die Eigenschaften pittoresker Objekte zu erlangen, da der Maler diese schlicht viel öfter erkenne als der improver bei der Gestaltung des Landschaftsgartens.154 Dessen größter Fehler bestehe darin, die Reize, die die Natur von sich aus bietet, zu zerstören und sie damit einer falschen Vorstellung von Schönheit zum Opfer fallen zu lassen. Aus dieser Umdeutung der Rolle der Malerei geht bereits hervor, dass Price das Pittoreske als Sammelbegriff für bestimmte Objektqualitäten auffasst, die im Landschaftsgemälde in kondensierter Form auftreten können, sich aber letztlich vor allem in der Natur selbst finden. Im Folgenden geht er dazu über, diese Objekteigenschaften genau zu bestimmen, wobei sich ihm gewisse Anknüpfungsmöglichkeiten an Gilpins Three Essays bieten. Price stimmt mit den von Gilpin genannten Qualitäten überein, weicht jedoch gleichzeitig von dessen Ansatz ab, indem er sich vor allem für die physiologischen Effekte der Objekte auf den Betrachter interessiert. Um das Pittoreske als eigenständige ästhetische Kategorie neben dem Schönen und Erhabenen zu etablieren, orientiert sich Price mit seinem Essay an Burkes Enquiry.155 Bei der Betrachtung pittoresker Objekteigenschaften stehen für Price immer zunächst die Wirkungen, das heißt, in Anlehnung an Burke, die durch bestimmte Nervenspannungen ausgelösten Empfindungen im Vordergrund. Das Pittoreske zeichnet sich in diesem Zusammenhang zunächst dadurch aus, dass es zwei der wichtigsten Quellen ästhetischen Vergnügens (»two of the most fruitful sources of human pleasure«) umfasst: […] the first, that great and universal source of pleasure, variety – the power of which is independent of beauty, but without which even beauty itself soon ceases to please […]. (Essays, S. 22)

Wie Gilpin führt Price Vielfalt (variety) als Kennzeichen des Pittoresken auf. Vor dem Hintergrund der Parkgestaltung bekommt der Begriff jedoch eine noch 154 Vgl. hierzu Price: »I shall endeavour to examine whence it happens, that a painter looks coldly on what is very generally admired, and discovers a thousand interesting objects, where an improver passes on with indifference, if not with disgust.« (Essays, S. 23f.) Prices Bewunderung gilt vor allem der venezianischen Malerei der Hochrenaissance und der barocken Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, insbesondere Rosa: »Salvator Rosa is one of the most remarkable for his picturesque effects: in no other master are seen such abrupt and rugged forms, such sudden deviations both in his figures and his landscapes; and the roughness and broken touches of his pencilling, admirably accord with the objects they characterise.« (Essays, S. 64f.) 155 Vgl. seine Erklärung: »I certainly am convinced of the general truth and accuracy of Mr. Burke’s system, for it is the foundation of my own.« (Essays, S. 92f.) Zu den Schwierigkeiten bei der Adaption dieses Modells für die Einführung des Pittoresken vgl. auch Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 204f.

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spezifischere Bedeutung. Die zweite Quelle des Vergnügens kann dies verdeutlichen: […] the second, intricacy – a quality which, though distinct from variety, is so connected and blended with it, that the one can hardly exist without the other. (Ebd.)

Der Begriff intricacy taucht bereits ab den 1780er Jahren in Abhandlungen über die Ästhetik und den Schönheitsbegriff auf.156 In Prices und Payne Knights Theorien zum Pittoresken erlangt er erstmals eine zentrale Stellung und avanciert zum Hauptmerkmal des neuen Landschaftsideals.157 Bei Gilpin hatte die Vervielfältigung des Wahrnehmungsangebots durch die Kombination der Prinzipien roughness, variety und contrast auch bereits eine erkenntniskritische Dimension enthalten, indem die Ordnungsfunktion des Verstandes durch die plötzlich erblickte Reizfülle blockiert wurde. Price entwickelt diesen Aspekt weiter, indem er durch seine Forderung nach erhöhter Komplexität das Moment der Erschwerung des Wahrnehmungsvorgangs explizit hervorhebt. Das Prinzip intricacy bündelt gewissermaßen die Vielfalt unterschiedlicher Objekteigenschaften, die den Wahrnehmungsprozess intensivieren und verlangsamen können (wie roughness oder contrast) und wird deshalb zum Schlüsselbegriff für die Ästhetik des Pittoresken. Es verdeutlicht darüber hinaus besonders treffend, dass sich das Pittoreske auf die Struktur der Landschaft richtet, wohingegen der Inhalt in den Hintergrund rückt. Es steht für die »Verlagerung des Interesses von der inhaltlichen Bedeutsamkeit der Einzelelemente auf die Qualität ihrer Beziehungen und ihrer Anordnung.«158 Prices Definition von intricacy in der Landschaft macht dies besonders deutlich: »According to the idea I have formed of it, intricacy in landscape might be defined, that disposition of objects, which, by a partial and uncertain concealment, excites and nourishes curiosity.«159 (Essays, S. 22) Zusätzlich zu dem Prinzip variety führt Price mit intricacy einen Begriff ein, der sich ausschließlich auf die Struktur der Landschaft bezieht. Die Einzelelemente sind in einer solchen Weise formiert, dass sie sich dem Betrachter immer nur andeuten, nie aber sogleich im Ganzen für ihn sichtbar werden. Indem die Ansicht teilweise verdeckt bleibt (»a partial and uncertain concealment«), reizt sie die Neugierde des Betrachters und hält sein Wahrneh156 Joshua Reynolds forderte intricacy 1786 in einem Vortrag, den er vor der gerade gegründeten Royal Academy of Arts als deren erster Präsident hielt, als Gestaltungsmerkmal für die Architektur ein. Seine Vorträge wurden später unter dem Titel Discourses veröffentlicht und hatten großen Einfluss auf die Kunsttheorie. Vgl. hierzu auch Walter, Das Pittoreske, S. 14. 157 Auch Lobsien resümiert, die erhöhte Komplexität des Kunstwerks werde von »Uvedale Price, Humphrey Repton oder Richard Payne Knight in unterschiedlichen Formulierungen als wichtigste Folge einer Verwendung pittoresker Elemente genannt.« (Landschaft in Texten, S. 54) 158 Ebd. 159 Hervorhebungen dort, wie in allen folgenden Zitaten aus diesem Werk.

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mungs- und Vorstellungsvermögen in einer aktiven Spannung. Hierin unterscheidet sich der pittoreske Landschaftsgarten von den idealisierten Anlagen Browns, deren harmonische Gesamtansichten und wohl kalkulierten Weitblicke von den Theoretikern des Pittoresken als reizlose Erstarrung kritisiert werden: Upon the whole, it appears to me, that as intricacy in the disposition, and variety in the forms, the tints, and the lights and shadows of objects, are the great characteristics of picturesque scenery ; so monotony and baldness, are the great defects of improved places. (Essays, S. 22f.)

Die Neugierde wachzuhalten, stellt, wie bereits gesehen wurde, eine zentrale Forderung der ästhetischen Debatte im 18. Jahrhundert dar. Price bringt diese Entwicklung zu einem Höhepunkt, indem er curiosity als wichtigsten Effekt des Pittoresken begreift und daraus seine Legitimation zieht, es als dritte ästhetische Kategorie zu etablieren. In Analogie zu Burkes Unterscheidung der Wirkungen schöner und erhabener Landschaften klassifiziert er auch das Pittoreske im Hinblick auf die Reaktion, die es hervorruft. Im Anschluss an die Erläuterung der extremen Nervenspannungen, die das Erhabene hervorruft, und die völlige Entspannung der Fasern, die das Schöne demgegenüber auslöst, schlussfolgert er : In pursuing the same train of ideas, I may add, that the effect of the picturesque is curiosity ; an effect which, though less splendid and powerful, has a more general influence. […] Curiosity […] by its active agency keeps the fibres to their full tone. (Essays, S. 89)

Während erhabene Objekte dazu führen, dass die Nerven über ihren gewöhnlichen Spannungszustand hinaus gereizt werden und schöne Objekte eine überdurchschnittliche Entspannung der Nerven bewirken, kommt die Empfindung der Neugierde der natürlichen Nervenspannung am nächsten. Diesen Grad der Anspannung meint Price, wenn er von dem »full tone« spricht.160 Damit nimmt das Pittoreske zwischen dem Schönen und dem Erhabenen eine ausgleichende Mittelstellung ein, wie es sich auch in Gilpins regulierendem Kriterium der simplicity bereits angedeutet hatte: […] thus picturesqueness, when mixed with either of the other characters, corrects the languor of beauty ; or the tension of sublimity. But as the nature of every corrective must be to take off from the peculiar effect of what it is to correct, so does the picturesque when united to either of the others. (Essays, S. 89)

Indem die pittoreske Landschaft die beiden extremen Zustände der existenziellen Bedrohung im Angesicht des Erhabenen und des völligen Einklangs mit der 160 Vgl. zu Prices Analyse der unterschiedlichen Nervenspannungen auch Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 204.

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Welt in der Konfrontation mit dem Schönen unter- bzw. überschreitet, entspricht sie am ehesten der natürlichen Verfasstheit des modernen Menschen. Die Kategorien des Schönen und Erhabenen besitzen schon in Burkes Enquiry einen klaren anthropologischen Wert und können auf die Situation des Individuums in der Gesellschaft bezogen werden. Der übermächtige Schrecken des Erhabenen, dem der einzelne Mensch ausgesetzt ist und der bei richtigem Nerventraining in einen delightful horror umgewandelt werden kann, ist bei Burke bereits weitgehend von seinem ursprünglichen engeren theologischen Gehalt entleert. Burke erkennt vielmehr das alltägliche Leben als Quelle solchen Schreckens und versteht seine Untersuchung auch als Mittel zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien.161 Indem eine gewisse Distanz für die Erfahrung des Erhabenen notwendig ist (»if […] the terror is not conversant about the present destruction of the person«162), bewegen sich der Schrecken und der Selbsterhaltungsprozess zudem immer jenseits tatsächlicher, akuter Lebensbedrohung und entfalten sich stattdessen im Bereich imaginierter Gefährdung. Damit spiegelt die Ästhetik des Erhabenen in besonderer Weise die Lebensängste des modernen Subjekts gegenüber einer nicht näher zu bestimmenden Übermacht, die jedoch keine existenzielle Gefahr bedeutet, sondern im Inneren zu verorten ist. Das Schöne auf der anderen Seite beschreibt als »social quality«163 ganz konkret den Rückhalt, den das Individuum in der Gesellschaft finden kann. Es lässt sich den Menschen nicht nur passiv als Teil der Gemeinschaft erfahren, sondern weckt sogar aktiv seine sozialen Energien und fördert seine Eingebundenheit zusätzlich (»for where woman and men […] inspire us with sentiments of tenderness and affection towards their persons; we like to have them near us, and we enter willingly into a kind of relation with them«164). Indem das Pittoreske diese beiden Befindlichkeiten als ausgleichender Mittelwert gewissermaßen in sich vereint, erlangt es den von Price beschriebenen allgemeineren, natürlicheren Wert. Dabei rührt sein Potenzial, die Verfasstheit des modernen Subjekts zu spiegeln, nicht nur aus der Synthese der beiden Kategorien, sondern gleichermaßen aus der spezifischen Art der Inszenierung des Betrachters, die 161 Vgl. hierzu auch Burkes Erläuterung: »The elevation of the mind ought to be the principal end of all our studies, which if they do not in some measure effect, they are of very little service to us. But besides this great purpose, a consideration of the rationale of our passions seems to me very necessary for all who would affect them upon solid and sure principles.« (Enquiry, S. 88f.) Zum Erhabenen als Erfahrungsfeld moderner Ängste vgl. auch Michael Bernsen, Angst und Schrecken in der Erzählliteratur des französischen und englischen 18. Jahrhunderts. Wege moderner Selbstbewahrung im Auflösungsprozeß der theologischteleologischen Weltanschauung (Beihefte zu Poetica. 20), München, Wilhelm Fink, 1996, S. 85ff. 162 Burke, Enquiry, S. 257. 163 Ebd., S. 66. 164 Ebd., S. 66f.

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daraus erwächst. Durch seine Verlagerung des Interesses von der inhaltlichen Bedeutsamkeit der Objekte hin zu deren Anordnung und Struktur, beleuchtet das Pittoreske den Menschen im Hinblick auf seine begrenzten Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeiten. Mit der Bevorzugung der Struktur geht die Untersuchung des Verlaufsprozesses der Wahrnehmung einher. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dagegen unbedeutend und wird deshalb durch die Beschaffenheit des Pittoresken immer weiter hinausgezögert. Gegenüber dem Schönen und dem Erhabenen entfällt der Moment der Interpretation des Gesehenen, weshalb stattdessen curiosity den Effekt des Pittoresken darstellt. Prices Maßnahmen zur Parkgestaltung verdeutlichen besonders eingängig, in welcher Weise die pittoreske Landschaft den Betrachter aus einer wahrnehmungs- und erkenntniskritischen Perspektive in den Blick nimmt. Price beginnt die Umgestaltung seines Anwesens Foxley in den 70er Jahren nach seiner Rückkehr von der Grand Tour und versucht dabei bereits, seine eigene Vorstellung einer pittoresken Landschaft umzusetzen.165 Seine Maßnahmen richten sich vor allem auf die Bereiche der Form und Struktur der Gesamtanlage und der einzelnen Elemente. So lässt er ein verzweigtes Wegenetz anlegen, das dem Betrachter keine vorbestimmte Route durch den Landschaftsgarten aufdrängt, wie es der traditionelle Rundweg tat.166 Das labyrinthische Wegenetz erlaubt dem Spaziergänger zum einen, sich autonom und nur durch seine Neugierde geleitet durch die Landschaft zu bewegen. Es bietet ihm sozusagen vielfältige Wahrnehmungsvorschläge, ohne ihm eine bestimmte Zielvorgabe aufzuerlegen: »to lead the spectator […] through the most interesting scenes […] and to faciliate his approach to them, [the improver] should not strive to confine him to one single route.« (Essays, S. 336) Zum anderen sorgt es dafür, den Betrachter in Bewegung zu halten und seinen Entdeckerinstinkt wachzuhalten. Price vermeidet aus diesem Grund auch, dass sein Park von einem bestimmten Standpunkt aus überblickbar ist. Wenn sich plötzliche Weitsichten bieten, dann in die umliegende freie Natur.167 Indem der Betrachter 165 Der Landschaftsgarten von Foxley ist leider nicht erhalten. Für eine genaue Beschreibung seiner pittoresken Eigenheiten vgl. z. B. Walter, Das Pittoreske, S. 63ff.; Hunt, The Picturesque Garden in Europe, S. 75f. 166 Der belt walk oder circuit walk war z. B. ein zentraler Bestandteil von Henry Hoare Jr.’s Garten Stourhead. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Anlage, die ganz darauf zielte, den Betrachter durch die verschiedenen Ansichten zu steuern, vgl. Walter, Das Pittoreske, S. 25ff. Zur steuernden Funktion des belt walk vgl. auch von Buttlar, Der englische Landsitz, S. 81. 167 Vgl. hierzu auch Hunt, der ebenfalls dem Wegenetz eine zentrale Funktion innerhalb von Prices Umsetzung des Pittoresken zuspricht: »The other charater of Foxley was the careful and unostentatious direction of visitors across the terrain; paths led through woodlands and coppices to the sudden discovery of distant views into Wales and the surrounding English counties.« (The Picturesque Garden in Europe, S. 76)

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sich durch das Wegenetz bewegt, befindet er sich in einem Wahrnehmungsfluss, der auf kein Ziel ausgelegt ist. Die unerschöpfliche Vervielfachung des Wahrnehmungsangebots und die kontinuierliche Veränderung der Perspektive, die der picturesque tourist durch seinen konvexen Spiegel erst künstlich herbeiführen muss, lässt sich im Landschaftsgarten tatsächlich realisieren: The whole of the one may be comprehended immediately […] if you traverse it in every direction, little new can occur; while in the other, every step changes the composition […] All such deep coves, and hollows, as are usually found in this style of scenery, invite the eye to penetrate into their recesses, yet keep its curiosity alive and unsatisfied. (Essays, S. 123)

Die Form der Landschaft (»deep coves, and hollows«) sorgt genau für das »partial and uncertain concealment«, das Price zur Definition von intricacy in der pittoresken Landschaft anführt. Indem sich der Bildausschnitt ständig verändert, entzieht sich die Landschaft dem Betrachter aber letztendlich. Diesen Effekt thematisiert Price in seinem 1801 erschienenen Dialogue on the Picturesque and the Beautiful sogar explizit. Mr. Hamilton vertritt in dem fiktiven Dialog zweier Parkbesucher, der die Grundprinzipien des Pittoresken gegenüber dem Schönen anschaulich machen soll, Prices eigene Positionen: I used to delight in walking along the old path-way : for the most part, it kept near the water, and every now-and-then passed through one of the thickets, where for a moment you lost sight of the river ; the banks of which, though neither high nor rocky, possessed a great deal of pleasing variety.168

Die plötzlich aus dem Sichtfeld verschwindende Ansicht wird von Price als Kunstgriff bei der Parkgestaltung eingesetzt. Der stetige Wechsel des Wahrnehmungsangebots während des Spaziergangs durch den Park war auch in den Gartentraktaten der vorangegangenen Jahrzehnte bereits thematisiert worden.169 Bei Price gewinnt jedoch das Moment der unbefriedigten Neugierde zusätzliches Gewicht. Hierin verbirgt sich der wahrnehmungs- und erkenntniskritische Kern der Ästhetik des Pittoresken, das heißt seine spezifische anthropologische Dimension an der Seite des Schönen und Erhabenen. Das Pittoreske bietet dem Betrachter einerseits eine unerschöpfliche Fülle an Reizen und Einblicken (»every step changes the composition«), lässt ihn dabei aber 168 Price, A Dialogue on the Distinct Characters of the Picturesque and the Beautiful, in: Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 2, S. 259. In dem fiktiven Dialog diskutieren drei Herren beim Besuch eines Landsitzes und der dort gezeigten Kunstausstellung die Maßnahmen der dortigen Landschaftsgestaltung im Stil Browns. Während Mr. Howard die Meinungen Richard Payne Knights vertritt, argumentiert Price durch Mr. Hamilton. Der dritte Herr, Mr. Seymour, interessiert aber unwissend, liefert durch seine Eindrücke und Fragen die Impulse für die Diskussion. Der Text stellt einen von Prices deutlichsten Versuchen dar, das Pittoreske als eigenständige ästhetische Kategorie zu etablieren. 169 Vgl. z. B. Delille, Les Jardins, S. 22; vgl. auch oben, Kap. 2.2.1.

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andererseits zwangsläufig immer unbefriedigt zurück (»keep its curiosity alive and unsatisfied«).170 Die Tatsache, dass der Interpretationsakt ausbleiben muss, bedeutet sowohl völlige Freiheit für das Rezeptions- und Vorstellungsvermögen als auch Unsicherheit für den Betrachter, der gewöhnt ist, sich beim Gang durch die Landschaft seiner perzeptiven und rationalen Fähigkeiten zu vergewissern.171 »[D]ie Möglichkeit der Identitätsstiftung und Identitätssicherung durch die ästhetische Wahrnehmung«172 wird in der pittoresken Landschaft außer Kraft gesetzt. Dagegen kann sie sogar als Angriff auf die instrumentelle Vernunft betrachtet werden. Ihr Ziel ist es, »[to] keep the eye in a state of constant irritation.« (Essays, S. 148) Statt einen bestimmten Inhalt zu übermitteln, produziert sie im Betrachter ein Bewusstsein für den Wahrnehmungsprozess und vermag daher »die ästhetische Erfahrung zur Selbstreflexion zu steigern.«173 Die Vorgabe irritation zu erzeugen wendet Price nicht nur auf die Gesamtstruktur des Landschaftsgartens, sondern auch auf die einzelnen Objekte an. Dabei stehen vor allem Formen und Materialien im Vordergrund. Wie Gilpin betrachtet Price roughness als wichtigstes Merkmal pittoresker Objekte, da raue Oberflächen die Wahrnehmung erschweren und so ebenfalls Neugierde erzeugen: »yet the most constant and manifest stimulus which rough and abrupt objects produce in picturesque scenery, is that of curiosity.« (Essays, S. 122) Landschaftselemente wie zum Beispiel verfärbtes, altes Laub, Pflanzen in ihrer natürlichen Form oder Materialien wie unbehandeltes Holz sorgen für Vielfalt und Kontraste und stimulieren so das Wahrnehmungsvermögen. Sie bewirken »an idea of irritation […], of animation, spirit and variety« (Essays, S. 115), wohingegen glatte, regelmäßige Objekte, wie zum Beispiel ebene Bodenflächen oder künstlich geformte Baumkronen »an idea of repose« produzieren. (Essays, S. 15) Prices pittoresker Landschaftsgarten orientiert sich ganz an den natürli170 Genau diese beiden Aspekte beschreibt auch Deprun als kennzeichnend für die ›Unruhe‹ im englischen Garten: »L’inqui8tude subsiste sous ses deux faces: agitation et insatisfaction.« (La philosophie de l’inqui8tude, S. 54) 171 Vgl. hierzu auch Andrews: »The repudiation of the high viewpoint in late-eighteenthcentury Picturesque theory suggests a failure of confidence. The long view now needs to be screened off: better not to see too far ahead. Towering mountains may afford panoramic viewpoints, but, like ruined architecture, they must also remind arrogant man of his insignificance.« (The Search for the Picturesque, S. 63) 172 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. 173 Ebd., S. 55. Laut Lobsien erschließt die Interpretation des Pittoresken »weniger einen gemeinten Sinn als daß sie das Sinnbedürfnis des Interpreten reflektiert.« (Ebd., S. 56) Walter sieht allein die Eigenbewegung und die ständig wechselnden Ansichten bereits als Auslöser der Selbstreflexion an: »Die Empfindung der Eigenbewegung […] und die sich mit der Eigenbewegung wandelnden Gartenansichten schaffen beim Rezipienten ein Bewusstsein für den Wahrnehmungsvorgang und verweisen ihn so auf sich selbst zurück. Die Wahrnehmung des Landschaftsgartens wird in dieser Hinsicht zur Selbstwahrnehmung.« (Das Pittoreske, S. 80)

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chen Gegebenheiten des Terrains, so dass der Besucher sich am Reichtum der Natur erfreuen kann, statt überall die gestaltende Hand des Besitzers zu erkennen. Während sich hierin zum einen das liberale Gedankengut hinter dem neuen Landschaftsideal manifestiert,174 verweist die Bevorzugung von Natürlichkeit auf einen weiteren Aspekt des Pittoresken, der bei Price Bedeutung gewinnt. In der pittoresken Landschaft wird die Natur als eine autonome Sphäre akzeptiert und wertgeschätzt. Die eigendynamischen Kräfte, die in ihr walten, werden nicht mehr reguliert, wie es in Kents und Browns künstlichen Ideallandschaften der Fall war, sondern erlangen einen ästhetischen Eigenwert. So fordert Price den Landschaftsgestalter auf, kleinere accidents, die die natürlichen Gegebenheiten bieten, als solche bestehen zu lassen und in die Anlage zu integrieren: With regard to improving, that alone I should call art in a good sense, which was employed in collecting from the infinite varieties of accident (which is commonly called nature, in opposition to what is called art) such circumstances as may happily be introduced, according to the real capabilities of the place to be improved. (Essays, S. 345)

Die natürlichen Eigenheiten des Terrains dienen dabei nicht nur dazu, das Schöne zu durchbrechen und variety und contrast zu produzieren, sondern besitzen darüber hinaus eine moralische Komponente. Sie markieren die Unkontrollierbarkeit der Natur, wie Price es Mr. Hamilton im Dialogue erklären lässt: […] by nature, I mean the constant and regular effect of an unknown cause; so by accident, I mean the inconstant, and irregular effect, of a cause equally unknown.175

Mit den accidents zieht das Unkalkulierte, Unberechenbare in die Kunst des Landschaftsgartens ein.176 Auch sie dienen implizit dazu, die gestaltenden, ordnenden Fähigkeiten des Menschen herabzusetzen und haben damit ebenfalls eine klare erkenntniskritische Funktion. Das Pittoreske präsentiert sich folglich auch als ›Abfall‹ vom Schönen, als bewusstes Anti-Ideal. Price definiert diese Art der Gestaltungsprinzipien daher immer wieder in Abgrenzung zum Schönen:

174 Vgl. hierzu auch Hunt, »Foxley’s picturesque had two principal qualities. One was the character of a varied landscape, where texture, variety and intricacy of natural materials echoed the diversity of its human population going about its different tasks under the authority of a watchful and caring squire.« (The Picturesque Garden in Europe, S. 75f.) 175 Price, Dialogue, S. 255. Mr. Hamilton resümiert abschließend: »that accident is a principal agent in producing picturesque circumstances.« (Ebd.) 176 Vgl. hierzu auch Martin Price: »The playfulness of the picturesque served to bring to the fore its concern with the arbitrary and accidental; the art of the picturesque becomes a readiness to learn from and exploit accident.« (»The Picturesque Moment«, S. 285)

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Beauty and picturesqueness are indeed evidently founded on very opposite qualities; the one on smoothness, the other on roughness; the one on gradual, the other on sudden variation; the one on ideas of youth and freshness, the other on those of age, and even of decay. (Essays, S. 69)

Ideale, vollkommene Schönheit, wie sie vor allem die antike Kunst verkörpert,177 wird gegenüber den Verfallsspuren des Pittoresken als weniger reizvoll empfunden. Indem das schöne Objekt verfällt, das heißt, indem sich die »unknown cause« der Natur seiner annimmt, erlangt es die Unergründlichkeit zurück, die die Kunst ihm genommen hatte.178 Die Ruine als typisches Element der pittoresken Landschaft kann hierfür als Paradebeispiel gelten: Observe the process by which time, the great author of such changes, converts a beautiful object into a picturesque one […]. The various accidents of weather loosen the stones themselves; they tumble in irregular masses, upon what was perhaps smooth turf or pavement, or nicely trimmed walks and shrubberies; now mixed and overgrown with wild plants and creepers, that crawl over, and shoot among the fallen ruins. Sedums, wall-flowers, and other vegetables that bear drought, find nourishment in the decayed cement from which the stones have been detached. (Essays, S. 51f.)

Das Pittoreske ist daher als »Verfallsprodukt idealer Ausgangszustände« zu bezeichnen, als »Erscheinungsweise des Ideals unter den Bedingungen der faktischen Welt.«179 Das neue ästhetische Gefallen an den Kräften, die sich der Macht des Verstandes entziehen, überträgt sich dabei auf das Verständnis des Menschen selbst. Gegenüber dem Schönen verbindet sich mit dem Pittoresken auch deshalb eine negative Anthropologie, weil es die Ambivalenz und innere Zerrissenheit des Menschen anerkennt: If we ascend to the highest order of created beings, as painted by the grandest of our poets, they, in their state of glory and happiness, raise no ideas but those of beauty and sublimity ; the picturesque, as in earthly objects, only shews itself when they are in a state of ruin; when shadows have obscured their original brightness, and that uniform, though angelic expression of pure love and joy, has been destroyed by a variety of warring passions. (Essays, S. 64)

Das Pittoreske lässt unter der Oberfläche des Schönen und Erhabenen die Affekte und Triebe des Menschen hervorbrechen.180 Es interessiert sich für das

177 Price konstatiert hierzu: »As far as human observation and selection can fix a standard for beauty, it has been fixed by the Grecian sculptors.« (Essays, S. 72) 178 Vgl. hierzu Martin Price, laut dem die Charakteristik des Pittoresken insbesondere darin liegt, einen »moment in a process of change« darzustellen. (»The Picturesque Moment«, S. 280) 179 Lobisen, »Landschaft als Zeichen«, S. 174. 180 Martin Price betont das dramatische Moment dieser pittoresken Wandlung: »A face in which one reads experience of suffering and endurance is seen in a moment of dramatic

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Unerklärliche der menschlichen Natur und konterkariert damit auch die rationalistischen Entwürfe des Menschen, die sich im 18. Jahrhundert gemeinsam mit einem komplexen System aus Verhaltenskodexen immer stärker etabliert hatten. Indem sich Price an Burkes Inquiry orientiert und den physiologischen Effekten des Gesellschafts- und des Selbsterhaltungstriebs das Pittoreske und die Empfindung der Neugierde an die Seite stellt, entwickelt er innerhalb der Debatte die deutlichste Position im Hinblick auf anthropologische Fragestellungen. Die pittoreske Landschaft übt bei ihm eine ständige Irritation auf den Betrachter aus und konfrontiert ihn so mit der Begrenztheit seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten. Die instabile Position des Betrachters geht aber gleichzeitig mit einer unerschöpflichen Vervielfältigung und einem ständigen Wandel des Wahrnehmungsangebots einher, so dass irritation das größte ästhetische Vergnügen bewirken kann. Price grenzt den Begriff von »repose« als Effekt des Schönen ab und schlussfolgert: and yet, contradictory as it may appear, we must acknowledge it to be the source of our most active and lively pleasures: its nature, however, is eager and hurrying, and such are the pleasures which spring from it. (Essays, S. 126f.)

Das Pittoreske antwortet auf die menschliche Grunddisposition der Neugierde, indem es nie das Ganze enthüllt und ständig auf Neues verweist. Seine Wahrnehmung verläuft immer fließend und kennt kein Ziel, worin sich letztlich nicht nur die Akzeptanz, sondern sogar das Vergnügen an der Vorläufigkeit und Relativität allen Wissens manifestiert: […] such combinations, so little obvious, yet never forced nor affected, that the attention cannot flag; but from the delight of what is passed, we eagerly listen for what is to come. This is the true picturesque. (Essays, S. 342)

Da das Pittoreske keinen Deutungshorizont besitzt, eröffnet es dem Vorstellungsvermögen einen enormen Freiraum und stimuliert die Phantasie, ein Effekt, mit dem sich Payne Knight intensiv auseinander setzen wird. Auch Price hält aber bereits resümierend fest: [The Picturesque] is the coquetry of nature; it makes beauty more amusing, more varied, more playful […] Again, by its variety, its intricacy, its partial concealments, it excites that active curiosity which gives play to the mind, loosening those iron bonds, with which astonishment chains up its faculties. (Essays, S. 89)

Die pittoreske Landschaft symbolisiert in vielerlei Hinsicht die liberale Haltung, für die zum Beispiel Price und Payne Knight bekannt waren. Price bringt die resolution, in which we see some counterpoise of the enduring substance and the accidents of time.« (»The Picturesque Moment«, S. 285)

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Ideen, die sie verbindet, auf die Formel: »variety, amusement, and humanity«. (Essays, S. 340) Obwohl das Pittoreske durch seine Mittelstellung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen der Verfasstheit des modernen Menschen am nächsten kommt, konnte es sich trotz Prices Versuchen nicht langfristig als ästhetische Kategorie durchsetzen. Price war bewusst, dass er mit dem Begriff ein Phänomen seiner Zeit benannte,181 beschreibt doch das Pittoreske den Versuch der Identitätssicherung durch die eigene Erkenntnisfähigkeit, der erst mit dem Verlust der tradierten Weltbilder und Sinngaranten akut wird. Seine ›Negativität‹ zwischen den beiden Kategorien des Schönen und Erhabenen mag zu der Kurzlebigkeit der Ästhetik und ihrer späteren Banalisierung beigetragen haben.182 Payne Knight stellt bereits Prices ersten Kritiker dar.

2.2.2.3 Das Pittoreske in Richard Payne Knights Assoziationstheorie Wie im Fall seines Nachbarn Price geht auch Richard Payne Knights theoretischer Auseinandersetzung mit dem Pittoresken die Gestaltung des eigenen Anwesens voraus. Nachdem er den Besitz, Downton Castle bei Ludlow in Shropshire, von seinem Vater geerbt hat, beginnt er 1774 mit der Umgestaltung des gesamten Anwesens und insbesondere des weitläufigen Landschaftsgartens.183 1794, nach 20 Jahren der praktischen Experimente und des regen Austauschs mit Price, veröffentlicht er sein erstes Werk über den neuen pittoresken Landschaftsstil, das Lehrgedicht The Landscape: A Didactic Poem. 1805 erscheint dann sein Hauptwerk, die Analytical Inquiry into the Principles of Taste, in der er sich mit allgemeineren Grundsätzen des Geschmacks und des ästhetischen Urteils beschäftigt. Im Hinblick auf die konkreten Maßnahmen zur 181 Vgl. z. B. seine Erläuterung zur Einführung des Begriffs Picturesqueness: »I will endeavour to account for the introduction of a word into modern languages, which has nothing that in the smallest degree corresponds with it in those of the ancient.« (Essays, S. 211) Vgl. dazu auch Andrews Einteilung der Ästhetik in zwei verschiedene Phasen, die mit Price die zweite, moderne Phase einsetzen lässt. (The Search for the Picturesque, S. 40f.) 182 Auf diesen Grund weisen Lobsien und Martin Price hin. Lobsien bezeichnet die ›Negativität‹ des Pittoresken als seinen »Kontingenzcharakter« und argumentiert: »[D]er Kontingenzcharakter ist für das Pittoreske konstitutiv. Gleichzeitig führt die der Kunst eigene Tendenz zur Beseitigung von Kontingenz immer wieder zu einer metaphorisierenden oder allegorisierenden Transformierung des Pittoresken ins Schöne oder Erhabene.« (Landschaft in Texten, S. 54f.) Martin Price sieht das Pittoreske dagegen eher zum Erhabenen hindriften: »In one case the sublime is tempered by the familiar ; in the other, the familiar acquires associations of the sublime. In both, the outward appearance created by this fusion is the picturesque. Here we can see another indication of the instability of the picturesque and its readiness to be absorbed into the sublime.« (»The Picturesque Moment«, S. 265) 183 Zu einer ausführlichen Beschreibung des Parks und Payne Knights Planung zur Umgestaltung vgl. Ballantyne, Richard Payne Knight and the Picturesque, S. 240ff.; Pevsner, Architektur und Design, S. 49ff.

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Gestaltung eines pittoresken Landschaftsgartens stimmt Payne Knight in beiden Werken sehr eng mit Price überein. Zwar löst er mit seinem Gedicht The Landscape, das wenige Monate vor Prices Essays erscheint, formal gesehen die Kontroverse um das neue Landschaftsideal aus, doch besteht dieses frühe Werk weitgehend aus denselben Reflexionen, die Price in seinem über Jahre vorbereiteten Werk ausführlich darlegt.184 Payne Knight fügt seinem Gedicht einen umfangreichen Anmerkungsapparat bei, in dem er seine Vorstellungen von der Parkgestaltung weiter ausführt.185 So fordert er, ein pittoresker Landschaftsgarten müsse ein hohes Maß an Pflanzenvielfalt und Detailreichtum aufweisen. Zudem solle er sich die vorhandenen natürlichen Gegebenheiten des Terrains zu Nutze machen, um dem Spaziergänger ständig wechselnde, überraschende Ansichten zu bieten.186 Payne Knight selbst konnte bei der Gestaltung seines Parks zum Beispiel von dem Fluss Teme profitieren, der sich durch das unebene Gelände schlängelte. Wie Price legte er ein verzweigtes Wegenetz an (»spread the labyrinth’s perplexing maze«187), das teils am Fluss entlang führte, teils aus überraschenden Perspektiven Aussichten auf diesen ermöglichte. Zahlreiche Brücken aus Holz oder sogar unbehandelten Baumstämmen wurden in das Wegenetz integriert und ermöglichten dem Spaziergänger das Terrain zu erkunden. Raue, unregelmäßige Materialien und Formen wie auch üppige Pflanzen und Bäume stimulierten die Wahrnehmung und erschwerten die Sicht. Alle Maßnahmen unterstanden dem Ziel, den Eindruck von Natürlichkeit zu wecken und das Wahrnehmungsangebot für den Betrachter zu vervielfältigen.188 Zwei dem Gedicht beigefügte Kupferstiche eines englischen Landsitzes, laut Payne Knight »the commonest English scenery«,189 verdeutlichen die unterschiedliche Wirkung einer Anlage im missbilligten Stil ›Capability‹ Browns und einer pittoresken, wie Payne Knight sie fordert. Von ihm geht innerhalb der Kontroverse 184 The Landscape ist Price zudem gewidmet. Nikolaus Pevsner erkennt Price als Urheber der Ideen, denen Payne Knight in dem Gedicht Ausdruck verleiht: »Die Mehrzahl der Ideen, welche hier ausgeführt werden, sind mit denen von Price identisch und möglicherweise von ihm angeregt.« (Architektur und Design, S. 60) 185 Eine ausführliche Besprechung des Gedichts vor dem Hintergrund der pittoresken Ästhetik bietet Hipple, The Beautiful, the Sublime and the Picturesque, S. 248ff. 186 Vgl. z. B. die Beschreibung des »wandering eye«: »For though in nature of the wandering eye / Roams to the distant fields, and skirts the sky, / Where curiosity its look invites, / And space, not beauty, spreads out its delights.« (The Landscape: A Didactic Poem, in: Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 2, S. 150) 187 Ebd., S. 154. 188 Zu diesem Zweck gab Payne Knight sogar die Zentralstellung des Herrenhauses auf. Während von diesem traditionell eine ideale Blickachse in den Garten führte, sollte nun umgekehrt das Haus zum Blickfang für den spazierenden Betrachter werden. Vgl. zu diesen Funktionen des Hauses und der damit verbundenen Liberalität des neuen Landschaftsgartens von Buttlar, Der englische Landsitz, S. 84ff. 189 The Landscape, in: Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 2, S. 179.

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die stärkste Kritik an Browns regelmäßigen, beschaulichen Arrangements und kalkulierten Sichtachsen aus. In der pittoresken Landschaft sollen dichter Pflanzenbewuchs und große unregelmäßig gewachsene Bäume die Sicht auf den weitläufigen Park versperren und so den Entdeckerinstinkt wecken. Diese Gestaltungsmerkmale beschreibt Payne Knight auch in seiner Analytical Inquiry. Indem der Gestalter den Einfluss der Natur und auch der Zeit sichtbar werden lässt, verhilft er der Landschaft zu Vielfalt, Kontrasten, Irregularität und damit zu ihren besonderen pittoresken Reizen. Durch »intricacy of parts and variety of tint and surface«190 kann das Wahrnehmungsangebot für den Betrachter in hohem Maß gesteigert werden: Such are animals which have loose, shaggy, and curly hair ; trees, whose branches are spread into irregular forms, and exhibit broken and diversified masses of foliage, and whose trunks are varied with mosses and liches, or enriched with ivy ; buildings, that are mouldering into ruin, whose sharp angles are softened by decay, and whose crude and uniform tints are mellowed and diversified by weatherstains and wall plants; streams, that flow alternately smooth and agitated. (Inquiry, S. 68f.)

Hinter den beiden Prinzipien intricacy und variety verbirgt sich auch bei Payne Knight ein erkenntniskritischer Ansatz und ein Angriff auf die Vernunft. Ziel der erhöhten Komplexität der Landschaft ist es, eine Interpretation des Wahrgenommenen zu verhindern und den Betrachter stattdessen in einem konstanten Zustand der Irritation und Neugierde festzuhalten: »so as to interrupt the repose of the whole, and leave the mind no place to rest upon.« (Inquiry, S. 96) Intricacy und damit die Intensivierung und Erschwerung des Wahrnehmungsprozesses entwickeln sich bei Payne Knight genau wie bei Price zum zentralen Merkmal des Pittoresken.191 Während beide in den daraus abgeleiteten Maßnahmen zur Landschaftsgestaltung gänzlich übereinstimmen, wählt Payne Knight für seine theoretische Bestimmung des Pittoresken einen grundsätzlich abweichenden Ansatz. Er distanziert sich in seiner Analytical Inquiry entschieden von Price, indem er die Existenz ästhetischer Kategorien ablehnt und den einzig möglichen theoretischen Zugang zu ästhetischen Urteilen in einer differenzierten Untersuchung des Wahrnehmungsprozesses und seiner verschiedenen Instanzen sieht. Durch seine ausschließliche Konzentration auf den Verlaufsprozess der Wahrnehmung führt er die Entwicklung des Pittoresken gewissermaßen zu ihrem Zenit. Die gesamte Analytical Inquiry into the Principles of Taste, eine Untersuchung 190 An Analytical Inquiry into the Principles of Taste, Farnborough, Gregg International Publishers, 1972, S. 68. Ich zitiere im Folgenden aus diesem Werk unter Angabe des Kurztitels »Inquiry« und der Seitenzahl im fortlaufenden Text. 191 Vgl. zu dieser Entwicklung der pittoresken Ästhetik auch Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54f.

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zu den »Grundsätzen des Geschmacks«, ist darauf ausgelegt, das Zustandekommen ästhetischer Urteile zu erkunden. Ihren Grundton bilden Payne Knights Skeptizismus gegenüber universellen Erklärungsversuchen und die Einsicht in die Relativität und historische Bedingtheit theoretischer Ansätze. Bereits in seinem Vorwort, »Containing a Sceptical View of the Subject« (Inquiry, S. iii) stellt er die Existenz eines allgemeinen Schönheitsideals in Frage (»Is there a real and permanent principle of beauty?«, ebd., S. 4) und führt stattdessen individuelle Faktoren wie Alter, Nationalität, Gewohnheit und Nachahmung als Einflüsse auf das Geschmacksurteil auf.192 Eine absolute Definition von Schönheit kann es allein deshalb nicht geben, da jede Theorie dem Wandel der Zeit unterliegt und damit immer einen Vorläufigkeitsstatus besitzt.193 Payne Knight fasst demzufolge im Unterschied zu Price das Schöne, Pittoreske oder Erhabene nicht als Objekteigenschaft auf, sondern als subjektives Produkt des Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögens: »all beauty is merely ideal and imaginary, and not in any case an inherent quality in external objects.« (Inquiry, S. 16) Burkes und Prices Versuch, ein System ästhetischer Kategorien zu etablieren, erscheint Payne Knight daher als grundsätzlich widersinnig. »Seeking for distinctions in external objects, which only exist in the modes and habits of viewing and considering them«, stellt ihm zufolge Prices größten Irrtum dar. (Inquiry, S. 196) Die Konzentration auf die Instanzen des Wahrnehmungsprozesses und seine verschiedenen Verlaufsstadien stellt die Konsequenz dieser Einsicht dar und bestimmt den Aufbau der Inquiry. Der erste Teil, »Of Sensation«, ist den fünf Sinnen gewidmet (»Of the Sense of Taste«, »Of Smell«, »Of Touch«, »Of Hearing«, »Of Sight«). Der zweite Teil, »Of the Association of Ideas«, thematisiert die Entstehung von Assoziationen und ihre Bedeutung für den Wahrnehmungsprozess. Im dritten Teil, »Of the passions«, beschreibt Payne Knight die verschiedenen Gefühle, die durch die ästhetische Erfahrung befriedigt werden können. Für das Pittoreske ist zunächst das Kapitel »Of Sight« des ersten Teils von Bedeutung. Für Payne Knight zeichnet sich das Pittoreske gegenüber dem Schönen dadurch aus, an die visuelle Wahrnehmung gebunden zu sein, weshalb er Prices Unterscheidung der beiden Bereiche mittels ihrer jeweiligen Objekt192 Vgl. hierzu auch Ballantyne: »[Knight] reached a conclusion which is more easily acceptable in the twentieth century than it was in the early nineteenth. Whilst others were searching for universal constants in matters of taste, Knight was, at a theoretical level, fully prepared to abandon them. This was a radical move, and an extreme one, which had not previously been made so clearly or to so wide an audience.« (Richard Payne Knight and the picturesque, S. 162) 193 Payne Knight präzisiert hierzu: »For the real laws of nature we know nothing; these deductions amounting to no more than rules of analogy of our own forming; by which, we judge of the future by the past, and form opinions of things, which we do not know, by things which we do.« (Inquiry, S. 15)

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eigenschaften für willkürlich hält. In einer Anmerkung zu einer neueren Ausgabe seines Gedichts The Landscape formuliert er dies sehr deutlich: I cannot, however, but think that the distinction […] is an imaginary one, and that the picturesque is merely that kind of beauty which belongs exclusively to the sense of vision; or to the imagination, guided by that sense.194

Die ausschließliche Verbindung des Pittoresken mit dem Visuellen rührt daher, dass Payne Knight zu der Erkenntnis gekommen war, das Auge könne allein Farben und Licht erkennen.195 Das Schöne und seine glatten Oberflächen seien daher angenehm für den Tastsinn, böten aber in ihrer Monotonie keinerlei Reiz für das Auge.196 Dieser entsteht laut Payne Knight nur durch »intricacy of parts and variety of tint and surface« (Inquiry, S. 68). Durch Kontraste und Vielfalt in Licht- und Farbeffekten kommt es zu der für ästhetisches Vergnügen ausschlaggebenden Nervenreizung: »a moderate and varied irritation of the organic nerves.« (Inquiry, S. 63) In diesem Zusammenhang erlangt die Malerei ihre besondere Bedeutung: Da sie ausschließlich die visuelle Wahrnehmung anspricht, arbeitet sie gezielt mit solcherlei Effekten und setzt damit von allen Künsten intricacy und variety in Formen und Oberflächen am stärksten um. Die Malerei stellt ihr Objekt genauso dar, wie es für unser Sehvermögen reizvoll ist. Sie allein kann diesen Zustand überhaupt nur sichtbar machen, da normalerweise sofort die Eindrücke der anderen Sinnesorgane hinzutreten: Painting, as it imitates only the visible qualities of bodies, separates those qualities from all others; which the habitual concurrence and co-operation of the other senses have mixt and blended with them, in our ordinary perceptions […]. The imitative deceptions of this art unmask the habitual deceptions of sight. (Inquiry, S. 69)

Payne Knight führt den Begriff des Pittoresken zu seiner etymologischen Grundbedeutung zurück und nähert ihn wieder an die Malerei an, von der Price ihn loszulösen gesucht hatte.197 Das Pittoreske erlangt bei ihm einen besonderen Wert, indem es durch Farb- und Lichteffekte, durch Vielfalt und Kontraste in 194 The Landscape, in: Andrews (Hrsg.), The Picturesque, Bd. 2, S. 179f. 195 Vgl. hierzu z. B. Inquiry, S. 57ff. 196 Die extreme Lichtreflexion, die von einer großen, ebenen Oberfläche ausgehen kann, ist für das Auge sogar meist extrem unangenehm, wie Price darlegt: »Smoothness being properly a quality perceivable only by the touch, and applied metaphorically to the objects of the other senses, we often apply it very improperly to those of vision; assigning smoothness, as a cause of visible beauty, to things, which, though smooth to the touch, cast the most sharp, harsh, and angular reflections of light upon the eye; and these reflections are all that the eye feels or naturally perceives.« (Inquiry, S. 65) 197 Payne Knight beklagt, der Begriff habe sich im Englischen zu weit von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt: »picturesque – a word, that is now become extremely common and familiar in our own tongue; and which, like all other foreign words, that are become so, is very frequently employed improperly.« (Inquiry, S. 153)

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Oberflächen und Formen die visuelle Wahrnehmung stimuliert bzw. durch die erhöhte Komplexität deren Verlauf sogar abbildet. Hipple fasst diesen Ansatz, »Knight’s conception of the simple picturesque«, wie folgt zusammen: »(1) the pleasure of the eye is wholly in broken and gradated light and color, and (2) the art of painting separates this aspect of visible things from all others associated with it in practical experience.«198 Durch den Rückbezug auf die Malerei und die Betrachtung der Funktionsweise der Sinnesorgane wählt Payne Knight gegenüber seinen beiden Vorgängern Gilpin und Price ein neuen Ansatz. Gemeinsam ist allen dreien jedoch, das Pittoreske als »Analyse dessen, was im Rezeptionsbewußtsein vor sich geht«199, zu betrachten. Das Pittoreske vermittelt keinen Inhalt, sondern richtet den Blick auf den Moment der Bedeutungskonstitution, wie auch Lobsien schlussfolgert: Pittoreske Kunst ist eine vergrößernde Optik, in der weniger die ideale Sinnhaftigkeit der Welt als vielmehr die Beschaffenheit der Vorbedingungen solcher Sinnhaftigkeit sichtbar wird. Sie vermittelt keine hermeneutischen Auslegungshorizonte, sondern bindet die Aufmerksamkeit an die faßbare Beschaffenheit der Dinge.200

Im zweiten Teil seiner Inquiry »Of the Association of Ideas« entwickelt Payne Knight eine weitere, tiefergehende Konzeption des Pittoresken. Diese verdeutlicht noch stärker, inwiefern das neue Ideal darauf angelegt ist, das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen zu stimulieren und die Phantasie des Betrachters anzuregen, statt einen bestimmten Bedeutungsinhalt zu transportieren. Während die Sinnesorgane die basalen Operationen des Wahrnehmungsvorgangs durchführen, kann die Leistung des Imaginationsvermögens laut Payne Knight zu einer Intensivierung des Wahrnehmungserlebnisses führen. Als Reaktion auf die Impulse der Sinnesorgane setzt der Verstand (mind) dann »trains of ideas« (Inquiry, S. 108) in Gang, die sich aus dem Bereich des Wissens speisen. Beim Betrachten einer Landschaft beispielsweise kann das Auge selbst nur Licht, Kontraste und Farben wahrnehmen. Erst durch die Leistung des Verstandes werden die von den Sinnesorganen gesendeten Signale mit bereits existierenden Ideen verknüpft und konstituieren so das letztendliche Wahrnehmungserlebnis. Payne Knight nennt diese Form der Wahrnehmung »improved perception« (Inquiry, S. 103). Durch Bildung und Erfahrung kann das ästhetische Vergnügen zusätzlich gesteigert werden, da der Betrachter über ein größeres Repertoire an möglichen Assoziationen verfügt. Je größer der Wissensvorrat ist, desto intensiver kann das Wahrnehmungserlebnis sein: »we shall find that the trains of association in our ideas will be multiplied and extended, as 198 Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 258. 199 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 174. 200 Ebd., S. 175.

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the circles of our knowledge are expanded.« (Inquiry, S. 144) Diese fortgeschrittene ästhetische Wahrnehmung ist Payne Knight zufolge notwendig, um den Wert bestimmter Künste anerkennen zu können. Er spricht in diesem Fall von »refined or artificial taste« (Inquiry, S. 104), einer gesteigerten Art der Rezeption, die auch für das Landschaftserlebnis konstitutiv ist: The magnificent compositions of landscape are, indeed, spectacles of a higher class; and afford pleasures of a more exalted kind: but only a small part of those pleasures are merely sensual; the venerable ruin, the retired cottage, the spreading oak, the beetling rock, and limpid stream having charms for the imagination, as well as for the sense; and often bringing into the mind pleasing trains of ideas besides those, which their impressions upon the organs of sense immediately excite. (Inquiry, S. 63)

Wird beim Betrachten einer Landschaft keine Assoziationskette ausgelöst, da der Betrachter nicht über den ausreichenden Wissenshintergrund verfügt, kann er trotzdem Vergnügen an dem Gesehenen empfinden. Dieses geht dann jedoch allein auf die Leistung der Sinnesorgane zurück (»sensual pleasures«). Ist er dagegen in der Lage, die Eindrücke mit Ideen zu kombinieren, die er in der Auseinandersetzung mit der Malerei erworben hat, sorgt seine Imaginationskraft für ein intensiveres ästhetisches Vergnügen (»intellectual pleasures«, Inquiry, S. 48). Aus der Unterscheidung dieser beiden Stufen der Wahrnehmung und des ästhetischen Vergnügens gewinnt Payne Knight nun seine Definition des Pittoresken. So kann die spezifische Wirkung pittoresker Landschaften nur durch die Auslösung des Assoziationsstroms entstehen: The sensual pleasure arising from viewing objects and compositions, which we call picturesque, may be felt equally by all mankind in proportion to the correctness and sensibility of their organs of sight; for it is wholly independent of their being picturesque, or after the manner of painters. But this very relation to painting, expressed by the word picturesque, is that, which affords the whole pleasure derived from association; which can therefore, only be felt by persons who have correspondent ideas to associate; that is, by persons in a certain degree conversant with that art. (Inquiry, S. 152)

Das intensive ästhetische Vergnügen, das von pittoresken Objekten und Kompositionen ausgehen kann, ist also durch das Vertrautsein des Betrachters mit der Malerei bedingt. Diese Betrachtung erinnert zunächst an die frühere Bedeutung des Begriffs picturesque, der Mitte des Jahrhunderts Landschaftsgärten beschrieb, die als »›Gemäldegalerie‹ unter freiem Himmel«201 den Betrachter zum Vergleich der Szenen einluden. Ästhetisches Vergnügen entstand hier durch den Wiedererkennungsmoment und damit durch den Vollzug einer bestimmten Wahrnehmungsvorgabe. Payne Knight dagegen versteht die Kenntnis der Ma201 Von Buttlar, Der Landschaftsgarten, S. 14.

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lerei als allgemeine Bereicherung für das subjektive Imaginations- und Assoziationsvermögen des Betrachters, ohne den Rezeptionsprozess auf ein bestimmtes Ziel festzulegen. Dies manifestiert sich auch in seinen Überlegungen zum Verlauf des Assoziationsvorgangs. Mit dem Begriff mind, der bei Payne Knight für das Zustandekommen von Assoziationen verantwortlich ist, verbindet sich innerhalb der Erkenntnistheorie des Sensualismus keine rational ordnende Funktion. Diese obliegt stattdessen der Vernunft und wird sogar als hinderlich für den Erkenntnisprozess betrachtet.202 Payne Knight legt dar, dass der Assoziationsstrom sogar weitgehend mechanisch ablaufen kann: The habit of associating our ideas having commenced with our earliest perceptions, the process of it, whatever it was in its beginning, has become so spontaneous and rapid in adult persons, that it seems to be a mechanical operation of the mind, which we cannot directly influence or control: those ideas, which we have once associated, associating themselves again in our memories of their own accord; and presenting themselves together to our notice, whether we will or not.203 (Inquiry, S. 136)

Die Assoziationsketten entfernen den Betrachter damit eher vom ursprünglichen Wahrnehmungsobjekt, statt auf dessen Erschließung zu zielen. Je größer der Erfahrungsschatz, desto automatisierter und subjektiver der Assoziationsprozess. Payne Knights Interesse richtet sich folglich auch nicht auf die Landschaftsmalerei als Quelle vorbildhafter Szenen, sondern vielmehr auf einen bestimmten freien, spielerischen Malstil.204 Hier tritt die etymologische Grundbedeutung des Begriffs picturesque (bzw. pittoresco) am deutlichsten hervor, hatte doch Vasari ihn bereits im 16. Jahrhundert zur Beschreibung eines Zeichenstils gebraucht, der sich durch fließende Konturen und lebendige Lichtund Farbeffekte auszeichnet. Payne Knight fordert den Landschaftsgestalter 202 Payne Knight steht vor allem in der Tradition von David Hume, der Lockes sensualistisches Erkenntnismodell weiterentwickelt, indem er die Sensibilität zum alleinigen Erkenntnisinstrument des Menschen erklärt und die Vernunft als störende Gegenkraft sieht. Zu Payne Knights Rezeption von Humes Schriften, insbesondere seiner einflussreichen Enquiry into the Human Understanding (1748), vgl. Ballantyne, Richard Payne Knight and the picturesque, S. 70ff., S. 92ff. Zu Humes Erkenntnismodell vgl. Hipple, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 37ff.; Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, S. 385ff. 203 Die Erforschung des Ablaufs von Assoziationen und ihre Bedeutung für den Wahrnehmungsprozess spielt im 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Vgl. hierzu Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München, Wilhelm Fink, 1999, bes. S. 77ff. 204 Payne Knight nennt im Lauf seiner Inquiry verschiedene Schulen und Richtungen, in denen er diesen Stil vorbildhaft realisiert sieht, wie z. B. die venezianische Malerei der Renaissance, aber auch die barocke Landschaftsmalerei Poussins, Lorrains und Rosas. (Vgl. Inquiry, S. 150ff.) Vgl. hierzu auch Hipple, The Beautiful, the Sublime and the Picturesque, S. 261f.

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daher auf zu denken wie ein Maler. Er bevorzugt aus diesem Grund auch den ursprünglichen italienischen Begriff pittoresco (oder auch die französische Variante pittoresque), da er sich unmittelbar auf den Maler bezieht (»after the manner of painters«), während picturesque eher auf das Kunstobjekt selbst abzielt. (Inquiry, S. 148) Um eine pittoreske Wirkung zu erzielen, muss der Landschaftsgestalter, oder der Künstler im Allgemeinen, einen größtmöglichen Spielraum für die Phantasie des Betrachters erschaffen. Ein solcher Effekt geht von Objekten aus, die allein darauf angelegt sind, das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen zu stimulieren: Objects, that are not circumscribed by straight, or very determinate outlines, but of which the forms are loose and flowing, are peculiarly well adapted to this free and sketchy style of imitation; and are, therefore, properly to be considered as picturesque. (Inquiry, S. 183f.)

Während Price zwar auch bereits das freie Spiel der Imagination gefordert hatte (»play to the mind«, s. o.), es bei ihm jedoch noch eine nebengeordnete Rolle spielte, gründet sich Payne Knights Konzeption der Ästhetik ganz auf dieser Wirkung. Der Aspekt der Verunsicherung des Betrachters gerät in den Hintergrund zugunsten der positiven Effekte, die sich aus der Unkontrollierbarkeit des Wahrnehmungsgegenstandes ergeben.205 Das Pittoreske entsteht bei ihm im Bereich der Imagination und bezeichnet ein besonders intensives Wahrnehmungserlebnis. Seine Theorie stellt insofern den Höhepunkt der Entwicklung der Landschaftsästhetik des 18. Jahrhunderts dar, als dass er den Fokus ausschließlich auf den Verlauf des Rezeptionsaktes legt und das Landschaftserlebnis dadurch vollkommen in den Dienst der Individualität und Subjektivität des Betrachters stellt. »The picturesque offers its witty complexity and playfulness as an appeal to the energy of man’s mind.«206 In der gesamten Theorie des Pittoresken signalisiert das neue Ideal eine »Abkehr von der Suche nach idealer Bedeutung«207, in Payne Knights Inquiry ist dieser Aspekt jedoch am stärksten entwickelt. Dies zeigt sich abschließend in der Bedeutung, die er dem Prinzip novelty beimisst. Er bespricht es im dritten Teil seines Werkes, der den Empfindungen gewidmet ist, die die ästhetische Wahrnehmung befriedigen kann (»Of Passions«). Laut Payne Knight stellt novelty das natürlichste und allgemeinste Bedürfnis des Menschen dar (»the restless desire of novelty, so general among all mankind«, Inquiry, S. 437). Die Aufgabe aller 205 Hierin sieht auch Martin Price das zentrale Kennzeichen von Payne Knights Theorie des Pittoresken: »[he] gave primary emphasis to the energies of mind expressed in the work of art, and he tried to account for all artistic forms as stimulants and modifications of this energy.« (»The Picturesque Moment«, S. 260) 206 Ebd., S. 275. 207 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 174.

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Künste ist es, dieses Bedürfnis durch Vielfalt und Abwechslungsreichtum zu bedienen: Change and variety are, therefore, necessary to the enjoyment of all pleasure, whether sensual or intellectual: and so powerful is this principle, that all change, not so violent as to produce a degree of irritation in the organs absolutely painful, is pleasing; and preferable to any uniform and unvaried gratification. (Inquiry, S. 432f.)

Das Pittoreske und speziell die pittoreske Landschaft ist hierzu jedoch in besonderem Maß geeignet: »These charms of intricacy and variety, which ought peculiarly to be cherished and cultivated in this art, owe all their effect to the natural love of novelty.« (Inquiry, S. 447) Der Gang durch den pittoresken Landschaftsgarten entspricht dem grundsätzlichen Verlauf der menschlichen Wahrnehmung, die immer nur partielle Einblicke erlaubt und daher gleichzeitig die Existenz weiterer, noch unbekannter Bereiche indiziert: By being skilfully divided and arranged in separate compositions, and shown successively in scenes artfully contrasted with each other, each acquires separately the charm of novelty, and contributes to bestow it on the next; and as all is never shown at once, the spectator never knows when he has seen all; but still imagines that there are other beauties unrevealed, which fancy decorates with its own colours. (Inquiry, S. 448)

Joseph Addison hatte in seiner Schrift Pleasures of the Imagination ebenfalls bereits novelty als dritte Kategorie ästhetischer Gegenstände neben beauty und greatness angeführt. In seiner theologisch fundierten Theorie diente das Prinzip jedoch noch dazu, durch Überraschung immer wieder auf die Perfektion der Welt als Gottes Schöpfung hinzuweisen.208 Bei Payne Knight ist genau das Gegenteil der Fall. Aufgrund der eingeschränkten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten des Menschen bedeutet jeder vermeintliche Zustand der Perfektion in Wirklichkeit eine unerträgliche Einschränkung und Vereinfachung.209 Durch seine Irregularität und Vielfalt und indem es die Neugierde niemals befriedigt, bewahrt das Pittoreske den Betrachter vor diesem einseitigen, reduzierenden Blick auf die Wirklichkeit: The source and principal of it is, therefore, novelty : the attainment of new ideas; the formation of new trains of thought; the renewal and extension of affections and attachments; […] and, above all, the unlimited power of fancy in multiplying and varying the objects, the results, and the gratifications of our pursuits beyond the bounds of reality, or the probable duration of existence. A state of abstract perfection would, according to our present weak and inadequate notions of things, be a state of perfect misery. (Inquiry, S. 475) 208 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1. 209 Vgl. zu dieser Position und ihren Auswirkungen auf Payne Knights Theorien auch das Kapitel »Flux« in Ballantyne, Richard Payne Knight and the picturesque, S. 161ff.

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Das Pittoreske

Das Pittoreske bezieht sich bei Payne Knight genuin auf den Augenblick der Bedeutungskonstitution. Sowohl die erste als auch die zweite komplexere Definition, die er vornimmt, verdeutlichen dies. Das Pittoreske ist zum einen ausschließlich an die visuellen Qualitäten von Objekten gebunden, worin gleichzeitig das Kennzeichen der Malerei liegt. Hierin offenbart sich die ursprüngliche und für Payne Knight noch immer aktuelle Bedeutung des Begriffs picturesque. Es ist »that kind of beauty which belongs exclusively to the sense of vision; or to the imagination, guided by that sense.« (s. o.) Die Leistungen der Imaginationskraft führen Payne Knight zu seiner zweiten Definition: Durch Wissen und Erfahrungen des Betrachters, insbesondere aus dem Bereich der Malerei, können Assoziationen zum visuell Wahrgenommenen das ästhetische Vergnügen vervielfachen und so die spezifische Wirkung des Pittoresken erzielen. In beiden Fällen stellt das Pittoreske durch seine Eigenschaften variety, contrast, irregularity und intricacy, die die Wahrnehmung und Phantasie stimulieren, den Verlauf der Rezeptionsakte statt einen konkreten Inhalt dar. Es ist ganz »auf den Vollzug von Rezeptionsakten bezogen, die es reflektiert.«210 Die Charakteristik des Pittoresken liegt folglich darin, »noch alle Möglichkeiten von Gegenständlichkeit und Bedeutung [zu enthalten], welche – einmal realisiert – Verarmung bewirken müßten.«211 Es erwächst aus der Frage, wie Bedeutungen überhaupt zustande kommen, »[it] derives from the growing interest in the way the mind creates its world.«212 Dabei beleuchtet es auch den arbiträren Charakter dieser Bedeutungen und entlarvt sie als subjektive Konstruktionen. »Pittoreske Kunst ist […] eine Kunst der ständigen Irritation und Innovation.«213 Sie konfrontiert den Betrachter mit den Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit und bedient gleichzeitig sein unstillbares Bedürfnis nach novelty, welches die Konsequenz dieser Einschränkung darstellt.

2.2.3 Zusammenfassung Betrachtet man die Entwicklung des Landschaftsgartens und die Entstehung der Ästhetik des Pittoresken im Ganzen, zeigt sich, dass inhaltliche Aspekte dabei kontinuierlich in den Hintergrund geraten und sich der Fokus stattdessen ganz auf die Abläufe des individuellen Rezeptionsbewusstseins verlagert. So sind die Theoretiker des Pittoresken am Ende dieser Entwicklung allein an der Struktur der Landschaft interessiert: »der pittoreske Gegenstand [ist] Ikon des empi210 211 212 213

Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171. Ebd., S. 175. Martin Price, »The Picturesque Moment«, S. 271. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 175.

Der pittoreske englische Landschaftsgarten

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ristischen Bewußtseins.«214 Das Bewusstsein für die eigene Wahrnehmung (und ihre Begrenztheit), die in der ästhetischen Erfahrung von Natur als Landschaft bereits immer angelegt ist, wird dadurch besonders verschärft. Gilpin führt zunächst picturesque beauty als ein neues Landschaftsideal ein, das raue, unregelmäßige und kontrastreiche Formen und Materialien bevorzugt. Roughness, variety, contrast und simplicity sollen dafür sorgen, das Wahrnehmungserlebnis zu intensivieren und dem Betrachter neue, unbekannte »sources of amusement« zu eröffnen. Indem die gewohnte Interpretation des Wahrgenommenen durch die überraschende Fülle an visuellen Reizen blockiert wird (»before any appeal is made to the judgement«), stimuliert die Landschaft die Phantasie und Neugierde des Betrachters. Gilpins Konzeption des Pittoresken basiert bereits auf einer profunden Kritik an den Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten des Menschen: Beim Zeichnen einer Landschaft beispielsweise muss das zuvor Gesehene wieder spielerisch verunklart werden (»break the surface«), um den Reichtum und die Vielfalt der Wirklichkeit nicht zu verstellen. Diese Forderung an die Kunst setzt Price bei der Gestaltung seines Landschaftsgartens um. Durch eine erhöhte Komplexität der Anlage – intricacy wird nun zum Schlüsselbegriff des Pittoresken – ist der Betrachter mit ständig wechselnden Ansichten und Hindernissen in seinem Sichtfeld konfrontiert (»every step changes the composition«, »a partial and uncertain concealment«). Die Landschaft öffnet sich dadurch nun ganz dem individuellen Wahrnehmungs- und Rezeptionsvermögen, zeigt dem Betrachter aber gleichzeitig auch die Grenzen seiner perzeptiven Fähigkeiten auf (»keep its curiosity alive and unsatisfied«). Price versteht die unstillbare Neugierde als Grunddisposition des Menschen und legitimiert so die Mittelstellung des Pittoresken als dritte ästhetische Kategorie zwischen den beiden extremen Polen des Schönen und des Erhabenen. Durch seine Orientierung an Burke und die Inszenierung des Betrachters im Landschaftspark gewinnt die anthopologische Dimension des Pittoresken bei ihm ihre deutlichsten Konturen. In dem Begriff irritation kommt bei Price die Dichotomie des pittoresken Wahrnehmungserlebnisses zwischen der Instabilität des Betrachterstandpunkts auf der einen Seite und dem freien Spiel der Imagination auf der anderen Seite zum Ausdruck. Letzteres bestimmt abschließend den Ansatz von Payne Knight, der mit seiner Skepsis gegenüber starren theoretischen Definitionen geschweige denn einem System ästhetischer Kategorien die Grundideen des Pittoresken am konsequentesten umsetzt. In seiner Analytical Inquiry into the Principles of Taste analysiert er den Verlaufsprozess der Wahrnehmung und die Entstehung ästhetischer Urteile, die er für nicht klassifizierbar hält. Pittoreske Wirkung geht 214 Ebd., S. 171.

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Das Pittoreske

ihm nach von solchen Objekten aus, die sich aufgrund ihrer erhöhten Komplexität ausschließlich durch die visuelle Wahrnehmung vergegenwärtigen lassen, sich aber nicht in den Bereich des Gedachten überführen lassen. Durch diese Blockade kann das Wahrgenommene allein als Stimulanz für die Phantasie wirken und die subjektiven Assoziationsketten des Betrachters in Gang setzen. In dieser Potenzierung der »unlimited power of fancy« und der ständigen Aktualisierung des Prinzips novelty liegt laut Payne Knight die wichtigste Funktion des Pittoresken. Um die Jahrhundertwende kommt die Geschichte des Landschaftsgartens zu ihrem Höhepunkt, indem die Prinzipien ständigen Wandels und permanenter Erneuerung das Wesen der Landschaft konstituieren und in dieser Hinsicht vorerst nicht durch neue Modelle übertroffen werden können.215 Als frühe »Kunst des Signifikanten und seiner Syntagmatik«216 antizipiert die Ästhetik des Pittoresken bereits einige geistesgeschichtliche Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte. In ihrer Inszenierung von Wandel, Dynamik und Unüberschaubarkeit als zentrale Prinzipien des Daseins kann sie bis heute Aktualität beanspruchen. Interessant erscheint nun, zu beobachten, auf welche Weise sich die pittoreske Landschaft und ihre anthropologischen und wahrnehmungskritischen Positionen im Medium der literarischen Darstellung niederschlagen. So kann sich in dieser »Lesbarmachung zweiter Stufe«217 die Wahrnehmungs- und Erkenntniskritik positiv als Bereicherung für die Freiheit des Betrachters äußern, wie es Payne Knights Weltverständnis auszeichnet: »If everything were known, there would be nothing to be learned; […] all would be dead in action, or action without motive or effect.« (Inquiry, S. 476) Im Gegenteil kann die pittoreske Landschaft jedoch auch die völlige Fremdheit des Menschen in der Natur 215 So resümiert auch Hipple: »[A] system of gardening […] which introduces variety and intricacy as its principles – the picturesque gardening which Price and Knight invented and popularized – is novel not only in the sense of being different from the previous fashion, but also as containing a permanent novelty of composition. This self-contained newness is an achievement in which art may for a time at least escape from flux.« (The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque, S. 276) 216 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 174. Vor dem Hintergrund, die Landschaft als Zeichensystem zu verstehen, drängen sich Analogien zwischen dem Pittoresken und dem strukturalistischen bzw. insbesondere poststrukturalistischen Sprach- und Textbegriff auf. Derridas Begriff der »labilit8« der Sprache als zentrumsloser Textur kann mit der ›Negativität‹ des Pittoresken verglichen werden, dessen Elemente wie die sprachlichen Zeichen nach den Prinzipien von Kontiguität und Kontrast angeordnet sind. (Vgl. Jacques Derrida, L’Pcriture et la Diff8rence, Paris, Pditions du Seuil, 1967, S. 13; vgl. weiterführend auch Roland Barthes Darstellung des Textes als Gewebe (tissu) in Le Plaisir du texte. Pr8c8d8 de Variations sur l’8criture, Paris, Pditions du Seuil, 2000, z. B. S. 126) Die Problematik der Naturerfahrung greift somit die spätere Sprach-Krise des Subjekts vorweg. In den folgenden Analysen wird auf die Bedeutung des Pittoresken für ein modernes Verständnis von Texten, Geschichten und auch Geschichtsschreibungen noch wiederholt einzugehen sein. 217 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 21.

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bis hin zu seinem völligen Identitätsverlust in Szene setzen. Im Verlauf der folgenden Untersuchungen werden diese beiden Pole das Feld möglicher Erfahrungen abstecken.

3

Pittoreske Landschaftsdarstellungen in der europäischen Literatur der Romantik

3.1

François-René de Chateaubriands Reiseberichte

3.1.1 Forschungsstand: Chateaubriand, Meister der romantischen Landschaftsdarstellung FranÅois-Ren8 de Chateaubriand (1768–1848) kann wohl ohne Zögern als Virtuose der literarischen Landschaftsdarstellung bezeichnet werden. Die Beschäftigung mit seinem Werk führt sogleich zum Thema der Landschaft, von dem es ganz und gar durchdrungen ist und das den Autor Zeit seines Lebens beschäftigt hat. Anlass gaben ihm nicht nur die Gelegenheiten zur Bewunderung ferner exotischer Räume auf seinen langen Reisen nach Amerika oder in den Orient, sondern auch die heimatlichen französischen Landschaften, wie diejenige um das Schloss Combourg in der Bretagne, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Landschaften unterschiedlichster Art schlagen sich schließlich in seinen autobiographisch geprägten Schriften und Reiseberichten ebenso nieder wie in den fiktionalen Werken. Poetologische Darlegungen, beispielsweise zum style descriptif, exemplifiziert er fast immer an seinen Naturbeschreibungen. So stellt das Thema der Landschaft einen roten Faden dar, der sich durch das ansonsten recht vielförmige und nur schwer einer bestimmten Strömung zuzuordnende Gesamtwerk zieht.218 Biographen und Interpreten, die sich Chateaubriand widmen, thematisieren meist zunächst die ambivalente Position des Autors zwischen den Epochen der Aufklärung und der Romantik.219 Was die Einordnung seiner Landschaftsdar218 Die zentrale Stellung des Landschaftsthemas für das Gesamtwerk geht bereits daraus hervor, dass schon die ersten literarischen Versuche des jugendlichen Autors der Naturbeschreibung galten. Zu seinem frühesten Werk, den in der Zeit von 1784 bis 1790 entstandenen Tableaux de la Nature, vgl. Jean Mourot, Ptudes sur les premiHres œuvres de Chateaubriand. Tableaux de la Nature – Essai sur les R8volutions, Paris, Nizet, 1962. 219 Diese doppelte Affinität Chateaubriands sowohl zu dem Gedankengut der Aufklärung, das seine Jugend und Ausbildung prägt, als auch zu den aufkommenden neuen Idealen der

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Pittoreske Landschaftsdarstellungen in der europäischen Literatur der Romantik

stellungen betrifft, existiert jedoch in der Forschung ein gewisser Tenor. Ihm zufolge stellen sie Resonanzräume der Seele und ihrer möglichen Verfassungen dar und realisieren damit die romantische Vorstellung einer Gleichgestimmtheit zwischen Natur und Mensch.220 In diesem Zusammenhang wird Chateaubriand von der Literaturgeschichtsschreibung meist in eine Entwicklungslinie eingeordnet, die ihren Ursprung im Naturgefühl Rousseaus nimmt.221 Tatsächlich kann die Betrachtung von Chateaubriands Landschaften kaum ungeachtet der paradigmatischen Neuerungen erfolgen, die Rousseau durch sein Verständnis der Landschaft als Spiegel der Seele erzielt. Die Möglichkeit einer sentimental erfahrenen und damit subjektivierten Natur stellt für die Geschichte der literarischen Landschaft einen revolutionären und irreversiblen Einschnitt dar. Romantik wird in der Forschung immer wieder thematisiert. Charakteristisch für sein Schaffen sei so zunächst »cette particularit8 transitoire de son existence et de son 8criture«, eine Eigenschaft, die sich auch auf das Verständnis seiner Werke überträgt: »le genre des textes […] reste ind8terminable, flottant dans l’incertain.« (Anikj ]d#m, La po8tique du vague dans les œuvres de Chateaubriand. Vers une esth8tique compar8e, Paris, L’Harmattan, 2007.) Vgl. zu diesem Aspekt auch Bruno de Cessoles Annäherung an Chateaubriand, den »chevalier du n8ant«, in Le d8fil8 des r8fractaires. Portraits de quelques irr8guliers de la litt8rature franÅaise, Paris, Perrin, 2013. Für einen detailgenauen und aktuellen Einblick in Chateaubriands Leben und Werk vgl. darüber hinaus die monumentalen Biographien von Jean-Claude Berchet (Chateaubriand, Paris, Gallimard, 2012) und Jean-Paul Cl8ment (Chateaubriand. Biographie morale et intellectuelle, Paris, Flammarion, 1998). 220 Ein Großteil der Studien dieser Art ist in den sechziger und siebziger Jahren entstanden. Vgl. hier vor allem die für die Chateaubriand-Forschung grundlegende Studie Paysage de Chateaubriand von Jean-Pierre Richard (Paris, Pditions du Seuil, 1967). Richard untersucht darin unter einem vorwiegend inhaltlich-thematischen Blickwinkel die Imaginationswelt des Autors, die sich laut ihm in den metaphorisch aufgeladenen Landschaftsbildern niederschlägt: »Paysage tout entier charg8 de sens.« (S. 53) Vgl. außerdem Jean-Claude Berchet, Chateaubriand ou les al8as du d8sir, Paris, Belin, 2012, hier z. B. S. 57. Die Monographie bietet eine Zusammenstellung von Aufsätzen, die Berchet ab den späten sechziger Jahren verfasst hat. Die Lesart ist jedoch bis in die Gegenwart dominant geblieben. Vgl. unter den jüngeren Arbeiten z. B. die Untersuchungen von Pierre Brunel, der die Landschaften Chateaubriands, des »grand ma%tre des harmonies« als »aspiration spirituelle« versteht. (Le chemin de mon .me. Roman et r8cit au XIXe siHcle, de Chateaubriand / Proust, Paris, Klincksieck, 2004, hier S. 32 und S. 38). Vgl. darüber hinaus die vor wenigen Jahren erschienene umfassende Untersuchung von S8bastien Baudoin Po8tique du paysage dans l’œuvre de Chateaubriand, die Richards Untersuchungsgegenstand aufnimmt und eine aktuelle, umfassende Monographie zum Thema vorlegt. (Paris, Classiques Garnier, 2011, hier z. B. S. 181ff., S. 212ff., S. 222ff., bes. S. 232–250) 221 Vgl. zu dieser Einordnung z. B. Paul van Tieghem, Le sentiment de la Nature dans le Pr8romantisme Europ8en, Paris, Nizet, 1960, S. 242ff. Rousseaus Erbe konnte, wie Tieghem darlegt, unter anderem aufgrund der späten Editierung der entsprechenden Werke wie den Confessions und den RÞveries (1782 posthum), erst von den Romantikern angetreten werden. Das Rousseausche vorromantische ›sentiment de la nature‹ sollte so durch das 18. Jahrhundert hindurch zunächst lange Zeit in seiner Originalität und Einzigartigkeit fortbestehen. Vgl. weiterhin Daniel Mornet, der bereits 1912 ähnliche Bezüge zwischen Rousseaus Errungenschaften und Chateaubriands Landschaften herstellt: Le Romantisme en France au XVIIIe siHcle, GenHve, Slatkine, 2000 (11912), z. B. S. 167f.

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Neben den Confessions realisieren bereits die in den 1760er Jahren entstandenen RÞveries d’un promeneur solitaire diesen fundamentalen Umbruch. Rousseau spricht der Natur darin eine unsichtbare Kraft zu, die es vermag, das Gefühl der Leere und des stets unerfüllbaren Verlangens, welches er als Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins begreift, zumindest für einen kurzen Augenblick zu stillen. Eine der meist zitierten Referenzstellen für diese neuartige Funktion der Natur ist die berühmte Beschreibung der Abendlandschaft des Bielersees, die Rousseau während seines Aufenthalts auf der 6le Saint-Pierre verfasst und die Gegenstand der CinquiHme promenade ist: Quand le soir approchoit je descendois des cimes de l’Isle et j’allois volontiers m’asseoir au bord du lac sur la gr8ve dans quelque azyle cach8; l/ le bruit des vagues et l’agitation de l’eau fixant mes sens et chassant de mon ame toute autre agitation la plongeoient dans une r8verie delicieuse oF la nuit me surprenoit souvent sans que je m’en fusse apperceu. Le flux et reflux de cette eau, son bruit continu mais renfl8 par intervalles frappant sans relache mon oreille et mes yeux suppl8oient aux mouvemens internes que la rÞverie 8teignoit en moi et suffisoint pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser.222

Chateaubriand selbst integriert diese kunstvolle Passage in seine Werke, zum einen als wörtliches Zitat mit Kommentierung in seinen 1826 veröffentlichten M8langes litt8raires und zum anderen als Modell für eine sehr ähnliche Beschreibung eines Naturerlebnisses in seinem Reisebericht Voyage en Am8rique (1827), auf den noch einzugehen sein wird.223 Zweifellos steht Chateaubriand in vielerlei Hinsicht in der Tradition seines Vorgängers, den er zudem besonders in jungen Jahren als Vorbild betrachtet.224 Ihnen beiden gemeinsam ist sowohl das Verständnis der menschlichen inqui8tude als Grundbefindlichkeit des Daseins, als auch die Projektion ihrer unstillbaren Sehnsüchte auf die Natur. Die schon von Augustinus in seinen Confessiones beschriebene menschliche Unruhe zieht sich durch die bedeutenden Werke der europäischen Geistesgeschichte und stellt auch einen essentiellen Bestandteil von Chateaubriands Werk dar, der sich mit seinen M8moires d’outre-tombe ebenfalls in die Traditionsreihe der Bekenntnisse einschreibt.225 Die inqui8tude thematisiert er aber bereits in seinem 1797 222 Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complHtes, Bd. I: Les Confessions – autres textes autobiographiques, hrsg. von Bernard Gagnebin / Marcel Raymond (BibliothHque de la Pl8iade. 11), Paris, Gallimard, 1959, S. 1045. 223 Chateaubriand, Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, 16 Bde., hrsg. von B8atrice Didier (Textes de Litt8rature moderne et contemporaine. 130), Paris, Champion, 2008ff., Bd. 6–7, S. 225. 224 Zur Rezeption Rousseaus durch Chateaubriand vgl. Charles D8d8yan, Chateaubriand et Rousseau, Paris, CDU et SEDES, 1973. 225 Die Erkenntnis der Bedeutung der inqui8tude und das Leiden an ihr wird von Chateaubriands Biographen immer wieder zu den zentralen Aspekten seines Werkes erklärt, vgl. z. B. Maurice Levaillant, Chateaubriand. Prince des songes, Paris, Hachette, 1960, bes. S. 238.

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erschienenen Essai sur les R8volutions, in dem er die innere Unruhe des Menschen als Urmotiv für die Revolutionen der Weltgeschichte begreift.226 Trotz dieses gemeinsamen Blickwinkels auf die menschliche Existenz und der Überführung dieser Erkenntnis in den Bereich der Landschaftserfahrung, die beide Autoren vornehmen, liegen gleichzeitig ebenso essentielle Unterschiede zwischen ihnen vor, die für die hier angestellte Untersuchung von besonderem Interesse sind. Chateaubriands berühmte Definition des vague des passions aus dem G8nie du Christianisme (1802) kann hier Aufschluss bieten: Il reste / parler d’un 8tat de l’.me, qui, ce nous semble, n’a pas encore 8t8 bien observ8; c’est celui qui pr8cHde le d8veloppement des passions, lorsque nos facult8s, jeunes, actives, entiHres mais renferm8es, ne se sont exerc8es que sur elles-mÞmes, sans but et sans objet. Plus les peuples avancent en civilisation, plus cet 8tat du vague des passions augmente; car il arrive alors une chose fort triste: le grand nombre d’examples qu’on a sous les yeux, la multitude de livres qui traitent de l’homme et de ses sentiments, rendent habile sans exp8rience. On est d8tromp8 sans avoir joui; il reste encore des d8sirs, et l’on n’a plus d’illusions. L’imagination est riche, abondante et merveilleuse; l’existence pauvre, sHche et d8senchant8e. On habite, avec un cœur plein, un monde vide; et, sans avoir us8 de rien, on est d8sabus8 de tout.227

Gegenüber der inqui8tude sieht Chateaubriand im vague des passions ein spezifisches Leid der Moderne und seiner Gegenwart. Mit dem hochgradig vielschichtigen Text liefert er eine erste Analyse der romantischen Melancholie und erschafft damit ein paradigmatisches Werk.228 In dem hier zugrunde gelegten Zusammenhang stehen vor allem die Aufwertung der Einbildungskraft und die damit einhergehende Dichotomie des cœur plein und des monde vide im Mittelpunkt des Interesses. Chateaubriand führt zwar Rousseaus Kritik an der durch den Fortschritt der Zivilisation bewirkten Zerrissenheit der Moderne weiter fort, distanziert sich jedoch gleichzeitig von ihm durch seine konsequente Bejahung der Affektivität und der Imagination. Die oben zitierte Szene der RÞveries d’un promeneur solitaire verdeutlicht neben der scheinbar vordergründigen Gleichgestimmtheit zwischen Mensch und Natur vielmehr die Annahme, die als störend und denaturiert empfundene Einbildungskraft durch die reine und Zur inqui8tude und zur bipolarit8 des Menschen vgl. außerdem Delon, L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, S. 320ff. und S. 360ff.; Deprun, La philosophie de l’inqui8tude. 226 Vgl. Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1174ff. 227 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions. G8nie du christianisme, hrsg. von Maurice Regard (BibliothHque de la Pl8iade. 272), Paris, Gallimard, 1978, S. 714 (2. Teil, Buch III, Kap. IX). 228 Zum Bedeutungswandel des Begriffs vague, der gegenüber seiner negativen Konnotation im klassischen Diskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem ästhetischen Leitbegriff avancierte, und in der Folge auch von anderen Autoren neben Chateaubriand zur Beschreibung einer neuartigen ›position de l’.me‹ herangezogen wurde, vgl. Michel Delon, »Du vague des passions / la passion du vague«, in: Paul Viallaneix (Hrsg.), Le pr8romantisme. HypothHque ou hypothHse, Paris, Klincksieck, 1975, S. 488–498.

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stabilisierende Harmonie der Natur stillstellen zu können (»fixant mes sens«). Dass Rousseaus Naturerlebnis damit noch weitgehend durch den klassischen Diskurs und das Prinzip der Affektmodellierung bedingt ist, während Chateaubriand, vor allem im G8nie du Christianisme, eine tatsächliche Aufwertung der Affektivität und der Einbildungskraft vornimmt (»L’imagination est riche, abondante et merveilleuse […]«) wurde in den vergangenen Jahrzehnten von der Forschung herausgestellt.229 Das G8nie du Christianisme stellt das zentrale Werk dieser Aufwertung dar, zumal Chateaubriand hier das neu entworfene, ›sensibilisierte‹ Christentum sogar als Legitimationsmittel für den Zustand der unbestimmten Leidenschaftlichkeit heranzieht.230 In Analogie zu Foucaults Einteilung der Diskurse, die um die Jahrhundertwende den Wechsel von der klassischen zur modernen Episteme ansetzt,231 wird Chateaubriands Landschaft im Sinne der romantischen »m8taphysique des fonds« als Produkt einer neuen, entgrenzten Subjektivität gelesen. Die Resonanzräume der Seele, die seine Naturtableaus darstellen, dienen also nicht mehr wie bei Rousseau der Fixierung und damit der Repräsentation der zügellosen Imaginationsakte, sondern sie existieren überhaupt nur durch deren weltproduzierendes Vermögen. Die neue 229 Zur Analyse der Affekt- und Raum- bzw. Landschaftsmodellierung bei Rousseau und Chateaubriand vgl. auch Wolfgang Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac (Romanica Monacensia. 35), Tübingen, Narr, 1990, S. 17–132; außerdem Inga Baumann, Räume der rÞverie. Stimmungslandschaft und paysage imaginaire in der französischen Lyrik von der Romantik bis zum Surrealismus, Tübingen, Narr, 2011, S. 85–106. Zum Gegensatz zwischen der Harmonie der Natur und dem »d8sordre du monde moral« im 18. Jahrhundert vgl. die bedeutende Studie von Jean Ehrard: L’id8e de la nature en France dans la premiHre moiti8 du XVIIIe siHcle (BibliothHque g8n8rale de l’Pcole pratique des hautes 8tudes. 6), 2 Bde., Paris, S.E.V.P.E.N., 1963, Bd. 1, bes. S. 329 und S. 375. 230 Einen hilfreichen Einblick in den Funktionswandel der Religion zwischen Aufklärung und Romantik und die Bedeutung des G8nie du Christianisme für die Entstehung eines ästhetisierten Christentums liefert Reinhold Grimm: »Romantisches Christentum. Chateaubriands nachrevolutionäre Apologie der Religion«, in: Karl Maurer / Winfried Wehle (Hrsg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne, München, Wilhelm Fink, 1991, S. 13–72. Eine kritische Darstellung von Chateaubriands ambivalentem Verhältnis zum Christentum bietet auch Pierre Clarac, »Le Christianisme de Chateaubriand«, in: Chateaubriand e l’Italia. Atti del Colloquio, Roma, 21.–22. April 1969 (Accademia Nazionale dei Lincei in collaborazione con l’Ambasciata di Francia nella ricorrenza del centenario della nascita di Chateaubriand), Roma, Accademia, 1969, S. 25–31. Zum allgemeinen Wandel der Funktion des Christentums in Frankreich im 18. Jahrhundert vgl. darüber hinaus schon Albert Monod, De Pascal / Chateaubriand. Les d8fenseurs franÅais du christianisme de 1670 / 1802, GenHve, Slatkine Reprints, 2011 (11916). 231 Vgl. Foucault, Les mots et les choses. Une arch8ologie des sciences humaines, Paris, Gallimard, 1966, S. 229ff. Foucault beschreibt die neue Episteme zusammenfassend wie folgt: »Ainsi, la culture europ8enne s’invente une profondeur oF il sera question non plus des identit8s, des caractHres distinctifs, des tables permanentes avec tous leurs chemins et parcours possibles, mais des grandes forces cach8es d8velopp8es / partir de leur noyau primitif et inaccessible, mais de l’origine, de la causalit8 et de l’histoire.« (Ebd., S. 263)

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Tiefendimension, die sich aus der Transzendierung der Welt der Erscheinungen und der Überwindung des klassischen Repräsentationsdenkens ergibt, kollidiert jedoch mit dem Bewusstsein der Begrenztheit des menschlichen Daseins, der »existence pauvre, sHche et d8senchant8e«. Hierin liegt der Kerngedanke des »vague des passions« und offenbart sich das spezifisch Moderne der von Chateaubriand entworfenen Subjektivität. Sie gründet auf dem Paradox, dass die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit und damit die fortschreitende Entfremdung einerseits die Ursache der Melancholie und des ennui sind, dass sie andererseits aber als solche die neu errungene und prinzipiell bejahte Subjektivität überhaupt erst ermöglichen. Das unstillbare Begehren und die Zerrissenheit sind gleichzeitig sowohl der Gegenpol zu den Projektionen des Subjekts als auch deren Bedingung. Der Landschaftstyp, der dieser zwar als leer empfundenen, aber durch die Einbildungskraft und Affektivität ›auffüllbaren‹ Natur entspricht, ist die Korrespondenzlandschaft. Im Sinn der »m8taphysiques des fonds« transformiert die romantische Korrespondenzlandschaft die Wirklichkeit in eine Vorstellungswelt: der monde vide wird vom cœur plein durchdrungen. Sie stellt damit eine metaphorische Landschaft dar, die in der Fiktion als real dargestellt wird und dem betrachtenden romantischen Subjekt als Spiegel seiner Gemütsverfassung erscheint. Die Bestandteile der Landschaft stehen nicht für sich, sondern bilden psychologisierte Analogien zu den Empfindungen des Ichs, mit denen sie somit korrespondieren. Im G8nie du Christianisme beschäftigt sich Chateaubriand in Form theoretischer, poetologischer Überlegungen mit dem Thema der Landschaftserfahrung und beschreibt darin – in Rekurs auf die durch das sensibilisierte Christentum ermöglichten neuen Erfahrungsmöglichkeiten – die moderne, dem Betrachter korrespondierende Landschaft.232 Während er die Grundvoraussetzung für diese Korrespondenz zwischen Mensch und Landschaft, eine instinktive und naturgegebene Einigkeit, einerseits a priori postuliert (»Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scHnes de la nature.«233), verweist andererseits die Notwendigkeit, die leere Landschaft mit Sinn zu füllen, auf das kompensatorische Moment des Landschaftserlebnisses. Dieser Problematik verpflichtet sich die folgende Untersuchung. Sie versteht Chateaubriands Werk als von einer Reihe für die Romantik typischer Kompensationsdiskurse durchzogen, worunter vor allem das Konstrukt der Korrespondenzlandschaft gefasst werden kann. Entgegen der in der Forschung vorherrschenden Meinung wird dabei die These vertreten, dass Chateaubriand mit 232 Vgl. vor allem G8nie du christianisme, 1. Teil, Buch V, Kap. XII: »Deux perspectives de la nature«; 2. Teil, Buch IV, Kap. II, bes. S. 721; 3. Teil, Buch V: »Harmonies de la religion chr8tienne avec les scHnes de la nature et les passions du cœur humain«. Zur Analyse der Szenen vgl. Baudoin, Po8tique du paysage, S. 213ff. 233 Ebd., S. 721.

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dem Kompensationsdiskurs der Korrespondenzlandschaft bewusst experimentiert und ihn somit gleichzeitig überwindet. Die Tatsache, dass das Werk dadurch noch modernere Züge annimmt, als ihm dies durch den Bruch mit den klassischen Epistemen der Repräsentation bereits zugesprochen wurde, ist bisher in der Forschung nur sehr selten beleuchtet worden. Oft werden zwar die Darstellungstechniken der Entgrenzung des an das Repräsentationsdenken der Aufklärung gebundenen Wissens thematisiert. Doch wird Chateaubriands Rehabilitierung des Göttlichen, Mystischen und Geheimnisvollen und die eben dadurch motivierte natürliche Verbindung zwischen Mensch und Welt meist als Konsequenz des noch vorherrschenden Mangels an Alternativen für das realisierte Sinnvakuum gewertet.234 Die hier angestellten Untersuchungen wollen dagegen ausgehend von einer kritischen Prüfung des Konstrukts der Korrespondenzlandschaft herausstellen, dass Chateaubriand über die subjektivierte, tiefendimensionale Landschaft hinaus andere alternative Darstellungsmethoden entwickelt. Mit diesen überwindet er die obsolete Abbildästhetik nicht nur, sondern konterkariert, wie zu sehen sein wird, mimetische Ansprüche gleichzeitig auf kunstvolle, experimentierfreudige Weise. Während seiner gesamten Schaffensphase und besonders in jüngeren Jahren erprobt Chateaubriand verschiedene Möglichkeiten, dem während der Revolutionszeit intensiv miterlebten Verlust der traditionellen Sinngaranten kreativ zu begegnen. Hierzu zählen seine vielen Reisen in exotische, Ursprünglichkeit verheißende Länder, die Erneuerung des Katholizismus zu einer modernen Mythologie oder der Versuch der Rekonstruktion der Geschichte, der seinen Essai sur les r8volutions (1797) motiviert. Diese Versuche problematisiert er jedoch gleichzeitig zu ihrer Durchführung auch immer schon und betrachtet sie mit Skepsis und einem hohen Grad an Selbstreflexion.235 Letztendlich dominiert ein erkenntniskritischer Blick auf die Welt, der auch durch das scheinbar unbegrenzte demiurgische Vermögen der »sensibilit8 de l’.me«236 nicht mehr aufgefangen werden kann. Gegen Ende des Essai sur les r8volutions kommt Chateaubriand zu der Schlussfolgerung: »Nous n’apercevons presque jamais la r8alit8 des choses, mais leurs images r8fl8chies faussement par nos d8sirs.«237 Wie die Untersuchungen

234 So z. B. Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 89f. 235 Vgl. z. B. das Vorwort zur ersten Ausgabe des G8nie du christianisme. (»Appendice«, S. 1281–1283) 236 Ebd., S. 619. 237 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1182. Auch sein Versuch, die kausalen Zusammenhänge des Geschichtsverlaufs aufzudecken, um daraus Verhaltensstrategien für die Zukunft abzuleiten, endet dieser Einsicht entsprechend pessimistisch: »[…] puisqu’on ne sauroit rien apprendre d’utile, cessons d’interroger des siHcles / na%tre, trop loin pour que nous puissions les entendre, et dont la foible voix expire en remontant jusqu’/ nous, / travers l’immensit8 de l’avenir.« (Ebd., S. 1166) Diese Skepsis,

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herausstellen werden, schlägt sich diese erkenntniskritische Haltung ganz maßgeblich auch in seinen Landschaftstableaus nieder. Landschaft wird dann weder als abbildbar empfunden, noch wird mehr die Möglichkeit gesehen, sie in Relation zum betrachtenden Subjekt zu organisieren, wie es die vorromantische Landschaft geleistet hatte. Stattdessen entwickelt Chateaubriands Landschaft eine autoreferenzielle Funktion, indem die Wahrnehmungsmodalitäten selbst zum Thema der Landschaftsdarstellung avancieren. Die pittoreske Landschaft stellt in solchen Fällen das zugrundeliegende Landschaftsmodell dar, so die hier vertretene These. Chateaubriand, ein besonderer Kenner der zeitgenössischen englischen Literatur,238 adaptiert sie auf seine ganz eigene Weise. Seine »Lettre sur l’art du dessin dans les paysages«, die er 1795 noch am Beginn seiner literarischen Auseinandersetzung mit dem Landschaftsthema verfasst, weist sogar deutliche Parallelen zu Gilpins Essay on Sketching Landscape auf, so dass die Möglichkeit, Chateaubriand habe sich mit der englischen Ästhetik des Pittoresken auseinandergesetzt, aus vielen Gründen naheliegt.239 die sich auch auf die Geschichtsschreibung im Allgemeinen richtet, wird uns an späterer Stelle bei Manzoni noch wiederbegegnen. 238 Chateaubriand lebte von 1793 bis 1800 in London im Exil und kehrte außerdem 1822 noch einmal dorthin zurück, dieses Mal jedoch als Botschafter im Dienst Ludwigs XVIII. Seine profunde Kenntnis der englischen Literatur und das große Interesse an ihr bezeugt vor allem der umfassende, 1936 erschienene Essai sur la litt8rature anglaise (et consid8rations sur le g8nie des hommes, des temps et des r8volutions), der sich aus ab 1800 verfassten Essais und Zeitungsartikeln zu den verschiedensten Themen der englischen Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart zusammensetzt. Vgl. zu Chateaubriands Zeit in England das Vorwort von S8bastien Baudoin zu seiner Ausgabe des Essai (Paris, Soci8t8 des Textes FranÅais Modernes, 2012, »Pr8face«, S. 7–83); außerdem P. Christophorov, Sur les pas de Chateaubriand en exil, Paris, Les Pditions de Minuit, 1960; Ernest Kahn, »Chateaubriand in England«, in: Contemporary Review 177 (1950), S. 157–161; zum Einfluss dieser Zeit auf seine politischen Ambitionen vgl. Jean-Paul Cl8ment, »Chateaubriand et l’Angleterre«, in: Europe 775–776 (1993), S. 56–65; zu seiner Übersetzung von Miltons Paradise lost vgl. die aktuelle, umfangreiche Studie von Marie-Plisabeth Bougeard-Vetö, Chateaubriand traducteur. De l’exil au Paradis perdu, Paris, Champion, 2005. 239 Neben den Übereinstimmungen, die dem zeitgenössischen Ideenhorizont entstammen, wie z. B. die Maßgabe direkt in der Natur statt im Atelier zu malen, ist hier vor allem die Rolle der Imagination zu nennen. Beide Autoren betonen, nur das unmittelbare, individuelle Landschaftserlebnis könne dem Amateur dazu verhelfen, eine reizvolle Skizze zu produzieren, »such wonderful effusions of genius […] from the glow of his imagination.« (Gilpin, Three Essays, S. 26) Gleichzeitig besteht aber die größte Gefahr darin, diese Einbildungskraft als der Natur überlegen anzusehen: »The art of painting, in its highest perfection, cannot give the richness of nature. When we examine any natural form, we find the multiplicity of its parts beyond the highest finishing: and indeed generally an attempt at the highest finishing would end in stiffness.« (Ebd., S. 29) Chateaubriand hält ebenso fest: »[…] il [d.i. l’8lHve] croirait faire mieux que la cr8ation: erreur dangereuse par laquelle il serait entra%n8 loin du vrai dans des productions bizarres, qu’il prendrait pour du g8nie. Gardons-nous de croire que notre imagination est plus f8conde et plus riche que la nature.« (Correspondance g8n8rale, hrsg. von B8atrix D’Andlau / Pierre Christophorov / Pierre Riberette, Bd. 1: 1789–1807, Paris, Gallimard (Collection Blanche), 1977, S. 71) Vgl. zu den

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In den folgenden Untersuchungen soll zunächst ein Blick auf die Beschreibungsmechanismen und Funktionsweisen der Korrespondenzlandschaft geworfen werden. Hierzu werden zunächst die beiden Erzählungen Atala und Ren8 herangezogen, in denen dieses Landschaftsmodell – häufig an Schlüsselstellen die Handlung motivierend – eine bedeutende Rolle spielt. Darüber hinaus wird eine der berühmten amerikanischen Nachtlandschaften analysiert, die als solche einen besonders geeigneten Raum für subjektive Erfahrungen darstellt. Im Anschluss daran wird sich das Hauptaugenmerk auf Chateaubriands Reiseberichte verlagern, die als nahezu unüberschaubarer Fundus der unterschiedlichsten Landschaftsdarstellungen bezeichnet werden können. Die verschiedenen voyages basieren auf der Grundlage von Reisenotizen, Tagebucheinträgen, Briefen, Studien über das jeweilige Land oder auch im Nachhinein festgehaltenen Erinnerungen, die Chateaubriand in den meisten Fällen für die Gesamtedition seiner Werke zusammenstellt und teilweise überarbeitet. Im Hinblick auf die zeitgenössische Landschaftsästhetik können sie als ein »Avantgarde-Medium« verstanden werden, wie es für den Reisebericht dieser Zeit generell gilt.240 Die Bandbreite an Methoden der Landschaftsdarstellung reicht bei dieser Gattung von der Imitation bestimmter Autoren des 18. Jahrhunderts, deren Reiseberichte und Naturbeschreibungen regelrechten ›Kanon-Charakter‹ errungen hatten,241 bis hin zu gänzlich unkonventionellen, experimentellen Landschaftstableaus, an denen sich die Suche nach neuen Formen der Landschaftserfahrung und -darstellung ablesen lässt. Letztere stellen den Untersuchungsgegenstand der betreffenden Kapitel dar. Anhand von verschiedenen Landschaftstableaus, die hauptsächlich den beiden Werken Voyage en Am8rique und Cinq jours / Clermont – 1827 gemeinsam bei Ladvocat erschienen – entstammen, werden Chateaubriands innovative Beiträge zum Thema der literarischen Landschaftsdarstellung beleuchtet, wie sie sich im Bereich dieser voyages frei artikulieren konnten. Das Interesse verlagert sich dabei weg von thematisch-inhaltlichen Charakteristika der Landschaft und einer durch sie ausgelösten metaphorischen Interpretation hin zur Analyse des Aufbaus und der Struktur der Tableaus. Diese Herangehensweise stellt in der Forschung zu Chateaubriands Landschaftsdarstellungen eine bis heute eher vernachlässigte Annäherungsweise dar, wie auch S8bastien Baudoin betont, der mit seiner 2011 erschienenen detaillierten Monographie La po8tique du paysage dans l’œuvre de Chateaubriand nach jetzigem

im Brief angestellten Überlegungen, insbesondere zu Fragen der Perspektive, S8bastien Baudoin, »Chateaubriand th8oricien du paysage«, in: Pcritures 19, 5 (2008), S. 31–46. 240 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 16. Auf die Gattung des Reiseberichts wird in Kap. 3.1.3 noch näher eingegangen. 241 Vgl. ebd., S. 139ff.

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Kenntnisstand die neueste Untersuchung des Themas vorlegt.242 Auch er versteht die Landschaften nicht mehr als »grands schHmes de repr8sentations sur le mode de la sensation«, wie es dem Forschungstenor entspricht, sondern »au sens spatial ou perceptif«, das heißt als nach ästhetischen und perspektivischen Kriterien wahrgenommener und geordneter Raum.243 Sie sind »[…] avant tout des configurations descriptives dont il convient de mettre / nu les structures et proc8d8s sous-jacents.«244 Das Ziel, unter der Oberfläche des Thematischen die Konstruktionsmechanismen der Landschaft freizulegen, entspricht dem hier zugrunde gelegten Verständnis des Landschaftsbildes als ein System von Zeichen, das sich durch eine spezifische Struktur auszeichnet. In dieser Struktur, im Zusammenspiel der Elemente, sind die Möglichkeiten und Grenzen der perzeptiven Erschließung der Landschaft angelegt. Sie bloßzulegen verspricht Einsicht in die Frage, welche Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten ihr Autor veranschlagt. Seine Reflexion dieser Möglichkeiten kann soweit gehen, die Erschließungsbedingungen der Landschaft selbst zum Thema der Darstellung zu machen, wie es bei Chateaubriand zu beobachten sein wird. Auf die besondere Autoreflexivität seiner Sprache und seiner Beschreibungen, die sich fast ausschließlich auf den Gegenstand der Landschaft richten, wurde in der Forschung vereinzelt hingewiesen.245 In dieser Weise scheint auch ein Desiderat, das Charles Maurras bereits 1898 äußert, zu verstehen sein: Chateaubriand ne veut plus que nous 8coutions ce qu’il dit, mais plutit l’enveloppe 8mouvante, sonore et pittoresque de ce qu’il dit; et comme ce qu’il dit n’est rien qu’une

242 Vgl. Baudoin, Po8tique du paysage, hier S. 12. Die Studie gehört zu den ersten umfassenderen Arbeiten zu Chateaubriands Landschaftspoetik, die die Landschaften nicht ausschließlich als Repräsentation einer Gefühlswelt auffassen, sondern auch alternativen Darstellungsweisen Platz einräumen. 243 Ebd., S. 12. Baudoin bezieht sich hier auf die grundlegende Arbeit von Richard Paysage de Chateaubriand. 244 Ebd., S. 13. 245 Pierre Barbaris Studie f la recherche d’une 8criture. Chateaubriand (Tours, Mame, 1974) erweckt zunächst den Eindruck, sich dieser Spezifik von Chateaubriands Sprache zu widmen, bewegt sich jedoch letztlich nur im Rahmen eines literatursoziologischen und biographistischen Ansatzes und spricht Chateaubriand abschließend eine »litt8rature de la faille et du manque universel« zu. (S. 360) Paul Geyer dagegen befasst sich in seiner 1998 erschienenen Untersuchung Modernität wider Willen. Chateaubriands Frühwerk (Frankfurt am Main u. a., Peter Lang) mit Chateaubriands sprachkünstlerischer Modernität und der Autoreflexivität seiner Sprache, die er mittels eines Vergleichs zwischen einer Landschaft Bernardin de Saint-Pierres und der Nuit am8ricaine herausstellt. Gerhard Hess stellt darüber hinaus seiner Studie über Baudelaires Landschaften einige interessante Überlegungen zur ›Verdinglichung‹ von Chateaubriands Landschaften voran. (Die Landschaft in Baudelaires Fleurs du Mal, Heidelberg, Carl Winter, 1953) Auf die Ergebnisse beider Arbeiten wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.

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suite d’images, ce n’est pas au systHme d’images qu’il nous veut attentifs, mais bien / l’imag8 mÞme de son discours.246

Auch Roland Barthes sieht in Chateaubriand einen Vorreiter des Umbruchs vom traditionellen Verständnis der Sprache als verweisendem Instrument hin zur Erprobung ihrer autoreferenziellen Funktion.247 Das Interesse an der Besonderheit seiner sprachlichen Gestaltung, die gerade im Fall der Landschaftsbeschreibung tatsächlich die eigene Diskursivität, das »imag8 mÞme de son discours«, mitreflektiert, werden die folgenden Untersuchungen leiten. Die Landschaftsdarstellungen aus Chateaubriands Reiseberichten können zum Medium für die Reflexion über grundsätzliche Fragen der Wahrnehmung und der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen avancieren und sich dabei weit vom ursprünglichen subjektiven Landschaftserlebnis entfernen, wie auch Baudoin feststellt: Ainsi, le paysage litt8raire, particuliHrement chez Chateaubriand qui le recompose parfois bien des ann8es aprHs sa contemplation ou sa premiHre 8bauche effective, est une reconstruction savante.248

Die verschiedenen Bedeutungsschichten dieser »reconstruction savante« gilt es nun herauszustellen. Eine erste Betrachtung richtet sich auf das Modell der Korrespondenzlandschaft.

3.1.2 Techniken und Funktionsweisen der Korrespondenzlandschaft in René, Atala und der Nuit américaine Richtet sich das Interesse auf Chateaubriands Poetik der correspondance, wird meist die Erzählung Ren8 (1802) herangezogen.249 Auch hier soll eine Landschaftsbeschreibung des Ich-Erzählers Ren8, Inkarnation der Befindlichkeit des vague des passions und autobiographische Spiegelung seines Autors, dazu dienen, die Funktionsmechanismen der Korrespondenzlandschaft kurz darzulegen. In der Erzählung berichtet Ren8, ausgezogen in die Wildnis Amerikas und aufgenommen vom Stamm der Natchez an den Ufern des Mississippis, seinem 246 Zitiert bei Geyer, Modernität wider Willen, S. 86. Maurras prangert bereits die Nichtbeachtung dieser, seiner Meinung nach, sehr auffälligen Spezifik von Chateaubriands Werk an: »J’ai cherch8 inutilement dans les divers pan8gyriques […] la moindre trace de cette observation, qui me semblait pourtant le d8but n8cessaire de toute 8tude historique sur Chateaubriand.« (Ebd.) 247 Vgl. Roland Barthes, Le degr8 z8ro de l’8criture, Paris, Pditions du Seuil, 1953, S. 10. 248 Baudoin, Po8tique du paysage, S. 13. 249 Vgl. zu dieser Einordnung z. B. Baumann, Räume der rÞverie, S. 102f.; Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 98–109 und S. 118–127.

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Adoptivvater Chactas und dem Missionar der französischen Kolonie, dem pHre Sou[l, von seinem Unglück, das ihn aus der Heimat Frankreich hat fliehen lassen. Bevor er zum Ende seiner Erzählung sein Leid enthüllt, die Erkenntnis, die geliebte Schwester durch ihren Eintritt ins Kloster für immer verloren zu haben, gibt Ren8 sich den Erinnerungen an die Zeit im väterlichen Schloss hin. Als er die gemeinsamen Spaziergänge mit der Schwester Am8lie im Park des Anwesens beschreibt, entwirft er ein beredtes Bild seines melancholischen Gemüts, das sich in der Natur auf ausdrucksvolle Weise widerspiegelt: Nous aimions / gravir les coteaux ensemble, / voguer sur le lac, / parcourir les bois / la chute des feuilles: promenades dont le souvenir remplit encore mon .me de d8lices. O illusions de l’enfance et de la patrie, ne perdez-vous jamais vos douceurs! Tantit nous marchions en silence, prÞtant l’oreille au sourd mugissement de l’automne, ou au bruit des feuilles s8ch8es que nous tra%nions tristement sous nos pas; tantit, dans nos jeux innocents, nous poursuivions l’hirondelle dans la prairie, l’arc-en-ciel sur les collines pluvieuses; quelquefois aussi nous murmurions des vers que nous inspiroit le spectacle de la nature.250

Die Szene kann als für Chateaubriand typische Stimmungslandschaft bezeichnet werden, nach den Kriterien, die vor allem Richard als charakteristisch beschrieben hat und die als solche noch immer aktuell sind.251 Es zeigt sich darin sowohl auf inhaltlicher als auch auf stilistischer Ebene das Moment der Diffusion bzw. Effusion, das heißt der weiten, scheinbar grenzenlosen Ausbreitung der Landschaft, der die Ausschweifungen der Seele in ihrer größtmöglichen Intensität entsprechen. Neben das Moment der Entsprechung tritt dabei das des Austauschs. Eine bestimmte Dynamik wird kennzeichnend: Die Stimmungslandschaft muss sowohl weit und unabsehbar sein als auch eine gewisse Leere an Elementen aufweisen, damit sie stattdessen von der Fülle der Empfindungen ›beseelt‹ werden kann. Das romantische Ich findet eine Landschaft der Abwesenheit vor, um darin mittels seiner subjektiven Projektionen demiurgisch seine eigene Vorstellungswelt zu erschaffen. Im Prozess der Effusion füllt das cœur plein den monde vide (»[il s’agit] de s’enforcer directement dans le tissu de cette grandeur mÞme, d’en 8pouser, moment aprHs moment, l’extension«252). 250 Chateaubriand, Ren8, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 394. 251 Richard, Paysage de Chateaubriand, S. 47–119. 252 Ebd., S. 73. Richard unterscheidet drei Methoden, durch die Chateaubriand seinen Landschaftstableaus räumliche Tiefe verleiht und somit Entgrenzung erzeugt. Unter dem Verfahren der provocation versteht er punktuelle Reize oder konkrete Erscheinungen, wie z.B der Ruf eines Käuzchens, durch die der Kontrast zur allgemeinen Stille oder Leere hervorgehoben wird. Als effusion bezeichnet er eine bestimmte, seiner Meinung nach für Chateaubriand besonders charakteristische ›Metaphorik des Fließens‹. Hierzu zählen z. B. die Evokation von Dunstschwaden oder die Vorstellung sich in die Landschaft ausbreitenden Mondlichts, wodurch der Betrachter animiert wird, das Tableau bis in die Weite hin zu imaginieren. Unter die Methode der r8verb8ration fasst er schließlich akustische Effekte

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Auf inhaltlicher Ebene finden sich solche ›Zerstäuber‹ im visuellen wie auch im auditiven Bereich. Zu nennen sind zum einen die in der Mehrzahl unbestimmt bleibenden Hügel und Wälder, das richtungslose Umherziehen in der Landschaft (»voguer«, »parcourir« etc.), das besonders veranschaulichende Bild des Regenbogens und zum anderen ein dumpfes, wesenloses Tönen (»sourd mugissement de l’automne«), das auch dem Raum klangliche Tiefe verleiht. Auf stilistischer Ebene vollzieht sich das Moment der Diffusion vor allem im Aufzählungscharakter, der den nebengeordneten Beschreibungselementen anhaftet, und in der Konstruktion »tantit…tantit…«, die sich in Chateaubriands Beschreibungen immer wieder findet und auf die noch näher einzugehen sein wird. Der intransitive Charakter all dieser Elemente findet sich zudem aufgehoben im Bild der »jeux innocents« und im Verfolgen der Schwalbe in die Weite der Natur, die die Figuren so mit ihrer Präsenz aufladen. Die Subjektivierung der Landschaft findet sich in dieser Szene dargestellt und expliziert in den Bewegungen der Akteure, die die Landschaft im wörtlichen und im übertragenen Sinn durchdringen. Ebenfalls charakteristisch ist die Inszenierung des Schauplatzes als Landschaft der Erinnerung, die hier sogar explizit wird. In den meisten seiner Werke konstruiert Chateaubriand Landschaftsszenen nach der Erinnerung.253 Ob er die beschriebene Natur dabei tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hat oder seine wie Echos und Schalleffekte, aber auch visuelle Elemente, die sich in einer analogen Folge in den Raum erstrecken, wie z. B. eine Säulenreihe. Alle diese Effekte dienen der Erzeugung einer auf den Horizont gerichteten Dynamik. (S. 47–102) Zu Chateaubriands Landschaft der Effusion vgl. darüber hinaus auch Baudoin, Po8tique du paysage, S. 159ff. (Kapitel »Paysages de l’infini et de l’8panchement«). 253 Im Kontext der Erinnerungspsychologie und -dichtung ist besonders Chateaubriands Werk M8moires d’outre-tombe von Bedeutung. Das zwölf Bände und mehr als drei Jahrzehnte erzählte Geschichte umfassende Werk erschien – nach der stückweisen Veröffentlichung in der Zeitschrift La Presse – posthum und wird aufgrund der autobiographischen Form und der erinnerungspsychologischen Reflexionen immer wieder mit Rousseaus Confessions verglichen. Die Entscheidung, sein Leben zu dokumentieren, führt Chateaubriand im ersten Buch auf ein Erlebnis in einem Park zurück, bei dem ihm durch den Gesang einer Drossel plötzlich seine gesamte Kindheit in der Erinnerung präsent wird: »Hier au soir je me promenais seul […] Je fus tir8 de mes r8flexions par le gazouillement d’une grive perch8e sur la plus haute branche d’un bouleau. f l’instant, ce son magique fit repara%tre / mes yeux le domaine paternel; j’oubliai les catastrophes dont je venais d’Þtre le t8moin, et, transport8 subitement dans le pass8, je revis ces camagnes oF j’endentis si souvent siffler la grive.« (M8moires d’outre-tombe, 2 Bde., hrsg. von Jean-Claude Berchet, Paris, Le Livre de Poche (La PochothHque), 2003–2004, Bd. 1, S. 191f.) Berühmtheit erlangt die Szene nicht zuletzt durch Prousts f la recherche du temps perdu, wo der Erzähler seine Berufung zum Schriftsteller und den Entschluss, das zukünftige Werk in der Erinnerung zu begründen, durch den Verweis auf Chateaubriands »m8moire involontaire« legitimiert. Zu Prousts Rezeption von Chateaubriands Landschaften vgl. Luzius Keller, »Beseelte Landschaften und Landschaften der Seele. Prousts Verhältnis zur Romantik am Beispiel seines Dialoges mit Chateaubriand«, in: Maurer / Wehle (Hrsg.), Romantik, S. 325–353.

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Darstellungen vielmehr aus Werken anderer Autoren speist, unterscheidet sich von Fall zu Fall, worauf im Folgenden bei der Betrachtung der Reiseberichte noch näher einzugehen sein wird. Wichtig ist jedoch letztlich nicht, woher Chateaubriand die Landschaften kennt, sondern dass er sie als (in der Fiktion) real existierende Räume ausweist, die von der Erinnerung als solche sanktioniert werden. Es handelt sich dabei um ein grundlegendes Charakteristikum der Korrespondenzlandschaft, die somit immer an einen bestimmten Ort gebunden und nicht wie später die abstrakte Seelenlandschaft der modernen Autoren geographisch gesehen an nahezu beliebiger Stelle zu verorten ist. Die Tatsache, dass die Landschaft als real existierender Ort ausgewiesen wird, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die Landschaften der fiktionalen Werke als auch die Landschaften der biographisch geprägten Reiseberichte hochgradig konstruiert sind, wie noch zu sehen sein wird. In der vorliegenden Textstelle thematisiert Chateaubriand diesen durch die Erinnerung seines Protagonisten realisierten Schöpfungsprozess. Die Rekonstruktion der in der Jugend erlebten Landschaft erfüllt Ren8s melancholische Seele noch einmal mit Freude. Überblendet ist dieses Glücksgefühl jedoch von der retrospektiven Einsicht in die Illusionshaftigkeit der unschuldigen Jugendtage. Im Spannungsfeld dieser Doppelperspektive gewinnen die auf das Bekenntnis folgenden Beschreibungselemente ihre Tiefe. Eingerahmt werden sie von der metaphorischen Schwere der Herbstlandschaft, die das Schwellenmoment zwischen Leben und Verfall verkörpert.254 Die Landschaft wird folglich allein in der Erinnerung subjektiv präsent und real, eine Art der Landschaftsdarstellung, die Rousseau bekanntlich zu höchster Perfektion gebracht hat. Diese neue Subjektivität der Landschaftserfahrung motiviert hier auch den letzten Satz der Szene. Indem Chateaubriand den genius loci der Landschaft evoziert und ihn zur Quelle dichterischer Schöpfungskraft stilisiert, realisiert er ein weiteres Thema der romantischen Naturerfahrung. Ganz im Sinne der Genieästhetik ermöglicht die Gleichgestimmtheit zwischen Natur und Mensch ein intuitives Erfassen der Umgebung. Im »spectacle de la nature« inszeniert Chateaubriand einen Moment der Weltpassung, in dem der durch die Ratio gebrochene Mensch mittels seiner Sinne noch einmal Ganzheit erfahren und zu einem modernen poeta vates werden kann. In diesem Augenblick wird er zum Medium einer Ursprache, die die Natur als deren letzte Bastion noch in sich trägt 254 Die Herbstlandschaft kann aufgrund der Stimmungen und Assoziationen, die sie bereits eigenständig wachruft, als besonders beliebte Korrespondenzlandschaft gelten. Vgl. hierzu schon die berühmten Jahreszeitgedichte The Seasons (1730) von James Thomson. Darstellungen melancholischer Landschaften in den europäischen Literaturen des 18. Jahrhunderts gehen maßgeblich auf den Einfluss der schon in der ersten Jahrhunderthälfte in England entwickelten vorromantischen Landschaftspoesie zurück. Vgl. hierzu Tieghem, Le sentiment de la Nature dans le Pr8romantisme Europ8en, S. 240ff.

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und die sich nun im Betrachter auf ihm unbewusste Art und Weise artikuliert (»nous murmurions«).255 Die Inszeniertheit, das heißt die Künstlichkeit dieses Moments sollte dabei nicht übersehen werden. Die Darstellung ist bis ins Detail durchkomponiert, indem zum Beispiel die elliptische Auslassung des Verbs bei der Nennung des Regenbogens im Hintergrund bereits das Intuitive, Augenblickliche der Naturbetrachtung suggeriert und so die Aussage des darauffolgenden letzten Satzes vorbereitet. So spontan und sinnesgesteuert Ren8s Darstellung erscheinen soll, so wohldurchdacht und am zeitgenössischen Erwartungshorizont geschult ist die des Autors.256 Chateaubriand entwirft hier eine Natur, die sowohl Inspirationsquelle ist als auch Heilfunktion besitzt, denn sie positioniert sich im Einklang zu ihrem Betrachter, korrespondiert mit seinen Empfindungen und kompensiert seine Leere. In der zum Spiegel der Seele stilisierten Natur wird der Mensch seiner selbst ansichtig und erfährt somit auch die Welt als sinngebend und in einem harmonischen Verhältnis zu sich selbst stehend. In dieser Projektion werden Ich und Welt gleichbedeutend. Dass es sich dabei jedoch um ein reines »spectacle« handelt, ist Chateaubriand sehr wohl bewusst, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird. Als weitere Beispiele solcher Korrespondenzräume werden neben den einschlägigen Szenen aus Ren8 oft die Darstellungen von wilden, unberührten Nachtlandschaften herangezogen, derer sich in Chateaubriands Gesamtwerk eine bezeichnende Fülle auftut. Die oben dargelegte Harmonieerfahrung findet hier ihr vollkommenstes Bild. In der Reinheit der weiten mondbeleuchteten Landschaften, die Chateaubriand größtenteils auf der Grundlage seiner Reiseerfahrungen in Nordamerika und dem Orient konstruiert, findet das Ich eine Spur der Ursprünglichkeit wieder, die es in der modernen Welt entbehrt. Die bevorzugten Elemente solcher Urlandschaften sind aus diesem Grund solche, die Unendlichkeit suggerieren, wie Jean-Claude Berchet feststellt: 255 Den Aspekt der Lautlichkeit in Chateaubriands Prosa thematisiert Jean Mourot in seiner statistisch angelegten Studie über Klang und Rhythmus der Sprache der M8moires d’outretombe: Le g8nie d’un style: Chateaubriand. Rythme et sonorit8 dans les M8moires d’outretombe, Paris, Librairie Armand Colin, 21969 (11960). Er legt dar, dass Chateaubriand in seinen Landschaftsdarstellungen vor allem Worte wählt, die durch ihre Lautlichkeit Volumen und Tiefe suggerieren. Als häufigster und von Chateaubriand bevorzugter Laut stellt sich dabei das ausklingende -er (wie z. B. in lumi8re) heraus. Dieser Effekt dient laut Mourot der Evokation der räumlichen Weite und Leere der Landschaft. (Vgl. besonders S. 180ff. und S. 221) 256 In seinem Essai sur la litt8rature anglaise reflektiert Chateaubriand die literarischen Beschreibungstechniken einer dem Dichter korrespondierenden Natur am Beispiel von Youngs Night Thoughts, bleibt dabei jedoch den Klischees der Genieästhetik bzw. der zeitgenössischen sensibilit8 ganz verpflichtet: »Je ne pourrais dire oF g%t cette tristesse, qu’un poHte fait sortir des tableaux de la nature; mais il est certain qu’il la retrouve / chaque pas. Il unit son .me au bruit des vents, qui lui rapelle des id8es de solitude: une onde qui fuit, c’est la vie; une feuille qui tombe, c’est l’homme.« (S. 507)

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[…] Chateaubriand aime surtout 8voquer les espaces infinis de la mer et du ciel li8s par de multiples correspondances fugitives: 8cume de nuages passant sur la face de la lune, lune labourant les vagues du ciel, profondeur du firmament assoupi au fond de la mer.257

In diesen »correspondances fugitives« der unberührten Natur findet das Ich einerseits seine eigene Vergänglichkeit gespiegelt. Andererseits entfaltet sich ihm die Landschaft im Prozess der Wahrnehmung zum transzendenten Raum und zur Wiege der ersehnten Ursprünglichkeit. Gerade die Nachtlandschaft bietet die besondere Möglichkeit gleichzeitig sowohl zur Chiffre der Abwesenheit als auch zum Evokationsraum einer unbestimmten Präsenz zu werden. Der Effekt der Diffusion ist hier gewissermaßen auf den Höhepunkt getrieben. In seiner Darstellung des Mondlichts bedient sich Chateaubriand dazu einer ganz spezifischen Technik, die es trotz gewissen Übereinstimmungen mit anderen vorromantischen Landschaftsdarstellungen rechtfertigt, von einer »conception nouvelle de la lumiHre« zu sprechen.258 Ein sehr frühes Beispiel dieser ›blauen Nächte‹ liefert Chateaubriand in der berühmten Nuit chez les sauvages de l’Am8rique, die erstmals als fulminanter Abschluss im letzten Kapitel des Essai sur les r8volutions erscheint (1797). Die Landschaftsszene ist für sein Gesamtwerk von herausragender Bedeutung, da Chateaubriand sie Zeit seines Lebens überarbeitet und immer wieder in seine Werke integriert, so dass insgesamt sieben verschiedene gedruckte Versionen der Landschaftsdarstellung vorliegen.259 Auch für die hier angesetzte Untersuchung ist sie von entscheidender Bedeutung und soll deshalb ungekürzt wiedergegeben werden. Die Version des Essai sur les r8volutions bietet zudem für die hier aufgeworfenen Fragestellungen den größtmöglichen Aufschluss. Das Werk schließt ab mit einem kurzen Kapitel, in dem sich Chateaubriand – desillusioniert von den gescheiterten Erklärungsversuchen seines Essai – an eine Nacht in der amerikanischen Wildnis in der Nähe der Niagarafälle und das Zusammentreffen mit einer indianischen Familie erinnert. Die kleine Gruppe, die ihr Nachtlager mit den Europäern teilt, bezaubert den Reisenden, wie er seine (authentischen oder erfundenen) Erinnerungen nicht ohne pathetischen Unterton darlegt. Als er keinen Schlaf finden kann, steht er auf und betrachtet die Landschaft: 257 Berchet, Chateaubriand ou les al8as du d8sir, S. 57. 258 Ebd., S. 56. Berchet weist daraufin, dass z. B. Ossian oder Bernardin de Saint-Pierre die blaue Mondnacht in noch systematischerer Weise für ihre Dichtung instrumentalisieren. Chateaubriand steigere die Intensität jedoch solchermaßen, so Berchet, dass er eine magische, fast surrealistische Wirkung erziele. (Vgl. ebd., S. 51f.) 259 Zur zentralen Position der Szene im Gesamtwerk und zu einem überblicksartigen Vergleich der verschiedenen Versionen vgl. Victor Giraud, Chateaubriand. Ptudes Litt8raires, Paris, Hachette, 1904, Kapitel »Histoire des variations d’une page de Chateaubriand«, S. 181–198. Die Szene wird im Folgenden der Einfachheit halber mit dem kürzeren Titel der Version aus den M8moires d’outre-tombe aufgeführt: Nuit am8ricaine.

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Il faisoit clair de lune. Pchauff8 de mes id8es, je me levai et fus m’asseoir, / quelque distance, sur une racine qui traÅoit au bord du ruisseau: c’8toit une de ces nuits am8ricaines que le pinceau des hommes ne rendra jamais, et dont je me suis rappel8 cent fois le souvenir avec d8lices. La lune 8toit au plus haut point du ciel: on voyait Å/ et l/, dans de grands intervalles 8pur8s, scintiller mille 8toiles. Tantit la lune reposoit sur un groupe de nuages, qui ressembloit / la cime de hautes montagnes couronn8es de neige; peu / peu ces nues s’allongeoient en zones diaphanes et onduleuses de satin blanc, ou se transformoient en l8gers flocons d’8cume, en innombrables troupeaux errants dans les plaines bleues du firmament. Une autre fois, la vo0te a8rienne paroissoit chang8e en une grHve oF l’on distinguoit les couches horizontales, les rides parallHles trac8es comme par le flux et le reflux r8gulier de la mer : une bouff8e de vent venoit encore d8chirer le voile, et partout se formoient dans les cieux de grands bancs d’une ouate 8blouissante de blancheur, si doux / l’œil, qu’on croyoit ressentir leur mollesse et leur 8lasticit8. La scHne sur la terre n’8toit pas moins ravissante: le jour c8rus8en et velout8 de la lune, flottoit silencieusement sur la cime des forÞts, et descendant dans les intervalles des arbres, poussoit des gerbes de lumiHre jusque dans l’8paisseur des plus profondes t8nHbres. L’8troit ruisseau qui couloit / mes pieds, s’enfonÅant tour / tour sous des fourr8s de chÞnes-saules et d’arbres / sucre, et reparoissant un peu plus loin dans des clairiHres tout brillant des constellations de la nuit, ressembloit / un ruban de moire et d’azur, sem8 de crachats de diamants, et coup8 transversalement de bandes noires. De l’autre cit8 de la riviHre, dans une vaste prairie naturelle, la clart8 de la lune dormoit sans mouvement sur les gazons oF elle 8toit 8tendue comme des toiles. Des bouleaux dispers8s Å/ et l/ dans la savane, tantit, selon le caprice des brises, se confondoient avec le sol, en s’enveloppant de gazes p.les, tantit se d8tachoient du fond de craie en se couvrant d’obscurit8, et formant comme des %les d’ombres flottantes sur une mer immobile de lumiHre. AuprHs, tout 8toit silence et repos, hors la chute de quelques feuilles, le passage brusque d’un vent subit, les g8missements rares et interrompus de la hulotte; mais au loin, par intervalles, on entendoit les roulements solennels de la cataracte de Niagara, qui, dans le calme de la nuit, se prolongeoient de d8sert en d8sert, et expiroient / travers les forÞts solitaires.260

Wie bereits beim ersten Lesen deutlich wird, handelt es sich bei dieser mondbeschienenen Urwald- und Savannenlandschaft bei den Niagarafällen um eine Landschaftsdarstellung von außerordentlicher stilistischer Dichte und Reichhaltigkeit. Obschon es sich um die früheste Version der Nuit am8ricaine handelt, findet sich gerade in dieser Szene bereits ein ungewöhnlich großer Anteil des Programms des Autors realisiert. Eine umfassende Interpretation könnte ganze Kapitel füllen, einige Aspekte treten jedoch recht schnell in den Vordergrund und sollen an dieser Stelle behandelt werden. Auffällig ist zunächst die makrostrukturelle Organisation der Landschaft, die sich in alle Richtungen hin ausdehnt. Nach dem einleitenden Absatz, der die Beschreibung innerhalb der Handlung situiert, erfolgt zunächst eine Darstellung 260 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1198–1202.

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des Himmels. An diese schließt die Beschreibung der »scHne sur la terre« an, die wiederum in die zwei verschiedenen Uferseiten aufgeteilt ist. Die Landschaft erstreckt sich demnach sowohl in den vertikalen als auch in den horizontalen Raum. Der Beschreibung des Himmels und der beiden Seiten der horizontalen Ebene kommen dabei je circa ein Drittel des Gesamtumfangs der Beschreibung zu, was auf die Organisation des Textes zum tableau verweist, wie Chateaubriand seine Darstellung selbst klassifiziert.261 In der Forschung wurde bereits vielfach aufgezeigt, inwiefern seine Landschaftstableaus eine Neuinterpretation des herkömmlichen Tableau-Begriffs darstellen: In ihnen ist vor allem die perspektivische Tiefe markiert, wodurch sie die schlichte Trennung in Vorder- und Hintergrund überschreiten, wie sie die klassizistische Tradition des horazischen ›ut pictura poesis‹ gefordert hatte.262 So realisieren Chateaubriands Naturbilder laut Forschungstenor vielmehr die romantische m8taphysique des fonds, wie es oben bereits dargelegt wurde.263 In der Tiefenwahrnehmung des Raumes, hier besonders hervorgerufen durch das auratische Rauschen der Niagarafälle »au loin, par intervalles«, realisiert sich die für Chateaubriand typische Totalisierung der Perspektive, welche durch die Suggestivität der Sprache und die Evokation kosmischer Ganzheit schließlich ganz aufgelöst wird.264 Ein weiteres augenfälliges Merkmal der Landschaft ist die oben bereits angesprochene Intensität des blauen Mondlichts. Die Szene wurde oft mit den stimmungsvollen Landschaftsgemälden Lorrains oder Poussins verglichen und tatsächlich sorgt Chateaubriand, der sich intensiv mit der Landschaftsmalerei 261 Vgl. ebd., S. 1202. In der Version der Nuit am8ricaine, die Chateaubriand neben der Beschreibung einer Meereslandschaft bei der Überfahrt nach Amerika im G8nie du christianisme aufführt, wählt er interessanterweise den Titel »Deux perspectives de la nature«. (G8nie du Christianisme, S. 589) 262 Zur Bedeutung des Begriffs tableau »als kunstvolle Form der Komposition« und zur Aneignung dieser Form durch die Literatur, die wissenschaftliche Naturbeschreibung und auch das Theater im Verlauf des 18. Jahrhunderts vgl. Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München, Wilhelm Fink, 2004, hier S. 16. Zu seiner spezifischen Verwendung im Zusammenhang mit der romantischen Landschaftsdarstellung vgl. Barb8ris, der den Begriff nicht im Rekurs auf deskriptive Techniken definiert, sondern darüber, ein Tableau müsse die Imagination anregen. (f la recherche d’une 8criture, S. 252ff.) Zur Tiefenperspektivik in Chateaubriands Landschaftstableaus vgl. Rainer Warning, »Romantische Tiefenperspektivik und moderner Perspektivismus. Chateaubriand – Flaubert – Proust«, in: Maurer / Wehle (Hrsg.), Romantik, S. 295–324. 263 Zur Zuordnung von Chateaubriands Landschaft zu dieser epistemologischen Formel vgl. auch Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 85–109. Zur romantischen ›Öffnung des Horizonts‹ in der französischen Literatur vgl. vor allem Michel Collot, L’horizon fabuleux, 2 Bde., Paris, Corti, 1988, Bd. 1, S. 45ff. 264 Zum Aspekt der Totalisierung der Perspektive in Chateaubriands erhabenen Landschaften vgl. Baudoin, Po8tique du paysage, S. 159ff. Warning legt das Prinzip der Totalisierung der Perspektive bei Chateaubriand anhand eines Vergleichs zu Raumdarstellungen Flauberts und Prousts dar, denen er im Unterschied dazu einen antimetaphysischen Perspektivismus zuschreibt. (»Romantische Tiefenperspektivik«, S. 296f.)

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beschäftigt hat, durch komplexe Licht- und Farbeffekte für ein außergewöhnliches Zusammenspiel der Bildelemente.265 Durch den Unsagbarkeitstopos zu Beginn der Szene evoziert er den Zusammenhang selbst explizit: wenn es möglich wäre, die Originalität des Ortes zu erfassen, gelänge es nur dem Maler.266 Laut Forschungstenor entfaltet die Szene ein Abbild kosmischer Harmonie, in der jedes einzelne Element in der Totalität des Gesamtbildes aufgehoben ist.267 Der alles dominierende Mond, dessen Präsenz die Szene einleitet, tüncht die Weite der Landschaft in sein schimmerndes Licht: »une mer immobile de lumiHre«. Berchet bespricht diesen Effekt in seinem Aufsatz »La nuit bleue« ausführlich. Die Landschaftselemente vereinen sich laut ihm zu einer allumfassenden »unit8 lumineuse«, deren »smoothness«, um Gilpins Vokabular heranzuziehen,268 ihre Konturen verschwinden lässt und den Ort auratisch und fast surrealistisch überhöht: »comme dans les toiles du Lorrain, lumiHre et couleur ne se peuvent plus distinguer : une espHce de vibration heureuse de la matiHre rHgne sur le monde.«269 Das vereinheitlichende Licht, die »gerbes de lumiHre«, die den Raum durchdringen, annullieren jeden möglichen Widerstand und ermöglichen einen reibungslosen, unmittelbaren Wahrnehmungsprozess (»si doux / l’œil«). Die Landschaft präsentiert sich als »univers liquide et perm8able, d8pourvu de toute asp8rit8.«270 Sie und das Auge des Betrachters scheinen ineinander zu zerfließen. Der Betrachtungsvorgang ist nicht nur wohltuend, sondern nahezu heilend, denn das weiche Mondlicht vereint nicht nur die einzelnen Landschaftsobjekte, es legt sich auch über die aufgewühlte Seele des Betrachters und beschwichtigt seine widerstreitenden Affekte (»Pchauff8 de mes id8es«). Zusätzlich dynamisiert wird dieser Effekt beruhigender Einheitlichkeit augenscheinlich durch die auffallend zahlreichen Stoffmetaphern, die Cha265 Seine Begeisterung für die Licht- und Farbeffekte in den Landschaftsgemälden Lorrains äußert Chateaubriand in der bekannten Lettre / M. Fontanes (sur la campagne romaine) vom 10. Januar 1804, die er in den Voyage en Italie integriert. (Vgl. Voyage en Italie, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 697) 266 Im Anschluss an die Szene betont Chateaubriand die Unsagbarkeit ein weiteres Mal: »La grandeur, l’8tonnante m8lancholie de ce tableau, ne sauroient s’exprimer dans les langues humaines.« (Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1202) 267 Vgl. zu dieser Lesart z. B. Micheline Tison-Braun, Po8tique du paysage (Essai sur le genre descriptif), Paris, Nizet, 1980, S. 59–66; Maija Lehtonen, L’expression imag8e dans l’œuvre de Chateaubriand, Helsinki, SKS, 1964, S. 523–527. Marc Fumaroli betont die Kompensationsfunktion der im Londoner Exil geschaffenen Szene, in der die vollkommene, vom Menschen unangetastete Natur als Gegenentwurf zu den schmerzvollen Erfahrungen im revolutionären Frankreich dient (Chateaubriand. Po8sie et Terreur, Paris, Pditions de Fallois, 2003, S. 343f.) Zu dieser Interpretation im Sinn der rousseauistischen Naturkonzeption vgl. auch Merete Grevlund, Paysage int8rieur et paysage ext8rieur dans les M8moires d’outre tombe, Paris, Nizet, 1968, S. 72–79. 268 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1. 269 Berchet, Chateaubriand ou les al8as du d8sir, S. 56f. 270 Ebd., S. 58.

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teaubriand in die Beschreibung einflicht (»satin blanc«, »le voile«, »de grands bancs d’une ouate 8blouissante de blancheur«, »velout8«, »un ruban de moire et d’azur«, »de bandes noires«). Die Wolken erscheinen so sanft und weich, »qu’on croyait ressentir leur mollesse et leur 8lasticit8.« Jegliche Anlässe für Reibungspunkte und Widerstände, die den Wahrnehmungsprozess beeinflussen könnten, werden aus dem Bild ausgesperrt. In ihrer harmonischen Einheitlichkeit und kosmischen Vollkommenheit wird die Natur zum schutzbringenden Hort, der die Zerrissenheit des Betrachters kompensiert.271 Die Natur erlangt ihre Schutzfunktion, indem sie den Betrachter für die Dauer des Wahrnehmungsvorgangs überwältigt und von seinen Nöten, das heißt in diesem Fall von seinem Verstand, kurzfristig befreit. Sie ist Trägerin einer höheren, reineren und allumfassenden Weisheit, Eigenschaften, die sich auf kunstvolle Weise in der bewegungslosen »clart8« des Mondlichts symbolisiert finden: »[…] dans une vaste prairie naturelle, la clart8 de la lune dormoit sans mouvement sur les gazons oF elle 8toit 8tendue comme des toiles.« Chateaubriand selbst klassifiziert die Naturszene als erhabene Landschaft, eine Kategorisierung, die er gegen Ende der Darstellung vorbereitet, wenn er von den »roulements solennels de la cataracte de Niagara« spricht, und in einer im Anschluss folgenden Kommentierung explizit macht: […] dans ces pays d8serts, l’.me se pla%t / s’enforcer, / se perdre dans un oc8an d’8ternelles forÞts; elle aime / errer, / la clart8 des 8toiles, aux bords des lacs immenses, / planer sur le gouffre mugissant des terribles cataractes, / tomber avec la masse des ondes, et pour ainsi dire / se mÞler, / se fondre avec toute une nature sauvage et sublime.272

Dem Mechanismus der Korrespondenzlandschaft gemäß durchströmt die Seele (le cœur plein) die unendliche Weite der erhabenen Landschaft (le monde vide). 271 Vgl. dazu auch Berchet: »Ce ne sont plus seulement les couleurs qui cessent de faire souffrir par leur diff8rance, mais les lignes qui sont abolies dans un mÞme espace lumineux, qui referme son immensit8 comme un nid.« (Chateaubriand ou les al8as du d8sir, S. 57) In den späteren Versionen der Nuit am8ricaine tritt der Aspekt des affektiven Einklangs zwischen dem Betrachter und einer zunehmend pantheistisch dargestellten Natur immer mehr in den Vordergrund. Schon in der 1802 im G8nie du Christianisme erschienenen Variante steht das Naturerlebnis der Intention des apologetischen Werks entsprechend im Zeichen der Gotteserfahrung. (Vgl. S. 591f.) Die Szene ist Teil des 5. Buches des 1. Teils: »Existence de Dieu prouv8 par les merveilles de la nature«. In der Darstellung der M8moires d’outre-tombe bemüht Chateaubriand dagegen den Topos der Natur als Muse des intuitiv erfassenden Dichters: »C’est dans ces nuits que m’apparut une muse inconnue; je recueillis quelquesuns de ses accents; je les marquai sur mon livre, / la clart8 des 8toiles, comme un musicien vulgaire 8crirait les notes que lui dicterait quelque grand ma%tre des harmonies.« (M8moires d’outre-tombe, S. 374f.) Zum Funktionswandel der Szene im Lauf der Überarbeitungen und zur späteren Prägung durch ein pantheistisches Naturverständnis vgl. auch Giraud, Ptudes litt8raires, S. 195f. 272 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1202.

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Die Kategorisierung wird an späterer Stelle noch einmal genauer zu prüfen sein. Festgehalten werden kann hier zunächst, dass sich die Landschaft in der Szene augenscheinlich als Raum vollkommener Harmonie entfaltet, was in der Forschung vielfach herausgestellt wurde. Die Magie des Augenblicks völliger Gleichgestimmtheit lässt den Landschaftsbetrachter in eine Art höhere Daseinsstufe eintreten. Berchet resümiert: Harmonie horizontale des couleurs du couchant; harmonie verticale de la mer et du ciel qui confHre au paysage une sorte de fluidit8 irr8elle qui ouvre les portes du songe.273

Die einzelnen Landschaftselemente scheinen ihre Daseinsberechtigung ausschließlich dadurch zu erlangen, dass sie sich als Teil in das Gesamtbild fügen und es aus ihrer Summe heraus erzeugen. Die Wahrnehmung der Landschaft funktioniert laut Forschungstenor durch eine ganzheitliche, synästhetische Vermittlung zwischen Ich und Umgebung, die allein darauf ausgerichtet ist, Subjekt und Objekt ohne jegliche Form des Widerstands ineinanderfließen zu lassen: Nicht um Selektivität oder Partialität geht es bei dieser Wahrnehmung, sondern um das Einswerden des Subjekts mit der erhabenen Unendlichkeit des göttlichen Kosmos, um die im Schauen und Hören sich vollziehende Totalvermittlung von Ich und Welt.274

Der Betrachter wird selbst Teil der unermesslichen Tiefe des Raumes, die er für den Augenblick der Kontemplation erahnen kann. Die auffällige mikrostrukturelle Dichte des Tableaus, der hohe Organisiertheitsgrad des Landschaftsbildes zu einem komprimierten, geschlossenen Gesamtbild ließe sich vor diesem Hintergrund durch das Bestreben des Autors erklären, den Moment der Weltpassung wirkungsvoll in Szene zu setzen. Eingerahmt in die erzählende Kommentierung eines empfindsamen Ich-Erzählers präsentiert sich die Landschaftsdarstellung in jedem Fall auf einer Abstraktionsebene. Vom Mond am höchsten Punkt des Himmels bis zum erhabenen Grollen der Niagarafälle in der Ferne bildet die Beschreibung innerhalb des Erzählzusammenhangs ein isoliertes, autonomes Gefüge. Hinter dieser Tatsache verbirgt sich jedoch eine weitere, sehr bedeutsame Dimension von Chateaubriands Landschaftsdarstellung, die es weiter zu ergründen gilt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass sich auf der Beschreibungsebene gegenüber der Rahmenhandlung ein Perspektivenwechsel vollzieht. Ein aufmerksamer Leser muss sich fragen, warum die Szene zwar dadurch eingeleitet wird, dass sich der Ich-Erzähler in eine ideale Beobachterposition begibt (»je me levai et fus m’asseoir, / quelque distance, sur une racine qui traÅoit au bord du ruisseau«) und die außerordentliche Wirkungskraft des Gesehenen vorwegnimmt, im ei273 Berchet, Chateaubriand ou les al8as du d8sir, S. 58. 274 Warning, »Romantische Tiefenmetaphysik und moderner Perspektivismus«, S. 296.

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gentlichen Beschreibungsteil jedoch kein einziges Mal mehr ein Ich als wahrnehmende Instanz auftritt. Stattdessen wechselt das Personalpronomen zu dem verallgemeinernden, unpersönlichen »on«, welches sogleich zu Beginn das erste Wahrnehmungsverb flektiert und insgesamt noch dreimal wiederholt wird. Gegenüber dem auffällig individualisierenden und subjektivierenden Duktus der Rahmenhandlung wird die eigentliche Wahrnehmung der Landschaft also geradezu entpersonalisiert und vom wahrnehmenden Subjekt abgekoppelt. Hinsichtlich der oben dargelegten Inszenierung der Reibungslosigkeit des Wahrnehmungsvorgangs und der beschriebenen Funktion der Lichtmetaphorik erscheint dieser Perspektivenwechsel paradox. Die These von der »Totalvermittlung von Ich und Welt«275 muss daher einer genaueren Prüfung unterzogen werden, denn tatsächlich sperrt Chateaubriand den Betrachter bis auf das einmalige Vorkommen des Possessivpronomens »mes« aus der Landschaftsbeschreibung aus. Der bewusst neutrale Gestus des ›on‹ konterkariert jeglichen Versuch die Landschaft mit möglichen Gemütszuständen des Betrachters zu analogisieren und dient allein dazu, letzte minimale Aufschlüsse darüber zu liefern, wie sich die Landschaft überhaupt zugänglich macht: »on voyait Åa et l/«, »on distinguoit«, »on croyoit ressentir«, »on entendoit«. Diese wenigen Wahrnehmungsverben suggerieren, dass sich die Landschaft scheinbar doch nicht mühelos erschließen lässt, sondern der Blick stattdessen von einem Objekt zum nächsten schweifen muss und Gegenstände letztlich nur erahnt werden können. Zusätzlich zur Entindividualisierung des Vorgangs präsentieren sich also die Wahrnehmungsmodalitäten als begrenzt. Die Beschreibung beschränkt sich auf die Nennung der einzelnen unterschiedlichen Landschaftselemente, die zunächst nur dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich von anderen unterscheiden. Eine definitive Ordnung erschließt sich aus ihrem Zusammenspiel zunächst nicht, so dass das Wahrgenommene vielmehr sensuelle Reize auslöst und versuchsweise Deutungen im Hinblick auf das tatsächliche Gesamtbild der Landschaft im Bereich des Potenziellen verbleiben. Während also die Rahmenhandlung Landschaft und Betrachter in ein konkretes Abhängigkeitsverhältnis zueinander stellt und dessen Beschaffenheit explizit thematisiert, sticht die Landschaftsbeschreibung selbst gerade dadurch aus ihr hervor, dass sie den Betrachter ausschließt und sein Urteilsvermögen unterläuft. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wird zu zeigen sein, inwiefern die berühmte Nuit am8ricaine keineswegs, wie in der Forschung postuliert, eine Stimmungslandschaft darstellt, die die aufgewühlten Leidenschaften des Betrachters kompensiert, sondern vielmehr von einer Struktur bestimmt ist, die sich der Wahrnehmung gegenüber als gänzlich autonom erweist. Die Loslösung der Landschaft vom

275 Ebd.

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Betrachter, die den zeitgenössischen Konventionen auffallend widerspricht, soll hier nun zunächst anhand eines weiteren Beispiels veranschaulicht werden. Chateaubriand spielt bei seiner Inszenierung der Nuit am8ricaine, so die hier aufgestellte These, ganz bewusst mit der Ästhetik des Erhabenen, die er formvollendet umzusetzen weiß. Zwei besonders charakteristische Beispiele für seine Darstellung erhabener Landschaften stellen die Gewitterszene und die Darstellung der Niagarafälle aus Atala (1801) dar, die als solche in der Forschung immer wieder angeführt werden.276 In dem kleinen Roman erzählt der mittlerweile alt gewordene Indianer Chactas aus dem Stamm der Natchez dem jungen Franzosen Ren8 die Geschichte seiner tragischen Liebe zu Atala in seinen Jugendtagen: Von einem fremden Stamm gefangen genommen, rettet die junge Indianerin Atala ihm das Leben und flüchtet gemeinsam mit ihm durch die unbekannte Savanne. Christlich erzogen und an ein Jungfräulichkeitsgelübde gegenüber ihrer verstorbenen Mutter gebunden, muss die kurze Geschichte der beiden Liebenden jedoch tragisch enden. Atala vergiftet sich, um der Übermacht ihrer Gefühle nicht erliegen zu müssen, erfährt jedoch vor ihrem Tod von dem französischen Priester pHre Aubry, der die beiden verheiraten und Chactas taufen sollte, dass eine Befreiung von ihrem Gelübde möglich gewesen wäre. In der bekannten Gewitterszene nun werden Chactas und Atala auf ihrer Flucht durch die Savannenlandschaft von dem überwältigenden Naturschauspiel des tosenden Gewitters überrascht und so sehr von seinem Anblick in Bann gezogen (»Quel affreux, quel magnifique spectacle!«277), dass es sich auf ihre Seele überträgt. Im Gewitter gerät die prästabilierte kosmische Ordnung der Natur, die noch einen Augenblick zuvor herrschte (»un calme universel«278), aus den Fugen. Die Szene gipfelt im »[o]rage du cœur«279 und in Atalas Enthüllung ihres Gelübdes, bis an ihr Lebensende Jungfrau zu bleiben. Die Beschreibung ist gekennzeichnet sowohl durch einen konstanten Spannungsanstieg (z. B. »[c]ependant l’obscurit8 redouble«280 usw.) als auch durch eine zielgerichtete Analogisierung von äußeren Geschehnissen und inneren Bewusstseinsvorgän276 Vgl. z. B. Fabienne Bercegol in ihrer Präsentation der hier zugrunde gelegten Edition von Atala (Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 40). 277 Chateaubriand, Atala, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 111. 278 Ebd., S. 110. Eine vielzitierte Landschaftsbeschreibung, die diese universelle Harmonie der exotischen Natur in Szene setzen und der Reinheit der beginnenden Zuneigung zwischen den beiden Liebenden entsprechen soll, findet sich zu Beginn von Chactas’ Erzählung: »La nuit 8toit d8licieuse. Le g8nie des airs secouoit sa chevelure bleue, embaum8e de la senteur des pins, et l’on respiroit la foible odeur d’ambre qu’exhaloient les crocodiles couch8s sous les tamarins des fleuves. La lune brilloit au milieu d’un azur sans tache, et sa lumiHre gris de perle descendoit sur la cime ind8termin8e des forÞts. Aucun bruit ne se faisoit entendre, hors je ne sais quelle harmonie lointaine qui r8gnoit dans la profondeur des bois: on e0t dit que l’.me de la solitude soupiroit dans toute l’8tendue du d8sert.« (Ebd., S. 89) 279 Ebd., S. 112. 280 Ebd., S. 111.

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gen, die gegen Ende schließlich zusammenfallen (»le bruit de mes transports se mÞla au bruit de l’orage«281). Die erhabene Naturszene dient hier der Motivation und Intensivierung des Wendepunkts der Handlung.282 Natur- und Seelenzustand sind miteinander identisch und erklären sich wechselseitig. Bei der genauen Betrachtung der Niagara-Szene fallen demgegenüber signifikante Unterschiede zu dieser wechselseitigen Bedingtheit zwischen Natur- und Seelenzustand auf. Auf die Szene soll daher hier ein detaillierter Blick geworfen werden. Sie entstammt dem Epilog des Romans, der nach Chactas tragischem Bericht seiner Erlebnisse nun auch die Rahmenhandlung des Romans abschließt. Chactas Geschichte war dem Ich-Erzähler dieser Rahmenhandlung zu Ohren gekommen, der auf den Spuren der letzten Natchez durch die von den Franzosen ausgerotteten ehemaligen Stammesgebiete reist und in dem sich Chateaubriand selbst spiegeln könnte. Der Erzähler trifft im Epilog auf ein indianisches Pärchen, mit dem zusammen er zu den sagenumwobenen Niagarafällen kommt: Nous arriv.mes bientit au bord de la cataracte, qui s’annonÅoit par d’affreux mugissements. Elle est form8e par la riviHre Niagara, qui sort du lac Eri8, et se jette dans le lac Ontario; sa hauteur perpendiculaire est de cent quarante-quatre pieds. Depuis le lac Eri8 jusqu’au Saut, le fleuve accourt, par une pente rapide, et au moment de la chute, c’est moins un fleuve qu’une mer, dont les torrents se pressent / la bouche b8ante d’un gouffre. La cataracte se divise en deux branches, et se courbe en fer / cheval. Entre les deux chutes s’avance une %le creus8e en dessous, qui pend avec tous ses arbres sur les chaos des ondes. La masse du fleuve qui se pr8cipite au midi, s’arrondit en un vaste cylindre, puis se d8roule en nappe de neige, et brille au soleil de toutes les couleurs. Celle qui tombe au levant descend dans une ombre effrayante; on diroit une colonne d’eau du d8luge. Mille arcs-en-ciel se courbent et se croisent sur l’ab%me. Frappant le roc 8branl8, l’eau rejaillit en tourbillons d’8cume, qui s’8lHvent au-dessus des forÞts, comme les fum8es d’un vaste embrasement. Des pins, des noyers sauvages, des rochers taill8s en forme de fantimes, d8corent la scHne. Des aigles entrain8s par le courant d’air, descendent en tournoyant au fond du gouffre; et des carcajous se suspendent par leurs queues flexibles au bout d’une branche abaiss8e, pour saisir dans l’ab%me, les cadavres bris8s des 8lans et des ours. Tandis qu’avec un plaisir mÞl8 de terreur je contemplois ce spectacle, l’Indienne et son 8poux me quittHrent.283 281 Ebd., S. 113. 282 Zu diese Funktion der Landschaft vgl. die sehr eingehenden Analysen von Fabienne Bercegol in ihrem Buch Chateaubriand: une po8tique de la tentation (Ptudes romantiques et dix-neuvi8mistes. 1), Paris, Classiques Garnier, 2009, bes. S. 106, S. 117f., S. 124 und zu unserer Textstelle S. 129ff. Gerade in den amerikanischen Fiktionen Atala, Les Natchez und Ren8 stehen laut Bercegol die ungezügelten Leidenschaften der Protagonisten in Analogie zu der erhabenen, unkontrollierbaren Urgewalt der Natur, so dass sich in den zahlreichen Beschreibungen sogar eine zweite, verdeckte Erzählebene verbirgt. 283 Chateaubriand, Atala, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 160f.

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Auch hier wird die Erhabenheit des Naturschauspiels beschrieben: »c’est moins un fleuve qu’une mer, dont les torrents se pressent / la bouche b8ante d’un gouffre.« Mit »[m]ille arcs-en-ciel«, »[d]es aigles entra%n8s par le courant d’air« am Himmel und »une colonne d’eau du d8luge«, »le chaos des ondes« und »les cadavres bris8s des 8lans et des ours« am Boden, formiert sich der Landschaftsausschnitt erneut zur ›Szene‹, eine Definition, die Chateaubriand wie in der Nuit am8ricaine selbst vornimmt: »Des pins, des noyers sauvages, des rochers taill8s en forme de fantimes, d8corent la scHne.«284 Zwar gehört die Theatermetaphorik zur zeitgenössischen literarischen Konvention, doch lässt die Fülle der entsprechenden Metaphern, die im Allgemeinen kennzeichnend für Chateaubriands Landschaftsdarstellungen sind,285 weitere Schlüsse zu. Gerade das Verb »d8corent« gibt hier im Gegensatz zur Gewitterszene ersten Aufschluss über einen Zusammenhang, der auch für die Nuit am8ricaine grundlegend ist. Es handelt sich bei beiden Landschaftsdarstellungen um in sich abgeschlossene Tableaus, die von einem außenstehenden, neutralen Betrachter gleich einem Gemälde oder, wenn man so will, in Verbindung mit »scHne«, einem Bühnenbild beschrieben werden. Noch deutlicher wird dieser Aspekt, wenn man den ersten Satz des an die Beschreibung anschließenden Absatzes betrachtet: »Tandis qu’avec un plaisir mÞl8 de terreur je contemplais ce spectacle, l’Indienne et son 8poux me quitHrent.«286 Zwar attestiert die Gemütsbeschreibung genau die Befindlichkeit, die Burke in seinem physiologischen Erklärungsmodell als kennzeichnend für die Betrachtung erhabener Objekte definiert hatte, nämlich einen »delightful horror«287, doch fällt auf, welcher Status dieser Beschreibung im Vergleich zu der ausführlichen und detailgenauen Landschaftsdarstellung nur mehr zukommt. Die Wirkung des erhabenen Naturtableaus auf das wahrnehmende Subjekt durchzieht keineswegs mehr dessen Darstellung, wie es in der Gewitterszene die zentrale Funktion der Landschaftsszene war. Gleich der Nuit am8ricaine sind die Spuren der wahrnehmenden Instanz auf ein Minimum beschränkt, das heißt, sie verschwinden in der Niagaraszene sogar nahezu vollkommen. Die Darstellung ist durch einen durchgehend neutral-sachlichen 284 Ebd., S. 161. 285 Vgl. hierzu Dorothea Kullmann, Description. Theorie und Praxis der Beschreibung im französischen Roman von Chateaubriand bis Zola (Studia Romanica. 118), Heidelberg, Carl Winter, 2004, S. 99. Das Theatervokabular findet allgemein im 18. Jahrhundert auch im Bereich der anderen Gattungen reiche Verwendung. Dies gilt besonders für die neu entstehende Gattung des Romans, für die noch kein solch komplexer Begriffsapparat existiert, wie er sich im Bereich der Dramentheorie bereits seit der Renaissance entwickelt hatte. 286 Chateaubriand, Atala, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 161. Auf die Besonderheit dieses Satzes weist auch Kullmann hin. Sie vergleicht die Beschreibungspassagen aus Atala ausführlich und zeigt, dass Chateaubriand die Wahrnehmungsvorgänge der Figuren überwiegend nicht explizit benennt. (Vgl. Kullmann, Description, S. 147) 287 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1.

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Stil gekennzeichnet, es findet sich darin nur ein einziges interpretierendes ›on‹ (»[…] on diroit une colonne d’eau du d8luge.«) Erst in der resümierenden Wirkungsbeschreibung taucht das Ich wieder auf. Diesem Satz kommt jedoch letztlich nur noch die Aufgabe zu, den folgenden Absatz und damit den Wiedereinstieg in die Handlung zu motivieren und einzuleiten. Angesichts der Objektivität und Geschlossenheit der vergleichsweise langen Landschaftsbeschreibung erscheint die schematische Klassifizierung der Reaktion auf sie nahezu plakativ. Verlagert in einen ausschmückenden Temporalsatz, entbehrt sie in jedem Fall der zentralen, erstrangigen Position, die ihr in der Korrespondenzlandschaft eigentlich zukommen müsste.288 Die Tatsache, dass Chateaubriand gerade Landschaften, denen er selbst explizit das Attribut ›erhaben‹ zufügt, als vom Betrachter gänzlich losgelöste, autonome Tableaus inszeniert, ist besonders signifikant. Die Erhabenheit eines Objekts oder einer Landschaft liegt, wie mit Burke gesehen werden konnte und worin sich die Theoretiker der Ästhetik einig sind, ja gerade in der Reaktion des Betrachters begründet. Nicht das Objekt selbst ist erhaben, sondern der Effekt, den es bewirkt.289 In der Nuit am8ricaine und in der Niagara-Szene wird dieser Effekt jedoch, anders als in den beiden anderen dargelegten Landschaftsszenen aus Ren8 und Atala, in den Handlungsrahmen abgedrängt und die Landschaftsdarstellung stattdessen vom wahrnehmenden Subjekt abgelöst. Erhabenheit ist in der Niagara-Szene vielmehr ausschließlich auf einer Metaebene präsent. Im gleichen Moment, in dem das Wirkungsschema der erhabenen Landschaft reproduziert wird, entlarvt Chateaubriand die Szene als »spectacle«. Der Betrachter ist neutraler Zuschauer. Eine Vermittlung zwischen ihm und der Landschaft und damit eine Naturempfindsamkeit im Sinne des rousseauschen sentiment de la nature kann hier nicht beobachtet werden. Vielmehr offenbart sich in den genannten Landschaften, soviel konnte die bisherige Untersuchung bereits zeigen, eine »Ablösung der Landschaft vom correspondance-Bezug« und eine »Verselbstständigung der literarischen Landschaft zum Bild«290, wie auch Gerhard Hess postuliert. Was unter dieser ›Verselbstständigung‹ genau zu verstehen ist, soll in den folgenden Kapiteln gezeigt werden. 288 Grevlund vergleicht die Niagara-Szene aus Atala mit der Überarbeitung der M8moires d’outre-tombe und konstatiert, die frühere Darstellung aus Atala sei im Vergleich zur späteren noch von dem Glauben an einen möglichen Einklang zwischen Mensch und Natur geprägt und nach der Ästhetik des Erhabenen konzipiert. Von der Beschwörung der Momente dieses Einklangs weiche Chateaubriand erst später ab: »Leur rile est de rappeler une harmonie entre l’homme et ce qui l’entoure, une confiance dans les choses qui n’a pas encore 8t8 d8Åue.« (Paysage int8rieur, S. 80ff.) 289 Vgl. zur Ästhetik des Erhabenen oben, Kap. 2.2.2.1. 290 Gerhard Hess, Die Landschaft, S. 17f. Hess qualifiziert diese Loslösung als Charakteristikum von Landschaftsdarstellungen des frühen 19. Jahrhunderts und verortet ihre Ursprünge in Chateaubriands Werk.

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Die bisherige Überschau und Analyse einiger Landschaftsszenen konnte bereits einen ersten Aufschluss darüber geben, dass Chateaubriand zwar einerseits idealtypische Korrespondenzlandschaften entwirft, als deren Quelle ihm sowohl die Landschaft der Heimat als auch die unberührte weite Urlandschaft Amerikas dienen können. Darüberhinaus konnte jedoch beobachtet werden, dass er in anderen Landschaftsdarstellungen spielerisch mit den für die Korrespondenzlandschaft konstitutiven Mechanismen umgeht bzw. sie teilweise außer Kraft setzt. Er überwindet damit gleichzeitig den für die Romantik typischen Kompensationsimpuls, welchen die Korrespondenzlandschaft als sinnstiftende Erfahrungswelt des Betrachters in nuce verkörpert. Während sich Ren8 als Illustration des romantischen vague des passions vor allem durch seine subjektiv aufgeladenen Stimmungslandschaften auszeichnet, präsentiert sich Atala mit seinen exotischen, dichten Landschaftstableaus bereits als ein Arsenal besonders vielfältiger, teilweise ›experimenteller‹ Landschaften.291 Mit den Landschaften dieses vom correspondance-Bezug losgelösten Typs setzt Chateaubriand bereits ein viel moderneres Landschaftsparadigma ins Bild, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Darüber hinaus bereitet er Beschreibungstechniken und Methoden der Perspektivierung vor, die in der Forschung meist erst der realistischen Literatur ab der Jahrhundertmitte zugesprochen werden; eine These, der im Folgenden noch nachzugehen ist. Statt als exemplarischer Autor der romantischen Korrespondenzlandschaft muss er in jedem Fall vielmehr als Vorreiter eines Bewusstseinswandels verstanden werden, der eben gerade die Zurückdrängung der dem Ich korrespondierenden, subjektiv-realen Erlebnislandschaft bewirkt. Dieser Bewusstseinswandel lässt sich mit Hess zunächst folgendermaßen beschreiben:

291 Besonders die berühmte Eingangslandschaft des Prologs erweist sich als ein Meisterstück zeitgenössischer Landschaftsbeschreibung und zieht gleichzeitig sehr unterschiedliche Interpretationen nach sich. Zumeist wird sie als exotische Rekonstruktion des Garten Edens gelesen, wie z. B. Olivier Catel vorschlägt; vgl. »La couleur am8ricaine ou la tentation panth8iste chez le jeune Chateaubriand«, in: Pcritures 19, 5 (2008), S. 47–66. Eine interessante Deutung hat jüngst Fabienne Bercegol vorgelegt, die die überbordenden Flüsse und die extreme Reizfülle des Tableaus als »8criture de l’excHs« liest, welche die destruktive Energie darzustellen sucht, die Chateaubriand letztlich als konstitutive Kraft der Natur und der menschlichen Leidenschaften betrachtet; vgl. »L’h8ritage de l’idylle dans les fictions de Chateaubriand«, in: dies. / Pierre Glaudes (Hrsg.), Chateaubriand et le r8cit de fiction (Rencontres. 61), Paris, Classiques Garnier, 2013, S. 67–93, hier S. 87f. Inga Baumann liest die beiden Flussseiten als Gegenüberstellung einer (leeren) Korrespondenzlandschaft und einer »exotischen Landschaft der Fülle« bzw. einer »ästhetischen Wahrnehmungslandschaft«. (Räume der rÞverie, S. 108ff.) Chateaubriand orientiert sich in dem Tableau im Übrigen an Buffon, dem großen Naturforscher der Zeit. (Vgl. Michel Delons Vorwort zu Buffon, Œuvres, hrsg. von St8phane Schmitt (BibliothHque de la Pl8iade. 532), Paris, Gallimard, 2007, S. ix–xxxvii, hier S. xxv)

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Der sachliche Eigenwert der Landschaft ist wesentlicher geworden als der Anspruch an die Natur, daß sie für den Menschen als Entsprechung verfügbar sei. Die Landschaft ist verdinglicht.292

Die Charakteristika dieser ›Verdinglichung‹ und inwiefern diese als Symptom eines Bewusstseinswandels gelten können, gilt es nun zu untersuchen. Ob Chateaubriand sich seiner Überwindung des correspondance-Paradigmas bewusst war oder ob er sich vielmehr »wider Willen« moderner Darstellungsmethoden bediente, wie es sowohl Hess als auch Geyer interpretieren,293 wird nie sicher zu sagen sein. Die Tatsache jedoch, dass die als Korrespondenzräume konstruierten Landschaften sich meist an zentralen Punkten der Handlung befinden und diese motivieren, während die neutralisierten Landschaften sich eher in Passagen finden, die der poetologischen Reflexion Raum geben,294 lässt in jedem Fall auf eine bewusste und reflektierte Auseinandersetzung mit der tradierten Landschaftsästhetik folgern. Dies erschließt sich im Übrigen auch aus Chateaubriands Reaktion auf die Alpen als der Ursprungsstätte erhabener Naturästhetik schlechthin, die er in seinem Reisebericht Voyage au Mont-Blanc (1806 im Mercure de France) formuliert und die ihm den Beinamen »le grand antagoniste des montagnes« eingebracht hat.295 Eine genaue Betrachtung seiner 292 Hess, Die Landschaft, S. 18. 293 Vgl. ebd., S. 17; Geyer markiert diese Annahme bereits im Titel seines Buches Modernität wider Willen und führt in seinen Untersuchungen aus, dass Chateaubriand in den späteren Versionen der Nuit am8ricaine wieder auf die Darstellung kosmischer Harmonie zurückfällt. 294 Gegenüber der Gewitterszene, die einen Schlüsselmoment der Handlung einleitet, erscheint die Niagara-Szene im Epilog stark aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst. Dies gilt gleichsam für die Nuit am8ricaine des Essai sur les r8volutions, die in die kurze (wahrscheinlich erfundene) Erzählung der Begegnung mit einer indianischen Familie während der Amerika-Reise eingebettet ist. Die pessimistischen Schlussfolgerungen des Essais, das Weltgeschehen letztlich nicht rational erklären zu können, stellen für die Landschaftsszene einen bedeutsameren Kontext dar, als die kurze Handlung des Textes, dem sie angehört. 295 Die Bezeichnung stammt von Sainte-Beuve. In der berühmten Vorlesung »Chateaubriand et son groupe litt8raire sous l’Empire« erklärte er : »M. de Chateaubriand est et restera le grand antagoniste des montagnes; il leur en veut, il a cherch8 querelle au Mont-Blanc, dans un voyage qu’il fit en 1805.« (Chateaubriand et son groupe litt8raire sous l’Empire. Cours profess8 / LiHge en 1848–1849, 2 Bde., hrsg. von Maurice Allem, Paris, Garnier, 1948, Bd. 1, S. 322) Die Bemerkung ist gewissermaßen wörtlich zu nehmen, denn tatsächlich konnte Chateaubriand den Mont Blanc nicht mehr unbefangen besteigen, sondern konfrontierte mit seiner Reise einen ganzen Diskurs, den die Reiseliteratur seit Saussures Voyages dans les Alpes (erschienen ab 1779) hervorgebracht hatte. Seine Reise ist daher, statt dem einfachen Naturerlebnis, vor allem der kritischen Auseinandersetzung mit einem Topos verpflichtet. Juan Rigoli stellt diesen Kontext der Reise, der ähnlich auch für die Besteigung des Vesuvs gilt, in seinem Buch Le voyageur / l’envers. Montagnes de Chateaubriand (suivi de l’8dition du Voyage au Mont-Blanc et du Voyage au Mont-V8suve, GenHve, Droz, 2005) ausführlich vor. Anhand der 1806 erschienenen Reiseberichte Voyage au Mont-Blanc, et r8flexions sur

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vielfältigen Naturbeschreibungen und seines Umgangs mit den entsprechenden Topoi bringt die Suche des Autors nach neuen Darstellungsformen ans Licht. Die Inszenierung der Landschaft zu einem Spiegelbild der Seele kommt bei ihm eher einem Stilmittel gleich, das er anwendet, wenn sein Effekt erwünscht ist, wie zum Beispiel in der Gewitterszene aus Atala. Dass die Ästhetik des Pittoresken sich demgegenüber als eine solche alternative Darstellungsweise anbietet und damit sogar das correspondance-Paradigma der romantischen Landschaftsdarstellung ablösen kann, ist Gegenstand der folgenden Kapitel.

3.1.3 Die Landschaften der voyages Chateaubriands Reisen stellen nicht nur für die Beschäftigung mit seiner Landschaftsästhetik einen zentralen Gegenstand dar, sondern sind für sein gesamtes Werk von herausragender Bedeutung.296 Neben dem bekanntermaßen großen Anteil von Reiseberichten innerhalb seines Œuvres, von dem zumeist die les paysages de montagnes, wie die erste Veröffentlichung im Mercure de France hieß, und Voyage en Italie, der die Besteigung des Vesuvs beinhaltet, demonstriert Rigoli, inwiefern Chateaubriands Reaktion eine Aktualisierung des Landschaftsparadigmas darstellt. Beide Werke zeugen von einer profunden Infragestellung der Ästhetik des Erhabenen, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten durch die intensive Rezeption von Burkes Schrift zu einer wahren Grammatik entwickelt hatte, und einer gleichzeitigen Aufwertung des subjektiven und individuellen Zugangs zur Landschaft. Die »[c]odes d’8tonnement et d’admiration« (ebd., S. 34) sind Chateaubriand unerträglich und so löst er mit seinem enttäuschten Bericht der Mont Blanc-Reise einen Skandal aus, der den Alpentourismus nur noch mehr ankurbelt. Dieser Bericht zeugt aber auch von einer »rupture dans l’ordre esth8tique« (ebd., S. 35), indem er sich einem topischen Zugriff auf Landschaft verwehrt, ästhetischen, prästabilierten Normen eine Absage erteilt und in der Starrheit des Bildes, das heißt sowohl des Topos als auch des tatsächlichen Wahrnehmungsausschnitts des unbeweglichen Eismeers, das freie Spiel der Einbildungskraft vermisst. Sein Bericht nimmt sogar parodistische Züge an, indem die einzige deskriptive Passage dem Anblick des Montanvert gewidmet ist, dem ›mont / l’envers‹, gegenüber des Mont Blancs. »Chateaubriand pratique l’art du renversement«, wie Rigoli zusammenfasst (S. 93). Er liefert damit einen Beitrag zur Geschichte der Alpen, der bei den meisten seiner Zeitgenossen auf Unverständnis stieß, im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch im Zusammenhang mit der ironischen Verzerrung romantischer Klischees programmatisch wurde. 296 Zur Einführung in Chateaubriands Reiseberichte vgl. Philippe Antoine, Les r8cits de voyage de Chateaubriand. Contribution / l’8tude d’un genre (Romantisme et Modernit8s. 10), Paris, Champion, 1997; Filippo Martellucci (Hrsg.), ›L’instinct voyageur‹. Creazione dell’io e scrittura del mondo in Chateaubriand, Padova, Unipress, 2001; zu Chateaubriands Selbstverständnis als voyageur sowie seinen beiden umfangreichsten und arbeitsintensivsten Reiseberichten, der Itin8raire de Paris / J8rusalem et de J8rusalem / Paris und dem Voyage en Am8rique, und ihrem literarhistorischen Kontext vgl. die aktuellen und ausführlichen Untersuchungen von C. W. Thompson in French Romantic Travel Writing. Chateaubriand to Nerval, New York, Oxford University Press, 2012, bes. S. 21–26, S. 33–44 und S. 329–341.

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Itin8raire de Paris / J8rusalem et de J8rusalem / Paris (1811) genannt wird, ist diese Bedeutung auf seine erste große Reise nach Nordamerika zurückzuführen. Mit vielen Vorstellungen, Erwartungen und dem theoretischen Wissen, das er sich in der Bibliothek seines Vaters anlesen konnte, bricht Chateaubriand 1891 23-jährig dorthin auf, auf der Suche nach den »vraies couleurs«297 der fremden Völker, wie er im Vorwort zur ersten Ausgabe von Atala erklärt. Diese sollen ihm als Stoff zu seinem ersten Roman dienen und tatsächlich werden sich die Geschichte der Natchez, ein an den Ufern des Mississippis angesiedelter Indianerstamm, und die Exotik des fremden Landes als lebenslange Inspirationsquelle erweisen. Sie finden neben dem Reisebericht Voyage en Am8rique (1827) direkten Eingang in die Romane Les Natchez (1827) und Atala. Indirekt beeinflussen die Erinnerungen und schriftlichen Dokumente des Erlebten jedoch das gesamte Werk, das vollständig von ihnen durchwoben ist und der Reise so den Status eines »moment fondateur de la vie et de l’8criture«298 verleiht. Tatsächlich kommt der Amerika-Reise in zweifacher Hinsicht eine Initialfunktion zu. Sie steht nicht nur am Beginn der literarischen Kreativität und Karriere des jungen Autors, auch fungiert die exotische Ferne Amerikas als Projektionsraum der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, die für die literarische Produktion der Zeit konstitutiv ist. Der Voyage en Am8rique und die Itin8raire stehen dabei noch am Anfang eines neuen Diskurses über die Begegnung mit dem Fremden, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Werken artikulieren sollte. Chateaubriand wird jedoch – wie alle SchriftstellerReisenden der Epoche, deren verheißungsvolle Vorstellungen sich maßgeblich aus den in der Heimat empfundenen Missständen nähren – in seinen Hoffnungen auf die ersehnte Ursprünglichkeit enttäuscht.299 Der mit den europäischen Sitten der Kolonialisten vertraute bon sauvage erweist sich ihm bereits als seiner selbst entfremdet und so lassen sich die oben genannten Werke über die Natchez letztlich als »Destruktion der Schein-Idylle bei den empfindsamen Kunst-Indianern«300 lesen. Die Desillusionierung im Angesicht der uneingelösten Ursprungs- und Sinnsuche trägt jedoch interessanterweise oft maßgeblich zum schöpferischen Wert der entsprechenden Werke bei, wie es sich auch bei vielen Orient-Reiseberichten des 19. Jahrhunderts beobachten lässt, die noch

297 Chateaubriand, Atala (Pr8face), in: Œuvres romanesques et voyages, 2 Bde., hrsg. von Maurice Regard (BibliothHque de la Pl8iade. 209), Paris, Gallimard, 1969, Bd. 1, S. 16. 298 Philippe Antoine, »Le paysage am8ricain chez Chateaubriand«, in: Jean Balcou (Hrsg.), Enfance et voyages de Chateaubriand. Armorique, Am8rique. Actes du Colloque de Brest, Septembre 1998, Paris, Champion, 2001, S. 47–59, hier S. 52. 299 Zu diesem Aspekt des Voyage en Am8rique vgl. Piero Toffano, »Chateaubriand et les indiens d’Am8rique entre 1797 et 1802«, in: Martellucci (Hrsg.), ›L’instinct voyageur‹, S. 15–44. 300 Geyer, Modernität wider Willen, S. 71.

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viel eher die ›Wiege der Weisheit‹ zu ihrem (utopischen) Fluchtpunkt haben.301 Ohnehin liest sich der Reisebericht dieser Zeit als ein »inextricable tissu de r8f8rences, qui nous renseigne plus sur le discours d’une 8poque que sur la r8alit8 d’un ailleurs.«302 Er gibt uns keinerlei Aufschluss über die tatsächliche Beschaffenheit des Fremden. Jedoch besitzt er einen extrem hohen Aussagewert über die künstlerische Innovationskraft seines Autors, der an die Stelle des auch in der Ferne nicht zu füllenden Sinnvakuums nicht selten etwas Neues setzt, das die bisherigen Diskurse überschreitet. Chateaubriand selbst bringt es in einem Brief an seinen Freund Malesherbes, den Schwiegervater seines Bruders, auf die knappe Formel: »si le d8couvreur s’afflige, le poHte s’applaudit.«303 Der Reisebericht wird hier in diesem Sinn verstanden als Medium einer intensivierten Auseinandersetzung mit den eigenen Wissenshorizonten und einer besonderen ästhetischen Innovationskraft. Er erweist sich als ›Avantgarde-Medium‹ der zeitgenössischen Landschaftsästhetik in doppelter Hinsicht, indem die Gattung nicht nur allgemein gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur ›Schule des Sehens‹ für den Autor und sein Publikum avanciert,304 sondern die ›Entzauberung‹ der vorgefundenen Orte in einem zweiten Schritt die Kreativität des Autors entfesselt. Die Heterogenität der Textsorten, die in die editierten Versionen einfließen können, ist dabei typisch für den Reisebericht. Sie zieht die Schwierigkeit nach

301 Zur De- und Rekonstruktion der mythischen Vorstellungen über den Orient im 19. Jahrhundert vgl. Michael Bernsen, Der Mythos von der Weisheit Ägyptens in der französischen Literatur der Moderne (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst. 5), Göttingen, V& R unipress, 2011. Das Wechselspiel zwischen der Enttäuschung über die vorgefundene Realität und die Re-Mythisierung des Orients durch die Fiktion in Chateaubriands Itin8raire beschreibt B8atrice Didier, »L’Itin8raire de Paris / J8rusalem. Refus et nostalgie de la fiction«, in: Bercegol / Glaudes (Hrsg.), Chateaubriand et le r8cit de fiction, S. 199–209. 302 Antoine, Les r8cits de voyage de Chateaubriand, S. 36. 303 Chateaubriand, Voyage en Am8rique (»Variantes«), in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 477. Den größten Teil des Briefes nimmt Chateaubriand als »Lettre 8crite de chez les Sauvages de Niagara« mit in den Voyage en Am8rique (und auch später in die M8moires d’outre tombe) auf. Das hier aufgeführte Zitat entstammt jedoch einer gestrichenen Passage. Dass sich Chateaubriand auf seiner Reise schnell in die Rolle des Poeten statt in die des Entdeckers findet und mit dieser ›Poetisierung‹ des Reiseberichts einen entscheidenden Beitrag zu der Entwicklung und Erneuerung der Gattung bewirkt, stellt Antoine ausführlich heraus. Vgl. Les r8cits de voyage de Chateuabriand, u. a. S. 41f. und S. 65f. 304 Vgl. Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 17. Der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungstheorien und der Gattung des Reiseberichts ist erst in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Forschungsinteresse geworden: »In den letzten Jahren hat sich, vor allem durch den Einfluß der Wahrnehmungsforschung, auch auf dem Gebiet der Reiseliteratur die Erkenntnis durchgesetzt, daß jede Wahrnehmung mehr oder weniger präformiert und daß die Reisebeschreibung deshalb durchaus geeignet ist, oder gar nicht anders kann, als Perzeptionsmodelle vorzuführen.« (Ebd., S. 68)

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sich, die Gattung, auf den ersten Blick ein »genre sans lois«305, definitorisch einzugrenzen. Neben dem breiten Spektrum an verschiedenen Textsorten, die von fiktionalen Erzählungen in der dritten Person über Briefe und Tagebucheinträge bis hin zu (pseudo-) wissenschaftlichen Studien des Reisenden reichen können, tritt in diesem Zusammenhang der Aspekt der Intertextualität erschwerend hinzu. Die Tatsache, dass es sich bei dem literarischen Reisebericht um eine »genuin intertextuelle Gattung«306 handelt, relativiert a priori die Bedeutung der Frage nach der Authentizität der Beschreibungen, was vor allem für das Thema der Landschaftsdarstellung zu beachten ist.307 Im Fall des Voyage en Am8rique, der in den folgenden Analysen im Vordergrund steht, konstituiert sich der editierte Gesamttext aus während der Reise angefertigten Notizen, Erinnerungen, die Chateaubriand in der Zeit seines Londoner Exils festhält (1792– 1799), und Studien über die bereisten Gebiete, primär ethnologischer und geographischer Natur, die er erst 1826, also ein Jahr vor der Publikation niederschreibt.308 Aus diesem disparaten Material entwickelt Chateaubriand eine dreiteilige thematische Gliederung für sein Werk, mit der er sich von den zeitgenössischen Konventionen abgrenzt und sich stattdessen in die Tradition des Reiseberichts des 16. Jahrhunderts einschreibt.309 Auf den eigentlichen Bericht der Reise, der jedoch auch fiktionale und poetische Züge enthält, folgt eine Histoire naturelle und eine Erörterung der »Mœurs des sauvages«, die Themen wie Medizin, Sprache, Jagd, Krieg, Religion oder Regierungsform umfasst. Das Werk schließt mit einer Reflexion über den aktuellen Zustand und die Zukunft der Vereinigten Staaten. Für die Untersuchung der Landschaftsästhetik ist der erste Teil des Werkes besonders relevant. Er setzt sich wiederum aus verschiedenen Unterkapiteln zusammen, unter denen sich speziell das »Journal sans 305 Antoine, Les r8cits de voyage de Chateaubriand, S. 23. 306 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 139. Jost legt dar, dass Kompilation vor allem in den Reiseberichten der Aufklärung die gängige Praxis darstellt. Dies gilt in besonderem Maß für Landschaftsdarstellungen, für die immer wieder auf einen bestimmten Kanon von Autoren wie vor allem Rousseau, Geßner, Haller, Milton, Pope, Thompson, Young oder Sterne rekurriert wird. Während die oft über lange Passagen wörtlich zitierten Autoren dann gemäß dem Ideal der Imitatio noch namentlich genannt wurden, verflüchtigt sich diese Authentifizierungsabsicht mit dem Übergang von der mimetischen Abbildästhetik des 18. Jahrhunderts hin zum Subjektivismus und zum neuen Ideal der individuellen Anschauung der Romantik. Die Orientierung an den tradierten Referenztexten bleibt demgegenüber weiterhin bestehen. (Vgl. S. 139ff., bes. S. 144) 307 Einen zentralen Beitrag zu der Frage, welche Teile seiner Reiseberichte auf realen Erfahrungen beruhen und welche sich aus seiner Phantasie oder anderen Quellen der Reiseliteratur speisen, hat vor allem Raymond LebHgue geleistet. Vgl. Aspects de Chateaubriand. Vie – Voyage en Am8rique – Œuvres, Paris, Nizet, 1979, bes. S. 32–124. 308 Zur Entstehungsgeschichte des Voyage en Am8rique vgl. die ausführliche Präsentation von Henri Rossi in der hier zugrunde gelegten Ausgabe. (Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 9–71) 309 Vgl. ebd, S. 44.

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date« und die »Description de quelques sites dans l’int8rieur des Florides« als aufschlussreich erweisen. Beide Teile zeichnen sich durch einen hohen Grad an Poetisierung und Innovationskraft in Bezug auf die Landschaftsdarstellungen aus. Im Fall des Ersteren manifestiert sich die Enthobenheit von Zeit und Ort bereits im Titel sowie in der Vorenthaltung jeglicher Ortsangabe innerhalb des Textes.310 Der mimetische Anspruch, der den Reisebericht noch weit bis ins 18. Jahrhundert gekennzeichnet hatte, weicht bei Chateaubriand bereits dem Erproben neuer Darstellungsmethoden und einer Reflexion über die Wahrnehmungsmodalitäten. Der deutliche Mangel an Kohäsion und der Verzicht auf eine (lineare) Erzählung der Reise ermöglichen es uns, die herausgegriffenen Landschaftstableaus unter den hier relevanten thematischen Gesichtspunkten zu betrachten und sie aus ihrer Chronologie im Text herauszulösen. Nur in den seltensten Fällen stehen die Landschaften der Reiseberichte in einem für die Analyse relevanten inhaltlichen Kontext. Einige seiner Landschaften setzt Chateaubriand sogar, in teilweise leicht abgewandelter Form, in mehrere seiner Werke ein, wie es z. B. im Fall der Nuit am8ricaine und ihren insgesamt sieben Versionen schon deutlich wurde. Die Landschaften präsentieren sich daher weniger als Schlüsselszenen ihrer jeweiligen Werke, denn als ein riesiger Fundus einzigartiger oder wiederkehrender Konstruktionen, von dem das Gesamtwerk durchflochten ist. Trotz der sich daraus zwangsläufig ergebenden »n8cessit8 de l’8clectisme«311 wird im Folgenden, neben einem kurzen Rekurs auf eine Landschaft des Itin8raire de Paris / J8rusalem, das Augenmerk ausschließlich auf den Voyage en Am8rique und die Cinq jours / Clermont gelegt. Letztere sind nur selten Gegenstand der Forschung. Sie erscheinen ebenfalls 1827 in dem Band der Gesamtausgabe, in dem Chateaubriand all seine Voyages bis auf den langen Itin8raire sammelt. Der kurze Reisebericht, der die Reise des Ehepaares 1805 in die Auvergne dokumentiert, enthält jedoch einige interessante Landschaftsdarstellungen, die sich durch ähnlich innovative Beschreibungsmechanismen auszeichnen wie die Landschaften des Voyage en Am8rique. Der Voyage en Italie und der Itin8raire werden demgegenüber weitgehend außen vor gelassen, da hier die beiden ›klassischen‹ Reiseziele für eine intensive Auseinandersetzung 310 Vgl. dazu Rossi: »[…] le Journal sans date, qui annonce d’entr8e son intemporalit8 et ne comporte aucune indication de lieu, entra%ne le parcours et le r8cit de Chateaubriand dans un atopos id8alis8, marquant sa volont8 d’8chapper d8finitivement / la r8alit8 d8cevante de ce voyage.« (Ebd., S. 53) Gleiches kann für die »Description de quelques sites dans l’int8rieur des Florides« gelten, die Beschreibung eines Gebiets, das nach heutigem Kenntnisstand außerhalb von Chateaubriands tatsächlicher Reiseroute lag. (Vgl. Antoine, Les r8cits de voyage de Chateaubriand, S. 63) Der Grad an dichterischer Imagination und auch intertextuellen Bezugnahmen ist hier besonders hoch. 311 Ebd., S. 24.

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mit bestimmten Landschaftstopoi, Gemeinplätzen und bekannten Referenzwerken sorgen.312 Chateaubriands zumeist kritischer Umgang mit den tradierten Formen der Landschaftsdarstellung in den beiden Werken könnte einen interessanten Bereich zur Vertiefung unseres Forschungsanliegens darstellen, auf den jedoch hier nur verwiesen werden kann. Während sich der Itin8raire durch eine Fülle der unterschiedlichsten Arten der Landschaftsdarstellung auszeichnet – eine Szene dieses Werkes kann daher im Folgenden beispielhaft herangezogen werden – ist der Voyage en Italie, »une s8rie de variations sur des motifs ou des topo"«313, hauptsächlich von klassizistischen Landschaftsbeschreibungen dominiert. Über diesen, an der Landschaftsmalerei Poussins und Lorrains orientierten Landschaftstyp, existieren bereits zahlreiche Untersuchungen.314 Im Folgenden soll der Fokus eher auf die weniger ›klassischen‹ Landschaften gelegt werden, in denen Chateaubriand, so die zu verifizierende These, eine neue, erkenntniskritische Art der Naturbetrachtung inszeniert. Gerade in seinem Fall kann der Reisebericht als »Diskussionsforum für moderne (Landschafts-) Ästhetik«315 gelten, orientiert er doch gleichzeitig seine gesamte Deskriptionstheorie am Objekt der Landschaft. Auf seine theoretischen Äußerungen zur Beschreibung und deren Aufnahme durch die zeitgenössische Literaturkritik soll daher nun vor der Analyse der Landschaftsszenen ein kurzer Blick geworfen werden.

312 Zu diesem Unterschied zwischen dem Voyage en Am8rique, dem Voyage en Italie und dem Itin8raire vgl. auch ebd., S. 43ff., S. 52 und S. 55ff. 313 Ebd., S. 34. 314 Vgl. FranÅois Bergot, »Poussin et Chateaubriand. Sur les chemins de l’arcadie«, in: Bulletin 38 (1996), S. 47–53; außerdem Berchets Kapitel »Le paysage classique« in Chateaubriand ou les al8as du d8sir, in dem er die Entwicklung einer neuartigen, klassizistisch geprägten Art der literarischen Landschaftsdarstellung als Chateaubriands besondere Leistung beschreibt: »f la luxuriance de la nature exotique, au pittoresque gracieux de la vue de ruine, Chateaubriand fait succ8der un type nouveau de paysage, d8fini par cette union intime de la r8alit8 et de la raison informatrice dans une image plastique id8alis8e qui est le propre de la d8marche classique.« (S. 114) Zur Poetik der Ruinen in Chateaubriands Werk vgl. Elisa Gregori, Un virtuose des ruines. Chateaubriand au pays des antiquit8s et de l’arch8ologie, Padova, CLEUP, 2010; Michael Riffaterre, »Chateaubriand et le monument imaginaire«, in: Richard Switzer (Hrsg.), Chateaubriand. Actes du CongrHs de Wisconsin, GenHve, Droz, 1970, S. 63–82. Die Poetik der Ruinen, die Chateaubriand auch im G8nie du Christianisme bespricht (Vgl. 3. Teil, Buch V, Kap. IV: »Effet pittoresque des ruines«, S. 883ff.), stellt einen für das Pittoreske im weiteren Sinne interessanten Aspekt dar, der hier jedoch gegenüber den wahrnehmungskritischen Beschreibungstechniken in den Hintergrund rücken soll. Vgl. zur Ruine als pittoreskem Objekt auch oben, Kap. 2.2.2.1. 315 Jost, Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 89.

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3.1.3.1 Die malerische Landschaft der tableaux de la nature Um herauszustellen, in welcher Weise die oben bereits beobachtete Ablösung der Landschaft vollzogen wird und nach welchen Gestaltungsprinzipien die ›verdinglichte‹ Landschaft konzipiert ist, erweisen sich Chateaubriands eigene Reflexionen über die literarische Beschreibung als aufschlussreich. Zu den zentralen Texten, in denen er diese Reflexionen anstellt, gehören das Vorwort zu Atala, der Essai sur la litt8rature anglaise, die Passagen zur deskriptiven Poesie im G8nie du christianisme und die Besprechung von Joseph-FranÅois Michauds deskriptivem Gedicht Printemps d’un Proscrit. Dorothea Kullmann analysiert diese theoretischen Quellen in ihrer umfangreichen Studie zur literarischen Beschreibung im französischen Roman ausführlich und zeigt, dass Chateaubriands Werke »einen der wichtigsten Bezugspunkte der Literatur der folgenden Jahrzehnte […] und den Beginn einer neuen literarischen Epoche« darstellen.316 Es lohnt sich der Frage nachzugehen, worin diese Wertung begründet ist. Ihre Untersuchung der Diskussion um die beiden Werke Atala und Le G8nie du Christianisme, die sich einerseits anstandslos in den zeitgenössischen literarischen Diskurs fügen, gleichzeitig aber auch durch ihre Neuerungen die Kritik herausfordern, bringt einige interessante Erkenntnisse zutage. In den meisten der Kritiken stehen die descriptions im Vordergrund. Dabei fällt besonders ins Auge, dass auch von den Kritikern nahezu ausschließlich Landschaften als Beschreibungsobjekte angesehen werden.317 Diese Eingrenzung vertritt Chateaubriand selber in seinen theoretischen Äußerungen, in denen er die Beschreibung von Natur in jeder beliebigen Form und deren Wirkung auf den Menschen als zentrales Ziel der po8sie descriptive und als Charakteristikum der modernen Literatur definiert.318 Er grenzt sogar die Beschreibung der mœurs von den 316 Kullmann, Description, S. 33. Kullmanns Bewertung basiert auf einer systematischen Untersuchung von Schullehrbüchern, Literaturkritik in der Presse und theoretischen Äußerungen von Autoren sowie einer Analyse literarischer Beschreibungen in ausgewählten Romanen. Vgl. zu ihrer These außerdem Michel Delon, der u. a. im Eingangstableau von Atala eine Weiterentwicklung deskriptiver Techniken erkennt, die den Umbruch zwischen klassischem und romantischem Sprachgebrauch markieren. (L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, S. 204) Zur Beschreibung im französischen Roman dieser Zeit vgl. weiterführend Christof Schöch, La Description double dans le roman franÅais des LumiHres (1760–1800) (L’Europe des LumiHres. 12), Paris, Classiques Garnier, 2011, hier bes. S. 219ff. 317 Vgl. Kullmann, Description, S. 85. 318 In seiner bekannten Darlegung über die deskriptive Poesie im Kapitel »Que la mythologie rapetissait la nature; que les anciens n’avaient point de po8sie proprement dite descriptive« des G8nie du christianisme (2. Teil, Buch IV) erläutert Chateaubriand z. B.: »Le plus grand et le premier vice de la mythologie 8tait d’abord de rapetisser la nature, et d’en bannir la v8rit8. Une preuve incontestable de ce fait, c’est que la po8sie que nous appelons descriptive a 8t8 inconnue de l’antiquit8; les poHtes mÞme qui ont chant8 la nature, comme H8siode, Th8ocrite et Virgile, n’en ont point fait de description, dans le sens que nous attachons / ce mot. Ils nous ont sans doute laiss8 d’admirables peintures des travaux, des mœurs et du bonheur

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Naturbeschreibungen ab, indem er für jene den unspezifischen Begriff peinture bevorzugt.319 Diese definitorische Bevorzugung der Landschaft als Beschreibungsgegenstand ist gerade vor dem Hintergrund besonders interessant, als dass die po8sie descriptive, die von zeitgenössischen Autoren und Kritikern oft noch unreflektiert als genre descriptif, style descriptif oder auch einfach partie descriptive bezeichnet wird, noch keine konkreten Regeln besitzt.320 Als ein Charakteristikum der deskriptiven Poesie kann daher die Landschaft als ihr zentraler Beschreibungsgegenstand angesehen werden. So verhält es sich in den bedeutenden Werken dieser sich neu etablierenden Gattung, unter denen zum Beispiel Saint-Lamberts Les Saisons (1769), Rouchers Les Mois (1779) oder Delilles Werke Les Jardins (1780), L’homme des champs, ou les G8orgiques franÅaises (1800) und Les trois rHgne de la nature (1809) aufzuführen sind, wobei im Fall des Letzteren die didaktische Dimension hinzutritt. Wichtige Impulse gehen in diesem Zusammenhang von England und Schottland aus, wo sich die deskriptive, didaktische Poesie bereits in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, vor allem mit Thomsons The Seasons (1726–30), zu entwickeln beginnt.321 Für die französische Literatur gilt, wie festgehalten werden kann, besonders in dem für diese Untersuchung relevanten Vergleich zur deutschen und italienischen Literatur, eine grundlegende gegenseitige Bedingtheit zwischen der frühromantischen Landschaftsbeschreibung und der deskriptiven Poesie, wie sie sich ausgehend von England in Frankreich etabliert. Die Beurteilungen von Chateaubriands Landschaftsbeschreibungen stimmen darüber hinaus weitgehend in zwei Punkten überein: Zum einen manifestiere sich auf inhaltlicher Ebene eine neuartige Intensität der dargestellten sentiments, welche die Beschreibungen besonders authentisch erscheinen ließe. Sie wird durchweg positiv bewertet, da sie dem Ideal des 17. und 18. Jahrhunderts entspricht, nach dem der Dichter möglichst starke Regungen der Seele bewirken de la vie rustique; mais, quant / ces tableaux des campagnes, des saisons, des accidents du ciel, qui ont enrichi la muse moderne, on en trouve / peine quelques traits dans leurs 8crits.« (G8nie du christianisme, S. 718) Vgl. zu dieser Definition der Beschreibung außerdem Kullmann, Description, S. 92ff. und S. 99. 319 Für die Einteilung können zahlreiche Beispiele aufgeführt werden. Vgl. z. B. das Vorwort zur ersten Ausgabe von Atala, wo Chateaubriand darlegt, das Werk enthalte »une longue peinture de mœurs, et de nombreuses descriptions de paysages.« (»Pr8face«, in: Œuvres romanesques et voyages, Bd. 1, S. 21) Die Begriffspaarung wiederholt sich hier einige Male. Kullmann weist auf die Außergewöhnlichkeit dieser engen Eingrenzung hin, die sich so auch bei den Kritikern nicht finden lässt. Zwar bewerten auch diese überwiegend die Landschaft als zentrales Objekt der literarischen Beschreibung, doch schafft Chateaubriand eine völlig neue Kategorisierung, indem er sowohl die mœurs als auch Naturbeschreibungen mit menschlicher Handlung als mögliche Beschreibungsgegenstände ausklammert. (Vgl. Kullmann, Description, S. 92) 320 Vgl. hierzu Munsters, La po8tique du pittoresque, S. 106; Kullmann, Description, S. 85. 321 Vgl. van Tieghem, Le sentiment de la nature, S. 19ff.

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soll. Auf stilistischer Ebene hingegen konstatieren die Kritiker vor allem die Außergewöhnlichkeit von Chateaubriands reichem Metapherngebrauch, der sich ihrer Meinung nach durch eine neue Funktionsweise auszeichnet. Worin diese genau besteht, wird von der zeitgenössischen Kritik interessanterweise nicht genau erfasst. So werden die Verknüpfungen der images von den einen geschätzt wegen ihrer Vagheit, die dem Zeitgeschmack entspricht,322 und von den anderen kritisiert aufgrund von fehlender Plausibilität, das heißt ihrer Verletzung des clart8-Ideals.323 Ein Rezensent des Publiciste beschreibt Chateaubriands Vergleiche und Metaphern z. B. als »des images dont les parties ne sont pas bien d’accord.«324 Diese Ungenauigkeit der Bezüge wird auch in einem anderen Zusammenhang betont, und zwar in »einer grundsätzlichen Gleichgültigkeit gegenüber den beschreibenden oder wahrnehmenden Instanzen.«325 So wird nicht nur der Bezug zum übertragenen Bild an sich als undurchsichtig empfunden, auch bleibt offenbar unklar, wer die Übertragung herstellt und auf wen sie wirkt, das heißt, welche Rolle dem Subjekt im Wahrnehmungsvorgang zukommt. Auch in diesem Punkt wird die Vagheit von den einen als poetisch, von den anderen als störend empfunden. Als positives Gegenbeispiel wird dann wiederholt der Roman Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre genannt, in dessen Rahmenhandlung der Autor einen Erzähler einführt, dessen Perspektive der Leser durchgehend beibehält. Die Ambivalenz der Reaktionen lässt in jedem Fall den Schluss zu, dass Chateaubriand einerseits mit seinem auf die Naturbeschreibung angewandten vague des passions einen Nerv bei der Leserschaft trifft, sich darin andererseits aber auch eine noch näher zu bestimmende Abweichung gegenüber dem noch immer vorherrschenden Ideal der clart8 verbirgt, die ihn auf Kritik und Unverständnis stoßen lässt. Noch einmal zusammengefasst betonen die Kritiker also einerseits die Intensität der sensibilit8 und andererseits eine gewisse stilistische Unschärfe, die positiv als der Imagination raumgebende Vagheit und negativ als Mangel an Plausibilität und Verletzung des Wahrscheinlichkeitsideals beschrieben wird. In der gleichen Rezension, die die Bezüge zwischen den images beanstandet, heißt es lobend: 322 Vgl. hierzu Delon, »Du vague des passions / la passion du vague«, S. 488f. Zum allgemeinen Wechsel vom klassischen Ideal der clart8 hin zu einer neuen Lebendigkeit (8nergie) der sprachlichen Bilder im Verlauf des 18. Jahrhunderts vgl. seine grundlegende Untersuchung L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, bes. S. 58ff. 323 Vgl. Kullmann, Description, S. 77–87. 324 Zitiert ebd., S. 78. Vgl. hierzu auch Charles A. Porter, der diese Art der Verwendung sprachlicher Bilder als »Poetry of Discontinuity« und als entscheidendes Merkmal von Chateaubriands Stil auffasst. (Chateaubriand. Composition, Imagination, and Poetry (Stanford French and Italian Studies. 9), Saratoga, Anma Libri, 1978, hier z. B. S. 9f. am Beispiel von Vie de Ranc8) 325 Kullmann, Description, S. 91.

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C’est ainsi qu’aprHs de vives & sensibles images, repr8sent8es avec le degr8 d’illusion que comportent les objets propres au sens de la vue, il termine sa description par les esquisses vagues d’objets ind8termin8s, en laissant / l’imagination le soin d’achever un tableau que tout l’art de la parole ne sauroit plus embellir. Ce sont l/ non-seulement les ressources de cet art, mais encore les v8ritables secrets de tous les arts.326

Im weiteren Verlauf spricht der Rezensent dann noch vom »charme attach8 / une lecture oF l’on puise successivement des impressions si douces & si vari8es.«327 Die Ideale, die hier als »les v8ritables secrets de tous les arts« angeführt werden, stellen bereits seit den beiden vorangegangenen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts einen zentralen Gegenstand der französischen Literaturtheorie und -kritik dar. Für die hier angestellte Untersuchung sind sie insofern besonders relevant, als dass sie der Ästhetik des Pittoresken in deren ursprünglichem Sinn entsprechen, und zwar an der Malerei orientiert zu sein. Die »images« und »esquisses«, die der Rezensent beschreibt, entsprechen dem pittoresken Beschreibungsstil, wie er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich entfaltet. In Kapitel 2.1 konnten bereits die Bedeutungen der Stilbezeichnungen descriptif und pittoresque erfasst werden, die ebenso wie d8crire und peindre zeitweise synonym verwendet wurden. Das hier verwendete Vokabular, wie vor allem »vives«, »vagues«, »ind8termin8s« und »vari8es«, verweist auf das neue Ideal, durch eine Vielzahl von Reizen die Phantasie anzuregen, enchanter les yeux, wie Munsters es als charakteristisch für den pittoresken Stil herausstellt.328 Es handelt sich um die gleichen ästhetischen Vorgaben, die Gilpin 1792 in seinen Three Essays als kennzeichnend für Picturesque Beauty beschreibt. Besonders die resümierende Anweisung »finishing offends«, die er in dem zweiten Essay On Sketching Landscape gibt,329 drängt sich bei der Betrachtung der französischen Adjektive auf. Gilpin sieht die Leistung bei der künstlerischen Wiedergabe von Landschaft darin, Raum für die Imagination freizuhalten und der Phantasie des Betrachters eine größtmögliche Menge von Impulsen zu bieten. Chateaubriand hat eine Vielzahl von Landschaftsdarstellungen geschaffen, die Gilpins Aufruf zum bildhaften, an den großen Landschaftsmalern orientiertem Erfassen von Natur realisieren, worin, wie oben dargestellt, im Englischen die Grundbedeutung von picturesque liegt.330 326 Zitiert ebd., S. 84. 327 Ebd. 328 Vgl. Munster, La po8tique du pittoresque, S. 39ff. und S. 168ff.; außerdem Schöch, La description double, S. 228ff. sowie oben, Kap. 2.1. 329 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1. 330 Vgl. dazu auch oben, Kap. 2.2.2.1. Die Grundbedeutung kann mit Lobsien zusammengefasst werden als »typisch für Gemälde; effektvoll nach der Art eines Bildes; eingestellt sein auf die Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Bildqualitäten.« (»Landschaft als Zeichen«, S. 169) Zur Unterscheidung zwischen dem »fundamental sense« und den erkenntniskritischen

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Besonders seine Reiseberichte sind von solchen malerischen Landschaften nur so durchzogen. Anhand der folgenden Beschreibungen erlebter – oder teilweise imaginierter – Naturszenen kann exemplarisch verdeutlicht werden, inwiefern es sich bei Chateaubriands Landschaft um »ein malerisches Einzelstück«, ein »vergleichsweise malerisch einheitliche[s] Vorstellungsgebilde« handelt, wie Hess es, vorsichtig formulierend, in einigen Szenen realisiert sieht.331 Ein Landschaftstableau der Itin8raire de Paris / J8rusalem et de J8rusalem / Paris kann erste Hinweise liefern. Es wird hier aufgrund seiner hohen Anschaulichkeit exemplarisch herausgegriffen, ohne daraus Rückschlüsse auf das Werk ziehen zu wollen. Chateaubriand beschreibt in der Szene den ersten Anblick der eindrucksvollen Bucht zwischen dem damaligen Galata und Konstantinopel, wie er sich ihm vom Schiff aus darbietet: Comme nous approchions de la pointe du s8rail, le vent du nord se leva, et balaya, en moins de quelques minutes, la brume r8pandue sur le tableau; […] Devant moi le canal de la mer Noire serpentoit entre des collines riantes, ainsi qu’un fleuve superbe: j’avois / droite la terre d’Asie et la ville de Scutari; la terre d’Europe 8toit / ma gauche; elle formoit, en se creusant, une large baie, pleine de grands navires / l’ancre, et travers8e par d’innombrables petits bateaux. Cette baie, renferm8e entre deux coteaux, pr8sentait en regard et en amphith8.tre Constantinople et Galata. L’immensit8 de ces trois villes 8tag8es, Galata, Constantinople et Scutari; les cyprHs, les minarets, les m.ts des vaisseaux qui s’8levaient et se confondaient de toutes parts; la verdure des arbres, les couleurs des maisons blanches et rouges; la mer qui 8tendait sous ces objets sa nappe bleue, et le ciel qui d8roulait au-dessus un autre champ d’azur : voil/ ce que j’admirais. On n’exagHre point quand on dit que Constantinople offre le plus beau point de vue de l’univers.332

Die einzelnen Elemente des Tableaus entfalten sich hier Stück für Stück vor den Augen des Lesers, der Chateaubriands Blickrichtung einnimmt und die Landschaft sukzessive erschließt. Sowohl Motiv, als auch Komposition und Farbeffekte des Gesamtbilds vermitteln schnell die Affinität des Bildausschnitts zu einem Landschaftsgemälde.333 Wie im Fall der Nuit am8ricaine erstreckt sich das »features of ruggedness and abrupt transitions that were to be abstracted from it« vgl. außerdem Martin Price, »The picturesque moment«, S. 266. 331 Hess, Die Landschaft, S. 17f. 332 Chateaubriand, Itin8raire de Paris / J8rusalem et de J8rusalem / Paris, in: Œuvres complHtes, Bd. 8–10, S. 401. Die Beschreibung entstammt dem zweiten Teil des Werkes »Voyage de l’Archipel, de l’Anatolie et de Constantinople«. Chateaubriand beschreibt vor und nach dem Landschaftstableau protokollartig den Verlauf der Schiffsreise, so dass es keinen relevanten Handlungszusammenhang für die Beschreibung gibt. Für einen weiterführenden Überblick über das Werk vgl. z. B. Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le Voyage en Orient de Chateaubriand, Houilles, Manucius, 2006. 333 Aus der Klassifizierung der Landschaft als Tableau, die Chateaubriand auch hier vornimmt, erschließt sich die Bedeutung der malerischen Darstellungsweise nur ansatzweise. Kullmann zeigt anhand einer Analyse der zeitgenössischen literaturtheoretischen Terminolo-

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Bild sowohl in die horizontale als auch in die vertikale Ebene, jedoch bleibt die Landschaft überschaubar. Die Bucht ist »renferm8e entre deux coteaux«, so dass sich die zentralen Bildobjekte, die beiden Städte, auf besondere Weise der Wahrnehmung darbieten: »en regard et en amphith8.tre«. Diese ungewöhnliche Formulierung impliziert, dass der Bildausschnitt nach den Regeln der pittoresken Ästhetik modelliert ist, nämlich indem er gleich einem riesigen Amphitheater zwar überwältigend und eindrucksvoll ist, dabei aber gleichzeitig auch überschaubar bleibt.334 Die Landschaft ist zu weit und reizvoll, um schön zu sein und gleichzeitig gegen die metaphysische Ferne hin abgeriegelt und damit ebenso wenig erhaben. Sie realisiert stattdessen den Mittelwert der Ästhetik des Pittoresken, die hier auch in den »collines riantes« zutage tritt, zwischen denen sich zudem in pittoresker Manier ein Kanal windet. Das Adjektiv riant gehört im 18. Jahrhundert zum konventionellen Vokabular bei der Landschaftsbeschreibung und umfasst dabei interessanterweise bereits ähnlich ambivalente Konnotationen wie später das Pittoreske.335 Die einzelnen weiteren Motive, wie die kleinen Boote mit ihren Masten und die Zypressen, an sich bereits malerische Objekte, erscheinen vage in Anordnung und Zahl über das Tableau verteilt. Die hierarchielose Aufzählung der Elemente, die den Anschein von Zutaten für das fertige Gemälde besitzen, unterläuft die Etablierung einer festen Bildordnung und stellt stattdessen eine Fülle von Reizen für die Imagination bereit (»[…] qui s’8levaient et se confondaient de toutes parts«). Die abschließende Beschreibung der sich entfaltenden Farbfelder und die Thematisierung der Perspektive machen schließlich ganz explizit deutlich, welches Ziel Chateaubriand hier auf gie, dass der Begriff tableau üblicherweise sowohl auf der Textebene und oftmals synonym zu description verwendet wird, als auch auf der Objektebene als Bezeichnung für den Gegenstand der Beschreibung selbst. Letzteres konnte hier schon verschiedentlich beobachtet werden, wenn Chateaubriand – oder der Erzähler – die gewählten Landschaftsausschnitte als tableau bezeichnet. In Analogie zur beobachteten Ungenauigkeit im Umgang mit den Wahrnehmungsinstanzen scheint es zur Charakteristik der Werke zu gehören, unklar zu lassen, ob der Begriff der Text- oder der Objektebene angehört. Das so betitelte Objekt zeichnet sich jedoch durchgehend dadurch aus, dass bereits ein Betrachtungsvorgang impliziert ist. (Zur Verwendung des Begriffs durch Chateaubriand und die Kritiker vgl. Kullmann, Description, S. 100ff.) 334 Vgl. hierzu Rolf Lessenich, der die pittoreske Landschaft in seinem Aufsatz über die Darstellung von Naturszenen in der englischen Romantik mit einem »gigantischen Amphitheater« vergleicht, da sie zwar nicht unbegrenzt wie die erhabene Landschaft, dafür aber »emotionsintensiver, uneben und weiter begrenzt« als die schöne Landschaft sei. (»›Half created and half perceived‹: Romantische Landschaft als Konstruktion des Betrachters«, in: Ernst / Geyer (Hrsg.), Die Romantik, S. 325–337, hier S. 326) 335 Zur spezifischen Bedeutung des Adjektivs riant im Zusammenhang mit der romantischen Landschaft vgl. Delon, »Romantique: sur l’apparition du mot en franÅais«, S. 102ff. Das Adjektiv wurde im 18. Jahrhundert bereits vor dem später aus dem Englischen übernommenen romantique zur Beschreibung von bestimmten Landschaftstypen verwendet. Genau wie romantique zeichnet es sich durch komplexe Bedeutungsschichten aus, so dass es z. B. häufig in Kombination mit dem Schrecklichen auftrat.

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kunstvolle Weise realisiert: peindre la nature, wie der Leitsatz der deskriptiven Poesie lautet.336 Zusätzlich in Szene gesetzt durch den fast dramaturgischen Effekt des sich plötzlich lösenden Nebels, präsentiert sich die Landschaft als malerisches, die Sinne reizendes Tableau, das der Leser befreit von jeder rationalen oder moralischen Überhöhung der Landschaft als solches auf sich wirken lassen kann. Die Landschaft stellt, um mit Gilpin zu sprechen, eine »happy union of simplicity and variety« dar, sie verspricht ästhetisches »agreeable amusement«337 ohne moralischen Unterton. Die Tatsache, dass Chateaubriand sich bei der Konstruktion literarischer Landschaften an der Malerei orientiert, ist vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen wie der Dominanz der deskriptiven Poesie und dem noch immer vorherrschenden ut pictura poesis-Ideal weder verwunderlich noch in der Forschung unentdeckt geblieben.338 Jedoch wurde bisher nicht herausgestellt, dass dieser Rekurs auf die Techniken der Landschaftsmalerei mit einer Loslösung der Landschaft vom Betrachter einhergeht und Chateaubriand damit für die literarische Landschaftsdarstellung gänzlich neue Möglichkeiten und Funktionen erschließt. Die Darstellung ist motiviert durch den autonomen ästhetischen Reiz der Landschaft, sie dient nicht dazu, die Innerlichkeit des betrachtenden Subjekts zum Ausdruck zu bringen. Chateaubriand bedient sich für die literarische Darstellung der Landschaft Kompositionsmechanismen, die der Landschaftsmalerei entstammen und thematisiert dies zudem explizit. Das obige Beispiel kann dabei exemplarisch für einen Großteil der Landschaftsdarstellungen stehen. In weiteren Beschreibungen avanciert die Adaption der Techniken der Malerei darüber hinaus sogar zum zentralen Aspekt. So verhält es sich in einer Landschaftsdarstellung des Kapitels »Description de quelques sites dans l’int8rieur des Florides« aus dem Voyage en Am8rique. Chateaubriand betrachtet die Szene von einem Kanu aus, das sanft durch die Landschaft gleitet, ein besonders häufig gewählter Beobachterstandpunkt. Das gesamte Kapitel ist charakterisiert durch Chateaubriands Interesse an den botanischen Eigenheiten

336 Vgl. z. B. Munsters, La po8tique du pittoresque, S. 105. 337 Gilpin, Three Essays, S. 16 und S. 22. 338 Es existiert eine Vielzahl von Studien über Chateaubriands Beziehung zur Malerei. Zu seinen Bezugnahmen auf die Techniken der Landschaftsmalerei vgl. z. B. Berchet, »Le bicentenaire de la Lettre sur les paysages«, in: Bulletin de la soci8t8 Chateaubriand 38 (1996), S. 30–34. Er thematisiert darin Chateaubriands Überzeugung von der expressiven Überlegenheit der Literatur gegenüber der Malerei und seinen Gebrauch des Wortes »peindre«, der auf rein literarischen Ambitionen basiert. Zu Chateaubriands Bewunderung für Nicolas Poussin, dem er in der Kirche San Lorenzo in Lucina in Rom ein prunkvolles Grabmal errichten ließ, sowie der Rezeption seiner klassizistischen Landschaft vgl. Bergot, »Poussin et Chateaubriand«, S. 47–53.

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der Region sowie gleichzeitig durch ein hohes Maß an Stilisierung und Poetisierung.339 Beides wird in der Beschreibung sogleich deutlich: Pour regagner l’anse oF nous avions notre 8tablissement, nous n’e0mes qu’/ nous laisser d8river au gr8 de l’eau et des brises. Le soleil approchoit de son couchant: sur le premier plan de l’%le, paroissoient des chÞnes verts dont les branches horizontales formoient le parasol, et des azal8as qui brilloient comme des r8seaux de corail. DerriHre ce premier plan, s’8levoient les plus charmants de tous les arbres, les papayas: leur tronc droit, gris.tre et guilloch8, de la hauteur de vingt / vingt-cinq pieds, soutient une touffe de longues feuilles / cites, qui se dessinent comme l’S gracieuse d’un vase antique. Les fruits, en forme de poire, sont rang8s autour de la tige; on les prendroit pour des cristaux de verre: l’arbre entier ressemble / une colonne d’argent cisel8, surmont8e d’une urne corinthienne. Enfin, au troisiHme plan, montoient graduellement dans l’air les magnolias et les liquidambars.340

Die Landschaft, eine von wilden Pflanzen bewachsene Insel inmitten des Flusses, präsentiert sich dem Leser hier eingeteilt in Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Chateaubriand überformt damit die wilde, urwüchsige Natur durch ein künstliches Schema, das den Wahrnehmungsvorgang steuert. Von Tiefenperspektivik im Sinne erhabener Urlandschaft ist hier nichts zu spüren. Zwar stellt die Gliederung in drei hintereinander gestaffelte Ebenen einen räumlichen Effekt her, doch steigert sie dadurch nur die Zugänglichkeit der Landschaft, die sich gemäß den Wahrnehmungskompetenzen des Betrachters formt. Hinzu kommt der Vergleich der einzelnen Pflanzenarten mit Kunstgegenständen oder andernfalls solchen, die eine ästhetisch komplexe Form aufweisen. Die Landschaft ist hier zu einem Kunstobjekt stilisiert. Betrachtet man die assoziierten Gegenstände genauer, fällt auf, dass sie sich alle durch eine verschnörkelte, phantasievolle Form auszeichnen. Chateaubriand gliedert die wild wuchernde Natur in eine verstandesmäßige Ordnung, um dann in einem zweiten Schritt die Verflochtenheit der Naturelemente im Umweg über künstliche Effekte erneut zu erzeugen. Die verschlungene Struktur des Gesamtbildes findet sich exemplarisch dargestellt im Bild der »r8seaux de corail«, deren funkelnde Oberfläche in den »cristaux de verre« noch einmal anklingt. Durch die Überführung vollkommener Natürlichkeit, die die Vegetation der Savannenlandschaft symbolisiert, in stilgeschichtlich aufgeladene Begriffe (»l’S gracieuse«, »corinthienne«) 339 Chateaubriand orientiert sich in diesem Kapitel stark an dem Botaniker William Bartram und seinem Voyage dans les parties sud de l’Am8rique septentrionale (veröffentlicht 1991 in Philadelphia und 1992 in London). Zu einer Gegenüberstellung der entsprechenden Passagen und ihrer Poetisierung durch Chateaubriand vgl. Antoine, Les r8cits de voyage de Chateaubriand, S. 62ff. Richard Switzer führt in seiner Edition des Voyage en Am8rique auch die jeweiligen Originalpassagen von Bartram auf; vgl. Voyage en Am8rique, 2 Bde., (Soci8t8 des Textes FranÅais Modernes. 129–130), Paris, Didier, 1964, Bd. 1. 340 Chateaubriand, Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 223.

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wird die Landschaft von jeglichen Spuren der Individualität des Betrachters befreit. Diese ›Verwissenschaftlichung‹ der Landschaft in Kombination mit der Beschaffenheit der Stilelemente, die aufgrund ihrer spielerischen Erscheinung eher ein Eigenleben suggerieren statt betrachterorientierte, moralische Bezüge herzustellen, unterstreicht die auffallende formale Binnenstrukturiertheit der Landschaft auch inhaltlich. Chateaubriands Vorliebe für Vergleiche zwischen Landschaftsphänomenen und Kunstgegenständen, die sich durch eine gewundene, verschlungene Form auszeichnen, artikuliert sich in seinem Werk auf vielfältige Weise und legt nahe, dass es sich bei den antiken Stilelementen nicht nur um Markierungen des klassizistischen, mythologischen Landschaftstyps in der Tradition Poussins handelt, wie verschiedentlich geschlussfolgert wird.341 Vielmehr dienen die Elemente dazu, den Dekor-Charakter der Szene zu unterstreichen, die sich dem Betrachter als malerisches Ensemble präsentiert, sowie gleichzeitig sprachliche Bilder für die Verschlungenheit und Strukturiertheit des Tableaus zu liefern. Eine Fülle von Landschaften aus den Voyages könnte hier zur weiteren Vertiefung herangezogen werden.342 Auf den Aspekt der Verflochtenheit soll an späterer Stelle noch näher eingegangen werden. Im Gegensatz also zur Korrespondenzlandschaft, die, wie gesehen wurde, einen monde vide erfordert, konstruiert Chateaubriand mit der Beschreibung der Pflanzeninsel eine Landschaft, die gegenüber äußeren Bezugnahmen, also z. B. möglichen Gemütszuständen des Betrachters, ganz und gar abgeriegelt ist. Das Landschaftstableau ist in sich geschlossen und zeichnet sich durch eine sehr hohe inhaltliche Dichte aus. Durch den Rekurs auf die Techniken der Landschaftsmalerei lenkt Chateaubriand den Fokus auf die Frage der Wahrnehmung und Abbildbarkeit von Landschaft, die sich mehr denn je aufdrängt, wenn Landschaft nicht mehr Projektionsraum der Seele ist. Im vorliegenden Fall offenbart sich die Wahrnehmungsthematik auch in den Tertia Comparationis, die vielleicht ebenfalls von zeitgenössischen Lesern als wenig plausibel empfunden 341 Vgl. z. B. Bergot, »Poussin et Chateaubriand«, S. 51. Bergot, der die klassizistische Landschaft als dominanten Landschaftstyp in Chateaubriands Werk einstuft, erkennt in den antiken Stilelementen die nostalgische Evokation eines verloren gegangenen (Schönheits-) Ideals. 342 Exemplarisch sei hier eine Darstellung aus Cinq jours / Clermont aufgeführt, in der Chateaubriand einen Sonnenuntergang in der Limagne beschreibt, der dem Horizont die Form einer Girlande verleiht: »Les monts qui bordent la Limagne au levant, retenoient encore la lumiHre sur leur cime; la ligne que ces monts traÅoient dans l’air, se brisoit en arcs dont la partie convexe 8toit tourn8e vers la terre. Tous ces arcs se liant les uns aux autres par les extr8mit8s, imitoient / l’horizon la sinuosit8 d’une guirlande, ou les festons de ces draperies que l’on suspend aux murs d’un palais avec des roses de bronze. Les montagnes du levant dessin8es de la sorte, et peintes, comme ja l’ai dit, des reflets du soleil oppos8, ressembloient / un rideau de moire bleu et poupre; lointaine et derniHre d8coration du pompeux spectacle que la Limagne 8taloit / mes yeux.« (Cinq jours / Clermont, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 800)

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wurden. Chateaubriand wählt seine Bilder gemäß seines Interesses an der Struktur der Landschaft, das heißt an der Art und Weise, wie ihre Oberfläche der menschlichen Wahrnehmung zugänglich ist: als ein verschlungenes Netz unterschiedlicher Reize. Um diese Spezifik der Landschaftsdarstellung noch stärker zu verdeutlichen, lohnt sich ein kurzer Blick auf eine vergleichbare Landschaftsbeschreibung von Bernardin de Saint-Pierre. Auch in Bernardins Werk, der als Schüler Rousseaus seine schriftstellerische Tätigkeit mit intensiven Naturstudien verband, spielt das Landschaftsmotiv eine zentrale Rolle.343 Als besonders aufschlussreich für die hier angestellten Untersuchungen erweist sich die Beobachtung, dass sich auch in Bernardins Werk verschiedentlich bereits eine Ablösung des Landschaftsbildes zum autonomen ästhetischen Gebilde ohne correspondance-Bezug feststellen lässt. Dies geschieht hier jedoch unter anderen Vorzeichen. Der Adaption der Techniken der Malerei, die Chateaubriand vornimmt, steht bei Bernardin der Versuch eines naturwissenschaftlich-taxonomischen Zugangs zur Natur gegenüber, der sich in vielen seiner Landschaftsdarstellungen beobachten lässt. Die hier ausgewählte Szene entstammt dem Roman Paul et Virginie, dem meistgekauften Roman während der Revolutionsjahre, den Bernardin einer Neuausgabe seiner Ptudes de la Nature von 1788 anhängt. Der kleine Roman erzählt die Geschichte der beiden titelgebenden Liebenden Paul und Virginie, die gemeinsam mit ihren Müttern in der exotischen Unberührtheit der fernen 6le de France, dem heutigen Mauritius, ein glückliches Leben in völligem Einklang mit der Natur und fernab der Zivilisation führen. Aufgewachsen wie Bruder und Schwester entdecken die nun jugendlichen Protagonisten bald ihre Liebe zueinander, deren Reinheit und Ursprünglichkeit als Teil der allumfassenden kosmischen Harmonie erscheint, die auch die exotische Natur der Insel bestimmt. Die folgende Szene beinhaltet eine Beschreibung von Pauls Garten, den er inmitten der wilden Natur kultiviert hat und der als Mikrokosmos des Ordnungs- und Harmoniesystems gelten kann, das der Naturforscher Bernardin der Welt zugrunde legt: Il [d.i. Paul] avait dispos8 ces v8g8taux de maniHre qu’on pouvait jouir de leur vue d’un seul coup d’œil. Il avait plant8 au milieu de ce bassin les herbes qui s’8lHvent peu, ensuite les arbrisseaux, puis les arbres moyens, et enfin les grands arbres qui en bordaient la circonf8rence; de sorte que ce vaste enclos paraissait de son centre comme un amphith8.tre de verdure, de fruits et de fleurs, renfermant des plantes potagHres, des lisiHres de prairies, et des champs de riz et de bl8. Mais en assujettissant ces v8g8taux / son plan, il ne s’8tait pas 8cart8 de celui de la nature; guid8 par ses indications, il avait 343 Parallelen in der Landschaftsbeschreibung der beiden Autoren stellt auch Fabienne Bercegol heraus, die zwei Landschaften aus Atala und Paul et Virginie miteinander vergleicht. Vgl. »Chateaubriand et Bernardin de Saint-Pierre. La r88criture de Paul et Virginie dans Atala«, in: dies. / Glaudes (Hrsg.), Chateaubriand et le r8cit de fiction, S. 95–113.

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mis dans les lieux 8lev8s ceux dont les semences sont volatiles, et sur le bord des eaux ceux dont les graines sont faites pour flotter : ainsi chaque v8g8tal croissait dans son site propre et chaque site recevait de son v8g8tal sa parure naturelle. Les eaux qui descendent du sommet de ces roches formaient au fond du vallon, ici des fontaines, l/ de larges miroirs qui r8p8taient au milieu de la verdure les arbres en fleurs, les rochers, et l’azur des cieux.344

Wie die oben besprochene Darstellung der Bucht von Konstantinopel ist auch dieser Naturausschnitt zu einem imposanten aber durchaus überschaubaren »amphith8.tre« gestaltet. Dieses offenbart sich jedoch nicht nur dem geschulten Blick des Betrachters, sondern entsteht durch die schöpferischen Maßnahmen der Romanfigur. Der Garten ist eine komprimierte Veranschaulichung des Weltverständnisses und des literarischen Programms seines Autors. Neben dem offensichtlichen Aspekt des perfekten Zusammenspiels zwischen natürlichen Gegebenheiten und menschlichem Eingriff, der als Vervollkommnung des natürlichen Terrains unter Berücksichtigung der instinktiv erfassten Naturgesetze inszeniert ist, lassen sich aus der Beschreibung noch weitere Rückschlüsse ableiten. Wie bei Chateaubriand ist die Natur letztlich künstlich geformt und nach ästhetischen Kriterien geordnet. Auch sie ist auf den Blick eines Betrachters hin ausgerichtet, von dem sie jedoch gleichzeitig in gewisser Hinsicht losgelöst ist. So weist sie die gleiche Dichte und Geschlossenheit auf und steht damit in Opposition zur Leere und Tiefe der Korrespondenzlandschaft. Tatsächlich lässt sich auch bei Bernardin im Hinblick auf die Gestaltungsmechanismen des Tableaus bereits eine Loslösung der Landschaft vom Subjekt verfolgen, wie eine Untersuchung weiterer Landschaftsszenen belegen könnte. Die vorliegende Textstelle weist mit »ici […] l/« und den spiegelnden, reproduzierenden Wasseroberflächen ähnliche Strukturmerkmale auf, wie sie uns bei Chateaubriand noch näher beschäftigen werden. Die Geschlossenheit und Relationalität der Landschaft dient hier jedoch noch der apologetischen Inszenierung des universellen und absoluten Prinzips der Einheit aller Erscheinungen, das Bernardin im Rekurs auf verschiedene Harmonielehren und Providenzverteidigungen, wie die von Leibniz, Pop oder Shaftesburry, seinem Naturverständnis zugrunde legt.345 Ein entscheidender Unterschied zu Chateaubriand liegt daher darin, dass 344 Bernardin de Saint-Pierre, Œuvres complHtes, hrsg. von Jean-Michel Racault (BibliothHques du XVIIIe siHcle. 28), Bd. 1: Romans et contes, Paris, Classiques Garnier, 2014, S. 215. 345 Für eine umfassende Darstellung von Bernardins Naturästhetik, die auch den Roman Paul et Virginie thematisiert, vgl. Torsten König, Naturwissen, Ästhetik und Religion in Bernardin de Saint-Pierres Ptudes de la Nature, Frankfurt am Main u. a., Peter Lang, 2010; für die naturwissenschaftlichen und philosophischen Kontexte von Bernardins Naturverständnis sowie seine Idee der convenance allen Seins s. vor allem S. 50ff. und 171ff. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie unterschiedlich die Funktionen von Wasserspiegelungen in literarischen Landschaften sein können. Anders als in der pittoresken Landschaft, wo sie die Komplexität der Darstellung erhöhen und die Wahrnehmung er-

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der Naturforscher Bernardin noch den Anspruch erhebt, vollständige Abbilder der Naturphänomene zu liefern, deren ästhetisch erfahrbares Zusammenspiel innerhalb des Tableaus dann die göttliche Harmonie des Universums widerspiegelt. Diese zu erfassen und ihr gemäß zu leben, verspricht ein glückliches Dasein. Bernardins convenance-Landschaft346 steht damit noch im Zeichen der Kompensationsdiskurse, auch wenn sich auf ästhetischer Ebene bereits Indikatoren für die Loslösung des Tableaus und die Trennung zwischen Subjekt und Erfahrungswelt finden lassen. Chateaubriand hat den Anspruch auf Harmonie und die damit einhergehende moralische und didaktische Komponente bereits hinter sich gelassen, indem er die Strukturhaftigkeit der Landschaft und die Konditionen ihrer Wahrnehmung zum eigentlichen Thema der Naturdarstellung macht. Hierin liegt die neue Funktionsmöglichkeit der Landschaft, die sich aus der beobachteten Ablösung vom correspondance-Bezug ergibt. Chateaubriand wirft durch seine Naturbeschreibungen die Frage nach der Erschließbarkeit der Welt durch die menschliche Wahrnehmung auf. Bei Bernardin ist diese Zugänglichkeit für einen Betrachter mit der entsprechenden mentalen Prädisposition noch gewährleistet. Er kann durch einen einzigen coup d’œil die sich in dem Naturausschnitt offenbarende universelle Harmonie des Kosmos intuitiv erfassen, indem er sowohl die Detailfülle der Szene wahrnimmt als auch eine synthetisierende Gesamtschau leistet.347 Durch Chateaubriands ›Verdinglichung‹ der Landschaft zum malerischen Tableau avanciert sie dagegen zum Medium für die Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Wahrnehmung. Ein Beispiel einer Landschaftsbeschreibung aus seinem Reisebericht Cinq jours / Clermont kann weiteren Aufschluss darüber geben, in welcher Form die Thematisierung der Wahrnehmungsvorgänge erfolgen kann. Die ersten zwei Drittel des Reiseberichts sind der Geschichte der Auvergne und einigen ihrer berühmten Persönlichkeiten gewidmet. Im Anschluss daran wendet sich Chateaubriand jedoch der Beschreibung der Landschaft der Limagne und der malerischen Position Clermonts, »une des plus belles du monde«348, zu. Auf diesen Seiten erschafft er außergewöhnliche Landschaftsbeschreibungen, in denen sich vor allem eine Hinterfragung der Wahrnehmungsmöglichkeiten artikuliert. Zu Beginn beschreibt er die Ebene der Limagne:

schweren, dienen sie hier dazu, »in ästhetisch gesteigert wahrnehmbarer Form den Zusammenklang der Naturerscheinungen und damit deren Ordnung [zu repräsentieren].« (Ebd., S. 305) 346 Vgl. ebd., S. 63. 347 Zum Prinzip des »coup d’œil« als Mittel der Naturerfahrung bei Bernardin und in den zeitgenössischen Histoires naturelles vgl. ebd., S. 291. 348 Chateaubriand, Cinq jours / Clermont, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 799.

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Le bassin de la Limagne n’est point d’un niveau 8gal; c’est un terrain tourment8 dont les bosses de diverses hauteurs, semblent unies quand on les voit de Clermont, mais qui, dans la v8rit8, offrent des in8galit8s nombreuses et forment une multitude de petits vallons au sein de la grande vall8e. Des villages blancs, des maisons de campagne blanches, de vieux ch.teaux noirs, des collines rouge.tre, des plants de vignes, des prairies bord8es de saules, des noyers isol8s qui s’arrondissent comme des orangers, ou portent leurs rameaux comme les branches d’un cand8labre, mÞlent leurs couleurs vari8es / la couleur des froments. Ajoutez / cela tous les jeux de la lumiHre.349

Der Blick, den Chateaubriand hier auf das Tal der Limagne wirft, offenbart das spezifisch Pittoreske seiner Landschaftsästhetik im Sinne der Theorien von Gilpin, Price und Payne Knight, das heißt des Pittoresken im engeren, wahrnehmungskritischen Sinn. Bereits die an der Malerei orientierten Tableaus im Allgemeinen setzen um, was Gilpin in seinen Three Essays als neues bildhaftes Sehen und Suchen pittoresker Naturausschnitte propagiert. Der Reiz, der hier die Darstellung der Landschaft motiviert, entspricht jedoch zudem exakt dem Kerngedanken von Gilpins Definition der picturesque beauty, die Price und Payne Knight dann weiter fortführen. Gilpin hatte konstatiert, that roughness forms the most essential point of difference between the beautiful, and the picturesque; as it seems to be that particular quality, which makes objects chiefly pleasing in painting.350

Grund für diese neue Präferenz rauer Objekte ist die höhere Stimulation der Sinne während des Betrachtungsvorgangs sowie die Konterkarierung des Verstandes, der zu vereinheitlichen sucht. Roughness dient damit dem didaktischen Ziel, das Gilpin der neuen Ästhetik voranstellt, nämlich der Relativierung unserer Vorstellung von den Dingen (»enlarging, and correcting our general stock of ideas«351). Auch Chateaubriand führt hier die Fehlerhaftigkeit der menschlichen Wahrnehmung vor, wenn er die Einheitlichkeit der Landschaft aus der Ferne als optische Täuschung entlarvt. Die Darstellung der Landschaft wird demgegenüber gerade dadurch motiviert, dass sie bei näherer Betrachtung eine zerklüftete, unebene, raue Oberfläche aufweist. Ihr Reiz liegt in den »in8galit8s nombreuses« und der sich daraus ergebenden variety, die laut Gilpin immer mit roughness einhergeht. Chateaubriand forciert das Vielfaltsideal zusätzlich durch die hierarchielose Aufzählung der weiteren Bildelemente. Ihr alleiniges Ordnungsprinzip ist das des Kontrasts, der sich hauptsächlich in Farbe und Formierung der Objekte zeigt.352 Die Landschaftselemente sind heterogen, jedoch 349 350 351 352

Ebd. Gilpin, Three Essays, S. 8. Ebd., S. 23. Auch Baudoin beschreibt den Reiz von Vielfalt und Kontrast als Thema des Tableaus, ohne dabei jedoch auf die Ästhetik des Pittoresken einzugehen: »[…] la Limagne relHve d’une

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nur in solchem Maß, dass es ebenso wenig wie zu verstandeskonformer Uniformität zu ausschweifenden Assoziationen und überhöhenden Deutungsversuchen kommen kann, die aus dem aktiven, sinnlichen Wahrnehmungsbereich herausführen würden. Das Landschaftsbild weist damit eine pittoreske Zeichenstruktur auf, die ganz der in Kapitel 2.2.2.1 dargelegten Definition von Lobsien entspricht: »Anders als das Schöne ist das Pittoreske eine unideale Vielfalt ohne Einheit, anders als das Erhabene eine durchaus beherrschbare Vielfalt.«353 In Ermangelung einer sinnstiftenden Komposition entzieht sich die Landschaft zwar dem direkten Zugang durch die Wahrnehmung des Betrachters, überfordert ihn jedoch auch nicht durch Überdimensionalität. Der Betrachter bzw. der Leser ist mit den einzelnen Aspekten des Bildes beschäftigt, der inszenierte Wahrnehmungsvorgang erfolgt ausschließlich sukzessive. Das Thema der Darstellung ist der Prozess der Betrachtung bzw. der Erschließung der Informationen selbst. Mit seiner Darstellung der Limagne liefert Chateaubriand eine Landschaftskonstruktion, die vom ersten bis zum letzten Bestandteil der Zergliederung eines Gesamtbildes entspricht und damit vielmehr als Dekonstruktion zu bezeichnen ist. Die Existenz eines harmonischen, ebenen Ganzen ist ein Trugschluss, besteht das »grande vall8e« doch letztlich nur aus der »multitude de petits vallons«, eine Aufsplitterung ganz in Gilpins Sinn: Picturesque composition consists in uniting in one whole a variety of parts; and these parts can only be obtained from rough objects.354

Chateaubriand realisiert hier die Aufgabe des Künstlers, das Wahrgenommene in seinen ursprünglichen und viel reizvolleren Zustand der Vielgestaltigkeit zurückzuführen; »break the surface«355, wie Gilpin fordert. Indem er die wahrgenommene Landschaft als ein »tendenziell unendlich differenziertes Kontrastmuster« darstellt,356 erschafft er eine pittoreske Landschaft, die die Komplexität der faktischen, nicht durch menschliche Wahrnehmungsvorgänge überformten Wirklichkeit wiedergibt. Lobsien erklärt diesen Zusammenhang, wie oben gesehen,357 anhand von Lockes Unterscheidung zwischen simple und complex ideas. Während beim Betrachten der schönen und erhabenen Landschaft durch die metaphorische oder allegorische Interpretation simple ideas zu

353 354 355 356 357

union apparente qui masque en r8alit8 une dispersion lisible dans les irr8gularit8s du relief puis dans l’alliance de la diversit8 au sein de l’8num8ration descriptive […]. L’exp8rience euphorique de la Limagne souligne la continuit8 dans la diversit8, le charme de l’inattendu et de l’assemblage pictural des couleurs et des formes diverses.« (Po8tique du paysage, S. 192f.) Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163. Gilpin, Three Essays, S. 11. Ebd., S. 16. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171. Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1.

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complex ideas aufgestuft werden, muss beim Betrachten der pittoresken Landschaft genau andersherum erst eine Zerlegung, das heißt Vereinfachung des Wahrgenommenen durch das Bewusstsein vorgenommen werden: […] die pittoreske Gartenlandschaft [begegnet] dem Betrachter als kontingente Konfiguration, die immer erst Abstraktionsleistungen unterworfen werden muß, ehe sich stabile und klare Bedeutungen abheben lassen. Die pittoresken Qualitäten entsprechen folglich den particular things, den konkreten und in sich unendlich komplexen Phänomenen, die erst im Bewußtsein in allgemeine und vergleichsweise ärmere simple ideas zerfällt werden.358

Die pittoreske Landschaft zeichnet sich durch eine Komplexität aus, die durch die menschliche Wahrnehmung nicht zu erfassen ist. Price macht diesen Aspekt, die intricacy der Landschaft, die Beweglichkeit und Wechselhaftigkeit ihrer Konfigurationen, zum zentralen Aspekt seiner Theorie. Die kontingenten Konfigurationen, die particular things, können durch den Wahrnehmungsprozess zwangsläufig nur verarmen. Andersherum gedacht bedarf es bei der künstlerischen Schöpfung einer pittoresken Szene einer gewissen Verunklarung, das heißt einer Rückführung des Gedachten, Geordneten ins ausschließlich Visuelle: Man kann sagen, daß die Herstellung pittoresker Gegenstände eine Umkehrung des empiristischen Prozesses darstellt: einfache Ausgangsideen werden spielerisch dissoziiert und differenziert, bis sie jenen Punkt überschreiten, von dem an sie durch eigene, aktive Rezeptionsleistungen wiedergewonnen werden müssen.359

Wenn die Landschaft der Limagne eben erscheint, dann ist sie das Produkt einer solchen aktiven Rezeptionsleistung. Chateaubriand überführt die Landschaft jedoch in ihren faktischen Zustand der Komplexität, auch wenn oder gerade weil dies das Wohltuende, Reibungslose des Wahrnehmungsvorgangs zerstört, was durch das erstgenannte, bestimmende Merkmal des Terrains »tourment8« kunstvoll zum Ausdruck gebracht wird. Die Darstellung lässt auf eine Aktualisierung des Landschaftsparadigmas schließen, da in ihr die Ebenmäßigkeit der Oberfläche, die bis dato dem Schönheitsideal entsprochen hat und für die synthetisierende Leistung des Betrachter steht, aufgebrochen und dissoziiert wird. Die Konstruktion des Landschaftsbildes durch den Betrachter, das heißt seine perspektivische ›Formung‹ der Landschaft, stellt hier nicht mehr Ziel und Zweck der Darstellung, sondern im Gegenteil die »einfache Ausgangsidee« dar, die »spielerisch dissoziiert und differenziert« werden muss, um reizvoll zu sein. Dies wird auf formeller Ebene durch die hierarchielos aneinander gereihten Bildelemente und auf inhaltlicher Ebene durch ihre bestimmte Art des Zusammenspiels erreicht: die Landschaftsobjekte halten sich zwischen schöner 358 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. 359 Ebd.

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(»des maisons de campagne blanches«, des prairies bord8es de saules«) und schrecklicher (»tourment8«, »les bosses, de diverses hauteurs«, »de vieux ch.teaux noirs«) Landschaft die Waage. Der Rezipient muss, konfrontiert mit dieser Fülle unterschiedlicher Wahrnehmungsimpulse, aktiv werden, um die Landschaft ›zurückzugewinnen‹, wie es für das Pittoreske typisch ist: »[i]ts favorite scenes are those in which form emerges only with study or is at the point of dissolution.«360 Für diesen Imaginationsprozess hält Chateaubriand dann abschließend auch noch einen letzten Hinweis an seinen Leser bereit: »Ajoutez / cela tous les jeux de la lumiHre.« In der Nuit am8ricaine hatte das Mondlicht gemäß der aufgezeigten vorherrschenden Lesart einen harmonisierenden Effekt besessen, der die weite, blau getünchte Landschaft als Exemplifizierung kosmischer Gleichgestimmtheit erscheinen ließ. Hier stellt das Spiel des Lichts in all seinen erdenklichen Erscheinungsformen dagegen eine Zugabe zur Vielgestaltigkeit der Landschaft dar.361 Die Bezeichnung »jeux« unterstreicht in typisch pittoresker Weise die Autonomie der Natur in ihrem Zustand unkontrollierbarer Bewegung: »[s]ome part of this sense of play derives from the growing interest in the way the mind creates its world.«362 So wird der Versuch, die Lichtspiele zu beschreiben, gar nicht erst unternommen. In der Korrespondenzlandschaft aus Ren8 durchdrangen die Protagonisten in ihren »jeux innocents«, das heißt beseelt von ihrem cœur plein die leere Landschaft. In der vorliegenden Szene kommt diese Dynamik stattdessen der Landschaft zu. Die maximale Verallgemeinerung von »tous les jeux« suggeriert die unendliche Komplexität und Facettenvielfalt der Naturerscheinungen, die begrifflich bzw. verstandesmäßig nicht zu erfassen sind. Die Annäherung an diesen Reichtum wird von Chateaubriand folgerichtig in den Verantwortungsbereich der Imagination überführt. Die Ablösung der Landschaft vom correspondance-Bezug sowie die Adaption von Darstellungstechniken der Malerei hat also die Möglichkeit eröffnet, die Landschaft zu einem vom Betrachter unabhängigen, autonomen und in sich geschlossenen Tableau zu formen. Hess bezeichnet dieses Tableau als ein »vergleichsweise malerisch einheitliches Vorstellungsgebilde.«363 Tatsächlich muss der Aspekt der Einheitlichkeit des Tableaus jedoch noch vorsichtiger behandelt werden. Das Tableau als Bezeichnung der literarischen Landschaftsdarstellung suggeriert eine Kohärenz auf der Textebene, die bei genauerer Betrachtung durch die Bildspender eher unterlaufen wird.364 Grund dafür sind zwei Mo360 Price, »The Picturesque Moment«, S. 277. 361 Gilpin thematisiert die Begünstigung reizvoller Lichteffekte durch raue Oberflächen ausführlich. Vgl. Three Essays, S. 13f. 362 Price, »The Picturesque Moment«, S. 271. 363 Hess, Die Landschaft, S. 18. 364 Das literarische Tableau des späten 18. Jahrhunderts zeichnet sich allgemeinhin gegenüber

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mente, die in Chateaubriands pittoresker Landschaft dort aktiv werden, wo der correspondance-Bezug annulliert wurde. Das einzelne Landschaftselement hat nicht nur Autonomie erlangt, indem es nicht mehr Explikation einer Innerlichkeit des Betrachters ist. Es präsentiert sich außerdem zum einen in einem kontrastiven, kontingenten Verhältnis zu den angrenzenden Objekten, zum anderen wird ihm kein spezieller Platz in der Gesamtheit des Bildausschnitts zugewiesen, wodurch es beweglich und wandelbar bleibt. Chateaubriand realisiert die pittoresken Ideale roughness, variety und contrast und konstruiert damit eine Landschaft, die nicht nur in sich geschlossen, sondern auch in sich bewegt ist. Mit der Annullierung des correspondance-Bezugs löst sich auch die analogische Struktur der Beschreibungsmechanismen auf. Die Bezüge werden unklar und Bedeutungen wieder aufgesplittet. Hierher rührt wohl die Kritik der Zeitgenossen an den »images dont les parties ne sont pas bien d’accord« (s. o.) und die Beobachtung, Chateaubriands Landschaften lösten einen Paradigmenwechsel in der Geschichte der literarischen Beschreibung aus.365 Sowohl mimetische Ansprüche im literarischen Umgang mit Wirklichkeit als auch die Subjektivierungstendenzen des aufklärerischen, empfindsamen Naturverständnisses werden hier außer Kraft gesetzt. Die Natur erfährt ihre Wertschätzung nun durch ihre Komplexität und Ungreifbarkeit, nicht durch ihre vermeintliche Fähigkeit, Zugänge zu übergeordneten Sinndimensionen zu schaffen, wie es bei der Korrespondenzlandschaft, der erhabenen Landschaft oder der convenance-Landschaft im Stil Bernardin de Saint-Pierres der Fall ist. Ein besonders prägnantes Bild dieser Aufsplitterung verstandeskonformer Eindimensionalität zugunsten einer Reizmultiplikation für die Sinne kann abschließend eine weitere Landschaftsbeschreibung aus dem »Journal sans date« des Voyage en Am8rique liefern. Das Journal zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen, oft recht kurzen Einträge ausschließlich mit Tageszeiten überschrieben sind und darüber hinaus jeglicher Zeit- und Ortsangabe entbehren. Durch diese Enthobenheit von Zeit und Ort, für die sich Chateaubriand bei der Zusammenstellung der Texte offensichtlich bewusst entscheidet, verleiht er dem Tagebuch eine poetische Dimension. Die Landschaftsbeschreibungen stehen im Vordergrund und sind nur durch minimale Handlungselemente miteinander verknüpft. Hier leitet die Angabe über den frühmorgendlichen Aufbruch den Blick auf die Landschaft bunt gefärbter Wälder ein, die sich dem Betrachter erneut während einer Kanufahrt darbietet: dem traditionelleren wissenschaftlich-taxonomischen Tableau dadurch aus, dass es nicht »feststehende Ordnungsgefüge, sondern prozeßhafte und interdependente Abhängigkeiten darstellen will.« (Graczyk, Das literarische Tableau, S. 20) Zur Funktion des Tableaus als Repräsentationsform von Erkenntnissen innerhalb der klassischen Episteme vgl. auch Foucault, Les mots et les choses, S. 89. 365 Vgl. Kullmann, Description, S. 33.

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Nous nous sommes lev8s de grand matin pour partir / la fra%cheur ; les bagages ont 8t8 rembarqu8s; nous avons d8roul8 notre voile. Des deux cit8s nous avions de hautes terres charg8es de forÞts: le feuillage offroit toutes les nuances imaginables: l’8carlate fuyant sur le rouge, le jaune fonc8 sur l’or brillant, le brun ardent sur le brun l8ger, le vert, le blanc, l’azur, lav8s en mille teintes plus ou moins foibles, plus ou moins 8clatantes. PrHs de nous c’8toit toute la vari8t8 du prisme; loin de nous, dans les d8tours de la vall8e, les couleurs se mÞloient et se perdoient dans des fonds velout8s. Les arbres harmonioient ensemble leurs formes; les uns se d8ployoient en 8ventail, d’autres s’8levoient en cine, d’autres s’arrondissoient en boule, d’autres 8toient taill8s en pyramide: mais il faut se contenter de jouir de ce spectacle sans chercher / le d8crire.366

Chateaubriands Interesse für die Darstellung von Farbschattierungen367 findet in dieser Szene seinen literarischen Niederschlag. Auffallend an der Beschreibung ist, dass sie zwar das Moment der Effusion und der Aufladung der räumlichen Tiefe beinhaltet, wie es z. B. in der Nuit am8ricaine beobachtet wurde und vor allem von Richard als charakteristisch beschrieben wurde,368 der vom Betrachter einsehbare Vordergrund der Szene jedoch erneut durch das Kontrastprinzip konstituiert ist. Das Gesamtbild wird als harmonisch bezeichnet, doch sind die einzelnen Elemente nur dadurch charakterisiert, dass sie sich – durch Farbe oder Form – von anderen unterscheiden. Es gibt keine Ähnlichkeiten innerhalb des Bildausschnitts, in dem Vielfalt und Kontrast die alleinigen Darstellungsprinzipien sind. Auf diese Weise wird »toute la vari8t8 du prisme« evoziert, eine kaleidoskopische Vielfalt der Natur, die mit Worten nicht zu beschreiben ist. Mittels der bisher genannten Konstruktionsmechanismen, die der Zeichenstruktur des Pittoresken entsprechen, lässt Chateaubriand eine Landschaft entstehen, die sich durch eine unendliche Vielzahl möglicher Konfigurationsmöglichkeiten auszeichnet. Ihre sinnlich erfahrbare Oberfläche wird dadurch derart komplex und vielgestaltig, dass sie die üblichen Reaktionen des Wahrnehmungsbewusstseins, nämlich Bedeutungen, complex ideas abzuleiten, blockiert. 366 Chateaubriand, Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 195. 367 Bei seiner Besteigung des Vesuvs beschreibt Chateaubriand z. B. statt der Imposanz des Panoramas ausführlich die Farbschattierungen der Lavaströme. Rigoli stellt in seinem Buch Le voyageur / l’envers. Montagnes de Chateaubriand heraus, dass er mit Abweichungen wie diesen den Topos der schrecklichen Landschaft durchbricht, der nach den herrschenden literarischen Konventionen den Diskurs über den Vesuv bestimmte. Vgl. dazu Chateaubriand, Voyage en Italie, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 591–718, sowie Rigoli, S. 77f. 368 Zum Aspekt der Effusion vgl. Richard, Paysage de Chateaubriand, S. 73ff.; zu seiner Interpretation der zitierten Textstelle s. S. 30f. Richard führt die Darstellung ebenfalls als Beispiel für die Fülle, Vielfalt und Intensität von Chateaubriands Landschaften, ihre »[8]merveillante pl8nitude« auf, unterstellt sie jedoch der Evokation kosmischer Ganzheit. Die Vielfalt stehe für »l’infinie variation d’une unique m8lodie vitale« und impliziere einen universellen Einklang der Erscheinungen: »Symphonique cette diversit8, donc non discordante.« (S. 30)

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Chateaubriands Landschaften – so viel kann hier bereits geschlussfolgert werden – sind pittoresk in der vollen Bedeutung dieses Begriffs, wie ihn die englische Landschaftstheorie hervorgebracht hat. Diese erkenntniskritische Dimension ist jedoch in der geläufigen Verwendung des Begriffs nicht enthalten, wenn von Chateaubriands Landschaft gesprochen wird.369 Seine eigene Thematisierung des ›pittoresken Effekts‹, das berühmte Kapitel über den »Effet pittoresque des ruines« des G8nie du christianisme, verrät dabei wie sehr ihn vor allem das Spiel mit dem Blick selbst interessiert: Les ruines, consid8r8es sous les rapports du paysage, sont plus pittoresques dans un tableau, que le monument frais et entier. Dans les temples que les siHcles n’ont point perc8s, les murs masquent une partie du site et des objets ext8rieurs, et empÞchent qu’on ne distingue les colonnades et les cintres de l’8difice; mais quand ces temples viennent / crouler, il ne reste que des d8bris isol8s, entre lesquels l’œil d8couvre au haut et au loin les astres, les nues, les montagnes, les fleuves et les forÞts. Alors, par un jeu de l’optique, l’horizon recule, et les galeries suspendues en l’air se d8coupent sur les fonds du ciel et de la terre. Ces effets n’ont pas 8t8 inconnus des anciens; ils 8levaient des cirques sans masses pleines, pour laisser un libre accHs aux illusions de la perspective.370

›Pittoresk‹ scheint sich hier über ästhetisches Vergnügen während des verzögerten Erschließungsprozesses des Landschaftsausschnitts zu definieren. Der Betrachter von Chateaubriands Landschaft befindet sich »in a dazzling play of perspective«, er ist »haunted by the difficulties of ›reading‹ the structure and identifying the interpenetrating spaces.«371 Der genauen Beschaffenheit dieser Struktur der Landschaft widmet sich das folgende Kapitel. Im Gegensatz zur subjektivierten und damit gänzlich verfügbaren Korrespondenzlandschaft können Chateaubriands Landschaftstableaus sogar eine verschleiernde Funktion haben. 3.1.3.2 Die pittoreske Struktur der Tableaus Mit Kullmanns Untersuchung zur literarischen Beschreibung konnte gesehen werden, dass Chateaubriands Landschaften eine Verschiebung des Beschrei369 Repräsentativ für die geläufige Verwendung ist z. B. die Klassifizierung der Landschaft aus Atala als »pittoresque providentiel« (Bercegol, »Pr8sentation«, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 40) Die natürlich nur im Deutschen mögliche Unterscheidung zwischen pittoresk und malerisch lässt sich auch auf Martin Prices Unterscheidung anwenden: »The picturesque is here taken in its most fundamental sense; its standard is that of pictorial composition rather than the features of ruggedness and abrupt transitions that were to be abstracted from it.« (»The Picturesque Moment«, S. 266) 370 G8nie du christianisme, S. 883f. Zur Ruine als pittoreskem Objekt vgl. auch oben, Kap. 2.2.2.1. 371 Price, »The Picturesque Moment«, S. 262.

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bungsbegriffs verursachen. Der Begriff description entfernt sich vom Mittel zur Klassifizierung längerer Textpassagen und nähert sich stattdessen der Stilebene und dem Bereich der Metaphorik an.372 Grund für die Verlagerung des Interesses auf die einzelnen images ist deren neuartige Erscheinungsform, die von den Zeitgenossen widersprüchlich bewertet wird. Chateaubriands sprachliche Bilder scheinen verunklart. Sie entziehen sich der Funktion instrumenteller Transparenz, die das Kennzeichen der Sprache des Klassizismus war und davon ausgehend zentrale Voraussetzung des aufklärerischen Ordnungsdiskurses und der Mentalität des Enzyklopädismus wurde.373 Mit der Wende zum 19. Jahrhundert vollzieht sich bereits ein Wandel im Umgang mit Sprache, dessen Bedeutung und Ausmaß sich in voller Dimension erst in der strukturalistischen Wende des 20. Jahrhundert niederschlug. In Le degr8 z8ro de l’8criture beschreibt Roland Barthes die Stationen dieses Umbruchs: […] vers la fin du dix-huitiHme siHcle, cette transparence vient / se troubler ; la forme litt8raire d8veloppe un pouvoir second, ind8pendant de son 8conomie et de son euph8mie.374

»[U]n pouvoir second« ist Kennzeichen der 8criture, die im Moment des Verlusts der instrumentellen, verweisenden Funktion der Sprache entsteht. Interessanterweise findet Barthes die Kennzeichen dieser 8criture schon bei Chateaubriand angedeutet: Chez Chateaubriand, ce n’est encore qu’un faible d8pit, le poids l8ger d’une euphorie du langage, une sorte de narcissisme oF l’8criture se s8pare / peine de sa fonction instrumentale et ne fait que se regarder elle-mÞme.375

Was Barthes hier in sehr metaphorisierender Art und Weise über Chateaubriands Sprache sagt, kann in ähnlicher Weise auch für seine Landschaften gelten, die ja ebenso wie die Sprache einen Zugang zur Wirklichkeit darstellen. Dass dieser Zugang von Chateaubriand nicht nur thematisiert, sondern auch problematisiert wird, konnte oben bereits ansatzweise gesehen werden. Dieser Aspekt der Landschaft soll nun noch eingehender betrachtet werden. Es handelt sich um den gleichen Aspekt, unter dem auch die gesamte Diskussion um die

372 373 374 375

Vgl. Kullmann, Description, S. 85. Vgl. hierzu Delon, L’id8e d’8nergie au tournant des LumiHres, S. 58ff. Roland Barthes, Le degr8 z8ro de l’8criture, S. 10. Ebd., S. 11. Vgl. auch Bercegol in der Präsentation zu Atala: »On le sait, la r8putation d’enchanter qu’a durablement acquise Chateaubriand provient de la r8volution stylistique qu’il a initi8e en jouant sur la maniHre sonore du mot, sur l’8nergie des images, sur la s8duction gratuite du signifiant, de maniHre / toucher son lecteur, / le captiver par l’afflux de sensations et d’8motions qu’il parvient / susciter en lui.« (Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 38)

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pittoreske Ästhetik letztlich am aufschlussreichsten ist und unter dem sie auch in den folgenden Untersuchungen betrachtet wird: unter dem Aspekt einer hermeneutischen Schwellenhebung […], also der Ausbildung eines gesteigerten Bewußtseins für die Voraussetzungen von Bedeutungskonstitutionen und deren Substituierbarkeit.376

Erneut können dazu die Landschaftsszenen des Voyage en Am8rique herangezogen werden. Das »Journal sans date« öffnet mit der Beschreibung einer Kanufahrt, der im Unterschied zu den darauf folgenden Tagebucheinträgen nicht einmal eine Tageszeitangabe vorangestellt ist. Die Szene scheint gänzlich imaginiert und trägt bereits die Stimmung in sich, die für den gesamten berichtenden Teil des Voyage konstitutiv ist. Auf einem Kanu, scheinbar allein, durch die Landschaft gleitend, lässt der Reisende die Mannigfaltigkeit der erhabenen Urlandschaft auf sich wirken: Le ciel est pur sur ma tÞte, l’onde limpide sous mon canot, qui fuit devant une l8gHre brise. f ma gauche sont des collines taill8es / pic et flanqu8es de rochers d’oF pendent des convolvulus / fleurs blanches et bleues, des festons de bignonias, de longs gramin8es, des plantes saxatiles de toutes les couleurs; / ma droite rHgnent de vastes prairies. f mesure que le canot avance, s’ouvrent de nouvelles scHnes et de nouveaux points de vue: tantit ce sont des vall8es solitaires et riantes, tantit des collines nues; ici c’est une forÞt de cyprHs dont on aperÅoit les portiques sombres; l/ c’est un bois l8ger d’8rables, oF le soleil se joue comme / travers une dentelle.377

An die Beschreibung der Landschaft schließt eine Art Kommentierung an, in der sich Chateaubriand zum primitiven Menschen, zum Geschöpf Gottes in seiner wahren Bestimmung stilisiert: »Libert8 primitive, je te retrouve enfin! […] Me voil/ tel que le Tout Puissant m’a cr88, souverain de la nature, port8 triomphant sur les eaux.« In der Einsamkeit der Natur überträgt sich deren Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit auch auf ihn: »[P]as un seul battement de mon cœur ne sera comprim8, pas une seule de mes pens8es ne sera encha%n8e; je serai libre comme la nature.«378 Die Landschaftsbeschreibung selbst widerspricht jedoch interessanterweise dieser Selbstinszenierung zum Herrscher über die Natur. Wie schon einige Male beobachtet, öffnet sich das Panorama zunächst in alle Richtungen, wobei vor allem mit »de vastes prairies« die Weite der Landschaft betont wird. Diese Dimensionierung kommt der Evokation uneingeschränkter Freiheit noch entgegen. Den zentralen Aspekt des Bildes stellt jedoch die kontinuierliche Bewegung und ständige Veränderung des wahrgenommenen Bildausschnitts 376 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 50. 377 Chateaubriand, Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 193. 378 Ebd., S. 194. Marc Fumaroli bezieht sich ebenfalls auf diese Textstelle, um zu verdeutlichen, wie sich Chateaubriand in der Wildnis Amerikas nach dem Vorbild Rousseaus mit dem »homme de la nature« identifiziert. (Fumaroli, Chateaubriand, S. 327f.)

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dar. Durch den beweglichen Standpunkt des Beobachters, der sich gemäß des von Chateaubriand bevorzugten Arrangements erneut im Boot befindet, präsentiert sich der Wahrnehmungsausschnitt im Sinne der pittoresken Ästhetik als »moment in a process of change.«379 Dem Satz im Zentrum der Beschreibung kommt die tragende Funktion zu, die Komplexität der Landschaft zu vermitteln. Die für Chateaubriand ebenfalls typische Formulierung »f mesure que« signalisiert den Verlaufscharakter des Wahrnehmungsvorgangs, der mit der Realisierung immer neuer Bildausschnitte und Perspektiven beschäftigt ist. Während die horizontale und vertikale Öffnung des Panoramas noch vom Betrachter ausgehend organisiert ist, fällt nun das völlige Fehlen der Wahrnehmungsinstanz auf, die sich nicht einmal mehr in dem oben beobachteten neutralisierten ›on‹ artikuliert. Indem Chateaubriand die Landschaft im Kanu durchgleitet, wird diese aber nicht nur in Bewegung aufgelöst, sondern die Betrachterrolle zusätzlich passiviert. Auch im pittoresken Landschaftsgarten öffnen sich dem Spaziergänger kontinuierlich neue Perspektiven, hier wird die Erschließung der Landschaft dem Einflussbereich des Betrachters jedoch gänzlich entzogen. Dieser Aspekt der Passivität zusammen mit der Tatsache, dass die Landschaft durch das Moment der Bewegung zu keinem Zeitpunkt überschaubar ist (was darzustellen durchaus möglich gewesen wäre), konterkarieren die Vorstellung des »souverain de la nature«. Statt sich auf den Betrachter hin zu formen, weist die Landschaft eine Struktur auf, die der pittoresken Zeichenstruktur entspricht. Dies geht bereits aus der Beschaffenheit und Anordnung der Elemente der Landschaft zur linken Flussseite hervor. Die Funktion rauer, unebener Flächen, als welche die Hügel und Felswände dargestellt werden, wurde oben bereits dargelegt. Auch die Aufzählung der Elemente, besonders der Pflanzen, folgt hier wieder den Prinzipien von Vielfalt und Kontrast. Zusätzlich offenbart sich jedoch in ihrer Auswahl Chateaubriands Vorliebe für windenartige, verflochtene Gewächse, die sich teppichartig über die Oberfläche legen (»des convolvulus«, »des festons de bignonias«, »des plantes saxatiles de toutes les couleurs«). In Anzahl, Farbe und Gruppierung bleiben die Elemente dagegen auffällig unbestimmt. Bei der Pflanzenbeschreibung in Kapitel 3.1.3.1 war uns bereits der Vergleich mit den »r8seaux de corail« begegnet. Auch hier reproduziert die ästhetische Form der Pflanzen die Fülle und starke Binnenstrukturiertheit der Landschaft, die sich als ein bewegliches Geflecht ineinander verwobener Einzelelemente präsentiert. Die Idee eines solchen Gewebes innerhalb des Landschaftstableaus erweist sich als ein zentrales Interesse von Chateaubriand, beschreibt er doch immer wieder die unterschiedlichsten Naturphänomene, die eine solche Erscheinung hervorrufen können. Neben verflochtenen Gewächsen handelt es sich dabei oft um 379 Martin Price, »The picturesque moment«, S. 280.

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das Spiel von Lichtstrahlen, die sich an anderen Landschaftsobjekten, wie z. B. Baumreihen brechen und Projektionen von gewebeartigen Mustern erzeugen.380 Auf die Gewebe-Metapher wird daher im Folgenden noch näher einzugehen sein. Im Fall der hier zitierten Beschreibung wiederholt sich die Verflochtenheit inhaltlich und stilistisch auch im letzten Teil der Beschreibung, in dem einige Merkmale der changierenden Landschaftsszenen herausgriffen werden. Die Strukturierung der Beschreibungselemente erfolgt durch die Konstruktionen »tantit […] tantit« sowie »ici […] l/«, die zu Chateaubriands bevorzugtem Repertoire gehören381 und auch bei Bernardin de Saint-Pierre bereits die innere Relationalität der Landschaft expliziert hatten. Bei Chateaubriand ist die Funktion leicht abweichend. Zwar liefert auch er damit (minimale) Hinweise auf die Konstituenten des Wahrnehmungsfeldes, doch dienen die Bezüge nicht wie bei Bernardin de Saint-Pierre der Vernetzung des Einzelobjekts zugunsten der Einordnung in eine kosmische Totalität. Der Betrachter von Chateaubriands Landschaft verweilt im Spiel der zeitlichen und örtlichen Dissoziierungen, die das Hauptanliegen der Landschaftsbeschreibung darstellen, und wird nicht darüber hinaus zu einem weiterführenden Interpretationsakt veranlasst. Der Aspekt der Blockade innerhalb des Wahrnehmungsprozesses wird gerade durch die zeitliche Verschiebung des »tantit […] tantit« besonders akzentuiert. Die Überhöhung der Elemente zu Bestandteilen einer allumfassenden kosmischen Harmonie bleibt innerhalb der Beschreibung ganz deutlich aus, auch wenn Chateaubriand in der anschließenden Kommentierung die Idee der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung nachträglich evoziert. Das Kontrastprinzip und die Auslassung eines Einheitssignals manifestieren sich dann auch auf inhaltlicher Ebene. Die »vall8es solitaires et riantes«, Versatzstück des locus amoenus, konstituieren sich im Kontrast zu den »collines nues« eines locus horribiles, sowie die großen, dunklen Zypressenwälder den beschaulichen Ahornwäldchen gegenüberstehen, durch die auf spielerische Weise das Licht der Sonne bricht, »comme / travers une dentelle«. Die Gegenüberstellung ist extrem kunstvoll konstruiert und kann nicht anders als die Annahme zu stützen, Chateaubriand habe sich bewusst der Methoden der pittoresken Landschafts-

380 Vgl. z. B. die Beschreibung eines Sonnenuntergangs in der »Description de quelques sites dans l’int8rieur des Florides«: »Le soleil tomba derriHre le rideau d’abres de la plaine; / mesure qu’il descendoit, les mouvements de l’ombre et de la lumiHre r8pandoient quelque chose de magique sur le tableau: l/, un rayon se glissoit / travers le dime d’une futaie, et brilloit comme une escarbouble ench.ss8e dans le feuillage sombre; ici, la lumiHre divergeoit entre les troncs et les branches, et projetoit sur les gazons des colonnes croissantes et des treillages mobiles.« (Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 223, Hervorhebung v. Vf.) 381 Vgl. hierzu auch Richard, Paysage de Chateaubriand, S. 119.

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gestaltung bedient, wie sie sich in England – zudem während der Phase seines Londoner Exils – herausgebildet haben. Chateaubriand konstruiert seine Landschaft also solchermaßen, dass durch das Spiel der Gegensätze die beim Wahrnehmungsprozess erwartete Bedeutungsentladung immer weiter hinausgezögert wird. Ein möglicher Sinn verharrt sozusagen schwebend in einem Mittelzustand zwischen den Kontrasten und entzieht sich dem Wunsch des Betrachters, die wahrgenommenen Eindrücke zum Bild einer schönen oder schrecklichen Landschaft aufzustufen. Diesen beiden Landschaftskategorien entstammen die beiden aufgeführten Waldtypen, die jedoch durch die Gegenüberstellung ihre Signalfunktion gegenseitig annullieren, so dass kein Ikonisierungsprozess zustande kommen kann. Die Landschaft besteht schlicht aus zu vielen »sudden variation[s]«,382 als dass ihr Wesen tatsächlich erkannt werden könnte. Sie erfüllt das Kriterium, das Price in den Mittelpunkt der pittoresken Ästhetik gerückt hatte, nämlich durch Komplexität und Bewegung innerhalb der Landschaft, das heißt durch intricacy, eine solche Fülle von Reizen zu produzieren, dass die Neugierde niemals gestillt wird: […] the whole of the one may be comprehended immediately […] if you traverse it in every direction, little new can occur ; while in the other, every step changes the composition […] All such deep coves, and hollows, as are usually found in this style of scenery, invite the eye to penetrate into their recesses, yet keep its curiosity alive and unsatisfied.383

Die Diskrepanz zwischen der Stilisierung der amerikanischen Natur zur paradiesischen Ursprungsstätte und der Konstruktion der Landschaftstableaus selbst, in denen sich wahrnehmungs- und erkenntniskritische Reflexionen artikulieren, ist typisch für den gesamten Voyage en Am8rique. Die Kontexte der einzelnen Tableaus sind durchgehend von der Stimmung der Urspungssuche geprägt, während sich in den Beschreibungen bei genauerer Betrachtung neue Techniken manifestieren, die die Vorstellung einer Gleichgestimmtheit zwischen Mensch und Natur unterlaufen. In dieser Diskrepanz scheint das entscheidende Charakteristikum des Voyage zu liegen, so dass die vorherrschende Lesart, Chateaubriands amerikanische Landschaften dienten der Evokation des infini und stellten exotische Rekonstruktionen des Garten Edens dar, zumindest für dieses Werk revidiert werden muss.384 Es finden sich zahlreiche weitere Beispiele, in denen Chateaubriand mit verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten spielt, um intricacy zu produzieren und die Neugierde des Betrachters wachzuhalten. Im weiteren Verlauf des 382 Price, Essays on the Picturesque, S. 69. Vgl. auch oben, Kap. 2.2.2.2. 383 Ebd., S. 123. 384 Vgl. z. B. Catel, »La couleur am8ricaine ou la tentation panth8iste chez le jeune Chateaubriand«, S. 47ff.; Baudoin, Po8tique du paysage, S. 186f. und S. 246f.

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»Journal sans date« beschreibt er zum Beispiel die Stromschnellen des Ohio Rivers offensichtlich mit dem gleichen Ziel: Le fleuve, / l’endroit des Rapides, a un mille de large. Glissant sur le magnifique canal, la vue est arrÞt8e / quelque distance au-dessous de sa chute par une %le couverte d’un bois d’ormes enguirland8s de lianes et de vigne vierge. Au nord se dessinent les collines de la Crique d’Argent: la premiHre de ces collines trempe perpendiculairement dans l’Ohio; sa falaise, taill8e / grandes facettes rouges, est d8cor8e de plantes; d’autres collines parallHles, couronn8es de forÞts, s’8lHvent derriHre la premiHre colline, fuient en montant de plus en plus dans le ciel, jusqu’/ ce que leur sommet frapp8 de lumiHre, devienne de la couleur du ciel et s’8vanouisse. Au midi, sont des savanes parsem8es de bocages et couvertes de buffles, les uns couch8s, les autres errants, ceux-ci paissant l’herbe, ceux-l/ arrÞt8s en groupe, et opposant les uns aux autres leurs tÞtes baiss8es. Au milieu de ce tableau, les Rapides, selon qu’ils sont frapp8s des rayons du soleil, rebrouss8s par le vent, ou ombr8s par les nuages, s’8lHvent en bouillons d’or, blanchissent en 8cume, ou roulent / flots brunis.385

Zu Beginn der Beschreibung öffnet sich die Perspektive in die Weite des imposanten Stromes. Bereits der zweite Satz bricht jedoch mit der informativen Sachlichkeit des ersten und lenkt den Fokus auf die Wahrnehmungsmodalitäten selbst. Mittels einer der für seinen Stil typischen G8rondif-Konstruktionen (vorzugsweise ohne en), die die Bewegung des Verbs glisser stilistisch aufgreift, inszeniert Chateaubriand auf signifikante Weise den Blick über die Landschaft. Der vorangestellte Nebensatz evoziert für einen Augenblick die perspektivische Tiefenflucht, hält jedoch durch die G8rondif-Konstruktion auch bereits das adversative Element in sich, das dann Thema des Hauptsatzes ist: der Blick ist trotz der Weite des Raumes versperrt und zwar durch eine wild bewachsene Insel. Nicht die Erhabenheit des mächtigen Stromes motiviert die Darstellung, sondern gerade das Objekt, das diesen Effekt durchkreuzt. Der Pflanzenwuchs auf der Insel weist erneut die oben besprochenen Qualitäten auf, die zudem in »enguirland8s« expliziert werden. Er steht in direktem Gegensatz zum Beginn des Satzes, der ein uneingeschränktes Wahrnehmungsfeld angekündigt hatte. Durch diesen Themen- und Objektwechsel und indem die Nennung des Hindernisses durch die Ergänzung seiner Position (»/ quelque distance au-dessous de sa chute«) außerdem verzögert wird, stimuliert der Satz die Neugierde des Lesers. Die gesamte Beschreibung zielt darauf ab, konzeptualisierendes Lesen zu verhindern. Die beiden folgenden Abschnitte sind dem nördlichen und südlichen Terrain gewidmet. Während die Beschreibung der Hügel und ihrer gebrochenen Felswände (»taill8e / grandes facettes rouges«) im Norden Gestaltungsmerkmale des Malerischen aufgreift, wie vor allem bestimmte Lichteffekte und Konturenlosigkeit (»leur sommet, frapp8 de lumiHre, devienne de la couleur 385 Chateaubriand, Voyage en Am8rique, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 211–212.

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de ciel et s’8vanouisse«), realisiert der letzte Abschnitt erneut die Zeichenstruktur des Pittoresken im engeren Sinn. Der Blick wird nun nicht wie oben verstellt, sondern vielmehr dazu gezwungen, zwischen den verschiedenen Objekten hin und her zu springen, so dass die Bedeutungsentladung nicht nur verzögert, sondern letztlich ganz unterdrückt wird. So verteilen sich über die Savannenlandschaft Pflanzen und Büffel nach dem Ordnungsprinzip von Kontrast und Vielfalt. Die gedoppelte Konstruktion »les uns […] les autres […] ceux-ci […] ceux-l/ […]«, die das Prinzip realisiert, wird sogar explizit in »opposant les uns aux autres« noch einmal aufgegriffen. Der anschließende letzte Satz verlegt den Fokus daraufhin wieder auf den Mittelpunkt des Bildausschnitts, die Stromschnellen. Diese haben jedoch keine feste, unmittelbar beschreibbare Erscheinungsform, sondern verändern sich kontinuierlich in Abhängigkeit von den anderen Bildelementen, das heißt im Schein der Sonne, durch den aufbürstenden Wind oder den Schatten der Wolken. Der Naturausschnitt formt sich damit zur pittoresken Landschaft par excellence, indem sich das Prinzip von Vielfalt und Kontrast auf das einzelne Beschreibungsobjekt selbst überträgt. Dieses offenbart vielfältige Erscheinungsformen, die in Relation zur Umgebung stehen, und kann damit immer nur annähernd erfasst werden. Es entbehrt einer eigenen, absoluten Form. Die Tatsache, dass Chateaubriand dieses Beschreibungselement explizit ins Zentrum des Gesamtbildes rückt (»Au milieu de ce tableau«) sowie die verschachtelte Satzstellung verstärken diesen Effekt zusätzlich. Die Satzkonstruktion erschwert den Bedeutungsbildungsprozess während des Lesens, indem die Wahrnehmungsbedingungen den Beschreibungen der möglichen Erscheinungsformen vorangestellt werden. Das Interesse dient hier folglich nicht dem Objekt selbst, sondern »den Voraussetzungen von Bedeutungskonstitutionen und deren Substituierbarkeit«386 auf der Textebene, wie sie das Thema der pittoresken Ästhetik sind. In der Konjugation selon que verbirgt sich der erkenntniskritische Ansatz, der allgemein für die Beschreibung von Landschaft in Chateaubriands Werk konstitutiv ist. Indem sie pittoreske Landschaft ist, dient sie bei genauerer Betrachtung nicht der Darstellung von Wirklichkeit, sondern der Darstellung der Relativität der Wirklichkeit bzw. der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung. Dass das moderne Ich sich durch den beschreibenden Zugang zur Natur in ein reflexives, erkenntniskritisches Verhältnis zu sich selbst setzen kann, thematisiert auch Paul Geyer in einer Untersuchung zu Chateaubriands Landschaft. In seinem Buch »Modernität wider Willen. Chateaubriands Frühwerk« stellt er die These auf, dass die correspondance-Poetik

386 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 50.

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[…] [i]m spielerischen Umgang mit vorklassischen Prinzipien der Weltorientierung […] in einer Traditionsreihe Romantik-Symbolismus-Surrealismus einen modernen, abstrakt-reflexiven Umgang mit der Sprache und ihrer wirklichkeitsmodellierenden Funktion ein[übt].387

Als Beispiel einer solchen Funktionalisierung von Sprache durch die romantische Korrespondenzlandschaft führt er Chateaubriands oben besprochene Nuit am8ricaine auf, auf deren Struktur nun noch einmal zurückzukommen ist. Eine ausführliche Analyse der Naturbeschreibung (im Vergleich zu Bernardins »Nuages des Tropiques« aus den Ptudes de la Nature) führt Geyer zu der Schlussfolgerung, dass Chateaubriand in seiner dichterischen Darstellung der Landschaft bereits die poietische Wende und damit die »Umorientierung der Sprache von einer instrumentell-verweisenden auf eine reflexive Funktion«388 realisiert. Die These, dass die literarische Naturbeschreibung im Allgemeinen ideal geeignet ist, um neben den Modalitäten der Wahrnehmung bzw. dem Verhältnis zwischen Mensch und Welt, wie es hier bereits ausführlich thematisiert wurde, auch die Funktion der Sprache kritisch zu hinterfragen, bildet den Ausgangspunkt von Geyers Untersuchung: Ausgerechnet der beschreibende Zugang zur Natur wird […] zur Keimzelle eines neuen Sprachbewußtseins und damit zum Ur-Ei sprachkünstlerischer Modernität.389

Er untersucht die Nuit am8ricaine im Hinblick auf die in ihr enthaltenen syntaktischen Verknüpfungsweisen und textinternen Semantisierungsprozesse, die zur Kohärenzbildung beitragen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass entgegen der makrostrukturellen Organisation des Textes zum Tableau, die Chateaubriand ja wie oben gesehen selbst explizit vornimmt, eine deutliche Auflockerung der mikrostrukturellen Organisation, das heißt der inneren Kohärenz des Textes stattfindet. Als Indikatoren für diese Auflockerung führt Geyer folgende Merkmale auf: die extrem starke Reduktion der Demonstrativa und anaphorischen Verweise, die Vermeidung unterordnender Konjunktionen (bis auf eine) und stattdessen die Fülle an beiordnenden Konjunktionen und Partizipialkonstruktionen sowie schließlich eine allgemeine Dominanz von Nennwörtern bzw. eine Einebnung von Abstrakta.390 Es handelt sich damit um Merkmale, die auch in den hier bisher untersuchten Textstellen beobachtet wurden und denen allen die Funktion gemein ist, das Zustandekommen hierarchischer, übergreifender Ordnungen innerhalb des Textes zu verhindern. Dessen Binnenstruktur ist damit gekennzeichnet durch Horizontalität und das 387 388 389 390

Geyer, Modernität wider Willen, S. 13. Ebd., S. 114. Ebd., S. 85. Vgl. zur Untersuchung der syntaktischen Strukturen ebd., S. 113–118.

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Prinzip der Simultaneität, das aus der »sukzessive[n] Semantisierung von Wort zu Wort« und der »erhöhte[n] semantische[n] Interaktion zwischen den Nennwörtern« resultiert.391 In der Nuit am8ricaine erfährt das Prinzip der Simultaneität und der fluktuierenden Semantik eine besondere Akzentuierung durch die beiden vorherrschenden Bildfelder, die als solche von Geyer ebenfalls detailliert untersucht werden. Es handelt sich um die Bildfelder Stoff/Gewebe und Meer/Wasser. Besonders Ersteres ist uns bereits aus zahlreichen Vergleichen der bisher betrachteten Textpassagen bekannt.392 In der Nuit am8ricaine stellt die Stoffmetaphorik jedoch als dichtestes Bildfeld den konstituierenden Gehalt der Beschreibung dar. Ein Blick in den Text kann dies schnell bezeugen.393 So können die Transformationen der Wolken, die das Himmelsschauspiel bestimmen, die unterschiedlichsten stofflichen Erscheinungsformen annehmen: einmal erstrecken sich die vom Mond beschienenen Wolken »en zones diaphanes et onduleuses de satin blanc«, einmal erscheinen sie als »flocons d’8cume«, und auch die zweite Variation des Himmelsschauspiels (»Une autre fois…«) dient der Evokation von Stofflichkeit. Sie durchzieht bereits den ersten Teil des Satzes, in dem »les couches horizontales« und »les rides parallHles« durch das vorangestellte Signal »grHve« und die nachgestellte Evokation der Meereswogen nur für einen kurzen Moment für das Bildfeld Meer/Wasser nutzbar gemacht werden. Bereits die Bezeichnung »voile« für die Wolkenkonstellation lässt wieder die Stoffmetaphorik dominant werden, die durch die Nennung der Qualitäten »mollesse« und »elasticit8« für die »grands bancs d’une ouate 8blouissante de blancheur« dem Bild gegenüber der ersten Variation nun auch explizit eine synästhetische Dimension verleihen. Gerade mit Bezug auf diese synästhetische Evokation von Sanftheit, Reinheit (– die Farbe Weiß ist in der Beschreibung omnipräsent –) und weiter Ebenmäßigkeit konnte in Kapitel 3.1.2 gesehen werden, inwiefern die Szene als Realisierung der romantischen »m8taphysique des fonds« gelesen wird.394 Laut Berchet stellt die Szene ein Musterbeispiel für die Beschwörung der »correspondances fugitives«395 und die auratische Überhöhung der Naturerscheinungen zu Offenbarungen kosmischer Gleichgestimmtheit dar, die seiner Auffassung nach für Chateaubriands Landschaftsdarstellung 391 Ebd., S. 116 (Hervorhebung dort). 392 Das Bildfeld Stoff/Gewebe findet sich auffallend häufig bei Himmelsbeschreibungen und kann die ausgefallensten Formen annehmen. Vgl. z. B. auch Cinq jours / Clermont, in: Œuvres complHtes, Bd. 6–7, S. 800. 393 S. Kap. 4.1.2 dieser Arbeit, in dem die Textpassage vollständig zitiert wurde. 394 Zur Darstellung der Tiefendimensionalität vgl. Warning, »Romantische Tiefenmetaphysik und moderner Perspektivismus«, S. 296f.; zu der entsprechenden Interpretation der Stoffmetaphorik vgl. z. B. Grevlund, Paysage int8rieur et paysage ext8rieur, S. 72f. 395 Berchet, Chateaubriand ou les al8as du d8sir, S. 57.

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charakteristisch ist. Die Stoffmetaphorik und mit ihr die Farbe Weiß deutet er demgemäß als Instrumente der Vereinheitlichung und Reinigung des Wahrnehmungsausschnitts von möglichen Widerständen. Als »univers liquide et perm8able, d8pourvu de toute asp8rit8«396 präsentiere sich die Landschaft als transzendenter Raum: »La Nuit chez les sauvages 8clate de blancheur, mais sans cesse adoucie et pour ainsi dire immat8rialis8e.«397 Das in den bisher untersuchten Landschaftsszenen beobachtete Vorkommen der Gewebemetaphorik und die bereits identifizierten Gestaltungsmechanismen der pittoresken Ästhetik legen demgegenüber eine andere Lesart der Nuit am8ricaine nahe. Auch die extrem auffällige Dominanz der Stoffmetaphorik bestärkt die These, dass ihre Deutung als bloßes Mittel zur Veranschaulichung kosmischer Harmonie und reibungsloser Tiefenflucht zu kurz greift. Bei der Beschreibung des Himmelsschauspiels entwickelt das Bildfeld Stoff/Gewebe eine solche Intensität und Dynamik, dass andere Bildkonstituenten darin gänzlich untergehen. Chateaubriand flicht in die Beschreibung des Gewölbes drei Bildspender zum Thema Landschaft ein: einen Vergleich der Wolken mit schneebedeckten Bergspitzen, mit umherstreifenden Schafherden und mit den Wogen des Meeres. Dennoch wird die Visualisierung dieser Wolkenformationen durch die Einbildungskraft trotz der Anschaulichkeit, die die drei Bilder bieten, durch die Textstruktur erschwert oder sogar ganz verhindert. Die Beschreibung ist solchermaßen konstruiert, dass die lange Reihe von Vergleichen und Metaphern den eigentlichen Beschreibungsgegenstand, den Nachthimmel, niemals konkret genug werden lassen, als dass der Leser zu einem Augenblick tatsächlicher Imagination veranlasst würde. Im Gegenteil folgt er den Bildern sukzessive durch den Text, woraufhin sie beginnen, miteinander zu agieren und sich gegenseitig zu beeinflussen. Verknüpft z. B. durch nebenordnende Konjunktionen (»ou«, »et«), Temporaladverbien (»peu / peu«, »Une autre fois«) oder den Doppelpunkt im letzten Satz, formieren sie sich in fließendem Übergang zu396 Ebd., S. 58. 397 Ebd., S. 51. Warning bietet eine ähnliche Interpretation der Nuit am8ricaine und ihrer aufgeführten Metaphorik, ohne dabei jedoch auf das Bildfeld Stoff/Gewebe näher einzugehen. Er konstatiert den auffälligen Überschuss an Sekunda gegenüber dem jeweiligen Primum, im obigen Beispiel also die Wolkenformation, und deutet sie im Hinblick auf die seiner Meinung nach für Chateaubriand typische Totalisierung der Perspektive und Evokation kosmischer Ganzheit: »So ist alles mit allem in kosmischer Sympathie, in einer göttlichen analogia entis verbunden: Im Bilde des Himmels werden Berge, Meere und Ebenen geschaut. Entstammt das Sekundum ausnahmsweise einmal dem kulturellen Bereich, so fokussiert der Vergleich gerade nicht das Kulturelle, sondern ein visuelles oder taktiles Merkmal […], das sich bruchlos in die affektive Korrespondenz von Ich und Landschaft einfügt.« (»Romantische Tiefenmetaphysik und moderner Perspektivismus«, S. 301) Die Metaphorik wird hier also dahingehend gedeutet, dass die wachgerufenen Bilder als Teile eines Mikrokosmos Erde fungieren, der die göttliche Schöpfung mit dem betrachtenden Ich vereint.

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einander. Hierin liegt das Prinzip der Simultaneität begründet, das Geyer als konstitutiv für die Nuit am8ricaine bezeichnet. Chateaubriands Metaphorik ist ›lebendig‹: die immer neuen sekundären Bilder verselbstständigen sich soweit, dass letztlich keine Bedeutungszuweisung mehr zustande kommt und das ursprüngliche, primäre Beschreibungsobjekt unter dem eigendynamischen Netz neuer Bilder verdunkelt wird. Geyer schlussfolgert nach einer ausführlichen Analyse der Sekunda: Der Leser muss erst den gesamten sekundären Benennungszusammenhang konstruieren, bevor er ihn auf den primären zurückbeziehen kann. Hiermit gewinnt aber das beschreibende Secundum so viel Eigengewicht, daß keine einseitig-illustrierende Bedeutungsbeziehung zustande kommt.398

Vor diesem Hintergrund wird Chateaubriands Akzentuierung der Stoffmetaphorik besonders aussagekräftig. Im Gegensatz zum Bildfeld Landschaft stellt sie den einzigen Bildbereich dar, der durch seine Konstanz und Intensität ausreichend Aufmerksamkeit erhalten kann, um tatsächlich Bedeutung zu konstituieren. Folgerichtig stellt er im letzten Satz der Himmelsbeschreibung das nunmehr einzig vorhandene Bildfeld dar. Die Stoff- und Gewebemetapher wird zur Chiffre für den Text selbst. Er präsentiert sich als Textur, unter deren engmaschigem Gewebe aus diffundierenden Verweisen das ursprünglich zu Beschreibende immer mehr verdeckt wird, bis es letztlich ganz aus dem Wahrnehmungs- und Denkbereich verschwindet. Die Gewebemetapher, die nach dem Mittelalter besonders in der Literatur der Romantik wieder eine zentrale Rolle spielt, wie Gerhart von Graevenitz in seinem bekannten Aufsatz herausstellt,399 repräsentiert hier den Wandel von einer instrumentell-verweisenden zu einer autoreferenziellen Sprache. Sie lenkt die »Aufmerksamkeit von einem zu re398 Geyer, Modernität wider Willen, S. 120. Den Überschuss an sprachlichen Bildern für die Beschreibungsgegenstände und die sich daraus ergebende Schwierigkeit, sich das Gesamtbild vorzustellen, konstatiert auch Lehtonen: »[…] l’abondance des d8tails empÞche de bien voir l’ensemble. Cette impression est due sans doute / la profusion des images, un peu trop nombreuses et h8t8rogHnes; une image nuit parfois / l’effet de l’autre.« (L’expression imag8e, S. 524f.) Diese Tatsache deutet sie jedoch, in Zusammenhang mit der Beobachtung, dass Chateaubriand die Metaphorik in den späteren Überarbeitungen der Szene ausdünnt und konkretisiert, als Defizit der frühen Version. Von den sechs verschiedenen Bildern für die Wolkentransformationen bleibt in der letzten Variante der M8moire d’outre-tombe beispielsweise nur eines übrig. Lehtonen führt in Übereinstimmung mit den hier angestellten Überlegungen aus, dass die kondensierteren Metaphern eine höhere Anschaulichkeit und Suggestionskraft bewirken, was sie jedoch als kunstvollere Darstellungsmethode des reiferen Autors bewertet. (Vgl. ebd., S. 526ff.) 399 Vgl. Gerhart von Graevenitz, »Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie«, in: Walter Haug / Burgart Wachinger (Hrsg.), Literatur, Artes und Philosophie (Fortuna vitrea. 7), Tübingen, Niemeyer, 1992, S. 229–257.

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präsentierenden Objekt auf die Semantisierungsprozesse selbst.«400 Zu dieser Einsicht kommt auch B. F. Bart, der sein Interesse ebenfalls auf die Stoff- und Gewebemetaphorik der Szene fokussiert: [Chateaubriand] changed images and developed an extended metaphor based on associated ideas of appearance and texture in various types of cloth.401

Eine Analyse der »objective correlatives« der Landschaftsdarstellung führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass sie keineswegs auf die Vermittlung eines Beschreibungsgegenstandes abzielt, sondern vielmehr mit den konzeptuellen Grenzen und Möglichkeiten von Sprache experimentiert. Es handele sich bei der Szene um […] a carefully formalized tableau, a spectacle. The reader’s experiencing of the tableau is not without separate, discrete ›objective correlatives‹ of sense perceptions; but the moonrise itself in its totality is not the objective correlative. As a matter of fact, there is no overall correlative. The description thus far exists for itself, in itself, as a formal entity.402

Chateaubriands Landschaftsdarstellung konstituiert sich in langen Ketten von Vergleichen und Metaphern. Die Funktion dieser Bildlichkeit wird jedoch durch Bezeichnungen wie einen »naiv gläubigen primären Sprachsubstantialismus«403 oder einen »optimisme du signifiant«404 verkannt. Chateaubriands Metaphern sind ›lebendig‹ in Ricœurs Sinn des Konzepts und stellen damit eher die semantische Verschiebung, die Differenz zum Besprochenen, als den Beschrei400 Geyer, Modernität wider Willen, S. 119. 401 B. F. Bart: »Descriptions of Nature in Chateaubriand«, in: Switzer (Hrsg.), Chateaubriand, S. 83–93, hier S. 86. 402 Ebd., S. 85. Bart vergleicht die hier vorliegende Version der Nuit am8ricaine mit einer Mondlandschaft Flauberts aus Madame Bovary und stellt interessante Ähnlichkeiten im Metapherngebrauch fest. Beide Szenen entbehren laut Bart der inneren Kohärenz, so dass die sprachlichen Bilder sich verselbstständigen, disparat erscheinen und nicht auf einen übergeordneten Beschreibungsgegenstand hin organisiert sind. (Vgl. bes. S. 91f.) 403 Warning, »Romantische Tiefenmetaphysik und moderner Perspektivismus«, S. 298. Seine Analyse der Nuit am8ricaine führt Warning zu folgender Schlussfolgerung über Chateaubriands Sprache: »Das also ist Chateaubriands Stil: Sprache eines Ich gewiß, aber eines Ich, durch das hindurch das Numinose selbst sich vermittelt und das hierin die exemplarische Individualität eines quasi-göttlichen Schöpfers, eines auctor annimmt. Mit dieser Sprache füllt es die Unendlichkeit des perspektivisch geschauten Raums. Die Tiefe also, auf die dieser Raum sich öffnet, ist nicht abgründig, sondern erfüllt, erfüllt von einer Wahrheit, für die die Sprache immer schon als Verheißung einsteht.« (Ebd., S. 301) 404 Richard, Paysage de Chateaubriand, S. 162. Richard stellt den »optimisme du signifiant« dem »ennui […] du signifi8« entgegen und impliziert damit Chateaubriands Glaube an »un soi-disant language imm8diat de la Nature.« Er präzisiert: »L’optimisme du signifiant […] va jusqu’/ lui faire croire par instants / une expressivit8 imm8diate des signes.« (S. 162 und S. 164)

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bungsgegenstand selbst heraus.405 Der Verweis auf etwas Außenliegendes bleibt aus, »l’8criture […] ne fait que se regarder elle-mÞme.«406 Indem Chateaubriand aber immer neue Bilder für ein und denselben Beschreibungsgegenstand aneinanderknüpft, reflektiert er nicht nur die begrenzten Möglichkeiten der Sprache, Wirklichkeit zu transportieren, sondern verleiht der Darstellung auch eine ganz spezifische Struktur. Diese ist durch ein Paradox gekennzeichnet: Obwohl der Autor ein sinnliches Sujet wählt – die mondbeschienene Urlandschaft –, den Ich-Erzähler und Betrachter der Landschaft im Rahmen der Beschreibungspassage als affektiv mit der Natur verbunden inszeniert und eine synästhetische Darstellung konzipiert, stimuliert die Beschreibung nicht die Phantasie des Lesers. Dies hat den einfachen Grund, dass mögliche Assoziationen bereits in der Darstellung enthalten sind. Sie thematisiert weniger die Objekte selbst, als vielmehr die Wahrnehmungs- bzw. Rezeptionsprozesse, die die Objekte auslösen können. Ähnlich der lückenlosen Kette aus Vergleichen und Metaphern für einen einzigen Beschreibungsgegenstand, überlasten auch im zweiten Teil der Beschreibung die Sekunda den Rezeptionsprozess zu sehr, als dass die individuelle Imagination des Lesers angeregt werden könnte. Nachdem durch verschiedene Bewegungsverben, angeführt von dem signifikanten »flottoit«, der oben beschriebene Effekt der diffundierenden Semantisierungsprozesse noch einmal aufgegriffen wird, folgen zwei besonders auffällige Beschreibungen eines Baches und der Vegetation der Savanne. Der Bach schlängelt sich zu Füßen des Beobachters – einziges noch zu findendes Signal von dessen Präsenz – und vom Mond stellenweise beleuchtet durch die Landschaft und das Dickicht, so dass er einen ungewöhnlichen Vergleich auslöst: L’8troit ruisseau qui couloit / mes pieds, s’enfonÅant tour / tour sous des fourr8s de chÞnes-saules et d’arbres / sucre, et reparoissant un peu plus loin dans des clairiHres tout brillant des constellations de la nuit, ressembloit / un ruban de moire et d’azur, sem8 de crachats de diamants, et coup8 transversalement de bandes noires.407

Diese Synthetisierung des teils verdeckten, teils freiliegenden Flusses zu dem bläulich untersetzten und von diamantenem Funkeln besäten Moir8bandes hat bereits die unterschiedlichsten Interpretationen hervorgerufen.408 Interessant ist 405 Vgl. dazu auch Geyer, der die ›lebendige‹ Metapher beschreibt als einen »produktive[n] Störfaktor im paradigmatischen und syntagmatischen Ordnungssystem der Nennwörter einer Sprache. Auf diese Weise lenkt sie die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf dieses System selbst und auf seine Differenzqualität zum Besprochenen.« (Modernität wider Willen, S. 108) 406 Barthes, Le degr8 z8ro de l’8criture, S. 11. 407 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1200. 408 Vgl. z. B. Warning: »Die etwas irritierenden diamantglitzernden Orden […] auf dem Moir8band des Baches verdanken ihre Aufwertung zum secundum der im Wasser sich

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in unserem Zusammenhang vor allem die Komplexität des Bildes und der Eindruck maximaler Verwobenheit, den das Moir8-Muster auch ohne die zusätzlichen Effekte bereits evozieren würde, der aber besonders durch die quer verlaufenden schwarzen Streifen noch verstärkt wird. Der Eindruck wiederholt sich bei der Anordnung der Birken, die sich effektvoll in ihr Umfeld fügen: Des bouleaux dispers8s Å/ et l/ dans la savane, tantit, selon le caprice des brises, se confondoient avec le sol, en s’enveloppant de gazes p.les, tantit se d8tachoient du fond de craie en se couvrant d’obscurit8, et formant comme des %les d’ombres flottantes sur une mer immobile de lumiHre.409

Dieser kunstvolle Satz vereint sowohl die bereits besprochenen syntaktischen Strukturen »Å/ et l/« und »tantit […] tantit« als auch den ebenfalls dargelegten Effekt, die Landschaftselemente wandelbar in Abhängigkeit zu ihrer Umgebung darzustellen. Je nach dem Spiel des Windes hüllen sich die Birken in hellen Nebel oder in Dunkelheit, wodurch sie entweder mit dem hellen Hintergrund verschmelzen oder sich als treibende Schatteninseln davon abheben, eine Bewegung, in der darüber hinaus wieder die Stoffmetaphorik anklingt (»s’enveloppant«, »se couvrant«). Die Bäume bilden damit ein wandelbares und in sich bewegtes Raster, das sich gleich dem Flusslauf als Muster über die Landschaft legt. Durch die Wiederholung des Verbs »flotter« sowie die Fülle der Gerundien betonen beide Konstruktionen die Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Landschaftsbildes. Beide Darstellungen sind sowohl syntaktisch als auch inhaltlich zu komplex, als dass sie, um auf die aufgestellte These zurück zu kommen, als adäquate Impulse für die individuelle Phantasie des Lesers dienen könnten. Der Rezipient des Textes ist mit der Realisierung der Elemente und ihrer Transformierung in greifbare Ideen, das heißt mit der Umwandlung von complex ideas in simple ideas beschäftigt.410 Diese ›Überlastung‹ seines Rezeptionsvermögens ist so stark, dass er nicht dazu kommt, eigene Assoziationen einzubringen. Hierin liegt das zentrale Strukturprinzip von Chateaubriands pittoresker Landschaft. Sie hat das Assoziationsprinzip bereits in sich aufgenommen, sie »warte[t] Assoziationen nicht einfach ab, weil sie im puren Nebeneinander des Unähnlichen bereits Kontiguitätsverhältnisse vorstell[t].«411 spiegelnden Sterne wohl primär der Tatsache, daß sie wiederum eine A-Sequenz auf engstem Raum ermöglichen« (»Romantische Tiefenmetaphysik und moderner Perspektivismus«, S. 301); oder Tison-Braun, die in Bezug auf die Stoff-Metaphorik von einem »d8cors d’op8ra« und einem »style de tapissier-d8corateur« spricht. (Po8tique du paysage, S. 62) Auch wenn die Wahl des Bildes wiederholt mit dem Louis XVI-Stil in Verbindung gebracht wird, löst sie doch einen »effet bizarre« aus, wie Lehtonen konstatiert. (L’expression imag8e, S. 525) 409 Chateaubriand, Essai sur les r8volutions, in: Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1200. 410 Vgl. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. 411 Ebd., S. 168.

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Beispiele hierfür sind die Reihung der Vergleiche für die Wolkenkonstellation aus unterschiedlichen Bildbereichen oder die Analogisierung des Flusslaufs mit dem Moir8band. Aus dieser spezifischen Strukturalität der Landschaft erschließt sich erst die volle Dimension der sprachreflexiven Funktion, die der Szene von Geyer und Bart zugewiesen wurde. Dem sprach- und erkenntniskritischen Ansatz, der lebendigen Metaphorik und der Diskursivität der Darstellung entspricht als Landschaftstyp die pittoreske Landschaft. Indem sie die Zeichenstruktur des Pittoresken realisiert, thematisiert die Landschaft der Nuit am8ricaine die bedeutungsbildende Funktion von Sprache und problematisiert damit letztlich den Zugang zur Wirklichkeit, statt den in der Forschung so oft beobachteten Gleichklang zwischen Natur und Betrachter heraufzubeschwören. Hierin liegt die zentrale Funktion von Chateaubriands Landschaften, wie nun abschließend geschlussfolgert werden kann. Die pittoreske Ästhetik versteht die Realität als ein undurchdringliches Gewebe von particular things, von »konkreten und in sich unendlich komplexen Phänomenen«, sie »simuliert eine Situation vor jeder Ordnung, eine Situation, die sich nur um den Preis arbiträrer Konstruktionen vereindeutigen ließe.«412 Chateaubriands pittoreske Landschaftsdarstellungen lassen auf ein Verständnis der Sprache als ein System solcher arbiträrer Konstruktionen schließen. Die Gemeinsamkeiten zwischen der Ästhetik des Pittoresken und dem poststrukturalistischen Sprach- und Textbegriff, der sich ebenfalls um die Erkenntnis der Arbitrarität und Labilität logifizierender Bedeutungsbildungsprozesse rankt, wurde oben bereits angesprochen und wird uns auch bei Eichendorff wiederbegegnen. An dieser Stelle kann zunächst ein essentieller Unterschied zwischen der pittoresken Landschaft und der Korrespondenzlandschaft festgehalten werden, die sich damit als zwei einander gegenüberstehende Landschaftsparadigmen der Romantik erweisen. Als Produkt der romantischen Ausdrucks- und Genieästhetik stellt die Korrespondenzlandschaft das persönliche Erlebnis der Natur und damit das Subjekt selbst ins Zentrum des Interesses. Dem melancholischen Romantiker in der Tradition Ren8s präsentieren sich die Naturphänomene nicht nur als Impulse zur Thematisierung oder Erforschung der eigenen Befindlichkeiten, sondern sogar als schlichte Materialisierung und Veranschaulichung seiner seelischen Innenwelt.413 Dies konnte in Kapitel 3.1.2 zum Beispiel anhand der Gewitterszene aus Atala sehr anschaulich beobachtet werden. Die Natur der Korrespondenzlandschaft ist allein von der Subjektivität des Ichs aufgeladen. In dieser Hinsicht kann die pittoreske romantische Landschaft als Gegenteil der Korres412 Ebd., S. 170. 413 Zu dieser völligen Aneignung der Landschaft durch das romantische Ich und der Weiterentwicklung von Rousseaus vorromantischer Korrespondenzpoetik durch Chateaubriand vgl. Baumann, Räume der rÞverie, S. 101ff.

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pondenzlandschaft bezeichnet werden, da sie das Subjekt ganz aus sich verdrängt. Dies zeigt sich in den betrachteten Szenen auf den ersten Blick bereits an dem völligen Fehlen von Verben des Denkens und Fühlens sowie insbesondere im Fall der Nuit am8ricaine an der in Kapitel 3.1.2 beobachteten Problematisierung der wenigen Wahrnehmungsverben. Vor allem offenbart sich die Annullierung der Subjektivität aber anhand der Struktur der Landschaft. Diese stellt ganz eindeutig den dominanten Aspekt der betrachteten Beschreibungen dar, da Chateaubriand sie wie gesehen durch die Stoff- und Gewebemetaphorik oftmals sogar explizit macht, ein Aspekt, der in der Nuit am8ricaine besonders hervorspringt. Die Dichte und Horizontalität der Struktur stellen Chateaubriands Alternative zur Tiefendimensionalität dar, die der Korrespondenzlandschaft durch die Subjektivität des empfindsamen Ichs verliehen wird. Im Sinn des romantischen Sprachsubstanzialismus lebt die Korrespondenzlandschaft, wie der Name schon sagt, von der Fähigkeit der Sprache auf etwas Außenliegendes verweisen zu können. Chateaubriands Landschaftstableaus können als Ergebnis unserer Analysen dagegen als »tendenziell unendlich differenziertes Kontrastmuster«414 verstanden werden, in dem die Elemente gegenseitig aufeinander verweisen ohne einen Wechsel auf die Interpretationsebene zu veranlassen. Insofern tragen sie auch entscheidend zur Weiterentwicklung des literarischen Tableaus bei, indem nämlich die Darstellung von Dynamik und Veränderungsprozessen im Naturausschnitt, die durch die Sequenzialität des Textes gegenüber dem Gemälde bereits begünstigt wurde, durch die pittoreske Struktur des Bildes maßgeblich gesteigert wird. Das Kontrastmuster der Landschaft unterbindet die suggestive Kraft eines genius loci und konterkariert die Vorstellung des intuitiven Erfassens der Natur durch den empfindsamen Menschen. Die betrachteten Landschaften sind keine Räume der rÞverie und treten damit eindeutig aus Rousseaus Naturparadigma heraus, auch wenn Chateaubriand den affektiven Einklang zwischen Mensch und Natur im narrativen Rahmen der Beschreibungen oftmals bewusst heraufbeschwört. In diesem Sinn erweisen sich die Reiseberichte und in erster Linie der Voyage en Am8rique tatsächlich als Avantgarde-Medien der zeitgenössischen Landschaftsbeschreibung.

3.1.4 Zusammenfassung Die Untersuchungen konnten bisher zeigen, dass das romantische Landschaftsparadigma einer sentimental erfahrenen, subjektivierten Natur der Ästhetik des Pittoresken, wie sie in der englischen Landschaftstheorie des ausge414 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171.

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henden 18. Jahrhunderts entwickelt wird, auf spannende Weise entgegensteht. Beide Landschaftstypen sind ebenso wie die epistemologischen Bedingungen, aus denen sie hervorgehen, charakteristisch für Chateaubriands Werk, so dass durch die Analyse der entsprechenden Tableaus ein neuer Blickwinkel auf dieses eröffnet werden konnte. Bei aller Vielfalt seiner literarischen Landschaftsdarstellungen präsentiert sich die Subjektivierung der Natur durch die Empfindungen des Ichs als dominanter Diskurs für die Annäherung an das Thema. Eine kritische Prüfung der betreffenden Beschreibungsmechanismen konnte jedoch offenlegen, dass Chateaubriands Werk in dieser Hinsicht vielmehr an einem Wendepunkt zu situieren ist, an dem sich bereits die Suche nach neuen Formen des Umgangs mit Sprache und Wirklichkeit durchschlägt. Mit vielen seiner Landschaftstableaus überschreitet Chateaubriand damit sogar die epochemachende Aufwertung der Imagination, die er in seinem apologetischen G8nie du christianisme und der Beschreibung des vague des passions als Grundbefindlichkeit des modernen Daseins vornimmt. Im ersten Kapitel unserer Analyse konnten die Funktionsweisen der Korrespondenzlandschaft anhand eines Beispiels aus Ren8 ausführlich dargelegt werden. Aus dem Zusammentreffen der überbordenden Einbildungskraft eines empfindsamen Ichs mit einer als leer und verheißungslos empfundenen Natur entsteht die romantische Stimmungslandschaft, mit der das Subjekt folglich seine eigene Welt erschafft. Durch ihre Verweiskraft kompensiert die Korrespondenzlandschaft den Weltschmerz des modernen Menschen. Diese Korrespondenz zwischen Landschaft und Betrachter ist jedoch nicht immer gewährleistet, auch nicht wenn Chateaubriand sein Tableau selbst, wie es häufig geschieht, als erhabene oder göttlich beseelte Landschaft klassifiziert. Am Beispiel einer Landschaft aus Atala sowie der Nuit am8ricaine konnte beobachtet werden, wie der Betrachter in solch vermeintlich erhabenen Landschaften vielmehr aus dem Bildbereich verbannt und die Nennung der entsprechenden Stimmungen in den Handlungsrahmen abgedrängt wird. Das essentielle Wechselspiel zwischen dem Landschaftsobjekt und seiner Erfahrung durch den Betrachter offenbart sich hier im gleichen Maß als problematisiert wie die Ästhetik des Erhabenen konventionalisiert und entleert erscheint. Die Beschaffenheit der Tableaus konnte stattdessen die These stützen, dass Chateaubriand eine Loslösung der Landschaft vom correspondance-Bezug realisiert und das solchermaßen ›verdinglichte‹ Landschaftsbild zu einem Erprobungsraum neuer ästhetischer Möglichkeiten öffnet. Als solches Medium des Experimentierens mit neuen Zugangsmöglichkeiten zur Natur und der Reflexion über die Grenzen und Bedingungen dieses Zugangs konnten sich in den anschließenden Untersuchungen vor allem die Landschaften der Reiseberichte erweisen. Die Beschreibungen scheinen hier offenbar befreit von dem Versuch, die ohnehin als unkontrollierbar erkannten Leiden-

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schaften an die Landschaftsphänomene zu binden, so dass der autonome, ästhetische Reiz der Landschaft in den Mittelpunkt des Interesses rücken kann. In diesem Bereich schlägt sich die eigentliche Innovationskraft von Chateaubriands Landschaftstableaus nieder, wie durch die Extrapolierung ihrer pittoresken Gestaltqualitäten gezeigt werden konnte. Unter Berücksichtigung des ambivalenten Echos, das die Tableaus bei den zeitgenössischen Kritikern und Kennern der po8sie descriptive auslösten, konnte beobachtet werden, wie Chateaubriands Landschaftstableaus sich zu malerischen, durch Vielfalt und Kontrast die Sinne reizenden, aber in sich geschlossenen, dichten Bildern formen. Während sich hierin die Prinzipien des Pittoresken »taken in its most fundamental sense« manifestieren, das heißt seine »pictorial composition«, »the typical picturesque preference for the composed view from a low point to a spectacular but sprawling vista« und die »picturesque celebration of clouds«415, konnte eine tiefergehende Untersuchung der Struktur der Tableaus ihre wahrnehmungsund erkenntniskritischen Implikationen ans Licht bringen. In der schon von den Zeitgenossen beobachteten und teilweise abgelehnten neuartigen Lebendigkeit von Chateaubriands Beschreibungen manifestiert sich bereits ein spielerischer Umgang mit den Möglichkeiten der Sprache, der in die Moderne weist. So erweist sich die Konterkarierung der Interpretierbarkeit des Bildes, »[c]es jeux sur la forme qui prennent le risque de lib8rer les pulsions au lieu de les canaliser«416, als zentraler Aspekt der Landschaftsdarstellungen. Ihre pittoreske Struktur hält den Betrachter im Rezeptionsprozess fest, überfordert ihn teilweise mit der Fülle der Einzelelemente, die sich in Relation zu ihrer Umgebung zudem ständig verwandeln. Durch den beschreibenden Zugang zur Natur erprobt und hinterfragt Chateaubriand die Darstellbarkeit der Wirklichkeit und lenkt den Blick auf die Bedeutungsbildungsprozesse selbst. Die Wahrnehmung der Landschaft avanciert zum eigentlichen Thema des Tableaus, wenn eine Beschreibung zum Beispiel dadurch motiviert wird, dass eine aus der Ferne ebenmäßig erscheinende Felsenoberfläche sich bei näherer Betrachtung als zerklüftet – und daher optisch reizvoll – erweist. Indem das Landschaftsbild nach den Prinzipien contrast, variety und intricacy strukturiert ist und auch nach dem Rezeptionsakt ein Nebeneinander des Unähnlichen bleibt, treten die Semantisierungsprozesse als eigentliches Objekt der Darstellung hervor. Die Vorstellung der Wirklichkeit als ein dynamisches, in sich unendliches und für die menschliche Wahrnehmung nicht erfassbares Gefüge artikuliert sich in den vielfältigen Vergleichen der Landschaftserscheinungen mit gewebeartigen Formen, wie den »treillages mobiles«, die die Sonnenstrahlen auf dem Boden produzieren oder den »r8seaux de corail«, mit denen der verflochtene Pflan415 Price, »The Picturesque Moment«, S. 266. 416 Bercegol, »Pr8sentation«, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 38.

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zenwuchs beschrieben wird. Die Gewebemetapher wird zur Chiffre der Landschaftsdarstellung, die die Bedingungen ihrer Konstruktion und Lesbarkeit mitreflektiert. So konnte auch in den zahlreichen Stoffmetaphern der Nuit am8ricaine, die deren dominantes Bildfeld darstellen, eine völlig neue Bedeutungsdimension der Szene offengelegt werden. Chateaubriands Landschaften, allen voran die amerikanischen Ursprungslandschaften sind durch ein Paradox gekennzeichnet, das sich als konstitutiv für den gesamten Voyage en Am8rique erwiesen hat: Während im Handlungsrahmen der Beschreibung meist ein affektiver Einklang zwischen Mensch und erhabener Natur heraufbeschworen wird, präsentiert sich die Landschaft selbst als eigendynamisch und befreit von jeglichen Spuren des Betrachters, der ihr eine über ihre bloße Visualität hinausgehende Bedeutung verleihen könnte. Chateaubriands Umgang mit der Sprache, wie er sich in seinen Beschreibungen niederschlägt, driftet bereits ab von dem apologetischen Anspruch, der einige seiner Werke kennzeichnet. Dies ließe sich in einer weiterführenden Betrachtung auch für die fiktionalen Werke belegen, deren Weltentwürfe auf der Handlungsebene nicht selten in einem spannenden Widerspruch zu der modernen Eigendynamik der Landschaftstableaus stehen.417 Auch seine pittoresken Landschaften und die Rolle, die der Betrachter darin einnimmt, verweisen also schließlich darauf, wie deutlich Chateaubriands Werk an einem Wendepunkt der Geistesgeschichte zu situieren ist, wovon unsere Untersuchung ausgegangen war. Während die Kontexte der Landschaftstableaus noch das Sinnund Selbstvergewisserungsbedürfnis des Ichs widerspiegeln, können die Landschaften selbst bereits als Chiffren moderner Befindlichkeiten gelten. Zwar konfrontieren sie das Subjekt mit einer unendlichen Vielfalt immer neuer Erfahrungen, doch droht es in dieser Reizfülle gleichzeitig auch ständig unterzugehen, ein Wechselspiel, in der sich die Ästhetik des Pittoresken konstituiert. Die Objekte der modernen Landschaft sind ›schrecklich‹ in einer neuen Bedeutung dieser Klassifizierung, weil sie wie die Sprache ihren Bezug zum Subjekt verlieren, wie Roland Barthes beschreibt: On a vu qu’au contraire la po8sie moderne d8truisait les rapports du langage et ramenait le discours / des stations de mots. Ceci implique un renversement dans la connaissance de la Nature. Le discontinu du nouveau langage po8tique institue une Nature interrompue qui ne se r8vHle que par blocs. Au moment mÞme oF le retrait des fonctions fait la nuit sur les liaisons du monde, l’objet prend dans le discours une place exhauss8e: la po8sie moderne est une po8sie objective. La Nature y devient un dis417 Der Gedanke hat in den vergangenen Jahren in der Forschung an Präsenz gewonnen. Vgl. z. B. Bercegol: »Atala n’est pas exempte de cette ambigu"t8 qui remet en cause la l8gitimit8 de sa pr8sence dans le G8nie, d’autant que les repr8sentations de la nature qui y sont donn8es ne plaident pas toutes en faveur de la reconnaissance d’un rapport harmonieux entre le Cr8ateur et sa Cr8ation.« (»Pr8sentation«, in: Œuvres complHtes, Bd. 16, S. 39)

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continu d’objets solitaires et terribles, parce qu’ils n’ont que des liaisons virtuelles; personne ne choisit pour eux un sens privil8gi8 ou un emploi ou un service, personne ne leur impose une hi8rarchie, personne ne les r8duit / la signification d’un comportement mental ou d’une tendresse.418

Für die Reaktionen des Betrachters auf die Landschaft, die ihn statt des Gleichklangs mit der göttlichen Schöpfung letztlich nur seine eigene Fremdheit erfahren lässt, finden die Autoren der Romantik bereits die verschiedensten Bilder. So beschreibt Chateaubriand in der Nuit am8ricaine, wie er nach dem Landschaftserlebnis von einem unbestimmten Gefühl der Leere übermannt wird, das ihn in einen tiefen Schlaf fallen lässt: Absorb8 dans mon existence, ou plutit r8pandu tout entier hors de moi, n’ayant ni sentiment, ni pens8e distincte, mais un ineffable je ne sais quoi qui ressembloit / ce bonheur mental dont on pr8tend que nous jouirons dans l’autre vie, je fus tout / coup rappel8 / celle-ci. Je me sentis mal, et je vis qu’il falloit finir. Je retournai / notre Ajouppa, oF, me couchant auprHs des Sauvages, je tombai bientit dans un profond sommeil.419

Solcherlei Reaktionen auf das Landschaftserlebnis werden uns auch im Folgenden in Eichendorffs Roman wiederbegegnen.

3.2

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3.2.1 Forschungsstand: symbolische Landschaften und ihr schlafendes Lied Beschäftigt man sich näher mit dem Werk Joseph von Eichendorffs (1788–1857) und seiner Rezeptionsgeschichte, fällt zunächst ins Auge, dass die zahlreichen Romane, Erzählungen und Gedichte überwiegend erst ab den 1960er Jahren das Interesse der Forschung auf sich ziehen konnten. In dieser Zeit kommt es zu einem auffallend einstimmigen Ruf nach einer Neubeurteilung des Romantikers.420 Die zuvor als schwärmerische Heimat- und Naturdichtung abgetanen 418 Barthes, Le degr8 z8ro de l’8criture, S. 72f. 419 Chateaubriand, Œuvres complHtes, Bd. 1–2, S. 1203f. 420 Hier ist vor allem der Band von Paul Stöcklein Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie (München, Bayerischer Schulbuch-Verlag, 1960) zu nennen. Er trug entscheidend zu dem Paradigmenwechsel in der Eichendorff-Forschung bei, indem er sich gegen die »vielfach übliche Art wende[t], Eichendorff als den liebenswürdigen, aber ganz harmlosen und unproblematischen ›Dichter des deutschen Waldes‹, den ›Schwärmer von Wanderlust und Lenz‹ zu klassifizieren und gewissermaßen abzutun.« (Franz Uhlendorff, »Eichendorff, ein Dichter der wirklichen Natur«, in: Stöcklein (Hrsg.), Eichendorff heute, S. 274–279, hier S. 274)

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Werke erfahren nun die verdiente Anerkennung. Im Zuge dieser Aufwertung geraten besonders die zahlreichen Natur- und Landschaftsbilder, die in Eichendorffs gesamtem Werk eine zentrale Stellung einnehmen, in den Mittelpunkt des Interesses. Gerade im Rahmen der Landschaftsdarstellung artikuliert sich laut den Interpreten der poetologische und hochgradig selbstreflexive Gehalt der Werke, der bis heute immer wieder von neuem betont wird.421 Den entsprechenden Untersuchungen ist die Einsicht gemeinsam, dass Eichendorffs Landschaften weder als liebhaberische Beschreibungen der von ihm selbst durchreisten Natur verworfen, noch auf den Status des kulissenhaften Beiwerks zu seinen Handlungen reduziert werden dürfen. Sie sind vielmehr, so der Tenor der einschlägigen Werke, als symbolische Räume zu verstehen, deren Erscheinungen als Träger tieferliegender Bedeutungen fungieren.422 Die Natur dient als Vermittlungsinstanz einer universellen Wahrheit und ist somit ihrem Wesen nach sprechende Natur.423 Landschaften werden von Eichendorff nie um ihrer selbst willen dargestellt, so die Interpreten, sondern zeichnen sich vordergründig durch ihre Verweisfunktion aus: »[sie] verkörpern nicht den Sinn, sondern sie verweisen auf ihn, sie haben die Funktion einer Chiffre, die das eigentlich Wahre, die reine Transzendenz, ahnen läßt.«424 Für die romantische Vorstellung, die Natur stelle die letzte Bastion einer in der modernen Welt verschütteten Ursprache dar, finden sich in Eichendorffs Werk tatsächlich vielerlei Hinweise. Besonders sein berühmtes und von ihm selbst immer wieder zitiertes Gedicht Wünschelrute (1835) umreißt dieses Paradigma romantischer Natur- und Geschichtsphilosophie in wenigen Worten: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, 421 Vgl. z. B. Peter H. Neumann, »Zum Verhältnis von Kunst und Religion in Eichendorffs poetologischem Roman Ahnung und Gegenwart«, in: Aurora 57 (1997), S. 1–6, hier S. 2. Neumann wertet gerade Ahnung und Gegenwart als »beste romantische Reflexionsdichtung«. (Ebd., S. 6) 422 Vgl. hierzu den repräsentativen Aufsatz von Oskar Seidlin, »Eichendorffs symbolische Landschaft«, in: Stöcklein (Hrsg.), Eichendorff heute, S. 218–241. Seidlin wendet sich gegen das damalige Vorurteil, Eichendorffs Landschaft schaffe nur »Stimmungszauber« und erklärt stattdessen die Tiefendimension zu ihrem wichtigsten Charakteristikum. Er resümiert, dass »Natur und Landschaften für Eichendorff und in Eichendorffs Werk ein System von Symbolen sind; […] ein Kryptogramm, das es zu entziffern gilt, eine bildhafte Zeichensprache.« (S. 219) 423 Vgl. hierzu vor allem Alexander von Bormann, Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff (Studien zur deutschen Literatur. 12), Tübingen, Niemeyer, 1968. Von Bormann spricht Eichendorffs Landschaft einen »emblematischen, nämlich auf gedeutete Sachverhalte zielenden Charakter« zu. Sie kann damit »Ausdruck einer transsubjektiven Wahrheit [werden], kritisches Modell, das poetologisch zur Überwindung der Mimesislehre gehört: nicht abbildet, sondern wertet, richtet.« (S. 3) 424 Seidlin, »Eichendorffs symbolische Landschaft«, S. 235.

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Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.425

Den Dingen liegt ein geheimnisvoller Zusammenhang zugrunde, der jedoch nur in Träumen zu erahnen ist, da sich die Welt in einer Art somnambulen Halbschlaf befindet. Allein dem Dichter ist es vorbehalten, mittels seiner Phantasie und Inspiration das richtige Zauberwort zu sprechen. Nur er kann die schlafenden Kräfte wecken und das Lied, in dem sich die harmonische Alleinheit der Welt artikuliert, erklingen lassen.426 Sowohl die – schon in der Frühromantik formulierte427 – Rolle des poeta vates als auch die Auffassung der Musik als Mittel zur Annäherung an die verlorene Ursprache sind für Eichendorffs Werk insofern zentral, als dass er seine zahlreichen Gedichte meist in die erzählende Prosa integriert und sie dort als von den Protagonisten gesungene Lieder präsentiert. Diese Szenen sind zumeist von Naturdarstellungen umgeben, so dass auch die Lieder den Landschaften die typisch romantische Tiefendimension verleihen, die die Interpreten in ihr erkennen. Eichendorffs Natur präsentiert sich dann als Hieroglyphenbuch, dessen verrätselte Bedeutungen immer nur ahnungsvoll heraufbeschworen werden können.428 Instrument dieser Beschwörung ist neben der Musik auch die Morgenröte, deren erste Lichtstrahlen die verschüttete Ursprache der Natur erklingen lassen.429 An die Überwindung dieser Sinnverschleierung knüpft sich die Hoffnung auf die Wiederkunft eines vergangenen Zeitalters der Vollkommenheit, in dem der Mensch, erfüllt in seinem Glauben, eins mit der Natur und der Welt war. Gemäß dieser romantischen Vorstellung der Natur wird die Mangelhaftigkeit der Gegenwart also noch von einem teleologischen Geschichtskonzept überformt, das dem frommen, tugendhaften und ›einfachen‹ Menschen die Rückkehr in das Paradies in Aussicht stellt. Dieses Konzept wird vor allem Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815) zugrunde gelegt. Gemäß der traditionellen theologischen Lesart des Werkes offenbart sich in seinen drei Büchern das triadische Geschichtsmodell, das die Menschheitsgeschichte in die drei Phasen des vergangenen paradiesi425 Eichendorff, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wolfgang Frühwald / Brigitte Schillbach / Hartwig Schultz, Bd. 1: Gedichte. Versepen, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag, 1987, S. 328. 426 Zur Bedeutung des Zauberworts in Eichendorffs Naturpoesie vgl. auch von Bormann, Natura loquitur, S. 274ff. 427 Vgl. hierzu den Kommentar von Hartwig Schultz in Eichendorff, Gedichte. Versepen, S. 1038ff. 428 Von Bormann legt die romantische Vorstellung von Natur als einem rätselhaften Hieroglyphenbuch, das aber potenziell entschlüsselbar ist, seinen Untersuchungen zu Eichendorffs Landschaften zugrunde. (Vgl. Natura loquitur, S. 3ff.) 429 Zu den Motiven der Musik und der Morgenröte im Hinblick auf die verlorene Ursprache vgl. Robert Mühlher, Lebendige Allegorie. Studien zu Eichendorffs Leben und Werk (AuroraBuchreihe. 6), Sigmaringen, Thorbecke, 1990, S. 123ff.

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schen Urzustandes, der Entfremdung in der Gegenwart und der zukünftigen Erlösung und Heimkehr in das Reich Gottes einteilt.430 Das Modell bestimme nicht nur den Aufbau des Romans, so die Interpreten, sondern auch die Bewusstseinsvorgänge der Figuren, die »zu Chiffren einer heilsgeschichtlichen Totalität entindividualisiert sind.«431 Die universalgeschichtliche Ebene überträgt sich auf den Lebensweg des Einzelnen, so vor allem des Protagonisten Friedrich, der am Ende des Romans seine Bestimmung findet und ins Kloster geht. Dem Werk wird somit von der Forschung eine geschlossene, theologisch fundierte Weltsicht zugrunde gelegt, eine Lesart, die für Eichendorffs gesamtes Werk als dominant gelten kann.432 Die zahlreichen Garten- und Parkland-

430 Zu diesem Geschichtskonzept in Ahnung und Gegenwart vgl. vor allem Markus Schwering, Epochenwandel im spätromantischen Roman. Untersuchungen zu Eichendorff, Tieck und Immermann, Köln, Böhlau, 1985, S. 12ff. Für einen ausführlichen Überblick über die Rezeptionsgeschichte des Romans vgl. Egon Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, in: Paul M. Lützeler (Hrsg.), Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, Stuttgart, Reclam, 1981, S. 302–324, hier S. 302ff. 431 Schwering, Epochenwandel im spätromantischen Roman, S. 62; vgl. auch S. 14ff. Laut Thomas A. Riley ist jede Figur des Romans nach einer literarischen Allegorie konzipiert, die die Religion und ihr Verhältnis zur romantischen Literatur beleuchtet. Friedrich steht danach z. B. für die katholische Romantik. (»An allegorical interpretation of Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Modern Language Review 54 (1959), S. 204–213) 432 Zu dieser religiös-theologischen Lesart vgl. Hans J. Lüthi, Dichtung und Dichter bei Joseph von Eichendorff, Bern, Francke, 1966. Laut Lüthi ist Eichendorffs religiös fundierte »Hieroglyphenlehre« und seine »christliche Ästhetik« grundlegend für sein gesamtes Dichtungskonzept. (S. 69 und S. 72) Vgl. außerdem Heide-Lore Schaefer, die den gesamten Roman Ahnung und Gegenwart nach dem Schema gut-böse bzw. Heil-Unheil strukturiert sieht: Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Untersuchungen zum christlichromantischen Gesinnungsroman, Freiburg im Breisgau, 1972, hier z. B. S. 51ff.; Schwarz führt in seiner Darstellung der Rezeptionsgeschichte die restaurative Tendenz der Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg als Grund für den Aufschwung der theologischen Lesart auf. (Vgl. »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 305) Sie hat aber bis in die letzten Jahrzehnte eine gewisse Kontinuität beibehalten. Vgl. z. B. Arno Schilson, »Romantische Religiosität? Religion als Thema im Werk Eichendorffs«, in: Michael Kessler / Helmut Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposions, Tübingen, Stauffenburg, 1989, S. 121–140. Schilson konstatiert: »Die religiöse Thematik bestimmt vielmehr durchgehend das eigentliche dichterische Schaffen; alle Dichtungen sind durchwirkt und geprägt von dem, was Religion meint und enthält.« (S. 121) Johannes Kersten untersucht Eichendorffs Landschaftsdarstellung ausgehend von der Grundannahme, seine Dichtung sei so stark von seinem Glauben und einer grundsätzlichen Jenseitsbezogenheit geprägt, dass das irdische Leben ihm immer nur Durchgangsstation sein könnte. Landschaft sei daher bei Eichendorff metaphysische Landschaft, »Verschmelzungen von Raum und Religion«, und – in Anlehnung an Seidlin – ›sichtbare Theologie‹. (Eichendorff und Stifter. Vom offenen zum geschlossenen Raum, Paderborn, Schöningh, 1996, vgl. S. 16ff., hier S. 20) Vgl. auch Walter Dimter, der in seiner Analyse des Romans »Friedrichs Entscheidung für das klösterliche Leben als die eigentliche Intention von Ahnung und Gegenwart« herausstellt. (»Joseph von Eichendorff. Ahnung und Gegenwart«, in: Dorothea Klein / Sabine Schneider (Hrsg.),

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schaften, die den Roman durchziehen, tragen den Interpreten zufolge immer Anklänge an den Garten Eden in sich, dem sie entweder in ihrer Reinheit und Natürlichkeit ähneln oder den sie als verlorenes Ideal wachrufen, wenn in ihnen übersteigerte Künstlichkeit oder gar Chaos vorherrschen.433 Die Landschaft erscheint als »sichtbare Theologie, als Schlüssel, der die tieferen Perspektiven der sich entfaltenden Geschichte öffnet.«434 Sie präsentiert sich als Hieroglyphe einer dem verirrten Menschen abhanden gekommenen Erfahrungswelt und mahnt ihn gleichzeitig, sich der Sündhaftigkeit des irdischen Daseins, für das in Ahnung und Gegenwart die Sphäre des Wiener Hofes steht, durch die alten, ritterlichen Tugenden entgegenzustellen. Allein in diesem Verweis auf die Vergangenheit kann die gegenwärtige Landschaft überhaupt Bedeutung erlangen: […] die Landschaft an sich ist bedeutungslos, und Einzelheiten zählen nur, wenn sie derart wie der Kindheitsgarten mit Sinn, mit einem rückwärtsliegenden und in der Gegenwart verschütteten Bedeutungsgehalt aufgeladen werden.435

Die theologische Lesart des Romans und des Gesamtwerks im Allgemeinen erhält zusätzlichen Auftrieb durch Eichendorffs (spätere) literarhistorische und autobiographische Schriften, die ein tendenziell kirchentreues und konservatives Bild des Autors vermitteln.436 Parallel zu diesem Ansatz und verstärkt in den

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Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2000, S. 183–201, hier S. 189) Vgl. hierzu Dagmar Ottmann, die Ahnung und Gegenwart eine Typologie von Gärten zugrunde legt, die als graduelle Abweichungen vom Garten Eden modelliert sind: »Sie [d.i. die Gärten] bewegen sich in einer Zeitschiene von der Gegenwart, über die Vergangenheit bis hin zur Urzeit der Schöpfungsgeschichte. Darin verankert ist Eden als Urmodell […]. Anschaulich-bildhaft werden verschiedene Sehweisen von Gärten vorgeführt, die alle sinnhaft auf den Garten Eden als Zielpunkt und Weg der Erkenntnis bezogen sind und zugleich als Abbilder dieser Wunschprojektionen über sich selbst hinaus in die Zukunft verweisen.« (»Gebändigte Natur. Garten und Wildnis in Goethes Wahlverwandtschaften und Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik (Stiftung für Romantikforschung. 21), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2002, S. 345–395, hier S. 378f.) Vgl. auch Joachim Heidenreich, der in seiner Studie Natura delectat. Zur Tradition des locus amoenus bei Eichendorff den Heimatgarten als wichtigste Form von Eichendorffs Gärten deutet und schlussfolgert: »Durch den Vorgang der Konzentration auf den Heimatgarten, der zwingend den Austritt aus der Gartenwelt nach sich zieht, wird das Lebensrisiko, ähnlich wie es in extremen Gartenformen zum Ausdruck kommt, wieder erhöht.« (Konstanz, Hartung-Gorre, 1986, S. 52) Seidlin, »Eichendorffs symbolische Landschaft«, S. 222. Helmut Koopmann, »Allegorisches Schreiben in der Romantik. Zu Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Jutta Osinski / Felix Saure (Hrsg.), Aspekte der Romantik. Zur Verleihung des Brüder Grimm-Preises der Philipps-Universität Marburg im Dezember 1999, Kassel, Brüder Grimm-Ges., 2001, S. 51–72, hier S. 54. Wolfgang Nehring leistet z. B. eine Interpretation von Eichendorffs Dichtung unter Berücksichtigung dieser religiösen und politischen Schriften und gelangt zu der Schlussfolgerung, »daß die Religion in Eichendorffs Denken und Dichten die höchste Autorität besitzt. Alles Große muss auf sie bezogen werden. Wie die Natur in Gott geborgen ist und als

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vergangenen Jahrzehnten hat sich dagegen eine weitere Lesart etabliert, die die spielerischen Divergenzen und Widersprüche, die Eichendorffs poetische Werke unfraglich durchziehen, nicht mehr zugunsten der in den theoretischen Schriften dargelegten Positionen aufzulösen versucht.437 Gegenüber dem teilweise dogmatischen und moralisierenden Duktus der theoretischen Abhandlungen zeichne sich das dichterische Werk durch eine bewusste Offenheit und Vielstimmigkeit aus, so die Interpreten.438 Während die einen die Widersprüchlichkeiten und Ungenauigkeiten, die sich sowohl auf der narrativen als auf der deskriptiven Ebene der Romane und Erzählungen niederschlagen, als interpretationshinderliches Defizit auffassen,439 sehen die anderen in der »süßen Verwirrung«440 die eigentliche Leistung des Romantikers. Die bewusste Unschärfe und Rätselhaftigkeit bewirke eine Vervielfältigung der Perspektive und der sinnlichen Erfahrung, die die Darstellungen bereichere und ihnen eine

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Hieroglyphe der religiösen Wahrheit der Schöpfung von den ewigen Dingen spricht, so ist der romantische Mensch, der auf die Stimmen der Natur hört, immer schon auf dem Weg zu Gott.« (Spätromantiker. Eichendorff und E.T.A. Hoffmann, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1997, S. 81) Inwiefern die Verknüpfung der beiden Bereiche schon immer eine Schwachstelle der Eichendorff-Forschung dargestellt hat, stellt Christoph Hollender in seinem Aufsatz »Der Diskurs von Poesie und Religion in der Eichendorff-Literatur« ausführlich heraus. (In: Wilhelm Gössmann / Christoph Hollender (Hrsg.), Joseph von Eichendorff. Seine literarische und kulturelle Bedeutung, Paderborn, Schöningh, 1995, S. 163– 232, vgl. bes. S. 184ff.) Am deutlichsten hat in der jüngeren Vergangenheit Lothar Pikulik auf die Diskrepanz zwischen den theoretischen Abhandlungen und dem poetischen Werk hingewiesen: »So spricht Eichendorff zu seinen Lesern freilich in seiner Rolle als Poet, und nur in dieser Rolle kann er so zu ihnen sprechen. Denn anders als dem Eichendorff der Poesie war dem Eichendorff der Biographie und auch dem Autor der theoretischen Schriften eine entschiedenere Haltung abverlangt. […] Soviel ist […] gewiß, daß Eichendorff in seiner Poesie auf keine genauer bestimmbare Richtung festzulegen ist, selbst nicht in konfessioneller Hinsicht.« (Signatur einer Zeitenwende. Studien zur Literatur der frühen Moderne von Lessing bis Eichendorff, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, S. 198f.) Auch Richard Alewyn wies bereits in den 60er Jahren auf Eichendorffs ›Doppelleben‹ hin; vgl. »Ein Wort über Eichendorff«, in: Stöcklein (Hrsg.), Eichendorff heute, S. 7–18, hier S. 9. Erste Impulse zu diesem Neuansatz in der Eichendorff-Forschung gingen bereits von Theodor W. Adorno aus. In seinem Aufsatz über Eichendorff aus dem Jahr 1958 beschreibt er die erstaunliche Vielseitigkeit des Autors, die sich nicht in feste Schemata pressen lasse. Auf den paradigmatischen Aufsatz wird später noch zurückzukommen sein. (»Zum Gedächtnis Eichendorffs«, in: ders., Noten zur Literatur I (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 355), Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1958, S. 105–143, vgl. hier S. 107f.) Vgl. außerdem Cornelia Nolte, die auf die »Verschleierung selbst seiner Satiren« hinweist, die »jeden scheitern [lässt], der darin eine Aussage über die konkrete Form der von ihm ersehnten Gesellschaft sucht.« (Symbol und historische Wahrheit. Eichendorffs satirische und dramatische Schriften im Zusammenhang mit dem sozialen und kulturellen Leben seiner Zeit, Paderborn, Schöningh, 1986, S. 11f.) Vgl. hierzu Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 304. Walther Killy, Romane des 19. Jahrhunderts. Wirklichkeit und Kunstcharakter, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1967, S. 39.

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neuartige Unmittelbarkeit verleihe.441 Statt sich zu allegorischen Tableaus zu formen und darin Ausdruck einer bestimmten Weltsicht zu sein, bewegten sich die Erzählungen immer im Bereich des Potenziellen, überführten Erwartung niemals in Erfahrung und Mögliches niemals ins Definitives.442 Bedeutungen verharren im Rätselhaften, wie es für das Romantische speziell in Deutschland typisch ist und von Theoretikern wie Friedrich Schlegel oder Novalis gefordert wurde.443 Im Fall von Ahnung und Gegenwart führt diese Herangehensweise zu einer radikalen Kritik an der vorherigen Zugrundelegung des geschlossenen, triadischen Weltbilds, das sich nun als »Forschungsfiktion« präsentiert.444 Dem Roman wird stattdessen von den Interpreten der alternativen Lesart eine ganz andere Struktur zugesprochen: »[…] den Realien fehlt die Strenge der Funktion, an die Stelle der Bindung in das Ganze tritt die ins Unendliche geöffnete Addition der Episoden.«445 Diese Umorientierung betrifft erneut vor allem die 441 Richard Alewyn spricht sich schon früh für diese Deutung aus, die der traditionellen, symbolischen widerspricht: »Weder in das Reich des Gedankens erstrecken sich die Dichtungen Eichendorffs noch in den Raum der Gefühle, sie bewegen sich vielmehr durchaus in der äußeren Welt der sichtbaren und hörbaren Dinge, und das ist einer der Gründe, warum sie so ›leicht‹ sind.« (»Ein Wort über Eichendorff«, S. 10) Auch Uhlendorff warnt bereits zum Zeitpunkt des Paradigmenwechsels in den 60er Jahren davor, die symbolische Deutung als einzig adäquate Methode zu betrachten und fordert ein ›unmittelbares‹ Nachempfinden der Reize von Eichendorffs Natur. (»Eichendorff, ein Dichter der wirklichen Natur«, S. 274–279) 442 Zu diesem Charakteristikum von Eichendorffs Dichtung vgl. vor allem Lothar Pikuliks Interpretationen Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmann, Eichendorffs (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979, S. 467ff.) und Signatur einer Zeitenwende, bes. die Kapitel »Vom Sinn romantischer Erwartung« und »Schreiben heißt Suchen – der experimentelle Charakter von Eichendorffs Dichtung«. Das Kriterium der Offenheit legt schon Friedrich Schlegel im bekannten 116. Athenäums-Fragment fest, wenn er das Fragmentarische, im Wandel Begriffene zum zentralen Kennzeichen der romantischen Dichtung erhebt: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.« (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, 10 Bde., hrsg. von Ernst Behler, München u. a., Schöningh, 1959–1979, Bd. 2: Charakteristiken und Kriterien I, 1967, S. 183; im Folgenden zitiert als »KFSA« mit der entsprechenden Bandangabe.) 443 Zu den Theoremen der Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit und damit verbunden zur erkenntnistheoretischen Funktion des Kunstwerks in der ästhetischen Diskussion der deutschen Romantik vgl. Brunemeier, Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, bes. S. 60ff. 444 Zons, Raimar S., »›Schweifen‹. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Hans-Georg Pott (Hrsg.), Eichendorff und die Spätromantik, Paderborn, Schöningh, 1985, S. 39–68, hier S. 39. 445 Killy, Romane des 19. Jahrhunderts, S. 46. Vgl. zu dieser Struktur des Romans, die eindimensionale Lesarten unterläuft auch Andrea Krauß, »Noch einmal: Eichendorffs Wieder-

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Landschaftsdarstellungen, in denen nun vor allem die Prinzipien der Bewegung und der spielerischen Verwirrung als konstitutiv empfunden werden: »Das Eichendorffsche Bewegungsspiel […] zerstreut. Es lenkt die Aufmerksamkeit hierhin und dorthin.«446 An die Stelle des Verweischarakters tritt damit eine den Landschaften inhärente Dynamik, die sich dem Betrachter sogar verschließen kann. Die vermeintlich sprechende Natur zeigt sich »auf erstaunliche Weise stumm«447 und bildet einen autonomen Raum, der nach eigenen, manchmal Desorientierung bewirkenden Prinzipien aufgebaut ist. Dabei ist hervorzuheben, dass Eichendorffs Landschaft in der Forschung nie als romantische Projektion von Gefühlswelten gelesen wurde und sie sich in diesem Punkt also deutlich von anderen Landschaftsdarstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts unterscheidet.448 Gegenüber diesen zeichnen sich Eichendorffs Landschaftsräume durch ganz spezifische, letztlich nicht der literarischen Konvention entsprechende Konstruktionsmechanismen aus, was vielleicht auch das Nebeneinander der gegensätzlichen Lesarten erklärt. In der Forschung wurde auf diese Eigentümlichkeit immer wieder hingewiesen: Anders als die Romantiker gebraucht Eichendorff seine Landschaften niemals als Spiegelungen oder Projektionen von Gefühlen, weder seiner eigenen noch derjenigen seiner Gestalten. Was diese Landschaften erzeugen, ist nämlich nicht Gefühl, sondern Raum, den eigentümlichen Raum der Eichendorffschen Welt, in der selbst die gewöhnlichsten Dinge und konventionellsten Geschehnisse sich ›poetisieren‹.449

Die Besonderheit der Raum- bzw. Landschaftsdarstellungen soll in den folgenden Kapiteln näher untersucht werden. Die Hauptmerkmale der Landschaft, die von den Interpreten der zweiten Lesart herausgestellt werden – Bewegung und Dynamik, die Verwirrung des Blicks und die Autonomie der Landschaft gegenüber dem Betrachter – weisen bereits darauf hin, dass die Ästhetik des Pittoresken sich als geeignetes Analyseinstrument anbietet. Die Untersuchungen werden zeigen, dass Eichendorffs Naturdarstellungen auffällige Übereinstim-

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holungen. Zu Ahnung und Gegenwart«, in: Daniel Müller Nielaba (Hrsg.): ›du kritische Seele‹. Eichendorff: Epistemologien des Dichtens, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009, S. 127–145, zur Erläuterung der These vgl. S. 128. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 485. Vgl. zur Bewegung in Eichendorffs Landschaft auch schon Alewyn, »Eine Landschaft Eichendorffs«, in: Stöcklein (Hrsg.), Eichendorff heute, S. 19–43, hier z. B. S. 31f. Koopmann, »Allegorisches Schreiben in der Romantik«, S. 53. Zur Unmöglichkeit, Eichendorffs Landschaften als Spiegel der seelischen Innenwelt ihres Betrachters zu begreifen oder wenigstens Rückschlüsse auf diese ableiten zu können, vgl. auch Carsten Lange, Architekturen der Psyche. Raumdarstellungen in der Literatur der Romantik (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. 562), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2007, S. 87ff. Im Fall der Schlösser aus Ahnung und Gegenwart ist dies dagegen möglich. Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 319.

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mungen mit der pittoresken Ästhetik aufweisen, wie sie sich in England herausgebildet hat und um die Jahrhundertwende in weiten Teilen Europas rezipiert wurde. Eine solche Betrachtung der Landschaften vor dem Hintergrund der Theorie des Pittoresken ist nach momentanem Kenntnisstand bisher in der Forschung ausgeblieben.450 Die Kurzschließung der beiden Bereiche ermöglicht dabei nicht nur eine eingehende Untersuchung der genannten Merkmale, sondern führt außerdem zur Beleuchtung eines weiteren Aspekts, der immer wieder als charakteristisch für Eichendorffs Landschaft beschrieben wird: ihre Ambivalenz.451 Wenn die Interpreten jedoch die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der Landschaft bzw. ihrer Erfahrung durch das Subjekt beschreiben, geschieht dies meist vor dem Hintergrund der aus der theologischen Lesart hervorgegangenen dichotomen Struktur von Heil und Unheil, die sich im Individuum niederschlägt.452 Das Pittoreske kann hier jedoch einen alternativen

450 Dagmar Ottmanns Aufsatz »Gebändigte Natur. Garten und Wildnis in Goethes Wahlverwandtschaften und Eichendorffs Ahnung und Gegenwart« stellt nach jetzigem Erkenntnisstand die einzige Arbeit über Eichendorff dar, die seine Landschaftskonzeptionen mit dem Pittoresken in Verbindung bringt. (Vgl. vor allem S. 355–366) Ottmann liest Ahnung und Gegenwart ebenfalls mit Lobsiens semiotischen Zeichenmodellen der schönen, erhabenen und pittoresken Landschaft. Sie unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen der geordneten, künstlichen Natur der Gartenszenen, die sie unter die Ästhetik des Schönen subsumiert, und der wilden Natur der Wald- und Gebirgslandschaften. Während für letztere das Modell des Erhabenen charakteristisch sei, entsprächen die Waldlandschaften der Ästhetik des Pittoresken. Ottmann zieht dabei allerdings nur Lobsiens Modell der drei Landschaftstypen heran und konzentriert sich auf die beiden Hauptmerkmale des Pittoresken: Vielfalt und Kontrast. Indem die Landschaftsszenen hier dagegen in erster Linie mit Blick auf die englischen Originalwerke zum Pittoresken analysiert werden sollen, können weitere, grundlegendere Übereinstimmungen zwischen beiden Bereichen aufgedeckt werden. So kann die pittoreske Ästhetik z. B. nicht allein auf die Waldlandschaften des Romans beschränkt werden, sondern erfasst in ihren komplexen Bedeutungsschichten vielmehr die Grundstrukturen des Romans. Auf den Aufsatz wird indes in den entsprechenden Kapiteln noch zurückzukommen sein. 451 Diese Eigenschaft von Eichendorffs Landschaft, die sich immer zwischen den beiden Polen Heimat und Fremde bewegt, sowie seiner Dichtung im Allgemeinen hat Hermann Kunisch schon früh beschrieben. Er spricht von einer grundsätzlichen »Mehrschichtigkeit der landschaftlichen Umschreibung.« (»Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, in: Stöcklein (Hrsg.), Eichendorff heute, S. 131–164, hier S. 140) Zons unterscheidet dagegen zwischen zwei Naturkonzeptionen, die »miteinander im unerbittlichen Kampf stehen: die christliche Offenbarungsnatur, also eine Natur, die durch ihre virtuelle Sprachlichkeit der Poesie, insbesondere der Volkspoesie und dem Lied nahesteht und die antike, heidnische Triebnatur, deren Willkür mit moderner Subjektivität eine Allianz eingegangen ist.« (»Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 60) 452 So z. B. Heidenreich, der zwar darlegt, dass Eichendorffs locus amoenus komplexer als seine literarhistorischen Vorbilder sei und »[t]errible und amöne Elemente« vermische, dabei aber in der Perspektive der religiösen Deutung verhaftet bleibt: »Eichendorff verharrt nicht bei einer Definition des locus amoenus, die Bedeutungen wie ›Lieblingsplatz‹ oder ›Schlupfwinkel‹ beinhaltet. Der Außenraum (Garten, Landschaft), die Ferne (Himmel,

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Verstehenshorizont für diese Ambivalenz, das typisch ›Zwielichtige‹ der Landschaft bereitstellen, entsteht es doch gerade aus dem Zusammentreffen der schönen und der erhabenen Landschaft und ist damit immer selbst ambivalent. Friedrich Schlegel, in dessen Kreis Eichendorff Ahnung und Gegenwart verfasst, beschreibt diese Dichotomie von Schönem und Erhabenem in seinen Briefen auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz, und einen Teil von Frankreich (1804–1805) als eigentlichen Reiz einer Landschaft. Schon im 108. Athenäums-Fragment hatte er 1798 konstatiert: »Schön ist, was zugleich reizend und erhaben ist.«453 Auf seiner Schiffsreise entlang des Rheins erkennt er dieses neue Ideal in der rauen, felsigen Landschaft zwischen Koblenz und Sankt Goar wieder : »[…] von da bis St. Goar und Bingen wird das Tal immer enger, die Felsen schroffer, und die Gegend wilder ; und hier ist der Rhein am schönsten.«454 Mit dieser Aufwertung des bis dato als kahl und nichtssagend gewerteten Rheintals trägt Schlegel maßgeblich zur Begründung der Rheinromantik bei und stellt sich in die Tradition der englischen Maler und Dichter, die schon in den vorangegangenen Jahrzehnten im Rahmen ihrer Grand Tour auf den besonderen Charme dieser Landschaft aufmerksam geworden waren.455 Bedeutsam ist darüber hinaus aber die spezifische Wirkung, die er dem Zusammentreffen der beiden Landschaftstypen zuspricht: »Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rauh und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, nur erhabene Gegenden können schön sein, nur diese erregen den Gedanken der Natur.«456 Durch die Vermischung verschiedener Stile erlangt das Landschaftsbild die besondere Reflexivität, die die Theoretiker der romantischen Ästhetik zur Voraussetzung des Kunstwerks erklären.457 In der englischen Ästhetik des Pittoresken ist dieser Aspekt besonders ausgeprägt und dient letztlich der pro-

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Sterne), metaphysische Bereiche (die Dinge hinter den Dingen), Religion (als letzter Bezugspunkt) bilden die makrokosmische Gerade.« (Natura delectat, S. 33 und S. 36) KFSA, Bd. 2, S. 181. Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich, in: KFSA, Bd. 4: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, 1959, S. 186. Schlegel beschreibt sogar, gerade die Verbindung von Natur und Kultur trage zur besonderen Wirkung der Landschaft bei, wie es auch für das Pittoreske charakteristisch ist: »Überall belebt durch die geschäftigen Ufer, immer neu durch die Windungen des Stroms, und bedeutend verziert durch die kühnen, am Abhange hervorragenden Bruchstücke alter Burgen, scheint diese Gegend mehr ein in sich geschlossenes Gemälde und überlegtes Kunstwerk eines bildenden Geistes zu sein, als einer Hervorbringung des Zufalls zu gleichen.« (Ebd.) Vgl. hierzu auch Ulrich Meyer-Doerpinghaus, Am Zauberfluss. Szenen aus der rheinischen Romantik, Springe, zu Klampen, 2015, Kap.: »Ich wähle dich! Friedrich Schlegel und die Erfindung der Rheinromantik«. KFSA, Bd. 4, S. 187. Zur Reflexivität (im Sinne eines produktiven wechselseitigen Austauschs zwischen Kunstwerk und Rezipient) als Kriterium für Ästhetizität und Poetizität in der deutschen Romantik vgl. Brunemeier, Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit, S. 103ff.

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funden Hinterfragung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten des Betrachters. Die Analyse von Eichendorffs ambivalenten Landschaften vor dem Hintergrund der pittoresken Ästhetik präsentiert sich daher hier als besonders vielversprechend. So können auf diese Weise Eichendorffs Reflexionen über Fragen der Subjektivität und des Bewusstseinswandels zu Beginn der Moderne in einer neuen Weise beleuchtet werden. Die Analogisierung des Landschaftsblicks mit der Geschichts- und Selbsterfahrung des Individuums verliert nicht an Erkenntniswert, wenn von der traditionellen, theologischen Deutung und dem Verständnis der Landschaft als Konfiguration des verlorenen Garten Edens Abstand genommen wird.458 Im Gegenteil kann eine eingehende Analyse des Landschaftserlebnisses zeigen, inwiefern Eichendorff im Medium des Landschaftsbilds Wahrnehmungsweisen und Erkenntnisfähigkeiten reflektiert, die das Subjekt unabhängig von religiösen oder moralischen Fragestellungen betreffen. Die poetische, implizite Thematisierung der Subjektivität stellt einen Bereich seines Schaffens dar, in dem bis heute immer wieder die eigentliche Modernität und die stärkste Reflexionskraft des Autors verortet wird. Während diese Beobachtungen einerseits wiederholt dazu geführt haben, Ahnung und Gegenwart als allegorischen Zeitroman zu werten,459 betonen andere Interpreten die Universalität und Aktualität der von ihm dargestellten Bewusstseinsprozesse: Die Probleme von Eichendorffs Gestalten stehen am Beginn eines großen Prozesses der Bewußtseinsveränderung in Europa und der westlichen Welt überhaupt, eines Pro458 Zu dieser üblicheren Bezugnahme zwischen Landschaftserlebnis und Geschichtsbewusstsein vgl. z. B. Hans Robert Jauß: »Denn auch in der Natur sucht die romantische Empfindung nicht das Gegenwärtige, sondern ein Fernes, Abwesendes […]. In dieser Einstellung, die im Fernen der Historie das Wahre einer gewesenen Natur, im Nahen der umgebenen Natur hingegen das abwesende Ganze, die verlorene Kindheit des Menschen sucht, rücken Geschichte und Landschaft in ein wechselseitiges Verhältnis zusammen.« (»Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität«, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation (Edition Suhrkamp. 418), Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1970, S. 11–66, S. 49) 459 So z. B. Koopmann, laut dem der Roman zwar verschiedene Muster, wie den Reiseroman, den Bildungsroman oder den Familienroman durchspielt, letztlich aber vor allem als allegorischer Zeitroman zu bewerten ist. (»Allegorisches Schreiben in der Romantik«, S. 58ff.) Vgl. zu dieser Deutung auch Schwering, Epochenwandel im spätromantischen Roman, S. 38ff. und S. 65ff. Eichendorff selbst hat seinen Roman in einem unmittelbar vor der Veröffentlichung verfassten Brief an Friedrich de la Motte-Fouqu8 bekanntlich als »volles Bild […] jener seltsamen Gewitterschwülen Zeit der Erwartung, Sehnsucht und Schmertzen« beschrieben, womit er die Zeit vor den antinapoleonischen Befreiungskriegen meint. (Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe, 18 Bde., hrsg. von Hermann Kunisch / Helmut Koopmann, Bd. 12: Briefe. 1794–1857, Tübingen, Niemeyer, 1992, S. 44) Dass er sein Werk damit »für spezifisch zeitgebundener hält, als es […] tatsächlich ist«, betont z. B. Katja Löhr. (Sehnsucht als poetologisches Prinzip bei Joseph von Eichendorff (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. 461), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, S. 160)

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zesses, dessen Bedeutung wie Krise in der Gegenwart immer deutlicher und drastischer erlebbar geworden sind.460

Dass im Hinblick auf solche Überlegungen und auf die Zerrissenheit seiner Figuren Eichendorffs »Reflexionskraft stärker [war], als die der meisten seiner deutschen literarischen Zeitgenossen«,461 steht mittlerweile außer Frage. In den folgenden Untersuchungen sollen die von Eichendorff inszenierten Landschaftsbilder und –erlebnisse im Hinblick auf ihre Konstruktionsmechanismen und die anthropologischen und erkenntniskritischen Implikationen, die darin enthalten sind, untersucht werden. Dabei wird zu sehen sein, dass die »kaleidoskopartige Unbestimmtheit«462, die Eichendorffs Prosawerken zugesprochen wird, auch für seine Landschaftsdarstellung konstitutiv ist. Gerade sie bietet Eichendorff einen Raum für die implizite Besprechung von Bewusstseinsfragen und die neue Rolle des Individuums in der modernen Welt und Gesellschaft. In der Forschung zur deutschen Romantik herrscht die These vor, dass »[w]ährend Franzosen und Engländer alle Bereiche geschichtlichen Bewußtseins erzählend zu begreifen beginnen, […] die Deutschen, wie kein anderes Volk mit der Theorie und der Erforschung der Historie befaßt, dieselbe den Künsten fernzuhalten [suchen].«463 Fragen des Geschichtsbewusstseins würden daher eher in den impliziten Raum der Empfindsamkeit des Individuums abgedrängt, so dass in den Werken die »Scheidung […] zwischen Mensch und Welt, am offenbarsten in der Isolation des Einzelnen«464 thematisch wird. Für Ahnung und Gegenwart trifft diese These zu. Allen anderen Bereichen voran dient hier gerade die Landschaftserfahrung der Figuren als Medium für die Reflexion über moderne 460 Gerhard Schulz: »›Die Zeit fliegt heut entsetzlich!‹ Der Erzähler Eichendorff in der Geschichte«, in: Kessler / Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität, S. 155–170, hier S. 162. Vgl. zu diesem Thema auch Michael Kesslers Aufsatz »Das Verhängnis der Innerlichkeit. Zu Eichendorffs Kritik neuzeitlicher Subjektivität«, in: Kessler / Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität, S. 63–81. Kessler zeigt darin Gemeinsamkeiten zwischen Eichendorffs literarhistorischen Schriften und Hegels Philosophie der Geschichte und der Subjektivität auf. (Vgl. bes. 68ff.) Auch Seidlin betont »die erstaunliche Klarheit«, mit der Eichendorff »de[n] Weg in die Innerlichkeit, in die Vereinzelung und Vereinsamung, die das Verhängnis und Leiden der ›Moderne‹ werden sollen«, nachzeichnet. (»Eichendorff und das Problem der Innerlichkeit«, in: ders., Klassische und moderne Klassiker. Goethe – Brentano – Eichendorff – Gerhart Hauptmann – Thomas Mann, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1972, S. 75) 461 Schulz, »Der Erzähler Eichendorff in der Geschichte«, S. 160. 462 Helmut Börsch-Supran, »Die bildenden Künste – nur ein Dialekt der Poesie? Eichendorff und die Malerei seiner Zeit«, in: Kessler / Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität, S. 21–36, hier S. 23. 463 Killy, Romane des 19. Jahrhunderts, S. 53. Vgl. zu dieser These und der geistigen Bedeutung des Landschaftserlebnisses in der deutschen Romantik auch Andreas Müller, Landschaftserlebnis und Landschaftsbild. Studien zur deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts und der Romantik, Hechingen, Kohlhammer, 1955, S. 178ff. 464 Killy, Romane des 19. Jahrhunderts, S. 53.

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Subjektivität und Welterfahrung. Im Rekurs auf die Ästhetik des Pittoresken kann diese Dimension der Landschaften beleuchtet und in einer neuen Tiefe erfasst werden. Dabei wird auch zu sehen sein, inwiefern Eichendorff mit einer Ästhetik der Vielfalt und Pluriperspektivität experimentiert, die die Möglichkeit, dem Roman eine geschlossene, wie auch immer geartete eindimensionale Lesart zugrunde zu legen, systematisch untergräbt. Eichendorff verfasst Ahnung und Gegenwart, seinen Jugendroman, in den Jahren 1810 bis 1812, in denen er gemeinsam mit seinem Bruder in Wien studiert und einen Großteil seiner Zeit im Haus von Friedrich und Dorothea Schlegel verbringt.465 Hier wird über romantische Dichtung diskutiert, eine Zeit der Inspiration, die Eichendorff dazu veranlasst, sich seinem ersten Romanprojekt zuzuwenden. »Das Buch, das wir heute als ein schlechthin romantisches lesen,«466 trägt tatsächlich viele Merkmale in sich, die sich schon bei Tieck, Jean Paul, Novalis, Arnim und Brentano finden: »[d]ieses kaum motivierte Kommen und Gehen, die eingeflochtenen Lieder und tollen Touren sind in jeder Hinsicht charakteristisch für Ahnung und Gegenwart.«467 Die sprunghafte, verworrene und teilweise rätselhafte Handlung des in drei Bücher und 24 Kapitel unterteilten Romans entzieht sich einer linearen Einheit und kausalen Verknüpfungen. Sie erhebt keinen Anspruch auf psychologische Entwicklungen der Figuren oder eine konkrete Einbettung in die historische Wirklichkeit, das heißt die beginnenden Befreiungskriege gegen Napoleon, vor deren Hintergrund sie sich zuträgt. Vielen Landschaften kommen dabei trotz der Sprunghaftigkeit der Handlung Schlüsselrollen in deren Entwicklung zu, so dass die jeweiligen Beschreibungen in den folgenden Untersuchungen im Rahmen ihres weiteren Handlungskontextes und der Chronologie der Geschichte analysiert werden. Besonders im Hinblick auf das Thema der Ambivalenz – und damit der Fremdheitserfahrung im Angesicht der Landschaft – ist im gesamten Roman eine deutliche Steigerung zu erkennen, wobei sich bestimmte Landschaftsszenen als besonders aufschlussreich erweisen. Im letzten Teil der Untersuchung werden dagegen allgemeinere Betrachtungen über die Struktur der Landschaftsbilder und ihre wahrnehmungskritische Organisation angestellt, wobei der Handlungskontext eher in den Hintergrund treten wird. 465 Zur Entstehungsgeschichte des Werkes und Eichendorffs Wiener Zeit vgl. Schultz, Joseph von Eichendorff, S. 101–131. Vgl. außerdem Armin Gebhardt, Eichendorff. Der letzte Romantiker, Marburg, Tectum, 2003, S. 13ff. Gebhardt liefert auch einen biographisch erläuterten Überblick über das Gesamtwerk mit Einführungen zu den einzelnen Werken. Zum Einfluss von Friedrich Schlegels Poetik auf Eichendorffs Werk vgl. Horst Meixner, Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann (Ars poetica. 13), Frankfurt am Main, Athenäum, 1971, z. B. S. 146f. 466 Killy, Romane des 19. Jahrhunderts, S. 55. 467 Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 308.

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3.2.2 Verlockungen: ein anti-idyllischer Roman Ahnung und Gegenwart ist von einer Fülle von Landschaftsbeschreibungen durchwoben, die den Charakter des Romans entscheidend mitbestimmen. Trägt die Nähe zur Natur als häufigster Raum des Handlungsgeschehens zunächst vor allem zur Stimmung des romantischen Werkes bei, zeigt sich bei näherer Betrachtung der paradigmatische Wert der Landschafts- und Gartenansichten. In ihnen verdichtet sich Eichendorffs literarisches Programm, das sie ihrerseits in komprimierter Form ins Bild setzen und für dessen Untersuchung sie folglich eine Schlüsselfunktion besitzen. Nicht selten befinden sich die Beschreibungen zudem an Knotenpunkten der Handlung, die sie reflektieren und vorantreiben. Ihre Funktion geht dann weit darüber hinaus, atmosphärische Hintergründe für die Abenteuer und Irrwege der Protagonisten bereitzustellen bzw. dem Leser einen Moment des Innehaltens vor der Schönheit und Erhabenheit der Natur zu gewähren. Vielmehr verbirgt sich in ihnen eine zusätzliche Bedeutungsdimension, in der sich dem kritischen Leser der volle Gehalt des Werkes offenbaren kann. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Handlung soll unserer Untersuchung eine kurze Zusammenfassung des Romangeschehens vorangestellt werden. Soeben von der Universität entlassen reist der junge Graf Friedrich neugierig auf das Leben und recht ziellos durch das Land. Eine Folge von zufälligen Begebenheiten führt ihn auf das Schloss des ungestümen, fröhlichen Grafen Leontin, zudem er sofort Freundschaft knüpft. Gemeinsam mit dem »Berufsdichter« Faber sowie Leontins Schwester Rosa, in die sich Friedrich verliebt, reisen sie weiter durch die Wälder. Während Faber und auch etwas später Rosa die Gruppe schnell wieder verlassen und sich zur Residenz begeben (– hierbei handelt es sich wohl um den Hof in Wien –), erleben Friedrich und Leontin weitere Abenteuer. So halten sie sich für eine Zeit auf dem Gut des befreundeten »Herrn von A.« auf, wo Leontin Julie kennenlernt, die er am Ende des Romans heiratet. Nach einer idyllischen Zeit auf dem Gut, wo die beiden Freunde jagen, ausreiten und dichten, trennen sich ihre Wege zunächst für einige Zeit wieder. Hiermit endet das erste Buch des Romans. Friedrich gelangt zu Beginn des zweiten Buches auf Umwegen auch zur Residenz, wo er Rosa wiedertrifft und die Bekanntschaft der Gräfin Romana macht. Deren exzentrisches Wesen fügt sich gut in das lasterhafte, degenerierte Leben, das am Hof geführt wird und das den tugendhaften Friedrich abstößt. Während Rosa ihm den Rücken zuwendet und sich stattdessen von dem zwielichtigen Erbprinz nachstellen lässt, entbrennt die verführerische, aber innerlich zerrissene Romana in leidenschaftlicher Liebe zu Friedrich. Als sie ihn und Leontin zu einer großen Jagd im Gebirge um ihr Schloss einlädt, offenbart sie ihm stürmisch ihre Gefühle und es kommt erneut zur Trennung der Freunde. Beide verlassen einzeln und fluchtartig den unheilvollen Ort, womit das zweite Buch endet. Wieder gerät Friedrich daraufhin in

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den Strom der Ereignisse. Noch im Gebirge wird er in Kämpfe zwischen verfeindeten Truppen verwickelt (– hiermit könnte einer der Volksaufstände gegen die Herrschaft Napoleons, zum Beispiel von 1809, gemeint sein –), verliert seine Güter, die ihm nach dem Krieg enteignet werden, und trifft ein letztes Mal auf Romana, die sich, von ihm erneut zurückgewiesen, das Leben nimmt. Daraufhin begibt er sich auf den Weg zu Leontin, den er mit Faber bei Julie antrifft. Die Freunde tauschen sich über ihre Erlebnisse aus und beobachten außerdem zufällig Rosas Hochzeit mit dem Prinzen in der Residenz. Bestürzt reiten sie in die Berge, wo sie ein verwunschenes, sonderbares Schloss entdecken, in dem sie sich einige Zeit aufhalten. Der nicht minder kuriose Schlossherr erweist sich als Friedrichs verschollener Bruder Rudolph, der einzige nahe Verwandte, der ihm nach dem frühen Tod der Eltern geblieben war. In der Abgeschiedenheit des Schlosses findet Friedrich schließlich zu sich selbst und wendet sich dem Glauben zu. Nachdem die Freunde Leontins und Julies Hochzeit gefeiert haben, trennen sich ihre Wege schließlich zum letzten Mal: Während Friedrich seine Berufung gefunden hat und ins Kloster geht, zieht Faber weiter durch das Land auf der Suche nach neuem Stoff für seine Dichtung. Rudolph geht nach Ägypten, in das Land der Magie, da ihm der Weg zu Gott versperrt scheint, und Leontin und Julie machen sich auf den Weg in das verheißungsvolle Amerika, um dort ein neues Leben zu beginnen. Schon gleich zur Beschreibung des ersten Zusammentreffens der vier Protagonisten Rosa, Friedrich, Leontin und Faber bedient sich Eichendorff zweier Gartenmodelle, die in ihrer Verschiedenheit aufschlussreich für das weitere Handlungsgeschehen und das entstehende Beziehungsgefüge zwischen den Figuren sind. Friedrich wacht in Leontins Schloss auf, nachdem er in der Nacht zuvor in einer Mühle überfallen und am nächsten Morgen von einer Unbekannten – Rosa, wie sich später herausstellt – am Wegrand aufgelesen und in Sicherheit gebracht worden ist. Leontins Schloss ist im altfränkischen Stil gehalten. Durch eine Zugbrücke ist es von einem französischen Lustgarten468 getrennt, der es umgibt: Hier standen auf einem weiten Platze die sonderbarsten, fremden Blumenarten in phantastischem Schmucke. Künstliche Brunnen sprangen, im Morgenscheine funkelnd, kühle hin und wieder. Dazwischen sah man Pfauen in der Grüne weiden und

468 Vgl. zu dieser Klassifizierung und der Bedeutung des Gartenmodells bei Eichendorff auch Walther Rehm, »Prinz Rokoko im alten Garten. Eine Eichendorffstudie«, in: ders., Späte Studien, München, Francke, 1964, S. 122–214. Rehm erläutert, dass der »durchsichtig geplante und ornamental gestaltete Kunstraum des Rokokogartens in seinem architektonischen Ebenmaß genauer Ausdruck der exklusiven, hochmütigen und vornehmen Adelsund Hofgesellschaft« des Ancien R8gime ist. (S. 148)

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stolz ihre tausendfarbigen Räder schlagen. Im Hintergrund saß ein Storch auf einem Beine und sah melankolisch in die weite Gegend hinaus.469

In diesem »bunte[n] Haushalt«, der einer »wahren Feenburg« gleicht, reift im weiteren Handlungsverlauf Friedrichs Leidenschaft zur Poesie und die Freundschaft zwischen den drei Männern. (AG, S. 86) Von diesem Gartenmodell unterscheidet sich Rosas Park auf signifikante Weise. Sie lebt nicht bei ihrem Bruder, sondern in einem nahegelegenen Schloss, das wie der umgebende Garten in einem moderneren Stil gehalten ist. Leontin und Friedrich reiten noch am gleichen Morgen dorthin, um die Schwester zu besuchen. Die Szene öffnet mit der Beschreibung ihres Gartens: Der Garten war ganz im neuesten Geschmacke angelegt. Kleine, sich schlängelnde Gänge, dichte Gebüsche von ausländischen Sträuchern, dazwischen leichte Brücken von weißem Birkenholze luftig geschwungen, waren recht artig anzuschauen. Zwischen mehreren schlanken Säulen traten sie in das Schloß. Es war ein großes, gemaltes Zimmer mit hellglänzendem Fußboden; ein krystallener Luster hing an der Decke und Ottomannen von reichen Stoffen standen an den Wänden umher. Durch die hohe Glastüre übersah man den Garten. (AG, S. 77)

Alle beschriebenen Elemente des Gartens wie auch des Schlosses, das nur durch eine Glastür und schmale Säulen von jenem getrennt und somit vielmehr übergangslos darin eingeschlossen ist, machen deutlich, dass es sich hier um eine Parkanlage im englischen Stil handelt. Sie ist ganz getreu dem »neuesten Geschmacke« angelegt, womit auf die Mode des aus England importierten neuen Parkstils angespielt wird, für den sich Eichendorff selbst interessierte.470 Der Park und die Atmosphäre, die er erzeugt, unterscheiden sich auffallend von der phantastischen Fülle und Exotik des zuvor beschriebenen Lustgartens. Gegenüber dessen exaltierter Sinnesfülle spricht der englische Park mittlere Affekte an (»artig anzuschauen«) und reizt stattdessen die Neugierde. Während sich die Beschreibung von Leontins Gartens Superlativen bedient, um die überbordende und unmittelbar präsente Reizfülle des Ortes vor dem Auge des Lesers zu entladen, bevorzugt die zweite Beschreibung Elemente, die Einschränkungen des Blickfeldes suggerieren (»Kleine, sich schlängelnde Gänge, dichte Gebüsche«). Die Beschreibung von Rosas Park dient hier keineswegs nur dazu, der freien 469 Eichendorff, Werke in sechs Bänden, Bd. 2: Ahnung und Gegenwart. Sämtliche Erzählungen I, 1985, S. 72f. Alle folgenden Zitate aus dem Roman sind – wenn nicht anders gekennzeichnet – dieser Ausgabe entnommen. Ich zitiere im Folgenden unter Angabe des Kurztitels (AG) und der Seitenzahl im fortlaufenden Text. 470 Eichendorffs Interesse für die unterschiedlichen Parkanlagen der Schlösser und Städte, die er auf seinen Reisen besichtigen konnte und die zumeist sein erstes Anlaufziel darstellten, geht aus seinen Tagebüchern hervor. Vgl. Sämtliche Werke, Bd. 11: Tagebücher, 2006, z. B. S. 133f., S. 51, S. 147f., S. 195.

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Natur einen Ort des Kunstschönen gegenüber zu stellen.471 Sie bereitet vielmehr auf subtile Weise das weitere Geschehen vor und weckt mögliche Erwartungen beim Leser. Dessen Ahnung wird so dann auch nicht enttäuscht, denn während die »Morgensonne, die durch die Glastüre schien, das schöne Zimmer mit einem geheimnisvollen Helldunkel [erfüllte]« (AG, S. 77), erblickt Friedrich Rosa und ihm wird klar, dass er sie bereits vorher gesehen hat. Auf einer Schiffsreise nach dem Verlassen der Universität hatte er auf einem anderen Schiff ein fremdes schönes Mädchen gesehen und am Abend in einem Wirtshaus für einen Augenblick wiedergesehen, ohne Name oder Herkunft der Unbekannten erfahren zu können. Der sukzessive Wahrnehmungsprozess, den die Gartenbeschreibung bereits antizipiert, wiederholt sich nun in Rosas Erscheinung. So nimmt Friedrich zunächst nur einen Ausschnitt von ihr wahr. Er »erblickte einen schneeweißen, vollen Arm« und darauf »die liebliche Stimme«, bevor er schließlich ihrer ganzen körperlichen Schönheit gegenübersteht. Das Moment der Verlockung, von dem Rosas Darstellung hier schon bestimmt ist, wird im weiteren Verlauf des Romans leitmotivische Züge annehmen.472 Hier wie in den folgenden Szenen ist es an Garten- oder Landschaftsdarstellungen gebunden: Sie hieß den Grafen mit einer Scham willkommen, die ihr unwiderstehlich schön stand. Lange, dunkle Locken fielen zu beiden Seiten bis auf die Schultern und den blendendweißen Busen hinab. Die schönste Reihe von Zähnen sah man manchmal zwischen den vollen roten Lippen hervorschimmern. Sie atmete noch warm von der Nacht; es war die prächtigste Schönheit, die Friedrich jemals gesehen hatte. Sie gingen nebeneinander in den Garten hinein. (AG, S. 78)

Im Wirkungskreis des Gartens, in den sie bezeichnenderweise »hinein« gehen, beginnt dann auch das amouröse Verhältnis der beiden Protagonisten. Während 471 Dagmar Ottmann thematisiert ebenfalls die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Gärten und weist auf den englischen Stil des zweiten hin, liest beide Gärten aber ausschließlich als ästhetisch erfahrbare Kunstgegenstände, konzipiert nach der Ästhetik des Schönen, deren Funktion darin liegt, den Verlust von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit anzumahnen: »Natur als Schöpfung des Gartenkünstlers, als bloßes Produkt und Objekt, das Natura Naturata Paradigma, wird hier bildhaft greifbar als Verstummen der elementaren Naturlaute und damit Entfremdung der Natur von ihrem ursprünglichen Zustand.« (»Gebändigte Natur«, S. 359) Indem sich diese Interpretation innerhalb des Auslegungshorizonts des Gartens Edens als Urmodell aller Gärten des Romans bewegt (vgl. ebd., S. 378), übersieht sie hier die spezielle Funktion des englischen Parks. 472 Schon Lüthi legt Friedrichs Abenteuern im Rahmen seiner theologischen Auslegung von Eichendorffs Dichtung das Prinzip der Verlockung zugrunde. Auch Friedrich »ist ein offener Sinn für die sinnenhafte Schönheit und den Zauber der Natur und der ganzen irdischen Welt eigen. […] Unter dem Eindruck seiner ersten Begegnung mit Rosa erlebt er das trunkene Glück der ersten Liebe und den Rausch jugendlichen Dichtertums.« (Dichtung und Dichter, S. 213) Die Verlockung zu überwinden ist Voraussetzung dafür, schließlich zur ›wahren Religion‹ zu finden. (Vgl. S. 219f.)

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Rosa Friedrichs Wunde von dem Überfall in der Mühle betrachtet und ihm deshalb ganz nahe kommt, erliegt er der Verführung: Ihre Augen, Locken und Busen kamen ihm dabei so nahe, daß sich ihre Lippen fast berührten. Er küßte sie auf den roten Mund und sie gab ihm den Kuß wieder. Da nahm er sie in beide Arme und küßte sie unzähligemal und alle Freuden der Welt verwirrten sich in diesen einen Augenblick, der niemals zum zweitenmale wiederkehrt. (AG, S. 79)

Der Garten wird nun für die beiden Verliebten zur idyllischen Oase, in der Friedrich sich seinem augenblicklichen Glück ganz hingibt. Auffallend an Rosas Darstellung ist dabei die ausschließliche Nennung ihrer körperlichen Reize. Da auch im weiteren Verlauf des Romans ihre Redeanteile nahezu gen null gehen und der Leser fast nichts über ihre eigenen Empfindungen erfährt, scheint sich ihre Figur ausschließlich über ihre Begehrlichkeit zu definieren. Für den jungen Friedrich, der soeben die Universität verlassen hat und nun ziellos die Welt erkundet, stellt sie das erste Abenteuer auf seiner Reise dar. Sie ist letztlich nur die erste der vielen noch folgenden Erprobungen, die Friedrich auf seinem Lebensweg erwarten. Dass die Liebesidylle auch Gefahr birgt, offenbart sich bereits in der Beschreibung des ersten Blickkontakts der beiden auf den sich begegnenden Schiffen. Auch diese Szene ist in eine Landschaftsbeschreibung eingebettet, die zudem den Roman eröffnet und damit eine besonders paradigmatische Funktion im Hinblick auf das gesamte Handlungsgeschehen besitzt. Aufgrund ihrer symbolischen Dichte hat die »leicht durchschaubare Allegorie […], die den ganzen Roman bestimmen wird«, bereits vielfach das Interesse der Interpreten auf sich gezogen.473 Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wird in der Tat deutlich werden, inwiefern hier bereits entscheidende Weichen für den Handlungsverlauf gestellt werden, wenn auch in einer von der üblichen Lesart abweichenden Form. Friedrich beginnt seine Reise mit dem Schiff entlang der Donau, begleitet von seinen Universitätsfreunden, die ihm noch ein kurzes Geleit geben. Dabei passieren sie eine »herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird«: Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz Trost- und Friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. (AG, S. 58) 473 Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 313. Seine Deutung der Szene kann exemplarisch für die gängige Lesart in der Forschung stehen. (Vgl. ebd., S. 313ff.)

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Ganz gemäß der Ästhetik des Erhabenen beschreibt die Szene die entfesselten Naturgewalten, in deren Anblick sich der Betrachter aus sicherer Distanz verlieren kann. Der Prozess der Selbstbewahrung präsentiert sich dabei zunächst theologisch überformt, indem einzig das Kreuz Sicherheit und Stabilität inmitten des bedrohlichen Strudels gewähren kann. Die Reaktion der Studenten entspricht dieser Darstellung der Übermacht der Naturgewalten, im Angesicht derer nur der Glaube Hoffnung verspricht und keine individuellen oder gar rationalen Bewältigungsmechanismen von Seiten des Betrachters ins Feld geführt werden: Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreuz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor. Alle wurden bei diesem Anblick still und atmeten tief über dem Wellenrauschen. (AG, S. 58)

Die Allegorie des Glaubens als Fels in der Brandung474 wird jedoch im Folgenden durch einen weiteren Bewegungsablauf im Landschaftsbild verkompliziert. Mit dem zweiten Schiff tritt ein weiterer Bezugspunkt in den Wahrnehmungsbereich hinein und eröffnet ein interessantes Perspektivenspiel. Auf ihm steht eine »hohe, junge, weibliche Gestalt«, Rosa, wie später bekannt wird, »und [sieht] unverwandt in den Wirbel hinab.« (Ebd.) Kurz darauf schaut sie auf und ihre Blicke treffen unmittelbar auf Friedrichs, in dem sie eine komplexe Reaktion auslösen: Da sah das Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegneten Friedrichs Blicken. Er fuhr innerlichst zusammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke plötzlich eine neue Welt von blühender Wunderpracht, uralten Erinnerungen und niegekannten Wünschen in seinem Herzen auf. Er stand lange in ihrem Anblick versunken […] (Ebd.)

Die »uralten Erinnerungen« werden von Interpreten meist auf Friedrichs Heimatsehnsucht bezogen, die eines der wenigen Motive darstellt, die in dem verworrenen Handlungsverlauf ausreichend oft auftreten, um ihm Struktur zu verleihen.475 Explizit offenbart sich diese Heimatsehnsucht in Friedrichs wie474 Schwarz bedient sich des »uralten Metaphernsystems« zur typischen, religiösen Deutung der Szene: »Des Menschen Lebensschiff durchmißt die verräterischen und häufig turbulenten Fluten des Lebens, die den sorglosen, nur auf sein Vergnügen bedachten Reisenden zu verschlingen drohen. Nur wenn er sich am Zeichen des Kreuzes, errichtet auf dem Felsen der Kirche, orientiert, entgeht er dem Schiffbruch und erreicht glücklich den Hafen.« (»Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 314f.) 475 Vgl. z. B. Nehring zur Bedeutung des Heimatmotivs: »Und als letztes Ziel steht immer der religiöse Gedanke im Hintergrund, der Auftrag, das Himmelreich zu erwerben. Das freie Herumvagieren hat letztlich zwei feste Pole, die in allen Irrungen und Wirrungen, in allem Glück und Leid, in allem Wünschen und Streben des Lebens Halt und Orientierung geben können und müssen: die Heimat, aus der man kommt, und die Heimat, auf die das Leben hinausläuft.« (Spätromantiker, S. 79) Auch Kunisch deutet die Heimat als zentralen Be-

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derholten sehnsuchtsvollen Erinnerungen an seine glückliche Kindheit, die durch den frühen Tod der Eltern und die spätere Trennung von seinem Bruder ein frühes Ende genommen hat. Implizit liegt sie und mit ihr »die wehmütig resignative Grundstimmung«476 aber laut dem Forschungstenor dem ganzen Roman zugrunde, indem sich die Erinnerungen der Figuren letztlich immer auf die sehnsüchtige Vorstellung eines idealen, aber verlorenen Paradieszustandes der Menschen bezögen.477 Die »neue Welt von blühender Wunderpracht« und die »nie gekannten Wünsche« bringen indes noch eine weitere Dimension ins Spiel, für die vor allem Rosas Rolle als ›Mittlerin‹ im Blickfeld zwischen Friedrich und der Landschaft ausschlaggebend ist. Indem sie zunächst in den Wirbel schaut und dann durch den Blick zu Friedrich die beschriebene Reaktion in ihm auslöst, drängt sich eine bestimmte Deutung des Wirbels auf: »Es kann also nur die Gefahr gemeint sein, daß sich der Held in die Welt verstricken lässt und schließlich in ihr verloren geht. Die magnetische Anziehung, die von der Welt ausgeht, ist erotischer Natur.«478 Die Anfangsszene verweist damit hier nicht nur bereits auf die Verführungskraft, die Rosa im Folgenden auf Friedrich ausüben wird, sondern auf einer abstrakteren Ebene zudem auf die weltlichen Begierden, Leidenschaften und Verlockungen im Allgemeinen, denen sich der junge Protagonist stellen muss, bevor er am Ende den Weg ins Kloster findet. Neben der erotischen Komponente, die bei der Deutung der Szene in den vergangenen Jahrzehnten gegenüber der religiösen Interpretation in den Fokus gerückt wurde,479 beinhaltet das Bild des Wirbels dabei aber noch weitere Be-

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zugspunkt von Eichendorffs Dichtung: »Heimat ist das, was macht und bewirkt, daß Herz, Natur und Zeit Frieden und Bestand haben, meint also zuletzt und endgültig Gott.« (»Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, S. 144) Gebhardt, Eichendorff, S. 19. Der Roman ist tatsächlich mit derlei Hinweisen durchsetzt. Als z. B. Friedrich Rosa von seiner Kindheit erzählt, spricht er von einem »unbeschreibliche[n] Heimweh, nicht nur nach jenen Gärten und Bergen, sondern nach einer viel ferneren und tieferen Heimat, von welcher jene nur ein lieblicher Widerschein zu sein scheint.« (AG, S. 100) Katja Löhr fasst die Sehnsucht als grundlegendes poetologisches Prinzip von Eichendorffs Dichtung auf. Ahnung und Gegenwart sieht sie von der Empfindung der Wehmut, einer speziellen Form der Sehnsucht, bestimmt, die gegenüber dieser eher resignativ in die Vergangenheit gewandt ist: »Es ist frappierend, wie stark der Erinnerungsaspekt den Roman durchdringt […]. Die Vergangenheitsschichten reichen dabei vom schlicht und je und je aus der Gegenwart des Romanfortgangs Gleitenden über vergangene Stadien der Kindheit und Heimatnähe, sodann über vergangene Zeiten der Geschichte – die immer auch Mentalitätsgeschichte ist – bis zum Vorbewußten einer ›uralten Zeit‹ zurück, die vorgeschichtlich und im Grunde zeitlos ist.« (Sehnsucht als poetologisches Prinzip, S. 164f.) Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 315. Hans Eichner bezieht die »uralten Erinnerungen« mit Freud »auf frühe, vom Kind nicht verstandene sexuelle Erregungszustände, auf das erste Auftauchen des Geschlechtstriebs.« (»Zur Auffassung der Sexualität in Eichendorffs erzählender Prosa«, in: Kessler / Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität, S. 37–52, hier S. 40) Zu Eichendorffs modernen Einsichten in die Triebhaftigkeit des Menschen und seiner Antizipation tiefenpsychologi-

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deutungsschichten. Mit den vier Elementen innerhalb des Blickfeldes – Rosa, Friedrich, das Kreuz und der Wirbel – entspannt der Erzähler ein komplexes Perspektivenspiel, in dem neben den beiden Figuren auch die Objekte ›sehfähig‹ werden. Hierbei handelt es sich um einen häufigen Kunstgriff in Eichendorffs Raumdarstellung.480 Für den Wirbel wird dies noch eindringlicher beschrieben als im Fall des Kreuzes (»von dem ein hohes Kreuz Trost- und Friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut«): »Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes.« Die vermeintliche Dualität von Gut und Böse wird hier durch das im Blickachsenfeld deutlich dominierende Bild des Wirbels unterlaufen. Das Kreuz blickt zwar in die Wogen, ist aber im Unterschied zu diesem in keinem Moment selbst Ziel einer Betrachtung. Der Sog des Wassers wird zum Bezugspunkt des Perspektivenspiels. Die Natur erscheint hier von Romanbeginn an als autonome Größe, die zwar betrachtet wird, diesen Blick aber sogleich auch zurückwirft und eine bestimmte Reaktion im Betrachter auslöst, nämlich ihn in einen Zustand der Bewusstseinsschwäche zu überführen. Sie präsentiert sich als unabhängige Sphäre, bestimmt von einer ihr eigenen, unabhängigen Dynamik. Während uns diese Autonomie der Landschaft – einhergehend mit dem Autonomieverlust des Subjekts – im Folgenden noch näher beschäftigen wird, tritt hier eine weitere Bedeutung des Wirbels zutage, die in der Forschung nach unserem Kenntnisstand bisher nicht benannt wurde: Mit »de[m] furchtbare[n] Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht«, inszeniert Eichendorff ganz offensichtlich einen Mahlstrom und damit ein Geschichtsmodell, das dem theologisch-teleologischen nicht stärker entgegenstehen könnte. Der Hinweis, dass der Schlund des Wirbels sich von Zeit zu Zeit öffnet, oder sein Vergleich mit dem »Auge des Todes« sind typische Elemente der Beschreibungen des Mahlstroms. Mit der Inszenierung von Geschichte als einem »unergründlichen Schlund« wird das heilsgeschichtliche, lineare Modell, das die Interpreten dem Ausschnitt der Schiffsreise des frommen Protagonisten und über diesen hinaus dem gesamten Roman zugrunde legen, untergraben.481 Gleich zu Beginn entscher Erkenntnisse vgl. außerdem Pikulik: Signatur einer Zeitenwende, Kapitel: »Die Mythisierung des Sexualtriebs in Eichendorffs Erzählung ›Das Marmorbild‹«. Pikulik zeigt, dass das Eros bei Eichendorff, trotz seiner Personifizierung durch eine heidnische VenusFigur, nicht mehr von außen über den Menschen einbricht, sondern in seinem Inneren angelegt ist. Es muss in der Zone des Unbewussten verortet werden und macht es dem Menschen dadurch unmöglich, sich aus eigener Kraft davor zu schützen. Die Mythisierung des Sexualtriebs, die Eichendorff in der Erzählung durch die Venus-Statue vornimmt, ist somit künstlich bzw. remythisierend. 480 Vgl. hierzu Martin Wettstein, Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs – Form und Sinn, Zürich / München, Artemis, 1975, S. 37ff. 481 Vgl. dazu auch schon Schwerings Deutung der Eingangsszene. Er legt dar, der »Ewigkeitstopos« »seit Jahrhunderten« verweise »auf eine ontologische, nicht auf eine geschichtliche Dimension. Die schroffe Entgegensetzung von Erlösungshoffnung (Kreuz) und todbrin-

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wickelt der Roman verschiedene Perspektiven auf das Dasein, die bis zu seinem Ende nebeneinander bestehen bleiben. Das Mahlstrom-Motiv taucht dabei in verschiedenen Kontexten wieder auf.482 So zum Beispiel in der Mitte des zweiten Buches, das hauptsächlich Friedrichs Zeit in der Residenz beschreibt. Dort findet sich ein ungewöhnlicher Kapitelbeginn: Der auktoriale Erzähler, der beim Lesen des Romans eigentlich nahezu vergessen wird, tritt zu Tage und fasst die Entwicklungen und Geschicke der einzelnen Figuren zusammen. Er öffnet mit einer düsteren, unheilvollen Landschaftsbeschreibung, die auf die Verderbtheit des Lebens in der Residenz anspielt: Schwül und erwartungsvoll schauen wir in den dunkelblauen Himmel, schwere Gewitter steigen ringsum herauf […] Keine Glockenklänge wehen mehr fromm über die Felder, die Wolken zu zerteilen, der Glaube ist tot, die Welt liegt stumm und viel Teures wird untergehen, eh’ die Brust wieder frei aufatmet. (AG, S. 240)

Solche gewitterschwülen, Unheil verkündenden Landschaften finden sich häufig bei Eichendorff und stehen meist in direkter Analogie zum Handlungsgeschehen. Hier wird die Gewitterschwüle vom Erzähler sogar besonders deutlich zur Metapher für das Zeitgeschehen und damit die Landschaftsaussicht des »wir« zum Blick in die Geschichte umfunktionalisiert: »Friedrich fühlte diesen gewitternden Druck der Luft und waffnete sich nur desto frömmer mit jenem Ernst und Mute, den ein großer Zweck der Seele gibt. Er warf sich mit doppeltem Eifer wieder auf seine Studien […].« (Ebd.) Nach den Erläuterungen über das Ergehen der anderen Figuren kehrt der Erzähler dann unvermittelt zu seiner Perspektive des »wir« zurück und verkündet: »– Wir aber stürzen uns lieber in die Wirbel der Geschichte, denn es wird der Seele wohler und weiter im Sturm und gender Verfallenheit an die chaotisch andrängenden Mächte des transzendenzlosen Diesseits (Wasser) meint die ›conditio humana‹, nicht die Erinnerung an ein irdisches Paradies und die Hoffnung auf immanente Welterlösung.« (Epochenwandel im spätromantischen Roman, S. 25) 482 Seidlin weist bereits früh auf die Bedeutung der Metapher des Stroms in Eichendorffs Werken hin. Die Geschichtsmetapher vermittelt »das Transitorische, das unaufhaltsam Reißende« der historischen Ereignisse und des Lebens. Geschichte erscheint laut ihm dabei alternativ zur theologisch-teleologischen Auslegung als ein »Automatismus«, der sich jeglicher Zweckmäßigkeit und Kontrolle entzieht: »Nichts ist an ihm, das dauern und beharren könnte. […] [S]ein ruheloser Wechsel ist nichts als ständiges Einerlei. Alles an ihm ist Selbstheit, alles Sog in das eigene Innen, alles Treiben und Getriebensein im eigenen Gefälle. Was er ergreift, wird mitgerissen, geht unter, ein Teil, entformtes, verschwemmtes willenloses Teil seines unkontrollierten und unkontrollierbaren Getriebes. […] Bahn und Richtung, die seine Bewegung verfolgt, ist nicht ein Vorgegebenes und ihm Bestimmtes, sondern sie ereignet und schafft sich im Selbstvollzug des Fließens.« Seidlin schlussfolgert, in dieser Weise sehe Eichendorff seine eigene Zeit, als »Chaos […], perspektivenloses Einerlei, für das die nur horizontale reißende Bewegung des strömenden Wassers ein wahrhaft deckendes Sinnbild ist.« (Versuche über Eichendorff, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1965, S. 140ff.)

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Blitzen, als in dieser feindlichlauernden Stille.« (AG, S. 241) Die explizite Thematisierung des Erzählprozesses ist sehr ungewöhnlich für den Roman und verleiht dem »Wirbel der Geschichte« eine besondere Bedeutungsschwere. Der Erzähler hält für einen Augenblick inne, um mit der Landschaft auch die Geschehnisse und das Treiben seiner Figuren zu überschauen. Hinzu kommt, dass durch den Begriff »Geschichte« bewusst mit der Vermischung der Erzählung und der Historie gespielt wird, wodurch beide Sphären bis zu einem gewissen Grad gleichgesetzt werden. Nicht nur das historische Geschehen präsentiert sich als Mahlstrom, in dessen »Sturm und Blitzen« sich der Mensch aber hier sehr wohl behaupten kann, auch die Geschichte, die der Erzähler zu meistern hat, setzt sich aus einzelnen Wirbeln zusammen. Sich von diesen mitreißen zu lassen, ist immer noch besser, als zu lange zu verharren und über die – ohnehin unabwendbaren (»die Welt liegt stumm und viel Teures wird untergehen«) – Ereignisse zu sinnen. Durch die Übertragung auf die Erzählebene präsentiert sich der Wirbel nicht nur als Daseins- sondern auch als epistemologische Form, die dem Subjekt zwar eine gewisse Passivität gebietet, ihm aber gleichzeitig neue Möglichkeiten gewährt, auf dem Strom der Ereignisse nicht unterzugehen. Ein solches Verständnis vom Erzählen, wie es sich hier in den Äußerungen des Erzählers artikuliert, ist bisher in der Forschung bei der Hervorhebung der verworrenen, sprunghaften, vermeintlich nur typisch romantischen Handlung nicht thematisiert worden. Inwiefern die durchgehende perspektivische Offenheit des Romans gemeinsam mit seinen dynamischen Landschaftsbildern Eichendorffs literarische Antwort auf dieses Verständnis der Wirklichkeit als unkontrollierbare Wirbel darstellen, wird im Folgenden noch zu sehen sein. Der Wasserwirbel der Eingangsszene jedenfalls, so viel kann hier bereits festgehalten werden, besitzt über sein Zusammenspiel mit dem »hohe[n] Kreuz« und der »weibliche[n] Gestalt« hinaus noch eine weitere, eigene Bedeutungsdimension, die über seine Versinnbildlichung der irdischen Gefahren vor dem Eintritt ins Jenseits hinausreicht. Die »unergründlichen« Wirbel der Geschichte stellen sowohl die Erscheinungsform des folgenden Handlungsgeschehens dar, in das sich der Erzähler hineinstürzen will, als auch der Historie überhaupt, in die Friedrich nun eintritt. In dem Moment, in dem Rosa auch Friedrichs wettstreitende Leidenschaften aufdeckt und ihn damit in den Wirbel der Geschichte zieht, schafft sie in ihm ein Gefühl des Mangels und der Sehnsucht, ein Begehren auf Erfüllung der neuen unbestimmten Wünsche. Indem der Beginn ihres amourösen Verhältnisses im weiteren Verlauf der Handlung in der Umgebung des pittoresken englischen Gartens lokalisiert wird, tritt die Ambivalenz der süßen Verlockung subtil hervor. Der pittoreske Liebesort ist eben kein reiner locus amoenus, der als mikrokosmische Idylle das Böse hinter seinen Pforten ausschließt. In ihm

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herrscht nicht ausschließlich die Harmonie des Schönen vor.483 Das Pittoreske ist stattdessen »the coquetry of nature; it makes beauty more amusing, more varied, more playful«, wie Price darlegt. »It excites that active curiosity which gives play to the mind, loosening those iron bonds, with which astonishment chains up its faculties.«484 Es bejaht die widerstreitenden Kräfte der Natur und fördert die Begierde auf das Unbekannte. Friedrich ist von nun an »eager and hurrying«.485 Er wird zum romantischen Helden, dessen Sinnsuche sich nicht über die Beschaffenheit bzw. Existenz des Ziels definiert, sondern in ihrem prozessualen Charakter eine Einlösung des Strebens per se ausklammert. Seine Beziehung zu Rosa eröffnet Friedrich kein idyllisches Liebesglück und keinerlei Erfüllung seiner Erwartungen. Im Gegenteil erweckt sie nur das unbekannte Verlangen und die innere Rastlosigkeit, die ihn von nun an nicht mehr ruhen lassen werden. Rosa stellt die erste Etappe auf Friedrichs Reise dar und bleibt dabei auf ihre Funktion als ›Mittlerin‹ beschränkt, die den jungen Initianten in den Mahlstrom der Geschichte einführt. Zu den verschiedenen Gärten und Parkanlagen stellen Eichendorffs Landschaftsbeschreibungen aufgrund ihrer Wildheit und Natürlichkeit auf den ersten Blick einen Gegenpart dar. Meist handelt es sich dabei um einsame Waldoder Gebirgslandschaften. Bei genauerer Betrachtung lassen aber auch diese Beschreibungen eine starke Schematisierung und die Verwendung bestimmter Konstruktionsmechanismen erkennen. Wie die Gärten können auch sie als Katalysator für das Handlungsgeschehen dienen, das sie umkleiden. So in einer weiteren Schlüsselszene, die das Ende des ersten Buches darstellt. Friedrich und Leontin befinden sich gemeinsam mit Rosa auf einem Ausritt, als diese sich unerwartet von ihren beiden Begleitern absondert. Zuvor hatte Faber die Gruppe bereits überraschend verlassen und trotz der Heiterkeit der Landschaft, die deren Beschreibung zunächst noch dominiert, ist die bisherige erwartungsvolle Reiselust der drei verbliebenen Freunde bereits leicht getrübt:

483 So konstatiert dagegen Ottmann im Hinblick auf Rosas Garten, den sie mit Lobsiens Zeichenmodell des Schönen interpretiert und ihm »Geschlossenheit, Überschaubarkeit, [e]rstarrte Kunst-Schönheit und […] zentralperspektivische Erfassung« zuspricht. Vgl. »Gebändigte Natur«, S. 357f. und S. 366. Heidenreich weist darauf hin, dass der locus amoenus bei Eichendorff analog zur Unmöglichkeit reinen Liebesglücks ambivalent wird: »Der locus amoenus als Ort genossenen Liebesglücks wird zur leeren Formel, die im Zusammenbrechen menschlicher Liebesbindung, wohl aber auch im steten Versuch, eine solche neu einzugehen, ihre Entsprechung hat.« (Natura delectat, S. 64) Er deutet seine »diabolische Dimension« jedoch als Gegenpart zur Gottesliebe: »Die Hinwendung zur Religion […] kennzeichnet die Wertlosigkeit der sich im Irdischen verselbstständigenden Liebe, deren Eigengesetzlichkeit auf den Untergang des Menschen zielt.« (Ebd.) 484 Price, Essays on the Picturesque, S. 89. 485 Ebd., S. 126.

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Sie setzten nun also ihre Reise allein weiter fort. Der Morgen war sehr heiter, die Gegend wunderschön; demohngeachtet konnten sie heute gar nicht recht in die alte Lust und gewohnte Gesprächsweise hineinkommen. Faber fehlte ihnen und wurde von allen vermißt. (AG, S. 113f.)

Am auffälligsten ist jedoch Rosa verstimmt, denn »sie hatte sich ganz besondere, unerhörte Ereignisse und Wunderdinge von der Reise versprochen.« (Ebd.) Doch auch diese Erwartungen sollen nicht erfüllt werden und als einmal »der Schimmer der Neuheit von ihren Augen gefallen war« (ebd.), kann sie keinen Genuss mehr an der durchreisten Natur finden. Andere Orte beginnen sie bereits zu locken, »sie hatte keine Ruhe und keine Lust mehr an den ewigen, langweiligen Steinen und Bäumen.« (AG, S. 114) Zur Rast lässt sich die Gruppe nun an einem »freigrünen Platz auf dem Gipfel einer Anhöhe« nieder, der wie folgt beschrieben wird: Ringsum lagen niedrige Berge mit Schwarzwald bedeckt, von der einen Seite aber hatte man eine weite Aussicht in’s ebene Land, wo man die blauen Türme der Residenz an einem blitzenden Strome sich ausbreiten sah. Der mitgenommene Mundvorrat wurde nun abgepackt, ein Feldtischchen mitten in der Aue aufgepflanzt, und alle lagerten sich in einem Kreise auf dem Rasen herum und aßen und tranken. (Ebd.)

Die Landschaft formt sich hier zum locus amoenus mit den entsprechenden topischen Versatzstücken. Der Ruheplatz befindet sich mitten in einer grünen, wiesenbewachsenen Aue auf einer leichten Anhöhe, umrahmt von niedrigen Bergen. Nur von Ferne sieht man die Residenz als Kontrastpunkt zur lieblichen, abgeschiedenen Naturoase, in deren Mitte die Reisenden sich einen Kreis bildend ins Gras setzen, um gemeinsam zu essen und zu trinken. Die Landschaft löst beim Betrachter »a sense of joy and pleasure« aus, wie Burke es als Charakteristikum des Schönen definiert.486 Sie bedient den Gesellschaftstrieb und entlockt dem Leser »sentiments of tenderness and affection towards their persons«.487 Der Kreis stellt ein typisches Motiv der Idyllendichtung im Allgemeinen dar. Er fungiert in diesem Rahmen als »Konstituent idyllisch vollendeter Harmonie in der Abgeschlossenheit«, wie Birgit Diekkämper herausstellt.488 In Eichendorffs Naturdarstellungen findet sich das Kreismotiv dagegen besonders häufig, um die Geschlossenheit einer ständigen unterschwelligen Gefahr der

486 Burke, A Philosophical Enquiry, S. 237. 487 Ebd. 488 Birgit Diekkämper, Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqu8, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt am Main u. a., Peter Lang, 1990, S. 97.

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Auflösung auszusetzen.489 So auch hier, wenn die Gemeinschaftlichkeit der Szene schon im anschließenden Satz durch Rosas Verhalten konterkariert wird: Rosa mochte launisch nichts genießen, sondern zog, zu Leontins großem Ärgernis, ihre Strickerei hervor, setzte sich allein seitwärts und arbeitete, bis sie am Ende darüber einschlief. (AG, S. 114)

Die zuvor explizit ins Bild gesetzte Geschlossenheit des amoenischen Ortes wird durch Rosas Absonderung von der Gruppe unterlaufen. Die Struktur des Schönen wird aufgebrochen und ein feindliches, anti-idyllisches Element dringt in die Szenerie ein. Dies zeigt sich besonders an der Tatsache, dass Rosa sich aus dem Kreis entfernt um zu arbeiten, eine Tätigkeit, die der müßigen Zwanglosigkeit des locus amoenus besonders entgegensteht. Ihre Distanzierung zieht auch sogleich eine allgemeine Vereinzelung und gänzliche Auflösung der Gemeinschaft nach sich. Im direkten Anschluss heißt es: Friedrich und Leontin nahmen daher ihre Flinten und gingen in den Wald, um Vögel zu schießen. Die lustigen, bunten Sänger, die von einem Wipfel zum andern vor ihnen herflogen, lockten sie immer weiter zwischen den dunkelgrünen Hallen fort […] (Ebd.)

Während Rosa schläft, erfasst nun auch Friedrich und Leontin die Unruhe. Die zuvor genussvoll überschaute Natur bemächtigt sich ihrer und zieht sie Schritt für Schritt immer weiter in den Wald. Aus der Beschaulichkeit der »freigrünen« Aue heraus folgen die Jäger dem lockenden Gesang der Vögel hinein in die unbekannten »dunkelgrünen Hallen«.490 Damit hat der vermeintliche Ruheplatz seine Schutzfunktion eingebüßt und offenbart seine ambivalente Erscheinung. Während Friedrichs und Leontins Abwesenheit wird Rosa von einer Bekannten überrascht, die zufällig die nahegelegene Straße passiert und sie sogleich überredet, sie in die Residenz zu begleiten. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um die Gräfin Romana, die von Leontin wie folgt beschrieben wird: […] eine junge reiche Witwe, […] die nicht weiß, was sie mit ihrer Schönheit und ihrem Geiste anfangen soll, eine Freundin meiner Schwester, weil sie mit ihr spielen kann wie sie will, eine tollgewordene Genialität, die in die Männlichkeit hineinpfuscht. (AG, S. 115) 489 Vgl. ebd., S. 66ff. Besonders im Taugenichts, der laut Diekkämper von einer ständigen Idyllensuche bzw. -sehnsucht bestimmt ist, spielt das Motiv eine zentrale Rolle. 490 Zum Wald als typischem Landschaftsmotiv der deutschen Romantik vgl. vor allem die noch immer aufschlussreiche Monographie von Wolfgang Baumgart: Der Wald in der deutschen Dichtung (Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. 15), Berlin, de Gruyter Mouton, 1936. Zu Eichendorffs Verwendung des Waldmotivs, die stark an den Volksliedern und -märchen aber auch an Tiecks »Waldeinsamkeit« orientiert ist, vgl. darin bes. S. 63ff. Zur Ambivalenz des Waldes bei Eichendorff, wo er entweder Ort der Begegnung mit dem Göttlichen oder Symbol der Freiheit sein kann, sich aber auf der anderen Seite auch »dämonisch und unheimlich, verführerisch und anarchisch« zeigen kann, vgl. Kersten, Eichendorff und Stifter, S. 26.

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Tatsächlich scheint Rosa mehr entführt denn überzeugt worden zu sein, wie der Knabe Erwin als Zeuge des Geschehens seinen beiden Herren bei deren Wiederkommen berichtet: »Rosa wollte Anfangs nicht, aber die fremde Dame streichelte und küßte sie und schob sie endlich halb mit Gewalt in den Wagen.« (Ebd.) Als unheilvolle Botschaft hinterlässt die Gräfin auf der Wiese nur einen Zettel mit ihrem Namen. Das Ereignis hat etwas Märchenhaftes, jedoch ohne Aussicht auf ein glückliches Ende. Die anfängliche Idylle der Landschaft hat sich im Laufe der Szene als trügerisch erwiesen und sich in ihr Gegenteil verkehrt. Nach der Trennung von Rosa »blieben [die beiden Grafen] nun allein auf dem grünen Platze zurück, wo es so auf einmal still und leer geworden war.« (Ebd.) In die Harmonie der schönen Landschaft ist das Element der Verlockung eingebrochen und hat die Gesellschaft entzweit. Die sozialen Bindungen haben ihre Ordnung verloren und drohen nun sich mit dem Ärger der beiden Grafen gänzlich aufzulösen. Besonders Friedrich erfährt seine erste Enttäuschung: »[ihn] kränkte bei dieser unerwarteten Nachricht die Leichtfertigkeit, mit der ihn Rosa so schnell verlassen konnte, in tiefster Seele.« (AG, S. 115) Die Zweideutigkeit, die der dargestellten Landschaft inne liegt, macht sie zu einer typischen pittoresken Landschaft der Romantik, in der die Selbstbestimmungs- und Orientierungsfähigkeiten des Subjekts kritisch hinterfragt werden.491 In ihr waltet eine »unknown cause«,492 eine Kraft, die sich dem menschlichen Einflussbereich entzieht. Die »idea of repose«,493 die den Anfang der Szene für kurze Zeit bestimmt, wandelt sich schnell in eine »idea of irritation«.494 Letztere beschreibt sehr treffend den Zustand, in den besonders Friedrich Rosas Verhalten versetzt und der bewirkt, dass die beiden Freunde sich ziellos vom Lagerplatz entfernen. Die pittoreske Landschaft ist nicht Handlungsbereich eines autonomen Subjekts, sondern wird selbst zum autonomen Raum, in dem der Mensch gebannt und seiner rationalen Handlungsfähigkeit entledigt ist. Ganz in Prices Sinne konterkariert sie die geordnete, überschaubare Einfachheit der schönen Landschaft und unterläuft gleichzeitig das überwältigende Pathos der erhabenen Landschaft. Die beschriebene Szene befindet sich in einem Zwischenbereich, in dem die idyllisch-beschauliche und die übermächtige, erhabene Natur miteinander korrelieren. 491 Eichendorffs Problematisierung des locus amoenus allein als Inszenierung der Unmöglichkeit eines irdischen Paradieses zu lesen, wie es gemäß der traditionellen Lesart geschieht, greift daher zu kurz. Vgl. z. B. Heidenreich, der in seiner Studie zum locus amoenus bei Eichendorff schlussfolgert, das »unzulängliche Diesseits« setze sich »aus den zerbrechenden Glückshoffnungen der traditionellen Idyllenkomponenten zusammen« und die Religion nehme für dieses eine »Komplementär- und Kompensationsfunktion« ein. (Natura delectat, S. 99) 492 Price, Dialogue, S. 255. 493 Price, Essays on the Picturesque, S. 15. 494 Ebd., S. 115.

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Die Schematisierung der in diesem Kapitel betrachteten Landschaftsdarstellungen und die gezielte Kombination bestimmter topischer Beschreibungselemente konnte bereits deutlich machen, dass Eichendorff weder mimetische Ansprüche an die Naturdarstellung erhebt, noch die Landschaft zum Spiegelbild der Seele instrumentalisiert, wie es die Autoren des Sturm und Drang und der Frühromantik taten. Die Figuren »bewegen sich in der Landschaft […], sie ist keine Explikation von Innerlichkeit,«495 wie auch Zons festhält. Die Landschaft erscheint stattdessen als autonomer Raum, sie ist »nicht nur objektiv und unabhängig vom Betrachter, sie ist selbst dynamisch, in sich reflexiv.«496 So nimmt die Landschaft auch in Bezug auf das Handlungsgeschehen eine reflektierende Rolle ein. Die Verlockung, die zuvor im pittoresken englischen Park noch von Rosa selbst ausging, überträgt sich nun auf die Natur und die gesamte Lebenswelt der Figuren. Zwar befinden sich die Figuren zu Beginn der Szene auf einer Anhöhe, von der aus sie auf die Umgebung herabschauen können, doch sind sie letztlich passive Objekte im Herrschaftsbereich der Natur. Friedrich und Leontin folgen willenlos den »lustigen, bunten Sängern«, die als Boten der unbekannten dunklen Wälder fungieren, und Rosa schläft sogar ein. Dieser Ausdruck der Fremdheitserfahrung des Subjekts in der Landschaft konnte bereits bei Chateaubriands Landschaftsdarstellung beobachtet werden. In der Bewusstseinsschwäche des Schlafes kann eine Gefahr, die vorher als Teil der betrachteten Umgebung in überschaubarer Ferne lag, Rosas habhaft werden. In der Gestalt der Gräfin Romana zieht das überschwängliche, künstliche und lasterhafte Leben der Residenz Rosa in seinen Bann. Es wäre dabei zu kurz gegriffen, die Natur als guten, heilvollen und gottesnahen Ort der degenerierten, sittenlosen Welt der Residenz diametral gegenüberzustellen,497 denn die Natur selbst ist bei Eichendorff keine gute Natur mehr. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Tatsache, dass gerade ein stereotyper idyllischer Ort seine Schutzfunktion einbüßen muss und Schauplatz der sozialen Vereinzelung wird. Die Kräfte der Natur, die auf den ersten Blick wohl geordnet erscheinen, sind in Wirklichkeit entfesselt, wie es sich bereits in dem Wasserstrudel der Eingangsszene angekündigt hatte. Die Landschaft spaltet sich selbst bereits immer in Gut und Böse

495 Zons, »Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 52. 496 Ebd. Von Bormann sieht die Unabhängigkeit der Landschaft vom Betrachter, das heißt ihre Autonomie, gerade als Voraussetzung dafür, dass in der Natur »eine seinem Bewußtsein überlegene, seinem Verständnis sich nur andeutende Wahrheit hervortreten [kann].« (Natura loquitur, S. 10) 497 Zu dieser Lesart vgl. z. B. Franz X. Ries, Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff, Berlin, Duncker & Humblot, 1997, bes. S. 39–44. Darauf, dass diese Gegenüberstellung die Struktur des Romans zu sehr vereinfacht, weist dagegen Zons hin. Vgl. »Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 51.

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auf. Eichendorff entwirft eine ambivalente Landschaft, in deren Spannungsfeld der Mensch ohnmächtig und seinen Selbstbestimmungsfähigkeiten beraubt ist. Darauf, dass Rosa im Grunde genommen schon von diesem Zeitpunkt an für Friedrich und Leontin für immer verloren ist,498 verweist ein Ausspruch Friedrichs, der die Szene abschließt. Als die beiden Gefährten nach den Ereignissen noch einmal in die Umgebung hinunterblicken, erscheint sie verglichen zum Szenenanfang in einem ganzen anderen Licht: Siehst du dort, sagte Friedrich, die dunklen Türme der Residenz? Sie stehen wie Leichensteine des versunkenen Tages. Anders sind die Menschen dort, unter welche Rosa nun kommt; treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht unter ihnen. Ich möchte sie lieber tot, als so wiederseh’n. Ist mir doch, als steige sie, wie eine Todesbraut, in ein flimmernd aufgeschmücktes, großes Grab, und wir wendeten uns treulos von ihr und ließen sie gehen. (AG, S. 116)

Wo man zuvor »die blauen Türme der Residenz an einem blitzenden Strome sich ausbreiten sah« (s. o.), erstreckt sich jetzt ein grausiges Todesszenario. Das weltliche, naturabgewandte, künstliche Leben der Residenz als Ort der Lasterhaftigkeit und des moralischen Verfalls erscheint vordergründig als negativer Gegenentwurf zum erstrebenswerten, einfachen Leben in der Natur. Doch hat sich die definitorische Aufspaltung dieser beiden Lebensentwürfe in Gut und Böse verunklart. Zwar ist Rosa von Beginn an Repräsentant der weltlichen Begierden, was einen Aufbruch in die Residenz ganz und gar ausreichend motiviert hätte, doch wird ihr Abschied gerade nicht als freiwillige Entscheidung inszeniert. Er geschieht allein als Konsequenz aus dem Verlust an Orientierung und Eigenmächtigkeit, die das einfache naturverbundene Dasein nicht mehr gewährleistet. Der geschlossene idyllische Hort des locus amoenus hat seine Existenzberechtigung eingebüßt, womit ein allgemeiner Funktionswandel der Natur einhergeht. Dieser Wandel wird in der beschriebenen Szene reflektiert. Auch Friedrichs und Leontins Wege werden sie im Folgenden noch in die Residenz führen. Der zweite Teil des Romans spielt fast ausschließlich dort und hebt sich deutlich von den belebten, heiteren Szenen und Naturbeschreibungen des ersten ab.499 So kann ein Gedicht, das Friedrich unmittelbar vor seinem 498 Löhr deutet Rosas »Entfremdung vom Naturbereich« im Hinblick auf Friedrichs Versuch, ein ›poetisches Leben‹ zu führen. Rosas Verhalten liest sie als Indiz dafür, »[w]ie wenig sie als Muse der wahren Poesie taugt.« (Sehnsucht als poetologisches Prinzip, S. 183f.) 499 Das zweite Buch beginnt mit einem Maskenball in der Residenz, eine Szene, die auf eindringliche Weise die Entäußerung von Individualität und die Selbstverlorenheit ins Bild setzt, die mit dem höfischen Leben assoziiert wird. Jochen Hörisch beschreibt in seiner Deutung der Szene die Charaktermaske als Symbol für die »Macht der unifizierenden Zivilisation über die Vielheit der Geschöpfe.« (»›Larven und Charaktermasken‹. Zum elften Kapitel von Ahnung und Gegenwart«, in: Pott (Hrsg.), Eichendorff und die Spätromantik, S. 27–38, hier S. 34) Der Maskenball kommt laut ihm einer Initiation in die Welt des Todes

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Aufbruch in die Residenz verfasst – »O Täler weit, o Höhen«, eines der bekanntesten Gedichte Eichendorffs –, als letzte vergebliche Anrufung der verwehrten und vermissten Obhut der Natur interpretiert werden: O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächt’ger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft’ge Welt, Schlag’ noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt! (AG, S. 169)500

Die Tatsache, dass Friedrich, obwohl er das verderbliche Dasein der Residenz fürchtet, seinen Freunden dorthin folgt und dem freien Leben in der Natur den Rücken kehrt, verweist auf die irreversible Kluft, die sich zwischen Mensch und Natur aufgetan hat. Friedrich folgt nun in neuer Hoffnung auf Erfüllung seiner »niegekannten Wünsche« der nächsten Verlockung: Auf buntbewegten Gassen, Des Lebens Schauspiel seh’n. (AG, S. 170)

3.2.3 Jagd und Trieb in der entfesselten Natur Die oben beobachtete Problematisierung der Idylle, die nicht nur bei Eichendorff, sondern in der Literatur der europäischen Romantik allgemein ein zentrales Motiv darstellt,501 geht mit dem Aufkommen der pittoresken Ästhetik als alternativem Landschaftsmodell einher, das die Ambivalenz der Natur- und Selbsterfahrung des Subjekts bedient. Dieser These soll im Folgenden noch weiter nachgegangen werden. Unterzieht man die Naturbeschreibungen aus Ahnung und Gegenwart einer genaueren Untersuchung, zeigt sich, dass das pittoreske, ambivalente Moment in jeder Landschaftsszene in mehr oder minder starker Form präsent ist. Es ist konstitutiv für die Natur- und Welterfahrung, die der Roman entwirft und reflektiert. Ein besonders signifikantes Beispiel solcher gleich, als deren personifizierte Gestalt der »Tod von Basel« auftritt, ein Besucher des Balls hinter dessen Maske Friedrich zu seinem Schrecken nur Leere und Dunkelheit erblickt. 500 Besonders die dritte Strophe des Gedichts wird immer wieder herangezogen, um Eichendorffs Vorstellung einer in der Natur verborgenen Ursprache zu belegen. Dort heißt es: »Da steht im Wald geschrieben / Ein stilles, ernstes Wort, / Von rechtem Tun und Lieben, / Und was des Menschen Hort. / Ich habe treu gelesen / Die Worte schlicht und wahr, / Und durch mein ganzes Wesen / Ward’s unaussprechlich klar.« (AG, S. 170) Zur entsprechenden Interpretation des Gedichts vgl. Mühlher, Lebendige Allegorie, S. 126f. 501 Vgl. hierzu auch unten, Kap. 3.3.1.

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Landschaftsdarstellung stellen die beiden umfangreichen Jagdszenen des Romans dar, die wichtige Knotenpunkte der Handlung konstituieren und zentrale Positionen in ihrem Gesamtverlauf einnehmen. Die erste Szene befindet sich im achten Kapitel und damit im letzten Drittel des ersten Teils, die zweite im siebzehnten Kapitel, welches den zweiten Teil des Romans abschließt. In beiden Fällen begeben sich Friedrich und Leontin in großer Gesellschaft zur Jagd. Der eigentliche Verlauf der Jagd wird jedoch weitgehend in den Hintergrund verlagert bzw. gänzlich ausgeklammert. Im Vordergrund steht vielmehr die detaillierte Beschreibung des Beisammenseins der jeweils versammelten Gesellschaft und ihrer sozialen Strukturen, versehen mit signifikanten Landschaftsansichten. Der erste Jagdausflug ist Teil von Friedrichs und Leontins Aufenthalt auf dem Gut von »Herrn von A.«, einem befreundeten reichbegüterten Edelmann, dessen hübsche Tochter Julie Leontin, den sie am Ende des Romans heiraten wird, die Idee zu einem dortigen Besuch eingegeben hatte. Die beiden Freunde verbringen bei ihrem freundlichen Gastgeber eine friedliche, besinnungsvolle Zeit, die beiden noch einmal die Freuden eines naturverbundenen Lebens nahebringt, bevor sie sich im Anschluss an den Aufenthalt auf den Weg zur Residenz machen. Die Ankunft auf dem Gut führt sie zunächst auf ›neutralen‹ Boden, was sich erneut in der Beschreibung der dort angelegten Gärten ankündigt. Diese entziehen sich nämlich gerade jener Kategorisierung, die in den übrigen Gartenbeschreibungen des Romans geleistet wird. Die Rede ist hier von »einem freundlichen Chaos von Gärten« (AG, S. 124), »a happy union of simplicity and variety«, wie Gilpin ähnlich fordert,502 das heißt einer für das Auge noch angenehmen Vielfalt des Ungleichen. Die gesamte Landschaft um das Gutshaus scheint aus sich selbst heraus eine Ästhetik des Schönen hervorzubringen, ohne jeden künstlichen Eingriff, wie betont wird: Sie eilten in den Garten hinab, wo sie nicht wenig über die Schönheit der Landschaft erstaunten. Der Garten selbst stand auf einer Reihe von Hügeln, wie eine frische Blumenkrone über der grünen Gegend. Von jedem Punkte desselben hatte man die erheiternde Aussicht in das Land, das wie in einem Panorama ringsherum ausgebreitet lag. Nirgends bemerkte man weder eine französische noch englische durchgreifende Regel, aber das Ganze war ungemein erquicklich, als hätte die Natur aus fröhlichem Übermute sich selber aufschmücken wollen. (AG, S. 129)

Panoramaartige Ausblicke von leichten Hügeln und ein Gesamtbild, das sich dem Auge in einem angenehmen, reibungslosen Wahrnehmungsprozess schnell erschließt, realisieren hier die Ästhetik des Schönen. Es ist diese Atmosphäre idyllischer Beschaulichkeit, in der sich die gesamte Handlungssequenz um den Besuch bei Herrn von A. erstreckt. Darauf, dass sich die Struktur der Landschaft 502 Gilpin, Three Essays, S. 16.

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erneut auf das soziale Gefüge der versammelten Gesellschaft übertragen lässt, verweist hier sogar explizit eine Aussage von Friedrich: Sie [d.i. die schöne Gegend] kommt mir vor, wie die Menschen hier im Hause […]. Wenn ich in einen solchen abgeschlossenen Kreis von fremden Menschen hineintrete, ist es mir immer, als sähe ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites, nächtliches Land. Da gehen stille breite Ströme, und tausend verborgene Wunder liegen seltsam zerstreut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte, glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hinein. (AG, S. 128)

Die beschaulich geordnete aber gleichzeitig natürliche, reine Landschaft dient als bildliche Konfiguration der sozialen Bindungen. Sie wirken in einer Art und Weise geordnet, die sowohl harmonischen Zusammenhalt in der Gemeinschaft garantiert als auch die Individualität und Kreativität des Einzelnen hervorzulocken fähig ist. Wie die einzelnen Gärten und Landschaften der Umgebung leben alle Mitglieder der Gesellschaft in scheinbar vollkommenem, natürlichem Einklang miteinander, wobei die »stille[n] breite[n] Ströme, und tausend verborgene[n] Wunder«, die »seltsam zerstreut« in der Tiefe des Tales liegen, hier bereits subtil auf eine weitere, noch verborgene Dimension hinweisen. Die Einfachheit des Lebens, »diese seit seiner Kindheit entbehrte grüne Abgeschiedenheit« (AG, S. 130) im »alten, schuldlosen Garten« (AG, S. 303), wie Leontin ihn am Ende des Romans rückblickend beschreibt, lässt zunächst auch Friedrich zu sich selbst finden. Allein im Garten widmet er sich ganz der Dichtkunst, zu der er den sinnlich-unmittelbaren Zugang findet, der sonst nur der unvoreingenommenen Phantasie eines Kindes vorbehalten ist.503 Was er selbst verfasst, kommt ihm »aus tiefster Herzenslust, und es waren fast die glücklichsten Stunden seines Lebens.« (AG, S. 130) Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch auch in dieser Handlungssequenz gewisse Dissonanzen in der vermeintlich reibungslosen Harmonie des naturverbundenen Lebens, was hier durch das einschränkende »fast« schon angekündigt wird. Wiederum zieht Eichendorff zur Inszenierung dieses Konflikts eine Landschaftsbeschreibung heran. Es handelt sich hierbei um die erste der beiden oben genannten Jagdszenen. Als sich die Jagdgesellschaft, zusam503 Der Zusammenhang zwischen Idylle und Dichtkunst bzw. der Fähigkeit, das ›Lied zum Klingen zu bringen‹, wurde in der Eichendorff-Forschung viel diskutiert. Vgl. z. B. Dieter Kafitz, der in Bezug auf Ahnung und Gegenwart schlussfolgert: »Nur noch in der idyllischen Einsamkeit entsteht der harmonische Einklang von Natur und Gemüt als Voraussetzung romantischen Dichtens.« (»Wirklichkeit und Dichtertum in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. Zur Gestalt Fabers«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 350–374, hier S. 368) Laut Löhr wird in der Idylle des Guts das »Problem des poetischen Lebens« deutlich, »da es nur unter der Bedingung der Weltferne möglich ist und überdies zum sehnsuchtsfeindlichen Verweilen einlädt.« (Sehnsucht als poetologisches Prinzip, S. 169) Sehnsucht und Reisen sind jedoch gleichzeitig die Bedingungen für das poetische Schaffen. (Vgl. S. 203f.)

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mengesetzt aus der Gemeinschaft der Gutsbewohner, nach volltaner Arbeit zusammenfindet, heißt es: Unterdes war die Sonne schon hoch über die Wipfel des Waldes gestiegen, nur noch hin und her gaben die Hunde einzelne Laute, kein Schuß fiel mehr und der Wald wurde auf einmal wieder still. Die Jäger durchstrichen das Revier und riefen mit ihren Hüfthörnern die zerstreuten Schützen von allen Seiten zusammen. So hatte sich nach und nach die Gesellschaft, außer Leontin, zusammengefunden und auf einer großen, schönen Wiese gelagert, die kühl und luftig zwischen den Waldbergen sich hinstreckte. Mehrere benachbarte Edelleute waren schon frühmorgens mit ihren Söhnen und Töchtern im Walde zur Jagd gestoßen und vermehrten nun den Trupp ansehnlich. Die Mädchen saßen, wie Blumen in einen Teppich gewirkt, mit ihren bunten Tüchern lustig im Grünen, reinlich gedeckte Tische mit Eßwaren und Wein standen schimmernd unter den kühlen Schatten, die Tante ging, alles fleißig und mit gutem Sinne ordnend, umher. (AG, S. 136f.)

Auch hier wird die Gemeinschaftlichkeit und Harmonie der Szene durch eine amoenische, in Burkes Sinn schöne Landschaft unterstrichen.504 Alle Elemente stehen vordergründig im Zeichen der Idylle. Wer sich während der Jagd von der Gruppe entfernt hatte, wird nun zu ihr zurückgerufen. Die Anordnung der Personen signalisiert Verbundenheit, was im Bild des gewebten Teppichs zur Beschreibung der buntgekleideten Mädchen gipfelt. Ort der Zusammenkunft ist erneut eine schöne, von den schützenden Bergen der angrenzenden Wälder umringte Wiese. Die zweimal erwähnte Kühle des Lustortes lässt die durch die Jagd erhitzten Gemüter zur Ruhe kommen. Die Szene ist durch Ausgewogenheit, Maß und Ordnung bestimmt. Dies zeigt sich neben der Gestaltung der Figurengruppe noch einmal explizit im letzten Satz mit der Beschreibung von Julies Tante, die »fleißig und mit gutem Sinne ordnend« über die Gesellschaft waltet. Ein Mitglied fehlt jedoch, worauf explizit hingewiesen wird. Leontin, der noch allein durch die umliegenden Wälder streift, stößt als letzter zur Gruppe hinzu und steht damit im Zentrum der Szene (» – Auf einmal trat auch dieser gegenüber auf der Höhe aus dem Walde, und alle die jungen, schönen Augen flogen der hohen, schlanken Gestalt zu.« AG, S. 137). Die Art und Weise seines Auftritts antizipiert die Schlüsselrolle, die er im weiteren Verlauf der Szene einnehmen wird. Er eilt zu der versammelten Gesellschaft hinunter und schließt sich ihrem fröhlichen Beisammensein an: Leontin war indes hinabgestiegen, und alles rückte sich nun um die reichbedeckten Tische zusammen. Die Jäger lagen, ihre Weinflaschen in der Hand, hin und her zerstreut, ihre Hunde lechzend neben ihnen auf den Boden hingestreckt. Der freie Himmel machte alle Herzen weit, der Wein blickte golden aus den hellgeschliffenen Gläsern, wie

504 Vgl. oben, Kap. 3.2.2 sowie Kap. 2.2.2.1.

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die Lust aus den glänzenden Augen, und ein fröhliches Durcheinandersprechen erfüllte bald die Luft. (AG, S. 137f.)

Das festliche, lukullische Mahl nimmt seinen Lauf, jedoch beginnt ein neues Element darin einzudringen. Mit Leontins Auftreten verändert sich die arglos heitere Atmosphäre der Szene, anfangs subtil, dann immer deutlicher. Die friedliche Geselligkeit nimmt dionysische Züge an. Zwar verengt sich zunächst die Kreisstruktur der Idylle, wie dem ersten Satz zu entnehmen ist, doch scheint ihre Geschlossenheit von dem bedrohlich rauschhaften Element unterlaufen zu werden. Eine innere Erregung bemächtigt sich der Szene. In Analogisierung von Natur und Mensch stellt sich das Prinzip der Weite dem der bisherigen Ordnung herausfordernd gegenüber (»Der freie Himmel machte alle Herzen weit«). Auch das Miteinander intensiviert sich, wird konfus und vervielfältigt sich in ein »fröhliches Durcheinandersprechen«. Die Zwanglosigkeit droht in Zügellosigkeit überzugehen, Sitte und Moral scheinen entfesselt und das Rauschhafte gewinnt an Dynamik. Einem anwesenden verlobten Paar wird immer weiter »von allen Seiten mit kernigen Anhängen zugetrunken« und die junge Braut bedankt sich, »indem sie jedesmal ebenfalls das Glas an den Mund setzte.« (AG, S. 138) Auch Leontin, »dem die feinen Lippen der Braut rosiger vorkamen, wenn sie sie in den goldenen Rand des Weines tauchte«, trägt seinen Teil dazu bei: »[er] setzte ihr tapfer zu und trank mehr als gewöhnlich.« (Ebd.) Als es daraufhin zu einer Diskussion zwischen den angetrunkenen Jägern und Leontin kommt, der deren Meinung über das Ziel einer Jagd nicht teilen kann, droht die Spannung endgültig zu eskalieren. Das »fröhliche Durcheinandersprechen« steigert sich zu einem »verworrenen Schwall von Widersprüchen« und die »offenbare Kriegserklärung brachte nun vollends alles in Harnisch.« (AG, S. 139) Erst im letzten Moment kann Leontin das Ruder noch einmal herumreißen: »der viele Wein und die allgemeine Fehde [hatten ihn] erst recht in seine Lustigkeit hineingesetzt.« Mit seiner Gitarre »übersang [er] die Kämpfenden« mit einem schnell erdachten Lied, das den alten Frieden wieder herbeiführen kann. (Ebd.) Die Ordnung ist wieder hergestellt und die für einen Augenblick aufgewallten Triebe treten wieder hinter die gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen zurück. Die Jagdszene mündet nach einem kurzen Gipfelpunkt in ein harmonisches Ende: Die ganze Gesellschaft war durch das lustige Lied wieder mit ihm ausgesöhnt, der Streit war vergessen und von allen Seiten wurde auf die Gesundheit des Sängers getrunken. (AG, S. 140)

Betrachtet man die Szene im Ganzen, tritt der Aspekt der Ambivalenz überdeutlich daraus hervor und erweist sich als bestimmendes Charakteristikum der Landschaft. Diese steht zunächst noch im Zeichen des locus amoenus und fungiert ausdrücklich als Ort der Ruhe und des friedlichen Beisammenseins nach den erregenden Erlebnissen der Jagd. Doch die sengende Stille der Mit-

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tagssonne (»Unterdes war die Sonne schon hoch über die Wipfel des Waldes gestiegen«), bei Eichendorff häufig Indikator für eine bevorstehende Handlungsverdichtung,505 suggeriert bereits, dass die schattige Wiese im Tal der Berge zum »gigantischen Amphitheater«,506 zum pittoresken Schauplatz weiterer Dramatik werden könnte. Das triebhafte, dunkel-reizvolle Element der Jagd scheint deren Ende klammheimlich überdauert zu haben. Ihr Verlauf selbst wurde dem Leser in den vorangegangenen Passagen gänzlich unterschlagen, nur durch den Filter von Leontins Wahrnehmung, der alleine umherschweift, ist die Rede von Schüssen und Hundebellen in der Ferne. Im Vordergrund steht dagegen auch hier die Landschaftserfahrung. Schon bei der Beschreibung des Jagdschlosses ganz zu Beginn der Szene heißt es: Das kleine Schloß mit seinem netten Hofe lag mitten in einem einsamen Tale, rings umher von Tannenwäldern umschlossen. Leontin, den diese tiefe Einsamkeit überraschte, blieb in Gedanken stehen und sagte: Wie fürchterlich schön, hier mit einem geliebten Weibe ein ganzes Leben lang zu wohnen! Ich möchte mich um alle Welt nicht verlieben. (AG, S. 135f.)

Leontin empfindet hier beim Anblick des einsamen Schlosses in der Weite der stillen Natur ein erhabenes Demutsgefühl. Das Panorama erfüllt ihn gleichzeitig mit Angst und Genuss, die Aussicht sich dort niederzulassen, erscheint ihm »fürchterlich schön«, ein erneuter Hinweis auf die Ambivalenz der Landschaft.507 Leontin unterliegt dem Wirkungskreis der Natur, ziellos bewegt er sich in ihr und ergibt sich ihren spontanen Effekten: Er durchstrich daher an dem frischen Morgen allein die einsame Heide, wo ihn oft plötzlich durch eine Lichtung des Waldes die herrlichsten Aussichten überraschten und Stundenlang festbannten. (AG, S. 136)

505 Zur Bedeutung des Mittags bei Eichendorffs (und den Tageszeiten allgemein) vgl. Peter Schwarz, der in Eichendorffs Mittag die »Erlebniswelten von Erinnerung, Schlaf, Traum, Tod und Zeitenthobenheit« verdichtet sieht. (Die Bedeutung der Tageszeiten in der Dichtung Eichendorffs. Studien zu Eichendorffs Motivik, Erzählstruktur, Zeitbegriff und Ästhetik auf geistesgeschichtlicher Grundlage, Freiburg im Breisgau, 1964, hier S. 134) Laut Seidlin steht die schwüle Mittagslandschaft bei Eichendorff immer für die Verderbtheit der irdischen Natur, vgl. »Eichendorffs symbolische Landschaft«, S. 237. 506 Vgl. zu dieser Bezeichnung für eine pittoreske Landschaft Lessenich, »Romantische Landschaft als Konstruktion des Betrachters«, in: Ernst / Geyer (Hrsg.), Die Romantik, S. 325–337, hier S. 326. Die pittoreske Landschaft kann als Amphitheater der Natur bezeichnet werden, da sie zwar nicht unbegrenzt wie die erhabene Landschaft, dafür aber »emotionsintensiver, uneben und weiter begrenzt« als die schöne Landschaft ist. 507 Kunisch stellt in seiner Untersuchung über Eichendorffs ambivalente Landschaft typisches Vokabular der Naturbeschreibung zusammen. Neben »fürchterlich schön« zählt hierzu z. B. »wildschön«, »süß schaurig« oder »süß verwirrt«. (Vgl. »Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, S. 137)

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»Nor is there in travelling a greater pleasure, than when a scene of grandeur bursts unexpectedly upon the eye« konstatiert Gilpin. Ist diese Szene zudem »accompanied with some accidental circumstance of the atmosphere, which harmonizes with it«,508 kann sich der Betrachter ganz dem unergründlichen Reiz der Natur hingeben. Denn pleasure bedeutet bei Gilpin in diesem Zusammenhang wie oben gezeigt eine Auskopplung des Verstandes. Der Mensch ist der Natur in diesem Moment gänzlich unterworfen. Indem sich die Natur in Ahnung und Gegenwart bevorzugt in plötzlich auftauchenden Ansichten präsentiert,509 realisiert sie den von Gilpin beschriebenen Effekt der Auskopplung des Verstandes. Dadurch, dass die Jagdbeschreibung durch Leontins Reflexionen im Angesicht der einsamen Gebirgslandschaft eingeleitet wird, ist die gesamte Szene zunächst im Rahmen einer erhabenen Landschaft situiert. In dem Moment von Leontins Erscheinen im Kreis der Gesellschaft vermischen sich dann plötzlich erhabene und schöne Landschaft miteinander. Die schöne, geordnete Landschaft wird für einen Augenblick von einem unbestimmten, sich dem Verstand entziehenden Reiz unterlaufen. Die Sublimierung der Triebe in der Gesellschaft, die die idyllische Landschaft ins Bild setzt, ist für kurze Zeit außer Kraft gesetzt. Im Folgenden wird deutlich werden, wie damit das zentrale Geschehen der zweiten Jagdszene bereits antizipiert wird. Im Fall beider Szenen erweist sich die pittoreske, ambivalente Landschaft als Deutungshorizont für das inszenierte Handlungsgeschehen und die Entfremdung der idyllischen, guten Natur. Während in der ersten Szene das dämonische Element letztlich noch im Zaun gehalten werden und Friedrichs und Leontins Aufenthalt bei Herrn von A. seine idyllischen Vorzeichen somit bewahren kann, gelingt diese Repression in der zweiten Jagdszene nicht mehr. Die Gräfin Romana ist nun die Gastgeberin und auf ihre dringliche Einladung hin versammeln sich Friedrich, Leontin und auch Rosa zur Gämsenjagd im Hochgebirge in der Nähe von Romanas Schloss. Auch der Erbprinz, deren Bekanntschaft die drei während ihres Aufenthalts in der Residenz gemacht haben und der als Personifizierung der weltlichen Sündhaftigkeit Rosa bereits in seinen Bann gezogen hat, ist anwesend. Damit versammelt diese Schlussszene des zweiten Buches die zentralen Figuren des Romans, eine in Anbetracht der verworrenen Wege der ständig umher reisenden Protagonisten seltene Begebenheit. Die Beschreibung der Landschaft, in der sich die kom508 Gilpin, Three Essays, S. 21. 509 Vgl. zu dieser für Eichendorff typischen Inszenierung des Blicks auch Wettstein, Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 38ff. Wettstein stellt das unvermittelte »Sehen des ersten Moments« dem »versunkene[n] Schauen« gegenüber, welches immer Unheil bedeute. Letzteres geht einher mit einer »Gefahr des Einsinkens, Gefahr des Eingezogenwerdens von den Dingen, Gefahr der Verirrung des Subjekts in die Ausweglosigkeiten des Selbstbewußtseins und des Unterbewußten.« (S. 39)

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menden Ereignisse zutragen werden, leitet auch hier die Szene ein. Bei Leontins und Friedrichs Ankunft heißt es: Als sie um die letzte Bergesecke herumkamen, fanden sie schon die Gesellschaft auf einer schönen Wiese zwischen grünen Bergen bunt und schallend zerstreut. Einzelne Gruppen von Pferden und gekoppelten Hunden standen rings in der schönen Wildnis umher, im Hintergrunde erhob sich lustig ein farbiges Zelt. (AG, S. 268)

Auch hier wird zur Beschreibung der Wiese als Ort der Geselligkeit die Ästhetik des Schönen bemüht. Durch den Zusatz der »schönen Wildnis« im zweiten Satz liefert der Erzähler jedoch dieses Mal gleich zu Beginn einen Hinweis darauf, dass die umgebene Landschaft vielmehr eine ambivalente Mischform darstellt. Sie ist beschaulich und wild zugleich und damit pittoresk. Tatsächlich ist das wilde, dionysische Element, anders als in der ersten Jagdszene, in der es sich erst schleichend bemerkbar gemacht hatte, darin vom ersten Augenblick an präsent. Während dort auch auf die Jagd selbst nicht näher eingegangen wurde, handelt es sich hier um eine Gämsenjagd und damit um gefährlich hohe und steile Felsenabhänge als Ort des Geschehens. Die Szenerie erzeugt Schwindel, ein Beschreibungselement, das sich bei Eichendorff häufig findet und zu den bevorzugten Wörtern gehört, die im Kontrast zum Begriffsfeld der Idylle »auch den Zauber und das Gelöstsein als bedroht erkennen lassen.«510 In der Jagdszene findet es sich gleich zu Beginn, wenn Leontin verkündet: »Wir sind schwindlige Leute« (AG, S. 269), und wiederholt sich dann bis zum Ende der Szene noch einige Male in verschiedenen Formen und Kontexten. In ihrem Verlauf erweist es sich als charakteristisch für den Bewusstseinszustand der Figuren, ihre Haltlosigkeit und Desorientierung im Wirkungskreis der übermächtigen Natur, die hier deutlicher als sonst im Roman zutage tritt. Die zügellose Ausgelassenheit, die ebenfalls von Beginn an vorherrscht, offenbart sich am eindringlichsten in der Gastgeberin Romana. Auf das »künstlich gesteigerte Leben« (AG, S. 180) und die innere Zerrissenheit dieser Figur, die wohl Eichendorffs komplexestes Frauenportrait darstellt, wurde in der Forschung regelmäßig hingewiesen.511 Die Erscheinung der »zauberische[n] Ro510 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung der Wortfelder Kunisch, der so auf die ständige Ambivalenz der Landschaft hinweist. Zu den »Grundvorstellungen und -bildern«, die Einheitlichkeit und Geschlossenheit suggerieren, zählt er z. B.: »Wald, Wipfel, Rauschen, Mond, Berg, Tal, Grund, Strom, Schloß, Park, Mühle, Posthorn, Nacht, Morgen, Heimat« etc. Demgegenüber stehen: »Verwirrung, wirr, verworren, irren, irr ; schwül, Schwüle, Gewitter, dumpf, blitzen, schaurig, Schauder, Grauen, Einöde, Öde, fremd, Fremde, wüst, verwildert, schwindelnd, bodenlos, unheimlich, bang, schwindelig, wild, wollüstig, trunken, lauern, Willkür« etc. (»Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, S. 135) Zum Motiv des Schwindels im Zusammenhang mit Eichendorffs Wald- und Gebirgslandschaften vgl. auch Kersten, der den Blick in den Abgrund als Konfrontation mit den dunklen, dämonischen Kräften der ambivalenten Natur beschreibt. (Eichendorff und Stifter, S. 34ff.) 511 Löhr beschreibt, dass es im Roman vor allem die »ebenso sinnliche wie freigeistige Ro-

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mana in einer grünen Jagdkleidung, sehr geschmückt, fast phantastisch, wie eine Waldfee anzusehn’n« folgt direkt auf die zitierte Landschaftsbeschreibung. (AG, S. 268) Doch auch Rosas Auftritt trägt zur Überschwänglichkeit und Reizintensität der Szene bei, indem sie sich unnatürlich und für sie untypisch in Männerkleidern präsentiert: Neben ihr auf ihre Achsel gelehnt stand Rosa in männlichen Jägerkleidern und versteckte ihr Gesicht an der Gräfin, da der Prinz eben zu ihr sprach, als sie Friedrich’n mit ihrem Bruder von der anderen Seite ankommen sah. […] Friedrich hatte Rosa’n noch nie in dieser Verkleidung gesehen und betrachtete lange ernsthaft das wunderschöne Mädchen. (AG, S. 268)

Zons verweist auf den erotischen Gehalt der Szene, in der sich »die Sündhaftigkeit vollendet«, die bislang den Roman durchzogen hat.512 Die Präsenz des bedrohlich Verführerischen erstreckt sich jedoch noch weit über die Frauengestalten hinaus. Die Zerrissenheit der Gastgeberin, »die antike, heidnische Triebnatur, deren Willkür mit moderner Subjektivität eine Allianz eingegangen ist«,513 überträgt sich unheilvoll auf die gesamte Szene und schafft eine Atmosphäre der Zügellosigkeit: Romana kam auf die beiden los und empfing sie mit einer auffallenden Heftigkeit. Nun entlud sich auch das Zelt auf einmal eines ganzen Haufens von Gästen und Leontin war in dem Gewirre gar bald in seine launigste Ausgelassenheit hineingeärgert, und spielte in kecken, barocken Worten, die ihm wie von den hellen Schneehäuptern der Alpen zuzufliegen schienen, mit diesem Jagdgesindel, das Ein einziger Auerochs verjagt hätte. Auch hier war die innerliche Antipathie zwischen ihm und dem Prinzen bemerkbar. Der Prinz wurde still und vermied ihn, wo er konnte, wie ein Feuer, das überall mit seinen Flammenspitzen nach ihm griff und ihn im Innersten versengte. (AG, S. 268)

Die Geschlossenheit und idyllische Überschaubarkeit der ersten Jagdszene wird hier von Beginn an untergraben. Zwar herrscht noch ein scherzhafter Grundton vor, doch bewegt sich das spielerische Moment auf einem schmalen Grad. An die Stelle gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen ist ein »Gewirre« getreten, aus dem mana« ist, die »sämtliche Register von Wehmut und Sehnsucht bis ins Extreme durchläuft.« (Sehnsucht als poetologisches Prinzip, S. 188) Ottmann spricht von der »Dämonisierung Romanas« und weist darauf hin, dass ihre Gedanken »im Kontext der Genieepoche als Laster eines übersteigerten Subjektivismus gekennzeichnet werden und den Menschen in einen Unruhezustand versetzen.« (»Gebändigte Natur«, S. 383) Vgl. zu Romanas Figur außerdem Eichner, der sie mit Juanna und Diana aus Dichter und ihre Gesellen (1833) vergleicht. Alle drei Frauen können mit der heidnischen Venus assoziiert werden, wobei Romanas Zerrissenheit ihr ihre besondere Tiefendimension und Persönlichkeit verleiht. (»Zur Auffassung der Sexualität in Eichendorffs erzählender Prosa«, S. 48ff.) 512 Zons, »Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 65. Vgl. auch Schwarz, der ebenfalls schlussfolgert: »die destruktive Macht des Eros brennt durch das ganze Werk.« (»Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 312) 513 Zons, »Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 60.

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sich nur Romanas exaltierte »Heftigkeit« und Leontins »launigste Ausgelassenheit« hervorheben können. Während vorher die einfache Gesellschaft von Landleuten »wie Blumen in einen Teppich gewirkt« (s. o.) erschien, stehen nun die Klüfte innerhalb der sozialen Bindungen des »Jagdgesindels« im Vordergrund. Die Feuermetaphorik und die anthropomorphisierten, um sich greifenden Flammenspitzen suggerieren gemeinsam mit dem drastischen Verb »versengte«, das aus der zunächst heiteren Darstellung irritierend hervorspringt, bereits die Bedrohlichkeit der Leidenschaften, die den weiteren Szenenverlauf bestimmen werden. So distanziert sich nicht nur der Prinz, sondern auch Rosa entfernt sich von der Gruppe. Grund ist die erregte Fehde zwischen Romana und Leontin, der sich, »wie immer, wenn er sie sah, nicht enthalten [konnte], mit zweideutigen Witzen und Wortspielen ihre innerste Natur herauszukitzeln.« Doch dieses Mal hält sie ihm stand, und scheint sich »nur immer mehr zu berauschen«, mit dem Ergebnis, »daß Rosa mehreremal rot wurde und endlich fortgeh’n mußte.« (AG, S. 269) Die egozentrischen Triebe sind nun gänzlich freigesetzt und werden nicht mehr durch den Überbau einer gesellschaftlichen Ordnung sublimiert. Das sich steigernde dionysische Moment wird damit zur Ursache für die Zerschlagung der sozialen Strukturen. In dem Maße, in dem es zunimmt, verlieren auch die Bindungen zwischen den Figuren an Halt bzw. zerbrechen ganz. »Der Wald wird zu einem ›Tummelplatz der befreiten Sinne‹ und rückt als Kehrseite des Idyllischen etwas Tierisch-Triebhaftes und Dämonisches ins Blickfeld,« wie auch Dagmar Ottmann resümiert.514 Die Gesellschaften beider Jagdszenen versammeln sich auf einer schönen, von Bergen umringten Wiese, doch an die Stelle von Burkes »sentiments of tenderness and affection towards their persons«515 tritt in der »schönen Wildnis« Formlosigkeit und Exzentrik. Mit dem Beginn der Jagd und der Verlagerung des Geschehens von der ge514 »Gebändigte Natur«, S. 361. Ottmann zeigt ebenfalls anhand der Szene, dass Eichendorffs wilder Waldlandschaft Lobsiens Zeichenmodell des Pittoresken zugrundeliegt, da in ihr die »Doppelung von Idyll und Wildnis«, das heißt der abrupte Wechsel von schöner, reizender zu abenteuerlich-wilder Landschaft vorherrscht. (S. 362) Sie trennt auf diese Weise die Gärten des Romans, deren konstitutive Merkmale »Umgrenzung, Geschlossenheit, Überschaubarkeit, gefahrlose Abschreitbarkeit und Stille« sind, von der Wildnis ab. Diese ist durch »radikalen Wechsel und Irregularität […], Polyperspektivität […] und hörbare Naturlaute als Kennzeichen einer ursprünglichen, nicht-domestizierten und gerade darin eben widersprüchlichen Natur« bestimmt. (S. 366) Garten und Wildnis wertet sie daraufhin als Räume zweier verschiedener Zeitperspektiven. Während die Gärten in die Vergangenheit weisen und »auf bildliche Anschauung eines versunkenen kulturellen Erbes [zielen], das auf den Werten des Mythos und Mittelalters beruht«, erweist sich die Wildnis als Raum eines progressiven Nationalbewusstseins: »Ihre lebendige Interessantheit ist risikobehaftet, aber zukunftgerichtet auf eine erneuerte Nationalkultur und einen kämpferischen Patriotismus.« (Ebd.) 515 Burke, A Philosophical Enquiry, S. 66f.

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schützten Wiese in die umliegenden steilen Waldhänge wird das wilde, dämonische Element dann endgültig dominant. Die Jagd wird vom Erzähler als Krieg bezeichnet und obwohl ihr Verlauf wieder fast ausschließlich als in den Hintergrund verschobene Geräuschkulisse erfahrbar wird, treten Gefahr und Zerstörung nun überdeutlich daraus hervor: Die Gesellschaft hatte sich unterdes nach allen Richtungen hin zerstreut und die Jagd ging wie ein Krieg durch das Gebirge. In tiefster Abgeschiedenheit, wo Bäche in hellen Bogen von den Höhen sprangen, sah man die Gemsen schwindlig von Spitze zu Spitze hüpfen, einsame Jäger dazwischen auf den Klippen erscheinen und wieder verschwinden, einzelne Schüsse fielen hin und her, das Hüfthorn verkündigte von Zeit zu Zeit den Tod eines jeden Tieres. (AG, S. 269)

Neben der unheilvollen Stimmung, die die Landschaftsbeschreibung hier erzeugt, erweist sich auch ihre Struktur als sehr aufschlussreich. Elemente wie die sich »nach allen Richtungen hin« zerstreuende Gesellschaft, die Jäger, die »erscheinen und wieder verschwinden« und die »hin und her« fallenden Schüsse dezentralisieren das Geschehen in einer Weise, die für Eichendorffs Landschaftsdarstellung charakteristisch ist. Die Einheit des Landschaftsbildes wird dabei systematisch gestört, denn jedes Element, das als Konstante im Bildausschnitt dienen könnte, löst sich in der wirrenden, ziellosen Struktur des »hin und her« auf. Dem entspricht auf der zeitlichen Ebene die Angabe »von Zeit zu Zeit«, die hier einerseits auf einen anhaltenden Wahrnehmungsprozess hindeutet und andererseits die Unbestimmtheit des Raum-Zeit-Gefüges noch erhöht. Solcherlei Wendungen, sowohl im räumlichen als auch im zeitlichen Bereich, finden sich besonders häufig bei Eichendorff.516 In der vorliegenden Szene scheint es keineswegs um die Beschreibung eines bestimmten Landschaftsbildes zu gehen. Vielmehr wird der Fokus auf den Wahrnehmungsmodus gelenkt, unter dem Landschaft erfahrbar wird. Für einen kurzen Moment wird der Leser aus der Erzählung herausgeführt, um zu erleben, was »man sah«, was sich »unterdes« im Hintergrund abspielt. Denn dort hüpfen die Gämsen nicht, sie werden dabei gesehen. Die Landschaftsdarstellung vermeidet also nicht nur Konkretheit, sie wird dem Leser auch nur mittelbar auf einer Metaebene zugänglich. Ihm wird mitgeteilt, was jemand sehen kann, der sich in der Position des Erzählers befindet, wobei dessen genaue Perspektive unklar bleibt. Ebenso verhält es sich mit den Konstituenten des Wahrnehmungsausschnitts. Durch verallgemeinernde Pluralisierungen der Substantive und eine Anhäufung von Bewegungsverben wird das Landschaftsbild derart dynamisch, das es nur 516 Neben »von Zeit zu Zeit« kann hier auch die Formel »hin und wieder« angeführt werden. (Vgl. z. B. AG, S. 136). Auf das Darstellungsprinzip des ›Verwirrenden‹ hat vor allem Lothar Pikulik hingewiesen. (Vgl. Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 472) Es wird an späterer Stelle noch darauf zurückzukommen sein.

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schwer als einheitlicher Raum imaginiert werden kann. Diese Verwendung der Substantive und Verben stellt ebenfalls eine typische Eigenschaft von Eichendorffs Raumdarstellung dar.517 In der vorliegenden Szene kommt noch die parataktische Aufzählung der einzelnen Landschaftselemente hinzu, die in keinen hierarchischen Zusammenhang gebracht werden, der zur Konstruktion des Gesamtbildes verhelfen könnte. Akustische518 und visuelle Elemente bilden vielmehr ein Gewebe aus Reizen, in dem sie gleichrangig und kontingent nebeneinander stehen. Statt sich in ein Gesamtbild zu fügen, gewinnen die einzelnen Landschaftselemente ihre Position allein dadurch, dass sie sich von anderen unterscheiden. Sie grenzen räumlich (»hin und her«) oder zeitlich (»von Zeit zu Zeit«) aneinander, sind jedoch durch kein weiteres hierarchisches oder kausales Prinzip tatsächlich miteinander verbunden. Die Landschaftselemente stehen folglich in einem pittoresken Zeichenzusammenhang, wie ihn Lobsien definiert: »im Vergleich zum Schönen oder Erhabenen [ist] das Pittoreske durchgängig durch Opposition konstituiert.«519 Durch dieses Oppositionsprinzip gewinnt die pittoreske Landschaft die für sie charakteristische Offenheit, die auch hier die Beschreibung bestimmt. Sie »ist das ungleich reichere Zeichensystem.«520 Die Dynamik der Landschaft wird in Kapitel 3.2.4 noch näher zu betrachten sein. In der vorliegenden Szene kombiniert Eichendorff die genannten Strukturmerkmale mit der Bedrohlichkeit, die die schutzlos gewordene »schöne Wildnis« generiert. Ebenso wie der Blick nur von einem Objekt zum nächsten gleichsam hin und her springen kann, bewegen sich auch die Jagdteilnehmer scheinbar ziellos und träumend durch die Landschaft, als würden sie von einer unsichtbaren Macht wie in einem magnetischen Kraftfeld gesteuert, bevor am Ende der Szene jeder für sich allein, verstört von den Ereignissen, den unheilvollen Ort verlassen wird. Mit Einbruch des Abends und nachdem Leontin bereits als erster in weiser Voraussicht die Gesellschaft verlassen hat, entfaltet die Überreiztheit und Zügellosigkeit ihre ganze Kraft. Wieder ist es der Blick in die landschaftliche Umgebung, dessen atmosphärische Intensität Unheilvolles vorausahnen lässt: 517 Vgl. hierzu z. B. Schwarz, laut dem keineswegs Substantive »die linguistische Basis« von Eichendorffs Landschaftsdarstellung konstituieren, sondern Bewegungsverben, »die den unvergleichlichen Eindruck von grenzenloser Weite, Tiefe und Bewegung hervorrufen. Verglichen mit dieser Dynamik, sind die Substantive und Adjektive eher unbedeutend, und ihre Unbestimmtheit wird durch häufige Pluralbildungen noch erhöht.« (»Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 319) 518 Zur Bedeutung der akustischen Elemente in Eichendorffs Landschaft, in der sich die Klänge von ihren Ursprüngen emanzipieren wie im Fall der visuellen Elemente die Bewegungen von ihren Körpern, vgl. Alewyn, »Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 28ff. 519 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171. 520 Ebd.

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Der Abend rückte heran, in den Tälern wurde es schon dunkel. Die Jagd schien geendigt, nur einzelne kühne Schützen sah man noch hin und wieder an den Klippen hängen, von den letzten Widerscheinen der Abendsonne scharf beleuchtet. (AG, S. 270)

Im Unterschied zur ersten Jagdszene deutet sich hier das Eindringen des bedrohlich-triebhaften Reizes der Jagd in den Kreis der Gesellschaft explizit an. Die Jagd »schien« nur beendet, wodurch sich eine Ahnung über ihr mögliches Fortdauern aufdrängt. Das Bild der im Dämmerlicht »scharf beleuchtet[en]«, an den Bergwänden hängenden Jäger wirkt zudem durch die grotesk und unnatürlich anmutende Überbelichtung bizarr und schauererregend. Weit entfernt von der weichen, stimmungsvollen Wirkung, die das Licht der untergehenden Abendsonne in anderen romantischen Landschaften besitzt, deuten hier die Zerrissenheit und Überkonturierung des Bildes erneut die Abgründe voraus, die sich den von ihren egozentrischen Affekten geleiteten Protagonisten im Folgenden auftun. Eichendorffs berühmtes Gedicht »Zwielicht«, das als Lied eines unbekannten Sängers, der sich in den Wäldern verbirgt, in die Szene eingeschoben wird, spricht eine letzte deutliche Warnung aus: Dämm’rung will die Flügel spreiten, Schaurig rühren sich die Bäume, Wolken zieh’n wie schwere Träume – Was will dieses Graun’n bedeuten? Hast ein Reh Du, lieb vor andern, Laß es nicht alleine grasen, Jäger zieh’n im Wald und blasen, Stimmen hin und wieder wandern. Hast du einen Freund hienieden, Trau’ ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug’ und Munde, Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden. Was heut müde gehet unter, Hebt sich morgen neugeboren. Manches bleibt in Nacht verloren – Hüte Dich, bleib’ wach und munter! (AG, S. 270)

Das Gedicht formuliert mit besonderer Virtuosität und den Mitteln der lyrischen Darstellung,521 was zuvor die Landschaftsbeschreibung bereits auf ihre Weise geleistet hatte. Im Moment der Dämmerung vermischen sich Tag und 521 Vgl. zu dem Gedicht auch die tiefgreifende und noch immer aktuelle Interpretation von Seidlin, Versuche über Eichendorff, S. 238ff.

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Nacht, Licht und Schatten, wie sich zuvor in der »schönen Wildnis« idyllischfriedliche und erhaben-gefährliche Natur zur pittoresken, ambivalenten Landschaft verbunden haben. Im Zwielicht der Dämmerung verwandeln die Dinge ihre Gestalt, wie Seidlin darlegt: Es ist der schreckliche und schreckhafte Augenblick, wo alles zweifelhaft und unsicher wird, das vertraute Gesicht der Welt sich entstellt und die Dinge, die dem Menschen zugehören, verwischt und unbestimmt im Raume stehen, sie selbst gefährdet in ihrem Dasein und voller Gefahr für den, der sich eins mit ihnen glaubte.522

Sowohl die schöne Wildnis als auch das Zwielicht können auf den Zustand der Seele übertragen werden, »die den Zusammenhang mit sich selbst verloren hat, weil der große Zusammenhang der Schöpfung sie nicht mehr trägt.«523 Thema des Gedichts wie gleichzeitig der gesamten Szene ist der Identitäts- und Orientierungsverlust des entzweiten Subjekts und damit »das grauenhafte Fremdund Bedrohlichwerden der Welt.«524 Wie in Rosas Fall kann ausgebliebene Achtsamkeit oder gar Schlaf als Zustand der Bewusstseinsschwäche den Menschen einer unbekannten Gefahr aussetzen, so die Warnung des Liedes. Die Natur hat ihre schützende Funktion dabei nicht nur gänzlich verloren, sondern mutiert bei nächtlicher Stunde sogar zum Medium, in dem die unsichtbare Bedrohung Gestalt finden kann. Die Frage nach dem Grund des Schauerns stellt der Dichter selbst und lässt sie unbeantwortet. Jäger und Reh bleiben Metaphern innerhalb der Evokation jener »unknown cause«525, deren unzweifelhafte und dennoch unerklärbare Präsenz in der Landschaft das Gedicht heraufbeschwört. So wie der versteckte Sänger bleibt letztlich auch die Ursache und Bedeutung des Grauens unbenannt. Die Angst, die sie erzeugt, gewinnt dadurch etwas irrational Verstörendes, erzeugt »den Wahnsinn der schizoiden Mahnung« der dritten Strophe, wie Adorno es in seiner Interpretation des Gedichts formuliert.526 Der Schlussvers »Hüte dich, bleib wach und munter!«, auf dessen unterschiedliche Bedeutungsschichten später noch einmal zurückzukommen sein wird, stellt zumindest im Kontext der Handlung eine unmissverständliche Warnung dar.527 522 523 524 525 526 527

Ebd., S. 240. Ebd. Ebd., S. 242. Price, Dialogue, S. 255. Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 122. Seidlin deutet das Gedicht auch innerhalb seines Handlungskontexts in Ahnung und Gegenwart: »Und ähnlich, dabei doch auch wieder zwielichtig und ganz anders, spiegelt das Lied das Geschehen […]. Es spricht von der Abendstunde; aber was in ihm das dämmernde Versickern des Tages ist, ist in der Wirklichkeit des Romans der letzte Schein der die Landschaft scharf beleuchtenden untergehenden Sonne. Es spricht vom stillen, grasenden Reh; aber die Erzählung weiß an diesem Punkte nur vom gejagten und blutig erlegten. Es spricht von Freundestücke und -verrat – an der Stelle des Romans, da nicht der Freund, sondern die Geliebte untreu wird. Ein doppelgängerisches Gedicht also, das die Gestalten

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In dem Moment, da sich die übrige Jagdgesellschaft »auf der schönen Wiese schon größtenteils versammelt [hat]« (AG, S. 271), kommt es dann auch tatsächlich zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Bande. Der Rausch des abendlichen Festes steigert sich nun über das Dionysische hinaus in eine unheimliche, infernalische Erregung. Das Zelt in der Mitte der Wiese… …schien von den vielen Lichtern wie in farbigen Flammen zu steh’n, eine Tafel mit Wein und allerhand Erfrischungen schimmerte lüsternlockend zwischen den buntgewirkten Teppichen hervor, Männer und Frauen waren in freien Scherzen ringsumher gelagert. Die vielen wandelnden Windlichter der Jäger, deren Scheine an den Felsenwänden und dem Walde auf und nieder schweiften, gewährten einen zauberischen Anblick. (AG, S. 271)

Im Vordergrund der Szene geht Romana zudem »für sich allein« mit einer Gitarre singend auf und ab, von Friedrich beobachtet, der »eine auffallende Spannung in ihrem Gesichte und ganzem Wesen zu bemerken [glaubte].« (Ebd.) Das Lied ist in die Erzählung eingewoben und wird immer wieder von kurzen erzählenden Passagen unterbrochen. Mit den Strophen des Lieds öffnet sich langsam aber sicher eine weitere Dimension des Jagdfestes, das plötzlich einen »zauberischen Anblick« bietet. Romanas Lied erzählt von einem jungen Ritter, den in einer stillen, paradiesischen Aue der Schlaf überkommt und der so in die tückischen Fänge einer schönen Magierin gerät. Wie das Lied bereits ahnen lässt und ein späterer Ausruf Romanas (»O, hätte ich Helm und Schwert wie Armida!«) verdeutlicht, konstruiert Eichendorff den Auftritt der »Waldfee« Romana in Analogie zur Episode um die schöne Zauberin Armida und den Ritter Rinaldo aus Torquato Tassos Epos Gerusalemme liberata (1575). Tatsächlich wird Romana Friedrich im Anschluss an ihr Lied ihre verzweifelte, selbstzerstörerische Liebe zu ihm gestehen. Da der intertextuelle Bezug im Zusammenhang mit der Ambivalenz der Figuren und der Landschaftserfahrung steht, die wir bereits beobachten konnten, lohnt sich ein kurzer Blick auf die betreffende Episode aus Tassos Werk. Das Epos erzählt die Eroberung Jerusalems durch die Christen und entfaltet dabei in mehreren Erzählsträngen verschiedene Liebesabenteuer zwischen den christlichen Kämpfern und den Sarazeninnen. Zu Letzteren gehört Armida, eine heidnische Magierin, die Rinaldo, Kämpfer des christlichen Heeres, in den Bann ihres Zauberreiches auf eine Insel lockt. Zunächst sinnt sie auf Rache, da sie den Christen feindlich gesonnen ist. In dem Augenblick jedoch, da Rinaldo auf der Insel in die Bewusstlosigkeit eines tiefen Schlafes fällt und sich Armida kampfeslustig auf ihn stürzen kann, kommt es bei beiden zu einem Identitätswandel. der erzählten Welt verzweifacht, aber sie gerade dadurch, daß es sie schief und als andere reflektiert, dem Schrecken und Identitätsverlust des Zwielichts preisgibt.« (Versuche über Eichendorff, S. 241)

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Rinaldo verlässt durch die Pforte des Schlafes seine Identität als Kämpfer des christlichen Heeres und verfällt dem Reiz seiner individuellen Aventure. Armida verliebt sich, als ihr Blick Rinaldos trifft, und wandelt sich von der allegorischen Gestalt der Zauberin zur subjektiv empfindenden Frau: …pria s’arresta sospesa, e gli s’asside poscia vicina, e placar sente ogn’ira…528

Im Zustand des ›inne Haltens‹ (»s’arresta sospesa«) als prozessualer Ausdruck eines seelischen Innenlebens – ein wiederkehrender Kunstgriff des aus seiner Zeit herausstechenden Epos – offenbaren Tassos Figuren eine komplexe Bewusstseinsstruktur. Das Werk ist gekennzeichnet durch den wiederholten Aufbruch der erzählerischen Totalität, das heißt der für das Epos des 16. Jahrhunderts typischen unit/.529 Rinaldos Aufenthalt auf der ›Isola Fortunata‹, wohin Armida ihn, »ingelosita di s' caro pegno, // e vergognosa del suo amor«,530 entführt, sein ekstatisches Erlebnis der zeitlosen, arkadischen Oase der sinnlichen Freuden, »ove in perpetuo april molle amorosa // vita seco ne mena il suo diletto,«531 wo eine Tafel mit »cibi preziosa e cara«532 verschwenderischen Genuss bietet, stellt ein besonders prägnantes Beispiel eines solchen Aufbruchs der Handlung durch die Freisetzung der Dynamik des Subjektiven und Affektiven dar. Verglichen mit der Szene aus Ahnung und Gegenwart fallen die Ähnlichkeiten der beiden sündhaft-paradiesischen Festlager auf, womit sich Romanas Jagd nicht nur als Übersteigerung des ersten darbietet, sondern auch Tassos Liebesinsel und der Identitätsverlust, den sie bewirkt, als Deutungshorizont angeboten wird. Als der letzte Vers von Romanas Lied verklungen ist und Friedrich sie aufgeregt nach Rosa fragt, bricht in ihr der letzte seelische Halt entzwei: Da hielt sie sich nicht länger. Als wäre ihr innerstes Wesen auf einmal losgebunden, brach sie schnell und mit fast schreckhaften Mienen aus: Du kennst mich noch nicht und jene unbezwingliche Gewalt der Liebe, die wie ein Feuer alles verzehrt, um sich an 528 Torquato Tasso, Gerusalemme liberata, hrsg. von Lanfranco Caretti, Mailand, Mondadori, 1979, S. 333. 529 Zur Dialektik von unit/ und Vielfalt bzw. epischer Linearität und romanesker Digression in Tassos Epos vgl. vor allem den grundlegenden Aufsatz von Karlheiz Stierle: »Erschütterte und bewahrte Identität. Zur Neubegründung der epischen Form in Tassos Gerusalemme liberata«, in: Susanne Knaller / Edith Mara (Hrsg.), Das Epos in der Romania. Festschrift für Dieter Kremers zum 65. Geburtstag, Tübingen, Narr, 1986, S. 383–414. Vgl. außerdem Georg Luk#cs, der das Epos gegenüber dem Roman zum idealtypischen Ausdruck vormoderner Subjektivität erklärt, da es eine in sich geschlossene Lebenstotalität gestaltet. (Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt / Neuwied, Luchterhand, 1977, S. 47ff.) 530 Tasso, Gerusalemme liberata, S. 334. 531 Ebd. 532 Ebd., S. 351.

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dem freien Spiel der eigenen Flammen zu weiden und selber zu verzehren, wo Lust und Entsetzen in wildem Wahnsinn einander berühren. (AG, S. 274)

In diesem nuancenreich differenzierten Portrait der verzweifelten Liebenden, der »toll gewordene[n] Genialität, die in die Männlichkeit hineinpfuscht« (AG, S. 115), artikuliert sich das Verständnis des Seins als Korrelat widerstreitender Affekte und Leidenschaften, das das Bild des Wasserstrudels zu Beginn des Romans bereits allegorisch vorweggenommen hatte.533 Hellsichtig konfrontiert hier Romana, deren innere Zerrissenheit von allen Figuren am deutlichsten hervortritt, den träumerischen Friedrich mit dieser Bedingtheit der menschlichen Existenz. Das Bild der bedrohlich lodernden Flammen, das in der gesamten Szene immer wieder erschienen ist, entfaltet nun seine volle Bedeutung zur Beschreibung des »freien Spiels« der unkontrollierbaren Triebe, die auch vor der Selbstzerstörung nicht Halt machen. In diesem freien Spiel der Leidenschaften, in dem das Hässliche, Niedere (»schnell und mit fast schreckhaften Mienen«), mit dem Schönen und Erhabenen zusammentrifft, »wo Lust und Entsetzen in wildem Wahnsinn einander berühren«, kann auch im Menschen das ›Pittoreske‹ zum Vorschein kommen: If we ascend to the highest order of created beings, as painted by the grandest of our poets, they, in their state of glory and happiness, raise no ideas but those of beauty and sublimity ; the picturesque, as in earthly objects, only shews itself when they are in a state of ruin; when shadows have obscured their original brightness, and that uniform, though angelic expression of pure love and joy, has been destroyed by a variety of warring passions.534

Oben konnte bereits gesehen werden, wie mit der Ästhetik des Pittoresken auch anthropologische Reflexionen angestellt werden.535 Indem die pittoreske Landschaftswahrnehmung die von Burke beschriebenen Effekte der schönen und erhabenen Landschaft kombiniert, antwortet sie auf die moderne Zerrissenheit des Menschen zwischen Selbstaffirmation in der Gemeinschaft und der Notwendigkeit der Selbsterhaltung im Angesicht der Übermacht der inneren und äußeren Natur. Die Spuren solcher entzweiten Subjektivität und ihre literarische Besprechung lassen sich bis weit zurück in die europäische Geistesgeschichte 533 Vgl. dazu auch die Beschreibung von Romanas phantastischem Garten, der in Analogie zu ihrem komplexen Persönlichkeitsbild konstruiert ist: »Es [d.i. Romanas Schloss] stand wie eine Zauberei hoch über einem weiten, unbeschreiblichen Chaos von Gärten, Weinbergen, Bäumen und Flüssen, der Schloßberg selber war Ein großer Garten, wo unzählige Wasserkünste aus dem Grün hervorsprangen. Die Sonne ging eben hinter dem Berge unter und bedeckte das prächtige Bild mit Glanz und Schimmer, so daß man nichts deutlich unterscheiden konnte.« (AG, S. 219) Zur Interpretation des Gartens vgl. z. B. Ottmann, »Gebändigte Natur«, S. 382ff. 534 Price, Essays on the Picturesque, S. 64. 535 Vgl. oben, vor allem Kap. 2.2.2.2.

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verfolgen, wie Tassos Werk zeigt. Mit den gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen der Moderne avanciert die Ambivalenz jedoch sogar zum künstlerischen Ideal und formiert sich im Pittoresken zur eigenen Ästhetik. »[T]hat uniform, though angelic expression of pure love and joy« kann den Betrachter nicht mehr in die gleiche Faszination versetzen wie der »state of ruin«, der Abfall von diesem Ideal, der viel eher im Stande ist, das Dasein zu reflektieren. So wie die Uniformität des Schönen in der pittoresken Landschaft durch roughness, variety, contrast und intricacy gestört wird, brechen unter der Oberfläche der Erhabenheit des Menschen seine Affekte und Triebe hervor. Als Armida fieberhaft versucht, Rinaldo am Strand zurückzuhalten, heißt es: Lui guarda e in lui s’affisa, e non favella, o che sdegna o che pensa o che non osa.536

Mit Blick auf die pittoresken Gestaltungsregeln contrast und variety könnte man diese Verse als pittoreske Bewusstseinsdarstellung bezeichnen. Zur Begründung von Armidas Verhalten wird dem Leser ein ambivalenter Motivkomplex angeboten, der sich darauf beschränkt, verschiedene mögliche Varianten ohne jegliche kausale Bindung oder Hierarchie nebeneinander zu stellen. Die unterschiedlichen Affekte, die für Armidas Handeln verantwortlich sein könnten, bilden eine ›unideale, aber durchaus beherrschbare Vielfalt ohne Einheit‹.537 Der Erzähler erhebt keinen Anspruch darauf, denjenigen der Affekte auszumachen, der für das beobachtbare Verhalten letztlich ausschlaggebend ist. Da die tatsächlichen Beweggründe menschlicher Taten ohnehin nicht erschlossen werden können, erweist sich allein die Beobachtung der unterschiedlichen Verhaltensweisen als probates Mittel zur Betrachtung des Menschen, wie es die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts praktizierten. Während Eichendorff zur Situierung dieses Geschehens, das heißt zur Inszenierung des Falls seiner subjektiv und affektiv gesteuerten, seelisch zerrissenen Protagonistin, über das pittoreske Landschaftsmodell verfügt, steht Tassos Darstellung der Zauberinsel noch in einer anderen literarischen Tradition. Bei näherer Betrachtung tut sich jedoch auch hier eine überraschende, wesentliche Ähnlichkeit auf. Armidas Zauberinsel stellt, herausgelöst aus dem Haupterzählstrang des christlichen Kreuzzuges, ein Arkadien pastoraler Naturerfahrung und zeitlosen Liebesglücks dar. Eine Sirene beschreibt sie als Ort der Erlösung von aller weltlichen Mühsal und als Paradies des Goldenen Zeitalters: Questo H il porto del mondo; e qui H il ristoro de le sue noie, e quel piacer si sente 536 Tasso, Gerusalemme liberata, S. 364. 537 Vgl. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163.

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che gi/ sent' ne’ secoli de l’oro l’antica e senza fren libera gente.538

Doch Armidas Zauber ist der des Scheins. Dass statt ewigem Frieden vielmehr Trug und Künstlichkeit herrschen, deutet die Beschreibung ihres ›bel giardin‹ an, der, von labyrinthischen Wegen umgeben, einer Falle gleicht: …acque stagnanti, mobili cristalli, fior vari e varie piante, erbe diverse, apriche collinette, ombrose valli, selve e spelonche in una vista offerse; e quel che ’l bello e ’l caro accresce a l’opre, l’arte, che tutto fa, nulla si scopre. Stimi (s' misto il culto H co ’l negletto) sol naturali e gli ornamenti e i siti. Di natura arte par, che per diletto l’imitatrice sua scherzando imiti. L’aura, non ch’altro, H de la maga effetto, l’aura che rende gli alberi fioriti […]539

Auch in seinen Landschafts- und Gartendarstellungen ist Tasso seiner Zeit weit voraus. Genau wie im englischen Landschaftspark trifft in Armidas Garten kultivierte, künstliche auf wilde, bewusst vernachlässigte Natur (»s' misto il culto H co ’l negletto«). Ganz nach dem Leitsatz »l’arte, che tutto fa, nulla si scopre« wird der Anschein von Natürlichkeit erzeugt.540 Doch alles unterliegt Armidas trügerischem Zauber, selbst die Luft, »non ch’altro, H de la maga effetto.« Das Idyll ist nicht, was es zu sein vorgibt. In der gleichen Weise wie Eichendorff konstruiert Tasso eine vordergründig schöne, amoenische Landschaft, um eine bestimmte Erwartungshaltung auf Seiten des Lesers zu konstruieren. Der vermeintliche locus amoenus erweist sich dann jedoch bei näherem Hinsehen als alles andere als ein »ristoro de le […] noie«.541 Die offensichtliche Ambivalenz von Tassos Landschaft, die Nichtlieblichkeit des lieblichen 538 Tasso, Gerusalemme liberata, S. 352. 539 Ebd., S. 356. 540 Price zitiert genau diesen Vers aus Tassos Epos, wenn er die Integrierung kleinerer accidents in den Landschaftspark fordert. (Essays on the Picturesque, S. 346) Möglichen weiteren Gemeinsamkeiten zwischen Tassos Gärten und dem englischen Landschaftspark können hier nicht weiter nachgegangen werden. Es existiert jedoch eine »Dissertazione sui giardini inglesi e sul merito in cik dell’Italia« von Ippolito Pindemonte aus dem Jahr 1792, die sich diesem Thema widmet und Tasso als Vorläufer Miltons und darüber hinaus des englischen Landschaftsstils interpretiert. Vor dem Hintergrund von Tassos Modernität erscheint eine solche Untersuchung als durchaus vielversprechend. Vgl. dazu auch Fiorangela Oneroso, Nei giardini della letteratura, Florenz, Clinamen, 2009, »Introduzione«. 541 Tasso, Gerusalemme liberata, S. 352.

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Ortes, ist in das Modell des pittoresken Gartens bereits integriert. In beiden Fällen wird die Eindimensionalität und Geschlossenheit der schönen, arkadischen Landschaft aufgebrochen zu Gunsten einer buchstäblichen Vielstimmigkeit der Erscheinungen und Empfindungen. Diese Aufsplitterung scheint das Eindringen des Bösen, Bedrohlichen zu ermöglichen, das sowohl bei Eichendorff als auch bei Tasso zunächst nur atmosphärische, ahnungsvolle Dimension besitzt. Zum Ende der beiden Szenen zeigt sich jedoch, – und hierin liegt die entscheidende Verwandtschaft der beiden Werke und wahrscheinlich auch der Grund für Eichendorffs Referenz – dass die Bedrohung vielmehr im Inneren der Figuren zu verorten ist. Das Böse hält nicht von außen her Einzug in das Schutzgebiet der Natur, sondern ist gleichbedeutend mit der psychischen Komplexität der Figuren, deren Zerrissenheit Liebesglück nach dem arkadischen Modell unmöglich macht. Romana und Armida, ansonsten angetrieben durch taktisches Kalkül und überlegenen Stolz, versuchen am Ende der Szene verzweifelt und in rasender Wut den Geliebten zurückzuhalten. Armida schreit von Sinnen: – O tu che porte parte teco di me, parte ne lassi, o prendi l’una o rendi l’altra, o morte d/ insieme ad ambe: arresta, arresta i passi […]542

und Romana klagt sogar : »O, hätte ich Helm und Schwert wie Armida!« (AG, S. 274) Doch zu den Waffen zurückzukehren, wie es Armida tut, als sie ihrer Identität als Zauberin wieder gewahr wird, steht der Romanfigur des 19. Jahrhunderts nicht mehr offen. Sie muss stattdessen dem feindlichen Inneren, dem weitaus bedrohlicheren Feind, ins Auge sehen.543 Als sich Friedrich trotz allen Flehens wortlos aus ihren Armen befreit und flieht, hat das Überschwängliche des Festes längst sein wahres Gesicht enthüllt: Romana war auf dem Boden niedergesunken, das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Das fröhliche Lachen, Singen und Gläserklirren von der Wiese her schallte ihr wie ein höllisches Hohngelächter. (AG, S. 275)

Auch für Rosa nimmt das Fest keinen guten Ausgang. Als sich der Tag dem Ende neigt, ist sie »von Romana und aller Begleitung, wie durch Zufall, verlassen.« (AG, S. 275) Auch sie befindet sich in einem Zustand emotionaler Spannung und 542 Ebd., S. 364. 543 Letztendlich gelingt es auch Armida nicht mehr, zu ihrem alten Ich zurückzukehren. Am deutlichsten wird dies in der berühmten Szene des verlangsamten Pfeilflugs. In dem Moment, als Armida auf dem Schlachtfeld den Bogen auf Rinaldo richtet und nach wiederholtem Zögern ihren Pfeil schließlich abschießt, verlangsamt Tasso auf kunstvolle Weise die Handlung zu Gunsten einer differenzierten Darstellung der widerstreitenden Mächte von Liebe und Hass »nel discorde sen« im Inneren Armidas. (Gerusalemme liberata, S. 474)

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Ruhelosigkeit, doch anders als in Romanas Fall schwächt diese Erregtheit ihr Bewusstsein und macht sie empfänglich für die unbekannte Bedrohung, die in Zwielicht, dem Lied des Unbekannten, beschwört wurde. »Halbzögernd […] unschlüssig, träumend und halbverirrt« und zudem »von dem Liede des Unbekannten, das auch sie hörte, seltsam getroffen und verwirrt« (ebd.), folgt sie dem unbestimmten Impuls, vor dem Prinz zu fliehen, der sie den ganzen Tag über beobachtet hat. Instinktiv verlässt sie die Wiese und steigt ins Gebirge hinauf, wo sie überraschend auf Friedrich trifft. Doch aufgrund eines unheimlichen Traumes, den sie am Tag zuvor gehabt hat, erschreckt sie die unerwartete Begegnung in der einsamen Landschaft so sehr, dass sie schnell fortläuft: »ängstlich und verwirrt, wandte sie sich schnell und sprang wie ein aufgescheuchtes Reh, ohne der Gefahr zu achten, von Klippe zu Klippe die Höhe hinab.« (AG, S. 271) Dort läuft sie dem Prinz in die Arme, der ihren Schrecken auszunutzen weiß: Ihr gestörtes Verhältnis zu Friedrich, das Lied oben und tausend alte Erinnerungen, die in der grünen Einsamkeit wieder wach geworden, hatten das reizende Mädchen heftig bewegt. […] Ihr Herz war zu voll, sie konnte nicht schweigen. […] Der Prinz setzte sich neben ihr auf den Rasen hin. Sie ließ sich willig von ihm in den Arm nehmen und lehnte ihr Gesicht müde an seine Brust. Die Abendscheine spielten schon zuckend durch die Wipfel, unzählige Vögel sangen von allen Seiten, die Waldhörner klangen wollüstig durch den warmen Abend aus der Ferne herüber. (AG, S. 275f.)

Auch Rosas Seelenzustand knüpft an das eingangs beschriebene Bild des Wasserstrudels an. Wieder sind es die »tausend alten Erinnerungen«, die unzähligen im Inneren der Seele korrelierenden Affekte und Leidenschaften, die zur Gefahr werden. Der Prinz zeigt im weiteren Verlauf der Szene sein wahres Gesicht und entführt Rosa auf sein Schloss. (Vgl. AG, S. 276) Sie ist somit dem Verhängnis der Verführung, das von Beginn an über der Szene schwebte, anheimgefallen. Jedoch ist der wahre Verführer nicht der Prinz, der lediglich von der Situation profitiert. Vielmehr ist es der innere Zwiespalt, das schwindelerregende Moment ihres zu vollen Herzens, das Rosas Bewusstseinsschwäche auslöst. Ihre »variety of warring passions« (s. o.) spiegelt sich in der Exzessivität der entfesselten Naturerscheinungen. Die Wiese, auf der sich die Begegnung zwischen ihr und dem Prinzen zuträgt, ist umkreist von seltsam überreiztem Vogelgesang, der durch den »wollüstigen« Klang der Waldhörner ergänzt wird. Diese halten das Jagdtreiben in der Ferne präsent und entlarven schließlich explizit den ambivalenten, triebhaften Charakter der Jagd. Während Rosa gleich dem Reh aus Zwielicht in die Falle geht, exerzieren die Naturerscheinungen ihr freies, dämonisches Spiel.544 Die schöne Landschaft ist entfesselt. Ihr Verlust von Har544 Als eine mögliche Erscheinungsform von Landschaft bei Eichendorff beschreibt auch Lüthi diese »Macht des Irdischen« (Dichtung und Dichter, S. 190), die dämonische, phantastische

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monie bedeutet den Zugewinn an Autonomie. Wie die gesellschaftliche Ordnung ist auch die Ordnung der Natur verzerrt und offenbart im spielerischen Zucken des Abendlichts ihr unbarmherziges Wesen. Eichendorffs Naturszenen stehen damit im extremen Gegensatz zu solchen des Sturm und Drangs und der Frühromantiker. Während dort der Einklang mit der Natur, das Zerschmelzen des empfindsamen Subjekts mit dem Hort der Natur als ideale Lebensweise zelebriert und die Natur als Projektionsraum der Seele inszeniert wurde, bleibt bei Eichendorff eine Verständigung zwischen diesen beiden Instanzen aus. Seine Landschaften stellen verglichen mit den Gartendarstellungen Orte der Natürlichkeit, der ursprünglichen, vom Menschen unangetasteten Natur dar. Indem er gerade diesen Rahmen nutzt, um schöne, liebliche Natur in schreckliche, feindliche Natur umschlagen zu lassen, wie die Analyse der beiden Jagdszenen deutlich machen konnte, inszeniert er den irreversiblen Bruch, der sich zwischen dem Menschen und seiner Lebenswelt vollzogen hat. Diese Befindlichkeit ist für Eichendorff das Charakteristikum seiner Epoche und stellt eines der zentralen Themen des Romans dar.545 Das harmonische Zusammenspiel von einträchtiger sozialer Gemeinschaftlichkeit und der gleichzeitigen freien, kreativen Emanzipation des Individuums, das in der ersten Jagdszene noch vor dem Hintergrund einer schönen Landschaft exZüge annehmen kann. Alles ist dann beherrscht »von der ziehenden Bewegung nach unten«, mit dem die lockende Natur den Menschen in ihren Sog zieht. »Die Natur wird hier als magisch sinnliche, erotische Macht erlebt; Lichtwirkungen, Farben, Düfte und Wachstum sind gesteigert, die Natur wuchert üppig und selbstherrlich.« (Ebd.) 545 Einen besonders lebendigen Ausdruck findet die Entzweiung in der Gestalt von Friedrichs Bruder Rudolph und seinem grotesken, englischen Irrgarten, den Friedrich und Leontin gegen Ende des Romans inmitten einer wilden Gebirgslandschaft vorfinden. Der Park entpuppt sich schnell als Sphäre völligen Nonsens, indem seine Irrwege immer nur im Kreis führen und seine gestalterischen Maßnahmen teils komische, teils erschreckende Wirkung haben; so z. B. »ein griechischer Tempel mit zierlichem Säulenportal […] aus angestrichenem Holze […] und eine[m] hölzernen Apollo, der die Geige strich und dem der Kopf fehlte, weil nicht mehr Raum genug dazu übriggeblieben war.« (AG, S. 321) Gegenüber dem Pittoresken, das die Orientierungs- und Erkenntnisfähigkeiten nur spielerisch dissoziiert und hinterfragt, ist dieser englische Garten nach der Ästhetik des Grotesken konzipiert, das eine völlige Verkehrung der bestehenden Ordnungen inszeniert. Ähnlich dem Pittoresken entsteht auch das Groteske in der Romantik aus der Verschränkung verschiedener ästhetischer Kategorien, dem Hohen, Erhabenen und dem Niederen, Hässlichen, jedoch kann sein Effekt bis zu einer zum Grauen gesteigerten Erfahrung der Fremdheit reichen: »Zur Struktur des Grotesken gehört, daß die Kategorien unserer Weltorientierung versagen.« (Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg, Stalling, 1957, S. 199) Rudolph ist eine solche groteske, seiner selbst entfremdete Gestalt, ein Narr in einer Narrenwelt, wie er selbst seine Burg bezeichnet. »Sein Witz war scharf ohne Heiterkeit, wie Dissonanzen einer großen zerstörten Musik, die keinen Einklang finden können oder mögen.« (AG, S. 337) Das Groteske, vor allem in der Art wie Victor Hugo es 1827 in seinem berühmten »Pr8face de Cromwell« definiert, zeigt einige sehr interessante Gemeinsamkeiten zum Pittoresken, so dass ein Vergleich der beiden ästhetischen Kategorien ein Forschungsdesiderat darstellen kann.

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emplifiziert wurde, verkehrt sich in der zweiten Szene in sein Gegenteil. Das dionysische Element, welches in der ersten Szene bereits die fröhliche Stimmung gefahrvoll unterlaufen hatte, entfaltet darin seine volle Kraft und verwandelt den lieblichen Ort in einen Schauplatz dämonischer Zügellosigkeit und übersteigerter, verzerrter Subjektivität. Das Modell der amoenischen Landschaft wird in Ahnung und Gegenwart als Ideal eingeführt, gleichzeitig aber immer schon durch das Eindringen wilder Elemente untergraben. Hierin besteht das spezifische Charakteristikum der pittoresken, ambivalenten Landschaft des Romans. Mit den komplexen Bewusstseinskonflikten der in ihrem inneren Wesen zwiegespaltenen Subjekte ist auch der Lebensort der schönen, idyllischen Landschaft obsolet geworden. In Analogie zu ihrer Dezentriertheit gewinnt auch die Landschaft an Komplexität und entzieht sich den rationalen, ordnenden Fähigkeiten. Als moderne Subjekte sind die Figuren haltlos geworden und der verlorene Halt kann auch durch die Bindung an die Natur nicht mehr wiedergewonnen werden. So sind Eichendorffs Landschaften letztlich »allein noch Beschwörungen von tiefer Ambivalenz«546, in denen sich der moderne Mensch in seiner ganzen Fremdheit erfährt. Indem die schöne Wildnis die »variety of warring passions« reflektiert, erhält sie jedoch gleichzeitig ihren besonderen ästhetischen Reiz. Im Folgenden wird zu sehen sein, dass Eichendorffs Landschaft nicht nur pittoresk ist, indem sie den Orientierungs- und Identitätsverlust des Subjekts aufgreift, sondern auch indem sie durch die Vermeidung einer einheitsstiftenden Perspektive neue, potenzierte Erfahrungsmöglichkeiten ins Feld räumt. Die zweite Jagdszene, und damit das gesamte zweite Buch, schließt mit der Vereinzelung der Protagonisten. Am Ende bleibt nur der Schauer des unheilvollen Ortes. Friedrich befiel ein …seltsames Grau’n […] Er setzte die Sporen ein, bis er das ganze furchtbare Jagdrevier weit hinter sich hatte. (AG, S. 277)

3.2.4 Ästhetik der Vielfalt Eichendorff thematisiert die begrenzten Fähigkeiten des Menschen, die Welt zu ordnen und zu deuten, das heißt, sich in ein harmonisches, konstruktives Verhältnis zur Lebenswirklichkeit zu setzen, nicht nur im Medium der Landschaftserfahrung, sondern auch in den zahlreichen Streitgesprächen seiner Figuren über die Rolle der Dichtung und des Dichters. In Ahnung und Gegenwart gehört die Frage zu den Hauptthemen des Werkes und ist immer wieder Ge546 Hörisch, »›Larven und Charaktermasken‹«, S. 37.

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genstand der Konversationen zwischen Friedrich, Faber und Leontin.547 Während der Berufsdichter Faber für eine strikte Trennung des Poetischen vom Lebensalltag plädiert, fordert Friedrich, beide Bereiche müssten sich gegenseitig komplettieren, und zwar in der gemeinsamen Perspektive eines gottzugewandten, einfachen, frommen Lebens. Auf diese Weise kann es dem Dichter gelingen, die in der Natur verborgene Ursprache allen Seins erklingen zu lassen.548 Leontin nimmt demgegenüber eine dritte Position ein, indem er diese romantische Vorstellung des Dichtens mit seinen humorvollen, freigeistigen Kommentaren immer wieder hintertreibt. So unterbricht er Fabers Erklärungen bereits bei der ersten Gelegenheit: Das Leben aber, mein bester Herr Faber, mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter, wie ein unübersehbar weitläufiges Hyerogliphenbuch von einer unbekannten, lange untergegangenen Ursprache zum Leser. Da sitzen von Ewigkeit zu Ewigkeit die redlichsten, gutmütigsten Weltnarren, die Dichter, und lesen und lesen. Aber die alten, wunderbaren Worte der Zeichen sind unbekannt und der Wind weht die Blätter des großen Buches so schnell und verworren durcheinander, daß einem die Augen übergeh’n. (AG, S. 81)549

547 Gemäß der traditionellen religiösen Deutung sind in Ahnung und Gegenwart zwei entgegengesetzte Vorstellungen von Dichtung angelegt, zum einen das ruhelose poetische Leben, dessen Antrieb die irdischen Leidenschaften und Sehnsüchte sind, und zum anderen die wahre, Gott zugewandte Dichtkunst. Vgl. dazu z. B. Lüthi, der »die Erkenntnis des großen Irrtums der dichterischen Existenz, seine Überwindung und die Wandlung zum wahren Dichtertum« als einen typischen Entwicklungsprozess bei Eichendorff versteht. (Dichtung und Dichter bei Joseph von Eichendorff, S. 220) Ähnlich legt auch Kunisch dar, dass Dichtung bei Eichendorff immer mit dem Irdischen und der Phantasie als gefährlicher ›Gegenreligion‹ verbunden erscheint. (Vgl. »Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, S. 157ff.) ›Richtige‹ Dichtung dagegen »bedeutet im Buch der Natur zu lesen, den geheimnisvollen Buchstaben der Natur zu entziffern. […] Ziel der Poesie ist es, sich dieser ursprünglichen Natur wieder anzunähern und dadurch verlorengegangenen Sinn wiederzuentdecken.« (Ottmann, »Gebändigte Natur«, S. 380) 548 Vgl. z. B. die erste Unterhaltung der drei Freunde über die Bedeutung der Dichtung im 3. Kapitel des Romans. (AG, S. 80ff.) Friedrichs Position ist hier bereits klar umrissen, wenn er erklärt: »Der Dichter hat einsam die schönen Augen offen; mit Demut und Freudigkeit betrachtet er, selber erstaunt, Himmel und Erde, und das Herz geht ihm auf bei der überschwänglichen Aussicht, und so besingt er die Welt, die, wie Memnons Bild, voll stummer Bedeutung, nur dann durch und durch erklingt, wenn sie die Aurora eines dichterischen Gemütes mit ihren verwandten Strahlen berührt.« (AG, S. 83) 549 Von Bormanns Untersuchung zu Eichendorffs sprechender, emblematisch konzipierter Landschaft gründet sich auf diese Vorstellung eines ›Buches der Natur‹, das vom Menschen bzw. Dichter gedeutet und zum Sprechen gebracht werden kann: »In der Natur drückt sich für Eichendorff ein dem Menschen überlegener Wille, der ihres Schöpfers, auf undeutlichgeheime Weise aus. Der Offenbarung im ›Buch der Bücher‹ entspricht die verschlüsselte Lehre des ›Buches der Natur‹, das also nur gedeutet werden kann, indem man über es selber hinausgeht.« (Natura loquitur, S. 4) Spätestens seit dem Fund der Hieroglyphica des Horapollo 1419 werden Naturerscheinungen auch als Hieroglyphen aufgefasst, das heißt

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Der im gesamten Handlungsverlauf immer wieder aufscheinende Diskurs über die Dichtung berührt im Kern die Frage nach der Funktion des Dichters, das heißt seiner Fähigkeit zum wahren Wesen der Dinge vorzudringen. Die Kontrarietät der drei Positionen, die sich bis zum Ende des Romans ungelöst gegenüberstehen, ist nur ein Beispiel für die Polyfonie des Werkes, das sich keineswegs in eine geschlossene Perspektive einschränken lässt, wie in der Forschung behauptet wurde. Eine solche geschlossene Sicht auf die Dinge vielmehr immer wieder aktiv im Keim zu ersticken, kommt innerhalb des Handlungsgeschehens vor allem Leontin zu, der jeden ernsthaften Diskurs flieht, »weil er selber nie ein Urteil hatte.« (AG, S. 80) Die Möglichkeit, der Unergründlichkeit der Welt spielerisch und mit Humor zu begegnen, wird in Eichendorffs gesamtem Prosawerk immer wieder von verschiedenen Figuren verkörpert. In seinem zweiten Roman Dichter und ihre Gesellen (1833), der die Frage nach der Bedeutung des Dichtens noch stärker in den Fokus rückt, vertritt die Hauptfigur Fortunat, selbst Dichter, diese Haltung: Zuletzt ist’s doch dasselbe, was ich eigentlich auch meine in der Welt, ich habe nur kein anderes Metier dafür, als meine Dichtkunst, und bei der will ich leben und sterben!550

Diese frohmütige Gelassenheit im Angesicht der Unmöglichkeit, der Komplexität der Wirklichkeit verstandesmäßig beizukommen, stellt in Eichendorffs Werk einen mindestens ebenso zentralen Aspekt dar wie die Religion. Schon die sprunghafte, abwechslungsreiche Handlung von Ahnung und Gegenwart lässt an die Stelle des Absoluten, Eindimensionalen das Spielerische, Widersprüchliche treten, wofür Leontins Gesprächsstil eines der zahlreichen Beispiele darstellt: da er das Urteil scheut, »pflegte [er] immer mit Witzen, Radottements, dazwischen zu fahren.« (AG, S. 80) Dass sich diese Haltung auch als Ästhetik auf den Roman niederschlägt, ist in der Forschung bereits verschiedentlich thematisiert worden. Mit dem Darstellungsprinzip des ›Wirrwarrs‹ – ein Schlüsselbegriff in Eichendorffs Werk, der sich in vielfältigen möglichen Abwandlungen, wie irren oder wirren, überall findet – hat sich vor allem Lothar Pikulik beschäftigt. Das Verworrene ist ihm nach ein typisches Merkmal der romantischen Literatur, für Eichendorff ist es jedoch in besonderem Maße charakteristisch:

»als einen verborgenen aber prinzipiell entschlüsselbaren spirituellen Sinn bergend.« (Ebd.) 550 Eichendorff, Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen, 1993, S. 351. Der Roman stellt in vielerlei Hinsicht eine Parodie des romantischen Geniekults dar. Die Entmythisierung des Dichters ist jedoch auch in Ahnung und Gegenwart bereits angelegt. Neben Leontins Kommentaren kommt diese Funktion besonders dem ›Berufsdichter‹ Faber zu, dessen Darstellung oft ins Komische übergeht.

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Seine Vorliebe gehört […] einer bestimmten Art von zuständlicher Verwirrung, und dieser Verwirrungstypus, der […] weniger durch ruhende als durch bewegte Gegenstände charakterisiert ist, macht einen wichtigen und konstanten Bestandteil seines Weltbildes aus.551

Darauf, dass die nicht zielgerichtete Bewegung in Ahnung und Gegenwart ein bestimmendes ästhetisches Prinzip ist, wurde in der Forschung ebenfalls häufig hingewiesen.552 Vor allem die Rastlosigkeit der Figuren, die stets auf Reisen sind und nie lange an einem Ort verweilen, hat dazu geführt, dem Roman die Bewegungsform des ›Schweifens‹ zugrunde zu legen.553 Diese Art der Bewegung bestimmt laut den Interpreten auch den Blick in die Landschaft: Ob Eichendorffs Helden später herausreiten, zu Fluß oder Fuß reisen, immer zieht die Landschaft an ihnen vorbei, bisweilen wie im Fluge, immer eröffnen sich plötzlich Blicke, Augen-Blicke, […] überall fließen Ströme und geht eben die Sonne prächtig auf. […] Überall schweifen Blicke und Geräusche hin und her und verlöschen wieder wie sie gekommen sind, unbestimmte visuelle und akustische Räume […].554

Das Moment der Bewegung charakterisiert Eichendorffs Landschaftsdarstellung jedoch in noch tiefgreifenderer Weise. Neben der Beweglichkeit des Betrachterstandpunkts555 und einzelner Landschaftselemente, wie zum Beispiel der aufgehenden Sonne, bedient sich Eichendorff bei der Landschaftsbeschreibung Konstruktionsmechanismen, die die Dynamik des Bildes zusätzlich intensivieren. Richard Alewyn hat auf diese besonderen Techniken der Raumdarstellung bereits früh hingewiesen. Eichendorffs Landschaften 551 Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 472. 552 Vgl. z. B. ebd., S. 476 und S. 485. Auch die Interpreten der älteren, theologischen Lesart erkannten die Bewegung als zentrales Prinzip von Eichendorffs Dichtung, deuteten sie aber im Hinblick auf die ständige Jenseitsorientierung, die alles Irdische nur als fließenden Zwischenbereich auffasst: »Damit wird aber alle Ruhe und Zeitentrücktheit in eine rastlose Bewegtheit gerissen. Eine gewaltige, reißende Bewegung vom Endlichen zum Unendlichen setzt ein, ein ständig fließendes Werden. Damit wird jeder Zustand, wird jedes Teilstück des Endlichen in seiner Vergänglichkeit erlebt, es ist nicht mehr an sich selbst, sondern nur, um das Unendliche zu bedeuten.« (Lüthi, Dichtung und Dichter, S. 75) 553 Vgl. hierzu vor allem Zons, »›Schweifen‹. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 45ff.; außerdem Kersten, Eichendorff und Stifter, S. 65ff. 554 Zons, »›Schweifen‹. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 46. 555 Während Seidlin noch darauf hinweist, die Vogelperspektive sei »die Eichendorffsche Perspektive« bei der Landschaftserschließung (»Eichendorffs symbolische Landschaft«, S. 232), verzeichnen die meisten Interpreten den beweglichen Standpunkt als dominante Form der Naturbetrachtung. Vgl. z. B. Wettstein, Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 43f. Vgl. außerdem Kunisch, der das ›Bewegtsein‹ des Betrachters als Teil der Ambivalenz der Landschaft liest: »Auch die mit dem Bewegtsein der Landschaft korrespondierende Bewegung des Menschen, der in diesen Kreis hineingezogen wird, sein Wandern, Reisen, Reiten und Jagen hat an der Mehrdeutigkeit der äußeren und inneren Welt teil.« (»Freiheit und Bann – Heimat und Fremde«, S. 143)

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sind Schöpfungen aus Raum. Sie sind arm an gegenständlichem Inhalt und körperlicher Kontur, aber sie sind verschwenderisch ausgestattet mit räumlichen Relationen. Eichendorffs Landschaft ist reiner Raum, aus nichts gemacht als aus Bewegung, der konsequenteste Versuch, reinen Raum in der Dichtung darzustellen, den wir kennen.556

Auf diese räumlichen Relationen, die die Landschaft als »körperloses Gebilde aus reiner Bewegung«557 erscheinen lassen, lohnt es sich einen genaueren Blick zu werfen. Oben konnte bereits am Beispiel der Gebirgslandschaft der zweiten Jagdszene ein kurzer Einblick in einige typische Formeln von Eichendorffs Landschaftsbeschreibung gewonnen werden. Zur tieferen Analyse dieser Strukturmerkmale bietet sich eine Fülle von Landschaften an, die zu diesem Zweck, anders als in den vorangegangenen Untersuchungen, weitgehend aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst werden können.558 Ein besonders prägnantes und gleichwohl typisches Beispiel findet sich im 15. Kapitel des Romans, in dem Friedrich und Leontin mit Erwin aus der bedrückenden Stimmung der Residenz fliehen und zu einer Reise entlang des Rheins aufbrechen. Schon bald stoßen sie auf eine schöne alte Burg, von der aus Leontin und Friedrich die Umgebung erkunden: Erwin blieb in dem Fensterbogen sitzen, sie aber durchzogen das Schloß und den Berg in die Runde. Junge grüne Zweige und wildbunte Blumen beugten sich überall über die dunklen Trümmer der Burg, der Wald rauschte kühl, Quellen sprangen in hellen, frischlichen Bogen von den Steinen, unzählige Vögel sangen, von allen Seiten die unermeßliche Aussicht, die Sonne schien warm über der Fläche in tausend Strömen sich spiegelnd, es war, als sei die Natur hier rüstiger und lebendiger vor Erinnerung im Angesicht des Rheins und der alten Zeit. Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt, rief Leontin fröhlich aus. (AG, S. 247)

Bereits beim ersten Lesen der Beschreibung fällt auf, dass das Bild keine statischen Elemente enthält, sondern jedes einzelne Objekt in Bewegung befindlich ist. Die größte Dynamik geht von den ›in Bögen springenden Quellen‹ aus, eine Formulierung, die zugleich einen Grundzug von Eichendorffs Landschaft verdeutlichen kann. Alewyn definiert ihn als »Entwertung des Subjekts durch das Verbum«, was wiederum mit einer »Emanzipation der Bewegung vom Körper« einhergeht.559 Das Verb »sprangen« ist hier gegenüber dem Substantiv »Quellen« 556 Alewyn, »Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 42. 557 Ebd., S. 32. 558 Laut Alewyn könnten Eichendorffs Landschaften immer aus ihrem Kontext gelöst werden und an beliebiger Stelle wieder eingefügt werden, ohne den Erzählverlauf zu verändern oder auch nur zu stören. Beim Blättern in seinen Werken scheinen sie oft »nichts als eine Versetzung ihrer Elemente darzustellen.« (Ebd., S. 22) Dass viele Landschaften dagegen Knotenpunkte der Handlung darstellen, in denen sich das Geschehen auf paradigmatische Weise verdichtet, konnte oben gesehen werden. 559 Ebd., S. 31.

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so dominant, dass das Moment der Bewegung in den Vordergrund des Satzes rückt, ein Effekt, der durch das dynamische Bild der »hellen, frischlichen Bogen« noch verstärkt wird. Die Entwertung des Substantivs wird darüber hinaus durch die für Eichendorffs Beschreibungen ebenfalls charakteristischen Pluralisierungen noch gefördert.560 In der gesamten Passage treten die Substantive fast ausschließlich im Plural auf, wobei Mengenangaben wie »unzählige« oder »tausend« zusätzlich verallgemeinernd wirken. Das Landschaftsbild erhält hierdurch eben jene Unbestimmtheit, für die Eichendorff immer wieder kritisiert wurde. Dass sein Interesse jedoch keineswegs in der Abbildung bestimmter Landschaftsobjekte liegt, ist aus der Struktur der Beschreibung klar ersichtlich. Diese umschließt eine Handvoll stereotyper Landschaftselemente, wie Blumen, Wasserquellen, die Sonne und die Burgruine, und setzt sie in ein dynamisches, bewegliches Gefüge, das die Relationen zwischen den einzelnen Elementen und nicht die Elemente selbst in den Fokus rückt. Dieser Verlagerung dienen auch die für Eichendorffs Stil charakteristischen Präfixe und Präpositionen wie »durch« oder »über«, die Alewyn in seinen detaillierten Analysen als »nicht weniger als ein Drittel des Wortmaterials« von Eichendorffs Landschaft ausmacht.561 Es handelt sich dabei fast immer um Präpositionen, die zum einen den Verben ihren jeweiligen Bewegungssinn verleihen und zum anderen perspektivisch wirken. Innerhalb der Beschreibungen wird dadurch eine Vielzahl verschiedener Richtungen und Bewegungen evoziert, die gemeinsam mit der Unbestimmtheit der wenigen konkreten Substantive die Etablierung einer Zentralperspektive und damit die Erschließung des Bildes konterkarieren.562 Dass dieser Effekt intendiert ist, verdeutlicht nicht zuletzt der elliptische Hinweis auf die vermeintliche Blickrichtung, aus der die Landschaft erfahrbar wird: »von allen Seiten die unermeßliche Aussicht«. Indem die Perspektive durch »von allen 560 Vgl. hierzu auch Schwarz, »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, S. 319; Alewyn, »Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 27ff. 561 Ebd., S. 35. Vgl. auch S. 30. 562 Vgl. hierzu auch Wettsteins Analyse von Eichendorffs Prosasprache. Ihr Reiz liegt ihm nach darin, »daß die Strukturteile […] die Vorstellungsbereitschaft des Lesers in stets wechselnde Richtungen orientieren (Präpositionen) oder auf einen bestimmten Ort festlegen […], daß dann aber die Vorstellungsinhalte sich jederzeit der Deutlichkeit entziehen.« (Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 34) Vgl. außerdem Konrad Ehlichs Untersuchung zu Eichendorffs Verwendung deiktischer Ausdrücke: »Literarische Landschaft und deiktische Prozedur : Eichendorff«, in: Harro Schweizer (Hrsg.), Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit, Stuttgart, Metzler, 1985, S. 246–261. Typisch für Eichendorffs Raumdarstellung sind laut Ehlich die ständige »Neufokussierung der Aufmerksamkeit des Lesers« sowie die »Plötzlichkeit der Versetzung.« (S. 256f.) Er schlussfolgert, dass Eichendorffs sprachliche Verfahren bei der Landschaftsdarstellung »rezipientenbezogen« sind und nicht auf die Vermittlung eines bestimmten Inhalts zielen. Sie »greif[en] in die Vorstellungstätigkeit des Rezipienten direkt ein, statt sie bloß indirekt anzuregen.« (S. 257)

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Seiten« verabsolutiert wird, haftet dem angedeuteten Wahrnehmungsprozess etwas Utopisches an. Wie zuvor die Mengenangabe »unzählige« sprengt zudem der Zusatz »unermeßliche« nicht nur jegliche rationale Dimensionierung der Landschaft, auch wird dadurch letztlich die Nicht-Wahrnehmbarkeit der Landschaft betont. Die Hinweise dienen nicht nur der Evokation räumlicher Weite und Tiefe, wie in der Forschung betont wird,563 sie tragen auch schlicht zur ›Verkomplizierung‹ des Bildes bei. Diese spielerische Dissoziierung ist das eigentliche Kennzeichen von Eichendorffs Landschaft. Über den Inhalt hinaus schlägt sie sich auch in den syntaktischen Strukturen nieder. Gegenüber dem ersten Satz der zitierten Passage, der noch zum narrativen Rahmen gehört, fällt innerhalb der Beschreibung eine Häufung von Adjektiven auf. Neben ihrer Quantität zeichnen sie sich durch die ungewöhnlichen, teilweise synästhetischen Kombinationen aus (»wildbunte«, »hellen, frischlichen«). Diese Kombinationen vervielfältigen die Semantisierungsprozesse beim Lesen nicht nur, sondern verlangsamen sie auch. Der Vorgang der Bedeutungskonstitution und damit die Erschließung der Landschaft werden durch die Zusätze der Adjektive bewusst erschwert. Zwar vermehren sich die Informationen über das Erscheinungsbild der Landschaft, doch gilt wie im Fall der pluralisierten Substantive, dass »Vervielfältigung die Greifbarkeit keineswegs erhöht.«564 Die Erschließung der Landschaft wird vielmehr systematisch erschwert, worauf auch der Aufbau der gesamten Beschreibung zielt: Es erfolgt keine Hierarchisierung der einzelnen Elemente, die ausschließlich parataktisch aneinander gereiht sind und keine kompositorische Funktion erfüllen.565 Ziel der Darstellung ist nicht die (Re-) Konstruktion eines Gesamtbildes, sondern die Sichtbarmachung der Dynamik des Landschaftsraums. Ihr Subjekt – das zwischen der Ankündigung von Friedrichs und Leontins Rundgang und ihrer abschließenden Reaktion nirgendwo erkennbar ist – bewegt sich in einer eigendynamischen, ungreifbaren Umgebung, deren »kaleidoskopische Unbestimmtheit«566 ihm zwar keine Orientierung bietet, dabei aber eine uneingeschränkte Vielfalt an Reizen und Er563 Seidlin schlussfolgert in diesem Zusammenhang, »daß die wahre Funktion Eichendorffscher Landschaften in der Öffnung von Perspektiven liegt, in der Erschließung von Tiefenblicken, die den metaphysischen Grund seiner Erzählungen […] freilegen.« (»Eichendorffs symbolische Landschaft«, S. 231) Zons spricht sogar von »Visionen« bei der Erfahrung der Landschaft, deren »Anblick nicht im geringsten eingeschränkt [ist]. (»›Schweifen‹. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, S. 46) 564 Alewyn, »Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 28. 565 Vgl. hierzu auch Killy : »Eichendorff entwirft mit einem Augenblick ein unendliches, in sich bewegtes Ganze [sic]. Man erkennt in ihm Elemente von Landschaft, Ströme […], Berge, Bäume, Gärten. Wie sie zueinander liegen, erfährt man nicht, denn es gibt keinerlei Zuordnung in diesem Raum […] An die Stelle der Ordnung ist Unbestimmtheit getreten, an die Stelle der Gliederung Diffusion.« (Romane des 19. Jahrhunderts, S. 37f.) 566 Börsch-Supran, »Eichendorff und die Malerei seiner Zeit«, S. 23.

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fahrungsmöglichkeiten eröffnet. Dieses Wahrnehmungserlebnis spiegelt sich in Leontins abschließendem Ausruf wider und auch die für Eichendorff typische synästhetische Vermischung visueller und akustischer Elemente muss vor diesem Hintergrund verstanden werden: Die Klänge der Landschaft, wie hier der Vogelgesang, steigern einerseits das Wahrnehmungserlebnis, andererseits bleibt jedoch ebenso wie der Standort der visuellen Objekte auch die Quelle der akustischen Elemente unbenannt.567 Das Beispiel zeigt, dass die Landschaft in Ahnung und Gegenwart nicht nur im Hinblick auf ihre Ambivalenz, das heißt ihre Vermischung von schöner und schrecklicher Landschaft, pittoresk ist, sondern daneben auch ihre Struktur die charakteristischen Merkmale der Ästhetik des Pittoresken aufweist. Mit der Burgruine, die von jungen Pflanzentrieben und bunten, wilden Blumen überwuchert wird, beinhaltet die Beschreibung ein typisches Element pittoresker englischer Parks, das Natürlichkeit, roughness und contrast verkörpert, darüber hinaus sind jedoch vor allem die wahrnehmungs- und erkenntniskritischen Implikationen des Pittoresken in ihr angelegt. Durch die parataktische Aufzählung der Landschaftselemente, die sich in erster Linie durch ihre Beweglichkeit und die Unschärfe ihres konkreten Objekts auszeichnen, wird das Interesse auf die Relationen zwischen den Elementen, also auf die Struktur der Landschaft gelenkt. Diese präsentiert sich als dynamisches Gefüge, in dem die Dominanz der Bewegungsverben und die charakteristischen Präfixe und Präpositionen eine unendliche Vielzahl an möglichen Bewegungsrichtungen und Perspektiven schaffen und so die Mechanismen der Bildkomposition außer Kraft setzen. Der in der Forschung zur Beschreibung von Eichendorffs Romanwelt aufgekommene Begriff des Kaleidoskops trifft damit auf seine Landschaft in einer Weise zu, deren volle Bedeutungstiefe bislang noch nicht erfasst wurde.568 Ebenso wie der picturesque tourist durch seinen konvexen Spiegel ständig neue Landschaftsansichten erhalten kann,569 ist Eichendorffs Landschaftsbild darauf ausgelegt, eine unendlich scheinende Vielfalt potenzieller Reize zu produzieren, die nicht durch die Konstruktion eines stabilen Gesamtbilds eingeschränkt werden. Der Offenheit und Unerschöpflichkeit des Wahrnehmungserlebnisses, die das Kaleidoskop und der konvexe Spiegel bieten, entspricht in der literarischen pittoresken Landschaft die Verlangsamung und Erschwerung der Semantisierungsprozesse, wie es in der zitierten Passage zum Beispiel anhand der Adjektivkombinationen beobachtet werden konnte. Der 567 Vgl. zu dieser Unbestimmtheit der akustischen und visuellen Elemente Alewyn, der von einer »Emanzipation der Klänge und Lichter von den Körpern« spricht. (»Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 32) 568 Vgl. hierzu z. B. Börsch-Supran, der den Begriff allgemeiner für die Romanwelt im Ganzen verwendet. (»Eichendorff und die Malerei seiner Zeit«, S. 23) 569 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1.

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Prozess der Bedeutungskonstitution wird immer wieder in neue Richtungen gelenkt, ohne in eine einheitliche, sinnstiftende Perspektive münden zu können. Dieser Vorgang der spielerischen Dissoziierung wurde bisher in verschiedenen Ansätzen nur für Eichendorffs Prosastil im Allgemeinen konstatiert. So deutet Wettstein die Konsequenzen der »Betonung der Strukturteile« und der »Verwischung des Inhalts« in Eichendorffs Prosasprache für den Leser als Anlass, ›reinen‹ Raum zu imaginieren: »Reiner Raum entsteht in der Einbildungskraft des Lesers indirekt dadurch, daß die Vorstellung, gelenkt durch Strukturteile, sich nach den verschiedensten Seiten hin ausrichtet, ohne feste Nahrung zu erhalten.«570 Dieser Konterkarierung des Lese- und Verstehensprozesses, die Eichendorffs Raumdarstellung bewirkt, entspricht der Blick in die pittoreske Landschaft und die Prämisse ihres Gestalters: »to keep the eye in a state of constant irritation«571. Die pluralisierten Substantive und ihre von den Kritikern aufgezeigte ›Unschärfe‹ entsprechen der Bevorzugung konturenloser, rauer Objekte in der pittoresken Landschaft: »[o]bjects, that are not circumscribed by straight, or very determinate outlines, but of which the forms are loose and flowing.«572 Indem die inhärenten Bewegungen des Landschaftsbildes überall betont und die Erfahrungsmöglichkeiten als ins Unendliche potenziert erscheinen, realisieren die einzelnen Elemente Payne Knights zentrale Forderung: »to interrupt the repose of the whole, and leave the mind no place to rest upon.«573 Mit dieser Art der Landschaftsdarstellung reflektiert Eichendorff seine Erfahrung der Komplexität der modernen Lebenswirklichkeit, die neben dem Effekt der Halt- und Orientierungslosigkeit auch als Bereicherung erfahren werden kann. In dieser Doppelbedeutung liegt die Funktion der Ästhetik des Verworrenen, die Pikulik als charakteristisch für Eichendorffs Romanwelt beschreibt und die eine ähnliche Zielsetzung wie das Pittoreske verfolgt. Pikulik erläutert zur Funktion des Verworrenen: Wenn das Wirklichwerden ein Gerinnungsprozeß ist, bei dem alle Einzelheiten in ein festes Verhältnis zueinander treten, so liegt im Verworrenen als dem Nochnichtgeordneten die Möglichkeit zu einer Vielfalt von Konfigurationen, gleich einem Kaleidoskop, bei dem sich ein Gewirr von bunten Glassteinchen durch einfaches Drehen zu immer wieder neuen Mustern und Bildern anordnet.574

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Wettstein, Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 35. Price, Essays on the Picturesque, S. 148. Payne Knight, Inquiry, S. 183. Ebd., S. 96. Pikulik, Signatur einer Zeitenwende, S. 197.

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Die pittoreske Landschaft dient dazu, eine solche »Situation vor jeder Ordnung«575 zu simulieren, in der der »Gerinnungsprozeß« der Deutung noch nicht vollzogen ist und die Komplexität der Wirklichkeit noch nicht durch den ordnenden Verstand vereinfacht wurde. Mit Lobsien konnte in Kapitel 2.2.2.1 gesehen werden, dass die Gestaltqualitäten des Pittoresken durch ihre Kontingenz zueinander den »particular things, den konkreten und in sich unendlich komplexen Phänomenen«576 der Wirklichkeit entsprechen, die durch den Rezeptionsvorgang in »vergleichsweise ärmere simple ideas zerfällt werden« müssen. Die simple ideas entsprechen dabei den kognitiven Vorgängen, die zuallererst einmal mit dem Vergleich und der Gruppierung der einzelnen Elemente beschäftigt sind. Die Vielfalt und Komplexität, die das Pittoreske simuliert, kann also im Bewusstsein zwangsläufig nur verarmen. Andersherum gedacht muss aber bei der künstlerischen Schöpfung des pittoresken Gegenstands eine gewisse Verunklarung, das heißt eine Dissoziierung des vom Künstler Gedachten und Geordneten erfolgen: Man kann sagen, daß die Herstellung pittoresker Gegenstände eine Umkehrung des empiristischen Prozesses darstellt: einfache Ausgangsideen werden spielerisch dissoziiert und differenziert, bis sie jenen Punkt überschreiten, von dem an sie durch eigene, aktive Rezeptionsleistungen wiedergewonnen werden müssen.577

Eichendorffs Ästhetik des Verworrenen entspricht insofern der Ästhetik des Pittoresken, als dass zur Herstellung des ästhetischen Gegenstands – ob Landschaft oder Romanwelt im Ganzen – eben diese Methode der spielerischen Dissoziierung und Differenzierung angewandt wird. In der oben zitierten Landschaftsbeschreibung tritt dieser Vorgang zum Beispiel zutage, wenn die einfache Ausgangsidee der Wasserquellen in das dynamische, ›reichere‹ Bild der »in hellen, frischlichen Bogen von den Steinen« springenden Quellen überführt wird. Neben allen weiteren oben bereits besprochenen Elementen der ›Verkomplizierung‹ des Bildes ist hier aber vor allem die Bedeutung des Sonnenlichts zu nennen. Während die Sonnenstrahlen in romantischen Landschaftsdarstellungen oft eine vereinheitlichende, fließende, Konturen verwischende Funktion haben, dienen sie hier der Intensivierung der intricacy der Landschaft, indem ihre Reflexe die Vielfalt der Wahrnehmungsimpulse ins Unendliche steigern: »die Sonne schien warm über der Fläche in tausend Strömen sich spiegelnd.«578 575 576 577 578

Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. Ebd. Ebd. Diese Funktion des Sonnen- oder Mondlichts spielt in Eichendorffs Landschaftsbeschreibung allgemein eine zentrale Rolle. Vgl. dazu auch Alewyn: »Die Sonne (wie auch der Mond) ist bei Eichendorff nur ausnahmsweise als Himmelskörper beschrieben, vielmehr sind es die Strahlen, die von ihr ausgehen, oder die Reflexe, die von ihr überall in der

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Das gesamte Landschaftsbild, zusammengesetzt aus einfachen, stereotypen Ausgangsideen wie der Burg, dem Wald, den Quellen und Flüssen, erscheint damit als eigendynamisches Gewebe aus optischen Reizen, das die Wahrnehmbarkeit der Landschaft und nicht ihre Elemente selbst zum Thema hat. Die von den Interpreten hervorgehobene Bedeutung der »räumlichen Relationen«579 oder der »Strukturelemente«580 entspricht der »Verlagerung des Interesses von der inhaltlichen Bedeutsamkeit der Einzelelemente auf die Qualität ihrer Beziehungen und ihrer Anordnung«581 in der pittoresken Landschaft. Indem aber diese Relationen, die Strukturen der Landschaften gegenüber dem Inhalt in den Vordergrund rücken, thematisiert die Beschreibung letztlich den Wahrnehmungsprozess selbst. Eichendorffs dynamische Landschaftsbilder veranlassen zu keinem abschließenden Interpretationsakt, sondern »begnüg[en] sich mit einem differenziert strukturierten Verlauf«582, in dem sich die Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeiten selbst erproben können. Durch die Unterdrückung der Deutung öffnet die Landschaftsbeschreibung ein Zeitfenster : Die Zeit, die das Pittoreske als Abstand von allen höheren oder tieferen Bedeutungen entstehen läßt, verschafft zugleich der ästhetischen Erfahrung einen Freiraum, der ihren Vollzug vom Zwang einer Rechtfertigung oder weiterführenden Auswertung dispensiert und ihr einen spielerischen Charakter verleiht.583

Dieser Freiraum und spielerische Charakter der ästhetischen Erfahrung ist für den gesamten Roman konstitutiv und stellt ein Gegengewicht zu der Erfahrung der Ambivalenz und Feindlichkeit der übermächtigen Natur dar. Wie Leontin »oft plötzlich durch eine Lichtung des Waldes die herrlichsten Aussichten überraschten und Stundenlang festbannten« (AG, S. 136), können die Landschaften in Ahnung und Gegenwart den Betrachter nicht nur seine Fremdheit spüren lassen, sondern ihn in anderen Fällen auch in einen anhaltenden Zustand entzückten Beschauens versetzen. In dieser Phase tritt der Geist in ein freies, schrankenloses Spiel von Assoziationen und einen Zustand des höchsten ästhetischen Genusses, wie auch Gilpin erklärt: »We are most delighted, when some grand scene, tho perhaps of incorrect composition, rising before the eye, strikes us beyond the power of thought.«584 Die von ihm beschriebene »pause of

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Landschaft geweckt werden, die zu Eichendorffs Landschaft einen Beitrag leisten, der allerdings wichtiger ist, als sich hier angeben lässt. (»Eine Landschaft Eichendorffs«, S. 25) Ebd., S. 42. Wettstein, Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 30. Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. Wettstein schlussfolgert sogar zur Dominanz der Strukturelemente: »Extrem formuliert wäre Eichendorffs Prosa eine leere Sprache, eine Sprache ohne Inhalt.« (Die Prosasprache Joseph von Eichendorffs, S. 34) Ebd. Ebd. Gilpin, Three Essays, S. 22.

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intellect«, das »deliquium of the soul«,585 kann auch Eichendorffs Landschaft auslösen. Den Betrachter erfasst dabei »an enthusiastic sensation of pleasure«586 und in diesem ästhetischen Hochgefühl sind der Phantasie und der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Als Leontin einmal ganz in die Betrachtung der Landschaft versunken ist, heißt es: Und wie unter ihm die Wälder rauchten, hin und wieder Schüsse fielen und zwischen dem Gebell der Hunde die Hörner von Zeit zu Zeit ertönten, da dichtete seine frische Seele unaufhörlich seltsame Lieder, die er sogleich sang, ohne jemals ein einziges aufzuzeichnen. Denn was er aufschrieb, daran verlor er sogleich die freie, unbestimmte Lust. Es war, als bräche das Wort unter seiner Hand die luftigen Schwingen. (AG, S. 136)

Eichendorff setzt an die Stelle des Definitiven und Absoluten das Potenzielle, das »[F]reie, [U]nbestimmte«, das Konkretes wieder in Mögliches, bereits erschlossene Bedeutungen wieder in ihre potenzielle Offenheit zurückführt. Pikulik zeigt in seiner Untersuchung des Motivs der Erwartung in der romantischen Literatur, dass bei Eichendorff die Kluft zwischen Erwartung und tatsächlicher Erfahrung von allen Romantikern am weitesten auseinander klafft, weshalb er die beiden Begriffe der Prozessualität und der Potenzialität als konstitutiv für die entworfene Welterfahrung beschreibt.587 Indem Erwartungen bewusst in der Schwebe gehalten werden und Widersprüche in den verworrenen Handlungen ungelöst bleiben, verlaufen Erkenntnis und Wahrnehmung grundsätzlich prozessual, wodurch wiederum die Erfahrungsmöglichkeiten potenziert werden. So offenbart sich Eichendorffs gesamtes literarisches Werk als Medium der Erprobung, in der »jede empirische Fixierung für tödlich erklärt [wird].«588 Seine viel zitierte Warnung aus dem Gedicht Wehmut gibt diesen Gedanken wohl selbst am eingängigsten wieder: Doch wolle nie dir halten Der Bilder Wunder fest, Tod wird ihr freies Walten, Hältst du es weltlich fest. (AG. S. 148)

Die Welt ist in einem ständigen Fließen begriffen und dieser Verlaufscharakter bestimmt auch die Wahrnehmung, die zu keinen definitiven Erkenntnissen führen kann.589 Laut Pikulik ist die Seele bei Eichendorff im Prozess des stau585 Ebd. 586 Ebd. 587 Vgl. Signatur einer Zeitenwende, S. 114ff. und S. 196f. Eichendorff versteht laut Pikulik »die Welt nicht als Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit.« (Signatur einer Zeitenwende, S. 115) 588 Ebd., S. 114. 589 Auch wenn sich Eichendorff in seinen (literar-)historischen Abhandlungen und kirchenpolitischen Schriften oft dogmatisch und moralisierend gibt, finden sich auch dort einige Belege dieser Weltanschauung. Vor allem die Abhandlung Preußen und die Konstitutionen ist in diesem Zusammenhang interessant. Eichendorff beschreibt hier z. B., wie jede historische Erkenntnis und Errungenschaft durch den Wandel der Zeit unvermeidbar relati-

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nenden, erkenntnisfernen Schauens eher von Als-ob-Empfindungen beherrscht als von tatsächlichen Erlebnissen, sie ist in Erwartung »emotional gespannt, […] innerlich bewegt.«590 Das Zeitgefühl, welches durch das »Gebanntsein in einem Noch-nicht« entsteht, beschreibt Pikulik als eine »vibrierende Schwingung.«591 Innerhalb dieses Zustands wird der Assoziationsstrom ausgelöst, den auch Payne Knight fordert und zum konstitutiven Merkmal des Pittoresken erklärt.592 »Ein Werk ist pittoresk, wenn es sich in ein Verhältnis unmittelbarer Similarität zum Rezeptionsbewusstsein bringt,« wie Lobsien erläutert.593 Eichendorff interessieren genau diese Vorgänge des Rezeptionsbewusstseins, das Spiel der Phantasie auf seinem höchsten Entfaltungsgrad, und nicht die daraus resultierenden Ergebnisse. Seine Landschaftsbilder und die durch sie freigesetzte Dynamik ikonisieren die vielschichtigen, prozessualen Aktivitäten der Wahrnehmung, keine konkreten Orte. Die Vorstellung der Eigendynamik der Wirklichkeit und ihrer zwangsläufigen Verarmung im Bewusstsein bestimmt jedoch nicht nur die Landschaftsbilder als probate Medien der Hinterfragung der Wahrnehmungsfähigkeiten, sondern dringt bis tief in Eichendorffs Sprachverständnis vor. Auch die Sprache selbst versteht er wie die Natur als eigenmächtig und eigendynamisch, weswegen einige seiner Gedichte in der Forschung bereits in die Nähe postmoderner Lyrik gerückt wurden.594 In diesem Zusammenhang drängt sich ein letzter Aspekt der

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viert wird. Er erklärt, »daß das Leben des Eintzelnen wie der Völker nichts Stillstehendes, sondern, eben weil es lebt, eine ewig wandelnde, fortschreitende Regeneration sey, u. daß es demnach ein, wo nicht frevelhaftes, doch jedenfalls vergebliches Beginnen wäre, irgend einen historischen Zustand, der ja nur als eintzelnes Glied der großen Kette relative Bedeutung hat, als Norm für ewige Zeiten festhalten zu wollen.« (Sämtliche Werke, Bd. 10: Historische und politische Schriften, 2007, S. 133f.) So kann jede Gesetzgebung immer nur provisorisch sein und alles unterliegt dem Wandel der Weltgeschichte. (Vgl. S. 142) Auch muss immer und überall die Vielfalt der Völker gewahrt bleiben, denn nur so kann eine Nation Fortschritt erzielen und in ihren widerstreitenden Interessen das richtige Mittelmaß finden (»Lebendiges Heil […] wird daher nur in der Mitte dieser streitenden Meinungen gefunden werden.« S. 136). Diese wenigen aus dem Kontext gelösten Aussagen erheben keinen repräsentativen Anspruch, zeigen aber, dass sich auch in den theoretischen Spätschriften Übereinstimmungen zur dichterischen Offenheit finden. Pikulik, Signatur einer Zeitenwende, S. 117. Ebd., S. 118f. Vgl. Payne Knight, Inquiry, S. 152. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Alexander von Bormann: »Eichendorff und die moderne Lyrik«, in: Kessler / Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität, S. 9–19; »Kritik der Restauration in Eichendorffs Versepen«, in: Pott (Hrsg.), Eichendorff und die Spätromantik, S. 69–90. Von Bormann stellt Eichendorffs Verwandtschaft zu den postmodernen Lyrikern heraus und schlussfolgert, dass Eichendorff Derridas Kritik der Wahrheit als Präsenz vorausgreift, dass seine Lyrik den »Entwurf einer Poesie [darstellt], die ihre Aussage nicht mehr jenseits des Textes weiß, für die Wahrheit und Textur nicht zu trennen sind.« (»Kritik der Restauration«, S. 70) Diese Interpretation von Eichendorffs Sprache

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eingangs zitierten Landschaftsdarstellung auf, der bisher noch außen vor gelassen wurde. Der ›kühl rauschende Wald‹ stellt ein Element der Naturbeschreibung dar, das sich bei Eichendorff auffällig häufig findet und daher bereits vielfach das Interesse der Interpreten auf sich gezogen hat.595 Schon Adorno thematisiert es 1957 in seinem grundlegenden Vortrag »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, der ein Jahr später in den Noten zur Literatur erscheint und in dem er als einer der ersten die Modernität des Romantikers anhand seiner dichterischen Sprache aufzeigt. Laut Adorno »führt Eichendorffs entfesselte Romantik […] bewußtlos zur Schwelle der Moderne«, seine Dichtung ist »wahrhaft antikonservativ,« weil sie sich ganz der Autonomie der Sprache hingibt, »sich vertrauend treiben [läßt] vom Strom der Sprache und ohne Angst, in ihm zu versinken.«596 Sie verwirft den Anspruch der Herrschaft des Ichs über die eigene Seele und Sprache, so dass der Vers »Und ich mag mich nicht bewahren!«, der ein Gedicht eröffnet, das Eichendorff einer seiner Ausgaben voranstellt, tatsächlich sein gesamtes Werk einleiten könnte.597 Adorno beschreibt die konsequente und völlige Loslösung der Sprache bei Eichendorff drastisch: »Zuweilen sind […] Worte hingelallt, aller Kontrolle bar, und die bis zum Extrem gediehene Lockerung nähert sich dem immer schon Gewesenen.«598 Dieses »immer schon Gewesene« materialisiert sich bei Eichendorff ahnungsvoll aber unbestimmt im Rauschen der Wälder. Es steht für die Autonomie der Sprache und die »Selbstauslöschung des Subjekts« zu deren Gunsten.599 Die Wirrnis, die es erzeugt,

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widerspricht der Vorstellung eines ›Zauberwortes‹, mit dessen Hilfe der Dichter die verborgene Ursprache erklingen lassen kann. Zu der Verweisfunktion, die der Sprache im Rahmen dieser älteren Interpretation noch zugesprochen wurde, vgl. z. B. Lüthi: »Die Sprache kann die geheimnisvollen, dem Verstande verborgenen Beziehungen erfassen, sie verbindet den Menschen mit dem Unsichtbaren, Übersinnlichen, das sie zu bezeichnen vermag. Diese Grundmöglichkeit der Sprache, Unsinnliches sinnlich erfaßbar auszudrücken, wird metaphysisch gesehen und identitätsphilosophisch aus der Urverwandtschaft oder sogar Identität der beiden Welten verstanden.« (Dichtung und Dichter, S. 76) Zur Reflexivität von Eichendorffs Sprache vgl. aktuell auch die Beiträge in dem Band von Daniel Müller Nielaba ›du kritische Seele‹. Eichendorff: Epistemologien des Dichtens von 2009. Eichendorffs Rauschen hat auch die Interpreten der traditionellen, theologischen Lesart beschäftigt. Das Rauschen der Natur wird in diesem Zusammenhang als ständiger Hinweis auf die verborgene, symbolische, auf die Ewigkeit verweisende Bedeutung der Landschaft gelesen. Vgl. z. B. von Bormann: »Das verworrene Rauschen der Natur zeigt an, daß die Wirklichkeit, ›das Irdische‹ eine ›verhüllte Bedeutung‹ hat, die sich auf jenen unmittelbar nicht darstellbaren Wahrheitsgehalt bezieht.« (Natura loquitur, S. 280) Zum Motiv des Rauschens im Zusammenhang mit der Modernität von Eichendorffs Sprache vgl. Rudolf Helmstetter, »Das halbe und das ganze Lied. Eichendorffs Suspendierung des Singens«, in: Müller Nielaba (Hrsg.), Epistemologien des Dichtens, S. 7–34, bes. S. 18ff. Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 119. Ebd., S. 120. Das Gedicht findet sich auch in Ahnung und Gegenwart in Form eines Lieds der Gräfin Romana. (Vgl. AG, S. 185) Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 121. Ebd., S. 127. Zur Erläuterung seiner These vom »Antisubjektivismus des Romantikers

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»meldet die Suspension des Ichs, seine Preisgabe an ein chaotisch Andrängendes an.«600 Die Diffusität des Rauschens verweist auf den Verlust der Orientierungsund Erkenntnisfähigkeiten des Subjekts, dessen sich die Sprache bemächtigen kann. Die lyrischen Landschaftsdarstellungen können in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutungstiefe und Selbstreferenzialität entwickeln. So zum Beispiel in dem bekannten Bild der »her und hin« gehenden Bäche aus dem Gedicht In der Fremde: Ich hör’ die Bächlein rauschen Im Walde her und hin, Im Walde in dem Rauschen Ich weiß nicht, wo ich bin.601

Tatsächlich verbirgt sich in der berühmten Strophe ein Schlüssel zu Eichendorffs Natur- und Weltverständnis sowie seinem dichterischen Programm.602 Die konkreten Bildelemente werden verzerrt und lösen sich in der monotonen Lautlichkeit des Rauschens auf. Schon im ›Hin und Her‹ der stromförmigen Bäche läge eine Entstellung ihrer Linearität, doch durch die Verdrehung wird das Bild zur Metapher für die schneidende Kluft zwischen Raum und Subjekt. Laut Adorno ist die Metapher »genial falsch […], denn die Bewegung der Bäche ist einsinnig, aber das Her und Hin gibt das Verstörte dessen wieder, was die Laute dem Ich sagen, das lauscht, anstatt sie zu lokalisieren.«603 Sowohl der visuelle als auch der auditive Zugang zur Welt ist dem Subjekt verstellt. Die Elemente, die einen solchen bereiten könnten, vermischen sich zu einem form- und richtungslosen Rauschen. Die oben bereits genannten Analogien zwischen dem Pittoresken als Zeichensystem und dem poststrukturalistischen Sprach- und Textbegriff604 können folglich auch in Eichendorffs Werk erkennbar werden. Ebenso wie seine selbstreferenzielle Sprache die eigenen, elementaren Bedeutungsbildungspro-

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604

Eichendorff« zieht Adorno gerade Eichendorffs Formel vom Zauberwort heran, mit dem der Dichter das ›schlummernde Lied‹ der Welt erklingen lassen kann. Dem Dichter kommt hierbei laut Adorno nur eine sehr passive Rolle zu: »Dies Wort […] ist kein geringeres als die Sprache selbst. Ob die Welt singt, darüber entscheidet, daß der Dichter ins Schwarze, ins Sprachdunkle, trifft, als in ein zugleich an sich schon Seiendes.« (S. 124) Ebd., S. 121. Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte, 1993, S. 33. Vgl. auch die Interpretation des Gedichts von Daniel Müller Nielaba in »›Im Lied das tiefe Leid‹. Eichendorffs Transfigurationen«, in: ders. (Hrsg.): Epistemologien des Dichtens, S. 35–50, bes. S. 37ff. Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 122. Auch Pikulik betont den Effekt der Desorientierung: »Es geht Eichendorff offenbar um die Auflösung jeder Richtungsbestimmtheit, und, weit entfernt, lokal fixiert zu sein, suggeriert das ›her und hin‹ vielmehr eine Desorientierung bewirkende Unbestimmtheit.« (Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 477) Vgl. oben, Kap. 2.2.3.

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zesse thematisiert, treten in den Landschaften die Wahrnehmungsvorgänge selbst in den Vordergrund. Die »Entgrenzung seiner Poesie, ihr Strömen«605, für das Eichendorff immer wieder die Metapher des Rauschens des Waldes bemüht, entspricht der richtungslosen, diffundierenden Dynamik der Landschaftsbeschreibungen. Deren Unschärfe, die pluralisierten Substantive, die von Bewegungsverben und perspektivischen Präpositionen und Präfixen dissoziiert werden, ist mit der »labilit8«606 der Signifikate gleichzusetzen, die sich in der zentrumslosen Struktur der Sprache immer neu verschieben und untergehen. Laut von Bormann ist die Offenheit von Eichendorffs Dichtung »geistesgeschichtlich mit der Auflösung der Geschichte der Metaphysik zusammenzubringen, semiotisch mit der Unmöglichkeit, ein zentrales Signifikat zu denken, das die Flut der Signifikanten […] wieder aufzunehmen vermag.607 Ähnlich den Ergebnissen, die unsere Untersuchungen zur pittoresken Struktur von Chateaubriands Landschaftstableaus hervorgebracht haben, zeichnet sich auch Eichendorff als Autor der Schwellenzeit der Romantik ab, der bereits zu neuen Darstellungsweisen greift, die sich in vollem Umfang erst Mitte des 20. Jahrhunderts entfalten bzw. theoretisiert werden sollten. So wie sich Eichendorff als Dichter laut Adorno »vertrauend treiben [läßt] vom Strom der Sprache und ohne Angst, in ihm zu versinken,«608 gibt sich auch der Betrachter der ›ungeordneten‹ Fülle seiner pittoresken Landschaft hin und erkennt die Komplexität und Vielfalt der Natur als Bereicherung an. Dieses Vertrauen in die ausgleichenden Kräfte der Sprache und der Wirklichkeit liegt auch der oben dargelegten Beschreibung des Mahlstroms zugrunde, wenn der Erzähler ankündigt, sich lieber ›in die Wirbel der Geschichte zu werfen‹ statt zu lange in die Tiefe des düsteren Landschaftspanoramas zu blicken.609 Inwiefern Eichendorff nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch bereits in seinem Jugendroman mit der Unbeherrschbarkeit der Sprache und der Wirklichkeit, ihrer Prozessualität und Potenzialität experimentiert, soll anhand eines abschließenden Beispiels einer Landschaftsbeschreibung verdeutlicht werden. Als Leontin, Erwin und Friedrich in den ersten Sommernächten spontan die Residenz verlassen und zu ihrer Reise entlang des Rheins aufbrechen, ergreift sie schnell eine ahnungsvolle Vorfreude. Ihre Kutschfahrt durch die Nacht bietet Anlass zu einer weiteren Landschaftsbeschreibung: Sie fuhren schnell durch unübersehbar stille Felder, durch einen dunkeldichten Wald, später zwischen engen hohen Bergen, an deren Fuß manch Städtlein zu liegen schien, 605 606 607 608 609

Von Bormann, »Eichendorff und die moderne Lyrik«, S. 11. Derrida, L’Pcriture et la Diff8rence, S. 13. Von Bormann, »Eichendorff und die moderne Lyrik«, S. 11. Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 119f. Vgl. oben, Kap. 3.2.2.

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ein Fluß, den sie nicht sahen, rauschte immerfort seitwärts unter der Straße, alles feenhaft verworren. Leontin erzählte ein Märchen, mit den wechselnden Wundern der Nacht, wie sie sich die Seele ausmalte, in Worten kühle spielend. (AG, S. 244f.)

Auch hier verschließt sich die Landschaft dem Blick des Betrachters und rückt stattdessen den Wahrnehmungs- und Imaginationsprozess sowie am Ende die Sprache selbst in den Vordergrund. In der Beschreibung der »unübersehbar stille[n] Felder« klingt mit der Synästhesie der Adjektive für einen Moment der Hinweis auf die Außergewöhnlichkeit des Wahrnehmungserlebnisses an, jedoch öffnet sich die Landschaft weder visuell noch auditiv. Die charakteristische, den Semantisierungsprozess verlangsamende Dopplung der Adjektive wiederholt sich auch im Folgenden und markiert dabei immer die Versperrung des Sichtfeldes. Sowohl der »dunkeldichte Wald« als auch die »engen hohen Berge« überführen den Landschaftsraum in die Imagination, indem die verborgenen Elemente nur suggestiv angedeutet werden können. Die Prozessualität des Wahrnehmungsvorgangs wird dabei explizit betont (»später«, »immerfort«), so dass die Landschaftsbeschreibung auch hier ein Zeitfenster öffnet, in dem die einzelnen beweglichen Elemente stetig neue Impulse für die Imaginationskraft liefern können. Auch findet sich das typische Rauschen, dessen Quelle, diesmal ein Fluss, dem Betrachter wieder vorenthalten bleibt, und das sich, reduziert auf seine Lautlichkeit, mit den verworrenen visuellen Spuren vermischt. Die wechselnden Ansichten der vorbeifliegenden Landschaft (»mit den wechselnden Wundern der Nacht«) erzeugen die für Eichendorff typische Verworrenheit und eröffnen so das Spiel der Phantasie, »the unlimited power of fancy.«610 Auf diese Weise können die der Landschaft mühevoll entnommenen simple ideas, um Lobsiens Unterscheidung erneut zu bemühen,611 in der Imagination wieder ahnungsvoll ihrem ursprünglichen Bedeutungsreichtum angenähert werden (»wie sie sich die Seele ausmalte«). Dieser Bedeutungsreichtum ist jedoch letztlich ungreifbar und kann durch die Sprache nicht veräußert werden. Wenn Leontin als Reaktion auf die Erfahrung der Landschaft sein Märchen erzählt, ist man tatsächlich an die postmoderne Lyrik und die Autonomie ihrer Sprache erinnert. Auch seine Sprache sucht sich in freiem Spiel ihren Sinn scheinbar selbst: »in Worten kühle spielend«. Wenn Eichendorff seinen Landschaftsbetrachter also in einen »state of constant irritation« versetzt, wie es in Kapitel 3.2.2 auch am Beispiel der passiven, orientierungslosen Figuren beobachtet werden konnte, kann dies auch mit einer Potenzierung des Wahrnehmungserlebnisses und des freien Spiels der Phantasie einhergehen. Die Autonomie und Eigendynamik der Landschaft, die Eichendorff durchgängig darzustellen bemüht ist, dient nicht allein dazu, die Fremd610 Payne Knight, Inquiry, S. 475. 611 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1.

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heit des Subjekts in der ambivalent gewordenen Natur zu inszenieren und seine eigene innere Zerrissenheit zu thematisieren, sie reflektiert gleichzeitig die neuen unbegrenzten Erfahrungsmöglichkeiten, die aus der Haltlosigkeit resultieren. Die Landschaft präsentiert sich in Korrespondenz zur modernen Welterfahrung als ein Raum unerschöpflicher Vielfalt und Kontingenz, der als Bereicherung empfunden werden kann. Das Zeitfenster uneingeschränkter Dynamik und Perspektivenvielfalt, das die pittoreske Landschaft dem Betrachter eröffnet, ohne ihn in einen Interpretationsakt einmünden zu lassen, entspricht dem »Mittelzustand des Immerwährendschöpferischen«612, den die moderne, im ständigen Wandel begriffene Lebenswelt darstellt. In dieser Dynamik nicht unterzugehen, sondern sich ihren ausgleichenden Kräften anzuvertrauen, stellt einen Gedanken dar, der sich bis tief in Eichendorffs Sprache niederschlägt, wenn er sich in postmoderner Manier von deren Strömen leiten lässt.

3.2.5 Zusammenfassung Die Untersuchungen der Landschaftsszenen aus Ahnung und Gegenwart konnten neue Erkenntnisse darüber liefern, inwiefern Eichendorff im Medium der Landschaftserfahrung Fragen der Subjektivität und der Wahrnehmung bespricht. Dass sich vor allem im Bereich dieser Themen die besondere Reflexionskraft des Romantikers artikuliert, konnten unsere Analysen ebenso bestätigen wie die in der Forschung aufgestellte These, dass »die Probleme von Eichendorffs Gestalten […] am Beginn eines großen Prozesses der Bewußtseinsveränderung in Europa und der westlichen Welt überhaupt [stehen].«613 Die europäische Dimension der Bewusstseinswandlung, die Eichendorff beschreibt, zeigt sich nicht zuletzt im Rekurs auf die pittoreske Landschaft als Ort der Reflexion der entsprechenden Befindlichkeiten. Hier konnten die Untersuchungen deutlich machen, dass sich die Ästhetik des Pittoresken in zweierlei Hinsicht in den Landschaftsszenen des Romans niederschlägt. Die anthropologischen Implikationen des Pittoresken, die sich aus seiner Vermischung der schönen und erhabenen Landschaft und der damit einhergehenden Inszenierung des Betrachters ergeben, standen zunächst in den Kapiteln 3.2.2 und 3.2.3 im Vordergrund. Anhand verschiedener Beispiele – von Rosas englischem Park bis hin zur wilden Wald- und Gebirgslandschaft – konnte beobachtet werden, wie Eichendorff in seinem Roman idyllische, amoenische Natur inszeniert, um ihre Geschlossenheit und Beschaulichkeit in einem zweiten Schritt durch den Einbruch eines störenden, feindlichen Moments zu unter612 Pikulik, Signatur einer Zeitenwende, S. 198. 613 Schulz, »Der Erzähler Eichendorff in der Geschichte«, S. 162.

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laufen. In subtiler Weise thematisiert er hiermit nicht nur die Problematik der Idylle, die den rastlosen, von ihrer Neugierde getriebenen Protagonisten keinen Halt mehr bieten kann und als Lebensraum obsolet geworden ist, sondern auch die innere Zerrissenheit des modernen Individuums, auf dessen widerstreitende, unbeherrschbare Leidenschaften die entfesselten, eigendynamischen Kräfte der Natur verweisen. Die pittoreske Landschaft präsentiert sich in diesem Zusammenhang als alternatives Modell zur Idylle, das die Selbstbestimmungsund Orientierungsfähigkeiten des Subjekts kritisch hinterfragt. Als »coquetry of nature«614 konterkariert sie spielerisch die Ordnung der sozialen Strukturen, innerhalb derer sich das Subjekt in der schönen Landschaft seiner selbst und seiner Rolle in der Welt versichern kann. Landschaft erscheint bei Eichendorff als autonomer Raum, in dem idyllisch-friedliche mit erhaben-gefährlicher Natur korreliert und in dessen Wirkungskreis der Betrachter ohnmächtig und seinen rationalen Fähigkeiten entledigt erscheint. Mit der Ambivalenz der Landschaft tritt die Dezentriertheit der Figuren selbst in den Vordergrund, was vor allem anhand der beiden Jagdszenen beobachtet werden konnte. Nach längerem Spannungsanstieg schlägt sich in der »schönen Wildnis« der zweiten Szene die dunkel-triebhafte Seite der inneren und äußeren Natur schließlich Bahn. Im Schein der Dämmerung verändert die Gebirgslandschaft ihren Anblick und überführt auch das Subjekt in einen bedrohlichen Zwischenbereich, wie es dem berühmten Gedicht »Zwielicht«, analog zur Landschaftserfahrung entnommen werden konnte. Romanas Gefühlsausbruch offenbart einen Einblick in die Abgründe moderner, zerrissener Subjektivität, die sich im Motiv des Schwindels bereits die gesamte Szene über angedeutet hatten. Wie die Zauberin Armida aus Tassos Epos ist Romana in der Schutzlosigkeit der entfesselten Natur der »variety of warring passions«615 in ihrem Inneren ausgeliefert. In dem Moment, in dem sich ihre wahre Natur offenbart, ihre widerstreitenden Affekte unter dem Schein des Erhabenen hervorbrechen, »Lust und Entsetzen einander in wildem Wahnsinn berühren«, »when shadows have obscured [the] original brightness«, erscheint sie selbst als pittoreske Gestalt.616 Die pittoreske Landschaft und ihre ambivalente Inszenierung des Betrachters präsentiert sich damit als Paradigma der Zerrissenheit des Subjekts, die sich als roter Faden durch die europäische Geistesgeschichte zieht, wie der Vergleich zu Armida aus Tassos RenaissanceEpos exemplarisch zeigen konnte.617 Mit den gesellschaftlichen und sozialen

614 615 616 617

Price, Essays on the Picturesque, S. 89. Ebd., S. 64. Ebd. Vgl. auch oben, Kap. 2.2.2.2. Auch Adorno erkennt in Eichendorffs Sprache den »europäischen Weltschmerz« und erläutert: »Ihm antwortet Eichendorffs gekaufter Mut, jener Entschluß zur Munterkeit, wie er mit befremdend paradoxer Gewalt am Ende eines der größten seiner Gedichte, dem vom

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Veränderungen der Moderne und der völligen Emanzipation des Individuums aus den tradierten Sinnsystemen wird die Dezentriertheit manifest. In der Ästhetik des Pittoresken findet diese »Macht der Differenz und Entzweiung«618 ihre adäquate Ausdrucksform. Der »Kontingenzcharakter«619, der für das Pittoreske ebenso wie für die moderne Lebenswirklichkeit konstitutiv ist, führt neben der Haltlosigkeit des Subjekts jedoch auch zu einer Potenzierung seiner Erfahrungsmöglichkeiten. In dieser perspektivischen Offenheit konnte das zweite Charakteristikum der Landschaften aus Ahnung und Gegenwart erkannt werden. Eine Analyse der Struktur der Landschaftsbilder in Bezug zur pittoresken Ästhetik und ihren Prinzipien contrast, variety und intricacy konnte neue Einsichten in die von der Forschung immer wieder betonte Dynamik der Landschaften eröffnen. Indem diese nicht nur vorzugsweise in Bewegung befindliche Objekte darstellen, sondern eine Überschau der Landschaft zudem durch die parataktische, hierarchielose Anordnung der einzelnen Elemente aktiv verhindert wird, präsentiert sich die Landschaft als dynamisches Gefüge, das den Betrachter im Wahrnehmungsprozess festbannt. Durch die Dominanz von Bewegungsverben und die Häufigkeit von perspektivischen Präpositionen und Präfixen auf der einen Seite sowie pluralisierten, ›konturenlosen‹ Substantiven auf der anderen Seite gerät der Inhalt der Landschaft in den Hintergrund und schärft den Blick für die Erschließungsbedingungen selbst. Die Landschaft ist autoreflexiv, weil sie den Betrachter zu keinem Interpretationsakt veranlasst, sondern durch die Verkomplizierung der Semantisierungsprozesse (zum Beispiel durch ungewöhnliche Dopplungen von Adjektiven) ihre eigene Struktur thematisiert. Vor dem Hintergrund, dass die Landschaftsmodelle verschiedener Epochen die jeweiligen Arten der Welterfahrung ins Bild setzen, öffnet Eichendorffs pittoreske dynamische Landschaft ein Zeitfenster uneingeschränkter, potenzierter Erfahrungsmöglichkeiten, das sich aus der neuen Kontingenz der modernen Lebenswirklichkeit ergibt. Wie diese bietet die pittoreske Landschaft gleich einem Kaleidoskop eine unendliche Vielzahl möglicher Konfigurationen und Perspektiven. In dieser Fülle möglicher Bedeutungen kann der Mensch sich nur vertrauend treiben lassen, wie es sowohl Eichendorffs Verständnis der Historie als »Wirbel der Geschichte«620 als auch seinem Umgang mit Sprache entspricht, deren Autonomie bereits postmoderne Züge tragen kann.

Zwielicht, sich bekundet: ›Hüte dich, sei wach und munter‹.« (»Zum Gedächtnis Eichendorffs«, S. 110f.) 618 Ritter, »Subjektivität und industrielle Gesellschaft«, S. 26. 619 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. 620 Vgl. oben, Kap. 3.2.2 und AG, S. 241.

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3.3

Pittoreske Landschaftsdarstellungen in der europäischen Literatur der Romantik

Alessandro Manzonis Geschichtsroman I Promessi Sposi

3.3.1 Forschungsstand: die Promessi Sposi als Anti-Idylle und neue Ansätze der Interpretation Alessandro Manzonis Roman I Promessi Sposi gehört wohl zu jenen großen Werken der Literaturgeschichte, deren Wahrnehmung bis heute von einer bestimmten Lesart stark geprägt wird. Im Fall der Promessi Sposi lässt sich diese vorherrschende Lesart zunächst vor allem dadurch resümieren, dass sie das Werk als Nationalroman versteht, der hinter der vordergründigen Geschichte seiner titelgebenden Protagonisten ein Kapitel italienischer Nationalhistorie illustriert und die Werte des Katholizismus als deren besonderes Spezifikum propagiert. Sein historischer Schauplatz ist das Oberitalien des 17. Jahrhunderts, genauer die Lombardei unter der Fremdherrschaft des spanischen Feudalismus, sein Sujet sowohl die großen geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit als auch das Schicksal der beiden Brautleute Renzo und Lucia, die von jenen erfasst werden. Es ist diese auf den ersten Blick nicht zu leugnende illustrative Funktion des Romans, welcher bis heute der unmittelbare Erfolg des Buches, des »primo esemplare di bestseller italiano«, zugeschrieben wird.621 Durch die Wahl des historischen Sujets greift Manzoni (1785–1873) mit seinem ersten und einzigen Roman die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommende Mode des Geschichtsromans auf, einer neuen Gattung, als deren Begründer Sir Walter Scott gelten darf. Dessen Romane, vor allem der erste, 1814 anonym erschienene Waverley, or, ’tis sixty years since sorgen in Manzonis intellektuellem Umfeld für Furore und inspirieren auch ihn dazu, sein Interesse für die Geschichtsschreibung mit der Erzählkunst zu verbinden und sich dem Projekt eines Geschichtsromans zuzuwenden.622 In der bis zur Publikation der finalen Version (1840–42) mit kleineren Unterbrechungen rund zwanzig Jahre andauernden 621 Giulia Raboni, »L’esperimento dei Promessi Sposi: una nuova letteratura per la nazione«, in: Luca Danzi / Giorgio Panizza (Hrsg.), Immaginare e costruire la nazione. Manzoni da Napoleone a Garibaldi, Milano, il Saggiatore, 2012, S. 123–134, hier S. 123. 622 Zu Manzonis Interesse für den schottischen Autor und die neue Romanform sowie zu seiner Rezeption der Scottschen Werke vgl. Roberto Bigazzi, »Manzoni e Scott«, in: Gianni Oliva (Hrsg.), Manzoni e il realismo europeo, Milano, Mondadori, 2007, S. 37–56, bes. S. 54f.; Enrico De Angelis, Qualcosa su Manzoni (La ricerca letteraria. Serie critica. 30), Torino, Einaudi, 1975, S. 82ff. Zur besonderen Form des Zusammenspiels von Historie und Fiktion in den Promessi Sposi vgl. vor allem den bedeutenden Aufsatz von Joachim Küpper: »Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)«, in: Poetica 26 (1994), S. 121–152. Zu den Gründen für die Wahl der fiktionalen Gattung des Romans im Allgemeinen vgl. Daniela Brogi, Il genere proscritto. Manzoni e la scelta del romanzo (Collana di teoria letteraria, di critica e di analisi testuale. 4), Pisa, Giardini Editori e Stampatori, 2005, z. B. S. 13f.

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Arbeit an diesem Projekt sollte Manzoni ein aus vielerlei Gründen einzigartiges Exemplar dieser Gattung erschaffen. Es ist demgemäß die Frage nach dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Fiktion in seinem Werk, die bis heute immer wieder neu aufgeworfen wird und einen Großteil der Forschung bestimmt.623 Anders als Chateaubriand und Eichendorff ist Manzoni demnach zunächst nicht vorderrangig für seine Landschaftstableaus bekannt. Die Promessi Sposi bieten im Ganzen eine eher geringe Anzahl von Naturdarstellungen auf. Diese quantitative Unterlegenheit gegenüber anderen Aspekten darf jedoch keineswegs über den extrem hohen Aufschlusswert der jeweiligen Szenen hinwegtäuschen. Manzoni nimmt die Arbeit an seinem Roman 1821 auf und zwei Jahre später stellt er die erste Fassung fertig, die den Titel Fermo e Lucia trägt. Manzoni ist jedoch noch unzufrieden mit ihr und nimmt eine intensive Überarbeitung vor, die grundlegende inhaltliche und stilistische Änderungen mit sich bringt. Das Ergebnis ist die 1827 unter dem Titel I Promessi Sposi erschienene Ausgabe des Romans, die sogenannte Ventisettana. Der definitiven Version inhaltlich sehr nahe, unterscheidet sie sich von dieser hauptsächlich noch in linguistischer Hinsicht. Sie ist noch stark von lombardischen Dialektismen durchzogen, die Manzoni gemäß der bekannten Anekdote schließlich so sehr stören, dass er sie im Arno ›ertränken‹ will, um sie durch die florentinische Einheitssprache zu ersetzen. Mit der sprachlichen Anpassung ist das Projekt seines Romans vollendet, die finale Version erscheint von 1840 bis 1842 in Mailand. Die fortdauernde und akribische Arbeit am Text, mit der sich Manzoni im Großen und Ganzen ohne längere Pausen bis zu diesem Zeitpunkt beschäftigt,624 transformiert nicht zuletzt die Landschaftsdarstellungen in hochkomplexe, kondensierte Knotenpunkte des Romans. Ihre Betrachtung ist für die Annäherung an einen Autor wie Manzoni, dessen Werk heute wieder uneingeschränkte Aktualität in der Literaturwissenschaft genießen darf, insofern besonders wertvoll, als dass er sie als kunstvolle Inszenierung seines Weltverständnisses und seiner Intentionen als Autor zu gebrauchen weiß. Dieser Bedeutung entsprechend, haben die Landschaftsszenen der Promessi Sposi während der gesamten Rezeptionsgeschichte des Werkes immer wieder das Interesse der Interpreten auf sich gezogen. Eine Betrachtung der For623 Zur aktuellen Forschung zu diesem Thema vgl. Massimiliano Mancini, Per dir la verit/. Manzoni fra romanzo e storiografia, Roma, Vecchiarelli Editore, 2008; Salvatore Bancheri (Hrsg.), Manzoni and the Historical Novel. Manzoni e il romanzo storico (Literary Criticism Series. 17), New York u. a., Bancheri & Legas, 2009; s. in diesem Band besonders Daniela Brogi, »Le verit/ del romanzo storico: I promessi sposi«, S. 69–83. 624 Zu den Entstehungsphasen der Romanversionen im Allgemeinen sowie zu den konkreten Formen der sprachlichen Überarbeitung der Ventisettana im Besonderen vgl. Gino Tellini, Manzoni, Roma, Salerno Editrice, 2007, Kapitel »La fabbrica del romanzo, uno e trino« sowie darin S. 177–182.

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schungsliteratur führt schnell zu der Einsicht, dass die jeweiligen Analysen der Naturdarstellungen repräsentativ für den Bewusstseinswandel sind, der die Rezeptionsgeschichte des Romans im Ganzen kennzeichnet. In der gleichen Weise wie der vielschichtige, vieldeutige Roman jeweils unterschiedlich ausgelegt wird, verändert sich ganz markant auch der Blick der Interpreten auf die Landschaftsdarstellungen. Eine erste Interpretationslinie, initialisiert bereits von De Sanctis und Croce, klassifiziert das Werk als katholischen Roman, der in erbaulich-didaktischer Weise auf das moralische Bewusstsein des Lesers abzielt und das Ideal eines gottzugewandten Lebens inszeniert.625 Beflügelt unter anderem durch die Quintessenz der Notwendigkeit einer »fiducia in Dio«,626 zu der Manzoni seine Protagonisten am Ende ihrer Abenteuer gelangen lässt, erlebt diese Lesart bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hohe Konjunktur und 625 Vgl. Francesco De Sanctis, La letteratura italiana nel secolo XIX, Bd. 1: Alessandro Manzoni, Bari, Gius. Laterza & Figli, 1953, S. 61–90, bes. S. 74, sowie S. 185–200; Benedetto Croce, »Note sulla poesia italiana e straniera del secolo decimonono«, in: La Critica 19 (1921), S. 257–269 sowie bes. zum hier aufgeführten Argument die Erläuterungen zu Manzoni in La poesia. Introduzione alla critica e storia della poesia e della letteratura, Bari, Gius. Laterza & Figli, 21937 (11936), S. 44. Zu den bedeutenden Vertretern dieser Auslegung in den folgenden Jahrzehnten vgl. darüber hinaus Cesare Angelini, der in Manzonis Gesamtwerk die Glaubenssätze der römisch-katholischen Kirche in authentischer Weise literarisch umgesetzt findet. Angelini versteht Manzoni als katholischen Autor, der durch seinen Roman in der für das menschliche Dasein angemessenen demütigen und gleichzeitig humoristisch-lebensbejahenden Weise die Werte der Barmherzigkeit und Nächstenliebe propagiert. Die fortwährende Arbeit am Text setzt er in Bezug zum Verlauf der religiösen und moralischen Konversion Manzonis. (Capitoli sul Manzoni. Vecchi e nuovi, Milano, Mondadori, 21969 (11966), vgl. vor allem S. 182–195 und S. 217–228) Vgl. außerdem Vittorio Spinazzola, der den Roman ebenfalls als Propagandierung des Katholizismus klassifiziert und Manzonis Intention darin ermittelt, mit Hilfe der Kunst und der katholischen Spiritualität die durch den Rationalismus verloren gegangene Einheit zwischen Gott und der Welt zurückzugewinnen: »Il mondo si H allontanato da Dio: I Promessi Sposi vuol contribuire, coi mezzi delle lettere, a ricristianizzarlo.« (Il libro per tutti. Saggio sui Promessi Sposi, Rom, Editori Riuniti, 1983, vgl. bes. S. 8f. und S. 314ff., hier S. 314) Von dieser am Katholizismus im engeren Sinne orientierten Interpretation bleibt die Variante zu unterscheiden, die die spirituelle Dimension des Werkes in den Vordergrund stellt. Ferruccio Ulivi erkennt zwischen Manzonis literarischer Produktion und seiner Religiosität, die er im Glauben an eine finale, mysteriöse göttliche Instanz und deren Verortung in der Seele des Menschen sieht, eine starke gegenseitige Bedingtheit. Sein umfangreichster Beitrag zur Forschung besteht in der Herausstellung des Einflusses der französischen katholischen Spiritualität des 17. Jahrhunderts auf das Denken Manzonis. (Manzoni. Storia e provvidenza, Roma, Bonacci Editore, 1974, vgl. vor allem S. 163–232) 626 Alessandro Manzoni, I Promessi Sposi, Bd. 3, in: I Romanzi, hrsg. von Salvatore Silvano Nigro, 3 Bde., Milano, Mondadori, 2002, S. 745. Alle folgenden Zitate sind dieser Ausgabe der 1840er-Fassung entnommen. Im Folgenden wird unter Angabe eines Kurztitels (PS 1840) und der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. In Vergleichen zu den anderen beiden Fassungen, Fermo e Lucia und der 1827er-Fassung, wird Bd. 1 bzw. Bd. 2 der genannten Reihe zitiert (hrsg. von Nigro, 2002), ebenfalls unter Angabe eines Kurztitels (FL bzw. PS 1827) und der Seitenzahl im fortlaufenden Text.

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existiert in einzelnen Fällen bis in die Gegenwart fort.627 Sie legt dem Roman eine geschlossene Weltsicht zugrunde, die der Autor in Gestalt des allwissenden Erzählers mittels kontinuierlicher, mehr oder weniger subtiler kommentierender und wertender Eingriffe ins Handlungsgeschehen vermittelt.628 Die Erzählung der Abenteuer der Protagonisten und ihrer freundlich oder feindlich gesinnten ›Mitspieler‹, die für die Dauer der Ereignisse aus ihrem beschaulichen, ländlichen Alltag gerissen werden, erhält im Licht dieser Interpretation parabolische Gestalt und legt dem Leser das Vertrauen in die für den Menschen unergründliche göttliche Vorsehung, die Divina Provvidenza, als einzigen Garant eines Happy Ends im Angesicht der Unvorhersehbarkeit der weltlichen Schicksale nahe. Eine entsprechende Deutung der zentralen Landschaftsdarstellungen drängt sich für diese Lesart fast auf. Sie beginnt bei der berühmten Eingangsszene »Quel ramo del lago di Como…«, in der Manzoni ein kunstvolles Tableau jener Landschaft um den Seitenarm des Comer Sees entfaltet, in deren Rahmen sich die zu erzählenden Begebenheiten zutragen werden. Die Beschreibung des Schauplatzes wird als Inszenierung einer idyllischen Natur gelesen,629 in deren friedlichen Schoß Renzo, Lucia und die anderen Bewohner des kleinen Dorfes Pescarenico in den Bergen am Fuß der Adda ein einfaches, glückliches Leben führen. Die Elemente dieser Landschaft tauchen als Fixpunkte im Lauf des Romans immer wieder auf, wobei ihre Verknüpfung mit dem Topos der schönen, idyllischen Heimat weiter konturiert wird, so die Interpreten. Der Einbruch der geschichtlichen Ereignisse zerstört dann jedoch das Idyll der Eröffnungslandschaft. Hungersnot, Krieg und Pest ziehen über die schöne Landschaft hinweg und verbannen das Bild der idyllischen Heimat in den Raum des Imaginären und der Sehnsucht. Diese Verunmöglichung einer guten Natur 627 Angelo Pupino hat zuletzt eine umfangreiche Untersuchung zum Thema der Religion im Roman vorgelegt: Manzoni. Religione e romanzo (Studi e Saggi. 38), Roma, Salerno Editrice, 2005. Vgl. außerdem Pierantonio Frare, La scrittura dell’inquietudine. Saggio su Alessandro Manzoni (Saggi di »Lettere italiane«. 63), Firenze, Olschki Editore, 2006. 628 Claudio Varese sieht in dieser Funktion des Erzählers, »che tutto giudica e tutto risolve«, einen der wichtigen Unterschiede gegenüber Fermo e Lucia. (Fermo e Lucia. Un’esperienza manzoniana interrotta (Studi critici. 9), Firenze, La Nuova Italia, 1964, S. 43) 629 Exemplarisch kann die Analyse von Maria Gabriella Stassi herausgegriffen werden, die mittels der Landschaftsdarstellungen und insbesondere der Eingangsszene eine Gesamtdeutung des Romans im Sinn der oben dargelegten Lesart vorlegt. Sie sieht den Roman geprägt von dem grundlegenden Dualismus Natur (mondo di Dio) – Geschichte (mondo degli uomini); die beiden Pole bestimmen laut ihr die Struktur des Werkes und »evidenziano anche un profondo e solido senso religioso che abbraccia gli episodi, i personaggi […]«. (»›Quel ramo del lago di Como…‹. La natura nei Promessi Sposi, tra idillio e storia«, in: Giorgio B/rberi Squarotti (Hrsg.), Prospettive sui Promessi Sposi, Torino, Tirrenia Stampatori, 1991, S. 15–42, hier S. 40) Als weitere Vertreter der Idyllen-Interpretation können Cesare Angelini, Giovanni Getto und Giorgio Orelli genannt werden. Der Ansatz wird in den folgenden Analysen der Landschaftsszenen noch ausführlich betrachtet.

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kulminiert in der ebenfalls berühmten Beschreibung von Renzos Weingarten, an dem ihn nach den durchlebten Turbulenzen sein Weg zurück in die Heimat vorbeiführt. Der völlig verwilderte Garten wird, der Symbolträchtigkeit des biblischen Motivs Rechnung zollend, als Allegorie auf die Verderbtheit der irdischen Natur und das desolate menschliche Dasein nach dem Auszug aus dem Paradies gelesen.630 Die Bedeutung der Darstellung gemäß dieser Lesart erhellt sich im Rekurs auf den Naturbegriff des christlichen Mittelalters, der dem oben beschriebenen Idyllenmotiv die Vorstellung einer im Chaos verheerten und der göttlichen Ordnung verlustig gegangenen Natur entgegensetzt. Die Beobachtung jedoch, dass sich im beginnenden 19. Jahrhundert bereits auch der Verlust des idyllischen Lebens- und Erzählmodells literarisch niederschlägt,631 führt gerade im Fall des rationalistisch geprägten Manzoni zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den bis dato dem Roman zugrunde gelegten Motiven des Idylls und der Divina Provvidenza. Während frühe Interpreten das Ideal des Idyllischen in den Naturdarstellungen literarisch inszeniert bzw. in der vigna-Szene ins Gegenteil verkehrt fanden,632 kam es in den 70er Jahren zu einem grundlegenden Umbruch in der Forschung, die die Möglichkeit einer imaginativen ›Flucht‹ in den Sehnsuchtsraum der Idylle nun nicht mehr im Roman angelegt sah. Den entscheidenden Anstoß zu diesem Paradigmenwechsel stellt Ezio Raimondis Monographie von 1974 mit dem provokanten Titel Il romanzo

630 Einen wichtigen Bezugstext der Forschung stellt hier vor allem die Analyse von Giorgio B/rberi Squarotti dar. Er klassifiziert die Darstellung als exemplum, in der Manzoni mit höchster stilistischer Virtuosität den Sündenfall des Menschen und die strafenden Reaktionen der gefallenen Natur, wie vor allem die Pest, ins Bild setzt. Vgl. Teoria e prove dello stile del Manzoni (I quaderni di Sigma. 2), Milano, Silva Editore, 1965, darin Kapitel »La vigna di Renzo o l’›esempio‹ della natura caduta«. Vgl. darüber hinaus Ferruccio Ulivi, der der Szene dieselbe Funktion zuspricht: »mostrare gli effetti della perversione umana sulla natura.« (»›Natura caduta‹ e rappresentazione naturale in Manzoni«, in: Convivium 32, 2 (1964), S. 584–603, hier S. 594), sowie Franco Ferrucci, laut dem sich in der Beschreibung für einen kurzen erhellenden Moment die geballte selbstzerstörerische Kraft der Welt offenbart, der der Held verständnislos und fremd gegenüber steht. (»Il giardino di Renzo«, in: Paragone Letteratura 18 (1967), H. 206, S. 59–86, bes. S. 84ff.) 631 Zum Erzählmodell des idillio campestre und seiner Problematisierung in der italienischen Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Richard Schwaderer, Idillio campestre: ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Struktur, Funktion und Entwicklung, München, Wilhelm Fink, 1987. 632 So z. B. Claudio Varese in seinem Aufsatz »Il Manzoni e la poetica dell’idillio«, in dem er das Idyllische als Ausgangssituation vor dem Einbruch der geschichtlichen Ereignisse beschreibt: »Una situazione di idillio e di ingenua tranquilit/ H il presupposto del racconto dei Promessi Sposi.« (in: Rassegna della letteratura italiana 65 (1961), S. 247–257, hier S. 247) Georg Luk#cs sieht in der »Kleinlichkeit« der Protagonisten, deren Leben »nur eine von außen gestörte Idylle« sei, ein Defizit gegenüber dem Scott’schen ›mittleren‹ Helden, über den sich die historische Wirklichkeit besser vermitteln lasse. (Vgl. Der historische Roman, Neuwied / Berlin, Luchterhand, 1965, bes. S. 83ff., hier S. 85)

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senza idillio. Saggio sui Promessi Sposi dar.633 In der Folgezeit entstand eine Vielzahl von Arbeiten, die herausstellten, dass es sich im Gegenteil gerade um einen anti-idyllischen Roman handle,634 und zwar in der Weise, dass er sich keineswegs in die geschlossene Perspektive moralisch-didaktischer Intentionen einschränken ließe. Gegenüber der oben skizzierten Interpretationslinie lässt sich damit eine zweite darüber ausmachen, dass sie die Polyfonie und Komplexität des Romans in den Vordergrund jeglicher Annäherung stellt.635 Diese Herangehensweise untergräbt letztlich die eindimensionaleren Lesarten, indem sie jeden Versuch, den Roman nach einem einzelnen Muster zu deuten, für fehlgeleitet und kontraproduktiv erklärt. Mit der Unmöglichkeit, die einzelnen Stränge des Werkes zu einer umfassenden Bedeutungsdimension zu bündeln, problematisiert sich die illustrative, sinnkonstruierende Funktion des Romans. Themen wie der Katholizismus oder die Darstellung der sozialhistorischen Umbrüche stellen weiterhin Aspekte des Werkes dar, bieten jedoch keineswegs mehr universelle Erklärungsmodelle an.636 Die Romanwelt wird erkannt als »un mondo alla rovescia«, »gli eventi sono dominati dalla contraddizione […], s’incrociano in modo illogico e con corrispondenze fittizie«.637

633 Ein Jahr vor Raimondis Buch erschien bereits Fiorenzo Fortis Aufsatz »Manzoni e il rifiuto dell’idillio« (in: Giornale storico della Letteratura Italiana 150 (1973), S. 481–514). Forti zeigt darin anhand einer Untersuchung des Briefwechsels mit Claude Fauriel, dass Manzoni sich schon vor Beginn der Arbeit an der ersten Romanfassung kritisch mit der verbreiteten Idylleneuphorie auseinandersetzte und daraufhin mit den Promessi Sposi ein Werk schuf, das die Illusion eines irdischen Idylls bewusst unterminiert. 634 Vgl. z. B. Guido Baldi, I promessi sposi: progetto di societ/ e mito, Milano, Mursia, 1985, hier vor allem S. 132ff. 635 Ezio Raimondi hat als einer der ersten Interpreten Bachtins Konzept der Polyfonie und Pluridiskursivität auf die Promessi Sposi angewandt und herausgestellt, inwiefern dieses Konzept bei Manzoni einem erkenntniskritischen und pluriperspektivischen Blick auf die Welt entspricht. Vgl. dazu vor allem Il romanzo senza idillio. Saggio sui Promessi Sposi (Biblioteca Einaudi. 91), Torino, Einaudi, 22000 (11974), u. a. S. 255ff., sowie La dissimulazione romanesca. Antropologia manzoniana (Saggi. 613), Bologna, Il Mulino, 1990, S. 36ff., S. 78ff. Der Ansatz wird mit Fokussierung auf die Vermischung der Stilebenen aufgegriffen von Angelo Marchese, »La polifonia nei Promessi Sposi«, in: Manzoni / Grossi. Atti del XIV Congresso nazionale di studi manzoniani. Lecco 10–14 ottobre 1990, 2 Bde., Milano, Casa del Manzoni, Centro Nazionale Studi Manzoniani, 1991, Bd. 1, A 150 anni della edizione 1840 dei Promessi Sposi, S. 185–202. 636 Dennoch stellt Manzonis Verdienst an der Herausbildung des italienischen Einheitsstaates bis heute ein aktuelles Thema in der italienischen Literatur- und Kulturwissenschaft dar. Zumeist wird hier auf die historiographischen und linguistischen Abhandlungen des Autors rekurriert, doch auch die Promessi Sposi ziehen in diesem Rahmen das Interesse auf sich. Vgl. z. B. den aktuellen Band zum 150. Jahrestag der Einigung von Luca Danzi und Giorgio Panizza (Hrsg.), Immaginare e costruire la nazione. Manzoni da Napoleone a Garibaldi, Milano, il Saggiatore, 2012. 637 Ezio Raimondi, Il romanzo senza idillio, S. 256. Vgl. außerdem Raimondi und Luciano Bottoni im Vorwort ihrer Edition der Promessi Sposi: »Il romanzo H soprattutto dialogicit/,

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Manzoni wird dabei zunächst die Absicht zugesprochen, die fatale Einsicht in das undurchdringliche Chaos der Welt durch verschiedene metaphysische, ethische oder rationalistische Strategien in seinem Roman kompensieren zu wollen.638 In den letzten drei Jahrzehnten lässt sich dagegen die Entwicklung eines Ansatzes beobachten, der Manzonis guazzabuglio, ein Schlüsselbegriff des Romans, nicht mehr als zu überwindendes Defizit der beobachteten Wirklichkeit, sondern als ästhetisches Prinzip seines Schreibens auffasst. Diese Studien stammen zu einem Großteil aus dem anglo-amerikanischen Raum und beschäftigen sich mit Fragen der Raumdarstellung und der Perspektive im Roman.639 Eine zentrale Rolle kommt hierbei auch jenen Passagen des Romans zu, in denen Manzoni auf implizite oder sogar ganz explizite Weise die Bedeutung und Funktion der Sprache sowie seiner eigenen Narratologie thematisiert und kritisch beleuchtet.640 Über die Betrachtung dieser autoreflexiven, metapluralit/ di discorsi, di voci, di destini individuali che dialogano, si fronteggiano, si scontrano.« (Manzoni, I Promessi Sposi, Milano, Principato, 1988, S. xv) 638 Dieser Ansatz geht vor allem auf B/rberi Squarottis Theorie der compensazione metafisica zurück. In seinem Buch Teoria e prove dello stile del Manzoni stellt er die These auf, Manzoni greife durch seinen Stil, z. B. durch wertende Adjektive oder adversative Formulierungen, parallel zur Darstellung der Realität wertend in diese ein und unterziehe sie so einer kontinuierlichen Korrektur. Hieraus entstünde eine Art künstliche Re-Integrierung der in Chaos geratenen Elemente der Wirklichkeit mit dem Ziel des »riordinamento della confusione« und der »difesa contro il caos delle cose«. (Teoria e prove dello stile del Manzoni, S. 26) Der Gedanke der Kompensationsstrategien spielt auch bei Raimondi noch eine tragende Rolle, der wie B/rberi Squarotti die Antithese von Gut und Böse, die sich auf der Figurenebene in den Opponenten Renzo und Don Rodrigo widerspiegelt, als Grundstruktur des Romans ausmacht. Sie stellt eines der Ordnungsschemata dar, die Manzonis rationalistischer Blick der ungeordneten Welt auferlegt. (Vgl. Il romanzo senza idillio, S. 249ff.) 639 Vgl. die Arbeiten von S. B. Chandler, der sich als einer der ersten wahrnehmungstheoretischen Fragen in Bezug auf die Beschreibungen der Promessi Sposi zugewandt hat, so vor allem in: »Point of view in the Descriptions of I Promessi Sposi«, in: Italica 43 (1966), S. 386– 403; »The Author, the Material, and the Reader in I Promessi Sposi«, in: Annali d’Italianistica 3 (1985), S. 123–133. Vgl. auch die Arbeiten von Larry H. Peer, bes. »The Reasonable Romantic: Moving Manzoni Into the American Spectrum« und »Mimesis in Manzoni’s Literary Theory«, beide in: Sante Matteo / Larry H. Peer (Hrsg.), The Reasonable Romantic. Essays on Alessandro Manzoni, New York u. a., Peter Lang, 1986, S. 21–32 bzw. S. 85–91. Ausführliche Untersuchungen der narrativen Techniken des Romans im Hinblick auf die Perspektivenvielfalt bieten dann vor allem Robert S. Dombroski, L’apologia del vero. Lettura ed interpretazione dei Promessi Sposi (Guide di cultura contemporanea), Padova, Liviana Editrice, 1984; Clareece G. Godt, The mobile spectacle. Variable Perspective in Manzoni’s I Promessi Sposi (Studies in Italian Culture. Literature in History. 12), New York u. a., Peter Lang, 1998; Georges Güntert, Manzoni romanziere: dalla scrittura ideologica alla rappresentazione poetica (Quaderni della rassegna. 17), Firenze, Franco Cesati Editore, 2000. 640 Gregory L. Lucente bietet eine überzeugende Analyse der zahlreichen Passagen der Promessi Sposi, in denen Sprache sowohl in Form der Kommunikation zwischen den Figuren, aber auch im weiteren Sinne z. B. im Medium von (Geschichts-) Büchern problematisiert wird und in denen Manzoni so seine eigenen Verfahrensweisen als Autor reflektiert. Vgl.

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poetischen Einschübe sowie der Darstellungsweisen des Romans im Allgemeinen erschließen sich auch für die historiographische Perspektive auf das Werk neue Dimensionen.641 Manzonis Roman zieht bis heute das Interesse von Forschern unterschiedlichster Fachrichtungen auf sich und kann in der Gegenwart wieder höchste Aktualität beanspruchen.642 Bereits die Betrachtung der Rezeptionsgeschichte bzw. des Bewusstseinswandels, den diese markiert, liefert interessante Erkenntnisse für die Beschäftigung mit aktuellen Entwicklungen. Gegenüber den oben skizzierten Positionen der Forschung werden sich die folgenden Kapitel mit der Art und Weise beschäftigen, wie Manzoni im Moment des Schreibens und der Darstellung die eigenen Konstruktions- und Sinngebungsmechanismen bereits schon hinterfragt und somit wahrnehmungs- und erkenntniskritische Fragen entwickelt. Dies wird über eine ausführliche Analyse der Landschaftsszenen geschehen, die im Zuge der oben dargelegten jüngeren Interpretationslinie bereits gewisse Umdeutungen erfahren haben. Die Untersuchung der Landschaftstableaus in Bezug auf den wahrnehmungstheoretischen Gehalt der englischen Ästhetik des Pittoresken, die bis heute in ausführlicher Form noch nicht unternommen wurde,643 kann eine neue Dimension des komplexen Romans eröffnen und Manzonis ›Modernität‹, so wie wir sie im Licht unserer Gegenwart zu sehen meinen, ein Stück näher bringen. Umgekehrt wird zu zeigen sein, wie die Promessi Sposi die unterschiedlichen Facetten der nicht weniger vielseitigen Ästhetik des Pittoresken zum Ende dieser Arbeit auszuleuchten im das Kapitel »The Uses and the Ends of Discourse in I Promessi Sposi. Witnessing the Rebirth of History’s Truth« in: Beautiful fables. Self-consciousness in Italian Narrative from Manzoni to Calvino, Baltimore / London, The Johns Hopkins University Press, 1986, S. 26–67. 641 Zu diesem Zusammenhang zwischen der Selbstreflexibilität von Manzonis Erzählweise und seinem historiographischen Anspruch hat Michael Bernsen vor kurzem eine Monographie vorgelegt, auf die in den folgenden Untersuchungen noch rekurriert werden wird: Geschichten und Geschichte. Alessandro Manzonis I Promessi Sposi (Forschung und Wissenschaft. 32), Berlin, LIT Verlag, 2015. 642 Einen fundierten und breit recherchierten Überblick über einige ganz verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu dem Roman, sowohl etablierter als auch unkonventioneller Art, bietet neuerdings Luciano Parisi mit Come abbiamo letto Manzoni. Interpreti novecenteschi (Alessandria, Edizioni dell’Orso, 2008). Neben literaturwissenschaftlichen und theologischen Zugriffen werden hier auch z. B. philosophische oder ökonomische und sozialgeschichtliche Studien vorgestellt. 643 Eine Verbindung zwischen dem pittoresken englischen Landschaftsgarten und Manzonis Roman stellt nach gegenwärtigem Kenntnisstand nur Michael Bernsen her, der zunächst in seinem 2005 erschienenen Aufsatz »Metamorphosen der Natur : Die Epistemologie des Gartens in der italienischen Literatur der Neuzeit« auf die pittoreske Gestaltungsweise der Eingangslandschaft hinweist und im Vergleich zu früheren Gartenbeschreibungen der italienischen Literatur einige Stationen der Entwicklungsgeschichte dieses Motivs beleuchtet. (In: Kuon / Marx (Hrsg.), Metamorphosen / Metamorfosi, S. 71–88) In seiner 2015 erschienenen Monographie über die Promessi Sposi greift er das Thema erneut auf; vgl. Geschichten und Geschichte, S. 11ff.

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Stande sind. Die Affinitäten zwischen dem narratologischen und historiographischen Programm des Romans und der Ästhetik des Pittoresken können darüber hinaus dazu beitragen, die Stellung des Romans innerhalb der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte zu sichern, die aufgrund des noch immer prävalenten Status des Nationalromans noch nicht in angemessener Weise gesichert ist. Zwar wurden die Einflüsse, die Manzonis Pariser Zeit, seine Nähe zu den intellektuellen Zirkeln um seinen Freund Claude Fauriel und die id8ologues auf seine Dichtung ausgeübt haben, bereits umfassend beleuchtet.644 Überlegungen zur Bedeutung des Romans im europäischen Kontext geraten jedoch durch die nationale Thematik des Romans zumeist in den Hintergrund. Die Art und Weise, in der Manzoni die pittoreske Landschaftsästhetik rezipiert, kann in diesem Zusammenhang weitere, unerforschte Aspekte des Werkes beleuchten, das sich so rückblickend als verblüffendes Zeugnis der Herausbildung einer Wahrnehmungsweise und einer Mentalität erweist, die als typisch europäisch bezeichnet werden können.645 Die Entstehungsgeschichte des Romans bietet dabei die Möglichkeit, das Werk in den unterschiedlichen Phasen seiner Überarbeitung zu untersuchen und so zu begreifen, welche Vorstellungen und Intentionen Manzoni leiteten. In den relevanten Szenen finden sich durchgehend überaus signifikante Abweichungen zwischen Fermo e Lucia und den beiden späteren Fassungen der Promessi Sposi, so dass sich die im Strukturalismus und Poststrukturalismus entwickelte sogenannte ›Theorie der Variante‹646 als gewinnbringender Ansatz 644 Vgl. hierzu das Referenzwerk von Elena Gabbuti Il Manzoni e gli ideologi francesi. Studi sul pensiero e sull’arte di Alessandro Manzoni con saggi di manoscritti inediti (Firenze, Sansoni, 1936). Vgl. außerdem Bruna Boldrini, La formazione del pensiero etico-storico del Manzoni, Firenze, Sansoni, 1954, bes. S. 1–77 und S. 114ff.; sowie Jacques Goudet, »Manzoni e i suoi amici francesi«, in: Enrico Cerulli u. a. (Hrsg.), Atti del convegno di Studi Manzoniani. Roma / Firenze, 12–14 marzo 1973 (Accademia Nazionale dei Lincei. Jg. 371, 1974. Problemi attuali di scienza e di cultura), Roma, Accademia, 1974, S. 149–179. 645 Eine ähnliche Annahme liegt auch Giovanni Gettos Studie Manzoni europeo zugrunde, der Einflüsse von u. a. Skakespeares und Schillers Theater und der Dichtung Rousseaus in Manzonis Werk nachweist (Milano, U. Mursia & C., 1971). In jüngster Vergangenheit hat Angela Guidotti das Potenzial des Ansatzes erkannt und Manzonis Tragödien auf ihre spezifisch europäische Dimension hin geprüft: Manzoni teatrale. Le tragedie di Manzoni tra dibattito europeo e fortuna italiana, Lucca, Maria Pacini Fazzi Editore, 2012. 646 Als Begründer der Theorie gilt Jan Mukarˇovsky´. Vgl. vor allem seinen Aufsatz »Varianty a stylistika« von 1930, deutsch: »Varianten und Stilistik«, in: Poetica 2 (1968), S. 399–403; zur Einordnung vgl. Wolf und Herta Schmid / Karl Maurer, »Eine strukturalistische Theorie der Variante? Zu einem Text von Jan Mukarˇovsky´«, in: Poetica 2 (1968), S. 404–415. Die Autoren betonen die ungebrochene Aktualität des Aufsatzes, der sich bereits von einer Bedeutungshierarchie zwischen früheren und späteren Fassungen distanziert und die Variante als autonome ästhetische Größe jenseits der Autorintention behandelt. (Vgl. ebd., S. 405f.) Mit diesen Überlegungen schreibt sich Mukarˇovsky´ bereits in die poststrukturalistische Weiterentwicklung des Ansatzes ein. Vgl. zur neueren Theorie der Variante u. a.

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präsentiert. Bereits die kleinsten stilistischen Details können das Wesen der Landschaft in solchem Maß verändern, dass sich die Sichtung dieser Varianten für die hier aufgeworfenen Fragestellungen als äußerst ertragreich erweist. Dabei müssen zwei Aspekte beachtet werden. Zum einen ist der zeitliche Abstand zwischen den verschiedenen Versionen von Bedeutung. Laut Miroslav ˇ ervenka, Schüler des Begründers der Theorie, bieten Änderungen, die chroC nologisch sehr nahe beieinander liegen, eher Aufschluss über die vom Autor intendierten Stilisierungseffekte als solche, zwischen denen sich relativ große Zeiträume spannen. Letztere würden eher auf eine Verschiebung des »allgemeinen zeitbedingten literarischen Bewußtseins und des künstlerischen Geschmacks« verweisen.647 In Manzonis Fall erstreckt sich die Zeit der relevanten Umarbeitungen von 1823 bis 1827, also von der Fertigstellung von Fermo e Lucia mit dem fast sofortigen Entschluss zur Umgestaltung bis zur Veröffentlichung der ersten Version von I Promessi Sposi. In den Jahren bis zur Veröffentlichung der endgültigen 1840er Fassung arbeitete Manzoni auch an anderen Werken, so vor allem an der Abhandlung Del romanzo storico und überarbeitete seinen Roman wie oben dargestellt nur noch durch die Tilgung der Lombardismen. Die Phase der entscheidenden Änderungen kann daher als relativ kurz und mit ˇ ervenka als eher aufschlussreich für Manzonis konkrete Absichten als für geC nerelle Verschiebungen des Zeitgeschmacks betrachtet werden. Dabei soll jedoch nicht aus dem Auge verloren werden, dass das romantische Landschaftsparadigma in den zwanziger Jahren gewissermaßen seinen Höhepunkt erlebt. Die Mode pittoresker Reiseberichte bleibt auch im folgenden Jahrzehnt noch charakteristisch für den literarischen Geschmack, jedoch ist zu diesem Zeitpunkt das Konstrukt der Korrespondenzlandschaft bereits äußerst problematisch geworden, wie oben anhand von Chateaubriands Landschaften beobachtet werden konnte. Vor diesem Hintergrund fällt Manzonis relevante Überarbeitungsphase in einen interessanten Zeitraum, was bei der Frage, ob sich in den Promessi Sposi bereits richtungsweisende Aktualisierungen des zeitgenössischen Landschaftsparadigmas finden, ebenso beachtet werden soll. Der zweite Aspekt, der bei der Variantenanalyse narrativer Texte Beachtung finden muss, besteht darin, dass sich durch die stilistischen Veränderungen, gerade im Fall der Landschaftsdarstellungen, auch die Tiefenstruktur des Romans, d. h. seine histoire ändern kann.648 In Manzonis Fall tragen gerade die Bernard Cerquiglinis polemische Schrift Ploge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris, Pditions du Seuil, 1989. Cerquiglini tritt hier im Rekurs auf die mittelalterliche, handschriftlich überlieferte Literatur für den autonomen Wert einzelner Varianten ein. 647 »Textologie und Semiotik«, in: Gunter Martens / Hans Zeller (Hrsg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München, Beck, 1971, S. 143–163, hier S. 162. 648 Auf diesen Aspekt macht Joachim Küpper aufmerksam, der die Variantentheorie, die zu-

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Überarbeitungen der Landschaftsszenen entscheidend dazu bei, genau diesen Effekt hervorzubringen. Auch diese Dimension soll bei den folgenden Analysen präsent gehalten werden und stützt die Annahme der Eignung des Ansatzes zur Erschließung der komplexen Bedeutungsschichten der finalen Fassung der Promessi Sposi. Um den linguistischen Aspekt der lombardischen Dialektismen im hier zur Verfügung stehenden Rahmen nicht zu sehr in den Vordergrund rücken zu lassen, werden bei den Untersuchungen der ausgewählten Textstellen hauptsächlich die Fermo e Lucia- und die 1840er-Version verglichen. Existieren doch relevante, sinnverändernde Abweichungen zwischen der Ventisettana und der Quarantana, so werden auch diese beleuchtet. Bei allgemeinen Zitaten und Hinweisen, die einen Vergleich nicht notwendig machen, wird standardmäßig auf die 1840er-Fassung rekurriert. Die Zitierung erfolgt wie oben bereits erläutert (s. Anmerkung 626).

3.3.2 Die Promessi Sposi und die Modelle romantischer Landschaftsdarstellung Die Beschaffenheit des Handlungsverlaufs, der trotz seiner mehrsträngigen Ausrichtung anders als beispielsweise Eichendorffs Ahnung und Gegenwart doch einen klar erkennbaren und grundsätzlich linear ausgerichteten narrativen Verlauf aufweist, machen dessen Darstellung unverzichtbar für die Analyse einzelner Textstellen. Im Folgenden werden die wesentlichen Züge der gesamten Handlung kurz wiedergegeben, wohingegen im Kontext der einzelnen Analysen der entsprechende Handlungsteil im Rahmen seiner Relevanz für die Untersuchung etwas detaillierter dargelegt wird. Renzo und Lucia, die verliebten und verlobten Protagonisten aus dem Dorf Lecco an der Adda, werden durch die Intervention Don Rodrigos, dem örtlichen Feudalherren, der ebenfalls ein Auge auf Lucia geworfen hat, und dessen Schergen, den Bravi, an ihren Heiratsplänen gehindert. Der Versuch, den von den Bravi genötigten Dorfpfarrer Don Abbondio durch ein Komplott doch noch zur Durchführung der Vermählung zu bringen, scheitert und die beiden Brautleute sind gezwungen, Hals über Kopf aus ihrem Heimatdorf zu fliehen. Auf Rat ihres Vertrauten, dem Kapuzinermönch Fra Cristoforo, begibt sich Lucia, gemeinsam mit ihrer Mutter Agnese, in das nahe gelegene Kloster von Monza, nächst bei lyrischen Texten praktiziert wurde, mit seiner Untersuchung zum effet de r8el bei Balzac erstmals breit anlegte und dem strukturalistischen Ansatz folgend auch auf der Romanebene anwandte. Mit seiner Studie liefert er Erkenntnisse im Bereich der Variantenforschung, die bis heute aktuell sind. Vgl. Balzac und der effet de r8el. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Chabert und des Cur8 de village (Beihefte zu Poetica. 17), Amsterdam, Grüner, 1986, hier S. 80f.

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während Renzo nach Mailand aufbricht. Getrennt geraten beide in den Strudel der Zeit: die Verwicklungen des Dreißigjährigen Krieges, der Erbfolgekrieg um Mantua, der Anstieg der Brotpreise, die Hungersnot und schließlich die Pest sind die großen historischen Ereignisse, vor deren Hintergrund sich die weitere Geschichte abspielt. Renzo gerät in Mailand inmitten eines Volksaufstands gegen die gestiegenen Brotpreise, wird sogar als vermeintlicher Rädelsführer verhaftet, kann jedoch fliehen und Unterschlupf bei seinem Cousin in einem kleinen Dorf im Bergamaskischen finden. Währenddessen gerät Lucia doch in die Fänge Don Rodrigos, der sie aus dem Kloster entführen und auf die Burg des mächtigen und für seine dunklen Machenschaften gefürchteten Innominato bringen lässt. Lucias Unschuld trifft den Tyrannen jedoch mit unvermuteter Wirkung. Sie verstärkt die seit kurzem aufgekommenen Zweifel am bisherigen Lebensstil und veranlasst ihn nach einem Gespräch mit dem beliebten Mailänder Kardinal Federigo Borromeo, der sich gerade im Dorf aufhält, schließlich zur Bekehrung zum gläubigen Christen und friedlichen Wohltäter seiner überraschten Untergebenen. Lucia kommt zunächst bei einer Schneiderfamilie im Dorf und dann bei Donna Prassede, einer wohltätigen Dame in Mailand unter, wo jedoch bald darauf die Pest ausbricht. Renzo, der die Erkrankung bereits überstanden hat und von Lucias Verbleib erfährt, begibt sich sogleich dorthin und findet die Geliebte in einem der vielen notdürftigen Lazarette, wo sie, ebenfalls genesen, nun andere Kranke pflegt. Unter diesen befindet sich zufällig Fra Cristoforo, der Lucia vor seinem Tod noch von dem Gelübde entbindet, das sie auf der Burg des Innominato gegenüber der Jungfrau Maria geleistet hatte. In ihrer Todesangst hatte sie gelobt, in ewiger Keuschheit zu leben und ihrer Liebe zu Renzo somit für immer zu entsagen, könne sie nur aus der Gefahr heil entkommen. Damit steht der Vereinigung der Brautleute am Ende des Romans nichts mehr entgegen und als bekannt wird, dass auch Don Rodrigo die Pest nicht überlebt hat, willigt Pfarrer Don Abbondio schließlich ein, die Eheschließung zu vollziehen. Gemeinsam mit Agnese finden sie schließlich ein neues Heimatdorf im Bergamaskischen, wo Renzo eine neue Existenz als Seidenspinner gründet und die Brautleute glücklich vermählt und unter reichem Kindersegen ihr beschauliches Leben fortsetzen. Nun fügen sich in diesen Handlungsverlauf einige Naturszenen, denen bei der Verschiedenheit der Landschaftstypen, die sie ins Bild setzen, gemein ist, bis ins kleinste Detail kunstvoll konstruiert zu sein. Gegenüber Chateaubriand und Eichendorff, deren Naturverbundenheit die Landschaft zum zentralen Thema ihres gesamten Œuvres werden lässt, bieten die Landschaften der Promessi Sposi sozusagen eine Zugabe ihres Autors, ein Plus für die Interpretation des Werkes und eine weitere Bedeutungsschicht des komplexen Textes. Ihre Untersuchung dient dem Ziel »de d8voiler la richesse d’une pratique d’8criture qui met en relation effort r8aliste et indices symboliques et / ou all8goriques«, es handelt

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sich um einen »r8seau de signes / d8chiffrer.«649 Die Landschaften sind verschlüsselte Bilder, in denen sich der ohnehin hohe Reflexionsgehalt des gesamten Romans noch einmal kondensiert. Dabei thematisiert Manzoni über die Darstellung der Natur nicht nur die eigene Erzählweise, was besonders die Eingangsszene zu einem wahren Meisterwerk macht, wie an späterer Stelle zu sehen sein wird. Er beschäftigt sich auch mit den bekannten Formen der literarischen Landschaftsdarstellung. So in der berühmten und viel besprochenen Szene des Addio ai monti zum Ende des achten Kapitels, in dem der ausgeheckte Plan, Pfarrer Don Abbondio zu überrumpeln und so zur Vermählung zu zwingen, scheitert und Renzo, Lucia und Agnese zur nächtlichen Flucht aus ihrem Heimatdorf gezwungen sind. Nachdem sie das Seeufer (die Adda bildet hier einen See) und den Kahn in der Nähe des Klosters von Fra Cristoforo erreicht haben und das Losungswort, das dieser ihnen mitgegeben hat, gesprochen ist, setzt der Schiffer zur Überfahrt über den mondbeschienenen See an: Non tirava un alito di vento; il lago giaceva liscio e piano, e sarebbe parso immobile, se non fosse stato il tremolare e l’ondeggiar leggiero della luna, che vi si specchiava da mezzo il cielo. (PS 1840, S. 162)

Die Landschaft erschließt sich zunächst in der unpersönlichen Perspektive des Erzählers, jedoch unter geschickter Verstrickung visueller und auditiver Sinnesreize, letztere erzeugt durch die gleichmäßigen Bewegungen des Wassers und der sich brechenden Wellen: S’udiva soltanto il fiotto morto e lento frangersi sulle ghiaie del lido, il gorgol&o piF lontano dell’acqua rotta tra le pile del ponte, e il tonfo misurato di que’ due remi, che tagliavano la superficie azzurra del lago, uscivano a un colpo grondanti, e si rituffano. (Ebd.)

Gerade über die Klänge dieser bereits vor dem eigentlichen ›Gesang‹ des Addio lyrisch anmutenden Passage wurde bereits vielfach spekuliert.650 Die Rhythmik der Bewegungen im Kontrast zur erhabenen Statik der Seelandschaft, die Lichtund Farbeffekte und die Stimulation der verschiedenen Sinnesorgane gehen einher mit der Mystifizierung der schicksalhaften Flussüberquerung, die durch die offenkundigen Referenzen an die Überfahrt Dantes in der Divina Commedia 649 Aur8lie Gendrat-Claudel, Le paysage, ›fenÞtre ouverte‹ sur le roman. La cas de l’Italie romantique, Paris, Presses de l’Universit8 Paris-Sorbonne, 2007, S. 221. Ein Kapitel dieser Arbeit ist nahezu den gesamten Naturdarstellungen der Promessi Sposi gewidmet und gehört zu den jüngsten Untersuchungen dieses Themas. 650 Besonders ausführlich widmet sich Mario Barenghi in »Il paesaggio sonoro dei Promessi sposi« der akustischen Dimension von Manzonis Beschreibungen und speziell seiner Landschaften. In der vorliegenden Szene sind laut ihm vor allem die Klänge ausschlaggebend für die stimmungsvolle Intensität der Landschaft. (In: Gianni Oliva (Hrsg.), Manzoni e il realismo europeo, Milano, Mondadori, 2007, S. 57–71, hier S. 57–59)

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bzw. an die griechische Mythologie fast etwas mokant wirken könnte.651 Gerade die poetische und atmosphärische Dichte der Beschreibung hat aber bekanntlich bereits eine Fülle von Interpretationen bewirkt, die in der Szene, »uno dei notturni piF belli di malinconia e di serenit/ della poesia italiana«, zumeist eine »topografia del cuore« angelegt sehen.652 Tatsächlich rückt im folgenden Teil der Beschreibung die Perspektive der Figuren, besonders Lucias, in den Vordergrund: I passeggieri silenziosi, con la testa voltata indietro, guardavano i monti, e il paese rischiarato dalla luna, e variato qua e l/ di grand’ombre. Si distinguevano i villaggi, le case, le capanne: il palazzotto di don Rodrigo, con la sua torre piatta, elevato sopra le casucce ammucchiate alla falda del promontorio, pareva un feroce che, ritto nelle tenebre, in mezzo a una compagnia d’addormentati, vegliasse, meditando un delitto. Lucia lo vide, e rabbrivid'; scese con l’occhio giF giF per la china, fino al suo paesello, guardk fisso all’estremit/, scopr' la sua casetta, scopr' la chioma folta del fico che sopravanzava il muro del cortile, scopr' la finestra della sua camera; e, seduta, com’era, nel fondo della barca, posk il braccio sulla sponda, posk sul braccio la fronte, come per dormire, e pianse segretamente. (PS 1840, S. 162f.)

Der auffälligste Aspekt der Beschreibung ist hier sicherlich die Gegenüberstellung von Gut und Böse, die, personifiziert in den Antagonisten Renzo und Don Rodrigo, oft als Grundstruktur des Romans definiert wird.653 Als Ensemble idyllischer Bestandteile des locus amoenus (akzentuiert durch die Diminutivformen) und der Evokation des im Dunkeln lauernden Räubers als plötzlicher Umschwung in das schauerliche Ambiente eines locus terribilis präsentiert sich die Landschaft als Projektion des angsterfüllten und sehnsuchtsvollen Blicks der fliehenden Protagonisten. Die Szene gilt der Forschung demnach als Moment der Abkehr vom Topos des Idyllischen, vom Verlust der Heimat im doppelten Sinn, nämlich als irreversible Vertreibung aus dem Schoß der Natur und als Eintritt in den haltlosen Lauf der Geschichte.654 Es liegt hierin ein überaus in651 In Anbetracht der oft hervortretenden ironischen Erzählweise Manzonis kann in Szenen wie dieser zumindest eine gewisse Ambivalenz erkannt werden. Man beachte z. B. die Formulierung der Erklärung zur Organisation der Flucht durch Fra Cristoforo: »Chi domandasse come fra Cristoforo avesse cos' subito a sua disposizione que’mezzi di trasporto, per acqua e per terra, farebbe vedere di non conoscere qual fosse il potere d’un cappuccino tenuto in concetto di santo.« (PS 1840, S. 160) 652 Giovanni Getto, Letture Manzoniane, Firenze, Sansoni, 1964, S. 147f. Vgl. zu dieser Lesart auch Remo Fasani, Saggio sui Promessi Sposi, Firenze, Felice Le Monnier, 1952, S. 82ff. 653 Vgl. z. B. Raimondi, Il romanzo senza idillio, S. 249ff. 654 Vgl. Fasani: »Proprio da questi multipli motivi, in cui respira il mistero delle cose, l’addio riceve il suo vero significato: cioH d’essere come un addio alla bellezza del mondo.« (Saggio sui Promessi Sposi, S. 83) Auch Güntert, der die deskriptiven und narratologischen Techniken der Promessi Sposi anhand einiger Landschaftsszenen analysiert, kommt zu dem gleichen Schluss: »Il paesaggio idilliaco diventa lo scenario di una riflessione implicita sulla perdita dell’idillio, ed H proprio attraverso la descrizione del lago notturno che gli avveni-

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teressanter Aspekt der Szene, da die Überfahrt tatsächlich auch mit einem signifikanten Bruch auf der narratologischen Ebene einhergeht: Die bis hierhin lineare Erzählung der geplatzten Hochzeit wechselt zur mehrsträngigen Erzählung der Abenteuer der durch die Wirren der Fluchtsituation und der geschichtlichen Ereignisse bis ans Romanende getrennt bleibenden Protagonisten.655 Im an die oben zitierte Passage anschließenden eigentlichen Gesang des Addio wird dann auch scheinbar aus der Perspektive Lucias das Bild dessen entworfen, der die geliebte Heimat, die vertrauten Berge, Gipfel, Bäche und Dörfer verlassen muss, sei es freiwillig, um in der fernen Stadt sein Glück zu suchen oder dazu gezwungen wie die Fliehenden. Die nostalgische Klage des Abschieds von der Heimat ist nicht nur stilistisch von hohem Wert, sondern gründet auch auf einer langen literarischen Tradition. Beides wurde schon ausführlich herausgestellt, so dass auf die einschlägigen Arbeiten verwiesen werden kann.656 Was hier vielmehr von Belang ist, sind die Beschreibungsmechanismen der vorangehenden eigentlichen Landschaftsbeschreibung, die eindeutig dem Register romantischer Landschaftsdarstellung entsprechen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Ein Blick in Fermo e Lucia gibt zusätzlichen Aufschluss: Il lago era sgombro, non soffiava un respiro di vento, e la superficie dell’acqua, illuminata dalla luna giaceva piana e liscia senza una increspatura, come un immenso specchio. (FL, S. 164)

Non tirava un alito di vento; il lago giaceva liscio e piano, e sarebbe parso immobile, se non fosse stato il tremolare e l’ondeggiar leggiero della luna, che vi si specchiava da mezzo il cielo. (PS 1840, S. 162)

Während sich die 1827er-Fassung von der endgültigen nur durch die Tilgung der Dialektismen unterscheidet, liegen zu Fermo e Lucia signifikante Unterschiede vor. Der Eröffnungssatz der Beschreibung aus Fermo e Lucia entwirft ein völlig statisches Bild der Landschaft, die sich zudem nur auf den See, genau genommen menti del racconto vengono interpretati in tal senso.« (Manzoni romanziere, S. 92f.) Guido Baldi legt das Schema des ›Auszugs‹ aus dem edenischen Paradies dem gesamten Roman zugrunde; vgl. L’Eden e la storia. Lettura dei Promessi Sposi, Milano, Mursia, 2004, hier z. B. S. 155ff. 655 Vgl. Güntert, Manzoni romanziere, S. 95: »l’Addio ai monti H anche un addio all’illusione di fondare sull’identit/ i rapporti fra l’uomo e la natura. Ne consegue da un lato la vanit/ dell’idillio e del sentimentalismo nostalgico, dall’altro la possibilit/ della diacronia e del racconto.« 656 Zur Analyse der Stilmittel sei hier vor allem verwiesen auf Angelo Marchese, L’enigma Manzoni. La spiritualit/ e l’arte di uno scrittore ›negativo‹ (Biblioteca di Cultura. 486), Roma, Bulzoni, 1994, S. 261–274, sowie Giorgio Orelli, Quel ramo del lago di Como e altri accertamenti manzoniani, Bellinzona, Edizioni Casagrande, 1990, S. 61–63. Eine ausführliche Darlegung der zahlreichen intertextuellen Bezüge liefern Raimondi und Bottoni in ihrer Edition des Romans: »Integrazione« zu Kap. VIII, in: Manzoni, I Promessi Sposi, S. 184–186.

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ausschließlich auf die Wasseroberfläche beschränkt. Deren vollkommene Ebenmäßigkeit ist Zentrum des Satzes, alle Beschreibungselemente dienen ausschließlich dazu, sie zu betonen (»sgombro«, »piana e liscia senza una increspatura«, »come un immenso specchio«). Auch die Erwähnungen des Windes und des Mondes motivieren letztlich nur die Immobilität des Sees. Diese Eindimensionalität durchbricht Manzoni in seiner Überarbeitung durch eine komplexere Satzkonstruktion: Die Windstille tritt betont an den Satzanfang, gefolgt von der Ebenmäßigkeit der Wasseroberfläche. Das unrealistische Bild von deren völliger Bewegungslosigkeit wird jedoch nur für die Vorstellungskraft kurz angerissen: Der See hätte vielleicht bewegungslos geschienen, wäre da nicht das leichte Flimmern und Schaukeln des Mondes, der aus der kurzen Partizipialkonstruktion von Fermo e Lucia heraustritt und das Tableau in die vertikale Richtung hin öffnet. Durch die verlangsamende Syntax des Konditionalsatzes treten er und der Effekt, den er auf die Landschaft ausübt, in das Zentrum des Satzes. Das Spiel des Mondlichts macht die Landschaft der Promessi Sposi zu einem typischen Tableau einer romantischen Stimmungslandschaft, welches bereits in Chateaubriands Werken, z. B. anhand der Nuit am8ricaine, ausgiebig betrachtet werden konnte.657 Die Evokation der völlig glatten, bewegungslosen Wasseroberfläche, die im selben Atemzug durch das Mondlicht als trügerisch aufgedeckt wird, verfolgt zudem das gleiche Ziel, das Gilpin bei der Anleitung zur Darstellung von Wasseroberflächen anstrebte.658 Die Landschaft der Promessi Sposi suggeriert Harmonie in horizontale und vertikale Richtung ( – am Ende noch einmal hergestellt durch »cielo« – ) bei gleichzeitiger Auflösung der Statik in Bewegung. Ihre Elemente konstruieren die romantische Tiefendimension, was auch in der synästhetischen Darstellung des Ruderschlags und der Wellenbewegungen deutlich wird, jedoch wieder nur in der späteren Fassung: I remi che tagliando l’onda con tonfo misurato uscivano ad un colpo grondanti, e segnando di infinite stille lo spazio sul quale percorrevano per rituffarsi nell’acqua, rompevano solo la piana superficie del lago; (FL, ebd.)

S’udiva soltanto il fiotto morto e lento frangersi sulle ghiaie del lido, il gorgol&o piF lontano dell’acqua rotta tra le pile del ponte, e il tonfo misurato di que’ due remi, che tagliavano la superficie azzurra del lago, uscivano a un colpo grondanti, e si rituffavano. (PS 1840, ebd.)

Erst in der 1840er-Fassung kommt die Klangdimension hinzu, die der Landschaft ihre volle räumliche Tiefe verleiht, vom Ufer bis zu den Pfeilern der Brücke, an denen sich die Wellen brechen. 657 Vgl. oben, Kap. 3.1.2. 658 Diese dürften keineswegs monochrom dargestellt werden, auch wenn sie dem Betrachter fälschlicherweise so erscheinen, sondern pittoresk, das heißt als eine in unendliche Reflexe gebrochene raue Oberfläche. Vgl. Three Essays, S. 14.

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Pittoreske Landschaftsdarstellungen in der europäischen Literatur der Romantik

Die Art der Ergänzungen lässt keinen Zweifel daran, dass Manzoni die Landschaftsszene bewusst mit eben solchen Beschreibungsmechanismen verfeinerte und ausdifferenzierte, die bereits vielfach als charakteristisch für die romantische Landschaftsdarstellung betrachtet werden konnten. Schon sein langer Aufenthalt in Paris und der gesellschaftliche Umgang, den er dort pflegte, lassen auf eine Vertrautheit mit den entsprechenden Deskriptionstheorien schließen. Die vorliegende Textpassage gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass Manzoni auch mit den Techniken vertraut war, die oben bereits als typisch für das Pittoreske im ursprünglichen Sinn, verstanden als das Malerische, das an der Malerei orientierte, dargelegt wurden659 : I viaggiatori silenziosi, volgendosi addietro, guardavano le montagne e il paese che la luna illuminava. (FL, ebd.)

I passegieri silenziosi, con la testa voltata indietro, guardavano i monti, e il paese rischiarato dalla luna, e variato qua e l/ di grand’ombre. (PS 1840, ebd.)

Während in Fermo e Lucia an dieser Stelle noch immer das fließende, vereinheitlichende Mondlicht die Landschaft dominiert, weist der entsprechende Satz der Promessi Sposi pittoreske Gestaltungsmerkmale auf, die die ästhetische Zugänglichkeit der Landschaft als Wahrnehmungsgegenstand fokussieren. Dies geschieht nicht nur durch die Umformung des aktivischen »illuminava« in die Partizipialkonstruktion »rischiarato«, die den Gegenstand selbst (»il paese«) ins Zentrum und in Szene setzt, sondern auch durch die Bevorzugung von rischiarare, das gegenüber dem weicheren illuminare die Vorstellung von Klarheit und Trennschärfe konnotativ mitschwingen lässt. Die Ergänzung der kontrastierenden Schatten bewahrheitet diesen Eindruck schließlich ganz, zumal sie durch die markanten Ergänzungen »variato« und »qua e l/« eingeführt werden, in denen sich die Ideale des Malerischen, wie vor allem die Vielfalt, explizit manifestieren. Der Rekurs auf dieses Vokabular, dem innerhalb der zeitgenössischen Landschafts- und Beschreibungstheorie gewissermaßen schon Signalcharakter zugewiesen werden muss, untermauert die These, dass der Erzähler durch die Lichteffekte nicht nur Lucias im Anschluss folgende Suche der vertrauten Objekte vorbereitet und plausibilisiert, sondern bewusst die konventionellen Mechanismen romantischer Landschaftsbeschreibung aufgegriffen werden. Ein weiterer Beleg für deren Rezeption findet sich in der Herbstlandschaft zu Beginn des vierten Kapitels. Fra Cristoforo ist unterwegs von seinem Kloster zum Haus von Lucia und Agnese, sein Weg durch die Landschaft motiviert die Beschreibung: 659 Vgl. oben, Kap. 3.1.3.1.

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Il sole non era ancor tutto apparso sull’orizzonte, quando il padre Cristoforo usc' dal suo convento di Pescarenico, per salire alla casetta dov’era aspettato. ð Pescarenico una terricciola, sulla riva sinistra dell’Adda, o vogliam dire del lago, poco discosto dal ponte: un gruppetto di case, abitate la piF parte da pescatori, e addobbate qua e l/ di tramagli e di reti tese ad asciugare. Il convento era situato (e la fabbrica ne sussiste tuttavia) al di fuori, e in faccia all’entrata della terra, con di mezzo la strada che da Lecco conduce a Bergamo. Il cielo era tutto sereno: di mano in mano che il sole s’alzava dietro il monte, si vedeva la sua luce, dalle sommit/ de’monti opposti, scendere, come spiegandosi rapidamente, giF per i pend'i, e nella valle. Un venticello d’autunno, staccando da’rami le foglie appassite del gelso, le portava a cadere, qualche passo distante dall’albero. A destra e a sinistra, nelle vigne, sui tralci ancor tesi, brillavan le foglie rosseggianti a varie tinte; e la terra lavorata di fresco, spiccava bruna e distinta ne’ campi di stoppie biancastre e luccicanti dalla guazza. (PS 1840, S. 65f.)

Von den harmonisierenden Effekten des fließenden, sich ausbreitenden Sonnenlichts bis zu den die Imagination stimulierenden Farbnuancen des Herbstlaubs und der Felder entfaltet sich hier, gerade mit der Wahl der Herbstlandschaft, die bereits eigenständig Befindlichkeiten und Assoziationen weckt, eine romantische Stimmungslandschaft. Schon in Fermo e Lucia finden sich fast die gleichen Markierungen,660 was die in der Forschung vorherrschende schlüssige These stützt, die heitere Morgenlandschaft erfülle die Funktion, einen Kontrast zu der im direkten Anschluss beschriebenen Armut und Hungersnot der Landbevölkerung zu konstituieren.661 Die Überleitung konturiert diesen Gegensatz und hat sich im Verlauf der Überarbeitungen nicht wesentlich verändert: »La scena era lieta; ma ogni figura d’uomo che vi apparisse, rattristava lo sguardo e il pensiero.« (PS 1840, S. 66) Eine interessante Abweichung verbirgt sich dagegen in der Einleitung der Landschaftsbeschreibung. Die Situierung der Szene, die in der 1840er-Fassung fast die Hälfte der Beschreibungspassage ausmacht, fehlt in Fermo e Lucia völlig: 660 Auch hier verweht der »venticello d’autunno« das bunte Herbstlaub, »le foglie colorate di diversi rossi«, das gemeinsam mit den frisch bearbeiteten Feldern im Licht der aufgehenden Sonne leuchtet: »la luce era diffusa sui monti e sul lago: le piF alte cime erano dorate dal sole non ancora comparso sull’orizzonte […]« (FL, S. 72) 661 Vgl. z. B. Luigi Russo, der die Landschaft nicht nur im Dienst der Hervorhebung ökonomischer Missstände, sondern auch als Indiz für den menschlichen Sündenfall liest: »Vi H intensamente colorito il contrasto tra quel cielo tutto sereno e la terra bruna lavorata di fresco, che potrebbe essere scena lieta, e la tristezza degli uomini che avvertono i duri segni della carestia. Ma si badi bene, quella carestia non H semplicemente una privazione ›economica‹ di beni, ma H sentita ed allargata come senso di un castigo divino, come una privazione ›spirituale‹.« (Personaggi dei Promessi Sposi (Economica. 153), Roma / Bari, Editori Laterza, 41998 (11945), S. 320) An diesem frühen Punkt des Romans zeichne sich also schon die Unmöglichkeit eines irdischen Idylls ab, wie u. a. auch Schwaderer konstatiert, der das Kontrastschema von Idylle und historischer Wirklichkeit als charakteristisch für Manzonis Landschaftsdarstellung im Allgemeinen bezeichnet. (Idillio campestre, S. 83f.)

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Era un bel mattino di novembre; la luce era diffusa sui monti e sul lago: le piF alte cime erano dorate dal sole non ancora comparso sull’orizzonte, ma che stava per ispuntare dietro a quella montagna che dalla sua forma H chiamata il Resegone (Segone), quando il Padre Galdino […] si avvik dal suo Convento per salire alla casetta di Lucia. Il cielo era sereno […] (FL, S. 72)

Die Landschaftsdarstellung wird hier nur durch einen Nebensatz unterbrochen, der über Padre Galdinos (alias Fra Cristoforos) Gang zu Lucia informiert. Dass der auffällige Einschub der späteren Fassung nur der besseren Orientierung des Lesers dient, kann bezweifelt werden. Vielmehr können hier erste Hinweise darauf verortet werden, was Manzoni mit dem Rekurs auf die konventionellen Methoden romantischer Landschaftsbeschreibung, im Übrigen zu einem Zeitpunkt, da diese ihren Zenit bereits erreicht hat, bezweckt. Die in der Beschreibung enthaltenen Landschaftselemente besitzen allesamt das Potenzial, Stimmungen im Betrachter zu erzeugen, ja sogar mit verschiedenen möglichen Gefühlszuständen zu korrespondieren.662 Wie in Kapitel 3.1.2 eben genau am Beispiel einer romantischen Herbstlandschaft gesehen werden konnte, ist jedoch für die Stimmungs- oder Korrespondenzlandschaft die gegenseitige Durchdringung eines cœur plein und eines monde vide kennzeichnend, um die eingängige Formel von Chateaubriands Definition des vague des passions zu bemühen. Fra Cristoforos Seelenzustand würde eine solche Gleichsetzung auch ermöglichen, wir erfahren jedoch von seinen Empfindungen nur im Anschluss an die Beschreibung der Armen auf den Feldern, die allein in den Zusammenhang eines Wahrnehmungsvorgangs gerückt werden: »Questi spettacoli accrescevano, a ogni passo, la mestizia del frate, il quale camminava gi/ col tristo presentimento in cuore, d’andar a sentire qualche sciagura.«663 (PS 1840, S. 66) Die Landschaft selbst ist nicht nur frei von jeglichem Anhaltspunkt, dass sie Wahrnehmungsobjekt der sie durchschreitenden Figur sein könnte, auch wird durch den besagten situierenden Einschub der 1840er-Fassung die Distanz zum Beschriebenen zusätzlich erhöht. Möglicher impliziter Betrachter und Instanz des einzigen Hinweises auf einen Wahrnehmungsvorgang (»si vedeva«) kann allein der Erzähler sein. Jedoch besonders durch die Information, das Gebäude des Klosters stehe noch heute (»e la fabbrica ne sussiste tuttavia«), entsteht eine 662 Solcher Art wird die Szene auch im Allgemeinen gelesen: »la descrizione di quella mattinata malinconica di autunno non H una digressione e non ha nulla di esteriormente descrittivo. Ma H un quadro di vita interiore, e in quella faccia di cielo H come trascritta la gravit/ malinconica del personaggio.« (Russo, Personaggi dei Promessi Sposi, S. 319) 663 Michael Bernsen beschreibt die Reminiszenzen der Szene an Darstellungen des Gangs des Heiligen Franziskus zu den Aussätzigen vor der Stadt Assisi, die zur Ausgestaltung der Geschichte Fra Cristoforos zur Heiligenlegende beitragen, mit dem Ziel, diese Erzählform im weiteren Verlauf wieder zu verfremden und zu parodieren. (Vgl. Geschichten und Geschichte, S. 65ff.)

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bizarre Dissonanz zu der Unmittelbarkeit, die zwischen den gewählten Landschaftseffekten und ihrem kontemplierenden Betrachter herrschen müsste. Die Funktion der Parenthese kann einzig darin liegen, von der Erzählung Abstand zu nehmen, sozusagen herauszuzoomen, ein Effekt, den auch die Berichtigung der Bezeichnung des Flusses (»o vogliam dire del lago«) bewirkt, die eine Referenz zu den im Anfangstableau dargelegten Formationen des Flusslaufes darstellt. Bei der Distanzierung kommt Manzoni das Spiel mit der Manuskriptfiktion zugute, die im gesamten Roman die Möglichkeit ironischer Kommentierungen des Erzählten bietet.664 Die Beschaffenheit der Landschaftseffekte impliziert einen homodiegetischen Erzähler, die ergänzenden Erläuterungen des Einschubs der späten Fassung markieren dagegen ganz offensichtlich den heterodiegetischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, der sich durch Abgrenzung zum Anonymus in eine Art Komplizenschaft mit dem Leser stellt. Indem dieser Einschub zudem die Landschaftsbeschreibung, die ja im ersten Satz bereits samt dem potenziellen Betrachter Fra Cristoforo eingeleitet wird, unterbricht, konterkariert er die Unmittelbarkeit des Naturerlebnisses, die für die romantische Landschaft unverzichtbar wäre. Mag das Idyllische der Szene zur Verschärfung des Bildes der Armut im zweiten Teil der Beschreibung und die daraus abgeleitete sozialhistorische Dimension ein Aspekt der Szene sein, so verdeutlicht die gezeigte Überarbeitung der Fermo e Lucia-Szene, dass Manzoni sich der Konventionen romantischer Landschaftsbeschreibung zwar bedient, jedoch nur mit dem Ziel, ihren Kern, die Interdependenz von Landschaftsobjekt und betrachtendem Subjekt, spielerisch zu hintergehen. Ein erneuter Blick auf die Szene des Addio ai monti kann diese These stützen. Nachdem Lucia die vertrauten Bestandteile der Landschaft und des Dorfes sowie 664 In seinem Aufsatz »Ironisierung der Fiktion und und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)«, stellt Joachim Küpper die These auf, der fiktionale Teil des Romans, das heißt die Geschichte von Renzo und Lucia, folge dem Schema des im 17. Jahrhundert beliebten hellenistischen Märchenromans, wovon sich der Erzähler jedoch durch seine eingestreuten Kommentare ironisch distanziere. Genau hierin liegt laut Küpper die Bedeutung der Manuskriptfiktion und der Zwischenschaltung des Anonymus, auf den sich als ›Verantwortlichen‹ der Geschichte so der Spott des Erzählers richten kann. Die topische Manuskriptfiktion diene also keineswegs, wie in der Forschung postuliert, der Authentifizierung des Dargestellten (so z. B. Dombrosky, L’apologia del vero, S. 20f.), sondern vielmehr »der Desolidarisierung des Erzählers […], der die Verantwortung für das Erzählte einem Schreiber zuweist, dessen zitierte Reklamate dadurch aufs gründlichste kompromittiert werden, daß das ›Geschehen‹ ganz offensichtlich dem Muster der Moderomane seiner Zeit folgt.« Die »ironische Pose« des Erzählers, die den gesamten Roman grundlegend bestimmt, entbinde diesen somit (u. a.) »von der Hypothek […], ein Modell christlicher Ästhetik zu transportieren, das im Zeitalter der romantischen Manifeste definitiv abgelebt war.« (S. 133f.) Vor Küpper hat 1950 bereits Rocco Montano auf den ironischen Stil des Erzählers und die Parodierung des Märchenschlusses hingewiesen. (Manzoni. O del lieto fine (Criterion – Colana di saggi. 2), Napoli, Conte Editore, 21951, S. 200ff.)

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abschließend das Fenster ihres Zimmers identifiziert hat, legt sie den Kopf auf den Arm und weint heimlich: Lucia […] scese con l’occhio giF giF per la china, fino al suo paesello, guardk fisso all’estremit/, scopr' la sua casetta, scopr' la chioma folta del fico che sopravanzava il muro del cortile, scopr' la finestra della sua camera; e, seduta, com’era, nel fondo della barca, posk il braccio sulla sponda, posk sul braccio la fronte, come per dormire, e pianse segretamente. (PS 1840, S. 162f.)

Die Tatsache, dass Lucias Reaktion und der Wechsel ihrer Körperhaltung gleichsam als Markierung des Endes des Wahrnehmungsvorgangs zu betrachten ist, hat bereits des Öfteren die Frage nach Sinn und Bedeutung des unmittelbar darauf einsetzenden Gesangs des Addio geleitet. Indem die vorher auf Lucia zugespitzte Perspektive nun wieder in das neutrale und verallgemeinernde »chi« münde,665 vollziehe sich, so u. a. Güntert, ein Bruch in der Fokalisierung. Der Erzähler mische sich unter seine Figuren, nehme deren Blickrichtung ein und nutze die Überquerung des vertrauten Flusses für eine Reflexion über das grundsätzliche Vertriebensein des Menschen: PiF in generale, si viene sviluppando in questo brano una riflessione sulla questione dell’Entfremdung, intuita gi/ da Rousseau e divenuta preoccupazione centrale nella poesia romantica, da Schiller in poi.666

Ob Manzoni diese Intention verfolgt oder ob die Szene, wie ebenfalls vorgeschlagen wurde, autobiographisch zu deuten ist und Manzoni in ihr den eigenen Abschied von der terra natale und der dort verbrachten Jugend beschreibt,667 muss letzten Endes offen bleiben. Das einzigartige und für seinen Erzählstil typische R8sum8 des Addio durch den nun wieder distanzierten, allwissenden Erzähler lässt alle Bemühungen um finale Klärungsversuche ins Leere laufen: Di tal genere, se non tali appunto, erano i pensieri di Lucia, e poco diversi i pensieri degli altri due pellegrini, mentre la barca gli andava avvicinando alla riva destra dell’Adda. (PS 1840, S. 164)

Manzoni spielt hier sowohl mit der Möglichkeit durch den Subjektwechsel allgemeinere Betrachtungen anstellen zu wollen, also z. B. die Rousseau’sche Klage über den Verlust des Naturzustandes oder den von anderen Autoren vielfach dargestellten Stadt-Land-Gegensatz aufzugreifen, als auch mit der Funktion der 665 Vgl. z. B. »Ma chi non aveva mai spinto al di l/ […]« oder »Chi, staccato a un tempo dalle piF care abitudini, e disturbato nelle piF care speranze […]« (PS 1840, S. 163). 666 Güntert, Manzoni romanziere, S. 96. Auch Godt beschreibt einen ähnlichen Eindruck: »[…] these details express a grief larger than Lucia’s, a cosmic grief for the loss of all that is important.« (The Mobile Spectacle, S. 108) 667 Vgl. zu dieser Interpretationsmöglichkeit z. B. ebd., S. 109. In Fermo e Lucia ist der autobiographische Bezug noch deutlicher (vgl. FL, S. 165).

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Korrespondenzlandschaft. Die durch ihre kunstvolle stilistische Verdichtung tatsächlich als »pause lyrique dans la narration«668 erscheinende Reflexion hat keinen eindeutig zuweisbaren Sprecher und ist dadurch auch in ihrer Bedeutung offen. Die bewusst saloppe Abschlussbemerkung, die Manzoni erst für die Version der Promessi Sposi konzipiert, holt Lucia zurück auf die unbesetzte Stelle des Subjekts, jedoch unter der gleichen Distanznahme, die oben schon bei der Beschreibung der Herbstlandschaft festgestellt werden konnte. Die Formulierung »[d]i tal genere« und der Zusatz »se non tali appunto« als zusätzliche Draufgabe karikiert geradezu die Vorstellung, die zuvor dargestellte stimmungsvolle Mondlandschaft könne mit dem Inneren der Figuren korrespondieren bzw. dieses veranschaulichen. Manzoni entwickelt vielmehr durch Handlungsverlauf und Situationsbeschreibung einen idealen Rahmen für ein der romantischen Poetik entsprechendes Naturerlebnis und eine Innenansicht des Betrachters der Landschaft, um diese Konstruktion dann in einem einzigen abschließenden Satz völlig zu hintergehen. Lucia ist zwar zunächst das betrachtende Subjekt der Landschaft, aus der daran anschließenden Reflexion wird sie jedoch gänzlich ausgeklammert. Der Perspektivenwechsel wird durch Lucias plötzliches Verbergen des Gesichts bis zum Moment der Ankunft am anderen Ufer ganz offenkundig gestaltet.669 Durch das Spiel mit der Wahrnehmungsinstanz verunklart Manzoni gekonnt die Bedeutung der Szene, die andernfalls als Abschied vom heimischen Idyll klar zu bestimmen gewesen wäre. Die beiden bisher besprochenen Szenen konnten zeigen, dass Manzoni einerseits gekonnt stimmungsvolle romantische Landschaftstableaus entwirft, andererseits aber durch seine raffinierte Erzählweise im entscheidenden Moment eine Distanz konstruiert, die die Affektivität und Unmittelbarkeit des romantischen Naturerlebnisses konterkariert. Ein letztes Beispiel für seinen Umgang mit den tradierten Landschaftstopoi wird veranschaulichen, wie die Modelle einerseits zur Thematisierung anthropologischer Fragestellungen dienen können und wie andererseits die Rezeption der Topoi sogar parodistische Züge annehmen kann. Nach Renzos traumatischen Erlebnissen in Mailand, wo er statt das von Fra Cristoforo genannte Kloster aufzusuchen mitten in die Aufstände gegen die horrenden Brotpreise und die Lynchattacke der wütenden Bevölkerung gegen den Provisionsverwalter gerät und fälschlicherweise als Rädelsführer verhaftet wird, befindet er sich nach der geglückten Flucht aus den Fängen der Justiz auf dem Weg ins Bergamaskische zu seinem Vetter. Nachdem er in einem Wirtshaus in Gorgonzola Rast gemacht hatte, ihm die Angst entdeckt zu werden 668 Gendrat-Claudel, Le paysage, S. 224. 669 Das an die Szene anschließende neue Kapitel öffnet mit dem ›Erwachen‹ Lucias: »L’urtar che fece la barca contro la proda, scosse Lucia, la quale, dopo aver asciugate in segreto le lacrime, alzk la testa, come se si svegliasse.« (PS 1840, S. 165)

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aber keine Ruhe lässt, macht er sich auf den Weg durch die finstere Nacht – der Kirchturm schlägt Mitternacht, als er das Dorf verlässt – in der Hoffnung bald die Adda überqueren und so die Grenze zum Bergamaskischen passieren zu können. Die bekannte Szene, in der Renzo zunächst in einen dunklen Wald gerät, von Angst und Müdigkeit fast überwältigt wird, sich dann aber doch besinnt, plötzlich das Rauschen der ersehnten Adda vernimmt und eine ihm, wie er sagt, von der Vorsehung geschenkte Hütte zur Übernachtung findet, gilt der Forschung, insbesondere der auf erbaulich-didaktische Intentionen abzielenden, als eine der Schlüsselszenen des Romans.670 Die hohe Symbolträchtigkeit der Szene, des erlösenden strohbedeckten Nachtlagers und dem schließlichen Vertrauen in die Allmacht Gottes, ist jedoch wie in allen Fällen solcher mythisch geladenen Bilder im Roman mit Vorsicht zu betrachten. Dass sich in der Szene noch weitere Bedeutungsschichten verbergen, zeigen nicht zuletzt die beiden Landschaftsszenen, die Renzos Übernachtung umrahmen. Beide Szenen fügt Manzoni erst in die Version der Promessi Sposi ein. Sowohl der angsteinflößende, dunkle Wald, in den er eintritt, bevor er endlich das Rauschen der Adda wahrnimmt, als auch die kontrastierende heitere Morgenlandschaft mit dem einzigartigen lombardischen Himmel werden, bezogen auf Renzos Überlegungen und Schlüsse in der Hütte, allgemeinhin als Allegorien auf die Wirkungskraft der Divina Provvidenza gelesen.671 In dem Moment, als der völlig erschöpfte Renzo sich ganz in dem feindlichen, dunklen Wald zu verirren drohe, lasse ihn die Vorsehung zunächst das Rauschen des Flusses gewahr werden und ihn sich dann der auf dem Weg gesehenen Hütte erinnern. Der verheißungsvolle Morgenhimmel dagegen veranschauliche die Wende zum Guten von Renzos Geschicken nach den nächtlichen Begebenheiten.672 Bei genauerer Betrachtung erweisen

670 So z. B. Angelini, Capitoli sul Manzoni, S. 241–247. Für B/rberi Squarotti stellen Renzos Rekapitulationen des Erlebten in dieser Nacht ein Schlüsselerlebnis innerhalb seiner moralischen Entwicklung dar : »La sublimit/ antifrastica del personaggio si rivela nella crisi etica che egli attraversa nella notte sulle rive dell’Adda.« (Il romanzo contro la storia. Studi sui Promessi Sposi (Letteratura e Cultura dell’Italia unita. 12), Milano, Vita e Pensiero, 1980, S. 47) 671 Eine solche Deutung liefert z. B. Ferrucci, der in der Szene eine zentrale Station innerhalb Renzos Entwicklung hin zum Glauben an die Allmacht der Divina Provvidenza erkennt: »ð molto evidente che stiamo assistendo a un’altra forzatura in senso ›provvidenziale‹ di tutto l’episodo: anche qui troviamo la parabola dalle tenebre alla luce dell’alba, connesso all’altro tema dell’acqua, chiaro simbolo cristiano di purificazione e di speranza.« (»Il giardino di Renzo«, S. 77) Zum ironischen Gehalt der Szene von Renzos Übernachtung, die eine der wenigen darstellt, in denen sich der Erzähler selbst statt seiner Figuren über die Divina Provvidenza äußert, vgl. demgegenüber z. B. Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 113f. 672 Vgl. zu dieser Lesart z. B. Renzo Negri, »I Promessi Sposi«, in: Manzoni. Cent’anni dopo, Provincia di Milano, 1974, S. 189–218, bes. S. 211f.

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sich die beiden Landschaftsdarstellungen jedoch als komplexer, als auf den ersten Blick erkennbar ist.673 Während Renzo bei seiner nächtlichen Flucht vergeblich nach dem erhofften Rauschen der Adda lauscht, wird die Natur um ihn herum immer verlassener und wilder : La noia del viaggio veniva accresciuta dalla salvatichezza del luogo, da quel non veder piF nH un gelso, nH una vite, nH altri segni di coltura umana, che prima pareva quasi che gli facessero una mezza compagnia. (PS 1840, S. 328)

Seine Phantasie beginnt sich zu verselbstständigen und schaurige Erinnerungen steigen aus seinem Unterbewusstsein empor, die er zunächst durch lautes Beten zu unterdrücken sucht: […] siccome nella sua mente cominciavano a suscitarsi certe immagini, certe apparizioni, lasciatevi in serbo dalle novelle sentite raccontar da bambino, cos', per discacciarle, o per acquietarle, recitava, camminando, dell’orazioni per i morti. (Ebd.)

Als jedoch die Widerspenstigkeit der Vegetation immer weiter zunimmt und Renzo sich plötzlich in einem finsteren Wald wiederfindet – schon in der berühmten Eingangsszene der Divina Commedia und generell in der Zeit vor der Befriedung der Wälder, in der die Handlung ja spielt, der bevorzugte Schauplatz des locus terribilis – übermannen ihn seine Sinne vollends: A poco a poco, si trovk tra macchie piF alte, di pruni, di quercioli, di marruche. Seguitando a andare avanti, e allungando il passo, con piF impazienza che voglia, comincik a veder tra le macchie qualche albero sparso; e andando ancora, sempre per lo stesso sentiero, s’accorse d’entrare in un bosco. Provava un certo ribrezzo a inoltrarvisi; ma lo vinse, e contro voglia andk avanti; ma piF che s’inoltrava, piF il ribrezzo cresceva, piF ogni cosa gli dava fastidio. Gli alberi che vedeva in lontananza, gli rappresentavan figure strane, deformi, mostruose; l’annoiava l’ombra delle cime leggermente agitate, che tremolava sul sentiero illuminato qua e l/ dalla luna; lo stesso scrosciar delle foglie secche che calpestava o moveva camminando, aveva per il suo orecchio un non so che d’odioso. Le gambe provavano come una smania, un impulso di corsa, e nello stesso tempo pareva che durassero fatica a regger la persona. Sentiva la brezza notturna batter piF rigida e maligna sulla fronte e sulle gote; se la sentiva scorrer tra i panni e le carni, e raggrinzarle, e penetrar piF acuta nelle ossa rotte dalla stanchezza, e spegnervi quell’ultimo rimasuglio di vigore. (Ebd., S. 329)

Der Schrecken, den Renzo in dem nächtlichen Wald empfindet, entspricht ganz der Ästhetik des locus terribilis. Das anfängliche seltsame Unbehagen (»un certo 673 Angelo Marchese konstatiert zwar die Unzulänglichkeit der Providenz-Interpretation und betont stattdessen »la variet/ dei codici sottesi a questo momento cruciale del racconto.« Letztlich sieht aber auch er im plötzlich vernehmbaren Rauschen der Adda ein hoffnungsvolles Zeichen für die Hilfe Gottes. (Come sono fatti I Promessi Sposi. Guida narratologica al romanzo, Milano, Mondadori, 1986, S. 140f.)

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ribrezzo«) steigert sich in die verschiedensten Formen physischer und psychischer Not, von Überdruss, Erschöpfung und Kälte über Ekel und Abscheu bis hin zur Einschränkung seines Urteilsvermögens: In der Wahrnehmung des geschwächten Wanderers, aus dessen Perspektive sich die gesamte Naturszenerie entfaltet, erscheinen die weiter entfernten Bäume als seltsam deformierte Gestalten, wobei die Klimax der Adjektive Renzos zunehmende Erregung nachzeichnet (»figure strane, deformi, mostruose«).674 Auffällig an der Beschreibung ist darüber hinaus, dass das Wesen des Schreckens zwar einerseits verunklart und dadurch gesteigert wird (»un non so che d’odioso«), gleichzeitig aber keine tatsächliche atmosphärische Dichte, keine Stimmung des Schaurigen aufkommt, wozu die von Renzo wahrgenommenen Bilder durch den Erzähler sanktioniert werden müssten.675 Die Passage entwirft keine Stimmungslandschaft vor dem Auge des Lesers, sondern thematisiert von Beginn an die Grenzen und Möglichkeiten der Selbstverfügung und Selbsterhaltung des Protagonisten. Der Eintritt in den Wald erfolgt zunächst passiv (»s’accorse d’entrare in un bosco«), das dadurch ausgelöste Unbehagen überwindet er jedoch aktiv (»ma lo vinse«), um auf dem weiteren Weg scheinbar wieder in den Sog des Waldes zu geraten (»contro voglia andk avanti«). Dieses Gefälle zwischen Selbstverfügung und Fremdbestimmung überträgt sich ganz konkret auf das Physische, wenn es heißt, die Beine fühlten eine bestimmte Unruhe (»come una smania«), einen Impuls wegzulaufen, schienen aber im gleichen Moment Mühe zu haben, den Erschöpften auch nur zu tragen. Vor dem Schauplatz des locus terribilis inszeniert Manzoni damit in der überarbeiteten Fassung die Frage nach der Autonomie der Figuren angesichts der geschichtlichen Ereignisse, die für den gesamten Roman und das Geschichtsverständnis, das er entwirft, zentral ist. Die Hinterfragung der Bewältigungsstrategien des rationalen Subjekts durch die schreckliche Landschaft korrespondiert mit Burkes Ästhetik des Erhabenen und ihren »passions belonging to self-preservation«676, an die Renzos Seelenzustand denken lässt. Als die Gefahr ihren Höhepunkt erreicht, die letzte Kraft zu schwinden scheint und die Bedrohung damit akut wird, mobilisieren sich plötzlich die ungeahnten Kräfte der Selbsterhaltung, »the strongest of all the passions«677: 674 Ein Vergleich der 1827er- und der 1840er-Fassung zeigt, dass Manzoni bestimmte Gestaltungselemente in der Überarbeitung noch stärker ausgefeilt hat. So heißt es z. B. an dieser Stelle in der früheren Fassung noch: »aspetti strani, deformi, mirabili«, worin also das schaurig-phantastische Element von »mostruose« noch nicht enthalten ist (PS 1827, S. 350). 675 Gian Paolo Marchi stellt ähnlich hierzu einen »rifiuto dell’emozione di Rousseau« in dieser Passage fest. (»Un ›Robinson svizzero‹ sulle rive dell’Adda. Capitoli XVI–XVII«, in: Paola Fandella / Giuseppe Langella / Pierantonio Frare (Hrsg.), »Questo matrimonio non s’ha da fare…« Lettura de I promessi sposi, Milano, Vita e pensiero, 22011 (12005), S. 69–80, hier S. 72) 676 Burke, Enquiry, S. 85. 677 Ebd.

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A un certo punto, quell’uggia, quell’orrore indefinito con cui l’animo combatteva da qualche tempo, parve che a un tratto lo soverchiasse. Era per perdersi affatto; ma atterrito, piF che d’ogni altra cosa, del suo terrore, richiamk al cuore gli antichi spiriti, e gli comandk che reggesse. Cos' rinfrancato un momento, si fermk su due piedi a deliberare; e risolveva d’uscir subito di l' per la strada gi/ fatta, d’andar diritto all’ultimo paese per cui era passato, di tornar tra gli uomini, e di cercare un ricovero, anche all’osteria. E stando cos' fermo, sospeso il fruscio de’ piedi nel fogliame, tutto tacendo d’intorno a lui, comincik a sentire un rumore, un mormor&o, un mormor&o d’acqua corrente. Sta in orecchi; n’H certo; esclama: »H l’Adda!« (PS 1840, S. 329)

Das Verb combattere veranschaulicht hier noch einmal den Kampf, das heißt die Zerrissenheit zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, die die Erfahrung des locus terribilis ins Bild setzt, bevor Renzo plötzlich in einer Art Schock seine eigene Angst erkennt und wieder Herr über sich selbst wird. Die bösen Geister sind verjagt und die rationalen Fähigkeiten kehren zurück, wie der Erzähler einige Zeilen weiter explizit hervorhebt: »Percik si mise a consultar tra sH, molto a sangue freddo, sul partito da prendere.« (Ebd., S. 330) Anders als in Fermo e Lucia, wo ein Baum als Ruhestätte ausreichen muss, entscheidet sich Renzo gegen diese Möglichkeit und erinnert sich an die auf dem Weg entdeckte Hütte. Das Deutungsmuster der Divina Provvidenza als Rettung des im dunklen Wald Verirrten, für das einige oberflächliche Markierungen in die Episode um Renzos Reise entlang der Adda eingestreut sind, wird von der Frage der Selbstbewahrung des Subjekts in der schrecklichen Landschaft subtil unterlaufen. Während Renzo anfänglich noch versuchen kann, die negativen Empfindungen durch lautes Beten fernzuhalten, ist sein Erlebnis innerhalb des Wirkungskreises des locus terribilis frei von jeder religiös-moralischen Komponente. »Quel’orrore indefinito«, mit dem er dort kämpft, zielt vielmehr auf die Kompetenzen des Individuums im Angesicht unbestimmter Ängste und der Empfindung von Fremdbestimmtheit ab, wie es auch Burkes Konzeption des Erhabenen gegenüber früheren Theorien kennzeichnet.678 Ebenso verbergen sich in der Morgenlandschaft nach Renzos durchwachter Nacht weitere Bedeutungsschichten und Hinweise auf Manzonis Umgang mit den romantischen Landschaftstopoi. Renzo lässt die quälenden Gedanken der Nacht zurück und macht sich auf den Weg zur Adda, den er nachts noch gefunden hatte: Il cielo prometteva una bella giornata: la luna, in un canto, pallida e senza raggio, pure spiccava nel campo immenso d’un bigio ceruleo, che, giF giF verso l’oriente, s’andava sfumando leggermente in un giallo roseo. PiF giF, all’orizzonte, si stendevano, a lunghe falde ineguali, poche nuvole, tra l’azzurro e il bruno, le piF basse orlate al di sotto d’una 678 Zu Burkes Herauslösung des Sublimen aus seinem engeren teleologisch-theologischen Kontext und der Verlagerung des Interesses auf Fragen der Selbstbestimmung eines sich zunehmend rational definierenden Subjekts vgl. Bernsen, Angst und Schrecken, S. 87ff.

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striscia quasi di fuoco, che di mano in mano si faceva piF viva e tagliente: da mezzogiorno, altre nuvole ravvolte insieme, leggieri e soffici, per dir cos', s’andavan lumeggiando di mille colori senza nome: quel cielo di Lombardia, cos' bello quand’H bello, cos' splendido, cos' in pace. (Ebd., S. 333)

Die Darstellung des lombardischen Himmels stellt ein – im ursprünglichen Sinn des Wortes pittoreskes, malerisches Naturtableau par excellence dar. Es entspricht der originalen Bedeutung, »[t]he Picturesque […] taken in its most fundamental sense«, wie Price es definiert: »There is the typical picturesque preference for the composed view from a low point to a spectacular but sprawling vista, and there is the picturesque celebration of clouds.«679 Manzoni fügt auch diese Szene erst in die Promessi Sposi-Version ein, in Fermo e Lucia fehlt die Passage von Renzos zweitem Gang durch die jetzt heitere Landschaft völlig.680 Die Referenzen an das Malerische sind mehr als deutlich: Durch die gesamte Vertikale des Bildausschnitts, vom blassen morgendlichen Mond bis hinunter zum Horizont, entfalten sich die typischen Farb- und Lichteffekte, die sogleich an die Leinwand des Landschaftsmalers denken lassen. Schaut man sich die Darstellung ganz genau an, gewinnen die konventionellen Stilisierungsmechanismen sogar etwas zu stark an Kontur. Ausgehend von »la luna, in un canto« als Eröffnungselement des Tableaus fehlt es nicht an Markierungen der Tiefenperspektive: »giF giF«, »[p]iF giF, all’orizzonte«; selbst die tiefsten Wolken bringen in sich noch einmal diesen Effekt hervor: »le piF basse orlate al di sotto d’una striscia…« (Hervorhebungen hier wie im Folgenden v. Vf.). Die Himmelsrichtungen (»verso l’oriente«, »da mezzogiorno«) öffnen das »campo immenso« schließlich auch in die Breite. Die Darstellung speist sich aus dem typischen Vokabular der deskriptiven, pittoresken Poesie, wie es im Zusammenhang mit Chateaubriands Naturbeschreibungen bereits als um die Jahrhundertwende konventionalisiert erkannt werden konnte.681 Das Vage, Unbestimmte, Reizvolle des malerisch Schönen ist äußerst stark markiert: »sfumando leggermente«, »a lunghe falde ineguali«, »poche nuvole«, »tra l’azzurro e il bruno«, »una striscia quasi di fuoco«, »altre nuvole ravvolte insieme«, »leggieri e soffici« sowie abschließend mit der typischen hyperbolischen Periphrase »lumeggiando di mille colori senza nome«. Der Vergleich mit der 1827er-Fassung zeigt nur einen einzigen Unterschied, der allerdings relevant für die semantische Ebene sein könnte. Während es dort nämlich zur Beschreibung des feuerroten Streifens am Horizont noch heißt: »che ad ora ad ora si faceva piF viva e ta679 Price, »The Picturesque Moment«, S. 266. 680 Dort heißt es lediglich: »Finalmente, quando la luce comincik a dar forma e colore alle cose, Fermo guardando attentamente al fiume, vide un pescatore che costeggiava la sponda, e che slegava un battello […]« (FL, S. 584) 681 Vgl. oben, Kap. 3.1.3.1, sowie Munsters, La po8tique du pittoresque.

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gliente« (PS 1827, S. 355), evoziert Manzoni hier mit »di mano in mano« zusätzlich noch die Hand des Malers, der den Streifen peu / peu schärfer hervortreten lässt. Dass er mit der Darstellung bewusst auf Gemeinplätze rekurriert, geht schließlich nicht nur aus der extremen Häufung der typischen Beschreibungselemente hervor, sondern auch aus der eingeschobenen Kommentierung »per dir cos'«. Hierin offenbart sich nicht nur eine Markierung des Wahrnehmungsvorgangs, der ganz offensichtlich dem Erzähler und nicht dem Protagonisten obliegt, sondern auch eine weitere metatextuelle Distanzierung von der Darstellung. Durch den ganz gezielten Einschub der Wendung, die die Übertragung einer Bedeutung signalisiert, wird der Stilisierungsprozess ganz offen eingestanden. Hierin verbirgt sich, zunächst noch zaghaft, wieder Manzonis typsicher ironischer Stil. Im abschließenden Kommentar wird dieser dann jedoch ganz augenfällig. Das neutralere »Il cielo« zu Beginn der Beschreibung mündet in die emphatische Erklärung: »Quel cielo di Lombardia, cos' bello, quando H bello, cos' splendido, cos' in pace.«682 Das Demonstrativpronomen erinnert an die Eingangsbeschreibung des Romans (»Quel ramo del lago di Como…«), auf die im Folgenden noch einzugehen ist. Zusammen mit der lakonischen Auskunft über die nur momentane Schönheit des Himmels wird der Leser wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und gleichzeitig in eine Art Komplizenschaft zum Erzähler versetzt, die sich auch schon in den oben besprochenen Szenen gefunden hatte. Wenn sich der Erzähler im Anschluss an das Landschaftstableau schließlich wieder Renzo widmet, bestätigen sich die Zweifel an den unschuldigen Beweggründen des malerischen Exkurses: Se Renzo si fosse trovato l' andando a spasso, certo avrebbe guardato in su, e ammirato quell’albeggiare cos' diverso da quello ch’era solito vedere ne’suoi monti; ma badava alla sua strada, e camminava a passi lunghi, per riscaldarsi, e per arrivar presto. Passa i campi, passa la sodaglia, passa le macchie, attraversa il bosco, guardando in qua e in l/, e ridendo e vergognandosi nello stesso tempo, del ribrezzo che vi aveva provato poche ore prima; H sul ciglio della riva, guarda giF; e, di tra i rami, vede una barchetta di pescatore, che veniva adagio, contr’acqua, radendo quella sponda. (Ebd.)

Wäre Renzo zum Spaß unterwegs gewesen, hätte er natürlich einen Blick auf das Himmelsschauspiel geworfen. Der ganz mit sich selbst und seiner aufgewühlten Gemütslage beschäftigte Protagonist (»ridendo e vergognandosi nello stesso tempo«) muss sich jedoch auf seinen Weg konzentrieren (»badava alla sua strada«), so dass seine Blicke allenfalls aufgeregt hin und her springen (»guar682 Vertreter der traditionellen Lesart werten dagegen den Hinweis auf die Friedlichkeit des Himmels als Bestätigung für ihre Deutung der Szene als Allegorie der göttlichen Vorsehung, die Renzos Geschicke zum Guten gewendet habe. Vgl. stellvertretend Umberto Colombo, »Le albe nei Promessi Sposi«, in: Manzoni / Grossi, S. 15–36, hier S. 23.

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dando in qua e in l/«). Der eindrucksvolle lombardische Himmel muss daher unbeachtet auf dem Weg des Reisenden zurückgelassen werden. Betrachtet man die dargelegte Fülle der Stilisierungsmechanismen in Kombination mit den eingestreuten Erzählerkommentaren, wird der parodistische Zug der Landschaftsbeschreibung überdeutlich. Manzoni beantwortet die Frage nach einem möglichen Einklang zwischen Mensch und Natur, der in den frühen Korrespondenzlandschaften der Romantik noch heraufbeschwört wird, in seiner ganz eigenen Weise. Die Annullierung des Betrachtungsvorgangs, das »effacement de l’observateur«, das auch Gendrat-Claudel anhand der Szene beobachtet683 und das zudem sowohl in der Herbstlandschaft, als auch in der Addio ai monti-Szene beobachtet wurde, stellt nur ein Beispiel für seinen Umgang mit den tradierten Modellen der Landschaftsdarstellung dar. Während er einerseits zeigt, dass er die entsprechenden Techniken gekonnt umzusetzen weiß, spickt er seine Beschreibungen andererseits an den entscheidenden Stellen mit ironisch distanzierenden Erzählerkommentaren. Beide Aspekte stellen, wie durch den Vergleich gezeigt werden konnte, erst Anliegen der Überarbeitungen der endgültigen Fassung dar. In dieser wird das correspondance-Paradigma gewissermaßen vorgeführt, um es im gleichen Moment zu konterkarieren und zu de-auratisieren. Die Möglichkeiten der Selbstvergewisserung und des Erprobens der individuellen Wahrnehmungskapazitäten, die das Thema der romantischen Landschaftserfahrung darstellen, werden in den Promessi Sposi nicht mehr eingeräumt, sondern vielmehr auf spielerische Weise dissoziiert und teilweise humorvoll umgedeutet. Die Inszenierung dieses Autonomieverlusts ist darüber hinaus auch Ziel der Szene um den locus terribilis, die, konzipiert nach dem Schema der Burke’schen Ästhetik des Erhabenen, Fragen nach den Bewältigungsmechanismen des rationalen Subjekts in einer als übermächtig empfundenen Natur aufwirft. Der bisherige Stand der Analysen lässt die Schlussfolgerung zu, dass Manzonis Umgang mit den konventionellen Methoden der zeitgenössischen Landschaftsdarstellung zum einen bereits auf die Verzerrung romantischer Klischees verweist, wie sie besonders in der französischen Literatur der Jahrhundertmitte produktiv war, der Manzoni bekanntlich nahe stand.684 Darüber hinaus sind seine romantischen Landschaften Teil der Parodie einfacher Formen und überkommener Darstellungsmethoden, die für den gesamten Roman kennzeichnend ist. Für die Hinterfragung solcher Modelle bedient sich Manzoni der Ästhetik des Pittoresken. In welcher Weise dies geschieht, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

683 Gendrat-Claudel, Le paysage, S. 232. 684 Auf Manzonis größere Nähe zur französischen statt zur italienischen Literatur der Zeit weist z. B. Küpper hin. Vgl. »Ironisierung der Fiktion«, S. 134.

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3.3.3 Das große Landschaftstableau des Romans: »Quel ramo del lago di Como…« Die berühmte Eingangsszene der Promessi Sposi, das fulminante Landschaftstableau des Comer Sees, seiner umliegenden Berge und des kleinen Dorfes Lecco hat von jeher die Leser des Romans in Faszination und Grübeln versetzt. Schon immer war Interpreten klar, dass sich hierin ein Schlüssel für das Verständnis des Romans und Manzonis Gedankenwelt verbergen müsse. Umfang, Detailreichtum, aber vor allem die Position der Darstellung, die vor dem Einsetzen der Handlung deren Schauplatz ganz genau beschreibt, sind die Gründe dieser Folgerung. Fast wie mit dem Auge einer Kamera lasse der Erzähler den Blick des Lesers über die Landschaft fliegen, bevor er ihn schließlich nach circa drei Seiten Beschreibung auf Don Abbondio fokussiert, mit dessen Spaziergang durch die Landschaft die Handlung beginnt.685 Betrachtet man die Landschaftsdarstellung jedoch genauer, zeigt sich, dass sie in ganz besonderer und paradigmatischer Art und Weise ein epistemologisches Modell entwirft, vor dessen Hintergrund der gesamte Roman deutbar ist. Aufgrund dieser Schlüsselfunktion steht die Szene im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses und wird gegenüber der ebenfalls berühmten vigna-Szene bevorzugt, die das zweite paradigmatische Landschaftstableau des Romans darstellt. Die Beschreibung des Weinbergs greift bestimmte Kompositionsmechanismen der Eingangslandschaft wieder auf, die in dieser jedoch weitaus differenzierter realisiert werden. Auf ihren charakteristischen Umgang mit verschiedenen epistemologischen Modellen, der für unsere Fragestellung von Interesse ist, soll dagegen zum Ende der Untersuchungen kurz eingegangen werden. Die Komplexität der Eingangsszene erfordert hier nun zunächst, sie vorab im Ganzen wiederzugeben: Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un promontorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte; e il ponte, che ivi congiunge le due rive, par che renda ancor piF sensibile all’occhio questa trasformazione, e segni il punto in cui il lago cessa, e l’Adda rincomincia, per ripigliar poi nome di lago dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni. La costiera, formata dal deposito di tre grossi torrenti, scende appoggiata a due monti contigui, l’uno detto di san Martino, l’altro, con voce lombarda, il Resegone, dai molti suoi cocuzzoli in fila, che in vero lo fanno somigliare a una sega: talchH non H chi, al primo vederlo, purchH sia di fronte, come per esempio di su le mura di Milano che 685 Vgl. Umberto Eco, »Semiosi naturale e parola nei Promessi sposi«, in: Giovanni Manetti (Hrsg.), Leggere I Promessi Sposi (Strumenti Bompiani), Milano, Fabbri, 1989, S. 1–16, hier S. 6f.

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guardano a settentrione, non lo discerna tosto, a un tal contrassegno, in quella lunga e vasta giogaia, dagli altri monti di nome piF oscuro e di forma piF comune. Per un buon pezzo, la costa sale con un pend'o lento e continuo; poi si rompe in poggi e in valloncelli, in erte e in ispianate, secondo l’ossatura de’ due monti, e il lavoro dell’acque. Il lembo estremo, tagliato dalle foci de’ torrenti, H quasi tutto ghiaia e ciottoloni; il resto, campi e vigne, sparse di terre, di ville, di casali; in qualche parte boschi, che si prolungano su per la montagna. Lecco, la principale di quelle terre, e che d/ nome al territorio, giace poco discosto dal ponte, alla riva del lago, anzi viene in parte a trovarsi nel lago stesso, quando questo ingrossa: un gran borgo al giorno d’oggi, e che s’incammina a diventar citt/. Ai tempi in cui accaddero i fatti che prendiamo a raccontare, quel borgo, gi/ considerabile, era anche un castello, e aveva percik l’onore d’alloggiare un comandante, e il vantaggio di possedere una stabile guarnigione di soldati spagnoli, che insegnavan la modestia alle fanciulle e alle donne del paese, accarezzavan di tempo in tempo le spalle a qualche marito, a qualche padre; e sul finir dell’estate, non mancavan mai di spandersi nelle vigne, per diradar l’uve, e alleggerire a’ contadini le fatiche della vendemmia. Dall’una all’altra di quelle terre, dall’alture alla riva, da un poggio all’altro, correvano, e corrono tuttavia, strade e stradette, piF o men ripide, o piane; ogni tanto affondate, sepolte tra due muri, donde, alzando lo sguardo, non iscoprite che un pezzo di cielo e qualche vetta di monte; ogni tanto elevate su terrapieni aperti: e da qui la vista spazia per prospetti piF o meno estesi, ma ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi, secondo che i diversi punti piglian piF o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda. Dove un pezzo, dove un altro, dove una lunga distesa di quel vasto e variato specchio dell’acqua; di qua lago, chiuso all’estremit/ o piuttosto smarrito in un gruppo, in un andirivieni di montagne, e di mano in mano piF allargato tra altri monti che si spiegano, a uno a uno, allo sguardo, e che l’acqua riflette capovolti, co’ paesetti posti sulle rive; di l/ braccio di fiume, poi lago, poi fiume ancora, che va a perdersi in lucido serpeggiamento pur tra’ monti che l’accompagnano, degradando via via, e perdendosi quasi anch’essi nell’orizzonte. Il luogo stesso da dove contemplate que’ vari spettacoli, vi fa spettacolo da ogni parte: il monte di cui passeggiate le falde, vi svolge, al di sopra, d’intorno, le sue cime e le balze, distinte, rilevate, mutabili quasi a ogni passo, aprendosi e contornandosi in gioghi cik che v’era sembrato prima un sol giogo, e comparendo in vetta cik che poco innanzi vi si rappresentava sulla costa: e l’ameno, il domestico di quelle falde tempera gradevolmente il selvaggio, e orna vie piF il magnifico dell’altre vedute. (PS 1840, S. 9ff.)

Wie oben dargelegt herrscht bis heute in der Forschung bis auf wenige Ausnahmen der Konsens, die Landschaft inszeniere den Schauplatz der idyllischen Heimat und des einfachen und beschaulichen Lebens der Protagonisten, das dann mit dem Einbruch der geschichtlichen Ereignisse wie der Unterdrückung durch die Mächtigen, der Hungersnot, dem Krieg und der Pest ein jähes Ende nehme.686 Indem die Elemente der Landschaft als Fixpunkte im Lauf des Romans

686 Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen (älteren) Forschungspositionen

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immer wieder auftauchten, akzentuierten sie so die Grundstruktur des Romans, die in der Kontrastierung des ursprünglichen, Gott zugewandten Lebens im Schoß der Natur und dem unaufhaltbaren Lauf der Geschichte und der Vertreibung aus diesem Idyll bestehe.687 Ein Vergleich mit den englischen Schriften zum Pittoresken soll hier jedoch offenlegen, inwiefern Manzonis viel diskutiertes Eingangstableau konsequent der pittoresken Ästhetik folgt bzw. dessen erkenntniskritischen Gehalt sogar noch weiterentwickelt. Interessanterweise ist dies sowohl in der Version aus Fermo e Lucia als auch – und zwar in signifikant abgewandelter Form – in der Version der Promessi Sposi der Fall. Ein Vergleich der Fassungen im Zusammenhang mit dem Pittoresken kann daher neue Einsichten in das vielbesprochene Thema eröffnen.

3.3.3.1 Das Pittoreske im Eingangstableau von Fermo e Lucia und den Promessi Sposi Während sich die 1840er- von der 1827er-Fassung nur durch einige, für unsere Fragestellung nicht relevante lexikalische Änderungen abhebt, fällt im Vergleich zu Fermo e Lucia sogleich die größere Länge und Ausführlichkeit dieser Fassung auf. Die jüngere Version ist im Ganzen etwas komprimierter, viele ihrer Elemente kommen auch bereits in der älteren Version vor, jedoch werden dort noch einige weitere Aspekte der Landschaft beschrieben.688 Dabei fällt auf, dass Manzoni schon hier gemäß der Prinzipien variety und contrast operiert: Wasserlandschaft, Berge, Vegetation und auch einzelne Elemente des Bildes sind nach diesen Idealen konzipiert. Ähnlich wie in der endgültigen Fassung verengt der Seitenarm des Sees sich plötzlich, »tutto ad un tratto«, zur Adda, und zwar »dopo aver formati varj seni e per cos' dire piccioli golfi d’ineguale grandezza«; auf der einen Seite des Flusses befindet sich der imposante und zerklüftete Berg San Michele, [m]a dall’opposto lato il ponte H appoggiato al lembo di una riviera che scende verso il lago con un molle pendio, sul quale per lungo tratto il passaggero puk quasi credere di scorrere una perfetta pianura. (FL, S. 23) findet sich auch bei Giorgio Orelli, »›Quel ramo del lago di Como…‹«, in: Paragone Letteratura 24 (1973), H. 286, S. 47–65, bes. S. 47–50. 687 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung, deren Weichen die Eingangslandschaft bereits stelle, vor allem Stassi, »La natura nei Promessi Sposi«, S. 15ff. und S. 38ff. 688 Ein ausführlicher Vergleich der Versionen findet sich ebenfalls bei Orelli, »›Quel ramo del lago di Como…‹«, bes. S. 50–63. Auch er beobachtet in der letzten Fassung die größere Klarheit gegenüber der früheren, die die poetische und rhythmische Kraft der Beschreibung intensiviere und damit die metaphysische Dimension der Landschaft bis zur Perfektion hervorhebe. Unter den jüngeren Arbeiten, die die Frage der Perspektive thematisieren, bietet Clarice Godt einen Vergleich der Fassungen. (The Mobile Spectacle, S. 1–27)

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Die gesamte Beschreibung ist durchzogen von der für das Pittoreske typischen Mischung aus wilden und anmutigen, kultivierten Landschaftszügen. Der Kontrast dominiert die Szene der Fermo e Lucia-Fassung, wobei beide Bereiche sich aber auch auf harmonische Weise verbinden: Dove perk la mano dell’uomo ha potuto portare una piF fruttifera coltivazione fino presso alle vette, non ha lasciato di farlo, e si vedono di tratto in tratto dei piccioli vigneti posti su un rapido pendio, e che terminano col nudo sasso del comignolo. (Ebd., S. 25)

Kleine Häuschen und Straßen sind über die Hügel verteilt, keiner bestimmten Ordnung folgend, nur eben reizvolle Kontraste bewirkend, was durch die bereits bekannten sprachlichen Mittel evoziert wird: Dall’una all’altra di queste terre, dalle montagne al lago, da una montagna all’altra corrono molte stradicciuole ora erte, ora dolcemente pendenti, ora piane, chiuse per lo piF da muri fatti di grossi ciottoloni, e coperti qu/ e l/ di antiche edere le quali, dopo aver colle barbe divorato il cemento, ficcano le barbe stesse fra un sasso e l’altro, e servono esse di cemento al muro che tutto nascondono. (Ebd.; Hervorhebungen v. Vf. wie im Folgenden)

Die Konstruktionen »ora…ora…«, »qu/ e l/« organisieren hier die Bildelemente, ebenso wie auch »di tratto in tratto«, »in parte…in parte…«, »altri…altri…«, »di tempo in tempo« in anderen Abschnitten der Szene. Zudem verwächst hier die urwüchsige Natur mit den menschlichen Erzeugnissen, die deren Kraft nicht standhalten können – typisches »picturesque moment«689 durch die Evokation von Wandel und Verfall –, schafft jedoch gerade dadurch das Reizvolle und Besondere des Landschaftselements. Dies gilt für die gesamte Beschreibung, die gänzlich auf ästhetisches Vergnügen für den Betrachter hin ausgerichtet ist und demgemäß in das abschließende R8sum8 mündet: La giacitura della riviera, i contorni, e le viste lontane, tutto concorre a renderlo un paese che chiamerei uno dei piF belli del mondo, se avendovi passata una gran parte della infanzia e della puerizia, e le vacanze autunnali della prima giovinezza, non riflettessi che H impossibile dare un giudizio spassionato dei paesi a cui sono associate le memorie di quegli anni. (FL, S. 26)

Alle Bildelemente der Szene, von denen einige in diesem Schlusssatz noch einmal zusammenfassend aufgeführt werden, verbinden sich zu einer prachtvollen, schönen Landschaft. Der autobiographische Bezug, den diese Formulierung zudem ermöglicht, bewirkt zusammengenommen mit den Markierungen der lieblichen, anmutigen Landschaft (z. B. »dell’amenissimo piano«, FL, S. 26) besonders in der älteren Forschung immer wieder, die Szene, ähnlich wie das Addio ai monti, als Inszenierung eben jenes heimatlichen Idylls zu lesen, von 689 Vgl. Price, »The Picturesque Moment«, z. B. S. 280.

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dessen Abkommen der Roman dann berichtet. Diese Interpretation richtet sich nicht nur auf die Fermo e Lucia-Version, sondern auch auf die endgültige Fassung.690 Ein genauer Vergleich der beiden Szenen verdeutlicht jedoch ihre Verschiedenheit, vor allem im Hinblick auf die Betrachterrolle. Während diese in Fermo e Lucia noch maßgeblich zu der affektiven Dimension beiträgt, die die Idyll-Interpretation motiviert, wird der Betrachter der späteren Fassung in einer ganz neuen Weise inszeniert. Es liegt hierin eine erste wichtige Differenz zwischen den zwei Versionen in Bezug auf die Ästhetik des Pittoresken. In Fermo e Lucia ist der Vorgang der Betrachtung der Landschaft immer wieder deutlich markiert. Der Betrachter (»il passaggero«) bewegt sich durch die Landschaft und gelangt so zu unterschiedlichen Aussichtspunkten, wie es für die pittoreske Landschaft charakteristisch ist. Dabei fällt auf, dass die verschiedenen Ansichten genau auf seine potenziellen Wahrnehmungskapazitäten hin organisiert sind – anders als in der 1840er-Fassung. Dies kann bereits am Beginn der beiden Szenen veranschaulicht werden, wo in beiden Fällen die Verengung des Seitenarms zum Flusslauf beschrieben wird: Quel ramo del lago di Como d’onde esce l’Adda e che giace fra due catene non interrote di monti da settentrione a mezzogiorno, dopo aver formati varj seni e per cos' dire piccioli golfi d’ineguale grandezza, si viene tutto ad un tratto a ristringere; ivi il fluttuamento delle onde si cangia in un corso diretto e continuato di modo che dalla riva si puk per dir cos' segnare il punto dove il lago divien fiume. Il ponte che in quel luogo congiunge le due rive, rende ancor piF sensibile all’occhio ed all’orecchio questa trasformazione: poichH gli argini perpendicolari che lo fiancheggiano non lasciano venir le onde a battere sulla riva ma le avviano rapide sotto gli archi; e presso quegli argini uno puk quasi sentire il doppio e diverso romore dell’acqua, la quale qui viene a rompersi in piccioli cavalloni sull’arena, e a pochi passi tagliata dalle pile di macigno scorre sotto gli archi con uno strepito per cos' dire fluviale. (FL, S. 23)

Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un promontorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte; e il ponte, che ivi congiunge le due rive, par che renda ancor piF sensibile all’occhio questa trasformazione, e segni il punto in cui il lago cessa, e l’Adda rincomincia, per ripigliar poi nome di lago dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni. (PS 1840, S. 9)

690 Vgl. z. B. Getto, der das »quadro idilliaco« der Promessi Sposi-Szene als Raum formvollendeter Harmonie liest: »[…] questa pagina […] ha una sua suggestiva dinamica e insieme una sua sognante immobilit/, che le conferiscono l’impronta di uno spazio poetico. […] Tutto il romanzo tender/ a ricomporre quella perduta armonia, a ricondurre alla serenit/ di quell’orizzonte.« (Letture Manzoniane, S. 18f.)

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In Fermo e Lucia wird mit »dalla riva« der erste Beobachterstandpunkt für die Betrachtung der ersten Ansicht geliefert. Von dort ist es möglich, den genauen Punkt auszumachen, an dem der Wechsel zwischen See und Fluss stattfindet (»si puk […] segnare il punto«). Der Standpunkt ermöglicht einen guten Einblick in den Landschaftsausschnitt, verstärkt durch die Brücke, die sowohl visuelle als auch akustische Orientierung bietet. Der Betrachter erlebt insofern eine typisch pittoreske Landschaftserfahrung, als dass er einen partiellen Einblick in ein von roughness, variety, contrast und intricacy (»varj seni«, »golfi d’ineguale grandezza«, »il doppio e diverso romore dell’acqua«, »rompersi in piccioli cavalloni«) geprägtes prospect bekommt, indem er sich orientieren muss und das seine unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeiten konstant in Gang hält (z. B. »uno puk quasi sentire«, »a pochi passi«). In der Beschreibung der Promessi Sposi findet sich demgegenüber kein die Landschaft organisierendes Subjekt mehr : der Vorgang des »segnare« geht nicht mehr vom Betrachter, sondern von der Brücke selbst aus (»il ponte […] segni il punto«). Diese Objektivierung der Anordnung erleichtert den Wahrnehmungsvorgang jedoch nicht: Der durch »par che« ausgelöste Konjunktiv verunklart gleichzeitig nicht nur die Situierung der Brücke am Wechsel zwischen Fluss und See, sondern unterläuft auch die Annahme, die Brücke könne als Hilfe für den Erschließungsvorgang der Landschaft dienen. Die Art der Überarbeitung der Passage gibt hier schon erste wichtige Hinweise auf Manzonis Absichten. In Fermo e Lucia ist der Betrachter ganz mit der Erschließung der Landschaft beschäftigt, die zwar auf seine Wahrnehmungskapazitäten hin ausgelegt ist, ihn aber durch ihren Abwechslungsreichtum auch im Zustand eines »agreeable suspense«691 hält. In den Promessi Sposi gibt es dagegen keinen eindeutigen Beobachterstandpunkt. Indem der Erzähler im Anschluss an die zitierte Passage ein Beispiel für einen möglichen Standpunkt liefert (»come per esempio di su le mura di Milano« PS 1840, S. 10) betont er dies nur zusätzlich. Der Leser findet sich inmitten der Landschaft wieder, wobei Elemente, die scheinbar der Orientierung dienen könnten, eher Verwirrung bewirken. Neben der Beschreibung der Brücke zählen hierzu auch die Hinweise auf eine rechte und eine linke Seite (»tra un promontorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte«), wo es in Fermo e Lucia noch heißt: »Dalla parte che guarda a settentrione e che a quel punto si puk chiamare la riva destra dell’Adda…« (FL, S. 23) Das ordnende und benennende Subjekt der frühen Fassung ist in den Promessi Sposi einer Landschaft gewichen, die die Prinzipien von variety, contrast und intricacy auf eine neue Ebene hebt. Inwiefern die Beschreibung der Promessi Sposi wesentlich von den Kriterien der Bewegung und der Perspektivenvielfalt bestimmt ist, wurde ausführlich vor

691 Gilpin, Three Essays, S. 22.

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allem von Clarice Godt dargestellt. Der Vergleich der Versionen lässt sie konstatieren: The passage in I Promessi Sposi removes the relationship of cause and effect between the observer’s glance and the object, and thus emphasizing […] that which is incongruent and discontinuous.692

Tatsächlich ist für die gesamte Beschreibung aus Fermo e Lucia der Drang nach Ordnung, Erkenntnis und Aneignung des Gesehenen ausschlaggebend und vor allem realisierbar. In der zitierten Passage finden sich dafür bereits Beispiele in den modalen und kausalen Verknüpfungen (»di modo che«, »poichH«). Im weiteren Verlauf werden die rationalen Sinnbezüge noch auffälliger, wenn z. B. die historischen geologischen Prozesse als Voraussetzung für die Ansiedlung beschrieben werden (»Cos' il terreno che li divide ha potuto essere abitato e coltivato dagli uomini.« FL, S. 24). Derlei Bezüge und Erklärungen fehlen in der Szene der Promessi Sposi völlig. Dort, wo in jener Verknüpfungen hergestellt werden, um die Landschaft für den Verstand greifbar zu machen, betont diese den schnellen Wechsel von Formen und Perspektiven, worin ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen den beiden Versionen liegt. Statische Verben werden in den Promessi Sposi durch Bewegungsverben ersetzt (z. B. »volgere« statt »giacere« im ersten Satz) und die Beschreibung wird insgesamt so komprimiert, dass Kontraste in schnellem Wechsel aufeinander folgen (»tutto a seni e a golfi«). Diese Struktur ist für die gesamte Szene charakteristisch und geht schon aus dem zitierten Auszug hervor. Während in Fermo e Lucia verhältnismäßig aufwendig die Verengung des Wassers beschrieben wird, findet hier im Augenblick des kurzen Aufscheinens der Adda bereits schon wieder der Wechsel zum See statt: »[…] il punto in cui il lago cessa, e l’Adda rincomincia, per ripigliar poi nome di lago […]«. In Fermo e Lucia wird die erneute Ausdehnung der Ufer erst ganz am Ende der gesamten Szene beschrieben, wenn der Betrachter den Blick noch einmal in die Ferne schweifen lässt. In der überarbeiteten Fassung ist der Wechsel in einen einzigen Satz zusammengezogen, der zudem mit der Wiederholung des Bildes der »nuovi golfi e […] nuovi seni« endet. Deren wechselseitiges Vor- und Zurücktreten ist überhaupt erst für den abwechslungsreichen Flusslauf verantwortlich (»a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli«). Der schnelle Kontrast zwischen Seeflächen und sich schlängelndem Fluss wird gegen Ende der Szene noch einmal aufgegriffen und damit als Muster der Landschaft gefestigt: »[…] di l/ braccio di fiume, poi lago, poi fiume ancora, 692 Godt, The Mobile Spectacle, S. 17. Godt stellt jedoch keinen Bezug zum Pittoresken her. Zur Diskontinuität der Perspektiven und Konturen in der Szene vgl. auch Sergio Zatti, »Effetti di compensazione nello stile e nell’ideologia dei Promessi Sposi«, in: Italianistica 11 (1982), S. 213–226, hier S. 213f. Zatti beobachtet die gleichen Beschreibungskriterien, deutet diese jedoch als Manifestationen des Chaos, das es zu kompensieren gilt.

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che va a perdersi in lucido serpeggiamento.« (PS 1840, S. 10) Mit der wiederholten Hervorhebung der gewundenen, variantenreichen Wasserlandschaft, die hier im Bild der leuchtenden Schlangenlinie, die sich in der Ferne dem Blick entzieht, noch einmal konkretisiert wird (Vgl. FL: »una larga e lucida spira«), markiert der Erzähler das Pittoreske als Gestaltungsmodell der Ebene. Noch auffälliger ist diese Klassifizierung bei der Beschreibung der tiefen Berghänge und der weiten Gebirgslandschaft, endet doch die gesamte Landschaftsszene mit dem Fazit: »[…] l’ameno, il domestico di quelle falde tempera gradevolmente il selvaggio, e orna vie piF il magnifico dell’altre vedute.« (PS 1840, S. 11) Die Klassifizierung existiert noch nicht in der Fermo e Lucia-Fassung, wo das Zusammenspiel der beiden Landschaftstypen, des »domestico« und des »selvaggio«, eher auf breitem Raum entfaltet wird und letztlich das Schöne, Liebliche dominiert (»dell’amenissimo piano« FL, S. 26). Die Formulierung, die hier eindeutig die Topoi des locus terribilis, als typische Landschaftsform des Gebirges, und des locus amoenus, als typische Form der bewohnten Täler und domestizierten Felder, aufgreift und eine für das Auge angenehme, reizvolle Kombination evoziert, lässt keinen Zweifel daran, dass Manzoni hier explizit auf die Ästhetik des Pittoresken hinweist. Gegenüber Fermo e Lucia fällt allgemeinhin auf, dass die für das Pittoreske typischen Gestaltungsmerkmale in der ganzen Szene in so komprimierter Form auftreten, dass sie fast Signalcharakter annehmen: […] una riviera che scende verso il lago con un molle pendio, sul quale per lungo tratto il passaggero puk quasi credere di scorrere una perfetta pianura. (FL, S. 23)

Per un buon pezzo, la costa sale con un pend'o lento e continuo; poi si rompe in poggi e in valloncelli, in erte e in ispianate, secondo l’ossatura de’ due monti, e il lavoro dell’acque. (PS 1840, S. 10)

Die Verbindung von smoothness und roughness, deren Kombination laut Gilpin nötig ist, um pittoreske Kontraste zu erzeugen,693 findet in der jüngeren Fassung immer bereits innerhalb eines Satzes statt. Mit dem Verb rompere wird hier der reizvolle Bruch der glatten Oberfläche noch betont, welche im Gegensatz zu Fermo e Lucia ihre Funktion hauptsächlich darin zu haben scheint, den Kontrast zu erzeugen. Die anschließende asyndetische Aneinanderreihung von Hügeln und Tälern, Steigungen und Abhängen realisiert dann wiederum das gleiche Prinzip von schnellen Wechseln wie die oben betrachteten »golfi e seni«. Die wechselnden Formen werden in keinen Bezug zu einem wahrnehmenden Betrachter mehr gestellt, wie in Fermo e Lucia, sondern knapp den geographischen und geologischen Bedingungen unterstellt, womit wieder die gleiche Versach693 Vgl. oben, Kap. 2.2.2.1; außerdem Gilpin, Three Essays, S. 8f.

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lichung der Wahrnehmungskriterien stattfindet, wie sie oben bei der Beschreibung der Brücke beobachtet werden konnte. Auch hier verhilft sie keineswegs zur besseren Veranschaulichung. Die gesamte Beschreibung betont Kontraste und Gegensätze in schnellem Wechsel zueinander ohne sie perspektivisch zu ordnen. Der dynamische Effekt kann stellenweise durch fast elliptische Reihungen intensiviert werden: Il lembo della riviera che viene a morire nel lago H di nuda e grossa arena presso ai torrenti, e uliginoso negli intervalli, ma appena appena dove il terreno s’alza al di sopra delle escrescenze del lago e del traripamento della foce dei torrenti, ivi tutto H prati campagne e vigneti, e questo tratto d’ineguale lunghezza H in alcuni luoghi forse d’un miglio. (FL, S. 24)

Il lembo estremo, tagliato dalle foci de’ torrenti, H quasi tutto ghiaia e ciottoloni; il resto, campi e vigne, sparse di terre, di ville, die casali; in qualche parte boschi, che si prolungano su per la montagna. (PS 1840, S. 10)

Die Vielfalt und der Reichtum an Kontrasten, der in Fermo e Lucia auch bereits den Reiz der Landschaft ausmacht, wird dort noch ausführlich und perspektivisch ausgerichtet auf ein ordnendes Subjekt (»forse d’un miglio«) beschrieben. In den Promessi Sposi haben variety und contrast dagegen eine Art Selbstzweck erlangt. Sie bereichern nicht mehr so sehr den ästhetischen Wert der Landschaft, sondern werden vielmehr zum alleinigen Gestaltungsprinzip, das die Beherrschbarkeit der »unideale[n] Vielfalt ohne Einheit«, die das Pittoreske eigentlich noch kennzeichnet,694 nicht mehr gewährleistet. Gegen Ende der Szene der Promessi Sposi erfahren die pittoreske Struktur der Landschaft und der entsprechend erschwerte Wahrnehmungsvorgang einen neuen Höhepunkt.695 Es zeigt sich hier noch deutlicher als zuvor, worin die entscheidenden Unterschiede zwischen den beiden Fassungen und die Aktualisierung der pittoresken Ästhetik liegen. Beschrieben wird in beiden Versionen das labyrinthische Netz von Straßen, das sich durch die Felder zieht:

694 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163. 695 Remo Fasani konstatiert an dieser Stelle einen Bruch in der Szene, in der nun das zuvor noch unterdrückte Bewegungsprinzip dominant werde: »Ne nasce cos' un paesaggio eccezionale, dove le cose, piF che muoversi, cominciano a un tratto una danza veloce. Quello che importa, non H piF la presenza di questo o quell’elemento di paesaggio […], ma unicamente il loro librarsi, e incantarsi, nel movimento.« (Saggio sui Promessi Sposi, S. 15)

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Dall’una all’altra di queste terre, dalle montagne al lago, da una montagna all’altra corrono molte stradicciuole ora erte, ora dolcemente pendenti, ora piane […]. Una di queste strade percorre tutta la riviera ora abbassandosi ora tirando piF verso il monte, ora in mezzo alle vigne, ed ora sulla linea che divide i colti dalle selve. Questa strada H talvolta seppellita fra due muri che superano la testa del passaggero, dimodochH egli non vede altro che il cielo e le vette dei monti: ma spesso lascia un libero campo alla vista la quale quasi ad ogni passo scopre nuovi ampi e bellissimi prospetti. (FL, S. 25f.)

Dall’una all’altra di quelle terre, dall’alture alla riva, da un poggio all’altro, correvano, e corrono tuttavia, strade e stradette, piF o men ripide, o piane; ogni tanto affondate, sepolte tra due muri, donde, alzando lo sguardo, non iscoprite che un pezzo di cielo e qualche vetta di monte; ogni tanto elevate su terrapieni aperti: e da qui la vista spazia per prospetti piF o meno estesi, ma ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi, secondo che i diversi punti piglian piF o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda. (PS 1840, S. 10)

Die Gegenüberstellung macht deutlich, wie sich in den Promessi Sposi die labyrinthische, hierarchielose Struktur des Wegenetzes auch auf die Ebene der Beschreibung und der Organisation des Blicks niederschlägt. Während der Erzähler in Fermo e Lucia vom Allgemeinen (»molte stradicciuole«) zum Konkreten (»Questa strada«) vorrückend eine der Straßen aus der Vielzahl herausgreift, ihren Verlauf beschreibt und erst dann dort einen möglichen Spaziergänger positioniert, ist die spätere Beschreibung hingegen ›horizontal‹ konzipiert. Auf der grammatikalischen Ebene macht sich dies durch nebenordnende Konstruktionen bzw. deren Wiederholung bemerkbar (»o«, »e«, »ogni tanto…ogni tanto«, »secondo che«). Die Beschreibung betont Unterschiedliches (schon zu Beginn durch die nicht näher spezifizierte Aufsplitterung in »strade e stradette«), ohne dabei Gewichtungen oder hierarchische Bezüge aufkommen zu lassen (vgl. FL: »talvolta…dimodochH«). Der Erzähler bleibt auffallend vage, wie zum Beispiel durch die dreimalige Wiederholung von »piF o meno«, während er zudem von der eingeschränkten Sicht des Betrachters berichtet, der sich irgendwo im Labyrinth der Straßen befindet. Dieser wird außerdem nicht mehr als Person evoziert, sondern scheint allenfalls im unpersönlichen »iscoprite« auf. Die Benennung eines Blicks bzw. einer Aussicht (»lo sguardo«, »la vista«) deutet dabei gleichzeitig daraufhin, dass hier die Verfügbarkeit der Landschaft zum eigentlichen Thema wird. Ist durch die Mauern der Blick einmal nicht versperrt, öffnen sich dem Betrachter ständig wechselnde Aussichten, die in beiden Versionen den Gefallen am immer Neuen und Interessanten bedienen. In der 1840er-Fassung ist diese Kategorie jedoch als der eigentliche Wert der wechselnden Ansichten besonders hervorgehoben: »prospetti piF o meno estesi, ma ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi«. Der unerschöpfliche Abwechslungsreichtum und die immer neuen Konfigurationen stellen hier die elementaren

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Charakteristika der Landschaft dar.696 Neue Perspektiven ergeben sich nicht, wie in der frühen Fassung, durch die Bewegungen des Beobachters, sondern sind viel mehr der Landschaft selbst eigen: »they are characteristics of the scene itself.«697 Neben der Veränderung der Betrachterrolle zum einen und der gesteigerten Dynamik zum anderen erweist sich dies als ein dritter Unterschied zwischen den beiden Versionen im Hinblick auf die Anwendung der pittoresken Ästhetik. Die Autonomie der Landschaft wird besonders am Ende der oben zitierten Passage deutlich, wo die Bedingungen des Sichtfelds näher bestimmt werden. Es handelt sich um eine völlig neue Ergänzung gegenüber der frühen Version. Dort heißt es, der Einblick hänge zum einen von den unterschiedlichen (Stand-) Punkten ab, die mal mehr und mal weniger von der umgebenden Landschaft einfangen könnten: »secondo che i diversi punti piglian piF o meno della vasta scena circostante«; zum anderen käme es darauf an, wie und ob sich diese überhaupt darbiete: »secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda.« Bei der Betrachtung dieser Eigentümlichkeit der Landschaft ist es notwendig, die Ästhetik des Pittoresken miteinzubeziehen. Die erste Bedingung ist typisch für die pittoreske Landschaftserfahrung: der Betrachter bekommt grundsätzlich immer nur partielle Einsichten, Wegenetze werden so konzipiert, dass durch bestimmte Punkte neue prospects entstehen können, nie aber eine Sicht auf die ganze Landschaft möglich ist.698 Die zweite Bedingung zeigt dagegen das Neue und Eigentümliche an Manzonis Landschaft: Plausibilisiert durch die Unebenheit des Terrains, ist es die Landschaft selbst, das heißt ihre ungleichen, aber sonst nicht näher spezifizierten Teile (»questa o quella parte«), die konstant in Bewegung ist und dadurch immer neue Konfigurationen erschafft. Manzoni etikettiert seine Landschaft durch den bereits besprochenen Schlusssatz als pittoreske Landschaft, aktualisiert aber einige ihrer interessantesten Techniken. Das Prinzip der Beweglichkeit, sowohl des Betrachters als auch der Landschaft selbst, ist in der englischen Theorie bereits impliziert, bei Manzoni wird es dagegen explizit: die Landschaft entzieht sich dem Betrachter wortwörtlich. Im nächsten Schritt der Beschreibung werden dann in beiden Fassungen die verschiedenen Ansichten näher beschrieben:

696 Vgl. dazu auch Godt mit der Schlussfolgerung »[…] in I Promessi Sposi the proliferation of views, rather than the object viewed, is an end in itself.« (The Mobile Spectacle, S. 10) 697 Ebd., S. 15. 698 Vgl. dazu ausführlich oben, Kap. 2.2.2.2.

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PoichH guardando verso settentrione tu vedi il lago chiuso nei monti, che sporgono innanzi e rientrano, e formano ad ogni tratto seni, o ameni o tetri, finchH la vista si perde in uno sfondo azzurro di acque e di montagne; verso mezzogiorno vedi l’Adda che appena uscita dagli archi del ponte torna a pigliar figura di lago, e poi si ristringe ancora e scorre come fiume dove il letto H occupato da banchi di sabbia portati da torrenti, che formano come tanti istmi: dimodochH l’acqua si vede prolungarsi fino all’orizzonte come una larga e lucida spira. (FL, S. 26)

Dove un pezzo, dove un altro, dove una lunga distesa di quel vasto e variato specchio dell’acqua; di qua lago, chiuso all’estremit/ o piuttosto smarrito in un gruppo, in un andirivieni di montagne, e di mano in mano piF allargato tra altri monti che si spiegano, a uno a uno, allo sguardo, e che l’acqua riflette capovolti, co’ paesetti posti sulle rive; di l/ braccio di fiume, poi lago, poi fiume ancora, che va a perdersi in lucido serpeggiamento pur tra’ monti che l’accompagnano, degradando via via, e perdendosi quasi anch’essi nell’orizzonte. (PS 1840, S. 10f.)

Auch hier wird deutlich, wie sich in Fermo e Lucia die jeweilige Ansicht immer in Abhängigkeit von der momentanen Perspektive des Betrachters formt (»tu vedi«, »vedi«, »si vede«), wohingegen die Perspektiven in der überarbeiteten Fassung als der Landschaft selbst inhärent dargestellt sind (»di qua«, »di l/«). Die Beschreibung aus Fermo e Lucia ist durch die Himmelsrichtungen Norden und Süden zweigeteilt, wobei jede Hälfte wiederum in Vorder- und Hintergrund gegliedert ist, die zueinander in einen logischen, subjektorientierten Bezug gesetzt werden (»finchH la vista si perde…«, »dimodochH l’acqua si vede prolungarsi…«). Das Bild der zwischen See und Fluss wechselnden Wasserlandschaft, das in den Promessi Sposi bereits in den Anfang integriert wurde, wird entfaltet und durch den Verweis auf Sandbänke, Verengungen und Ströme sogar erklärt. In beiden Szenen gründet ästhetischer Wert auf Vielfalt, Kontrast und Abwechslungsreichtum, dabei entstehen jedoch in den Promessi Sposi anders als in Fermo e Lucia, überspitzt formuliert, gar keine tatsächlichen Landschaftsbilder mehr. Der See der ersten Version ist von Bergen explizit eingeschlossen (»chiuso nei monti«), die, in der Perspektive des Betrachters aus Richtung Süden, vor- und zurücktreten und so eine Formenvielfalt entlang der Uferlinie bewirken. Es handelt sich um einen typischen pittoresken Blick in das Amphitheater der Natur, bevor sich die Perspektive synästhetisch im »sfondo azzurro« aus ineinanderfließenden Bergen und Wasser verliert. In der jüngeren Fassung kommt dem See eine ganz und gar andere Funktion zu. Zunächst ist er nicht Mittelpunkt einer Aussicht, sondern Element einer Kette aus aneinandergereihten, nicht situierten und sich nur durch Kontrast auszeichnenden Teilen der Landschaft (»Dove un pezzo, dove un altro, dove…«). Zudem wird der Betrachtungsgegenstand ›See‹ aus Fermo e Lucia gewissermaßen umfunktioniert: Die Wasserfläche erscheint als großer, mannigfaltiger Spiegel – unterstrichen durch die Alliteration »vasto e variato« – bevor von der Form des Sees überhaupt die Rede ist. Diese unterscheidet sich dann auch von der früheren in signifi-

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kanter Form: Die Abgeriegeltheit durch die Berge, die vorher das prospect konstituiert hatte, wird nur kurz evoziert, um sie im gleichen Moment aufzubrechen. Statt ein Bild zu konstruieren, entzieht sich die Landschaft wieder dem Blick, was ganz explizit beschrieben wird: »chiuso all’estremit/ o piuttosto smarrito in un gruppo, in un andirivieni di montagne…« Das Verb smarrire drückt hier besonders eindringlich aus, wie in der Landschaft Eindrücke und Bilder, die für einen Sekundenbruchteil im Entstehen begriffen waren, sofort wieder zerstreut werden. Genau wie im »andirivieni« der Berge zeigt sich daran, wie in Manzonis Landschaftsdarstellung die Charakteristik der pittoresken Landschaft, sich dem Auge des Betrachters ständig zu entziehen, explizit und dominant wird. In beiden Begriffen konzentrieren sich auf engstmöglichem Raum die ausführlichen Erklärungen über die Wechsel der Landschaft in Fermo e Lucia. Das »andirivieni« ist nicht nur für die Landschaftsbeschreibung, sondern für den gesamten Roman ein zentrales Schlüsselwort, das an wichtigen Punkten in unterschiedlichen Kontexten vorkommt.699 Hier steht es für die Eigendynamik der Landschaft, die ein bewegliches, eigendynamisches Gefüge an ständig wechselnden Konfigurationen darstellt. Diese Wechsel sind in keinerlei Weise geordnet oder zielgerichtet, wie es durch die vielgestaltigen Hinweise auf ein Hin-und-her als einzige Richtungsmöglichkeit unterstrichen wird: »a vicenda«, »di qua…di l/«, »andirivieni« u. a. Die gesamte Beschreibung operiert auf dieser horizontalen Ebene, indem sie die Aufmerksamkeit also entweder plötzlich an einen völlig anderen Ort lenkt oder aber von einem Landschaftselement sogleich auf ein weiteres, angrenzendes verweist, zu dem dann ein Bezug hergestellt werden muss. Dieses Prinzip, das in der Theorie der pittoresken Landschaft ebenfalls schon ansatzweise enthalten ist und von Lobsien auf die Formel »die Kunst des Pittoresken ist eine Kunst des Signifikanten« gebracht wurde,700 bestimmt in der zitierten Passage die Abfolge der Bildelemente in der ersten Hälfte nach »di qua«: vom See geht die Aufmerksamkeit sofort weiter zu den umliegenden Bergen. Diese verweisen zurück auf den See, der sich in die Ferne zieht (»di mano in mano piF allargato«). Dies geschieht wiederum zwischen weiteren Bergen (»altri monti«), deren Beschreibung den Prozess der Verlagerung der Aufmerksamkeit selbst expliziert: »che si spiegano, a uno a uno, allo sguardo«. Die Reihung bewirkt jedoch keine Tiefe, sondern verhindert nur die Entstehung eines Ruhepunktes für den Blick, der hier immer zwischen Bergen und Wasser hin und her springen muss. Während sich in Fermo e Lucia die Kontraste noch in einem fernen Hintergrund reizvoll vermischen, mündet hier die Beschreibung stattdessen in die am Anfang schon aufgerufene Spiegeloberfläche des Wassers, die die Vielfalt und den 699 Vgl. hierzu schon Raimondi, Il romanzo senza idillio, S. 255ff. 700 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 174.

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ständigen Wechsel noch einmal zusätzlich potenziert. Sie verweist zudem selbst wieder auf ein weiteres Element, die »paesetti«, die sich gleichfalls spiegeln. Die gespiegelte Landschaft baut Manzoni erst in die spätere Fassung ein, sie kann tatsächlich als das »tendenziell unendlich differenzierte Kontrastmuster«701 bezeichnet werden, als welches Seen in der pittoresken Landschaft dienen sollen. Sie dient der Vervielfachung der Perspektiven und der Intensivierung des Bewegungsfaktors. Mit dieser neuen Art von intricacy übersteigert die Landschaft Prices Forderung nach einer Anordnung der Objekte, die die Neugier wachhalten soll (»that disposition of objects, which by a partial and uncertain concealment, excites and nourishes curiosity«702). Die Wahrnehmung der Landschaft muss sich hier vielmehr auf den Versuch beschränken, überhaupt erst Bezüge zwischen den einzelnen Landschaftsteilen herzustellen, statt eine zwar abwechslungs- und kontrastreiche, aber doch erschließbare Landschaft zu erkunden, wie es noch in Fermo e Lucia der Fall ist. Die bisherige Analyse der beiden Fassungen konnte zeigen, dass sich die Gesamtstruktur der Eröffnungslandschaft durch die Überarbeitung grundlegend ändert. Die veränderte Inszenierung des Betrachters, die neue Dominanz von Eigendynamik und einem ausdifferenzierten Spiel mit der Perspektive als maßgebliches Gestaltungsprinzip sowie schließlich die unerschöpfliche Wandelbarkeit der Landschaft, die die Kategorie des immer Neuen bedient, konnten als die entscheidenden Neuerungen ausgemacht werden. Diese Neuerungen stellen in ihrer spezifischen Form gleichzeitig eine Radikalisierung der pittoresken Ästhetik dar. Für Fermo e Lucia kann noch die mit Lobsien vorgenommene Definition des Pittoresken gelten: »Anders als das Schöne ist das Pittoreske eine unideale Vielfalt ohne Einheit, anders als das Erhabene eine durchaus beherrschbare Vielfalt.«703 Diese Beherrschbarkeit der Landschaft ist in den Promessi Sposi nicht mehr angelegt. Manzoni gestaltet die Beschreibung vielmehr solchermaßen um, dass die elementaren Konstituenten einer Landschaftserfahrung außer Kraft gesetzt werden. Vor dem Hintergrund, dass sich Landschaft überhaupt erst im Auge eines Betrachters konstituiert, könnte überspitzt geschlussfolgert werden, dass es sich hier um gar keine Darstellung von Landschaft im eigentlichen Sinn handle. Die Außergewöhnlichkeit der Beschreibung drängt sich durch den Vergleich der Fassungen in jedem Fall auf. Die Landschaft als ein ihrem Wesen nach rein ästhetisches Konstrukt scheint hier für Manzoni ein besonders geeignetes Instrument zu sein, um Prozesse von Bedeutungskonstruktionen im Allgemeinen zu thematisieren. Zum Abschluss der Beschreibung der 1840er-Fassung fügt er noch einen letzten bedeutungsvollen 701 Ebd., S. 169. 702 Price, Essays on the Picturesque, S. 22. 703 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 163.

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Perspektivenwechsel ein, der diese Annahme stützen kann und die erkenntnistheoretische Dimension noch stärker hervorbringt. Nachdem sich das Sichtfeld letztlich in der Entfernung ganz entzogen hat (»degradando via via«, s. o.), richtet der Erzähler das Interesse noch einmal mitten hinein in die Landschaft, und zwar auf den Ausgangsort der vorherigen Betrachtungen selbst. In der frühen Fassung dagegen wird bis zum Ende der Szene die Beschreibung der verschiedenen Aussichten fortgesetzt: Sul capo hai i massi nudi e giganteschi, e le foreste, e guardando sotto di te, e in faccia, vedi il lungo pendio distinto dalle varie colture, che sembrano striscie di varj verdi, il ponte ed un breve tratto di fiume fra due larghi e limpidi stagni, e poscia risalendo collo sguardo lo arresti sul Monte Barro che ti sorge in faccia, e chiude il lago dall’altra parte. Ma non termina quel monte la vista da ogni parte, poichH di promontorio in promontorio declina fino ad una valle che lo separa dal monte vicino; e come in alcune parti la stradetta si eleva al disopra del livello di questa valle, da quei punti il tuo occhio segue fra i due monti che hai in prospetto un’apertura che dalla valle ti lascia travedere qualche parte dell’amenissimo piano che H posto al mezzogiorno del Monte Barro. (FL, S. 26)

Il luogo stesso da dove contemplate que’ vari spettacoli, vi fa spettacolo da ogni parte: il monte di cui passeggiate le falde, vi svolge, al di sopra, d’intorno, le sue cime e le balze, distinte, rilevate, mutabili quasi a ogni passo, aprendosi e contornandosi in gioghi cik che v’era sembrato prima un sol giogo, e comparendo in vetta cik che poco innanzi vi si rappresentava sulla costa: e l’ameno, il domestico di quelle falde tempera gradevolmente il selvaggio, e orna vie piF il magnifico dell’altre vedute. (PS 1840, S. 11)

Oben konnte bereits gesehen werden, wie mögliche Ruhepunkte für den schweifenden Blick in der neuen Fassung systematisch verhindert werden. In Fermo e Lucia findet sich hier zwar wieder das allgegenwärtige Ideal von Vielfalt und Kontrast (z. B. »distinto dalle varie colture«), es lässt sich aber darin noch nichts von den schnellen Verweisen und der Unklarheit der Bezüge aufspüren, die in den Promessi Sposi dominant werden. Die Vielfalt dient noch dazu, vom Betrachter geordnet und interpretiert zu werden (z. B. »che sembrano striscie di varj verdi«). Dieser besitzt die Landschaft förmlich (»Sul capo hai i massi…«), der Verlauf seines Blicks lässt die Landschaftsbilder entstehen, sein Gesichtssinn bildet den Mittelpunkt der Landschaft: »guardando sotto di te, e in faccia, vedi…«. Die Bilder formieren sich um den Betrachter herum, so dass dieser für einen Moment innehalten und den Blick auf ihnen ruhen lassen kann: »risalendo collo sguardo lo arresti sul Monte Barro che ti sorge in faccia…«. Ganz zum Abschluss wird dann, bevor die Szene in das oben beschriebene affektive R8sum8 mündet, auch hier noch eine typisch pittoreske Landschaftserfahrung entworfen, und zwar als durch eine Öffnung der Berge ein neuer Einblick in

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einen Teil der Landschaft gelingt und damit ein neues prospect entsteht: »che hai in prospetto un’apertura che dalla valle ti lascia travedere qualche parte dell’amenissimo piano…« Dass Bewegungen hier noch hauptsächlich vom Betrachter bzw. seinem Blick ausgehen und weniger der Landschaft selbst inhärent sind, ist dabei ebenfalls erkennbar (z. B. »il tuo occhio segue« versus »che H posto al mezzogiorno…«). Die Beherrschbarkeit der Landschaft ist damit klar gewährleistet. In der neuen Fassung wird dies dagegen nicht nur verunmöglicht, der Betrachter wird am Ende sogar gewissermaßen völlig annulliert, indem sein vorheriger Standort aus einer nun gar nicht mehr näher spezifizierten Perspektive in das allgemeine Schauspiel sich ständig verändernder und vervielfachender Bilder mit einbezogen wird. Auch er ist nun »spettacolo« im unendlichen Spiel der »vari spettacoli«, wodurch die Dynamik der Landschaft nicht besser beschrieben sein könnte. Der kleine Abschnitt, ein einziger langer Satz, beinhaltet in nuce Manzonis Aktualisierung der pittoresken Ästhetik. Es findet hier eine Totalisierung der Perspektive statt (»da ogni parte«), die die allumfassende Komplexität und Dynamik der gesamten Landschaft hervorhebt und das zuvor Beobachtete als Trugschluss der menschlichen Perspektive entlarvt. Die Ausgangspunkte möglicher Betrachtungen, die in der gesamten Szene vom Erzähler schon als mehr als unsicher dargestellt wurden, offenbaren sich jetzt tatsächlich als ganz und gar untaugliche Mittel für eine etwaige Erschließung der Landschaft. Die Art und Weise wie sich der zuvor bewanderte Berg nun präsentiert, impliziert gegenüber Fermo e Lucia (»sul Monte Barro che ti sorge in faccia«) wieder die unkontrollierbare Autonomie der Landschaft gegenüber dem Betrachter, der hier nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern stattdessen nur mehr mit seiner Nichtigkeit (»vi svolge, al di sopra, d’intorno…«) und der Fehlerhaftigkeit seiner Wahrnehmung (»cik che v’era sembrato prima…«, »cik che poco innanzi vi si rappresentava…«) konfrontiert wird. Durch die Dopplung der erlegenen Täuschungen und die anaphorische Satzkonstruktion wird dieser Aspekt zusätzlich intensiviert. Die Unfähigkeit des Betrachters, sich ein wahres, authentisches Bild der Szene zu machen, ist dabei ganz natürlich, denn die imposante Gebirgskette, die den tieferen »falde« wieder Züge des Erhabenen gegenüberstellt (»distinte, rilevate«), erlaubt es aus keiner Richtung ihre Form zu begreifen. Ihre Konturen und die Gipfel selbst sind »mutabili quasi a ogni passo«. Gerade in diesen letzten Zeilen wird also der erkenntniskritische Gehalt, der die Szene im Ganzen charakterisiert, besonders augenfällig. In der Beschreibung der Täuschungen und der Auflösung jedweder Perspektivierung in ein Spiel von »vari spettacoli« kulminieren die Hinweise auf die eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten und die Eigendynamik der Landschaft, die die Beschreibung von Beginn an determinieren. Es ist überaus signifikant, dass dieser Teil

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der Beschreibung in die Paraphrasierung der konventionellen pittoresken Ästhetik mündet, durch die ja zudem die gesamte Darstellung abgeschlossen wird. Die bisherigen Beobachtungen lassen den Schlusssatz, die domestizierten, amoenischen Landschaftsteile milderten angenehm die Wildheit der Gebirgskette, noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Verbunden zudem durch Doppelpunkt, scheint diese Formel der konventionellen pittoresken Ästhetik eine Art kommentierende, hinweisende Funktion zu haben, die das zuvor Gesagte einordnet. Manzoni stellt für den geschulten Leser einen Rückbezug zum Pittoresken her, dessen Gesetze und vor allem dessen erkenntniskritische Dimension Ausgangspunkt für seine gesamte Beschreibung sind. Genau hierin liegen die Weichen, die er für das Romangeschehen stellt und dessen Grundgedanken er in dem raffinierten Landschaftstableau bereits antizipiert. Inwiefern die pittoreske Ästhetik des Eingangstableaus auch über dieses hinaus gewinnbringend für die Annäherung an den Roman sein kann, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. 3.3.3.2 Das Pittoreske und der historiographische Anspruch der Promessi Sposi Die Zugrundelegung der pittoresken Ästhetik eröffnet uns nun neue Zugangsmöglichkeiten zu dem komplexen Werk. Die Perspektivenvielfalt und Dynamik der Landschaft wurden für sich genommen in der Forschung schon verschiedene Male auf Manzonis Erzählweise projiziert.704 Godt konnte darlegen, dass Landschaftselemente der Eingangsszene bei ihrem wiederholten Auftauchen im Roman jedes Mal etwas abweichend erscheinen, nämlich psychologisiert durch die Wahrnehmung immer unterschiedlicher Figuren bzw. derselben Figur in verschiedenen Gemütszuständen, wodurch eine »contrapuntal texture« im Sinne Bachtins entstehe.705 Durch dieses Perspektivenspiel diene die Landschaft bei Manzoni somit als Metapher für die Undurchdringbarkeit der Wirklichkeit. Auch Godt betont also die wahrnehmungskritische Dimension (»not only aesthetic but cognitive signifiance«706). Mit Blick auf die wiederkehrenden Details schlussfolgert sie: 704 Hier dominiert jedoch der Ansatz, die vor allem von B/rberi Squarotti postulierte Dichotomie zwischen Gut und Böse bzw. die daraus hervorgehenden Kompensationsmechanismen als bestimmende Prinzipien sowohl der Landschaftsdarstellung als auch der Erzählweise zu deuten. Perspektivenvielfalt wird hier eher als Kompensation, Dynamik als Resultat des letztlich unkontrollierbaren Chaos des Diesseits verstanden. Vgl. Pierantonio Frare, »Una struttura in movimento: sulla forma artistica dei Promessi Sposi«, in: The Italianist 16 (1996), S. 62–75, bes. S. 71. Zatti wendet diesen Ansatz konkret auf die Analyse der Landschaftsszenen an. (Vgl. »Effetti di compensazione nello stile e nell’ideologia dei Promessi Sposi«, zu seiner Schlussfolgerung der Kompensationsfunktion vgl. z. B. S. 222) 705 Godt, The Mobile Spectacle, S. 113. 706 Ebd., S. 27. Zur Definition der Landschaft als Metapher für die Subjektivität menschlicher

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The treatment of detail in the landscape description of I Promessi Sposi suggests that Manzoni sees change as the fundamental aspect of observable reality. The reasons that underlie such change, he seems to tell us, are obscure, hidden from our view […]. What is available to us is the spactacle of mutability, the variety of seemingly contradictory views, each in some way true.707

Tatsächlich bietet Manzonis Landschaft einen Schlüssel zu seinen narratologischen und historiographischen Techniken. Die anthropologische und die semiologische Dimension des Pittoresken stellen hier zwei Ansätze bereit, diese genauer zu erforschen. Der Vergleich der Betrachterrollen und die Art ihrer Inszenierung in Fermo e Lucia und den Promessi Sposi weisen zunächst daraufhin, dass Manzoni in den Jahren der Überarbeitung sein Verständnis vom Subjekt und dessen Erfahrungsmöglichkeiten der Wirklichkeit grundlegend ändert. In der frühen Version entsteht ästhetisches Vergnügen – und damit Selbstversicherung des Subjekts in der Welt –, indem der Betrachter die Naturerscheinungen perspektivisch auf sich bezieht, ordnet und damit zum Landschaftsbild konfiguriert. Er realisiert damit noch genau Gilpins Forderung nach dem geschulten Suchen pittoresker Bilder in der Natur (»searching after effects«708), die durch das richtige Maß an Überschaubarkeit und Abwechslungsreichtum (»happy union of simplicity and variety«709) den gewünschten Glückszustand, »an enthusiastic sensation of pleasure«710, auslösen. Gegenüber der sensualistisch geprägten Wahrnehmungstheorie der englischen Landschaftstraktate fällt dabei in der Szene aus Fermo e Lucia der rationalistische Duktus bei der Beschreibung der Erschließung der Landschaft auf: Während sich schon bei Gilpin die Erkenntniskritik vorsichtig darin artikuliert, den Glückszustand einer »pause of intellect« gleichzusetzen und damit die Wahrnehmung der Landschaft dem Verstand ab- und den Sinnen zuzusprechen (»The general idea of the scene makes an impression, before any appeal is made to the judgement. We rather feel, that [sic] survey it.«711), kann in Fermo e Lucia, wie gesehen wurde, noch durchaus von einer solchen ›Untersuchung‹ der Landschaft gesprochen werden (z. B. »forse d’un miglio«, FL, S. 24). Demgemäß fällt auch die explizit gefühlsbetonte Wertung am Ende eher rational aus, wenn der Erzähler erklärt, die Landschaft könne als eine der schönsten der Welt bezeichnet werden, wenn nicht die Tatsache, dort aufgewachsen zu sein, ein objektives Urteil unmöglich machte (»impossibile dare un giudizio spassiona-

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Wahrnehmung und die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit objektiv zu erfassen, vgl. auch S. 122–131. Ebd., S. 26. Diese erkenntniskritische Sicht auf die Dinge sieht Godt auch in einigen Episoden des Romans realisiert, die sie als »self-reflecting« bezeichnet. (S. 33ff.) Gilpin, Three Essays, S. 20. Ebd., S. 16. Ebd., S. 22. Ebd.

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to«, FL, S. 26). In der überarbeiteten Version der Promessi Sposi legt Manzoni demgegenüber eine völlig neue Landschafts- und Subjektkonzeption vor, die die zeitgenössischen Diskurse überschreitet. Er radikalisiert damit sogar die Weiterentwicklung, die Price und Payne Knight gegenüber Gilpin vornehmen, wenn sie den Aspekt der intricacy, der erschwerten Zugänglichkeit der Landschaft in den Vordergrund ihrer Gestaltungsvorgaben stellen. Die pittoreske Landschaft bekommt bei ihnen die Funktion, die Versuche des Betrachters, sich seiner Wahrnehmungs- und Selbstbehauptungsfähigkeiten zu vergewissern, spielerisch zu erschweren. Durch die Merkmale, die sie für die Landschaftsgestaltung fordern, soll diese Erfahrung hinausgezögert und so einer Stimulation der Phantasie und Potenzierung von Assoziationen Raum gegeben werden (»leave the mind no place to rest upon«712). In ihren Herausforderungen an das Rezeptionsvermögen bleibt die pittoreske Landschaft dabei aber immer orientiert an den Erfahrungsmöglichkeiten des Subjekts, sie verlässt letztlich nie das Spannungsfeld zwischen den beiden Polen der Selbstaffirmation durch die Betrachtung schöner Landschaft und der Erfahrung existenzieller Ungewissheit im Angesicht der erhabenen Landschaft, auf dessen Basis Gilpin die neue Ästhetik im Rekurs auf Burkes physiologisch-anthropologische Unterscheidung begründet hatte. In den Promessi Sposi realisiert Manzoni jedoch genau diesen Schritt, indem er einen Betrachter inszeniert, der vor der Eigendynamik der Landschaft und ihren stetigen Perspektivenwechsel sogleich kapitulieren muss. Das Prinzip intricacy ist hier derart übersteigert, dass der Betrachter jede Autonomie im Angesicht der Natur einbüßt. Michael Bernsen hat vor kurzem die Landschaftsszene der Promessi Sposi in diese Richtung gehend gedeutet und ihren Bezug zu Manzonis Erzählweise und seinem historiographischen Anspruch herausgestellt. Anhand eines Vergleichs zu einer pittoresken Landschaftsdarstellung Walter Scotts zeigt er, wie Manzoni die Beschreibung nutzt, um zu Beginn seines Romans bereits in ein Grundkonzept seines Erzählens einzuführen, nämlich »die Grenzen der Selbstverfügung des Menschen im Rahmen seiner profunden Fremdbestimmung freizulegen.«713 Im Unterschied zu Scotts Protagonisten, der von einem erhöhten Standpunkt aus die pittoreske Landschaft betrachtet, ordnet und so die von ihr aufgeworfenen Gegensätze zwischen schöner und erhabener Natur ästhetisch reizvoll kombiniert, gelingt dieser Ausgleich durch das vernunftbestimmte Individuum bei Manzoni nicht mehr. So wie die ausgleichenden Kräfte der Landschaft bei Scott assoziativ auf den zwischen den Extremen der sich gegenüberstehenden Konfliktparteien vermittelnden ›mittleren‹ Helden verweisen, veranschaulicht der Autonomieverlust des Betrachters bei Manzoni bereits die Orientierungslosigkeit der Fi712 Payne Knight, Inquiry, S. 96. Vgl. oben, Kap. 2.2.2.3. 713 Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 22.

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guren angesichts der undurchschaubaren, unvorhersehbaren Wendungen der Geschichte.714 Genau wie die Landschaft keine Rückversicherung mehr biete, weist Manzoni, so Bernsen, auch die vielen Geschichten der Haupt- und Nebenhandlungen als letztlich problematische Mittel aus, dem Strudel der Ereignisse, und damit der Historie, Herr zu werden. In Abgrenzung zu der in der deutschen Forschung dominierenden und schon von Goethes bekanntem Kommentar aufgeworfenen Meinung, Fiktion und Historie stünden in den Promessi Sposi in einer von Manzoni nicht überwundenen Diskrepanz zueinander,715 legt Bernsen in seinem Buch dar, dass beide Bereiche vielmehr in einer Weise verknüpft seien, die die eigentliche Modernität des Romans ausmache. Sie reflektierten konstant ihre narrativen Verfahren und legten so – im Medium des historischen Romans selbst – offen, dass die Techniken historiographischen und fiktionalen Erzählens sich letztlich nicht wesentlich voneinander unterscheiden, ja dass die Historie sogar wesentlich auf die Fiktion angewiesen sei. Es handelt sich hierbei um einen Gedanken, der bekanntlich mehr als ein Jahrhundert später eine grundlegende Umorientierung in der Geschichtswissenschaft bewirkten sollte.716 Bezüglich der Inszenierung des betrachtenden Subjekts in der 714 Ähnlich konstatiert auch Reinhold Grimm: »Geschichte als Ganzes verschließt sich der Sinngebung […]. Genauso verfährt die Landschaftsschilderung: Natur als Ganzes ist nur in perspektivischer Brechung zugänglich […]. Natur wie Geschichte entziehen sich der totalen, nichtperspektivischen Erkenntnis.« (»Historischer Roman und Idylle. Krisenerfahrung in Manzonis Promessi Sposi«, in: Italienisch 14 (1985), S. 32–41, hier S. 39) 715 Die vorherrschende These der neueren Forschung, die bewusste Trennung von Historie und Fiktion stelle den eigentlichen Wert und gleichzeitig die Aktualisierung der Promessi Sposi gegenüber dem Scott’schen Vorbild dar, geht vor allem auf Joachim Küppers bereits zitierten Aufsatz »Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie« zurück. Danach nutzt Manzoni den Bruch zwischen den beiden Ebenen, um durch den Gegenentwurf seiner auf kritischer, rationalistischer Quellenkritik beruhenden Historiographie das Schema des traditionellen Märchenromans, das Küpper dem fiktiven Handlungsteil zugrunde legt, ironisch zu hinterfragen. (Vgl. vor allem S. 125ff. und S. 133f.) Küppers These wird fortgeführt von Thomas Klinkert, der in der fiktiven Haupthandlung und den historiographischen Digressionen die Gegenüberstellung »zweier Weltmodelle (eines christlich-vormodernen und eines rationalistisch-modernen)« erkennt, die formal und erzähltechnisch strikt voneinander getrennt seien, sich dabei aber wechselseitig kommentierten. Die Dissonanz der beiden Teile und die ironische Hinterfragung des Märchenschemas durch die rationalistische Geschichtsanalyse müsse zur »Grundlage der ästhetischen Bewertung des Textes [gemacht] werden.« (Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung (linguae & litterae. 2), Berlin / New York, De Gruyter, 2010, S. 191) Die italienische Forschung sieht demgegenüber die verschiedenen Digressionen meist in der allgegenwärtigen Beschwörung der Divina Provvidenza geeint. Vgl. z. B. Eurialo De Michelis, La vergine e il drago. Nuovi studi sul Manzoni, Padova, Marsilio Editori, 1968, S. 101: »[…] i drammi di svariatissimo genere, […] i drammi storicamente accaduti al pari degl’inventati, in una struttura di romanzo aperta a tutte le digressioni, trattano sempre un sol tema, la colpa e la sciocchezza umana che producono il male, l’accettazione in Dio, che lo condanna e lo riscatta.« 716 Vgl. zu dieser These vor allem Bernsens Analysen der beiden großen historiographischen

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Landschaft und seiner Wahrnehmungskompetenzen kann also festgehalten werden, dass Manzoni durch seine Überarbeitung der ersten Romanfassung eine Aktualisierung der anthropologischen Dimension der pittoresken Ästhetik vornimmt. Über das Thema der Naturwahrnehmung wirft er damit gleich zu Beginn seines Romans die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstverfügung des Individuums auf, wie es auch bereits bei der Darstellung des Waldes als locus terribilis beobachtet werden konnte. Anders als dort wird hier jedoch die Rückgewinnung der perzeptiven, rationalen Fähigkeiten nicht in Aussicht gestellt. Im Zusammenhang mit Manzonis Umgang mit Geschichten, ihrer Entstehung, ihren Techniken und auch ihrer Wirkung gewinnt demgegenüber auch der Ansatz, die Landschaft als ein Zeichensystem zu betrachten, besondere Relevanz. Die Semiotik des Pittoresken, also »das Verhältnis der Wahrnehmungsdaten zueinander […], die syntagmatische Konstitution des pittoresken Gegenstands«717, zeichnet sich, wie in Kapitel 2.2.2.1 dargestellt, vor allem dadurch aus, dass sie im Gegensatz zur schönen oder erhabenen Landschaft »im puren Nebeneinander des Unähnlichen« das Assoziationsprinzip bereits selbst abbildet.718 Auf diese Weise hält sie das Rezeptionsvermögen konstant in Gang, statt wie bei der schönen oder erhabenen Landschaft »die Konfrontation mit einem Wissensvorrat abzuwarten.«719 Dieses Prinzip konnte in der Landschaft der Promessi Sposi anhand der schnellen Wechsel und Kontraste unterschiedlicher Bildelemente und sich abwechselnder Formen beobachtet werden. Durch die systematische Vermeidung von Ruhe- und Orientierungspunkten für den Betrachter wird die Funktion des Pittoresken realisiert, den Blick im Wahrnehmungsfeld festzuhalten und metaphorische oder allegorische Interpretationen, wie sie für das Zustandekommen der schönen und erhabenen Landschaft notwendig sind, zu unterbinden. Die Landschaft der Promessi Sposi bildet insofern als pittoreske Landschaft das Rezeptionsvermögen ab, als dass sie dieses an sich bindet, »sich in ein Verhältnis unmittelbarer Similarität zum Rezeptionsbewußtsein bringt.«720 Anders als die Landschaft aus Fermo e Lucia, in der durch die Ordnung und Perspektivierung des Betrachters eine Konfrontation mit seinem Wissensvorrat und eine Übertragung des Wahrgenommenen in einen Bedeutungskontext stattfindet, ikonisiert die neue Landschaft in ihren Kontrasten und Wechseln den Verlauf der Wahrnehmung selbst, »[d]as Bild liefert

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Teile des Romans, die Beschreibung der Brotunruhen und die Pestdarstellung: Geschichten und Geschichte, S. 97ff. und S. 177ff., außerdem S. 235ff. Zum Wandel in der Geschichtswissenschaft vgl. vor allem Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore, John Hopkins University Press, 1973. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 169. Ebd., S. 168. Ebd. Ebd., S. 163.

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eine Anatomie der tatsächlichen Wahrnehmung.«721 Bei genauer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Beschreibung nicht nur darauf abzielt, durch unüberschaubare Vielfalt und Bewegung Bedeutungsbildungen zu verhindern, sondern ebenso bereits kombinierte Wahrnehmungselemente wieder in ihr ursprüngliches kontingentes Verhältnis zueinander bringt. Ein Beispiel, das dieses Anliegen besonders veranschaulicht, ist die häufige Verwendung des Ausdrucks secondo che oder secondo di, der in der Szene aus Fermo e Lucia interessanterweise noch kein einziges Mal auftaucht. Der Seitenarm des Sees bildet seine Wechsel »a seni e a golfi« je nach dem Verlauf der Berghänge: »a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli« (PS 1840, S. 9) und die Uferebene selbst bricht sich in kleine Anhöhen und Täler, Steigungen und Abhänge »secondo l’ossatura de’ due monti, e il lavoro dell’acque« (Ebd., S. 10). Die Erscheinungen der Landschaft werden hier nicht als absolut, das heißt als definitive Konstanten für die mögliche Konstruktion eines Bildes eingeführt, sondern wiederum in Abhängigkeit zu anderen Gegebenheiten der Szene gestellt, die jedoch nur bedingt aufschlussreich sind. Die Wahrnehmungselemente konstituieren damit eher ein Gefüge potenzieller Möglichkeiten und Kombinationen, statt einen tatsächlichen Eindruck zu erzeugen. Dies wird in der bereits besprochenen Passage gegen Ende der Szene besonders deutlich, wenn es heißt, es böten sich dem Blick immer neue und verwandelte Ausblicke »secondo che i diversi punti piglian piF o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda.« (Ebd.) Hierin offenbart sich nicht nur, wie oben dargelegt, die problematisierte Verfügbarkeit der Landschaft für den Betrachter, sondern auch die Potenzierung möglicher Erfahrungsmomente und Sinnzusammenhänge ins Unendliche (»ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi«, ebd.).722 Diese bleiben immer im Bereich des Möglichen, sie werden nicht realisiert, was die Konstruktion eines Bildes zwar erleichtern, aber auch eine Verarmung der Vielseitigkeit, der intricacy der Landschaft bedeuten würde. Die gleiche Funktion der Potenzierung erfüllt die spiegelnde Seeoberfläche, »quel vasto e variato specchio dell’acqua«, die im Anschluss das »andirivieni di montagne« ebenfalls noch einmal ins Unendliche vervielfacht und das zuvor Wahrgenommene im wörtlichen und übertragenen Sinn auf den Kopf stellt (»che l’acqua riflette capovolti«, ebd.). Statt aus den einzelnen Landschaftselementen Sinnzusammenhänge abzuleiten und zu konstruieren, dekonstruiert der Erzähler diese ganz explizit. In diesem Zusammenhang ist auch der abschlie721 Ebd., S. 171. 722 Raimondi betont ebenfalls die Bedeutung der Formulierung, wenn er darlegt, sie verweise bereits auf das Grundschema der Polyfonie, das laut ihm dem Roman zugrunde liegt: »In questa esplorazione del molteplice, come storia del cuore umano, nasce la polifonia e il monologo del narratore si trasforma in dialogo […] rispetto alla comunit/ vivente delle anime, anche quelle di un racconto.« (La dissimulazione romanzesca, S. 79)

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ßende Perspektivenwechsel zu sehen, durch den der Betrachter auf seinen eigenen vorigen Standpunkt zurückblicken kann und durch den sich das zuvor Wahrgenommene völlig verwandelt: »aprendosi e contornandosi in gioghi cik che v’era sembrato prima un sol giogo, e comparendo in vetta cik che poco innanzi vi si rappresentava sulla costa.« (Ebd., S. 11) Die literarische Landschaft macht hier von sich aus möglich, wozu der picturesque tourist seinen konvexen Spiegel nutzt: die scheinbaren Konfigurationen der Landschaft differenzieren sich bei näherer Betrachtung unaufhörlich und lassen sich bis in die Mikrostrukturen hinein in Oppositionen zerlegen. Während die Gegenüberstellung von »gioghi« und »un sol giogo« das Prinzip der Aufsplitterung und Vervielfältigung veranschaulicht, impliziert die Erklärung, was vorher küstennah erschien, präsentiere sich nun auf dem Gipfel, die tatsächlich schon spielerischhumorvolle völlige Verdrehung der Bedeutungen und Annullierung der Betrachterkompetenzen. Die Passage lässt keinen Zweifel an der Absicht ihres Autors, einseitige Betrachtungen und Bedeutungszuweisungen wieder in ihre ursprüngliche Form einer unendlichen Masse an möglichen Erscheinungen und Konfigurationen zu zergliedern, die seiner Vorstellung der Wirklichkeit entspricht. Die Landschaft ist ganz pittoreske Landschaft, indem sie »noch alle Möglichkeiten von Gegenständlichkeit und Bedeutung [enthält], welche – einmal realisiert – eine Verarmung bewirken müßten.«723 Überträgt man diese Semiotik des Pittoresken auf das Wesen eines Erzähltextes, wie es die strukturalistische Erzähltheorie analysiert hat, fällt schnell eine interessante Gemeinsamkeit auf, die für die Promessi Sposi essenziell ist. Versteht man die Geschichte, oder histoire, als die spezifische Form einer Handlung, deren Schemata die narrativen Gattungen sind, könnte man im Bereich der Landschaft die Modelle der schönen, erhabenen und pittoresken Landschaft ebenfalls als solche Formen bezeichnen, die im Medium der Kunst, der Literatur oder der Gartengestaltung realisiert bzw. materialisiert werden können. Für das Pittoreske wäre dabei dann seine ganz spezielle Form des Zusammenspiels mit der Ebene des Geschehens charakteristisch. Karlheinz Stierle stellt diese den beiden Ebenen der Geschichte (histoire) und des Textes der Geschichte (discours) gleichrangig an die Seite und legt dar, inwiefern sie gleichermaßen am Konstitutionsprozess des narrativen Textes beteiligt ist.724 So ist nämlich das Geschehen »im Blick auf die Geschichte […] ein unabschließbares Feld von Darstellbarkeiten«725, das von diesem durch eine Sinnschwelle nach oben hin getrennt ist. Das Geschehen selbst trägt in sich keinen Sinn, seine Kategorie 723 Ebd., S. 175. 724 Vgl. Karlheinz Stierle, »Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte«, in: Reinhard Koselleck / Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik. 5), München, Wilhelm Fink, 1973, S. 530–535. 725 Ebd., S. 531.

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»impliziert Kontinuierlichkeit der Veränderungen und Ambiguität ihrer Richtung.«726 Vorzustellen unterhalb der Schwelle zur Geschichte, die den Augenblick der Verknüpfungen und Bedeutungskonstitutionen darstellt, dienen seine Momente lediglich dazu, »in unabsehbarer Vielfalt Verknüpfungsmöglichkeiten bereit[zu]stellen.«727 Die schöne und die erhabene Landschaft operieren eindeutig oberhalb dieser Sinnschwelle, ist es doch gerade die »Konfrontation mit dem Wissenshorizont«728, die sie hervorbringt und ihnen damit eine ebensolche ›ideologische‹ Dimension verleiht, wie es laut Stierle auch charakteristisch für die Geschichte ist. Für diese konstitutiv sei nämlich noch eher als ihre Linie der Diachronie die »Verbindung zwischen systematischen Oppositionen eines Wissens von der Welt, für das sich der Name Ideologie anbietet.«729 Landschaft und narrativer Text werden sich durch diese »Priorität der achronischen über die diachronische Struktur«, die sich dadurch ergibt, dass das Schema der Geschichte die Bedingungen bestimmt, »unter denen Geschehen allererst angeeignet wird«730, sehr ähnlich. Beide haben einen Teil der Momente eines unendlichen Feldes von Darstellbarkeiten in bestimmter, sinnkonstruierender Weise verknüpft, beide haben einen Aneignungsprozess vollzogen. Die pittoreske Landschaft nimmt hier eine Sonderrolle ein, indem sie ihrem Wesen nach genau an der beschriebenen Sinnschwelle operiert: The picturesque […] seeks a tension between the disorderly or irrelevant and the perfected form. Its favourite scenes are those in which form emerges only with study or is at the point of dissolution. […] The aesthetic interest lies […] in the internal conflict between the centrifugal forces of dissolution and the centripetal pull of form.731

Sie beleuchtet exakt den Moment der Bedeutungskonstitution und hält diesen in der Schwebe. Die unendlichen Momente potenzieller Darstellbarkeiten befinden sich bereits in einem Prozess möglicher Verknüpfung – sonst wären sie gar nicht sichtbar und darstellbar732, sind aber eben noch nicht zu festen Bedeutungen verknüpft. Stellt die Festlegung auf die Geschichte eine Aneignung, eine Interpretation des Geschehens dar, so muss bei der Kreation des Pittoresken gewissermaßen umgekehrt verfahren werden, wie ja mit Lobsien bereits gesehen wurde: 726 727 728 729 730 731 732

Ebd., S. 532. Ebd. Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 168. Stierle, »Geschichte, Geschehen, Text der Geschichte«, S. 532. Ebd. Price, »The Picturesque Moment«, S. 277. Stierle bezeichnet diesen Zusammenhang als Dekodierungsrelation: »[…] der Text der Geschichte macht die Geschichte sichtbar, die Geschichte macht das Geschehen sichtbar.« (»Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte«, S. 531)

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Man kann sagen, daß die Herstellung pittoresker Gegenstände eine Umkehrung des empiristischen Prozesses darstellt: einfache Ausgangsideen werden spielerisch dissoziiert und differenziert, bis sie jenen Punkt überschreiten, von dem an sie durch eigene, aktive Rezeptionsleistungen wiedergewonnen werden müssen.733

Genau solche Prozesse spielerischer Dissoziierung und Differenzierung lassen sich nun auch bei Manzonis Erzählweise beobachten. Besonders die historiographischen Exkurse über die Mailänder Brotunruhen und die Pestdarstellung sind hier aufschlussreich, sind es doch scheinbar gerade diese Teile des Romans, in denen Manzoni seinem im Vorwort angekündigten Vorhaben nachkommt, eine authentische Darstellung der historischen Ereignisse für die Nachwelt zu schaffen. Dass sich dieser selbst postulierte Anspruch in den betreffenden Kapiteln jedoch als eher problematisch erweist, lässt sich als Konsens der Forschung ausmachen, die sich mit der Thematik eingehend auseinandergesetzt hat.734 Im zwölften bis fünfzehnten Kapitel der Promessi Sposi kommt es zu einer ersten längeren historiographischen Digression, als Renzo, gerade in Mailand angekommen, den ihm von Fra Cristoforo anempfohlenen Kapuzinermönch nicht in seinem Kloster antrifft und daraufhin in den Strudel der Ereignisse gerät, die sich just an diesem Tag in der Stadt zutragen. Schon auf dem Weg zum Kloster hatte das Betragen der Leute, die ihm begegnet waren, seine Neugierde geweckt. Eben dieser entschließt er sich dann unbekümmert zu folgen, um letztlich nicht nur Beobachter der Plündereien der Bäckereien und der Attacken auf die vermeintlich Verantwortlichen zu werden, sondern am Ende einer Reihe von unglücklichen Begebenheiten sogar als Rädelsführer der historischen Brotunruhen verhaftet zu werden. Der Moment der Zusammenführung von Fiktion und Historie wird durch ein aussagekräftiges Bild vollzogen, das die für den Roman typische Vorstellung von Geschichte als Mahlstrom entwirft, wie sie 733 »Landschaft als Zeichen«, S. 170. 734 Vgl. die ausführliche Studie von Karin Lizium, Die Darstellung der historischen Wirklichkeit in Alessandro Manzonis I Promessi Sposi (mimesis. 19), Tübingen, Niemeyer, 1993, bes. S. 231–252. Laut Lizium sollen die historischen Digressionen und die Geschichten der fiktiven Protagonisten zueinander in einer illustrierenden Beziehung stehen, die Kombination scheine Manzoni aber letztlich vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt zu haben. (S. 248) Zu Manzonis Abwendung vom historischen Roman vgl. auch seine eigenen Äußerungen in dem Traktat Del romanzo storico e, in genere, de’ componimenti misti di storia e d’invenzione, in dem er die Unvereinbarkeit des Romans mit der Geschichtsschreibung bespricht. (In: Edizione Nazionale ed Europea delle Opere di Alessandro Manzoni. Testi criticamente riveduti e commentati, Bd. 14, hrsg. von Silvia De Laude, Milano, Centro Nazionale Studi Manzoniani, 2000, hier u. a. S. 10ff.) Gisela Schlüter untersucht Manzonis theoretische Stellungnahmen zum historischen Roman und zeigt, inwiefern die Promessi Sposi die erkannte Problematik der Gattung ästhetisch umsetzen. Vgl. »Historiographie und Fiktion. Manzoni und die ›moralische‹ Krise des Romans«, in: Friedrich Wolfzettel / Peter Ihring (Hrsg.), Erzählte Nationalgeschichte. Der historische Roman im italienischen Risorgimento, Tübingen, Narr, 1993, S. 103–127.

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auch bereits in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart beobachtet werden konnte: »Il vortice attrasse lo spettatore. – Andiamo a vedere, – disse tra sH; tirk fuori il suo mezzo pane, e sbocconcellando, si mosse verso quella parte.«735 (PS 1840, S. 936) Renzos Rolle als personaler Erzähler der folgenden Ereignisse wird hier bereits vorbereitet: Sie werden dem Leser aus seiner Perspektive zugetragen, wobei die Beschreibung der Beweggründe des Protagonisten, der sorglos kauend in sein Verderben rennt, auch bereits humorvoll auf seine historiographischen Kompetenzen hinweist.736 Der Erzähler dagegen nutzt den Moment zur Darstellung der tatsächlichen Gründe des Aufruhrs: »Intanto che s’incammina, noi racconteremo, piF brevemente che sia possibile, le cagioni e il principio di quello sconvolgimento.« (Ebd.) Dies erklärt er insofern für notwendig, als dass die Ursache für den Brotmangel und die Teuerung nicht wie der vorherrschenden Meinung nach in den Aufkäufen durch die Bäckereien und die wohlhabendere Bevölkerung liege, sondern vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel von Ereignissen und Entwicklungen resultiere, die die gegenwärtige Situation langsam aber sicher herbeigeführt hätten. Mittels einer vergleichenden Analyse verschiedener historischer Quellen – das Verfahren des Erzählers zur Authentifizierung der Ereignisse – benennt er einige dieser Entwicklungen, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit: »…altre cagioni che non H qui il luogo di mentovare, andavano gi/ da qualche tempo operando lentamente quel tristo effetto in tutto il milanese.« (Ebd., S. 238) Es ist dieser Prozess der Rückführung ein735 Zum Zusammenhang des Motivs des vortice und dem Geschichtskonzept des Mahlstroms in den Promessi Sposi vgl. Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 102ff. und S. 224f. Dort findet sich eine Aufführung der zentralen Stellen des Romans, in denen die Vorstellung der Geschichte als Mahlstrom inszeniert wird. Dazu gehören vor allem die beiden Darstellungen überfluteter Straßen, auf denen sich Renzo bei seiner Ankunft in Mailand und am Schluss des Romans auf dem Weg aus der Stadt heraus wie auf einem reißenden Strom bewegen muss. Im ersten Fall gleitet er haltlos auf dem abschüssigen Terrain den Berg vor der Stadt hinunter und wird so, auf der metaphorischen Ebene, vom Mahlstrom der Geschichte erfasst. (Vgl. PS 1840, S. 230) Ernesto Livorni bespricht ebenfalls die zahlreichen Wassermetaphern, die er als Implikationen eines sinnbildlichen Sturms liest, in den Renzo in Mailand gerät, geht aber über sein Fazit, »[t]he storm metaphor is the founding metaphor of the chapters in which Renzo is in Milan«, nicht weiter hinaus. (»Renzo in Milan«, in: Larry H. Peer (Hrsg.), Romanticism and the City, New York, Palgrave Macmillan, 2011, S. 135–155, hier S. 143) In eine infernalische Vorstellung von Geschichte, in die die Protagonisten geworfen werden, lässt dagegen Mar&a de las Nieves MuÇiz MuÇiz die Metapher des vortice münden. Vgl. das Kapitel »La storia come incubo nei Promessi Sposi« in ihrer Studie Poetiche della temporalit/ (Manzoni, Leopardi, Verga, Pavese), Palermo, Palumbo, 1990. 736 Baldi deutet die Darstellung der Ereignisse aus der Perspektive des unwissenden, naiven Dorfbewohners als Mittel zur Hervorhebung des rationalistischen, systematischen Vorgehens des Erzählers: »Di contro ai personaggi il narratore rappresenta l’istanza della ragione e della scienza economica, e la sua presenza nel narrato si offre come l’unica alternativa all’irrazionalit/ che H la chifra caratterizzante il mondo rappresentato.« (I promessi sposi: progetto di societ/ e mito, S. 230)

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facher Ausgangsideen in ihr immer nur partiell einsehbares Gemisch aus Ursachen und Gründen, die die gesamte historische Darstellung der Mailänder Episode und letztlich jede Darstellung von Geschichte und Wirklichkeit im Roman motiviert. Im Fall der Brotunruhen findet dieser Vorgang ein besonders plastisches Anschauungsobjekt in dem zentralen Motiv der Episode, nämlich dem der Menschenmenge, die sich als ein roter Faden durch die betreffenden Kapitel zieht.737 Manzoni analysiert das Zustandekommen historischer Aufstände und zeigt, inwiefern in der Masse immer zwei einander entgegengesetzte Kräfte walten, die wiederum verschiedenste Abstufungen hervorbringen können und auf diese Weise die Masse befeuern, so wie es auch hier bei den ersten Formierungen der Fall ist: »trasportati da una rabbia comune, predominati da un pensiero comune.« (Ebd., S. 241) Er nutzt das Motiv der Menschenmenge, um Meinungen und Ereignisse, Bedeutungen und Handlungen in ihre ursprünglichen und in sich unendlich differenzierbaren Einzelaspekte zu zergliedern: »Qui forma poi la massa, e quasi il materiale del tumulto, H un miscuglio accidentale d’uomini, che, piF o meno, per gradazioni indefinite, tengono dell’uno e dell’altro estremo…« (Ebd., S. 259) Ganz in moralistischer Manier interessiert sich Manzoni für die Beweggründe der Menschen, für die versteckten Motivationen hinter ihren Verhaltensweisen, die er konsequent als Resultate widerstreitender Affekte deutet. Dieser Zustand konnte oben schon anhand von Renzos Stimmung während seiner späteren Flucht entlang der Adda beobachtet werden, er gilt aber auch als strukturbildendes Prinzip des Phänomens der Menschenmenge, die den Motor hinter den historischen Ereignissen um die Brotunruhen darstellt. Die Menge, das heißt »il materiale del tumulto«, ist, wenn man so will, von den pittoresken Eigenschaften Vielfalt und Kontrast bestimmt, was mit den auffallend langen Aufzählungen der gegensätzlichen Stimmungen immer wieder suggeriert wird: »[…] chi si maravigliava, chi sagrava, chi rideva; chi si voltava, […] , chi si fermava, chi voleva tornare indietro, chi diceva: ‹avanti, avanti›.«738 (Ebd., S. 252) Im Moment der Formierung der Menge – oder ihrer Auflösung, die Manzoni ebenfalls interessiert739 – fügen sich einige der potenziell unendlichen Faktoren zusammen und lösen eine Handlung 737 Wido Hempel analysiert in seinem Buch Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den Promessi Sposi, bei Scott und in den historischen Romanen der französischen Romantik (Krefeld, Scherpe, 1974) die verschiedenen Beschreibungen von Menschenmassen im Roman und stellt heraus, welche neuen narrativen Techniken gegenüber dem Drama Manzoni dabei entwickelt. 738 Hempel weist ebenfalls auf den asyndetischen und antithetischen Satzbau in den Beschreibungen der Menschenmenge hin, mittels dessen die hochgradige Erregung der heterogenen Masse expliziert werde und der eines der Verfahren darstelle, durch die Manzoni die erzähltechnischen Möglichkeiten seiner Zeit überschreite. (Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge, S. 60f.) 739 Vgl. z. B. PS 1840, S. 269f.

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aus. Dieser Moment birgt genau die gleiche Dynamik wie eine pittoreske Anordnung von Objekten in ihrer spezifischen Spannung: »a tension between the disorderly or irrelevant and the perfected form […,] between the centrifugal forces of dissolution and the centripetal pull of form.«740 Manzoni richtet sein historiographisches Interesse auf die Formierung oder Auflösung der Massen, auf die ursprünglich so verschiedenen Beweggründe hinter den kollektiven Handlungen, die im Fall der Aufstände letztlich nur Resultate einer zufälligen Kombination einzelner Faktoren darstellen. Statt der historischen Ereignisse beleuchtet er auf diese Weise vielmehr die (zeitlose) Widersprüchlichkeit und Absurdität der Wirklichkeit. Deren mal tragisierte, mal humorvoll-ironisch umspielte Dissonanzen bringt er auch durch eine gekonnte Vermischung der Stilebenen zum Ausdruck, wie es im gesamten Roman zu beobachten ist.741 Nicht selten rekurriert er dazu auf die Ästhetik des Grotesken, die diese beiden ambivalenten Möglichkeiten der Verzerrung der Wirklichkeit umfasst.742 In der vorliegenden Szene leitet sie die Geschehnisse sogar ein, indem die Beschreibung der mit Mehl beladenen Familie, die erste Merkwürdigkeit, der Renzo bei seiner Ankunft gewahr wird, ganz augenscheinlich nach ihren Gesetzen konzipiert ist. Renzo muss ganz genau hinschauen (»guardk attentamente«, ebd., S. 233), um aus dem seltsamen Anblick, der sich ihm plötzlich bietet – »tutt’ e tre in una figura strana« –, schlau zu werden. Gesicht und Lumpen voller Mehl, die Züge verzerrt und erhitzt (»stravolti e accesi«), unter der Last ihrer Beute riesiger Mehlsäcke gekrümmt und zudem schmerzerfüllt, scheinen die drei Gestalten mehr als nur aus der Form geraten: »come se gli fossero state peste l’ossa.« (Ebd.) Einen völlig grotesken Anblick bietet dabei in ihrer ganzen Hässlichkeit die Frau: »un pancione smisurato, che pareva tenuto a fatica da due braccia piegate: come una pentolaccia a due manichi.« (Ebd.) Hier muss Renzo seinen Blick nochmals schärfen, um die komische Täuschung zu entlarven: bei der Masse, die über den beiden halb nackten Beinchen hängt, die unter ihr taumelnd vorwärts schwanken, handelt es sich um den Unterrock der Frau gefüllt mit Mehl, und zwar »quanta ce ne poteva stare, e un po’ di piF.« (Ebd.) Eingehüllt in kleine Wölkchen aus Mehl, die ihr beim Gehen entweichen, bewegt sich die Gruppe von Vater, Mutter und Sohn vorwärts und lässt Renzo durch ihre Streitereien und gegenseitigen Bezichtigungen, die die Komik der Szene noch verstärken, erahnen, was sich vorher in der Bäckerei zugetragen hat: Die letzten Brotbestände werden geplündert, 740 Price, »The Picturesque Moment«, S. 277. 741 Angelo Marchese spricht von einem »vasto e variato concertato«, in dem sich die wahre Modernität und Polyfonie des Romans äußere (»La polifonia nei Promessi Sposi«, S. 202) Vgl. dazu auch Claudio Scarparti, »Il sublime e il comico. Capitoli XXII–XXIII«, in: Fandella / Langella / Frare (Hrsg.), Lettura de I promessi sposi, S. 93–96. 742 Vgl. zur Ästhetik des Grotesken Kayser, Das Groteske.

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wogegen sich Besitzer und Ordnungshüter nur noch mit Stockschlägen wehren können. Nicht nur wird der historische Moment des Beginns des Aufstandes durch die Art und Weise, in der der Protagonist von ihm erfährt, de-auratisiert, auch wird hier der Blick des Lesers eingestellt auf die kommenden Geschehnisse, die sich eher als (tragi-) komische Effekte einer grotesken Realität darbieten, denn als nennenswerte Höhepunkte eines Kapitels der nationalen Geschichte. Die Distanznahme vom Dargestellten, die sich im Grotesken manifestiert, geht auch aus dem Erzählerkommentar zu Renzos Reaktion auf das Beobachtete hervor : Renzo comincik a raccapezzarsi ch’era arrivato in una citt/ sollevata, e che quello era un giorno di conquista, vale a dire che ognuno pigliava, a proporzione della voglia e della forza, dando busse in pagamento. (Ebd., S. 234)

Die Vermischung der Stilebenen, der hier Komik und Ironie mit der vermeintlichen Erhabenheit der Erhebung des Volkes und der Tragik der Hungersnot konfrontiert, zieht sich durch die gesamte Mailand-Episode. Auf humorvolle Weise lässt Manzoni die Darstellungstechnik sogar kurz auf der Handlungsebene aufscheinen, als im weiteren Verlauf der Hauptmann vom Fenster der Bäckerei aus mit wohlgesinnten Worten die Menge zu beschwichtigen sucht, plötzlich aber in ein anderes Register fällt: »…Ah canaglia!« (Ebd., S. 245). Der Erzähler greift daraufhin sogleich erklärend ein: Questa rapida mutazione di stile fu cagionata da una pietra che, uscita dalle mani d’uno di que’ buoni figliuoli, venne a batter nella fronte del capitano, sulla protuberanza sinistra della profondit/ metafisica. (Ebd.)

Durch den gekonnten Wechsel der Stilebenen werden hier wie im Rest der Szene Brüche und Dissonanzen erzeugt, die die Perspektive verstellen und die unendlich vielgestaltigen Facetten der menschlichen Natur und der Wirklichkeit reflektieren. Auf deren Existenz immer wieder spielerisch hinzuweisen, ist das eigentliche Ziel des Erzählers der Brotunruhen, der es an humorvollen Kommentaren über die Untauglichkeit der Geschichtsschreibung ja zudem, wie bekannt ist, nicht fehlen lässt.743 Rationalistisch ist Manzonis Historiographie demnach weniger in ihrer vermeintlichen Darstellung von Geschichte als einer logischen Abfolge von Ursachen und Wirkungen,744 sondern allenfalls indem sie das Gefahrenpotenzial 743 So z. B. die Beschreibung des Verhaltens des vicario während sich die Menge zu seinem Haus bewegt: »Del resto, quel che facesse precisamente non si puk sapere, giacchH era solo; e la storia H costretta a indovinare. Fortuna che c’H avvezza.« (PS 1840, S. 254) Zu den ironischen Infragestellungen der Gattungskonventionen durch den Erzähler vgl. Schlüter, »Historiographie und Fiktion«, S. 121. Vgl. außerdem das Gleichnis von den Meerschweinchen, PS 1840, S. 228f. 744 Klinkert deutet die »ausführliche Rekonstruktion der Kausalkette« als Manifestation des

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falschen Glaubens, die Macht der Masse, »avendo la maggior forza« (ebd., S. 259), erkennt und sie zu dekonstruieren sucht. Hierum geht es auch in der berühmten Pestdarstellung, der zweiten, noch längeren historiographischen Digression des Romans, die vom Erzähler mit dem bekannten Hinweis eingeleitet wird, wer sich für die Schilderung nicht interessiere, könne die folgenden Kapitel getrost überspringen. In den Kapiteln 28, 31 und 32 widmet er sich tatsächlich ganz der Erforschung des Ausbruchs und des Verlaufs der historischen Seuche, wobei er direkt zu Beginn der Darstellung mit dem Anspruch auftritt, durch seine Methode der vergleichenden Quellenanalyse und durch eine analytische Erforschung der tatsächlichen Ursachen und Wirkungen ein authentisches Bild der Ereignisse zu liefern.745 Genau an einem solchen Anspruch mangle es den einzelnen zeitgenössischen Berichten: alcuni fatti dispersi, non di rado scompagnati dalle circostanze piF caratteristiche, senza distinzion di tempo, cioH senza intelligenza di causa e d’effetto, di corso, di progressione. (Ebd., S. 584)

Im Folgenden legt er dann auch ausführlich dar, wie eine Kette von Fehlentscheidungen und unvorstellbarer menschlicher Dummheiten sowie die Starrsinnigkeit, die eigene Schuld nicht eingestehen zu wollen, dazu geführt haben, die Seuche zum einen noch zu leugnen, als sie schon allgegenwärtig und unbestreitbar war, und zum anderen ihre Ausbreitung durch eine Reihe fehlgeleiteter Maßnahmen sogar noch zu befördern. Eine besonders wichtige Rolle bei der Herleitung dieser Entwicklungen spielt für den Erzähler dabei die Art und Weise, wie die Geschehnisse von den Menschen wahrgenommen werden und wie diese Wahrnehmungen letztlich durch ganz andere Faktoren wie z. B. Faulheit, Eigennutz, Angst und, je weiter die Katastrophe voranschreitet, vor allem durch Aberglauben beeinflusst sind. Nachdem neben weiterem Fehlverhalten der Verantwortlichen vor allem die Prozession zu Ehren des Heiligen Carlo Borromeo, dessen Leichnam inmitten der versammelten Bevölkerung durch die Straßen getragen wird, statt zur erhofften Gnädigstimmung der göttlichen Vorsehung zu einer extremen Verschlimmerung der Lage führt, breiten sich Angst und Schrecken immer weiter aus und bestimmen Denken und Wahrnehmung der Menschen. Dieser Zustand bietet ideale Bedingungen für die Entstehung des Mythos von den Salbern: »quando gli animi son preoccupati, il sentire faceva l’effetto del vedere.« (Ebd., S. 605) Man stellt sich vor, die rasche rationalistisch-modernen Weltmodells der historiographischen Digressionen. (Epistemologische Fiktionen, S. 190f.) 745 Es sind u. a. diese Ankündigungen des Erzählers, die bewirken, dass die Darstellung in der Forschung als rationalistisch angelegte Chronik der historischen Ereignisse gelesen wird, in der sich die Auffassung der Geschichte als ›magistra vitae‹ artikuliere. Vgl. z. B. Küpper, »Ironisierung der Fiktion«, S. 141f.

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Ausbreitung der Seuche sei das Werk mysteriöser Giftmischer, die eine gelbliche Salbe an Hauswände schmierten und so die Pest verbreiteten. Diese Vorstellung verselbstständigt sich dermaßen, dass auch der extreme Anstieg der Zahl der Erkrankungen nach der Prozession nicht auf die Ansteckungsgefahr in der Menschenmenge zurückgeführt wird, sondern darauf, man habe den Salbern durch die Versammlung gute Gelegenheit zum unbeobachteten Handeln gegeben. Der Erzähler nun beschäftigt sich mit diesem Unmaß menschlicher Torheit, »il povero senno umano« (ebd., S. 611), indem er die Ursachen, das Zustandekommen, die Fortentwicklung, die Erscheinungsformen und die Auswirkungen des Mythos genauestens analysiert und beschreibt. So zeichnet er detailgetreu nach, wie zunächst vereinzelte Geschichten über solche Giftmischer aufkommen, wie sie mit dem verbreiteten Hexenglauben einhergehen und wie sie sich zur damaligen Zeit in ganz Europa erzählt wurden. So gelangt zum Beispiel ein Jahr vor Ausbruch der Epidemie in Mailand eine vom spanischen König Philipp IV. unterzeichnete Depesche an den Statthalter mit der Warnung, er solle vor vier Franzosen aus Madrid auf der Hut sein, die beim Verbreiten jener Salben erwischt worden und geflüchtet seien. Der zweifelhafte Hinweis verliert sich zunächst im allgemeinen Chaos der Entwicklungen, hinterlässt aber doch so viele Spuren in der Erinnerung, als dass er wieder herangezogen werden kann, als sich Verzweiflung und Panik vor der Seuche bereits soweit gesteigert haben, dass eine Art Sündenbock für die Katastrophe herhalten muss – »chH la collera aspira a punire.« (Ebd., S. 605) Ein Gemisch aus Hilflosigkeit seitens der Verantwortlichen und Aberglaube seitens der Bevölkerung tut sein Übriges: Da’ trovati del volgo, la gente istruita prendeva cik che si poteva accomodar con le sue idee; da’ trovati della gente istruita, il volgo prendeva cik che ne poteva intendere, e come lo poteva; e di tutto si formava una massa enorme e confusa di pubblica follia. (Ebd., S. 620)

Der Entstehungsprozess des Mythos als einer erzählten Geschichte, die sich immer mehr verselbstständigt, eigenmächtig wird und schließlich auch die schlaueren Köpfe erfasst, wird vom Erzähler genau nachgezeichnet. Er interessiert sich dabei weniger für die Frage nach den letztendlichen Gründen dafür, warum eine Idee von der Person Besitz ergreifen konnte, welche geistigen oder charakterbedingten Eigenschaften dazu geführt haben,746 sondern dafür, welches Gemisch von Tatsachen und welche Verkettung von Ereignissen der Ent-

746 Als der Kardinal Federigo Borromeo, der zu den wenigen Hellsichtigen gehört und versucht, den Irrglauben zu bekämpfen, schließlich doch in die anfänglich untersagte Prozession einwilligt, räumt der Erzähler beispielsweise ein: »Se poi, nel ceder che fece, avesse o non avesse parte un po’ di debolezza della volont/, sono misteri del cuore umano.« (PS 1840, S. 608)

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stehung und Verbreitung des Mythos vorangehen und wie deren durch vielerlei Faktoren beeinflusste Wahrnehmung abgelaufen ist: […] perchH, negli errori e massime negli errori di molti, cik che H piF interessante e piF utile a osservarsi, mi pare che sia appunto la strada che hanno fatta, l’apparenze, i modi con cui hanno potuto entrar nelle menti, e dominarle. (Ebd., S. 600)

Auch hier wird also wie in der Episode der Brotunruhen eine einfache Ausgangsidee, die Vorstellung, die Salber seien für die Katastrophe verantwortlich, in ihre komplexen Vorbedingungen zurückgeführt, wiederum ohne den Anspruch auf Vollständigkeit oder auf Ergründung bis in die letzten Instanzen. Der Mythos ist für eine solche Rückführung besonders gut geeignet, da er in einem extrem reduzierenden Verhältnis zur Komplexität der Wirklichkeit steht. Betrachtet man ihn als Erzählung, stellt er mit Stierles Unterscheidung einen besonderen Fall der Aneignung des Geschehens durch eine Geschichte dar. »Im Hinblick auf das Geschehen ist die Geschichte eine Reduktion«747 und dies gilt in hohem Maß für den Mythos, der seinen fehlenden Wahrheitsgehalt durch seine starke emotionale Färbung und kollektive Verbindlichkeit kompensieren kann. Durch die Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit wirkt er sinnstiftend und leitet zum Handeln an, wie im vorliegenden Fall des Mythos von den Salbern: »L’immagine di quel supposto pericolo assediava e martirizzava gli animi, molto piF che il pericolo reale e presente.« (Ebd., S. 617) Manzoni legt in seiner Pestdarstellung dar, dass die Handlungen und das Verhalten der Menschen zu großen Teilen von solchen Geschichten und Mythen ausgelöst werden und verleiht seiner Historiographie durch die Thematisierung der Entstehungsprozesse solcher Geschichten eine metapoetische Dimension.748 Nun impliziert die Operation an der Bedeutungsschwelle, also die Beschäftigung mit dem Moment, in dem sich Bedeutungen konstituieren und Sinn zustande kommt, die Manzoni in so vielfältiger Weise in seinem Roman praktiziert, noch ein weiteres Moment. Seine Historiographie kritisiert und dekonstruiert die Reduktion der komplexen Wirklichkeit durch die ›falschen‹ Geschichten nicht nur, sondern fasziniert sich auch für diese. Diese Ambivalenz ist von Beginn der Pestschilderung an präsent, wenn es schon über die Zusammenstellung der zeitgenössischen Berichte heißt:

747 Stierle, »Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte«, S. 532. 748 Michael Bernsen untersucht dieses Verfahren ausführlich und schlussfolgert, Manzoni entwickle durch sein Interesse an Geschichten und Mythen als Auslöser historischen Handelns eine völlig neue, bis dato unbekannte Methode historiographischen Schreibens. Für diese Methode führt Bernsen die Bezeichnung ›historische Mythenforschung‹ ein. (Geschichten und Geschichte, S. 184f.)

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Delle molte relazioni contemporanee, non ce n’H alcuna che basti da sH a darne un’idea un po’ distinta e ordinata; come non ce n’H alcuna che non possa aiutare a formarla. (Ebd., S. 584)

Jeder einzelne Bericht ist zudem durch eine Unordnung gekennzeichnet, die, wie der Erzähler vorgibt, für die Zeit charakteristisch sei, tatsächlich jedoch wieder den typischen, im Roman schon so oft bemühten und immer wieder beschworenen Gestaltqualitäten folgt: In tutte poi regna una strana confusione di tempi e di cose; H un continuo andare e venire, come alla ventura, senza disegno generale, senza disegno ne’ particolari. (Ebd.)

Die seltsame Unordnung, das ständige und zufällige Hin-und-her der Elemente wird vom Erzähler nur scheinbar kritisiert bzw. dem Anspruch unterstellt, von ihm geordnet werden zu müssen. Sein auffällig betonter rationalistischer Anspruch der Darstellung von Ursache und Wirkung steht in Wirklichkeit hinter der Faszination für die lebendige Ursprünglichkeit der alten Berichte zurück: […] sentiamo troppo che forza viva, propria e, per dir cos', incomunicabile, ci sia sempre nell’opere di quel genere, comunque concepite e condotte. (Ebd.)

Der Wert der Geschichten liegt in ihrer Originalität, unabhängig davon, in welcher Weise sie auch konzipiert sein mögen. Die zeitliche Distanz zwischen ihrer Abfassung und der Rezeption im 19. Jahrhundert sowie die Menge an einander widersprechenden Berichten verunklaren den gemeinsamen Inhalt und nähern ihn wieder dem »unabschließbare[n] Feld von Darstellbarkeiten«749 an, welches das Geschehen bzw. die Wirklichkeit darstellt. Indem sie dem Leser ungeordnet erscheinen, evozieren sie wieder die ursprüngliche Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit und sind darin lebendig. Diese Originalität ist jedoch für den Verstand nicht greifbar (»incomunicabile«). Soll Geschehen vermittelt und Bedeutung konstruiert werden, bedarf es einer verstandesmäßigen Ordnung (»disegno«), dem »Hindurchlegen einer ideellen Linie«, um mit Stierle zu sprechen.750 Dies ist der Grund, warum Manzoni sich in seinem Roman so intensiv mit dem Wesen von Geschichten auseinandersetzt und damit gleichzeitig die Möglichkeiten der Geschichtsschreibung hinterfragt. Er ist sich darüber bewusst, dass die Aneignung oder Beschreibung der (historischen) Wirklichkeit immer mit einer zwangsläufigen Reduktion ihrer Komplexität einhergehen muss. Auch er kann, indem er den Anspruch erhebt, ein authentisches Bild des Geschehens zu geben, nur wieder eine solche ›unzureichende‹ Geschichte erschaffen, was er implizit auch immer wieder offen bekundet, wie zum Beispiel zu Beginn der Digression, wenn er erklärt, seine Darstellung gelte 749 Stierle, »Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte«, S. 531. 750 Ebd., S. 532.

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nur »per ora e finchH qualchedun altro non faccia meglio.« (Ebd., S. 585)751 Seine Reaktion auf dieses Bewusstsein artikuliert sich schließlich in der Faszination für alles Ungeordnete, alles was »senza disegno« eine »Situation vor jeder Ordnung« beschreibt, »eine Situation, die sich nur um den Preis arbiträrer Konstruktionen vereindeutigen ließe«752, wie es auch beim Pittoresken der Fall ist und wie es sich in der Eingangslandschaft manifestiert. Die Leistung der Promessi Sposi liegt darin, sich immer nahe der Grenze der Bedeutungskonstitution zu bewegen, sie zu umspielen und implizit zu thematisieren. Geschichten und auch Mythen, bei aller Gefahr, die von ihnen ausgehen kann, sorgen dafür, Wirklichkeit verständlich und zugänglich zu machen. Manzoni thematisiert diese Prozesse der Bedeutungskonstitution, um sie gleichzeitig zu hinterfragen und ihren Konstruktionscharakter zu beleuchten. Diese Autoreflexibilität hat Manzonis Erzählweise mit dem Pittoresken gemeinsam, auch dort befindet sich das Wahrnehmungsbewusstsein »in einem Testfeld, in dem ihm die Chance der Selbstreflexion eröffnet ist.«753 Der Erzähler der Promessi Sposi gibt vor, aus der Menge an ungeordneten Informationen die tatsächliche Ordnung rekonstruieren zu wollen, tatsächlich weiß er aber, dass er durch seine Darstellung ›nur‹ wieder eine neue Version möglicher Bedeutungszusammenhänge kreiert, wie er es dann auch am Ende der historischen Digression – auf den ersten Blick lapidar – zusammenfasst: […] c’H parso che la storia potesse esser materia d’un nuovo lavoro. Ma non H cosa da uscirne con poche parole; e non H qui il luogo di trattarla con l’estensione che merita. (Ebd., S. 624)

Die möglichen Konfigurationen der storia sind schließlich in solcher Weise unendlich, wie die Möglichkeiten des Historikers, die geschichtliche Wirklichkeit zu rekonstruieren, beschränkt sind. Der Wert der Geschichtsschreibung kann demnach nur darin liegen, weitere Zusammenhänge und Bedeutungen offen zu halten und zu evozieren, wie es auch hier durch die schemenhafte 751 Aus diesem Aspekt leitet sich auch Manzonis Kritik an der Gattung des Romans ab, der das Geschehen ebenfalls mit einer künstlichen Ordnung überziehe, die nicht der komplexen Realität entspreche. In dem bekannten Brief an seinen Freund Claude Fauriel vom 29. Mai 1822, in dem er sein Projekt eines historischen Romans ankündigt, heißt es: »Quant / la marche des 8v8nements, et / l’intrigue, je crois que le meilleur moyen de ne pas faire comme les autres est de s’attacher / consid8rer dans la r8alit8 la maniHre d’agir des hommes, et de la consid8rer surtout dans ce qu’elle a d’oppos8 / l’esprit romanesque. Dans tous les romans que j’ai lus, il me semble de voir un travail pour 8tablir des rapports int8ressans et inattendus […], enfin une unit8 artificielle que l’on ne trouve pas dans la vie r8elle.« (Carteggio. Alessandro Manzoni – Claude Fauriel, in: Edizione Nazionale ed Europea delle Opere di Alessandro Manzoni. Testi criticamente riveduti e commentati, Bd. 27, hrsg. von Irene Botta, Milano, Centro Nazionale Studi Manzoniani, 2000, S. 353) 752 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. 753 Ebd., S. 173.

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Andeutung einer komplizierteren Sachlage geschieht, auf die laut dem Erzähler an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden könne. Im gesamten Verlauf der Promessi Sposi wird diese Ebene des viel komplexeren und nicht darstellbaren Geschehens jederzeit präsent gehalten. Durch seine diskursive Gestaltung legt Manzoni immer wieder offen, inwiefern die Geschichte eine reduzierende Vereinnahmung des Geschehens darstellt und evoziert gleichzeitig deren uneinsehbaren Reichtum an möglichen Bedeutungskonstellationen. Indem er ein Stück Historie erzählt und im gleichen Moment die Bedingungen dieser Erzählung sichtbar macht, hinterfragt er die Gattung des Geschichtsromans bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Die Manuskriptfiktion dient vor diesem Hintergrund sicherlich auch dazu, das Interesse auf die Art und Weise der Darstellung, der diskursiven Gestaltung des Geschehens zu lenken. Der Erzähler selbst gibt hierfür im Vorwort unzweideutige Hinweise: PerchH non si potrebbe, pensai, prender la serie de’ fatti da questo manoscritto, e rifarne la dicitura? – […] Ed ecco l’origine del presente libro, esposta con un’ingenuit/ pari all’importanza del libro medesimo. (Ebd., S. 7)

Unter dem Vorwand, die nicht adäquate, veraltete Ausdrucksweise des Anonymus für die zeitgenössische Leserschaft anpassen zu müssen, betont der Erzähler immer wieder die Originalität der Ausdrucks- oder Vermittlungsebene seines eigenen Werkes und weist den Leser offen an, sein Interesse genau darauf zu lenken754 : Ma, rifiutando come intollerabile la dicitura del nostro autore, che dicitura vi abbiam noi sostituita? Qui sta il punto. (Ebd.)

Mit den Promessi Sposi gelingt Manzoni ein historischer Roman, hinter dessen augenscheinlichem Ziel, eine Episode der nationalen Geschichte darzustellen, sich eine fundierte und äußert weitsichtige Reflexion über die narratologischen und diskursiven Verfahrensweisen, Möglichkeiten und Grenzen dieser Gattung verbirgt. Diese Dimension ist in Fermo e Lucia noch nicht angelegt.755 Sie tritt im Zuge der Überarbeitung in der gleichen Weise hinzu, wie auch die Ästhetik des Pittoresken von Manzoni in den Promessi Sposi ausdifferenziert und weiterentwickelt wird. Wie die pittoreske Eingangslandschaft des Romans wirft auch seine dicitura die Frage der Perspektive auf, um den Blick mit dem Hinweis auf 754 Laut Klinkert weist der Erzähler mit der Betonung der Trennung von discours und histoire auf die Aufgabe der modernen, rationalistischen Historiographie hin, die Fremdheit des alten Textes zu überwinden und seine Form dem Verstehenshorizont des modernen Lesers anzupassen. (Epistemologische Fiktionen, S. 181) 755 In der Pestbeschreibung wird zwar z. B. auch die Methode der vergleichenden Quellenanalyse besprochen, die oben aufgeführten autoreflexiven Erzählerkommentare finden sich darin jedoch noch nicht. (Vgl. z. B. FL, S. 685)

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die Existenz vieler anderer möglicher Sichtweisen sogleich wieder zu zerstreuen. Mit einem solchen Hinweis endet dann auch nicht zufällig das ausgetüftelte Tableau: »e orna vie piF il magnifico dell’altre vedute.« (Ebd., S. 11, Hervorhebung v. Vf.)

3.3.4 Zusammenfassung Die Analyse der Landschaftsszenen der Promessi Sposi und der Vergleich zu den entsprechenden Szenen aus Fermo e Lucia konnte eine neue Perspektive auf den komplexen Roman eröffnen. In der Zeit der Überarbeitung seines historischen Romans scheint für Manzoni die Einsicht in die Undurchdringbarkeit der Wirklichkeit zu einem essenziellen Antrieb seines Schaffens geworden zu sein. Der Gedanke schlägt sich in dem erzählerischen Umgang mit der historischen Wirklichkeit ebenso nieder, wie in der Ausarbeitung der Landschaftsszenen. Die literarische Darstellung von Natur und der Situation des Betrachters in der Landschaft stellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Instrument zur Thematisierung und Hinterfragung der Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Menschen dar. Manzoni beantwortet diese Fragen auf seine ganz eigene Weise. Im ersten Teil der Analyse der Promessi Sposi galt das Interesse seinem Umgang mit den konventionellen Methoden der zeitgenössischen Landschaftsdarstellung. Die Analyse der entsprechenden Szenen, die in der Forschung als poetisch anmutende Evokationen eines durch die Romanhandlung problematisierten idyllischen Urzustandes gelesen werden, konnte zeigen, wie Manzoni die entscheidenden Mechanismen der romantischen Stimmungslandschaft subtil konterkariert. Die Unmittelbarkeit des Naturerlebnisses, durch die das romantische Ich sich, zumindest für einen kurzen Augenblick, als Teil der Welt und ihrer kosmischen Harmonie erfahren kann, wird in den Landschaftsszenen der Promessi Sposi nicht nur negiert, sondern auf spielerische und manchmal auch humorvolle Weise dissoziiert. Dies kann durch eingeschobene Erzählerkommentare geschehen, die im entscheidenden Augenblick eine bizarre Distanz zur atmosphärisch aufgeladenen Landschaftserfahrung schaffen, oder aber sogar durch die Annullierung des Betrachtungsvorgangs selbst. Die Landschaftsdarstellung kann auf diese Weise parodistische Züge annehmen, wie es besonders anhand des malerischen Tableaus des Morgenhimmels bei Renzos Flucht entlang der Adda beobachtet werden konnte. Während diese Beschreibungspassagen Manzonis kenntnisreiche Anwendung der tradierten Techniken belegen konnten, wurde durch den Vergleich zu Fermo e Lucia deutlich, dass die akkurate Realisierung der konventionellen Ästhetik erst ein deutliches Anliegen der späteren Fassung ist. Das romantische Paradigma der Korrespondenzlandschaft wird in dieser sozusagen vorgeführt, um es gleichzeitig zu hinter-

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treiben und zu de-auratisieren. Von der Vorstellung eines Einklangs zwischen Mensch und Natur so wie ihn die romantische Landschaft zu Beginn der Epoche noch suggestiv zu beschwören sucht, sind die Promessi Sposi bereits weit entfernt. Der spielerische Rekurs auf das Naturgefühl der Romantiker zeigt zum einen Züge der Verzerrung romantischer Klischees, die sich Mitte des Jahrhunderts und besonders stark in der französischen Literatur beobachten lässt, von der Manzoni stark beeinflusst ist. Zum anderen geht er einher mit der Parodie einfacher Formen, die für die Promessi Sposi in mehrfacher Hinsicht charakteristisch ist. Ebenso wie das Modell der Korrespondenzlandschaft wendet Manzoni im Rahmen der Haupthandlung und der verschiedenen Nebenhandlungen exemplarisch verschiedene Erzählformen an, um letztlich die Unzulänglichkeit all dieser Formen offen zu legen, ein authentisches Bild der darzustellenden Ereignisse zu liefern. Statt den Anspruch auf eine große Erzählung der Geschichte zu erheben, führen die Promessi Sposi die verschiedensten Ansätze zur Annäherung an die Wirklichkeit vor. Diese bieten partielle Einblicke, verweisen aber in ihrem Nebeneinander zugleich auf die NichtExistenz einer adäquaten Methode. An die Stelle der romantischen Stimmungslandschaft setzt Manzoni die pittoreske Landschaft, deren Ästhetik er zugleich aktualisiert, wie es durch den Vergleich der Varianten der berühmten Eingangslandschaft »Quel ramo del lago di Como…« in den Promessi Sposi und in Fermo e Lucia besonders deutlich werden konnte. Während die pittoresken Qualitäten variety und contrast in der frühen Fassung noch das harmonische Zusammenspiel von lieblicher und wilder Landschaft gewährleisten und die verschiedenen Landschaftsbilder sich gemäß der ordnenden Perspektive des Betrachters formen, verselbstständigen sich Vielfalt und Kontrast in der neuen Landschaft in einer für den Betrachter nicht mehr beherrschbaren Weise. Durch die allumfassende Eigendynamik der Landschaft wird das von Price und Payne Knight geforderte Charakteristikum der intricacy derart gesteigert, dass der Wahrnehmungsvorgang und die perzeptiven Fähigkeiten des Betrachters tiefgreifend erschüttert werden. Der Vergleich der Fassungen konnte hier die extrem gegensätzliche Inszenierung des Betrachters herausstellen, der in Fermo e Lucia durch die Ordnung der Landschaft ästhetisches Vergnügen produzieren und sich seiner rationalen Fähigkeiten vergewissern kann, während er durch die ständigen Perspektivenwechsel in den Promessi Sposi mit der Unmöglichkeit konfrontiert wird, seine Umgebung zu erfassen. Die Inszenierung dieses Autonomieverlusts des Subjekts stellt ein wiederkehrendes Thema des Romans dar und konnte beispielsweise auch anhand der Darstellung eines locus terribilis beobachtet werden. Die Analyse der Eingangsszene hat dagegen noch ein weiteres Moment hervorgebracht, das für den Roman ebenfalls strukturbildend ist und gleichfalls aus der Weiterentwicklung der Ästhetik des Pittoresken hervorgeht. So zielt die Landschaftsdar-

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stellung in ihrer gesamten stilistischen und inhaltlichen Erscheinung darauf ab, reduzierende Bedeutungszuweisungen wieder zu zergliedern und stattdessen eine unerschöpfliche Vielfalt möglicher Konfigurationen präsent zu halten. Dieser Rückführung von Wahrnehmungen und vermeintlichen Einsichten in ihre ursprüngliche, ungeordnete und ungleich reichere Form liegt die Vorstellung der Wirklichkeit als eine undurchdringbare, in sich unendlich komplexe Masse zugrunde, die nur so annäherungsweise evoziert werden kann. Die Umspielung des Moments der Bedeutungskonstitution zieht sich als ein roter Faden durch den Roman und ergreift alle Bereiche. Am Beispiel der beiden größeren historiographischen Digressionen konnte gezeigt werden, inwiefern Manzonis erzählerischer Zugang zur Geschichte darin besteht, vereinfachende Darstellungen zu widerlegen, die ursprüngliche Komplexität der Situation – soweit möglich – zu rekonstruieren und auf diese Weise historisches Handeln zu ergründen. Im mit der fiktiven Handlung verbundenen Teil der Mailänder Brotunruhen konnte dies anhand des Motivs der Menschenmenge sowie der Vermischung der Stilebenen und der Bezugnahme auf das Groteske gezeigt werden, das ebenfalls die unkontrollierbare Widersprüchlichkeit des Daseins zu seinem Objekt hat. Im Fall der rein historiographischen Pestdarstellung hingegen tritt Manzonis quellen- und erkenntniskritisches Bewusstsein noch deutlicher zutage. Unter anderem anhand seiner geschickten Stellungnahmen zur Vorgehensweise bei der Rekonstruktion der Ereignisse konnte sein Umgang mit der Macht von Geschichten und Mythen beobachtet werden. Während er einerseits offenlegt, welchen Lauf Ideen nehmen können und welches Handlungs- und auch Gefahrenpotenzial Geschichten demnach für historische Entwicklungen besitzen können, thematisiert er andererseits die Unumgänglichkeit solcher – zwangsläufig vereinfachenden – Bedeutungszuweisungen. Seine eigene Geschichtsschreibung ist, wie gezeigt werden konnte, von dem Bestreben geprägt, stets die unerschöpfliche Vielfalt weiterer möglicher Geschehensmomente präsent zu halten, aus der die Wirklichkeit seinem Verständnis nach besteht und die er daher an den entscheidenden Stellen als eine Art Faszinosum immer wieder wachruft und beschwört. Durch die Betrachtung des Erzähltexts als Gefüge der Ebenen Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte wurde so gleichzeitig die Verwandtschaft von Geschichten und Landschaften deutlich, wenn letztere ebenso wie Texte als Zeichensysteme verstanden werden. Sowohl Geschichten als auch Landschaften wie die schöne oder die erhabene Landschaft stellen Aneignungen der Wirklichkeit, das heißt der Ebene des Geschehens dar. Die pittoreske Landschaft nimmt darin jedoch einen Sonderstatus ein, indem sie den Moment der Bedeutungskonstitution umspielt und somit den reduzierenden Aneignungen entgegenarbeitet. Sie versinnbildlicht folglich den historiographischen Anspruch der Promessi Sposi insofern, als dass in beiden Bereichen

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»die Situation vor jeder Ordnung«756, das heißt das Geschehen »senza disegno generale, senza disegno ne’ particolari« (PS 1840, S. 584) das eigentliche Objekt des Interesses und auch der Faszination ausmacht. Die Faszination für das Ungeordnete und die geheimnisvolle Macht, die von der Wirklichkeit aufgrund ihrer Undurchdringbarkeit ausgeht, ist im Roman allseits präsent und leuchtet in Begriffen wie dem guazzabuglio, dem andirivieni oder dem vortice der Geschichte immer wieder auf. Manzoni spielt mit den verschiedensten Möglichkeiten, die undurchschaubare Eigendynamik des Geschehens zu evozieren. All diesen Darstellungen ist dann immer gemein, sowohl das Moment der existenziellen Verunsicherung, das die Einsicht in die Unkontrollierbarkeit des Geschehens zwangsläufig hervorbringen muss, als auch die schließliche Akzeptanz desselben als einzig mögliche Daseinsform zu umschließen. In dem bekannten Gleichnis von dem Jungen und seinen Meerschweinchen, das das Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren widerspiegelt, erkennt der Junge, »vispo, per dire il vero, piF del bisogno« (PS 1840, S. 228), schnell, seine Schützlinge so leicht nicht unter ein Dach zu bekommen, da ihm beim Einsammeln im gleichen Moment andere wieder entweichen. Er macht sich daraufhin ein Spiel daraus, sich immer nur demjenigen zuzuwenden, welches dem Käfig am nächsten ist. Diese Taktik, »[u]n gioco simile« (ebd.), überträgt der Erzähler auf seinen Umgang mit den Figuren, deren Eigenleben sich seinem Zugriff ebenso entzieht.757 Das berühmteste Beispiel für die Inszenierung der Eigendynamik der Erscheinungen ist aber wohl die Beschreibung von Renzos Weinberg, die ähnlich wie die Eingangslandschaft im Lauf der Rezeptionsgeschichte des Romans eine enorme Fülle unterschiedlicher Deutungen erfahren hat. Mit dem Hinweis, der angesichts der Verwilderung seiner vigna resignierte Renzo »forse non istette tanto a guardarla, quanto noi a farne questo po’ di schizzo« (ebd., S. 613), lädt der Erzähler ohnehin dazu ein, die Konstruiertheit des Tableaus wieder zu entschlüsseln. Ausgehend von der traditionellen Deutung der Szene des biblischen Motivs des Weinbergs als Allegorie auf die Verderbtheit der irdischen Natur und die Verwahrlosung der Schöpfung über die Parodie taxonomischen Wissens und des klassifikatorischen Denkens der Botanik bis hin zur Kurzschließung des Pflanzenwuchs mit dem darwinistischen Gesellschaftsmodell eines ›struggle for life‹ bietet die Beschreibung die unterschiedlichsten Bedeu-

756 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 170. 757 Zur Interpretation der Szene vgl. Piero Alberti, I porcellini d’India e il pastorello. Personaggi dei Promessi Sposi di Manzoni: fine di un messaggio cattolico (Hermes. Collana di studi comparatistici interculturali), Roma, Armando, 2001, bes. S. 57ff.; Fredi Chiappelli, »Un centro di smistamento nella struttura narrativa dei Promessi Sposi«, in: Lettere Italiane 20 (1968), H. 3, S. 333–350.

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tungsschichten.758 Der knapp zweiseitigen Darstellung der Verwilderung des einstmals kultivierten Gartens und der gegenseitigen Überlagerung der stärkeren und schwächeren Pflanzenarten liegen gleich mehrere zeitgenössische Episteme und Gesellschaftsmodelle zugrunde, die der Erzähler somit sozusagen zur Diskussion stellt. Das eigentliche Charakteristikum des Gartens scheint letztlich jedoch darin zu liegen, all diese Ordnungsversuche im Wildwuchs der Natur untergehen zu lassen. Selbst dem Besitzer des Weinbergs ist der Zugang versperrt, wie die über das Tor wuchernden Pflanzen scheinbar verdeutlichen wollen: »[…] attraversato davanti al limitare stesso, pareva che fosse l' per contrastare il passo, anche al padrone.« (Ebd.) Dessen Reaktion auf das Gesehene exemplifiziert gegen Ende des Romans noch einmal den sinnvollen Umgang mit der Undurchdringbarkeit des Geschehens. Renzos Kommentierung bleibt auf den Ausruf »povera vigna!« (ebd.) beschränkt und von dem Gedanken, sich Zugang zu verschaffen, ist er weit entfernt: »Ma questo non si curava d’entrare in una tal vigna.« (Ebd.) Die Kurzschließung der Ästhetik des Pittoresken mit der Historiographie, die die Promessi Sposi ermöglichen und die Manzoni auch bewusst in seinem Text anlegt, wie die wiederkehrenden Formeln beider Bereiche »senza disegno«, »forza viva«, »continuo andare e venire« etc. belegen, veranschaulicht die epistemologische Dimension des Pittoresken noch einmal in neuer Klarheit. Die Historiographie als Disziplin der Aneignung und Darstellung historischer Wirklichkeit war von jeher mit der Unmöglichkeit von Vollständigkeit und mit der daraus resultierenden Notwendigkeit der Abwägung von Fakten konfrontiert. Dass dabei niemals finale, abgeschlossene Resultate entstehen können, ist eine Erkenntnis, die einerseits eine lange Tradition besitzt, andererseits aber in der Gegenwart im Zuge der neuen technischen Möglichkeiten und der sich dadurch verändernden Wissensstrukturen größte Aktualität beansprucht. Manzoni, den solche Überlegungen Zeit seines Lebens beschäftigten, findet in seinem einzigen Roman die Möglichkeit, den unabdinglichen Vorläufigkeitsstatus von Wissen in kunstvoller Weise zu inszenieren. So wie die Landschaft sich dem Betrachter erschließt, »secondo che i diversi punti piglian piF o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si 758 Vgl. zur noch immer dominanten religiösen Deutung besonders B/rberi Squarotti, Teoria e prove dello stile del Manzoni, darin das Kapitel »La vigna di Renzo o l’›esempio‹ della natura caduta«; Ulivi, »›Natura caduta‹ e rappresentazione naturale in Manzoni«, S. 594ff.; Salvatore S. Nigro, Manzoni (Letteratura italiana Laterza. 41), Roma / Bari, Editori Laterza, 1978, S. 166ff. Zum Rekurs auf das Gesellschaftsmodell des Sozialdarwinismus vgl. z. B. Marchese, Come sono fatti I Promessi Sposi, S. 208f.; Emma Grimaldi, »Il giardino, la vigna. Il day after di Renzo«, in: Misure Critiche 22, 84–85 (1992), S. 123–137. Zum Ordnungsdiskurs der Botanik in der Szene sowie zum Gesellschaftsmodell des Utilitarismus vgl. Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 202ff.

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scorcia, spunta o sparisce a vicenda« (ebd., S. 10), ist auch die Arbeit des Historikers begrenzt: »distinguere e verificare i fatti piF generali e piF importanti […] per quanto lo comporti la ragione e la natura d’essi.« (Ebd., S. 584f.; Hervorhebungen v. Vf.) Der Erkenntnis, dass das Verständnis von Wirklichkeit zwangsläufig reduzierend ist, diese Reduktion gleichzeitig aber auch notwendig ist, um überhaupt Bedeutung herzustellen, entsprechen dynamische, variable Wissensstrukturen ohne Anspruch auf Finalität. Eine solche Epistemologie veranschaulicht die Ästhetik des Pittoresken, die damit auch die heutigen Denkgewohnheiten beschreiben kann.

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Schlussbetrachtung

Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, dass die in der pittoresken Landschaft zum Ausdruck kommenden anthropologischen Positionen einen hohen Aussagewert für die Identität des modernen europäischen Subjekts besitzen. Durch die Analyse der literarischen Werke und ihrer Gestaltung der Ästhetik kann diese These bekräftigt werden. Zugleich wird dabei deutlich, dass sich die literarische Landschaft in diesem Zusammenhang als ein außergewöhnliches Reflexionsmedium präsentiert und tatsächlich als »Lesbarmachung zweiter Stufe«759 gelten kann. So können hier nicht nur auf kunstvolle Weise die Bedingungen der Landschaftserfahrung, das heißt die jeweiligen Wahrnehmungsmuster, die die ästhetische Vergegenwärtigung der Landschaft a priori festlegen, erkennbar gemacht werden. Auch bietet die literarische Landschaft die Möglichkeit, die erkannten Muster zu überwinden und im Medium der Sprache neue Erfahrungsmöglichkeiten zu erproben. Mit Blick auf die Ergebnisse der Untersuchungen kann in dieser Überschreitung zudem die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen den analysierten Werken ausgemacht werden. Die literarischen Landschaften realisieren damit eine Tendenz, die in der Dichotomie des Pittoresken zwischen der Instabilität des Betrachterstandpunkts einerseits und den potenziell unendlichen Erfahrungsmöglichkeiten andererseits bereits angelegt ist. Sowohl Chateaubriand als auch Eichendorff und Manzoni reflektieren in ihren Werken zunächst das problematisch gewordene Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur. Dabei bedienen sie sich der tradierten Landschaftsmodelle und entwickeln sie im gleichen Moment weiter. Vor allem das Paradigma der romantischen Korrespondenzlandschaft erweist sich auf den ersten Blick als adäquates Interpretationsinstrument für die jeweiligen Szenen. Chateaubriands Ren8 veranschaulicht die Funktionsmechanismen dieses Landschaftstyps auf exemplarische Weise und zeigt gleichzeitig das kompensatorische Moment auf, das ihn im Kern ausmacht: In der Begegnung mit der Landschaft erschafft sich das ro759 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 21.

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Schlussbetrachtung

mantische Ich mittels seiner Einbildungskraft eine eigene, den Empfindungen korrespondierende Welt und wirkt so der empfundenen Leere des Daseins entgegen. In anderen Darstellungen löst sich Chateaubriand jedoch von dieser künstlichen Inszenierung des Einklangs zwischen dem Ich und der Natur und realisiert eine »Ablösung der Landschaft vom correspondance-Bezug«760. In solchen Fällen wandelt sich das Landschaftsbild zum autonomen Tableau, das sich durch eine besonders dichte und in sich dynamische Struktur auszeichnet. Hinweise auf das betrachtende Subjekt finden sich hier kaum mehr, die wenigen Wahrnehmungsverben signalisieren die Perspektive eines neutralen »on« und die Beschreibung von Stimmungen wird in den Handlungsrahmen abgedrängt. Diese spiegeln sodann Empfindungen der Fremdheit und Passivität, wie zum Beispiel im Fall des Reisenden der Nuit am8ricaine, der sich nach der Betrachtung der Mondlandschaft zurückzieht und in einen tiefen Schlaf fällt. Solcherlei Inszenierungen der Entfremdung des Menschen von der Natur bis hin zur völligen Zerrissenheit charakterisieren vor allem Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart. Ebenso wie in Chateaubriands Fall die übliche Lesart des correspondance-Modells relativiert werden musste, zeigt sich hier, dass die noch immer vorherrschende religiöse Interpretationsweise zentrale Bedeutungsschichten des Romans unterschlägt und der Modernität des Romantikers nicht gerecht wird. Eichendorffs vermeintlich idyllische Landschaften erschöpfen sich keineswegs darin, noch einmal ahnungsvoll den verlorenen Garten Eden zu evozieren und dabei mahnend auf die Verderbtheit des Irdischen zu verweisen. Bei genauerer Betrachtung findet sich in ihnen immer auch ein dunkles, feindliches Element: Schöne und schreckliche Landschaft korrelieren miteinander und gerinnen als pittoreske Landschaften zu Chiffren des modernen zerrissenen Bewusstseins. In solchen Szenen bricht dann mit der Ambivalenz der äußeren Natur auch die Dezentriertheit der inneren hervor und es offenbart sich die Fremdbestimmtheit des Menschen, dessen »variety of warring passions«761 unter der Oberfläche des Erhabenen jederzeit hervorbrechen kann. In den Promessi Sposi finden sich solche Szenen zügelloser Subjektivität nicht, auch wenn sich Manzoni ebenso wie Chateaubriand und Eichendorff des Mediums der Landschaftserfahrung bedient, um den Autonomieverlust des Subjekts zu inszenieren. Der Vergleich zu der älteren Fassung von Fermo e Lucia zeigt, dass Manzoni während der Überarbeitung seines Romans die konventionellen Landschaftsmodelle wie das des Idylls oder der romantischen Stimmungslandschaft bis ins kleinste Detail perfektioniert. Von der sehnsuchtsvollen Evokation eines Einklangs zwischen der Natur und dem Menschen ist er dennoch bereits am weitesten entfernt. Im Augenblick der höchsten Unmittelbarkeit des vermeintlichen Na760 Hess, Die Landschaft, S. 17. 761 Price, Essays on the Picturesque, S. 64.

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turerlebnisses durchbrechen plötzliche Erzählerkommentare die auratische Feierlichkeit oder enthüllt sich die Untauglichkeit der Protagonisten, überhaupt als adäquate Betrachter der herrlichen Landschaften zu dienen. So kann die Landschaftserfahrung in den Promessi Sposi parodistische Züge annehmen und verdeutlicht wie alle im Roman vorgeführten literarischen Modelle die Unmöglichkeit, sich in ein konstruktives Verhältnis zur komplexen, dynamischen Wirklichkeit zu setzen. Dass solche Versuche zwangsläufig scheitern müssen, nimmt das paradigmatische Eingangstableau bereits vorweg: Ständige Perspektivenwechsel und eine scheinbar bewegliche Landschaft, die sich dem Blick immer wieder entzieht, signalisieren die völlige Halt- und Orientierungslosigkeit, die auch den Figuren der Romanwelt angesichts des unkontrollierbaren Laufs der Geschichte bevorsteht. Die Verunsicherung des Betrachters, dem es in der pittoresken Landschaft nicht mehr gelingt, sich seiner perzeptiven Fähigkeiten und damit seiner selbst zu vergewissern, wird in den einzelnen Werken auf unterschiedlichste Weise vorgeführt. Die Autoren nutzen das Thema der Landschaftserfahrung, um ihren Reflexionen über die neue Rolle des Menschen in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt Ausdruck zu verleihen. »[D]ie Möglichkeit von Identitätsstiftung und Identitätssicherung durch die ästhetische Wahrnehmung«762, die die Landschaftserfahrung bieten kann, wird in den pittoresken Landschaften der besprochenen Werke negiert. Bei Chateaubriand äußert sich dieser Identitätsverlust in der deutlich zu beobachtenden Aufweichung des correspondance-Modells, Eichendorff liefert vor dem Hintergrund einer ambivalenten Landschaft ausdrucksvolle Darstellungen zerrissener und handlungsgehemmter Subjektivität und Manzoni signalisiert mit seiner ironisch-humorvollen Verzerrung der tradierten Modelle Gelassenheit angesichts der Haltlosigkeit, die für ihn die moderne Welt charakterisiert. Auffällig ist dabei jedoch gleichzeitig, dass die instabil gewordene Betrachterposition und die Unmöglichkeit der Selbstvergewisserung nur eine Seite der analysierten Landschaftsdarstellungen ausmacht. In der Theorie des Pittoresken wird ein Betrachter entworfen, der zwar einerseits mit den Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeiten konfrontiert ist, dem sich daraus aber gleichzeitig uneingeschränkte Freiheiten in seinem individuellen Umgang mit der Vielfalt der Landschaft eröffnen. Beide Seiten gehen aus dem »Kontingenzcharakter«763 des Pittoresken hervor. Die Einsicht in die Unzulänglichkeit der Erkenntnismittel, die in einer komplexen, dynamischen Welt immer nur partielle, vorläufige Einblicke ermöglichen, erfordert ein neues Verständnis von Wissen und bewirkt eine neue Wertschätzung des Unbekannten. Der Garten der Freiheit stimuliert gerade 762 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. 763 Ebd.

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dadurch das individuelle Imaginationsvermögen des Spaziergängers, dass sich das Wahrnehmungsangebot unter seinem wandernden Blick kontinuierlich erneuert. Indem die pittoreske Landschaft eine ständige Aktualisierung des Prinzips novelty leistet und den Betrachter in einem Wahrnehmungsfluss festhält, verweist sie auf den Vorläufigkeitsstatus allen Wissens und unterbindet einseitige Bedeutungszuweisungen, die die Mannigfaltigkeit der Natur reduzieren müssten. Die ›Befreiung des Blicks‹ im Landschaftsgarten vollzieht sich im Fall des Pittoresken auch im übertragenen Sinn, eine Haltung, die sich am stärksten in den Schriften von Richard Payne Knight und seinem Plädoyer für die Relativität jeder Theorie niederschlägt. In den literarischen Landschaften kann diese »Reflexion auf die Bedingungen von Bedeutungskonstitutionen und deren Ersetzbarkeit«764 ein besonders ausdrucksvolles Zeugnis finden und dabei den Möglichkeiten der Beschreibung völlig neue Wege öffnen. So zeigen sich in den besprochenen Werken neben der Inszenierung der Verunsicherung des Betrachters ebenso deutliche Tendenzen der Erprobung innovativer sprachlicher Verfahren, die dem neuen Wirklichkeitsverständnis Rechnung zollen. In diesen Landschaftsszenen avanciert die Wahrnehmung der Landschaft zum eigentlichen Thema der Darstellung. Die Beschreibungen sind autoreflexiv. Mehr noch als der pittoreske Landschaftsgarten selbst können sie als »Ikon des empiristischen Bewußtseins«765 gelten, was aus einer vertieften Analyse der Strukturen der Landschaftsbilder deutlich hervorgeht. Chateaubriand experimentiert in den dichten, vom Betrachter gänzlich losgelösten Landschaften seiner Reiseberichte mit sprachlichen Darstellungsmitteln, die eine dynamische und unkontrollierbare Natur evozieren. Bestimmte textuelle Verfahren wie oppositionelle Konstruktionen (»ici…l/«, »tantit…tantit«), parataktische Aufzählungen und die Markierung des Verlaufscharakters der Rezeption (»/ mesure que«) lenken die Aufmerksamkeit auf die Semantisierungsprozesse selbst. Die Tableaus sind nach den Prinzipien von contrast und variety konstruiert und verhindern so konzeptualisierendes Lesen und damit die Interpretierbarkeit des Bildes. Diese Selbstreferenzialität findet ihren höchsten Ausdruck in den zahlreichen Stoff- und Gewebemetaphern, die Chateaubriand immer wieder in seine Darstellungen einflicht. Landschaft und Beschreibung präsentieren sich als Textur, auf die der Rezipient keinen ordnenden Einfluss nehmen kann. Vielmehr werden solche Versuche noch durch die Beweglichkeit und Dynamik des Bildes unterlaufen, die Chateaubriand zum Beispiel dadurch zum Ausdruck bringt, dass einzelne Landschaftselemente sich in Abhängigkeit zu anderen ständig verändern und neu formieren (»selon que«). Ganz ähnlich geht Eichendorff vor, der neben seinen ambivalenten Darstel764 Lobsien, Landschaft in Texten, S. 54. 765 Lobsien, »Landschaft als Zeichen«, S. 171.

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lungen ›schöner Wildnis‹ auch solche Landschaften entwirft, die als vielgestaltige ›Kaleidoskope‹ das abwechslungsreiche, sprunghafte und manchmal verworrene Handlungsgeschehen des Romans widerspiegeln. Die Verlagerung des Interesses vom Inhalt auf die Struktur der Landschaft zeigt sich hier besonders deutlich in der Auswahl unspezifischer Landschaftsobjekte, die auf keinen bestimmten Ort hinweisen, sondern allein durch ihre Dynamik und ihr Zusammenspiel mit anderen Elementen Bedeutung gewinnen. Rauschende Flüsse, springende Quellen oder die auf- und untergehende Sonne verstärken die Wirkung der zahlreichen Bewegungsverben, deren Präfixe (»durch-«, »über-« etc.) die Aufmerksamkeit zudem in immer neue Richtungen lenken. Gemeinsam mit den nicht lokalisierbaren Geräuschen der Natur tragen sie dazu bei, die Landschaft spielerisch zu dissoziieren und das Bild in ein Zeitfenster der ›Prozessualität und Potenzialität‹ zu überführen. In diesem »Mittelzustand des Immerwährendschöpferischen«766 besteht die besondere Charakteristik der betreffenden Beschreibungen, die scheinbar ganz dem Erproben der Möglichkeiten der Sprache unterstehen. Genau wie bei Chateaubriand fällt im Fall der selbstreflexiven Landschaften auf, dass sie zumeist keine Hinweise auf einen Betrachter enthalten, sondern offenbar ganz darauf abzielen, mit neuen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen zu experimentieren. Vor dem Hintergrund, dass konstruierte Landschaften auch immer eine bestimmte Form der Organisation und Präsentation von Wissen darstellen, führt dieser Landschaftstyp bereits ein spezifisch modernes Sprach- und Wirklichkeitsverständnis vor. Dieser epistemologische Charakter des Pittoresken ist in den Promessi Sposi am stärksten entwickelt. Indem Manzoni seine Reflexionen zur Geschichtsschreibung an das Thema der Landschaftsdarstellung anbindet – beide Bereiche sind durch gemeinsame Formeln wie »senza disegno«, »andirivieni«, »guazzabuglio« oder »forza viva« zueinander in Beziehung gesetzt – veranschaulicht er die Eigendynamik und Komplexität geschichtlicher Ereignisse, die sich durch den Verstand nicht erfassen lassen. Es bedarf daher eines Bewusstseins für die – im Fall von Mythen sogar gefährliche – Macht von Geschichten, die die ursprünglich unendliche Vielzahl von Momenten und Faktoren eines Geschehens zwangsläufig in eine eindimensionale, reduzierende Form bringen. Versteht man die Landschaft als Zeichensystem, präsentiert sich die Semiotik des Pittoresken als besonders geeignet, um die verschiedenen Ebenen einer Erzählung (Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte) und damit deren Entstehung zu reflektieren. Die einzelnen Erzählformen, die in den Promessi Sposi vorgeführt werden und die dabei auch die narrativen Verfahren der Geschichtsschreibung bloßlegen, umspielen ebenso wie die pittoreske Eingangslandschaft den Moment der Entstehung von Bedeutung. Indem Manzoni in seinem dyna766 Pikulik, Signatur einer Zeitenwende, S. 198.

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mischen Landschaftstableau immer eine unendliche Vielzahl möglicher Konfigurationen präsent hält (der Konjunktion »a secondo che« kommt die gleiche Bedeutung zu wie Chateaubriands »selon que«), steckt er gleichzeitig die Grenzen und Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ab. In der Vermeidung des Interpretationsaktes, der ständigen Hinterfragung des Wahrgenommenen und dem Interesse am immer Neuen tritt der Geist des Skeptizismus und Liberalismus zutage, der der Ausbreitung des pittoresken Landschaftsgartens in Europa ihre Dynamik verleiht. Er stellt den letzten Gartentyp dar, der europaweiten Einfluss für sich beanspruchen kann. Indem er das Prinzip ständigen Wandels und damit eine Grundempfindung der Moderne verkörpert, bringt er die Geschichte der Gartentheorie zu einem vorläufigen Abschluss. Einige seiner Ausgangsideen leben bis heute in den Parks der Metropolen fort, die im 20. Jahrhundert angelegt wurden, um der Natur als Ort des Rückzugs, der freien Entfaltung und der Muße ihren Platz zu verschaffen. Im Zusammenhang mit der spezifischen Inszenierung des Subjekts, die das Pittoreske leistet, stellt sich die Frage nach weiteren literarischen oder künstlerischen Konzepten, die in der Zeit um 1800 die neue, moderne Rolle des Individuums reflektieren und sich dabei in verschiedenen Nationalliteraturen nachweisen lassen. Neben der Ästhetik des Interessanten, die sich als Vorläufer des Pittoresken präsentiert, weist sicherlich die Ästhetik des Grotesken, wie sie Victor Hugo 1827 in seinem berühmten Pr8face de Cromwell entwirft, gewisse Ähnlichkeiten auf. Beiden Ästhetiken liegt letztendlich ein gemeinsamer Subjektivitätsbegriff zugrunde, spiegeln sie doch die irreversible Zerrissenheit des modernen, freien Menschen, die gleichzeitig Errungenschaft und Quelle unstillbaren Begehrens ist. Dieser esprit d’examen et de curiosit8, der d8mon de l’analyse et de la controverse bedingt bei Hugo die Melancholie als Grundbefindlichkeit des Daseins, wohingegen die Theoretiker des Pittoresken ihrem Pendant curiosity noch nicht diese Färbung romantischen Weltschmerzes verleihen. Diese Abweichung schlägt sich auch in der Wirkung der beiden Ästhetiken nieder. Sowohl das Pittoreske als auch das Groteske entstehen durch die Korrelation verschiedener ästhetischer Kategorien. Während sich im Fall des Pittoresken Schönes und Erhabenes jedoch noch auf solche Weise verbinden, dass dabei ein spielerischer Mittelzustand immer gewahrt bleibt, kann das Groteske durch seine Zusammenführung des Hohen und Niederen, des Erhabenen und Komisch-Lächerlichen einen tieferen Blick in die Abgründe menschlicher Subjektivität entwerfen und damit eine stärkere Wirkung erzielen. Indem diese Komponente dem Pittoresken zwar bereits im Ansatz – wie vor allem Eichendorffs Adaption der Ästhetik zeigen konnte – jedoch noch nicht in vergleichbarem Ausmaß innewohnt, können hier die Prinzipien des Wandels, der ständigen Erneuerung und der Dynamik noch ungehindert produktiv sein. In der entsprechenden Reflexion und Erprobung adäquater Denk- und Wis-

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sensformen liegt schließlich die Zeitlosigkeit und Aktualität der Ästhetik. Ihrer Quintessenz, der Relativität und Vorläufigkeit jeder Erkenntnis, unterstellt sich abschließend auch diese Untersuchung.

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