Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung
 9783110834833, 9783110047943

Table of contents :
Einleitung
Epos
Ilias
Odyssee
Lyrik
Drama
Aischylos
Sophokles
Euripides
Aristophanes und die Neue Komödie
Exkurs I: Platons Phaidros
Die hellenistische Dichtung
Kallimachos
Apollonios
Theokrit
Bion und Moschos
Anthologia Palatina
Die nachchristliche Dichtung
Longus
Nonnos
Die spätesten Epigramme der Anthologia Palatina
Exkurs II : Die römische Dichtung
Schluß
Literatur
Register

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Elliger · Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung

w DE

G

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Heinrich Dörrie und Paul Moraux

Band 15

Walter de Gruyter · Berlin · New York I

975

Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung

von Winfried Elliger

Walter de Gruyter * Berlin · New York I 975

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurs^titelaufnähme der Deutschen Bibliothek

Elliger, Winfried Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; Bd. 15) ISBN 3110047942

© 1975 by Waltet de Gruyter fie Co.,vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30 Bindearbeiten: Wttbben fic Co., Berlin

Meinen Eltern

Inhalt Einleitung Epos Ilias

1 27 29

Der Schild des Achilleus 30; Die Ebene von Troia 43; Das Meer 62; Der Flußkampf 71; Die Gleichnisse 73.

Odyssee

103

Inseln und Buchten 107; Ideallandschaften 113; Ithaka 118; Der Phorkyshafen 123; Märchenlandschaften 128; Ilias und Odyssee 147.

Lyrik

157

Hesiod 159; Homerische Hymnen 160; Umarbeitung epischer Vorlagen (Gleichnisse) 163; Alkaios und Hesiod 173; Alkaios fr 45 LP 176; Sappho fr 2 LP 178; Alkman 185; Sappho fr 96 LP 188; Alkaios 194; Ibykos 197; Pindar und Bakchylides 203.

Drama Aischylos Sophokles

211 214 219

Aias 219; Philoktetes 225; Oidipus auf Kolonos 232.

Euripides Aristophanes und die Neue Komödie Exkurs I : Piatons Phaidros

243 275 288

Die hellenistische Dichtung Kallimachos Apollonios Theokrit Bion und Moschos Anthologia Palatina Die nachchristliche Dichtung Longus Nonnos Die spätesten Epigramme der Anthologia Palatina

295 299 306 318 365 376 399 402 417 425

Exkurs II : Die römische Dichtung

. . . .

432

Catull 432; Vergil 435; Horaz 438.

Schluß Literatur Register

443 454 465

Einleitung

Eine Monographie über die Landschaft in der griechischen Dichtung scheint auf den ersten Bück ein ebenso reizvolles wie unproblematisches Vorhaben zu sein. Die Naturgleichnisse der Ilias und die Märchenlandschaften der Odyssee, die nächtliche Landschaft und das Aphroditeheiligtum in zwei Fragmenten der Sappho, der Kolonoshügel in der letzten Tragödie des Sophokles, schließlich die idyllischen Szenerien in den Hirtengedichten Theokrits sind einige besonders einprägsame Beispiele aus den verschiedenen Gattungen und Epochen der griechischen Dichtung. Trotzdem kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Landschaft zu keiner Zeit ein primäres Thema der griechischen Dichter gewesen ist. Im Gegenteil, es erstaunt die Gleichgültigkeit, mit der sie die Umwelt, soweit sie durch landschaftliche Faktoren bestimmt war, behandelt haben. Auch in der bildenden Kunst ist es grundsätzlich nicht anders. Obwohl die plastische und zeichnerische Formung der menschlichen Gestalt schon relativ früh bewältigt wurde, blieb deren Bezug zum Raum lange Zeit merkwürdig unbestimmt. Wenn die landschaftliche Umgebung überhaupt dargestellt wurde, dann in Form einer Abbreviatur, etwa als vereinzelter Baum oder Berg, also ohne räumlichen, kontrollierbaren Zusammenhang 1 . Diesem weitgehenden Defizit im Katalog poetischer Grundthemen entspricht die für den modernen Beobachter zunächst befremdliche Tatsache, daß die griechische Sprache kein Wort für Landschaft kennt, TÔTTOÇ bezeichnet den Ort oder die Stelle ganz allgemein, χώρος hat eine etwas weitere Bedeutung (Raum, Gegend), aber beide Begriffe kennzeichnen nicht eine genuin landschaftliche Qualität. Wenn Piaton das, was wir wahrscheinlich mit Landschaft bezeichnen würden, ausdrücken will, spricht er von χωρία και δένδρα (Phaidr. 230 d) ; er setzt also statt eines vereinheitlichenden Begriffs die Summe 1

Daß diese Diskrepanz zwischen der Darstellung des Menschen und der Darstellung seiner Umwelt bereits in der Antike empfunden wurde, scheint Plat. Kritias 107 b ff zu beweisen: Während die Maler göttliche und menschliche Körper noch einigermaßen glaubwürdig darstellen können (είδωλοποιία), versagen sie weitgehend, wenn es um die Darstellung der Erde, von Bergen, Flüssen und Wald, also von landschaftlichen Elementen geht. Was sie da zustande bringen, ist nicht mehr als eine σκιαγραφία άσαφής καΐ άπατηλός. 1

Eiliger, Darstellung

2

Einleitung

einzelner landschaftlicher Phänomene. Ähnlich führt Empedokles unter den Inhalten gemalter Weihbilder neben Männern, Frauen und verschiedenen Tieren auch Bäume auf (fr 23 D). Wie der Zusammenhang nahelegt (δένδρεα steht am Anfang der Aufzählung), fungieren die Bäume offenbar als landschaftliche Staffage der gemalten Szenen2. Da Landschaft jedoch mehr ist als eine indifferente Summe von geographischen und botanischen Größen, können wir in beiden Fällen nur sehr bedingt von Landschaft sprechen. Nun braucht das Fehlen eines Begriffs noch nicht unbedingt auf das Nichtvorhandensein der betreffenden Sache schließen zu lassen. Aber es gibt gewichtige Gründe für die Annahme, daß in diesem Fall auch die Sache den Griechen, wenigstens in ihrer Frühzeit, unbekannt war. Und das ist eigentlich nichts Erstaunliches, denn auch bei anderen europäischen Völkern ist die Landschaft erst in einem späteren Stadium zum Gegenstand der Kunst geworden, wie landschaftliches Sehen überhaupt erst auf einer fortgeschrittenen Kulturstufe möglich zu sein scheint. So hat auch unser Wort „Landschaft" einen interessanten Bedeutungswandel durchgemacht. Nach Auskunft der Wörterbücher ist das Wort schon sehr früh belegt, aber es hatte ursprünglich nicht jene ästhetische Determinante, die für das moderne Verständnis von Landschaft wesentlich ist3. Wie andere Zusammensetzungen mit der Wurzel skab- ist auch „Landschaft" zunächst ein Sammelbegriff 4 . Im ahd. bezeichnet das Wort einen Landesteil oder eine Gegend, im mhd. können auch die Bewohner einer Gegend damit gemeint sein5. Als Terminus für einen begrenzten Naturausschnitt, der sich dem Auge darbietet, wird Landschaft zum erstenmal bei Hans Sachs gebraucht : nach dem wir auff den thurn bayde gelassen wurn, auff dem wir bayde sahen die landschafft ferr und nahen 6 . 2

3

Vgl. W . KRANZ, Herrn. 47, 1912, 126.

Zum folgenden vgl. R. G R U E N T E R , Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte, Germ.-roman. Monatsschrift N. F. 3, 1953, 110—120 mit Belegmaterial und Literatur. 4 Der Bedeutungswandel der Wurzel skab- von einer Zustandsbezeichnung (Ritterschaft = Beschaffenheit eines Ritters) zum Sammelbegriff (Ritterschaft = Gesamt heit der Ritter) ist alt. 5 Noch bei Goethe, Die Wahlverwandschaften II 11, Hamburger Ausgabe VI 445 heißt es: ,,. . . indem sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andere bloß der Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten." « Werke III, Tübingen 1870, 244, 29ff.

Einleitung

3

Bei diesem bedeutsamen Schritt dürfte der bildenden Kunst eine wichtige Mittlerrolle zugefallen sein. Denn wie das italienische paesaggio, das französische paysage, das niederländische landschap und, davon direkt abgeleitet, das englische landscape, war auch im Deutschen „Landschaft" als ästhetischer Begriff zunächst ein Fachausdruck der bildenden Künste und bezeichnete den g e m a l t e n Naturausschnitt. Erst im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts bürgerte sich das Wort in seinem ästhetischen Verständnis auch in der Poesie ein. Ohne Zweifel zeichnen sich hinter diesem Bedeutungswandel psychologische Vorgänge ab. Man spricht in der Kunstgeschichte gerne von dem „Raumdurst", der seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts die frühmittelalterliche „Sammellandschaft", also die Anordnung der Gegenstände in der Bildfläche als einem unverbundenen Nebeneinander, ablöste. Jede Einzelheit wurde nun auf einen einheitlichen Bezugspunkt außerhalb des Bildes ausgerichtet und damit die Fläche zum Raum umgestaltet7. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich auch in der griechischen Kunst beobachten. Die Perspektive — denn darum handelt es sich im kunstgeschichtlichen Sinn bei dem eben skizzierten Phänomen — hat sich in der Malerei der Griechen nur äußerst zögernd und unvollständig durchgesetzt. Mögen Anaxagoras und Demokrit auf dem Gebiet der Optik auch bedeutsame Fortschritte erzielt haben, der griechische Künstler hat von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen nur wenig Gebrauch gemacht8. Die archaische Kunst kennt ausschließlich die strenge Profil- oder Frontalansicht. Erst um 500 zeigen sich tastende Versuche, auch die Tiefe auf der Bildfläche anzudeuten. Während sich nun die Verkürzung von Körpern und Körperteilen (SCHWEITZER: „Körperperspektive") relativ schnell das Feld eroberte und spätestens mit dem vierten Jahrhundert vollkommen beherrscht wurde, hat die Linearperspektive, also das Zurückweichen der Seitenlinien bei rechteckigen Gegenständen (SCHWEITZER: „Raumperspektive"), Schwierigkeiten gemacht, solange es eine griechische Kunst gab; denn auch in der Spätzeit ist sie nur partiell beachtet worden. Das Gesetz der strengen Perspektive, daß alle Linien in einem Fluchtpunkt konvergieren müssen, hat kein griechischer Künstler je realisiert. Man kann diesen Sachverhalt auch positiv formulieren. Da die fehlende Zentralperspektive eine Mehrzahl von Blickpunkten ermöglicht, werden die Gegenstände nicht einem einheitlichen Wahrnehmungszusammenhang eingeordnet, sondern behalten eine gewisse 7

8

Belege bei GRUENTER 1 1 7 f.

Zum Problem der Perspektive in der griechischen Kunst B. SCHWEITZER, Vom Sinn der Perspektive, Die Gestalt 24, Tübingen 1953 und G. M. A. RICHTER, Perspective in Greek and Roman Art, London/New York o. J. (dort auch weitere Literatur). 1*

4

Einleitung

Selbständigkeit. Das gilt sowohl für den einzelnen Gegenstand, der nicht so sehr in seiner Erscheinung als vielmehr in seinem realen Sein dargestellt wird, als auch für die Beziehungen der Gegenstände untereinander: Das Einzelne ist wichtiger als das einer Gesamtheit Eingeordnete. Dieser lange Zeit gültig gebliebene Primat des Einzelnen vor dem Ganzen widersetzte sich einer stärker perspektivischen Gestaltung. Demnach kann es Landschaft im strengen Sinn in der bildenden Kunst der Griechen überhaupt nicht gegeben haben. Denn erst der Zusammenschluß der einzelnen landschaftlichen Elemente in einem von einem zentralen Bückpunkt aus erfaßten einheitlichen Raum macht diese zur Landschaft. Wie es keinen Raum ohne Perspektive gibt, so auch keine Landschaft ohne Raum. Die Frage ist nun, ob Analoges für die poetische Darstellung von Landschaft gilt. So viel ist klar: Jedes perspektivische Gestalten bringt ein subjektives Moment ins Spiel. „Perspektive ist der engste Bund, den der menschliche Geist mit der natürlichen Erscheinungswelt geschlossen hat." Den treffenden Satz SCHWEITZERS (18) stark vergröbernd, könnte man auch von der Unterwerfung der Erscheinungswelt unter den Menschen und sein Wahrnehmungsvermögen sprechen — eine Haltung, zu der sich die Griechen niemals haben bereit finden können. Wie eng aber gerade der deutsche Begriff Landschaft mit der zentralen Raumperspektive verknüpft und damit auf das wahrnehmende Subjekt ausgerichtet ist, zeigt folgende Beobachtung. In modernen Übersetzungen erscheinen Landschaft, landscape, paysage, paesaggio und paisaje gewöhnlich als Korrelate. Wenn jedoch — etwa beim Blick durchs Wagenfenster — nur ein begrenzter Ausschnitt der Gegend ins Blickfeld rückt, wählt der deutsche Übersetzer in der Regel den Terminus Landschaft, obwohl die Vorlage meistens von campagne, campagna oder campo spricht. Umgekehrt übersetzt der ausländische Übersetzer in diesen Fällen auch das deutsche „Landschaft" gerne mit campagne 9 . Unserem Begriff „Landschaft" eignet offenbar eine gewisse Affinität zum Ausschnitthaften, Gerahmten, das die Einzelelemente verbindet und zueinander in Beziehung setzt. Deshalb sprechen wir auch gerne von einem Landschafts-,,Bild"; wir betonen damit das „Zueinander des Gegenständlich-Sichtbaren eines bestimmten Ge9

Belege bei P. O S S W A L D , Frz. „campagne" und seine Nachbarwörter im Vergleich mit dem Deutschen, Englischen, Italienischen und Spanischen. Ein Beitrag zur Wortfeldtheorie, Diss. Tübingen 1969, Tüb. Beitr. z. Ling. 4, Tübingen 1970 (die Beispiele 39. 43. 48. 80. 82).

Einleitung

5

biets" 10 . Letzter Bezugspunkt ist dabei immer der Betrachter, der die Einzelelemente aus seiner „Perspektive" sieht und sie allein dadurch schon in ein bestimmtes Ordnungsgefüge zwingt. Da diese Beziehungen und Zusammenhänge in der Natur nicht einfach vorgegeben sind, könnte man also sagen, daß Landschaft als Gegenüber des Menschen in einem Akt des Bewußtseins erst erzeugt wird. Nicht zuletzt darauf beruht ja die Schwierigkeit der Geographen, sich auf einen wissenschaftlichen, objektiven Landschaftsbegriff zu einigen. Während die einen die geographische Landschaft als reale Wirklichkeit, also als objektive Größe verstehen, glauben die anderen, auch im wissenschaftlichen Landschaftsbegriff das subjektive Moment nicht ausschließen zu können; für sie ist Landschaft eine „Vorstellung" oder eine „Setzung des Verstandes". Einig ist man sich lediglich in der Definition der geographischen Landschaft als eines komplexen Raumgebildes, dessen Komponenten nach Qualität und Quantität nicht konstant sind11. Aber der Beobachtungsstandort, die Perspektive, ist nicht das einzige subjektive Moment bei der Wahrnehmung von Landschaft. Man spricht von der „Struktur" oder „Gestalt" einer Landschaft, was voraussetzt, daß der Betrachter sie als ein umgrenztes Ganzes sieht12. Ferner gibt es die „Physiognomie" oder den „Charakter" einer Landschaft. Dazu gehören nicht nur Licht und Farbe, Linie, Fläche und Raum, Bewegung mitsamt Gerüchen und akustischen Reizen, sondern ebenso Rhythmus, Atmosphäre (als wichtigster Stimmungsträger von besonderer Bedeutung für die seelische Wirkung) und geistige (etwa historische) Sinngehalte13. Daher nimmt es nicht wunder, daß die psychischen Komponenten und affektiven Werte in neueren, wisO S S W A L D 1 4 7 , dazu die Beispiele 1 0 6 — 1 0 9 . Vgl. J. H. S C H U L T Z E im Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1966, Sp. 1049 f; O. W E R N L I , Die neuere Entwicklung des Landschaftsbegriffes, Geogr. Helv. 13, 1958, 1—59; J. S C H M I T H Ü S E N , Was ist Landschaft? Erdkundliches Wissen 9, Wiesbaden 1964; K. P A F F E N , Die natürliche Landschaft und ihre räumliche Gliederung, Forschungen zur deutschen Landeskunde 68, Stuttgart 1953. 12 Dazu W E R N L I 3. — Auch die Bedeutung der indogermanischen Wurzel skab- deutet auf etwas Zusammengeschlossenes, von anderem Abgegrenztes, vgl. engl, shape, dt. Schaff und Zusammensetzungen wie Bruderschaft, Bürgerschaft, Bauernschaft (im Unterschied zu den romanischen Sprachen, die ihre Bezeichnungen für Landschaft mit Hilfe eines unselbständigen Suffixes bilden : pays — paysage, paese — paesaggio, pais — paisaje). 13 H . L E H M A N N , Die Physiognomie der Landschaft, Stud. Gen. 3 , 1 9 5 0 , 1 8 2 — 1 9 5 fordert für die Erforschung dieser Phänomene eine eigene „Ausdruckslehre der Landschaft" oder eine „Landschaftsphysiognomik". Ähnlich definiert P A F F E N 1 9 Landschaft als den "physiognomischen Ausdruck der in einem bestimmten Raum einheitlich . . . wirksamen Kräfte". 10

11

6

Einleitung

senschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Definitionen der Landschaft eine wichtige Rolle spielen, ob man nun von einer „werthaltigen Totalität" spricht14, von ästhetisch vergegenwärtigter Natur 15 , dem „Gesicht des Landes", dem „Land in seiner Wirkung auf uns" 16 oder einem „an die Erdrinde gebundenen seelischen Ereignis" 17 . Alle diese Definitionen gehen vom wahrnehmenden Subjekt aus und gründen auf der Voraussetzung, daß Landschaft nicht als selbstverständlich gegebene Umwelt naiv, das heißt unreflektiert erfahren, sondern bewußt zum Gegenstand des Erlebens gemacht wird. Das aber setzt eine gewisse Distanz zwischen Natur und Mensch voraus. Eine alte Erfahrungstatsache lehrt, daß in und mit der Natur lebende Menschen für die landschaftlichen Reize ihrer Umgebung kein Organ entwickeln. Der auf der Alm seine Kühe weidende Hirte hat — sehr zum Erstaunen des Wanderers — die umliegenden Berge nie bestiegen. Bei den Landleuten zweifelt P A U L CÉZANNE, ob sie überhaupt wissen, was eine Landschaft oder ein Baum ist: „...aber daß die Bäume grün sind, und daß dies Grün ein Baum ist, daß diese Erde rot ist, und daß dies rote Geröll Hügel sind, ich glaube wirklich, daß die meisten es nicht fühlen, daß sie es nicht wissen außerhalb ihres unbewußten Gefühls für das Nützliche" 18 . Das heißt, die fehlende Distanz zur Natur macht eine Unterscheidung zwischen Natur und Landschaft unmöglich. Erst der in die „freie Natur" Gehende erfährt Natur als Landschaft. Auch von hier aus leuchtet ein, daß es Landschaft im eben erläuterten Sinn für die Griechen, wenigstens bis zum endgültigen Sieg der Poliskultur, nur bedingt gegeben haben kann. Was wir Landschaft nennen, war für sie offensichtlich nicht etwas von der Natur Gesondertes, sondern innerhalb der Natur ein einzelnes konkreter Erfaßtes. 14

15

LEHMANN

188.

J. R I T T E R , Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Schriften d. Ges. z. Förd. d. Westf. Wilhelms-Univ. Münster 54, Münster 1963, 18. 16 M. J . F R I E D L Ä N D E R , Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947, 13. F. unterscheidet zwischen dem Land als Teil der Erdoberfläche, sozusagen dem „Ding an sich", und der Landschaft als „Erscheinung". 17 J. P O N T E N , zitiert bei L E H M A N N 183. — Noch deutlicher bringt diesen Sachverhalt A M I E L S Satz: „Un paysage est un état d'âme" zum Ausdruck (zitiert bei W. H E N NING, Die Theorie der Landschaft bei Maurice Barrés, Diss. Tübingen 1970, 10 und L. SPITZER, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word „Stimmung", Baltimore 1963, 5). Ähnlich faßt H. LÜTZELER, Vom Wesen der Landschaftsmalerei, Stud. Gen. 3, 1950, 210—232 die Landschaftsmalerei als „Akt der Selbstfindung und Selbstformung des Menschen an der Landschaft" (215). 18 Über die Kunst. Gespräche mit J. Gasquet, übers, v. E. Glaser, hrsg. v. W. Hess, Hamburg 1 9 5 7 , 20f. — Ähnliches berichtet auch P E T R A R C A über seine epochemachende Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1 3 3 5 ; vgl. dazu R I T T E R 7 ff.

Einleitung

7

Und noch ein letzter Faktor mag geeignet sein zu erklären, warum in der Dichtung der Griechen so wenig Landschaft anzutreffen ist. Wiederholt hat man auf die Verwandtschaft zwischen griechischem Kunstempfinden und griechischer Landschaft hingewiesen19. Die überreich gegliederte Landschaft Griechenlands zeichnet ein Zug zur Isolierung, zur relativen Selbständigkeit der Teile aus. Übergänge gibt es selten: Die Berge heben sich scharf konturiert gegen Himmel und Meer ab, der Tag wird, fast ohne Dämmerung, zur Nacht. Das einzige verbindende Element ist das Meer: eine Folie, die die Einzelheiten um so plastischer hervortreten läßt. Schlagwörter wie „lauter Vordergrund ohne Ferne" 20 oder „Volk des Vordergrunds" 21 sind in ihrer Einseitigkeit gefährlich, aber im Hinblick auf ein Land, in dem die Klarheit von Umrissen und Kontrasten nicht durch ein trübendes Medium wie die Luftperspektive verwischt wird, mögen sie berechtigt sein. Die nordische Landschaft dagegen wird eher malerisch empfunden : das Spiel von Licht und Schatten, die Übergangstöne von Zwielicht und Dämmerung, die dunstige Atmosphäre schaffen ein Fluidum, das den Menschen in Bann zieht und jenen Akkord zwischen Mensch und Natur hervorruft, den wir mit dem Wort „Stimmung" meinen22. Nun bedarf es im einzelnen keines Beweises, daß die Griechen eher „plastisch" als „malerisch" sahen. Das bedeutet nach dem programmatischen Satz M. J. F R I E D L Ä N D E R S : „Die Plastik isoliert, die Zeichnung gliedert, die Malerei verbindet, löst das Feste, verwischt die Grenzen" (20) den Primat der Einzelheiten, der Pflanzen, 19

20

21 22

So schon K. WOERMANN, Die Landschaft in der Kunst der alten Völker, München 1876, 81 ff; vgl. auch L. W. STRAUB, Der Natursinn der alten Griechen, Progr. Eberhard-Ludwig-Gymn., Stuttgart 1888/89 und H. ROSE, Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes, München 1937, 112 ff. J. BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien, hrsg. v. W. Kaegi, Bern o. J., 308, wo das Wort aber (im Unterschied zu späteren Zitierungen) auf die Minnedichtung des Mittelalters bezogen ist. E. FRIEDELL, Kulturgeschichte Griechenlands, München 1949, 26. Treffend hat M. HAUSMANN südliche und nordische Landschaft (und Kunst) gegenübergestellt: „Wie jeder Mensch seine eigene Seele hat, so auch jede Landschaft. Der griechischen Landschaft wohnt gleichsam das Verlangen inne, die Klarheit, die Sichtbarkeit, die Körperlichkeit ins Ewige und Gültige zu steigern. Ihr Geheimnis ist das reine Dasein, das Umgrenzte, das Herausgehobensein aus dem Ablauf der Zeit, das Apollinische. Wer die sonnenbeglänzte Landschaft Griechenlands einmal gesehen hat, muß auch die griechische Kunst begreifen. Die Landschaft des Nordens dagegen ist ein unaufhörlich sich wandelndes Gewoge von Licht und Schatten. Nicht die Dauer, sondern der Wechsel macht ihr Y, ihr Geheimnis, aus, nicht die Umgrenztheit, sondern das Grenzenlose, nicht die Klarheit, sondern das Ungewisse, nicht das Sein, sondern das Werden und Vergehen, nicht die Zeitlosigkeit, sondern gerade das Eingetauchtsein in die strömende, ewig strömende Zeit" (Das Geheimnis einer Landschaft — Worpswede, Berlin 1940, 16f).

8

Einleitung

Bäume, Berge, vor dem Zusammenhängenden, Koordinierten, also vor der Landschaft. Wenn das so ist, kommt der platonischen Wendung χωρία καί δένδρα, von der wir ausgingen, symptomatische Bedeutung zu. Piaton wiederholt nur auf seine Weise, was bereits in der Ilias und auf frühen griechischen Vasen zum Ausdruck kommt: Es gibt zunächst nur eine Pluralität landschaftlicher Elemente, keine einheitlich erfaßte Landschaft. Fehlende Raumperspektive, Zurückhaltung in der „Subjektivierung" der natürlichen Umwelt und Primat des Einzelnen vor dem Ganzen sind, wie wir zusammenfassend feststellen können, drei wichtige Faktoren, die die Landschaft als Thema der griechischen Dichtung und der griechischen Kunst überhaupt auf einen Nebenrang verweisen. Diese für unsere Begriffe recht weitgehende Ausklammerung der Landschaft ist jedoch nicht, wie man früher vielfach annahm, auf künstlerisches Unvermögen oder gar auf Empfindungslosigkeit gegenüber den Schönheiten der Natur zurückzuführen. Vielmehr müssen wir sie mit L Ü T Z E L E R als einen „aktiven Vorgang" verstehen. Wie die mittelalterliche und die florentinische Malerei für die Landschaft keinen oder nur wenig Raum hat — die eine, weil sie Gott, die andere, weil sie den Menschen als Maß aller Dinge verherrlichen will—, so auch die griechische Kunst. Sie stellt für L Ü T Z E L E R den Prototyp der „anthropologischen" Ausklammerung der Natur dar (213ff) 23 . Ihr wichtigstes und über weite Strecken hin ausschließliches Thema war der Mensch. Nach diesen Einschränkungen mag es verwundern, daß im Titel der vorliegenden Untersuchung von „Landschaft" und nicht, was vielleicht nähergelegen hätte, von „Natur" die Rede ist. Die Erklärung ist einfach. „Natur" als der umfassendere Begriff hätte ins Uferlose geführt, denn jede Blume und jeder Baum, der Himmel und seine Gestirne gehören ebenso zur Natur wie etwa die Tages- und Jahreszeiten, aber sie machen für sich genommen noch keine Landschaft aus. Auch kann Landschaft auf den Primat des Sehvermögens nicht verzichten, Natur jedoch kann sich allein durch Töne oder Duft mitteilen. Vor die Alternative gestellt, zwischen „Natur" als dem für unsere Zwecke stofflich zu weit gefaßten, wegen seiner Objektivität aber angemessenen Begriff oder „Landschaft" als dem stofflich zutreffenden, wegen seiner subjektiven Tönung aber auf die griechische Dichtung nur bedingt anwendbaren Begriff zu wählen, entschieden 23

Ähnlich wäre die indische Kunst Prototyp für die „ontologische", die frühchristliche für die „eschatologische" Ausklammerung der Natur. Jedenfalls ist Landschaft keineswegs ein „ewiges" Thema künstlerischer Darstellung, was vor einer unreflektierten Anwendung des Begriffs auf die frühe Kunst warnen sollte; vgl. GRUENTER 114f.

Einleitung

9

wir uns aus Gründen der inhaltlichen Begrenzung für die zweite Möglichkeit. Man könnte zwar versucht sein, dem Dilemma dadurch entgehen zu wollen, daß man zwischen einem „anthropologischen" und einem „wissenschaftlichen" Landschaftsbegriff unterscheidet. Denn ohne Zweifel ist die Bestimmung der Landschaft, von der bislang die Rede war, nicht die einzig mögliche. Beim Bauern oder Strategen fiele sie utilitaristischer aus, beim Naturanbeter theologischer, beim Kulturverächter ethischer24. Um dieser durch alle mögüchen vorwissenschaftlichen Vorstellungen bedingten Unscharfe des Begriffs zu entgehen, arbeitet der Geograph heute gern mit dem Terminus „Geomer", der die Landschaft als konkretes Objekt, als Summe der natürlichen Gegebenheiten eines bestimmten Raumes meint, nicht als „ B i l d " mit einem gewissen Ausdruckswert in seiner Wirkung auf den Betrachter25 — kurz: als Sache, nicht als Erlebnis. Aber diesen wissenschaftlichen, gleichsam gereinigten Begriff unserer Untersuchung zugrunde legen hieße doch wohl, Dichtung mit einem ihr wesensfremden Maßstab zu messen. Andererseits hätten sich eine Anzahl verwandter Begriffe wie „Raum", „ O r t " , „ P l a t z " angeboten. Jedoch hätten sie für unsere Fragestellung auf landschaftliche Faktoren eingeschränkt werden müssen, was in der Formulierung des Themas zu neuen Schwierigkeiten geführt hätte. Trotzdem werden diese Begriffe bei der Einzelerörterung natürlich eine wichtige Rolle spielen: Raum als das umfassende Ganze, in dem sich ein Geschehen vollzieht ; Ort als ein bestimmbarer Punkt in diesem Raum; Platz, gleichsam eine mittlere Größe zwischen Raum und Ort, als ein „eng umgrenztes Raumstück", das einem Ding oder einer Bewegung zugewiesen ist26. Gerade in der neueren Literaturwissenschaft ist der „ R a u m " einer Dichtung zu einer grundlegenden Interpretationskategorie geworden27. Damit ist natürlich nicht der sinnlich wahrnehmbare oder der mathematischR. BORCHARDT, Gesammelte Werke, Prosa III, Stuttgart 1960, 28f unterscheidet, freilich stark systematisierend, fünf menschliche Verhaltensweisen: die sinnlich empfindende und darstellende (Landschaft), die geologisch geognostische (Struktur), die naturwissenschaftlich aufnehmende (Kosmos), die geographische im strengen Sinn (die gewordene, werdende, durch den Menschen gewandelte Erde), die historisch geographische (Länder- und Nationenkunde). 25 H. CAROL, Zur Diskussion um Landschaft und Geographie, Geogr. Helv. 11, 1956, 21

111—133.

Zur Abgrenzung der einzelnen Begriffe O. F. BOLLNOW, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, 26ff, das Zitat 42. 27 Hinzuweisen ist vor allem auf die Studien von Herman MEYER : Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst, in: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, 33—56; Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst, in: Die Werkinterpretation, hrsg. v. H. Enders, Darmstadt 1967, 253—293. 26

10

Einleitung

physikalische Raum gemeint, sondern der „ästhetische" 28 , der wie Zeit, Figur, Erzählperspektive und Handlung ein poetisches Gestaltungselement darstellt29. Nun sind zwar Raum und Landschaft, mit der wir uns beschäftigen, keineswegs identisch, denn Landschaft als konkreter, empirisch faßbarer Ort liegt dem Raum immer voraus30. Da aber Raum erst als Bezugssystem zwischen mehreren Punkten konkret darstellbar wird, kann auch die Landschaft als ein solcher Ort, an dem sich Raum konkretisiert, für den Raum eines literarischen Kunstwerks bestimmend sein. Für die griechische Dichtung gelten freilich jene Einschränkungen, die wir soeben machen mußten. Interpretationen wie die von R. A L E W Y N zur Landschaft Eichendorffs, von R. GUARDINI zur Landschaft Hölderlins, von CH. WOLBRANDT zur Landschaft Stifters wären bei einem griechischen Dichter schlecht denkbar31. Die hier angedeuteten Probleme, die sich für die griechischen Dichter beim Erfassen und Darstellen von Landschaft notwendig ergaben, sind bislang kaum berücksichtigt worden. Vor allem die älteren thematisch verwandten Untersuchungen beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem „Naturgefühl" der Griechen. Soweit diese Versuche noch ins 19. Jahrhundert gehören — besonders dicht folgen sie in den zwanzig Jahren zwischen 1865 und 1885 aufeinander32 —, gehen sie bewußt oder unbewußt auf Schillers 1795 erschienene Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" zurück33. Ob 28

Zur Unterscheidung E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen II, Nachdruck Darmstadt 1964,104ff ; ders., Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, Beilageheft Zeitschrift f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 25, 1932, 21—63. Dabei ist anzumerken, daß C.s Kennzeichnung des „mythischen" Raumes (Bezogenheit aller Punkte und Orte auf ein Sinnsystem, innerliches Verhältnis zwischen dem Wesen einer Sache und ihrer Lage) gerade auf die Eigenart des Raumes im literarischen Kunstwerk zutrifft.

29

MEYER, E m p i r i e 3 5 f.

30

31

32

Vgl. dazu etwa A. EINSTEIN im Vorwort zu M. JAMMER, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960, X I I f. R . ALEWYN, E i n e L a n d s c h a f t Eichendorffs, E u p h o r i o n 51, 1 9 5 7 , 4 2 — 6 0 ; R . GUAR-

DINI, Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins, Tübingen/Stuttgart 1946; A. WOLBRANDT, Der Raum in der Dichtung Α. Stifters, Zürcher Beitr. z. dt. Lit.- u. Geistesgesch. 29, 1967. Vgl. auch den Titel des Sammelbandes von Studien zur deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts und der Romantik von Andreas MÜLLER: „Landschaftserlebnis und Landschaftsbild", Hechingen 1955. Die wichtigsten : H. MOTZ, Über die Empfindung der Naturschönheit bei den Alten, Leipzig 1865; K. WOERMANN, Über den landschaftlichen Natursinn der Griechen und Römer, München 1871 (s. ferner Anm. 19) ; A. BIESE, Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen, Kiel 1882; ders., Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Römern, Kiel 1884. Weitere Titel in E. BERNERTS RE-Artikel „Naturgefühl" ( X V I 2, 1 9 3 5 , Sp. 1 8 6 3 ) und in den E i n l e i t u n g e n v o n WOERMANN und BIESE.

33

Vgl. A. LESKY, Thalatta. Der Weg der Griechen zum Meer, Wien 1947, 149f.

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die Hauptgedanken dieser Schrift einfach übernommen, ob sie weiterentwickelt oder auch abgelehnt werden, jedenfalls bleibt für die beiden extremen Verhaltensweisen des Dichters zu seinem Gegenstand die von Schiller pointierte Alternative weithin gültig: Verwandtschaft von Mensch und Natur oder gegenseitige Entfremdung, Einheit von Natur und Geist (Objekt und Subjekt) oder deren Trennung — meistens als das „Klassische" und das „Romantische" gefaßt34. Auch der Gedanke einer geschichtlichen Entwicklung von einem Pol zum andern hat sich mit großer Beharrlichkeit behauptet: die Griechen als die Repräsentanten der naiven Kunst schlechthin, die sentimentalische Kunst als Spätstufe der Kulturentwicklung. (Bei den Griechen selbst ist bereits eine „Veränderung in der Empfindungsweise" festzustellen, wie sich für Schiller aus dem Vergleich des Euripides mit seinen Vorgängern ergibt.) Daß beide Gesichtspunkte, die Stellung des Dichters (oder des Menschen allgemein) zur Natur und die Entwicklung von einem naiven Hinnehmen der Natur zu einer bewußten Auseinandersetzung mit ihr, für die einschlägigen Arbeiten des 19. Jahrhunderts konstitutiv sind, zeigen schon deren Titel. „Natursinn", „Naturgefühl", „Empfindung der Naturschönheit" sind stereotype Wendungen, mit denen man den Gegenstand der Untersuchung formuliert35. Und selbst wenn einmal ein Titel neutral gefaßt ist, etwa bei A. R E U T E R : Die Landschaft bei Homer36, geht es dem Autor nicht um die Darstellung von Landschaft oder Natur, sondern um ästhetische Urteile des Dichters über das Dargestellte, bei R E U T E R also um den „Schönheitssinn" Homers. Die Begegnung der Griechen mit der Natur hat sich nach diesen Darstellungen in mehreren Etappen vollzogen. So behandelt B I E S E , der wichtigste Vertreter dieser Richtung, in den drei Kapiteln seines Buches über das Naturgefühl der Griechen das „naive" Naturgefühl in der Mythologie und bei Homer, das „sympathetische" in Lyrik und Drama, das „sentimental-idyllische" des Hellenismus 34

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Einer der Kernsätze der Abhandlung lautet: „Sie (die Dichter) werden entweder Natur sein oder sie werden die verlorene suchen" (Nationalausgabe X X 432, hier auch das folgende Zitat). — Herders Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie geht ebenfalls auf diesen Gegensatz zurück. Ähnlich steht es mit den Arbeiten, die sich um diese Zeit mit dem gleichen Thema in der deutschen Literatur befassen: „Über die Entstehung und Entwicklung des Gefühls für das Romantische in der Natur", „Beiträge zur Geschichte des Naturgefühls", „Zur Geschichte des Naturgefühls bei den Deutschen" sind drei Beispiele aus einer langen Serie, die man nennen könnte. (Sie sind dem ausführlichen Überblick über die ältere Literatur bei F. KAMMERER, Zur Geschichte des Landschaftsgefühls im frühen 18. Jahrhundert, Berlin 1909 entnommen). — Für Frankreich ist auf die zweite Ausgabe von V. DE LAPRADE, Le sentiment de la nature avant le Christianisme, Paris 1866 hinzuweisen (über die Griechen 253—374). Progr. Cuxhaven 1911.

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und der Kaiserzeit. Die Entwicklung des griechischen Naturgefühls versteht er als einen Prozeß, „der vom schlichten Vergleichen des Geistigen und Natürlichen zu der beides verschmelzenden Metapher, zur poetischen Beseelung und so zum ausgeführten Stimmungsbilde führt, in dem die Gemütsbewegung im Gegensatz oder im Einklang steht mit der Naturszene, bis endlich — im Hellenismus — das Landschaftliche, um seiner selbst willen geschildert, den Menschen bloß zum Figuranten in der Natur herabdrückt" (22). B E R N E R T dagegen sieht den entscheidenden Fortschritt in der Befreiung von der religiösen Betrachtungsweise zum Genuß der Natur. In seinem RE-Artikel nimmt er eine vierfache Gliederung vor : 1. Homer: keine Reflexion über die Natur, sie wird nicht aufgesucht, sondern begegnet dem Menschen von sich aus ; 2. 6. und 5. Jahrhundert: Die Verbundenheit mit der Natur bleibt, aber die Erhabenheit Homers wandelt sich zur Schönheit, das Lokal kann der Stimmung des Menschen angepaßt werden, der Mensch sich in der Natur wiederfinden ; 3. Hellenismus: völlige Subjektivierung der Natur, nicht mehr Eindruck der Natur auf den Menschen, sondern Ausdruck der eigenen Gefühle in der Natur; 4. Ausgehendes Griechentum: Steigerung des Naturgefühls bis zur Grenze des Möglichen, jetzt erst ist reine Naturlyrik möglich. Immer wird großer Wert gelegt auf die Zahl der Naturäußerungen in der einzelnen Epoche. Beispiele von „Naturbeseelung" sind mit besonderer Aufmerksamkeit registriert, Fortschritte im Hinblick auf ein „sympathetisches", also modernes Naturgefühl jeweils deutlich hervorgehoben. Die Gefahren einer solchen entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise machen sich bei fast allen genannten Darstellungen nachteilig bemerkbar. Die Verwendung eines aus der Biologie entlehnten Begriffs in einem geistesgeschichtlichen Zusammenhang führt oft dazu, das Voranschreiten des Geistes als eine Abfolge von Mechanismen zu verstehen, wo doch der Geist selbst die Fähigkeit hat, Normen zu setzen und zu revidieren. Leicht stellt sich jener verführerische Optimismus ein, der geschichtliche Entwicklung bedenkenlos mit Fortschritt gleichsetzt und schnell in ein rein quantitierendes Verfahren ausartet 37 . Ohne Zweifel ist die Zahl der Belege, die 37

Ein besonders krasses Beispiel dafür liefert J . T H O E N E , Ästhetik der Landschaft, Mönchen-Gladbach 1924,13 : „Erheblich tiefer stand es (das Naturgefühl) aber wieder bei ihren Nachfolgern, den sonst doch so bedeutenden Griechen . . . . und während früher eigentlich nur die Dichterin Sappho . . . . Verständnis für die Landschaft gezeigt hatte, traten jetzt wenigstens die Dichter Theokrit und Meleager mit Naturschilderungen hervor."

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sich beibringen lassen, noch kein Beweis für ein stark oder schwach entwickeltes Naturgefühl; daß die Darstellung der Landschaft auch zu einer nichtssagenden Manier, um nicht zu sagen: Manie werden kann, bezeugt für das Altertum Horaz (Epist. II 3, 14 ff)38. Der Hinweis auf Rousseau und sein die Konvention sprengendes Postulat von der Natur als dem Inbegriff von Reinheit und Unschuld dürfte genügen, um klarzustellen, daß eine Änderung in der Naturanschauung nicht immer eine Phase innerhalb einer geradlinig verlaufenden Entwicklung zu sein braucht, sondern bisweilen auch als Gegenschlag gegen das bis dahin Gültige zu verstehen ist. Man müßte also den Entwicklungsbegriff wenigstens so weit fassen, daß sich auch rückläufige Prozesse, Brüche und Gegenschläge unter ihn subsumieren lassen. Nur so läßt sich die Gefahr eines spekulativen Konstruktivismus bannen, der fast alle bislang genannten Arbeiten erlegen sind. In dem Bestreben, das Einzelphänomen dem Gesamt der Entwicklung einzuordnen, tut man ihm Gewalt an und faßt nur die Seite ins Auge, die in das — meist bereits vorher konzipierte — Bild paßt. Dieses deduktive Verfahren, das auf eine sorgfältige Analyse verzichtet, degradiert die Einzelstelle zum Beleg. Aus dem Zusammenhang gelöst und oft gewaltsam umgebogen, leistet sie nur selten das, was sie leisten soll. Auch übersieht eine schematische Handhabung des Entwicklungsgedankens die individuelle Dichterpersönlichkeit. Mögen ihr auch gerade bei den Griechen durch die traditionellen Gattungsgesetze gewisse Schranken gesetzt gewesen sein, so gilt doch auch vom griechischen Dichter, was von jedem Künstler gilt: daß sein Werk mehr als nur Ausdruck eines bestimmten Zeitgeschmacks ist, daß er die Menschen Neues sehen und Bekanntes mit anderen Augen sehen gelehrt hat. „Entwicklung" wäre demnach eher als Ausgreifen nach immer neuen Richtungen, als Neuentdecken und Experimentieren zu verstehen denn als stete Steigerung und kontinuierliches Fortschreiten39. Ein zweiter grundsätzlicher Einwand gegen Arbeiten wie die von B I E S E und B E R N E R T gilt dem unreflektierten Gebrauch von Begriffen wie „Erlebnis", „Empfindung", „Gefühl", „Stimmung" u. ä. Allein schon die Tatsache, daß es sich um typisch deutsche Wörter handelt, die in anderen Sprachen keine oder nur ungefähre Analoga haben, 38

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Vgl. ferner Lukian, de hist, conscr. 20 (allerdings in bezug auf eine bestimmte Richtung der Geschichtsschreibung) : Weil man nicht weiß, was man schreiben soll, wendet man sich έπΐ τά$ τοιαύτας των χωρίων καΐ άντρων έκφράσεις. So etwa auch W. C L E M E N , Shakespeares Monologe, Kleine Vandenhoeck-Reihe 198/9, Göttingen 1964, 14. Zur Kritik des Entwicklungsbegriffs in der älteren Literatur s. schon S T R A U B in der o. Anm. 19 zitierten Arbeit.

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müßte davor warnen, sie zur Grundlage einer kritischen Betrachtung griechischer Literatur zu machen40. Von Jakob BURCKHARDT stammt der Satz, Briefschreiber seien für das Naturgefühl eine bessere Quelle als Dichter41. Wir haben keine derartigen Briefe von Griechen, und die Reisebeschreibungen, etwa die Herodots, die man ebenfalls als solche persönlichen Dokumente werten könnte, sprechen kaum von dem, was wir Landschaft nennen. In dieser Lage nun einfach das Erbe der Dichter als Ersatz für die fehlenden biographischen Zeugnisse zu nehmen wäre nur dann ein zulässiges Verfahren, wenn wir die Poesie als unmittelbaren Niederschlag von Erlebtem verstehen dürften. Das aber ist bei der Dichtung der Griechen noch weniger der Fall als bei anderer Dichtung. Das Ich des Dichters tritt in einem erheblichen Teil der griechischen Poesie ganz oder stark zurück, sie ist weitgehend — in einem tieferen Sinn — „namenlos" 42 . Und selbst beim Gedicht, nach allgemeiner Auffassung der subjektivsten poetischen Aussageform, wäre im Einzelfall zu prüfen, ob es überhaupt Ausdruck eines Erlebnisses sein will; ob es nicht vielmehr, wie G. B E N N formuliert, statt Ausdruck des Ichs Frage nach dem Ich ist 43 ; wieweit es, etwa bei der Chorlyrik oder der Gelagepoesie, der „Rollendichtung" zuzurechnen ist, wo der Dichter nicht als Individuum, sondern als Repräsentant, z. B. der Kultgemeinde, spricht. Die Zweifel verstärken sich, wenn etwa die poetischen Fassungen des 40

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Verwiesen sei auf die beiden Kapitel „Stimmung" und „Maske" bei W. KILLY, Elemente der Lyrik, München 2 1972, 114—128 und 129—153. Zum Wandel des künstlerischen Erlebnisbegriffs seit Dilthey CH. BÜHLER, Der Erlebnisbegriff in der modernen Kunstwissenschaft, in: Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschrift O. Walzel, Wildpark-Potsdam 1924, 195—209. Zur Bedeutung und Entwicklung des Stimmungsbegriffs aus der Musik B . LECKE, Das Stimmungsbild. Musikmetaphorik und Naturgefühl in der dichterischen Prosaskizze 1421—1780, Palaestra 247, Göttingen 1967, lOff. Die Kultur der Renaissance in Italien 317. — Wieviel einfacher es ist, aufgrund von Reisebeschreibungen zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, zeigt die Dissertation von B. RICHTER, Die Entwicklung der Naturschilderung in den deutschen geographischen Reisebeschreibungen, Leipzig 1900, zumal wenn man wie R . das Hauptgewicht nicht auf die Wechselbeziehung zwischen Natur und Geist, nicht auf das Gefühl, sondern auf die Auffassung der Landschaft und die Technik ihrer Darstellung legt. Grundlegend dazu W. KRANZ, Das Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk in der althellenischen Literatur, jetzt in: Studien zur antiken Literatur und ihrem Nachwirken, Heidelberg 1967, 7—26. Ferner H. MAHLER, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Hypomnemata 3, Göttingen 1963 (etwa 52: „das Ich ist nicht privat, sondern repräsentativ"); U. KNOCHE, Erlebnis und dichterischer Ausdruck in der lateinischen Poesie, Gymn. 65, 1958, 146—165; E . ZINN, Erlebnis und Dichtung bei Horaz, in: Wege zu Horaz, Darmstadt 1972, 369—388, bes. 773ff. Probleme der Lyrik, Wiesbaden 1951, 14.

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Daphnis- und Orpheusmythos als Kronzeugen für das „sympathetische" Naturgefühl aufgeboten werden. Hier handelt es sich, wenigstens bei der expliziten Form der Anrufung der umgebenden Natur durch den Hirten oder Sänger, doch ganz offensichtlich um einen festen Topos für die magische Macht des Gesanges, so daß das Motiv literarisch und nicht psychologisch (als Ausdruck eines besonders innigen Naturverhältnisses) zu deuten ist 44 . Erlebte und poetische Wirklichkeit sind nun einmal nicht identisch, das ästhetische Wahrnehmungsvermögen deckt sich nicht mit dem künstlerischen Formwillen 45 . Als Zusammenfassung der hier vorgetragenen Bedenken sei zitiert, was Jakob BURCKHARDT über die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit schreibt (Die Kultur der Renaissance in Italien 308) : ,,Diese Fähigkeit (Landschaft als etwas Schönes zu empfinden) ist immer das Resultat langer, komplizierter Kulturprozesse, und ihr Entstehen läßt sich schwer verfolgen, indem ein verhülltes Gefühl dieser Art lange vorhanden sein kann, ehe es sich in Dichtung und Malerei verraten und damit seiner selbst bewußt werden wird. Bei den Alten z. B . waren Kunst und Poesie mit dem ganzen Menschenleben gewissermaßen fertig, ehe sie an die landschaftliche Darstellung gingen, und diese blieb immer nur eine beschränkte Gattung, während doch von Homer an der starke Eindruck der Natur auf den Menschen aus zahllosen einzelnen Worten und Versen hervorleuchtet." In der älteren Fachliteratur sind derartige Zusammenhänge nicht reflektiert worden. Jedoch ändert sich seit der Jahrhundertwende der Stil der einschlägigen Arbeiten. Die bislang vorherrschenden Termini einer romantischen Poetik (Natursinn, Empfindung, Echtheit des Gefühls, Inspiration, Spontaneität) treten zurück, der Gedanke einer Entwicklung des griechischen Naturgefühls wird nicht mehr mit der früheren Intensität verfolgt. Da aber kein neuer übergeordneter Gesichtspunkt an seine Stelle tritt, bieten die Arbeiten häufig nicht mehr als eine Materialsammlung mit mehr oder weniger ausführlichen Zwischentexten. Während sich F. T. PALGRAVE46 in der Regel mit dem Zitieren der Texte begnügt, fügt H. R. FAIRCLOUGH 4 7 seiner reichhaltigen Materialsammlung verbindende Texte bei, die 44

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48 47

Vgl. dazu die Einleitungskapitel von E . U. GROSSE, Sympathie der Natur. Geschichte eines Topos, Freiburger Schriften z. roman. Phil. 14, München 1968. Zu welch unsinnigen Ergebnissen etwa die von den Entwicklungstheoretikern immer wieder angewandten Schlüsse ex silentio führen können, zeigt in besonderer Deutlichkeit die alte Theorie von der Farbblindheit Homers: Man nahm an, daß alles Wahrgenommene auch künstlerisch gestaltet werde, daß also alles nicht künstlerisch Gestaltete auch nicht wahrgenommen sei. Landscape in Poetry from Homer to Tennyson, London 1897. Love of Nature among the Greeks and Romans, London 1930.

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jedoch recht allgemein gehalten sind und zur Erhellung der einzelnen Stelle nur wenig beitragen. Ebenso breitet G. SOUTAR48 eine Fülle von Material (auch aus anderen Literaturen) aus, aber die wahllos hervorgehobenen Einzelheiten lassen keinen Plan erkennen49. Die Arbeit von F. RATZEL50 schließlich beschäftigt sich mit dem Schönen und Erhabenen in der Natur; sein Entwurf einer normativen Poetik der Naturschilderung zielt jedoch eher auf die Wissenschaft als auf die Kunst. In der Fragestellung interessant, in den Ergebnissen fragwürdig ist der Aufsatz von A. PARRY, Landscape in Greek Poetry 51 . Der Verfasser, der sich im wesentlichen auf Ilias, Odyssee und den platonischen Phaidros beschränkt, geht von der These aus, daß alle Naturszenen der griechischen Literatur metaphorischen Wert haben52, ob nun das einzelne Naturphänomen Gleichnis für etwas Menschliches ist und die vorgegebene enge Verbindung zwischen Natur und Mensch eine Kontaktherstellung erübrigt, oder ob die Natur als Ganzes, vom Menschen getrennt und aus sich heraus versteh- und beschreibbar, zur Metapher wird für das, was dem Menschen fehlt (romantische Grundhaltung, Idylle als Fiktion einer Rückkehr ins Goldene Zeitalter). — Sicher beschreibt PARRY die Schlüsselstellung des Phaidros zwischen 48 49

so 51 52

Nature in Greek Poetry, Oxford 1939. Der diffuse Eindruck wird dadurch noch verstärkt, daß das Material in einer Verquickung chronologischer und systematischer Gesichtspunkte dargeboten ist. Die beiden ersten Kapitel behandeln Landschaft bei Homer und Landschaft nach Homer (wobei die Lyriker mit Ausnahme Pindars übergangen werden), die beiden letzten die alexandrinische Dichtung und die griechische Anthologie. Dazwischen gibt es Kapitel über landschaftliche Formationen (Berg, Fluß, Meer) und Einzelphänomene sowie über das Naturgefühl. — Die kleine Arbeit von H. NICOLSON, Nature in Greek Poetry, Proc. Class. Ass. 48, 1951, 7—21 streift die Landschaft nur als einen Bereich unter den vielen, die die Außenwelt des Menschen bestimmen. N. unterscheidet zwischen solchen Naturbereichen, die kaum die Aufmerksamkeit der Griechen auf sich lenkten (Meer, Berg, Wald, Blumen, Tiere), und solchen, die mit Interesse beobachtet wurden (Frühling, Hitze, Kälte, Schatten und Wasser, Nacht und Sterne, Licht und Luft). Wie sich im Lauf dieser Untersuchung zeigen wird, ist N.s zeitlich nicht differenzierende Zweiteilung insgesamt viel zu grob und auch im einzelnen anfechtbar. — Auch CH. P. SEGAL, Nature and the World of Man in Greek Literature, Arion 2, 1, 1963, 19—53 faßt „Natur" im weitesten Sinn, versteht sie aber — dynamischer als N. — als Inbegriff der Kräfte und Elemente der nichtmenschlichen Welt. Ein weiterer Unterschied zu N. besteht darin, daß S. den Wandel in den Beziehungen zwischen Mensch und Natur von der Archaik bis zum Beginn der Bukolik thematisiert. — Die Dissertation von L. FIEDLER, Quelle — Nacht — Mittag. Untersuchungen zu Naturbeschreibung und Naturgefühl in der antiken Dichtung, München 1942 war mir nicht zugänglich. Über Naturschilderung, München/Berlin 1906. Yale Class. Stud. 15, 1957, 3—29. Vgl. auch CH. P. SEGAL in dem u. Anm. 65 genannten Ovidbuch l f .

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diesen beiden Positionen zutreffend. Ob man jedoch von hier aus die Odyssee als „romantische Komödie" charakterisieren darf, in der die Natur gegen die Gesellschaft ausgespielt wird und die Aufgabe erhält, den Helden auf die Probe zu stellen, scheint mir zweifelhaft, da, was in erster Linie Märchen ist, im Sinne des modernen Bildungsromans verstanden wird. Ergiebiger als die genannten Arbeiten allgemeinen Charakters sind einige Spezialuntersuchungen und einzelne Kapitel aus Abhandlungen mit umfassenderer Themenstellung, etwa K . REINHARDTS Ausführungen über die Landschaft in seinen Odysseestudien53. Hinzuweisen ist ferner auf LESKYS Thalatta-Buch 64 . LESKY geht auch auf Einzelprobleme ein und interpretiert ausgewählte Stellen, was in der älteren Literatur nur selten geschah. Auf einen wichtigen Topos der Landschaftsdarstellung, den locus amoenus, beschränkt sich die Dissertation von G. SCHÖNBECK 55 , der den Hauptakzent aber auf die römische Dichtung legt. Von besonderer Bedeutung für unser Thema ist schließlich die Untersuchung von M . T R E U , Von Homer zur Lyrik56, auch wenn sie zeitlich enger begrenzt und das verfolgte Ziel spezieller ist. Auch T R E U geht es um die Frage, was der Dichter von seiner Umwelt gesehen und wie er das Gesehene gestaltet hat, aber er verdeutlicht die unterschiedlichen dichterischen Sehweisen vorwiegend am einzelnen sprachlichen Ausdruck, nicht so sehr durch die Interpretation größerer Einheiten. Aus den kritischen Anmerkungen zur älteren Fachliteratur dürften sich Fragestellung und Methode der vorliegenden Untersuchung im groben Umriß bereits abgezeichnet haben. 1. Es geht in ihr primär um die D a r s t e l l u n g von Landschaft oder landschaftlichen Elementen. Das heißt, es wird nach den gestalterischen Mitteln gefragt, mit denen an einer Einzelstelle, in einer Dichtung, schließlich auch im Gesamtoeuvre eines Dichters Landschaft poetisch realisiert worden ist. Demnach werden literarästhetische, nicht psychologische Kategorien für die Analysen bestimmend sein: Motivwahl, Komposition, Perspektive, besondere Gestaltungszüge, Repetition und Variation, Wortwahl u. ä., also für die Form- und Strukturanalyse wichtige Gesichtspunkte. 2. Die Einzelstelle soll nicht, aus dem Zusammenhang herausgelöst, als „Beleg" dienen, sondern als Teil eines übergeordneten Ganzen verstanden werden. So stellt sich die Frage nach der F u n k t i o n der 53 54 65 56

Die Abenteuer der Odyssee, in : Tradition und Geist, Göttingen 1960, 47—124. S. o. Anm. 33. Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962. Zetemata 12, München 1955 (21968). 2

Eiliger, Darstellung

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betreffenden Stelle ganz von selbst. Da sich ferner die darstellerischen Mittel und die Funktion einer Stelle gegenseitig bedingen, werden sich nur bei Berücksichtigung beider Aspekte gesicherte Ergebnisse erzielen lassen. Die ständige Beachtung des literarischen Kontextes schafft zudem den Vorteil, daß sich die Darstellung nicht in der Aneinanderreihung isolierter Textstellen erschöpft. Der Weg wird also in der Regel von der Einzelstelle zur Einzeldichtung (Gedicht, Drama usw.) führen und von hier aus gegebenenfalls zum Gesamtwerk eines Dichters. Da die Darstellung jedoch chronologisch vorgeht67, was im Falle der griechischen Dichtung bis zum Beginn der hellenistischen Zeit bedeutet: nach literarischen Gattungen, erfährt der Horizont unserer Untersuchung noch eine zusätzliche Erweiterung. Die Frage, ob es Kriterien gibt, die von einer „epischen", „lyrischen" und „dramatischen" Landschaft zu sprechen erlauben, wird bewußt gestellt, und zu ihrer besseren Beantwortung soll immer wieder die Methode des Vergleichs eingesetzt werden. Dabei verstehen wir die drei literarischen Hauptgattungen im Sinn der Goetheschen „Naturformen der Dichtung" 68 , also als „gestalterische Grundhaltungen" 59 und somit als zeitlose Stilqualitäten, die geschichtlich realisierte Formen transzendieren. Damit nähern wir uns der Position E. STAIGERS, der die Beispiele für seine „Fundamentalpoetik" 60 weitgehend aus der griechischen Dichtung genommen hat. Um einerseits das Band zwischen Dichtung und menschlicher Natur nicht zu zerreißen, andererseits der Gefahr einer formalistischen Aufsplitterung in beliebig viele Genera zu entgehen, spricht STAIGER nicht vom Epos, sondern von „episch", ebenso von „lyrisch" und „dramatisch", verwendet also die Gattungsnamen in ihrer adjektivischen Form zur Bezeichnung spezifischer Seinsweisen61. Es ist hier nicht der Ort, STAIGERS zum Teil heftig kritisierte Kon57

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59

Grundsätzlich wäre natürlich auch eine Anordnung des Materials nach inhaltlichen Gesichtspunkten, also nach den einzelnen Elementen der Landschaft, denkbar gewesen. Aber sie hätte, wenigstens bei allen über die reine Darstellungstechnik hinauszielenden Fragen, zu lästigen Wiederholungen geführt, da etwa die dichterische Darstellung des Gebirges kaum andere Rückschlüsse zuläßt als die des Meeres. Im Unterschied zu den „Dichtarten" wie Epigramm, Ode, Fabel, Idylle (Noten und Abhandlungen zum Diwan, Hamburger Ausgabe II 187.) Ähnlich unterscheidet schon J . G. HERDER zwischen „historischen" und „philosophischen" Gattungen (Sämtliche Werke XV, Berlin 1888, 538). Vgl. ferner R. PFEIFFER, Gottheit und Individuum in der frühgriechischen Lyrik, Philol. 84, 1929, 137—152, jetzt in: Ausgewählte Schriften, München 1960, 42—54 (zur Genus-Frage 137f bzw. 42f). K. VIETOR, Die Geschichte literarischer Gattungen, in: Geist und Form, Bern 1952, 292—309, d a s Zitat 292.

el

Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946 ( e 1963). Dementsprechend versteht er seine Poetik auch als „einen Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie" (12).

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zeption zu diskutieren82. Auch wenn man sich längst nicht jeder seiner Folgerungen anschließt, läßt sich nicht bestreiten, daß seine Ergebnisse in wichtigen Punkten mit Erkenntnissen übereinstimmen, die wir, um nur zwei Namen zu nennen, B. SNELL 63 und H . FRANKEL 6 4 verdanken. Auch ihre Bemühungen um die griechische Dichtung sind weitgehend anthropologisch orientiert und haben gezeigt, daß die Geschichte der griechischen Dichtung und damit die historische Abfolge der drei Hauptgenera ein geistesgeschichtlicher Prozeß ist, dessen Phasen nicht austauschbar sind. Das aber ist nur dann der Fall, wenn die Gattungen nicht im Sinne einer formalen Gattungspoetik in das Belieben des einzelnen gestellte dichterische Gestaltungsweisen sind, sondern Grundeinstellungen des Menschen zu seiner Umwelt widerspiegeln. Das Besondere der griechischen Dichtung erweist sich also unter anderem darin, daß es bei ihr den Widerstreit zwischen historisch-phänomenologischer und philosophisch-anthropologischer Betrachtungsweise im Grund nicht gibt, so daß bei ihr die Erforschung der historischen Formen mit der Erfassung von Urformen zusammenfällt. Daher sind die Schwierigkeiten, die sich sonst aus der Vermischung variabler und konstanter Größen ergeben und zur Kontroverse um STAIGERS Buch erheblich beigetragen haben, bei der griechischen Dichtung bis ins vierte Jahrhundert hinein kaum vorhanden. Erst der Hellenismus bietet für den Forscher eine vergleichsweise moderne Situation. Die starke Berücksichtigung von Gattungsfragen steht nicht im Widerspruch zu der oben skizzierten poetologischen Zielsetzung unserer Untersuchung, sondern ergänzt sie in sinnvoller Weise insofern, als sie zu einer stärkeren Beachtung der historischen Dimension zwingt. Der Entwicklungsgedanke und Begriffe wie Naturanschau62

Verwiesen sei auf P. SALM, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft (SchererWalzel-Staiger), Tübingen 1970. Bezeichnend für die Kritik an Staiger scheint mir F. S E N G L E S Buch „Die literarische Formenlehre", Stuttgart 1967 zu sein. Im Horizont geschichtlicher und gesellschaftlicher Veränderungen fordert S. eine Abkehr von der Dreizahl der konventionellen Poetik und plädiert für eine neue, auch literarische Zweckformen wie Brief, Rede Predigt, Essay einschließende Formenlehre. Dennoch greift er zuletzt auf das anthropologische Fundament zurück, wenn er für die Genera in einer modernen Literaturgeschichte und Literaturtheorie Begriffe wie „Stilebenen", „Stilhaltungen" oder —· am liebsten — „Töne" (beruhend auf der alten Affektenlehre) vorschlägt. — Als Vorläufer STAIGERS hinsichtlich einer anthropologisch eingestellten Literaturwissenschaft wären u. a. zu nennen R. H A R T L , Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen, Wien 1924 (in enger Anlehnung an Kant) und E . E R M A T I N G E R , Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin 1930. Vgl. ferner den o. Anm. 59 zitierten Aufsatz.

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Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 31955. • Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 21962. 4



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ung, Umweltserfahrung und -bewältigung (statt des überstrapazierten „Naturgefühls") werden damit, wenn auch unter verändertem Aspekt, wieder in ihr Recht eingesetzt. Unterschiedliche Darstellungsweisen von Landschaft in den einzelnen Genera sind als Folge unterschiedlicher gattungsbedingter Darstellungsmöglichkeiten u n d als Ausdruck unterschiedlicher Verhaltensweisen der Griechen zur Welt zu verstehen. Landschaft in griechischer Dichtung kann daher funktional als Aktionshintergrund, Szenerie, Umweltkulisse, Ort oder auch Bestandteil der Handlung umschrieben werden, aber auch psychologisch als Empfindungsträger, als Ausdruck einer so oder so gearteten „Weltanschauung". Der erste Aspekt hat bislang kaum Beachtung gefunden, und niemals sind beide zusammen berücksichtigt worden. Was in neuerer Zeit auf dem Gebiet der römischen Literatur, etwa zu Catull, Vergil und Ovid, geleistet worden ist65, soll hier für die griechische Dichtung nachgeholt werden. Abschließend sei noch ein Problemkreis zur Sprache gebracht, den der Leser unter dem Thema dieser Arbeit vielleicht erwarten könnte, der aber aus verschiedenen Gründen nicht oder nur nebenbei Berücksichtigung finden soll. Es wäre reizvoll, die Analyse dichterischer Landschaftsdarstellungen mit entsprechenden Gestaltungselementen der Malerei, zum Teil auch der Reliefkunst der betreffenden Epoche zu vergleichen. So hat W. SCHADEWALDT 6 6 die Naturauffassung der Iliasgleichnisse mit der kretisch-mykenischen Formenwelt kontrastiert und die Nähe Homers zum spätgeometrischen Stil einleuchtend dargestellt, und andere Forscher haben weiteres Vergleichsmaterial beigebracht 67 . Das 65

ββ

67

Genannt seien: G . H Ö L S K E N , Beobachtungen zur Landschaftsgestaltung römischer Dichter, Diss. Freiburg 1959; E. SCHÄFER, Das Verhältnis von Erlebnis- und Kunstgestalt bei Catull, Herrn. Einzelschr. 18, 1966; H. REEKER, Die Landschaft in der Aeneis, Diss. Tübingen 1970, Spudasmata 27, Hildesheim 1971; Α. M. B E T T E N , Naturbilder in Ovids Metamorphosen, Diss. Erlangen 1968; CH. P. SEGAL, Landscape in Ovid's Metamorphoses, Herrn. Einzelschr. 23, 1969. Die homerische Gleichniswelt und die kretisch-mykenische Kunst, in: Homer, 130— 154. Besonders zu nennen sind R. H A M P E , Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit, Die Gestalt 22, Tübingen 1952; K. SCHEFOLD, Archäologisches zum Stil Homers, Mus. Helv. 12, 1955, 132—144; ders., Frühgriechische Sagenbilder, München 1964. — Der Versuch von F. W I N T E R , Parallelerscheinungen in der griechischen Dichtkunst und bildenden Kunst, N. Jb. f. d. klass. Altertum 12, 1909, 681—712, zwei Arten von Iliasgleichnissen (lebendige Naturbilder — formelhafte Wiederholungen) mit zwei Entwicklungsstufen der mykenischen und nachmykenischen Kunst zu parallelisieren, darf heute als erledigt gelten, da sich schon die Kriterien W.s für die Scheidung zweier Gleichnisarten als unhaltbar erwiesen haben. Die Gegenüberstellungen von späteren Werken der bildenden Kunst mit Werken der Lyrik und des Dramas bleiben bei W. viel zu allgemein und subjektiv, als daß man Nutzen aus

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starke geistige Element, das an die Stelle eines schwerelosen Spiels der Kräfte die Ordnung einer vom Einzelding abstrahierten Gesetzmäßigkeit setzt; die Reduzierung auf das Wesentliche, die Rückführung des Vereinzelt-Individuellen auf das Allgemeingültige; eine Formensprache, die sich weitgehend mit Andeutungen begnügt (also nicht „ausmalt") — alle diese Züge verbinden die geometrische Kunst mit der homerischen Gleichniskunst. Auch das Kompositionsprinzip der vereinzelten Erscheinung tritt hier wie dort besonders rein hervor. Da Linie und Umriß vor Licht und Schatten prävalieren und der Farbe nur untergeordnete Bedeutung zukommt, ist das Einzelne wohl scharf erfaßt, aber seine Stellung im Verband bleibt unbestimmt. Eine durchlaufende, das Einzelne verbindende Horizontlinie wird man bei geometrischen Darstellungen genauso vergeblich suchen wie eine kontinuierliche Landschaft in der Ilias. Aber so verlockend derartige Gegenüberstellungen von Dichtung und Malerei sein könnten, das Vorhaben würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Eine ganze Reihe von diffizilen Einzeluntersuchungen wäre dafür erforderlich, zumal zahlreiche lokale Traditionen und Sonderentwicklungen in den einzelnen Kunstzentren des griechischen und außergriechischen Raumes zu berücksichtigen wären. Außerdem müßte man den Erfolg eines solchen Unternehmens von vornherein skeptisch beurteilen, da das Material, wenigstens bis in die hellenistische Zeit, recht dürftig ist. Die Landschaft war nun einmal durch Jahrhunderte hindurch kein nennenswertes Thema der griechischen Malerei. Auch war die Blüte der griechischen Plastik längst vorbei, als die Maler die Mittel für eine räumliche Bilddarstellung allmählich beherrschen lernten — eine Entwicklung, die erst zur Zeit Alexanders und seiner Nachfolger ihren Höhepunkt erreichte68. Für die griechische Landschaftsmalerei sind wir, wie bekannt, weitgehend auf Rückschlüsse angewiesen, da die Tafelmalerei so gut wie ganz verlorengegangen ist. Neben den griechischen Vasen und Reliefs geben uns vor allem die in Pompei und anderen Städten Italiens gefundenen Wandmalereien wertvollen Aufschluß. Jedoch wird die Frage, wieweit solche Rückschlüsse und überhaupt die Annahme einer durchgängigen Landschaftsmalerei (besonders auch des monumentalen Stils) bei den Griechen gerechtfertigt sind, von der ihnen ziehen könnte. Pindar und die Olympiaskulpturen, die Elektra des Sophokles und die Parthenonskulpturen, die Elektra des Euripides und die Athenastatue aus der pergamenischen Bibliothek mögen eine „Gleichartigkeit der künstlerischen Ausdrucksweisen" (689) zeigen. Aber gerade die methodischen Schwierigkeiten beim Vergleich von Werken verschiedener Kunstgattungen erfordern eingehende Analysen, ohne die derartige Parallelisierungen unverbindlich bleiben. • 8 Dazu E. P F U H L , Malerei und Zeichnung der Griechen, 3 Bde, München 1923, I 3.

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Wissenschaft immer noch kontrovers beantwortet. Vor allem bei den römischen Gemälden ist Vorsicht am Platze. K. SCHEFOLD69 hat darauf hingewiesen, daß es unter ihnen nur wenige getreue Kopien gibt und daß ihre Komposition in weit geringerem Maße, als man bisher annahm, auf griechische Vorbilder zurückgeht; und wenn das der Fall ist, dann führen diese Vorbilder lediglich in hellenistische Zeit. Zudem gewinnt die Landschaft in der römischen Kunst eine völlig neue Bedeutung. Wie etwa die Odysseelandschaften des Esquilin70 zeigen, ist hier der Raum den Figuren übergeordnet. Erst jetzt wird er auch als solcher empfunden: Das Ganze ist von einem hochgelegenen Blickpunkt aus als eine Reihe von Landschaftsprospekten vorgeführt. Licht und Farbe herrschen über Form und Linie; die Verteilung von Licht und Schatten schafft eine atmosphärische Perspektive, die den Vordergrund plastisch hervortreten und die Kontraste nach hinten abnehmen läßt. Dieser Sinn für malerische Valeurs, der die Dinge zur Einheit bindet, geht den Griechen weitgehend ab. Von Landschaftsmalerei als einer eigenen Gattung, die Licht, Farbe und räumliche Tiefe in gleicher Weise berücksichtigt, läßt sich genau genommen erst vom letzten vorchristlichen Jahrhundert an sprechen71. Und was die Vasenmalerei betrifft, so ist bei ihr der akzessorische Charakter der „Landschaft" hinlänglich bekannt. Grundsätzlich wird man wohl Landschaftsdarstellungen „unkeramisch" nennen müssen, wenigstens sofern sie eine räumliche Illusion hervorrufen wollen. Denn eine solche Darstellung würde die Fläche, die sie ja gerade verzieren soll, zumindest tendenziell aufheben 72 . Meistens genügt dem griechischen Vasenmaler eine Abbreviatur der Wirklichkeit : eine Säule deutet den Innenraum an, ein Baum den Außenraum, Delphine das Meer. Das heißt, die landschaftlichen Effekte haben, abgesehen von ihrer ornamentalen oder formalen Funktion (Baum als die Bildfläche gliedernde Achse, Zweige zur Füllung der leeren Stellen), symbolische Bedeutung 73 . Natürlich gibt es auch Ausnahmen, etwa Darstellungen der Troilosszene auf jüngeren 69

Vorbilder römischer Landschaftsmalerei, Mitt. Dt. Arch. Inst., Athen. Abt. 71, 1956,

70

Eine ausführliche Würdigung bei H. G. BEYEN, Die Pompeianische Wanddekoration vom zweiten bis zum vierten Stil II/l, Den Haag 1960, 260ff. Vgl. CH. M. DAWSON, Romano-Campanian Landscape Mythological Painting, Yale Class. Stud. 9, 1944. Vgl. PFUHL I 385 ff zu dem räumlichen und landschaftlichen Elementen im rotfigurigen Stil. Daneben können sie auch als Requisit dienen, etwa der Baum in einer Badeszene zum Aufhängen von Kleidern und ölfläschchen. Ähnlich steht es mit der Andeutung einer Höhle bei Pan- und Nymphendarstellungen.

211—231.

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73

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korinthischen Gefäßen mit Festungstor und Mauern, Brunnen und Baum 74 oder die schwarzfigurige Vase des Museo Gregoriano in Rom (II 49), die einen auf einem Lager von Zweigen und Blättern ausgestreckten Leichnam in einem Hain von Platanen und Tannen zeigt. Bei fast allen Beispielen dieser Art vermutet man jedoch fremden Einfluß, besonders aus Ionien — die Ionier scheinen malerischer veranlagt gewesen zu sein als die Festlandgriechen —, aber auch von Sizilien, von wo ja auch für die griechische Landschaftsdichtung (Theokrit) wichtige Impulse ausgegangen sind75. So zeichnet sich auf einer ionischen „Erfindung", den Augenschalen, der Umschwung, der in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts als Folge ionischer Kultureinflüsse in Attika zu verzeichnen ist, am deutlichsten ab. Auf ihnen sind in lebendiger Anschaulichkeit Gärten und Haine, Fels und Wasser dargestellt76. Auch für die lykischen Steinreliefs des fünften Jahrhunderts ist der landschaftliche Hintergrund charakteristisch, während das Relief sonst die Landschaft eher meidet. Auf ein solches Relief beruft sich denn auch B E Y E N , der gegen die allgemeine Annahme an dem Bestehen einer entwickelten Landschaftskunst der Griechen seit dem Ende des fünften Jahrhunderts festhält. In der Tat zeichnet sich dieses Grabrelief77 durch eine auffallend malerisch empfundene Raumdarstellung aus, aber es ist eben in Tlos, also auf kleinasiatischem Boden, gefunden worden. Irgendeine Kontinuität in der Darstellung landschaftlicher Elemente auf griechischen Vasen läßt sich nicht feststellen. So überrascht vor allem der Rückschritt in der landschaftlichen Darstellung beim Übergang vom schwarz- zum rotfigurigen Stil. Während im Schwarzfigurigen Bäume und Felsen noch ein gewisses eigenes Interesse beanspruchen, verlieren sie ihre Eigenwertigkeit im Rotfigurigen, das das landschaftliche Element nach Möglichkeit ganz ausklammert. Mit Schwierigkeiten bei der neuen Ausspartechnik läßt sich dieser Vorgang sicher nicht hinreichend erklären78. Denn es ist nicht einzusehen, wieso die neugewonnenen Möglichkeiten, die bei der Darstellung des menschlichen Körpers energisch wahrgenommen werden, nicht auch zu einer differenzierteren Darstellung der Landschaft hätten 71 75

78

77

78

Mitt. Dt. Arch. Inst., Athen. Abt. 30, 1905, Tafel 18. Zum ionischen Einfluß: M. H E I N E M A N N , Landschaftliche Elemente in der griechischen Kunst bis Polygnot, Diss. Bonn 1910. Auf die Bedeutung Unteritaliens macht besonders aufmerksam R. P A G E N S T E C H E R , Über das landschaftliche Relief bei den Griechen, SB Heidelb. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. 10, 1919, 1. Abh. H E I N E M A N N über die schwarzfigurigen Vasen (Zusammenfassung 181 f). Eine belagerte Stadt auf einem Hügel, unten rechts drei Angreifer (Abb. B E Y E N I I 110). So P F U H L I 385 f: der dunkle Hintergrund habe die Landschaft verschluckt.

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führen können. Aber das war offensichtlich gar nicht beabsichtigt. Wenn trotzdem auf rotfigurigen Vasen auch Felsen häufiger abgebildet werden, ist das nicht etwa auf eine Zunahme des Naturgefühls zurückzuführen — die Darstellungen bleiben formelhaft und undifferenziert —, sondern auf die für diesen Stil kennzeichnende Funktionalisierung des landschaftlichen Elements, wie sie A . PFITZNER 7 9 dargelegt hat. Es steht jetzt im Dienste der Figurendarstellung, der „Bildklärung" (Umgrenzung, Gliederung, Verknüpfung, Konzentration) und des „Bewegungsausdrucks" (etwa als unbewegtes Gegenüber). Fast noch befremdlicher als die Dezimierung des Landschaftlichen im rotfigurigen Stil ist die Tatsache, daß ausgerechnet im Jahrhundert Theokrits die Landschaft noch weniger als sonst ein Thema der darstellenden Kunst gewesen zu sein scheint (DAWSON 28). B E Y E N spricht sogar von einem Zurücktreten der Landschaft während des ganzen Hellenismus bis zur Wiederbelebung und Steigerung im zweiten pompeianischen Stil. Schon diese wenigen Bemerkungen dürften die Schwierigkeit einer synchronen Betrachtung von Poesie und Malerei gezeigt haben. Wohl manifestiert sich in der Geschichte der griechischen Kunst ein zunehmendes Interesse an der landschaftlichen Umwelt, wohl werden die Lokalangaben allmählich reichlicher und erscheinen nicht mehr als isolierte Symbole, sondern dienen jetzt auch zur Erklärung der dargestellten Szene. Der leere Hintergrund, vor dem die Figuren parataktisch auf gleicher Höhe angeordnet sind, wird durch die begrenzte Fläche abgelöst, und nicht selten läßt die Darstellung den Willen zu perspektivischer Wirkung erkennen80. Aber solange die griechischen Künstler auch am Raumproblem, nach LÜTZELER dem „formalen Urthema der Landschaftsmalerei", gearbeitet haben, gelöst haben sie es nicht. Positiv formuliert: In der Landschaftsmalerei der Griechen bietet sich das gleiche Bild wie in der Dichtung. Es gibt eine ganze Anzahl landschaftlicher Elemente, meistens mit einer bestimmten Funktion versehen, aber nur sehr wenig geschlossene Landschafts79

80

Die Funktion des landschaftlichen Elements in der streng rotfigurigen griechischen Vasenmalerei, Diss. Rostock 1937. Besonders deutlich illustriert diesen Fortschritt in der Tiefenkomposition der Telephosfries. Die plane Komposition ist aufgegeben zugunsten einer deutlichen Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund, etwa bei der relativ gut erhaltenen Platte vom Bau der Arche für Auge. Der Luftraum über den Figuren, die Vertiefung des Grundes durch eine Felspartie, die Anordnung der Figuren um den Hohlraum der Barke, die zahlreichen Überschneidungen, dazu das kleinere Format und die geringere Plastizität der Hintergrundfiguren zeugen von einem neuen Raumgefühl. Aber wieder handelt es sich nicht um ein Werk des griechischen Mutterlandes.

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bilder, in denen die Landschaft ihre dienende Rolle aufgibt. Dahinter steht eine geistige Grundhaltung, die es zu verstehen gilt und deren Wandel im Laufe der Jahrhunderte anhand von Einzelanalysen landschaftlicher Darstellungen verfolgt werden soll81. 81

Als weiterer in dieser Untersuchung ausgeklammerter Problemkreis sind die Theorien der antiken Rhetorik über die Darstellung von örtlichkeiten (εκφρσσις τόπου, τοπογραφία u. ä.) zu nennen. Das argumentum a loco ist ein alter Topos der Gerichtsrede, aber erst in der frühen Kaiserzeit wurde daraus, wahrscheinlich in Anknüpfung an die beschreibende Dichtung vor allem der Alexandriner, eine eigene Gattung, die seither regelmäßig in den rhetorischen Progymnasmata anzutreffen ist; vgl. E. NORDEN, Die antike Kunstprosa, Leipzig 1898, Nachdruck Darmstadt 1958, I 285 f; E. R. C U R T I U S , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 6 1965, 200f; H. L A U S B E R G , Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 810ff; ders., Elemente der literarischen Rhetorik, München 31967, § 365. 369. So finden sich bei Hermogenes, Progymn. 10 und Theon, Progymn. 11 (p. 118ff Spengel) fast übereinstimmende Definitionen der Ekphrasis. Beide zählen unter ihren Gegenständen neben Personen, Sachen, Zeiten usw. auch Orte (τόποι) auf und betrachten die ένάργεια als eigentlichen Zweck der Ekphrasis, für deren Stil in der Regel das άνθηρόν πλάσμα empfohlen wird. Auch Quintilian (III 7, 27) nennt die örtlichkeiten unter den rhetorischen Gegenständen, aber im Zusammenhang mit der epideiktischen Rede: Ein Ort kann wegen seiner Schönheit oder Fruchtbarkeit gelobt werden. Schon aus zeitlichen Gründen kommen diese praktischen und theoretischen Hinweise der Rhetoren für die griechische Dichtung kaum in Betracht; lediglich in einigen Epigrammen der Anthologia Palatina, vor allem in solchen der Spätzeit, sind Einflüsse der Rhetorik greifbar. Darüber hinaus wird zu prüfen sein, ob der auch in der Fachliteratur zu unserem Thema bisweilen verwendete Begriff der Ekphrasis bei Landschaftsdarstellungen griechischer Dichter überhaupt berechtigt ist. Auch die erst später in Mode gekommene Ut-pictura-poesis-Doktrin (vgl. Horaz, Epist. II 3, 361; Tacitus, Dial. 20 spricht von einem nitore et cultu descriptionum invitatus et corruptus), ist auf die Schilderung von Örtlichkeiten in der griechischen Dichtung nicht anwendbar; als deren hervorstechendes Merkmal wird sich gerade das Nichtmalerische erweisen.

EPOS

Ilias Während sich der Terminus „Odysseelandschaften" längst eingebürgert hat, und zwar nicht nur in der Kunstgeschichte, hat unseres Wissens noch niemand von einer „Iliaslandschaft" gesprochen. Das ist leicht verständlich, denn wenn der Iliasdichter auch vereinzelte Angaben über Meer und Berge, über Bäume, Flüsse oder durch ein besonderes Kennzeichen hervorgehobene geographische Punkte macht, so stellt er doch den Hauptort des Geschehens niemals im Zusammenhang dar. Wie es in der Gegend zwischen den Mauern Troias und dem Schiffslager der Griechen aussieht, das sich auszumalen bleibt weitgehend der Phantasie des Hörers oder Lesers überlassen. Auch die Gleichnisse vermögen in dieser Hinsicht nur sehr begrenzten Ersatz zu leisten, denn zum einen haben sie es. nicht mit dem Schauplatz des epischen Geschehens zu tun, zum andern gibt es in ihnen wohl viel Natur, aber nur wenig Landschaft im strengen Sinn. Dieses von vornherein zu konstatierende Defizit ist nun aber nicht eine Eigentümlichkeit nur der Ilias, vielmehr scheint es für die heroische Dichtung überhaupt charakteristisch zu sein. Auch das Gilgameschepos, das Gudrun- und Nibelungenlied, das Rolandslied und der Beowulf kommen im allgemeinen ohne Landschaft aus, und ähnlich scheint es in der russischen, türkischen und serbischen Volksepik zu sein. C. M. BOWRA 1 vermutet als Grund dafür die soziologischen Gegebenheiten dieser Dichtung. Sie blühte in einer Gesellschaft, die nicht in Städten lebte, der das Land, fern jeder romantischen Bewertung, eine zu große Selbstverständlichkeit war, als daß man die Natur zum Gegenstand der Dichtung hätte machen können. BOWRA weist aber auch 1

Heroic Poetry, London 21961, 132ff (deutsche Ausgabe Stuttgart 1964, 144ff). In ähnlichem Sinn äußert sich auch C U R T I U S 206ff: Zwar kenne auch die Ilias schon die „epische Markierung der Landschaft", aber im allgemeinen genüge dem Epos die summarische Bezeichnung der Lokalität; nur der höfische Versroman Frankreichs (seit 1150) gehe über „die primitiven landschaftlichen Bedürfnisse des Heldenepos" hinaus (207). — P. V I V A N T E , The Homeric Imagination, Bloomington/London 1970, 16 sieht in dieser punktuellen Landschaftsdarstellung der Ilias das räumliche Analogon zur ebenfalls punktuellen Zeitauffassung des Iliasdichters (die einzelnen Landmarken entsprechen dem Wechsel von Tag und Nacht). Erst retrospektiv stellt sich der Eindruck eines räumlichen und zeitlichen Ganzen ein.

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darauf hin, daß die Natur nicht völlig aus dieser Kunst verbannt ist, eine landschaftliche Szenerie vielmehr dann geschildert wird, wenn sie in der Erzählung eine spezielle Funktion zu erfüllen hat. Das gilt, wie wir sehen werden, auch für die Ilias, die ja niemals den Eindruck erweckt, als agierten ihre Figuren im leeren Raum. Die Mauern Troias, die Ebene mit Skamandros und Simoeis, das Idagebirge und das Meer sind für den Iliasdichter ebenso Realitäten wie Waffen und Streitwagen der Krieger, wie Schiffe und Zelte der Griechen. Nur fügt er sie an keiner Stelle zu einem in sich geschlossenen Bild zusammen, sondern beläßt ihnen — mehr als typischen Formen der Natur denn als besonderen Kennzeichen einer bestimmten Gegend — ihre Selbständigkeit.

Der Schild des Achilleus

Wenn wir mit der Betrachtung der landschaftlichen Elemente in der Ilias bei der berühmten Schildbeschreibung des 18. Buches einsetzen, geschieht das, um die Phänomene, um die es uns geht, zunächst einmal in einem leicht überschaubaren Bereich aufzusuchen und uns dabei einen ersten Eindruck von homerischer Landschaftsdarstellung zu verschaffen. Die Schildbeschreibung soll uns also als Modell dienen, an dem wichtige Merkmale homerischer Darstellungsweise in Erscheinung treten. Freilich könnte man einwenden, daß die ausgewählte Partie für ein solches Modell ungeeignet sei, weil sie eine literarische Sonderform innerhalb des Gesamtepos darstelle und als „Beschreibung" eines Werkes der bildenden Kunst nur bedingt Uterarisch zu werten sei. Jedoch ist dieser Einwand kaum stichhaltig, nachdem der alte Streit, ob die Schildbeschreibung nach einem realen Vorbild gestaltet oder der dichterischen Phantasie entsprungen ist, zugunsten einer mittleren Lösung entschieden werden konnte. Für Form und Szenenanordnung, auch für einzelne Elemente der Erzählung hat die bildende Kunst Anregungen gegeben, der Schild als sinnvolles Ganzes jedoch gehört dem Iliasdichter2. Selbst wenn ihm 2

So bereits W . H E L B I G , Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert, Leipzig 1887, 395ff. Von grundsätzlicher Bedeutung ist W. S C H A D E W A L D T S Interpretation, die die Schildbeschreibung als Wortkunstwerk würdigt, ohne das archäologische Material zu vernachlässigen (Der Schild des Achilleus, in : Homer, 352—374). — Wer wie P. V O N D E R M Ü H L L im Anschluß an Zenodot (vgl. jedoch schon Aristarchs Widerspruch) in der Schildbeschreibung nach wie vor ein ursprüngliches Sondergedicht sehen möchte, muß zumindest einräumen, daß der Dichter, wer immer darunter zu verstehen ist, seine Beschreibung für diesen besonderen Augenblick im Iliasgeschehen vorzüglich „zurechtgemacht" hat (Ilias 281).

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Ilias

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ein wirklicher Schild vorgeschwebt haben sollte, ist ihm die Transsubstantiation ins Wort vollkommen gelungen3. Auch ist der Abstand zu den beiden anderen literarischen Ebenen der Ilias, dem epischen Bericht einerseits, den Gleichnissen andererseits, keineswegs so groß, wie man aufgrund des besonderen Themas und der geschlossenen Kompositionsform vermuten könnte. Aus dem inhaltlichen Material des Achilleusschildes lassen sich ohne Schwierigkeiten epische Szenen (Belagerung einer Stadt, Überfall aus dem Hinterhalt) 4 und vor allem Gleichnisse (von Löwen Überfallene Herde, Landbauszenen) im Stile der Ilias bilden, auch wenn die Schildbeschreibung insgesamt keinen heroischen Charakter hat, sondern offenbar als komplementäres Gegenbild zur Welt der Ilias verstanden werden soll6. Auch in dieser Hinsicht rückt also die Schildbeschreibung in die Nähe der Gleichnisse, die ja ebenfalls Distanz zur epischen Erzählung schaffen und

3

Auf den ganz anderen Darstellungscharakter der Eikones Philostrats, der nun tatsächlich weitgehend Bildbeschreibungen liefert, hat A. LESKY, Herrn. 75, 1940, 38—53 aufmerksam gemacht. Aufschlußreich ist vor allem die zwischen Homer und Philostrat vermittelnde Zwischenstellung von Theokrits Thyrsisgedicht. Die ausführliche Beschreibung eines hölzernen Gefäßes (Eid. 1, 27—56) zeigt zwar die homerische Umsetzung des Bildes in Bewegung und Erzählung, aber der Dichter ist sich jetzt der Spannung zwischen dem frei ausgreifenden Wort und der Gebundenheit des Bildes bewußt, wie die wiederholten Rückgriffe auf die einheitliche Beschreibung beweisen. — Von einer ganz anderen Seite versucht J . T H . K A K R I D I S , Wien. Stud. 76, 1963, 7—26 die homerische Schildbeschreibung als Wortkunstwerk herauszustellen. Die ersten Versuche, „das Koexistierende des bildlichen Kunstwerks in das Sukzessive des poetischen Wortes umzugestalten" (9), findet er, aus der neugriechischen Dichtung rückschließend, in den Ekphraseis volkstümlicher Epik. In der Tat weisen sie eine ganze Zahl vom Achilleusschild her bekannter Bildmotive und Tendenzen auf: die Wiederholung des Ausdrucks, besonders am Versanfang, und die dadurch gewonnene „Kapiteleinteilung", das mangelnde Interesse des Dichters an technischen Einzelheiten, der volkstümliche Charakter der dargestellten Szenen im Unterschied zu den heroischen oder apotropäischen Gestalten wirklicher Schilde (auch des pseudohesiodischen „Schild des Herakles"). Auch wenn man sich K.s Schlußfolgerung, Homer habe sich im Bewußtsein der volkstümlichen Herkunft der Ekphrasis auf das Leben der einfachen Leute beschränkt, nicht wird anschließen können, erhärten die von ihm beigebrachten Parallelen doch den poetischen Charakter der homerischen Schildbeschreibung.

1

Krieg und Frieden, Recht und Rechtsverletzung (Chrysesepisode, Pandarosschuß, Achills Weigerung, Hektors Leichnam herauszugeben) sind auch Grundsituationen des epischen Geschehens, ob sie nun in aller Breite ausgeführt sind oder, wie etwa die bukolischen Visionen des Friedens Ζ 25, Λ 105 f, O 547, Φ 37 f, nur schlagartig aufleuchten. Unter diesem Blickwinkel betrachtet vor allem W. M A R G den Schild des Achilleus (Homer über die Dichtung, Orbis antiquus 11, Münster 1957, 25ff). In wesentlichen Punkten berührt er sich eng mit K. R E I N H A R D T S Auffassung (Der Schild des Achilleus, in: Freundesgabe für Ernst Robert Curtius, Bern 1956, 67—78, jetzt in: Ilias, 401—411).

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eine Brücke von den heroischen Ereignissen der Vergangenheit zum bürgerlichen Alltag des Hörers schlagen. Gewiß ist die Formulierung Lessings: „Mit wenig Gemälden machte Homer sein Schild zu einem Inbegriffe von allem, was in der Welt vorgeht", zu weit gefaßt, denn wichtige Bereiche altgriechischen Lebens wie Schiffahrt, Wettkampf, Handwerk und Kult fehlen®. Trotzdem dürfte Lessing die Intention des Dichters grundsätzlich richtig erkannt haben, nämlich in reich bewegten Szenen — von „Gemälden" sollte man besser nicht sprechen — Grundformen menschlichen Lebens darzustellen (Marg30: „Naturformen des Lebens"). Zwischen dem Himmel samt seinen Erscheinungen, dem erhöhten Zentrum des Schildes, und dem Okeanos am äußersten Schildrand breitet sich in mehreren Gürteln eine bunte Folge von Bildern aus, die, meist in antithetischer Fügung, von Stadt- und Landleben, Krieg und Frieden, Arbeit und Feier, Landbau und Viehzucht berichten. Wie viele Gürtel anzunehmen und wie die einzelnen Szenen auf ihnen anzuordnen sind, läßt sich bei der Gleichgültigkeit des Dichters gerade in diesem Punkt nicht eindeutig entscheiden. Thematisch zu Gruppen zusammen schließen sich natürlich die beiden Städte, dann Brachland, Hofgut und Weinberg (zugleich Darstellung der ländlichen Tätigkeiten in Frühling, Sommer und Herbst), schließlich Rinderherde und Schafweide; den krönenden Abschluß bilden, je durch ein Gleichnis besonders ausgestaltet, Tanzplatz und Reigen der Jungen und Mädchen7. β

Über die Gründe gibt es im Einzelfall verschiedene Meinungen (vgl. etwa M A R G 29 f, Ilias 409), jedoch dürften sie im Poetischen, nicht im Historischen zu suchen sein. — Der Satz von Lessing steht im Laokoon, Kap. 18 Anm. e (Lessings Werke, Berlin 1957, II 364 Anm. 1). Diese Einteilung wird auch durch die bei jeder Themengruppe variierte Einleitungsformel nahegelegt: ετευξε bei der innersten Zone, ποίησε bei den beiden Städten, dreimaliges ετίθει bei den Landbauszenen, zweimaliges ποίησε bei den Herden, ποίκιλλε, das anschaulichste der Verben, bei der besonders liebevoll ausgestalteten Tanzszene, Ιτίθει bei der Randzone. Ob man nun Landbau und Viehzucht zu einer Einheit zusammenfaßt, wozu S C H A D E W A L D T , Homer 366 f zu neigen scheint, oder ob man sich die beiden Herden lieber in einem Gürtel für sich angeordnet denkt, bleibt sich letzten Endes gleich. Auf keinen Fall jedoch sollte man sie mit der folgenden Tanzszene verbinden, wie es A M E I S / H E N T Z E in ihrem Kommentar z. St. (Neudruck Amsterdam 1965) und Τ. B. L. W E B S T E R , Von Mykene bis Homer, München/ Wien 1960, 283 vorschlagen. Dagegen spricht neben der besonderen Hervorhebung der Schlußszene auch ihr mehr städtisches als ländliches Milieu. Die πέντε. .. . πτύχεζ Σ 481 (vgl. auch Y 269 ff) lassen sich zwar gut als fünf konzentrisch übereinandergelegte Schichten mit nach oben abnehmendem Durchmesser verstehen, so daß die Schichtränder als Gürtel erscheinen. Aber die Anwendung dieser technischen Angabe auf die eigentliche Schildbeschreibung ist keineswegs zwingend, da diese ihrer Eigengesetzlichkeit folgt. Nach Abzug der eindeutig festgelegten ersten und letzten Zone REINHARDT,

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Wenn nun auch das Tun des Menschen im Mittelpunkt der Darstellung steht, so wird doch zu Beginn jeder Szene, unmittelbar nach oder (selten) vor dem einleitenden Verb, der Ort genannt, an dem die jeweilige Szene spielt8. Freilich erscheinen diese Orte nur in Abbreviatur. Nähere Angaben in Form von Beiwörtern oder Appositionen fehlen zwar selten, aber sie sind recht allgemein gehalten. Entweder bezeichnen sie die Schönheit des Dargestellten: Städte, Weinberg und Waldtal bekommen das Epitheton καλός, die belagerte Stadt ist έττήpcrroç (512), das Daidalosgleichnis weist auf die Vollkommenheit des Tanzplatzes, oder sie heben den Nutzaspekt hervor: das lockere Brachland, der fette Boden, das Feld mit der hochstehenden Frucht, der traubenschwere Weinberg. Merkwürdigerweise dienen die Angaben so gut wie nie zur räumlichen Determinierung. Nur einmal spricht der Dichter vom „breiten" und kurz darauf vom „tiefen" Brachland (542/547, s. u.), zu νομόν trägt er im folgenden Vers μέγαν nach (587f). Über die Lage der Städte, über die räumliche Ausdehnung von Kornfeld und Weinberg verlautet nichts, Größenangaben und Aussagen, die der Anschaulichkeit dienen könnten, fehlen bei den bis jetzt genannten landschaftlichen Elementen des Achilleusschildes so gut wie ganz. Wenn die Bilder auf dem Schild trotzdem auch eine landschaftliche Vorstellung vermitteln, dann deswegen, weil fast immer im Verlauf der dargestellten Szene noch ein bestimmter Punkt oder eine Linie anvisiert wird in Form eines knappen, nun aber im Gegensatz zu den bisherigen allgemeinen Angaben sehr bestimmten landschaftlichen Details. Und zwar wird es meistens an jener Stelle eingeführt, an der die Bewegung einer Szene ihren „kritischen" Punkt erreicht hat und durch eine Art Gegenbewegung abgelöst wird oder zur Ruhe kommt. So folgt auf die allgemeine Angabe „auf dem Markt" zu Beginn der Gerichtsszene das präzisierende Detail „auf behauenen Steinen" : Auf ihnen sitzen die Alten, in deren Hände die Entscheidung im Rechtsstreit gelegt ist. Das Bild der belagerten Stadt — zunächst ist die Mauer genannt, auf der sich Frauen und Kinder postieren —

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(Schildmitte und -rand) bleiben für HELBIG 401 und AMEIS/HENTZE nur drei Gürtel, auf denen sie alle Szenen unterbringen müssen. Das aber ist ohne Gewaltsamkeiten nicht möglich. Die einzige Ausnahme bildet άγέλην ποίησε 573, wo die Ortsangabe wohl mit Rücksicht auf das später folgende reiche lokale Detail (576) ausgespart ist. — Nach δύω πόλεις 490, νειόν 541, τέμενο; 550, άλωήν 561 und νομόν 587 möchte ich auchxopóv 690 lokal verstehen, also als Tanzplatz, nicht als Reigen (auch 603 kann χορόν durchaus räumlich aufgefaßt werden). So auch — mit anderer Begründung •— MARG 42 Anm. 50, der auf Θ 260 verweist, gegen SCHADEWALDT, Homer Anm. zu S. 367, der sich auf WILAMOWITZ und SCHWEITZER beruft. Weitere Literatur zur Frage bei H. HERTER, Gnom. 16, 1940, 410 Anm. 1 und 3. 3

Elliger, Darstellung

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Epos

wird im folgenden erweitert durch den Fluß mit der Tränke, wo der Hinterhalt gelegt wird und wo auch der Kampf zwischen Belagerten und Belagerern stattfindet (ποταμού) παρ' όχθας 533 nimmt εν ποταμω 521 wieder auf). Mit besonderer Deutlichkeit zeigen die beiden Landbauszenen diese Präzisierung. Von den vier Prädikaten, die der Dichter dem Brachland gleich zu Beginn der Schilderung verleiht, ist nur eine räumlichen Charakters, und auch sie bleibt allgemein (εύρεϊαν 542). Dann aber gewinnt das Bild durch die zweimalige Nennung des τέλσον (άρουρης 544, νειοϊο 547) schärfere Konturen, die vorher noch unbestimmte Bewegung der Pflüger (ενθα καί ενθα 543) wird zwischen den beiden Grenzlinien des Ackers polarisiert. An der zuerst genannten Marke steht der Mann, der den Pflügern einen Becher mit Wein reicht: eine Unterbrechung der sonst gleichmäßig ablaufenden Bewegung. Ähnlich sind die Verhältnisse in der anschließenden Szene. Auch hier wird nach der nur eine allgemeine Vorstellung vermittelnden Einleitung ein scharfer, diesmal vertikaler Akzent gesetzt, auch hier ist genau der Punkt markiert, an dem die Bewegung innehält und der Anstrengung die Erquickung folgt : „Unter einer Eiche" wird das Mahl zubereitet (558). Selbst die kürzeste Schildepisode, die weidende Schafherde, folgt diesem Prinzip. Die zunächst genannte „Weide" wird im folgenden durch ihre Lage näher bestimmt (έυ καλή βήσση 588) und durch Ställe, Hütten und Pferche konturiert 9 . Eine Ausnahme machen im „Erdbereich" des Schildes, also abgesehen von Mittelkreis und Rand, die keinerlei Gliederung aufweisen, nur Weinberg und Tanzplatz 10 . Der Weinberg, der auch als „Kunstlandschaft" eine Sonderstellung einnimmt (s. u.), wird in seinem Aussehen in drei Versen eingehend beschrieben, eine Präzisierung wäre kaum noch möglich gewesen. Der Tanzplatz, ohnehin nur sehr bedingt als Landschaft anzusprechen, spielt in der ganz in Bewegung aufge9

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Meistens treten die ergänzenden landschaftlichen Merkmale also in jenen Augenblicken hinzu, in denen „das Leben selbst gipfelt" (REINHARDT, Ilias 404). R. zählt auf: „im dargereichten Labetrunk für die Pflüger", „im Mahl für die Schnitter", „in der Darreichung des Szepters für die richtenden Geronten", „im Zusammenprall der beiden Heere". Dem entsprechen in der genannten Reihenfolge die Lokalangaben Rand des Ackers, Eiche, behauene Steine, Tränke am Fluß. —· Weinlese und Reigen scheiden in diesem Zusammenhang aus; einmal ist zu viel Landschaft, einmal überhaupt keine vorhanden. Bei der Rinderherde folgen die Lokalangaben im dritten und vierten Vers der Darstellung, und zwar in verhältnismäßig reicher Form, was eine allgemeine Angabe im Stil der übrigen Szenen entbehrlich erscheinen lassen mochte. Auch hier ist die Lokalangabe mit dem Höhepunkt des szenischen Bewegungsablaufs verbunden: Am Fluß werden die Rinder (Bewegung: ίπεσσεύοντο νομόνδε 575) von den Löwen (Gegenbewegung) überfallen.

Ilias

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lösten Reigenszene11 lediglich eine untergeordnete Rolle. Zudem bleibt die räumliche Beziehung zwischen den einzelnen Gruppen der Tänzer, Zuschauer und Gaukler unbestimmt, der Sänger singt μετά σφιν (604), die beiden Gaukler wirbeln Korr' αυτούς . . . κατά μέσσους (605f). Das heißt, die Reigenszene läßt so gut wie keine räumliche Komposition erkennen. Am besten stellt man sie sich wohl als friesartig fortlaufendes Band vor, das von den weiter innen liegenden bildartig komponierten Gürteln überleitet zur offenbar völlig ungegliederten Randzone. Eine in sich ruhende Landschaft gibt es also auf dem ganzen Schild nicht, nur lokale Fixpunkte, die der Einzelszene ihren Ort zuweisen und ihr einen gewissen räumlichen Halt geben. Das entspricht dem Primat von Handlung und Bewegung in fast allen Szenen. Wie man immer wieder betont hat, „beschreibt" der Dichter des Schildes nicht, sondern „erzählt", öfters in ganzen Szenenfolgen und so, als wäre das Dargestellte lebendig12 (deshalb ist auch „Szene" als Bezeichnung für die Schildeinheiten treffender als „Bild", bei dem sich die Vorstellung des Statischen nie ganz vermeiden läßt). Insgesamt sind zeitliche Kategorien für die Darstellungen auf dem Schild wichtiger als räumliche, haben temporale Konjunktionen und Adverbien (δτε, οπότε, εττειτα, τάχα, αύτίκα, ώκα, αίψα)13 bei der Gliederung des Geschehens Vorrang vor den lokalen, die im allgemeinen auch recht unbestimmt sind (am häufigsten εν τοΐσι, ευ μέσσοισι ο. ä. : 494. 507. 556. 569. 604—606, άμφίς von den die Hauptszene flankierenden Gruppen: 502). Nur selten finden sich Angaben, die die Stellung der Figuren oder Figurengruppen im Bildfeld kennzeichnen. Wenn die garbenaufnehmenden Kinder „dahinter" (όπισθεν 554: hinter den Garbenbindern)14 und die das Mahl vorbereitenden κήρυκες „abseits" (άπάνευθεν 558) angeordnet werden, ist damit ausnahmsweise eine Tiefendimension angedeutet, die es vielleicht — mit allen Vorbehalten — erlaubt, von einer perspektivischen Wirkung zu sprechen. 11

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MARG 29 spricht sogar von einer „seligen Bewegung um ihrer selbst willen" — deshalb auch im Gleichnis „der Töpfer, der seine Scheibe erprobt, nicht gebraucht". Fernhalten sollte man die aus der vorderasiatischen Kunst bekannte magische Gleichsetzung von Bild und Wirklichkeit. Gerade die wenigen Spuren eines Illusionismus, die sich in der Schildbeschreibung finden (die beiden Vergleiche 539 und 548 f), machen den Abstand zur Wirklichkeit bewußt. Homer spricht also keineswegs „vom Bild wie die Vorderasiaten oder die Ägypter", für die „das Bild die volle Wirklichkeit des Abgebildeten" hat (so H. SCHRADE, Götter und Menschen Homers, Stuttgart 1952, 80 = Gymn. 57, 1950, 43). Auch auf Iterativformen wie δόσκεν und στρέψασκον, überhaupt die häufige Verwendung des iterativen Imperfekts wäre in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Ähnlich 548 der „dahinter" (όπισθεν), d. h. hinter den Pflügern, sich dunkel färbende (gepflügte) Boden, also ein durchaus realistischer Einzelzug. 3*

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Ähnliches gilt von dem „tiefen" Brachland (νειοΐο βαθείης τέλσον 547)15, an dessen vorderer Begrenzung man sich den Mann mit dem Becher denken mag, während sich die Pflüger im Hintergrund verlieren oder aus ihm hervortreten 16 . Nun handelt es sich bei den beiden zuletzt genannten Szenen (Pflüger und Getreideernte) um Darstellungen, die im Unterschied zur vorhergehenden Szenenfolge (belagerte Stadt und Uberfall am Fluß) keine fortlaufende einsträngige Handlung wiedergeben, sondern mehrere gleichzeitige Tätigkeiten. Den Erzählstil von Belagerung und Überfall prägen temporale Konjunktionen und Adverbien (bes. ab 520), während dem Lokalen weniger Bedeutung beigemessen wird; in den beiden Landbauszenen dagegen fehlen temporale Bezüge so gut wie ganz (nur όποτε . . . επειτ' 544f), während die räumliche Vorstellung unverhältnismäßig stark ausgebildet ist. Dieses reziproke Verhältnis zeitlicher und räumlicher Vorstellungen ist in Zusammenhang zu sehen mit dem unterschiedlichen Bewegungsrhythmus der Schildszenen. Gerade in jenen Partien, in denen das landschaftliche Element eine etwas größere Rolle spielt, tritt eine gewisse Beruhigung ein, wenn auch nur in dem Sinn, daß die geradlinig vorwärtsdrängende Erzählbewegung abgelöst wird durch eine eher pendelartige, durch landschaftliche Fixpunkte begrenzte Bewegung. So emsig das Treiben auf Acker und Feld und im Weinberg ist, es vollzieht sich in deutlich wahrnehmbaren Grenzen. Die Gänge der Pflüger sind eingespannt zwischen die beiden τέλσα des Ackers (544/547), die Rinderherde ist auf ihrem Weg vom Stall (άπό κόπρου) zur Weide (νομόνδε 575) dargestellt, also wohl in Bewegung, aber in ihrem Aktionsradius beschränkt durch die Angabe von Ausgangspunkt und Ziel, das in einem zusätzlichen Vers (576) genauer bestimmt wird. Am reichsten sind die lokalen Angaben beim Weinberg, diesem Prunkstück der Schildbeschreibung, das nicht umsonst den stärksten räumlichen Eindruck hinterläßt, aber auch nur verhältnismäßig kleinräumige Bewegungen vorführt. „Querdurch" (διαμπερές) ist er mit Pfählen aus Silber bestanden, „auf beiden Seiten" (άμφί) befindet sich ein Graben, „ringsum" (περί) läuft ein Zaun, ein einziger Weg führt den Weinberg hinauf (επ' αυτήν), und auf ihm sind die Figuren offenbar angeordnet. Die auf so engem Raum auffallend zahlreichen landschaftlichen Elemente sind also genau einander zugeordnet. Das ist in der ganzen Schildbeschreibung ohne Parallele und dürfte seine Erklärung darin finden, daß der Weinberg, von Menschenhand ange15

le

Anders ist τέμενος βαθυλήιον 650 zu verstehen, wo βαθύς die hochstehende Frucht meint, also die vertikale, nicht die horizontale Ersteckung angibt. So auch A M E I S / H E N T Z E Z. St.

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legt, selbst ein Kunstwerk im Kunstwerk darstellt. Auf den Kunstcharakter weisen auch die an dieser Stelle gehäuft auftretenden Materialbezeichnungen: Gold, Silber, Blaufluß und Zinn, dazu die „dunklen" Trauben — mehr Material wird auf dem ganzen Schild nicht verwendet17. Aber nicht nur in einem Mehr oder Weniger an Landschaft, auch in den hervorgehobenen landschaftlichen Qualitäten unterscheiden sich die Schildszenen, wie die Parallelfassung eines landschaftlichen Themas mit besonderer Deutlichkeit zeigt — nicht nur Antithesen, auch Wiederholungen und Variationen sind wichtige Kompositionsprinzipien der Schildbeschreibung18. Zweimal wird auf dem Schild ein Überfall am Fluß geschildert. Zunächst überfallen die belagerten Städter aus dem Hinterhalt die Herden der Belagerer, die von Hirten an die Flußtränke geführt werden; in einer späteren Szene sind es zwei Löwen, die sich über eine Rinderherde auf dem Weg zum Weideplatz am Fluß hermachen. Beide Male dient zur Darstellung des Flusses ein ganzer Vers (521 und 576), einmal ist von der Tränke die Rede, das andere Mal vom Rauschen des Flusses und vom schwankenden Schilf. Im ersten Fall erklärt die Lokalangabe, warum gerade dieser Ort für das Unternehmen ausgewählt wurde: Beim Tränken der Tiere sind die Chancen für den géplanten Überfall besonders günstig (vgl. auch 520), und dieser Sachbezug rechtfertigt eine relativ ausführliche Ortsangabe selbst in einer dramatisch sich zuspitzenden Situation. An der zweiten Stelle liegt eine solche sachliche Notwendigkeit nicht vor. Zwar schafft der Vers, eine bukolische Idylle in nuce19, einen scharfen Kontrast zum Überfall der Raubtiere und läßt den abrupten Wechsel (σμερδαλέω 579 betont am Versanfang) noch spürbarer werden20, aber Flußrauschen und schwankendes Schilf stehen 17

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Eine Parallele bietet in gewissen Grenzen die Tanzszene. Jedoch ist, entsprechend ihrer Stellung als lichtem Höhepunkt, wo selbst die Arbeit in ihrer spielerischen Variante (Weinlese) keinen Platz mehr hat, die Materialauswahl auf Gold und Silber beschränkt (598) und immer wieder die Schönheit betont (592. 597. 603). Auf solche Querverbindungen hat vor allem J. L. MYRES, Who were the Greeks, Sather Class. Lect. 6, 1930, 518ff hingewiesen. Jedoch führte ihn der Wunsch, alles in ein System zu bringen, zu gewaltsamen Erklärungen, die sich aus dem Text nicht rechtfertigen lassen (s. vor allem das Schema 519). So ist u. a. nicht einzusehen, warum die Landbauszenen unterschiedliches Gewicht haben sollen oder der Tanz in der ersten Szene (Stadt im Frieden) ein „center piece" analog dem Tanz der Schlußszene sein soll. Auch durch seine Gliederung in zwei gleichgebaute Halbverse (anaphorisches παρά, dazu jeweils Substantiv und Adjektiv in chiastischer Stellung) und durch seine lautliche Gestalt (fast ständiger Wechsel von a und o) fällt der Vers auf. Ein ähnlicher, nur nicht so pointiert gestalteter Kontrast auch in der Parallelszene : Die belagerte Stadt heißt ίττή porro; (512).

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mit der Rinderherde in keiner unmittelbaren Beziehung. Auch das Waldtal, in dem die Schafweide liegt (588), wäre sachlich entbehrlich (MARG 2 7 : Hier gibt es „so etwas wie ein Verlieren in der Landschaft"), und erst recht enthält der Weinberg eine ganze Zahl solcher „Überschußmotive". In der zweiten Hälfte der Schildbeschreibung läßt die Behandlung der Landschaft also eine größere Freiheit erkennen. Gewiß erinnern auch jetzt noch Ställe, Hirten und Hütten (577/589) an die Gegenwart des Menschen, hat sich das Landschaftliche noch nicht von der Tätigkeit des Menschen gelöst21. Aber man hat den Eindruck, als ob der Aspekt sich geändert hätte. Beim Brachland waren es vier Zusätze (541f), die alle zur Hervorhebung der Fruchtbarkeit des Bodens dienten (ähnlich τέμενος βαθυλήιον 550). Und die Eiche setzt wohl vom Bildnerischen her einen vertikalen Akzent in die flächige Landschaft; trotzdem ist sie mehr als ein pittoreskes Ornament: In ihrem Schatten läßt sich gut arbeiten. Nun sind natürlich auch Weinberg und Weide „Nutzlandschaften", aber stärker als bisher ist die ästhetische Wirkung herausgearbeitet. Die άλωή ist καλή (562, durch anschließendes χρυσείη noch verstärkt), εν καλή βήσση liegt die Schafweide (588), und auch der rauschende Fluß mit dem Schilfufer ist wohl unter diesem Aspekt zu sehen (wobei freilich angemerkt werden muß, daß καλός bei Homer kein ausschließlich ästhetischer Begriff ist, sondern gerade in Verbindung mit Sachen auch die Funktionsgerechtheit bedeutet) 22 . Dieser „lieblichere" Charakter der Landschaft in den späteren Partien der Schildbeschreibung hängt natürlich mit den in ihnen dargestellten Lebensbereichen zusammen. Wie zunächst der Krieg durch die Arbeit abgelöst wurde, so wandelt sich jetzt die Arbeit ihrerseits immer mehr zum Spiel: Die Weinlese ist mehr Lustbarkeit als Anstrengung, in den letzten beiden Szenen ist von Arbeit überhaupt nicht mehr die Rede. Zwar bleibt REINHARDTS Feststellung, daß alles Tragische vom Schild verbannt sei und er nur das gehobene „schöne" Leben zum Thema habe23, bestehen; aber das schließt eine Entwicklung vom Ernst (Gerichtsszene, Kampf) zum Spiel (Weinberg, Tanz), von dunkleren zu helleren Erzähltönen nicht aus. (So gewinnen etwa die Materialbezeichnungen erst von der Weinbergszene an 21

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Ilias 4 0 2 . So werden bei Homer viel häufiger als Menschen Dinge, besonders Produkte menschlicher τέχνη (in der Ilias vor allem Waffen, in der Odyssee Gewänder) „schön" genannt, dagegen nie Abstrakta, während umgekehrt àcyaôôs nie von Gegenständen gesagt wird, καλός heißt zugleich also auch „werthaft, trefflich, gut, qualitätsvoll" (H. S A U T E R , Die Beschreibungen Homers und ihre dichterische Funktion, Diss. Tübingen 1953, 19) ; vgl. auch S C H R A D E 260ff, der vom „Gemäßen" spricht. Ilias 4 0 1 ff, vgl. auch M A R G 30f. REINHARDT,

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größere Bedeutung und gestalten die Szene „bunter".) Der Charakter der Landschaft richtet sich also nicht nur nach den sachlichen Erfordernissen, er ist auch dem Ethos der jeweiligen menschlichen Tätigkeit angepaßt. Indenmehrzuständlich gehaltenen Schlußpartien der Schildbeschreibung finden sich darüber hinaus einige nicht unbedingt notwendige Angaben, die nicht wie in den Stadt- und Landschaftsszenen den Nutzaspekt, sondern die Schönheit der Landschaft hervorheben. Statt einer Zusammenfassung der am Modell der Schildbeschreibung gewonnenen Resultate stehe ein Vergleich mit dem pseudohesiodischen „Schild des Herakles". Wenn dessen Dichter tatsächlich in allem beispielhaft zeigt, wie es Homer gerade nicht gemacht hat 24 , so muß sich das eigentümliche Wesen der homerischen Schildbeschreibung auf dem Hintergrund der Negativfolie Pseudohesiods mit besonderer Schärfe abheben. Im allgemeinen hat der Dichter des Heraklesschildes die Landschaft so gut wie ganz ausgespart25. Sieht man von der Hafenszene (207—215), die uns zum Vergleich dienen soll, und den Homer nachgebildeten Gleichnissen 374ff. 421 f. 437ff ab, begnügt er sich an den unumgänglichen Stellen mit der Nennung des Lokals und fügt höchstens noch ein Beiwort hinzu (ζ. B. 270. 288. 296, also gerade in den in Auseinandersetzung mit Homer gestalteten Partien). Eine Ausnahme macht lediglich das Hafenbild, das, eingeschoben zwischen Szenen mythologischen Inhalts, wohl als ästhetischer Kontrast 26 gedacht ist, denn thematisch hat es weder mit dem Vorhergehenden (Ares, Athene, Apollon) noch mit dem Folgenden (Perseusgeschichte) etwas zu tun.

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R E I N H A R D T , Ilias 408; ähnlich auch S C H A D E W A L D T , Homer 3 6 3 . Getreidefeld und Weingarten sind eher beiläufig im Innern oder am Ende des Verses eingeführt (288. 296), während der Ackerboden, der unter den Pflug genommen wird, in der allgemeinen Formulierung χθόνα δΐαν (287) überhaupt keine Konturen annimmt. — Das ganz homerisch (N 137ff) anmutende Gleichnis 374ff besitzt nicht die Stimmigkeit von Iliasgleichnissen. Seine vertikale Bewegung harmoniert nicht mit der horizontalen des epischen Geschehens, die Passivität der Bäume paßt nicht zu der Angriffslust der beiden Krieger. So geschickt die Homerimitation sein mag, der Sitz des Gleichnisses im epischen Geschehen ist wenig überzeugend. C. F. Russo in der Einleitung zu seiner kommentierten Ausgabe des Heraklesschildes (Bibl. stud. sup. 9, Florenz 1950, 29) wertet die Szene als „un cedimento di senso estetico"; ähnlich Η. L. L O R I M E R , Journ. Hell. Stud. 49, 1929, 149, der von einer „note of freshness and reality" spricht. Anders F. S T U D N I C Z K A , Serta Härtel., Wien 1896, 72 ff : Der Hafen ist derjenige von Seriphos, wohin der von den Gorgonen verfolgte Perseus flieht, der Angler Perseus' Pflegevater Diktys (deshalb der Angler mit Netz: δίκτυον durch άμφίβληστρον ersetzt). Die Trennung der beiden Szenen beruht auf einem Irrtum des Dichters, der die Vorlage — nach S. ein wirklicher Schild — nicht recht verstanden hat. —- So plausibel dieser Deutungsversuch, mit dem auch

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Epos

Die Darstellung des Hafens 27 , mit der der jüngere Dichter sein Vorbild, in dem die maritime Welt bekanntlich nicht vertreten ist, offensichtlich überbieten will, erfolgt in drei Einzelbildern: Hafen — Delphinjagd — Angler28. Schon die Angaben über die Szenerie weichen von den Gepflogenheiten Homers ab. Mit zwei Beiwörtern (έύορμος und κυκλοτερής), zwei Genitivattributen (θαλάσσης und κασσιτέροιο, jeweils mit Epitheton) und einem vergleichenden Zusatz (κλυζομένω ΐκελος) fällt die Szenerie ungleich reichhaltiger aus, als es auf dem Schild des Achilleus je der Fall war. Vor allem κυκλοτερής verdient Beachtung. Durch die Hervorhebung der linearen Kontur unterscheidet sich das Beiwort von den vergleichbaren der homerischen Schildbeschreibung, ευρύς, βαθύς und μέγας, die nicht die klar abgehobene Form, sondern die unbestimmte Ausdehnung in der Fläche andeuten. Auch die Lokalangabe der folgenden Versgruppe weist in diese Richtung, μέσον αύτου (seil, λιμένος) hat zwar zahlreiche Entsprechungen in der homerischen Schildbeschreibung (s. o. 35), aber dort bezieht sich die Angabe jeweils auf eine Menschengruppe, nicht auf ein Element der Landschaft 29 . In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die merkwürdige Tatsache, daß in jenem Teil der Schildbeschreibung, der von Homer abhängig ist, also in der zweiten Hälfte ab 237, die bis dahin ausschließlich verwendete Einleitungsformel èv δέ abgelöst wird durch präpositionale Ausdrücke, die die relative Stellung der Szenen zueinander angeben (Cmip αύτέων 237 bei der belagerten Stadt, τταρά 270 bei der Stadt im Frieden, -rrapà δέ σφισιν 296 beim Weingarten, ττάρ δ' αύτοΐς 305 beim Wagenrennen) 30 . Die

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R. M. COOK, The Date of the Hesiodic Shield, Class. Quart. 31, 1937, 204—214 liebäugelt, im Hinblick auf die merkwürdige Stellung der Szene sein mag, so ist er doch gesucht und steht und fällt mit der Annahme eines wirklichen Schildes als Vorlage. Zum folgenden vgl. auch die Charakteristiken des Schilddichters bei S C H A D E W A L D T , Homer 3 6 2 ; R E I N H A R D T , Ilias 4 0 8 f; T R E U , Lyrik 9 8 f; V A N G R O N I N G E N , Composition 1 0 9 — 1 2 3 . J. L. M Y R E S , Hesiod's „Shield of Herakles", Journ. Hell. Stud. 6 1 , 1 9 4 1 , 1 7 — 3 8 geht es wie schon bei seiner Behandlung des Achilleusschildes (s. o. Anm. 1 8 ) fast ausschließlich um die Anordnung der Szenen auf dem Schildrund, also um eine Rekonstruktion des Heraklesschildes. Jedes für sich erweist sich, von unbedeutenden Varianten abgesehen, als gut homerisch, und auch im Sprachlichen ergibt sich manche Übereinstimmung: λιμήν ίύορμος Φ 23, δ 358, 1136 u. a., ΐχθυδν für die Jagd auf Fische μ 95, δεδοκη μένος für den Lauernden O 730; zum Mittelteil vgl. Φ 22 ff mit weit stärkerer Betonung der Todesgefahr (zur Doppelfassung des Delphinmotivs U. V O N W I L A M O W I T Z , Herrn. 4 0 , 1 9 0 5 , 1 1 7 f u n d COOK 2 0 9 ) .

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Derselbe Unterschied auch beim Ιερό; κύκλο; der Alten in der Gerichtsszene: Hier wird der Kreis von Menschen gebildet, beim jüngeren Dichter bezeichnet die (Halb-) Kreisform eine natürliche Gegebenheit, ist also Lokalangabe im strengen Sinn. Vgl. dazu V A N G R O N I N G E N , Composition 117 f.

Ilias

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Tendenz einer räumlichen Gestaltung macht sich also im Großen wie im Kleinen gegenüber Homer stärker bemerkbar 31 . Auch die Art, wie der Dichter die Szenerie einführt, weicht von der homerischen Technik ab. Ob er für die Einleitung wie in der Hafenszene ein formelhaftes έν δέ oder wie in den späteren Partien eine präziser lokalisierende Angabe verwendet, auf jeden Fall erscheint das Thema der neuen Szene als selbständiges Subjekt, nicht, wie es bei Homer durchgängig geschieht, als Objekt, als Gegenstand, den die geschickten Hände des Gottes im Augenblick entstehen lassen. So heißt es statt εν δέ δύω ποίησε πόλεις 490 bei Pseudohesiod παρά δ' εύττυργος πόλις (270), statt εν δ' άγέλην ποίησε 573 êv δέ . . . άγέλαι . . . έσαν (168). Auch der Hafen hat den Rang eines selbständigen Themas (λιμήν . . . έτέτυκτο) ohne irgendeinen Bezug auf eine menschliche Tätigkeit. Das ist mehr als lediglich eine Frage der Erzähltechnik. Man wird den Unterschied als Ausdruck einer anderen poetischen Absicht oder auch einer neuen Kunstgesinnung deuten müssen. Nicht der Vorgang der Anfertigung, also das Entstehen der Bilder soll dargestellt werden, sondern der fertige Schild mit fertigen Bildern. Wenn die jüngere Beschreibung trotz ihrer grelleren Farben so viel statischer wirkt als die ältere, dann nicht zuletzt deswegen, weil ihr Dichter nicht eine Schilderung des Lebens, sondern einer bildlichen Darstellung eines Kunstwerkes geben wollte, wie sich an der Formel εργα κλυτοϋ Ήφαίστοιο (244, ähnlich 297 = 313), dem Ersatz für die verbale Fassung Homers (ποίησε usw.), am präzisesten ablesen läßt. Die selbständigere Behandlung des Details ermöglicht auch bei der Landschaft, wenn sie ausnahmsweise wie in der Hafenbeschreibung thematisiert wird, die Ausformung zu einem abgerundeten Bild, in dem der Mensch zunächst einmal ausgespart bleibt. Erst gegen Ende wird der auf den Klippen sitzende Angler32 eingeführt. Die nachgetragene, das Bild ergänzende Lokalangabe (έπ' άκταϊς 213) entspricht wohl homerischer Technik (s. o. 34), doch ist ein grundlegender Unterschied unverkennbar. Selbst wenn man das das Schlußbild einleitende αΰτάρ nicht adversativ faßt 33 , so ist der Angler auf den Klippen vom Vorhergehenden deutlich abgesetzt als eigener Teil im Bild31

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Auch die beiden Städte treten plastischer ins Bild als bei Homer. Bei der einen wird geschieden zwischen den Vorgängen „auf den gutgebauten Türmen" (242) und denen „außerhalb der Tore" (246), die andere heißt εΰπυργος (270), hat „sieben Tore" (272), und προπάροιθε πόληος (285) tummelt man sich auf den Pferden. Die schärfere Ordnung der Teile im R a u m hebt P. F R I E D L Ä N D E R , Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius, Leipzig/Berlin 1912, 9f als Charakteristikum des Schilddichters hervor. Zur Weiterbildung dieses Motivs in Theokrits Thyrsisgedicht P. F R I E D L Ä N D E R 14: Das individualisierende Interesse h a t aus den άκταί eine πέτρα λεπράς, aus dem άνήρ άλιεύξ einen γριπεύξ γέρων gemacht (39 f). Auch 288 dient es lediglich zur Weiterführung der Szene, vgl. R u s s o ζ. St.

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ganzen. Man mag ihm ruhig mehr als die Funktion einer Staffagefigur zubilligen, aber den Stellenwert des Menschen in der homerischen Schildbeschreibung erreicht er auf keinen Fall. Dafür ist er zu spät und zu beiläufig eingeführt. Auch von der für Homer selbstverständlichen Beziehung zwischen Mensch und Umwelt ist nicht viel geblieben. Der Angler wäre, sehr im Unterschied zu den Pflügern und Mähern Homers, auch in einer anderen Umgebung denkbar. In den homerischen Szenen sind alle Szenenteile in das Ganze integriert 34 , die Hafenbeschreibung des jüngeren Dichters wirkt eher wie ein Kompositgebilde, bei dem jeder Teil mit einer gewissen Selbständigkeit neben dem anderen besteht. Mit Recht kann Russo sagen, der Hafen sei durch die Figur des Fischers „umanizzato" (127, ähnlich zu V. 214) — eine Wendung, die zur Kennzeichnung einer Szene des Achilleusschildes denkbar ungeeignet wäre. Für die Wahl ausgerechnet eines Anglers dürften ästhetische Gesichtspunkte ausschlaggebend gewesen sein. Gewiß haftete ihm zur Zeit des Schilddichters noch nicht die (spieß) bürgerliche Aura des heutigen Sonntagsanglers an, aber sicher wird er noch weniger heroisch als die homerischen Pflüger, Schnitter und Hirten empfunden worden sein: ein schroffer Kontrast zu den erhabenen Szenen der Umgebung. Zu diesem Genrebild-Charakter gehört auch die Vereinzelung der Figur des Anglers. MARG hat darauf aufmerksam gemacht, daß Homer in der Schildbeschreibung den Menschen immer als geselliges Wesen, also in der Vielzahl darstellt und damit wie in den Gleichnissen in archaischer Manier auf das Typische zielt (28f); nur der Sänger beweist seine Sonderstellung, er allein wird in der Einzahl genannt. Der Dichter des Heraklesschildes setzt auch einen einzelnen Angler in die Landschaft 35 . Und noch ein Letztes. Wie sehr der Dichter des Heraklesschildes auf unmittelbare Wirkung erpicht ist, zeigt neben der Häufung des Schrecklichen36 der durch seine monotone Wiederkehr37 ermüdende Hinweis auf das „gleich wie lebendig" o. ä., das die Darstellung ungewollt als „Quasi-Wirklichkeit" entlarvt und damit die intendierte 84

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Vergleichbares findet sich in der homerischen Schildbeschreibung lediglich in der Darstellung des Weinbergs. Auf ihren Ausnahmecharakter als „Kunstwerk" war bereits hingewiesen worden (s.o. 36f). Aber auch hier ist die Szenerie notwendiger Arbeitsplatz des Menschen (vgl. auch die künstlerische Verbindung von Mensch und Szenerie durch das Motiv des Weges, auf dem die Figuren angeordnet sind). So hat er auch aus den vielen Hochzeiten Homers eine einzige gemacht (άνδρΐ γυναίκα 274 ist individueller als die homerischen γάμοι und νύμφαι Σ 491 f).In Szenen, die es ihrer Natur nach nicht mit dem einzelnen Menschen zu tun haben, also etwa den Ernteszenen, wird die Vielzahl selbstverständlich beibehalten. S C H A D E W A L D T , Homer 362. 189. 194. 198. 206. 209. 211. 215. 228. 244.

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Illusion gleich wieder zerstört 38 . Auch im Hafenbild findet sich ein solches bei Homer kaum vorstellbares veristisches Element: Der Angler wird „im nächsten Moment" sein Netz auswerfen (caropptψοντι εοικώς 215). Durch die auffällige Betonung des Zeitlichen am dargestellten Vorgang ergibt sich eine gewisse Spannung zum statischen Eingang des Bildes. Zusammengefaßt : Statt einer Abbreviatur gibt der Dichter des Heraklesschildes ein ausgeformtes Landschaftsbild mit Ansätzen zu einer raumhaften Gestaltung. Die selbständigere Behandlung der Landschaft könnte man als „Emanzipation" deuten; jedenfalls scheint sich die Landschaft aus der bei Homer selbstverständlichen Bindung an den Menschen gelöst zu haben. Weder ist sie als Ort der geschilderten menschlichen Tätigkeit unbedingt notwendig (Austauschbarkeit der Szenerie), noch bedarf es unbedingt des Menschen, um von ihr zu sprechen. Und schon gar nicht ist der Hafen Teil einer übergreifenden Ordnung, wie sich bei Homer Stadt und Land, Acker und Weide, Brachland und Getreidefeld zu einem Kosmos im Kleinen zusammenschließen. Damit hängt zusammen, daß bei dem jüngeren Dichter das Typische hinter dem Individuellen zurücktritt 39 .

Die Ebene von

Troia

In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, anhand der vom Dichter gemachten Angaben vom Schlachtfeld, auf dem in der Ilias Griechen und Troianer kämpfen, eine genauere Vorstellung zu gewinnen. Dabei geht es uns nicht um die früher heiß diskutierte Frage, ob der Iliasdichter die Gegend von Troia aus Autopsie gekannt hat (was durchaus anzunehmen ist) 1 und ob seine Angaben sich mit der Topographie Troias decken oder wenigstens in Einklang bringen lassen (was eine für das Kunstwerk irrelevante Fragestellung ist, da es sich bei der troianischen Ebene der Ilias um eine künstleri38

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1

TREU, Lyrik 96. — Die beiden aus Homer anzuführenden Stellen (Σ 539 und 548 f) sind nicht nur dezenter, sie brauchen auch gar nicht als Vergleich zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit verstanden zu werden. Als Subjekt in 539f kann man sich die vorher genannten Unwesen denken, die „wie lebende Menschen" kämpfen. 548 f wird der gepflügte dunklere Boden gegen den noch nicht gepflügten helleren abgehoben, jedoch unterstreicht der Zusatz χρυσέ (η περ (als Gegensatz zu μελαΐνεσθαι) die große Kunst Hephästs. Dabei hat er einen ausgesprochenen Sinn für das Genrehafte (die geschürzten Kleider der Pflüger 287 f) und das Stimmungsvolle (die vom Wind bewegten Blätter im Weinberg 299, die fast bukolische Schilderung des Sommers 393ff). SCHADEWALDT,

Homer 96f, II. stud. 125;

VON DER MÜHLL,

Ilias 204 und pass.

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Epos

sehe, nicht um eine geographische Realität handelt). Auf die Gefahren eines solchen „Anschauungsrealismus" hat bereits E. D R E R U P mit guten Gründen hingewiesen2. Zwar konnte SCHLIEMANN, gestützt auf die Daten der Ilias, den Hügel, auf dem das alte Troia aller Wahrscheinlichkeit nach lag, ausmachen und auch andere Angaben des Epos über das Gelände zwischen Stadt und Meer verifizieren3, und nach wie vor ist die Frage nach dem historischen Troia zugunsten Hissarliks entschieden4. Im übrigen jedoch hat man sich mit dem abzufinden, was gerade die Homergeographen, ohne es zu wollen, immer wieder bestätigt haben: daß sich nicht alle Angaben Homers durch die topographischen Verhältnisse verifizieren lassen, daß einige nur teilweise, andere überhaupt nicht mit der Realität in Einklang zu bringen sind5. Heute hat man sich daran gewöhnt, solche Unstimmigkeiten nicht dem Dichter anzulasten, sondern sie mit dem Hinweis auf die dem Dichter vorliegende epische Tradition oder ganz allgemein mit der Freiheit poetischer Phantasie zu erklären. Daß der Homerexeget von diesem Standort aus der Ilias gerechter wird, bedarf nicht des Beweises. Aber selbst nach diesem Rückzug auf die Iliasdichtung bleibt die Frage, ob der Dichter den Schauplatz des Geschehens nach einem festen Plan gestaltet hat. Die Homerkritik hat mit überscharfem Auge in den geographischen Angaben der Ilias derartig viele „Widersprüche" entdeckt, daß die Frage getrost verneint werden darf. Selbst wenn bei genauerem Zusehen Zahl und Gewicht solcher Unstimmigkeiten erheblich zusammenschrumpfen (s. u.), bleiben gewisse Schwierigkeiten, die vom Standpunkt des Geographen aus nicht zu beheben sind. So ist die Entfernung Troias vom Schiffslager der Griechen keine konstante Größe, sondern erscheint bald größer, bald kleiner. Die Ebene kann sich ins Unbegrenzte dehnen, wenn sie Schauplatz von Massenkämpfen ist; wird, etwa für einen Zweikampf, nur wenig Raum beansprucht, kann sie sich ebenso schnell wieder zusammenziehen. Sie ist ein Tummelplatz für die Streitwagen, die auf ihr wie auf gutgebauten Straßen dahinfliegen; trotzdem bleibt der vom Wagen gestürzte Mydon im tiefen Sand lange auf dem Kopf stehen (E587). 2

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Homerische Poetik I, Würzburg 1921, 198ff (hier auch reichhaltige Angaben über die ältere Literatur zum Problemkreis). Den m. W. letzten Versuch einer topographischen Realisierung hat J. L E V I L L A I N unternommen: Étude sur la localisation d'Ilion d'après l'Iliade d'Homère, Paris 1962. Vgl. bes. Ithaka, der Peloponnes und Troia, Leipzig 1896, neu hrsg. v. E . M E Y E R , Darmstadt 1963, 180ff. Vgl. dazu die Besprechung von Levillains Iliasstudie durch H.-G. B U C H H O L Z , Gnom. 36, 1964, 204—206 (mit zahlreichen Literaturangaben). So schon G . F I N S L E R , Homer 1/1, Leipzig/Berlin 3 1924, 31 f.

Ilias

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Steine liegen zur Verwendung im Kampf allenthalben bereit, aber in der ganzen Ilias kommt kein einziger Wagen deswegen zu Fall, stolpert kein einziger Krieger über einen Stein. Soll ein Held vom Wagen stürzen, um lebend gefangengenommen zu werden, läßt der Dichter eigens eine Tamariske in der Ebene wachsen, damit die Pferde an ihr straucheln (Z 39). Ferner existiert die Griechenmauer nur, wo um sie gekämpft wird und der Dichter sie als Fixpunkt für großräumige Bewegungen benötigt ; später, etwa bei der Fahrt des Priamos zu Achilleus, verdient sie keine Erwähnung mehr. Und noch ein Letztes. M 21 entspringt der Skamandros auf dem Ida. Wie vertragen sich damit die beiden Quellen, die nach X 147 f unmittelbar vor den Mauern Troias zu denken sind ? Umgekehrt wird M 22 der Simoeis unter den Flüssen genannt, die ins Meer münden, nach E 774 mündet er aber in den Skamandros. Diese — beliebig zu verlängernde — Liste von Widersprüchen und Ungereimtheiten schließt jedoch eine einheitliche, nur eben nicht geographisch konzipierte Vorstellung keineswegs aus6. Die Begrenzung des Geländes durch die Stadtmauer auf der einen, durch das Schiffslager auf der anderen Seite; die später quer durchgezogene Griechenmauer; die Flußläufe von Skamandros und Simoeis schaffen bereits eine Abgrenzung und eine wenn auch noch recht vage Gliederung 7 . Durch Fixpunkte wie Eiche, Feigenbaum und Ilosgrab bekommt sie zusätzlichen Halt. Aber nicht nur diese Punkte und Linien innerhalb der troianischen Ebene, auch die in konzentrischen Kreisen um sie herum gelagerten Schauplätze wie Olymp und Ida treten im Verlauf der Handlung in wechselseitige Beziehung8, so daß man sehr wohl von einem geschlossenen Schauplatz der Ilias sprechen kann, der sich in „Umkreis" und „Mittelpunkt" gliedert9. Nur wird er niemals 6

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Zutreffend schon F I N S L E R 32: eine ,.Grundanschauung" sei durchaus vorhanden, aber die Übereinstimmung reiche nicht bis ins einzelne. Jedoch gehen bereits an diesem Punkt die Meinungen auseinander. Während wir die beiden Flußläufe als seitliche Begrenzung des Kampffeldes begreifen (s. u. 49ff), kommt z. B. R. H E R C H E R , Über die homerische Ebene von Troja, in: Homerische Aufsätze, Berlin 1881, 26—69 zu einer ganz anderen Auffassung. Nach ihr schneidet der Skamandros die Linie, die man sich als Verbindung vom Schiffslager zur Stadt zu denken hat, rechtwinklig etwa in der Mitte, und an diesem Schnittpunkt liegt die Furt, der Mittelpunkt der ganzen Ebene (nahebei auch Ilosgrabmal und δρωσμόξ). Dieser Aufteilung hat sich u. a. auch A. B R Ü C K N E R , Archäolog. Anz. 1912, 631f angeschlossen. Aber wie wir sehen werden, beweist „die Mehrzahl der Stellen" (HERCHER 50) keineswegs einen quer durch die Ebene fließenden Skamandros, womit auch die Aufteilung der Ebene in Form eines Achsenkreuzes hinfällig ist. Das hat Β . H E L L W I G , Raum und Zeit im homerischen Epos, Diss. Tübingen 1962, Spudasmata 2, Hildesheim 1964, 24ff sehr schön gezeigt.

» HELLWIG 28.

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in seiner Gesamtheit als geschlossener Raum oder auch nur als klar begrenzte Fläche ins Auge gefaßt und dem Hörer vorgestellt, vielmehr scheint er sich sukzessiv und ausschließlich im Zuge der Handlung durch einige wenige markante Punkte in der Landschaft zu konkretisieren. Der einzelne Ort, an dem etwas geschieht, nicht die Ebene als Ganzes interessiert, der Turm, nicht die Mauer, das Schiff, nicht das Schiffslager. Während nun die Bedeutung von Stadtmauer und Schiffslager als den beiden Polen, zwischen denen das epische Geschehen hin und her flutet, unbestritten ist, bestehen bei den Angaben über einzelne auffällige Punkte und vor allem über die beiden Flüsse gewisse Unklarheiten, die dazu geführt haben, der Ilias ein einheitliches szenisches Konzept überhaupt abzusprechen. Zumindest im ersten Fall jedoch lassen sich die Aussagen der Ilias widerspruchsfrei in Einklang bringen. Zwar wird die Lage Troias nie genau angegeben, doch kennzeichnen einige sich gegenseitig ergänzende Beiwörter — und zwar sind es gerade die am häufigsten verwendeten — die Stadt als am Rande einer Ebene auf den Vorhügeln eines Bergmassivs gelegen10: απταινή (Ν 773. O 215. 558. Ρ 328, dazu αίττύ O 71 und όφρυόεσσα Χ 411) und ήνεμόεσσα (Θ 499. Μ 115. Ν 724. Σ 174. Ψ 64. 297)11. Der Weg in die Ebene hinab führte durch das Skäische Tor, das, wie der Name— wahrscheinlich — sagt, im Westen gelegene Haupttor der Stadt. Das zweite in der Ilias (E 789. X 194. 413) genannte Tor, das Dardanische, spielt im epischen Geschehen eine weit geringere Rolle12. Die rings um die Stadt laufende Mauer war in den Regionen, in denen das Gelände ansteigt, natürlich besonders gefährdet. Andromache weist Ζ 433 f auf eine solche Stelle hin und kennzeichnet sie durch den 10

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Vgl. H . - G . B U C H H O L Z 2 0 4 (im Referat von L E V I L L A I N S Überprüfung der homerischen Angaben zur Lage Troias). Einen vollständigen Überblick über die Beiwörter Troias gibt E. B U C H H O L Z , Die homerischen Realien 1/1, Leipzig 1871, 317. Die These Aristarchs, Troia habe nur ein einziges Tor besessen, ist unglaubwürdig und führt zu einer äußerst gezwungenen Interpretation von Β 809: das Tor wurde „weit" (πδσαι) geöffnet statt: Alle Tore wurden geöffnet. Der archäologische Befund von Hissarlik zeigt eindeutig drei große Tore. Wenn man unter dem Dardanischen Tor das (nachgewiesene) Südtor versteht, ergibt sich für die Nennung gerade dieses Tores in E 789 eine plausible Erklärung: Solange Achilleus noch am Kampfe teilnahm, wagten die Troer nicht einmal (ουδέ), durch das Dardanische, also dem Feind abgewandte Tor die Stadt zu verlassen (so W. LEAF, Troy, London 1912, 160). Jedoch bleiben bei dieser Annahme die beiden Erwähnungen in X unverständlich, wo man, zunächst wegen des Hinweises Trpòs ττεδίον 198, dann wegen der Wahrscheinlichkeit, daß sich Priamos aus Schmerz über den Tod seines Sohnes direkt aufs Schlachtfeld begeben will, die Nennung des Skäischen Tores erwarten sollte. Also hat Aristarch doch recht, wenn er beide Namen in eins setzt ? Non liquet.

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Feigenbaum, der auch sonst in der Ilias erwähnt wird (s. u. ; X 145 bekommt er das Epitheton ήνεμόεις, das zu einer erhöhten Lage gut paßt). Die genannten Fakten dürften allgemein bekannt sein und geben zu irgendwelchen Spekulationen hinsichtlich von „Widersprüchen" keinerlei Anlaß. Dasselbe gilt von den Angaben über bestimmte Landmarken in der troischen Ebene. Ihrer drei, Ilosgrab, Feigenbaum und Skäisches Tor mit Eiche, sind Λ 166ff in dieser Reihenfolge genannt als Etappen der vor den Griechen zurückweichenden Troer. Der Dichter bedient sich also, um Bewegung sichtbar zu machen, des gleichen Mittels wie der archaische Vasenmaler: er läßt Bewegung an Fixpunkten ablesen (s. o. 24). Nach Λ 167 liegt das Grab des alten Dardanerfürsten mitten in der Ebene (μέσσον κόπτ ττεδίον)13; deshalb findet es im ersten Drittel der Ilias auch keine Erwähnung, denn noch hält man sich fast ausschließlich im Bereich der Stadtmauer auf. Die Eiche dagegen haben wir uns dicht beim Skäischen Tor vorzustellen. Auch sonst werden beide zusammen genannt (Z 237. I 354), und Φ 545 ff erwartet Agenor den heranstürmenden Achilleus am Fuße der Mauer, nachdem ihn Apollon φηγω κεκλιμένος (549) dazu ermuntert hat 14 . Etwas seitlich, aber noch in der Nähe der Stadtmauer muß der Feigenbaum stehen. Außer Λ 167 ist er nur noch an zwei, vom Dichter möglicherweise aufeinander bezogenen (s. u. 58) Stellen erwähnt. In der Homilie bittet Andromache ihren Gatten, zu bleiben und das Volk an der gefährdetsten Stelle der Mauer, „am Feigenbaum" aufzustellen (Z 433). Eben dieser έριυεός steht dann auf dem Fluchtweg des von Achilleus verfolgten Hektor (X 145). Beide Male ist er also in der Nähe der Mauer zu denken, so daß auch in diesem Fall die Angaben von Λ 166 ff mit den übrigen Aussagen übereinstimmen15. Neben den genannten Punkten wird nur noch eine Bodenerhebung mehrere Male in der Ilias genannt, und zwar immer in der Formel 13

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Neben Κ 415 (Versammlung der troianischen Heerführer) ist das Grab noch Λ 371 f genannt (Paris lehnt sich beim Bogenschuß an die Säule des Grabmals) und Ω 349 (bei der Fahrt des Priamos ins Griechenlager, hier in Nähe der Flußtränke). Alle Angaben deuten also auf eine Lage draußen in der Ebene (vgl. auch S C H A D E W A L D T , II. stud. 67 und H. S C H L I E M A N N , Troja, Leipzig 1884, 322f). Weitere Stellen s. u. L E A F S Annahme, der Λ 1 6 7 erwähnte Feigenbaum sei nicht identisch mit dem von Ζ und X in der Nähe der Stadtmauer ( 4 2 , vgl. auch V O N D E R M Ü H L L , Ilias 1 2 4 Anm. 51) ist nicht zwingend, denn nichts hindert daran, an der Α-Stelle zwischen dem zuvor genannten Ilosgrab und dem Feigenbaum eine beträchtliche Distanz anzunehmen (μέσσον κάπ πεδίον ist zwischen die beiden Lokalangaben eingeschoben). Außerdem scheint L E A F 1 6 3 Eiche und Feigenbaum verwechselt zu haben („another oak near the tomb of Ilos").

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èrrl θρωσμώ πεδίοιο. Eine genauere Lokalisierung fällt schwer. Λ 56 und Y 3 dient die Bodenwelle den Troern als Sammelpunkt für ihre Operationen, nach Κ 160f haben sich hier die Troer niedergelassen (gemeint ist wohl die am Schluß von Θ geschilderte Situation). Der K-Zusatz άγχι νεων, der zu den beiden übrigen Stellen nicht ganz paßt, ist aus der Situation leicht zu verstehen. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, verringert Nestor die Distanz zu den Schiffen und erhöht damit die Gefährlichkeit der vorgedrungenen Troer16. Etwas schwieriger hegen die Dinge bei den Flüssen. In der berühmten Vorschau des Iliasdichters in die Zukunft, das heißt wohl: in seine eigene Gegenwart17, wird ein Katalog von acht Flüssen genannt, die, alle auf dem Ida entspringend und ins Meer mündend, die Griechenmauer wieder einreißen und unterm Sand begraben werden (M 19ff) 18 . Der Sinn der Aufzählung ist klar: das ποταμών μένος (18) muß für den Zuhörer vorstellbar werden19, und zu diesem Zweck kann der Dichter beliebig viele Flüsse erfinden oder von anderswoher ausleihen. Denn nur die beiden an letzter Stelle genannten Flüsse, Skamandros und Simoeis, spielen auch sonst in der Ilias eine Rolle, wobei der Skamandros eindeutig der wichtigere der beiden Flüsse ist20, eine Tatsache, der auch der Katalog Rechnung trägt: Er allein wird durch ein Beiwort (5ïoç) ausgezeichnet. Der Skamandros ist nicht nur häufiger als der Simoeis genannt (Simoeis allein nur Δ 475 und Y 53 an unauffälligen Stellen), auch wo Homer nur vom 1β

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Die Formelhaftigkeit der Verse (vgl. S C H A D E W A L D T , II. stud. 42) entspricht dem typischen Charakter der Szene „Aufmarsch des Heeres". — Nur ein einziges Mal erwähnt werden das Grabmal des Aisyetes (B 793 dient es Polites als Beobachtungsposten), Batieia („Dornberg") oder „Grabmal der Myrine", mit auffälligem Aufwand Β 811 ff als Ort der Truppenschau der Troianer geschildert, schließlich die Schanze des Herakles (Y 145) und, mit ihr korrespondierend, Kallikolone (Y 151, in anderem Zusammenhang bereits Y 53 erwähnt) als Orte der feindlichen Götterparteien vor Beginn der Theomachie, beide außerhalb des eigentlichen Schlachtfeldes. Eine vollständige Aufzählung der Landmarken, allerdings ohne befriedigende Stellenangaben, bei E. B U C H H O L Z I 1, 316ff. R E I N H A R D T , Ilias 267 f. Zur alten Streitfrage der Abhängigkeit dieser Verse vom Flußkatalog in Hesiods Theogonie (337ff) s. VON D E R M Ü H L L , Ilias 204f und S C H A D E W A L D T , II. stud. 1 1 8 \nm. 1. R E I N H A R D T , Ilias 269 Anm. 1. Die „Ehrenrettung" des Simoeis, die H E R C H E R 29f versucht, läßt sich nicht rechtfertigen. Richtiger 59, wo H. von der stiefväterlichen Ausstattung des Simoeis durch den Nachdichter spricht (nach H. kannte die ursprüngliche Ilias nur einen Fluß, den Skamandros). Die Schlüsse, die aus solchen „Widersprüchen" und „Ungenauigkeiten" für die Homeranalyse immer wieder gezogen worden sind, dürfen heute als erledigt betrachtet werden (besonders weit ging darin W. C H R I S T , SB Bayr. Akad. Wiss. 1874, 185ff und 1881, 125ff).

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ποταμός spricht (Θ 490. Π 397. 669. 679. Ω 351), scheint er an den Skamandros gedacht zu haben21. Über die Lage der Flüsse jedoch herrscht weitgehend Unklarheit. Selbst wenn man auf eine Lokalisierung in der Topographie Troias verzichtet22, auch in der Ilias selbst lassen sich die Angaben nicht ohne weiteres harmonisieren. Vor allem zwei Fragen haben die Homerkritik viel beschäftigt: Mündet der Simoeis in den Skamandros (so E 773f) oder ins Meer (so M 19ff), und verläuft der Skamandros seitlich neben dem Schlachtfeld oder quer durch die Ebene hindurch, so daß er auf dem Weg von der Stadt zum Meer überquert werden mußte ? Mindestens eine teilweise Lösung des Problems scheint mir erreichbar zu sein, freilich immer unter der Voraussetzung, daß man von Homer keine wissenschaftliche Exaktheit verlangt. Nachdem die Götter zu Beginn des 6. Buches den Kampfplatz verlassen haben, tobt die Schlacht weiter ενθα καΐ ευθ' . . . ττεδίοιο . . . μεσσηγύς Σιμόεντοξ ΐδέ 2άνθοιο ροάων (Ζ 2ff). Die erste Wendung benutzt Homer gerne, um die Ausdehnung über eine große Fläche zu bezeichnen, ohne daß ein besonderer Punkt oder eine bestimmte Richtung hervorgehoben werden soll (B 90. 397. 779. ε 327 u. ö.). Da Troia und die Küste als abschließende Linien festliegen, wird man die beiden Flüsse als seitliche Begrenzung des Schauplatzes aufzufassen haben23. Ein solches Verständnis legen auch die meisten anderen Stellen nahe, an denen von einem der Flüsse oder auch von beiden die Rede ist. Weil Hektor ,,zur Linken an den Ufern des Skamandros" kämpft, hat er von den Vorgängen des Hauptkampfplatzes, wo Aias wütet, noch nichts erfahren (A 497ff) 24 . E 35f führt Athene Ares aus dem Kampfgetümmel und läßt ihn sich am Skamandros lagern, offensichtlich, weil er hier nicht viel Schaden anrichten kann. In der gleichen Absicht lockt Apollon Ende Φ Achilleus von Troia weg an den Skamandros. Und wenn Hera und Athene sich in den Kampf mischen wollen, stellen sie ihren Wagen an der Mündung des Skamandros und Simoeis, also außerhalb des Kampffeldes, ab und gehen dann zu Fuß weiter (E 773ff). Am Ende des ersten großen Schlachttages ruft Hektor die Troer zusammen „fern von den Schiffen, 21

22 23

24

Ω 350f macht Priamos auf der Fahrt zu Achilleus êv ποτσμφ halt, um die Pferde zu tränken, und hier tritt Hermes zu ihm. Auf dem Rückweg verläßt der Gott ihn wieder an derselben Stelle, wobei diesmal der Name des Flusses angegeben ist (692 f). Ferner ist δινήεις ein häufiges Epitheton des Skamandros (und anderer Flüsse), nie aber heißt so der Simoeis. Deshalb dürfte auch θ 490 der Skamandros gemeint sein (ähnlich Φ 206, wo die Identifizierung eindeutig ist). Diese Frage behandelt LEAF 30 ff auf insgesamt glaubwürdige Weise. Ähnlich TT 396f : Patroklos erschlägt die Troer „zwischen den Schiffen und dem Fluß und der hohen Mauer". Vgl. auch έσχατιή πολέμοιο Λ 524 in der Rede des Kebriones. 4

Eiliger, Darstellung

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am strudelnden Fluß, an einer freien Stelle" (Θ 490f), und Π 669 bekommt Apollon von Zeus den Auftrag, Sarpedons Leichnam „ganz weit weg" zu tragen und „an den Fluten des Flusses" zu waschen. Allen diesen Stellen liegt die gemeinsame Vorstellung des Entrückten, der gefahrlosen Peripherie 25 zugrunde, wo man selbst keiner Gefahr mehr ausgesetzt ist, aber auch keinem anderen gefährlich werden kann. Mit der hier angenommenen Lage der Flüsse stimmt auch überein, daß sie beim Kampf, der bald näher an den Mauern Troias, bald bei den Schiffen, in der Regel aber nicht an den seitlichen Rändern der Ebene geführt wird, weder als natürliche Grenze noch als Hindernis eine Rolle spielen. Lediglich drei Stellen, an denen vom Skamandros die Rede ist, scheinen sich mit dieser Konzeption nicht zu vertragen, weil sie eher die Vorstellung eines zum Griechenlager parallelen Flußverlaufes vermitteln2®. Der vom Stein des Aias getroffene Hektor wird auf dem Rücktransport nach Troia an der Furt des Xanthos niedergelassen, und hier kommt er wieder zu sich (2 433f). Das gleiche Verspaar steht noch zweimal in der Ilias, Φ If in Verbindung mit den vor Achilleus fliehenden Troianern, Ω 692 f mit dem von Achilleus zurückkehrenden Priamos. Im ersten und dritten Fall muß der Fluß auf dem Rückweg vom Schiffslager oder dem ihm vorgelagerten Teil des Kampfplatzes passiert werden — so stellt man es sich beim Lesen oder Hören wenigstens vor, und so hat man die Stellen auch meistens verstanden. Jedoch ist von einem „Überqueren" der Furt 27 nirgends die Rede, es heißt nur, daß man sie erreicht (ίξον). Dann aber scheint sich das Problem auf verblüffend einfache Weise zu lösen28. Zweimal wird an der Furt Wasser geholt, in 5 für Hektor, in Ω für die Pferde des Priamos; ihre Erwähnung hat also einen sachlichen Grund, denn die Furt gestattet den leichten Zutritt zum Fluß. In Φ werden die Scharen der vor Achilleus zurückflutenden Troer an der 85

2e

27

28

Passend dazu auch Y 53 die Nennung des Simoeis zusammen mit der (seitlich vom Kampfplatz gelegenen) Kallikolone. Auch Θ 560 (die zwischen Schiffslager und Xanthos brennenden Wachtfeuer der Troer) wäre hier zu nennen, jedoch ist die Angabe zu allgemein, um aus ihr weittragende Schlüsse ziehen zu können. πόρος mit einem Teil der antiken Erklärer, denen sich V O N D E R M Ü H L L , Ilias 310 anschließt, als (Soös zu verstehen, ist nicht notwendig. Die Verse als Zielangabe lassen eher an einen bestimmten Punkt als an die allgemeine Vorstellung „Strömung" denken. Vgl. L E A F 35, dessen Ausführungen ich mich weitgehend anschließe. Auch C . R O B E R T , Herrn. 42, 1907, 107 äußert sich im gleichen Sinn (vgl. auch 101 f zu Φ Iff), während H E R C H E R 54ff zu unglaubwürdigen, durch seine unhaltbare Konzeption bedingten Ergebnissen kommt. Auch R O B E R T setzt den Skamandros am (westlichen) Rand der Ebene an (so W I L A M O W I T Z , Ilias 8 8 und VON D E R M Ü H L L , Ilias 3 1 0 ) .

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Furt gespalten. Ein Teil flieht auf die Stadt zu — offenbar, ohne die Furt durchschritten zu haben —, der andere stürzt sich in den Fluß, doch wohl, um das andere Ufer zu erreichen und sich außerhalb des eigentlichen Kampffeldes vor Achilleus in Sicherheit zu bringen. Das heißt, gerade diese Stelle ist nur verständlich, wenn man den Flußlauf als seitliche Begrenzung des Kampffeldes annimmt. Die Vorstellung von Rettung und Sicherheit liegt hier klar zutage, aber auch an den beiden anderen Stellen bezeichnet die Furt die Grenze zwischen Gefahr und Gefahrlosigkeit : Ab hier bedarf Priamos auf seiner Fahrt ins Lager der Feinde eines göttlichen Schutzes, hier dürfen sich die Troianer auf dem Rückzug vor dem Feind eine Ruhepause gönnen und den ohnmächtigen Hektor vom Wagen heben. Ein „Widerspruch", der bei der Formelhaftigkeit der beiden Verse ohnehin nicht schwer wiegen könnte, läßt sich also auch bei den drei Erwähnungen der Skamandrosfurt nicht finden, im Gegenteil, sie bestätigen nur die auch sonst in der Ilias angenommene Lage des Flusses und seine Bedeutung als Grenzzone zwischen Gefahr und Sicherheit29. Sieht man einmal von der für die Topographie der Ilias unerheblichen Frage der Skamandrosquellen ab, bleibt nur der Simoeis als Ärgernis für den auf strenge Einheit bedachten Homerexegeten — und er wird es bleiben, denn die Versuche, die sich widersprechenden Aussagen der Ilias zu harmonisieren, können nicht überzeugen30. Aufs ganze gesehen läßt sich jedoch nicht abstreiten, daß die Ilias ein einheitliches szenisches Konzept aufweist, nur eben nicht in Form eines starren Rahmens, in den die Handlung eingefügt werden könnte. Mit diesen Ausführungen haben wir dem Versuch, die zerstreuten landschaftlichen Angaben der Ilias zu einem Ganzen zusammenzufügen, fast schon zuviel Gewicht beigelegt, denn vom Wesentlichen lenkt er eher ab31. Wahl und Ausführung der einzelnen landschaftlichen Motive zeigen mit aller Deutlichkeit, daß nicht zuerst das Ganze vorhanden war, daß dieses Ganze sich vielmehr erst aus der Zusammenschau einzelner Punkte ergibt. Indem Homer seinen Blick einem be29

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Der Befund der Ilias spricht also, was den wirklichen Verlauf des Skamandros angeht, eindeutig für die „Western theory", d. h. für eine Lokalisierung am Westrand der Ebene, nicht für die von S C H L I E M A N N und D Ö R P F E L D vertretene „Eastern theory" (die Bezeichnungen stammen von LEAF, 34f). Einiges dazu bei L E A F 37 ff, der die Frage ebenfalls offen läßt, jedoch die Angabe Ε 773f für weniger glaubwürdig hält. Die beiden wichtigsten neueren Werke mit Materialien zu Homer (H. L. Lo RIMER, Homer and the Monuments, London 1 9 5 0 und A. J. B. W A C E / F . H. S T U B B I N G S , A Compagnon to Homer, London 1962) greifen die Frage einer Harmonisierung und Lokalisierung der geographischen Angaben der Ilias überhaupt nicht mehr auf. R E I N H A R D T , Ilias 4 2 6 begnügt sich bei der Aufzählung von Skamandrosstellen mit der Bemerkung, daß sich die Andeutungen über den Flußverlauf widersprechen. 4*

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stimmten Teil des epischen Geschehens zuwendet, läßt er, wo es ihm geraten scheint, auch den Ort des Geschehens mit entstehen. Die gelegentlichen Ortsangaben dienen also der Konkretion des einzelnen Schauplatzes, nicht dem planmäßigen Aufbau der troianischen Szenerie, denn dann müßte eigentlich alles, was die Ilias an Landschaft bietet, unverständlich bleiben. Besonders Reihenfolge, Wiederholung und mangelnde Paßform einzelner Motive wären unter diesem Gesichtspunkt schwerlich als sinnvoll zu erweisen. Auf den folgenden Seiten sollen nun einige Probleme der epischen Erzähltechnik behandelt werden, soweit sie unter unser Thema fallen. Da ist vor allem die Frage, wie der Iliasdichter landschaftliche Motive in das epische Geschehen einführt. Genau genommen kann von „einführen" allerdings kaum die Rede sein, denn fast immer tut der Dichter so, als sei dem Hörer die Gegend bereits vertraut, als brauche er nur auf Bekanntes hinzuweisen (treffend FINSLER II 2 4 2 : Die Ilias „zeichnet nie den Schauplatz der Handlung, sondern setzt ihn voraus"). Ob der Hörer einem Baum oder Fluß zum ersten oder dritten Male begegnet, macht in der Ausführung des Motivs keinen Unterschied. Was für den epischen Bericht gilt, die vor allem von SCHADEWALDT herausgearbeitete Kunst des Vorausdeutens und Wiederanknüpfens, der Vorbereitung und der Steigerung, gilt nicht für die Szenerie, in der sich dieses Geschehen abspielt. Der Eindruck, als ob Homer bei seinem Publikum die örtlichkeit des Geschehens als bekannt voraussetze, dürfte vor allem auf zwei Eigentümlichkeiten der Landschaftsdarstellung in der Ilias zurückzuführen sein. Zum einen kennt die Ilias Landschaft fast nur in der Form einer Abbreviatur, die für Variationen kaum Spielraum läßt. Es fehlt alles ornamentale Beiwerk, nur gelegentlich steht eine präzisierende Angabe als Erweiterung. Diese Knappheit im Landschaftlichen verdient um so mehr Beachtung, als Homer immer dann reichlich Zeit zur Verfügung hat, wenn er sie für seine poetischen Zwecke braucht, etwa bei der Beschreibung einer Waffe oder eines Bechers. Den landschaftlichen Gegebenheiten gilt sein Interesse offenbar nicht im gleichen Maß, eine Darstellung wie die der beiden Skamandrosquellen im 22. Buch (s. u.) ist schon eine große, ja man kann sagen: die einzige Ausnahme, die die Ilias im epischen Geschehensbericht kennt. Zum andern ist auf die Formelhaftigkeit vieler landschaftlicher Angaben hinzuweisen. Es genügt, an ein paar Beispiele zu erinnern 32 .

aa

Nach A. B. LORD, Der Sänger erzählt, München 1965, 64f gehören gerade auch die Zeit- und Ortsangaben zum formelhaften Bestand mündlicher Epik.

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Der θρωσμός irgendwo in der Ebene zwischen Schiffslager und Stadt erscheint nie anders als in der Wendung ètri θρωσμω πεδίοιο am Hexameterschluß (Κ 160. Λ 56. Y 3), erfüllt also genau die PARRYsche Definition der Formel als einer unter den gleichen metrischen Bedingungen wiederkehrenden Wortgruppe33. Wenn die Eiche im Zusammenhang mit dem Skäischen Tor genannt ist (Z237. 1354. Λ170), geschieht es immer in der Wendung Σκαίαξ τε πύλας καί φηγόυ (ΐκανεν bzw. Ικοντο). Von der Skamandrosfurt ist nur die Rede in einem Verspaar, das dreimal ohne die geringste Veränderung eingesetzt wird (5 433f = Φ I f = Ω 692f), also nicht einmal den geringen Variationsspielraum wahrnimmt, den die „Flektierbarkeit" der Formel je nach ihrem Einbau im Vers zuläßt34. Ein weiteres Beispiel wäre der Ida mit seinem Quellen- und Tierreichtum. Meistens steht für ihn die Formel "Ιδην δ' ΐκανεν (ίκέσθην, ΐκανον) ττολυττίδακα, μητέρα θηρών ( θ 47. I 283. Ο 151). Daß sich der Iliasdichter an allen diesen Stellen traditioneller Formeln bedient, wird um so weniger zu bezweifeln sein, als es sich mit Ausnahme des ersten Beispiels stets um Zielangaben in Verbindung mit dem Verb ίκάνειν handelt, nach W. AREND35 also um den zweiten Teil des einfachen Ankunftschemas. Diese Art von „Kleinstszene" ist für den Sänger ein denkbar praktikables Mittel, den Übergang vom einen Schauplatz zum andern zu gewinnen. Das Formelhafte mancher Lokalangaben darf jedoch den Blick für die individuelle Ausgestaltung derartiger Landschaftsformeln und für — freilich kaum je exakt zu beweisende — Neuschöpfungen im landschaftlichen Bereich nicht verstellen. Gerade die neuere oral poetry-Forschung hat gezeigt, daß die individuellen Züge des Iliasdichters durch ihre Ergebnisse keineswegs ausgelöscht, sondern erst ins rechte Licht gehoben werden38. Bei der kleinsten und zugleich häufigsten formelhaften Einheit, dem Epitheton, wird sich wohl am schwersten entscheiden lassen, was 33

34

85 38

„Une expression qui est régulièrement employée, dans les mêmes conditions métriques, pour exprimer une certaine idée essentielle" (L'épithète traditionelle dans Homère, Paris 1928,16), und ganz ähnlich die englische Fassung: „a group of words which is regularly employed under the same metrical conditions to express a given essential idea" (Harv. Stud. Class. Phil. 41, 1930, 80). So ist ζ. Β. die Formel „Skäisches Tor und Eiche" jeweils den sachlichen Gegebenheiten eingepaßt, wie Anfang und Ende der betreffenden Verse zeigen: "Εκτωρ δ* ώ$ ΐκανεν Ζ 237, άλλ' όσον ΐκανεν (ebenfalls Hektor) I 354, άλλ' ότε 8ή Ικοντο Λ 170. Die typischen Szenen bei Homer, Problemata 7, Berlin 1933, 28. Vgl. dazu vor allem A. LESKY, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im homerischen Epos, in: Festschrift für Dietrich Kralik, Horn 1954, 1—9, jetzt in: Gesammelte Schriften, Bern/München 1966, 63—71, und ders., RE-Artikel Horneros, Suppl.-Bd. X I , Sonderdruck Stuttgart 1967, 7—16 (mit einschlägiger Literatur).

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aus der Tradition übernommen und was eigene Schöpfung ist. Am Beispiel des Skamandros zeigt sich, daß der Iliasdichter das Beiwort durchaus sinnvoll einsetzt, indem er es dem jeweiligen Zusammenhang einpaßt 37 . Unter den zahlreichen Epitheta des Flusses ist δινήεις mit Abstand das häufigste, wobei es sachlich keinen Unterschied macht, ob der Fluß mit Namen genannt ist und welcher der beiden Namen gewählt wird38. In der Rede, in der Nestor den Griechen den Bau einer Mauer zum Schutz der Schiffe vorschlägt, bekommt der Fluß das Beiwort έύρροος (H 329). Nun ist das an sich nicht auffällig, und εύρροον άμφΐ Σκάμανδρον mag genausogut wie die zahlreichen Verbindungen mit δινήεις eine Formel sein (die allerdings in der Ilias nur hier begegnet). Jedoch spricht Nestor unmittelbar vorher von den vielen Achaiern, deren „schwarzes Blut" Ares vergossen habe: αϊμα κελαινόν steht im ersten Halbvers, die beiden Adjektive stoßen genau in der Versmitte aufeinander — ein wirkungsvoller Kontrast, bei dem es schwerfällt, nicht an poetische Absicht zu glauben. Auffällig sind die beiden Stellen, an denen der Skamandros mit zwei Epitheta versehen wird. Wenn der Fluß in der Theomachie sich Hephaistos zum Kampf stellt — das letzte der Y 67ff aufgezählten feindlichen Götterpaare —, genügt eine herkömmliche Wendung mit nur einem Beiwort offenbar nicht; um das Gleichgewicht gegen den Feuergott herzustellen, bedarf es deren zwei, die zudem im Gegensatz zu δινήεις und εύρροος eindeutig auf die Kraft und Gefährlichkeit des Elements hinweisen: μέγας ποταμός βαθυδίνης (73). Ein ganz anderes Ethos haben die Beiwörter des Flusses in Achills Schmährede auf den toten Lykaon, die in einer allgemeinen Drohung an die Troianer endet: Sie werden alle umkommen, und dann wird ihnen trotz der kostspieligen Opfer auch der ποταμός έύρροος άργυροδίνης nicht helfen können (Φ 128ff). Hier ist es nicht mehr der mächtige, sondern wieder der „schöne" Fluß, aber gerade in seiner Schönheit wird seine Ohnmacht offenbar. Der Hohn, der sich im Bild des von Fischen angefressenen Leichnams drastisch artikulierte, nimmt jetzt eine Wendung ins Allgemeine, verliert dadurch aber nichts an Bissigkeit. Zusammen mit περ, das man verstärkend („sehr") oder konzessiv („wie sehr auch") auffassen kann, verschärfen die beiden Beiwörter das individuelle Ethos von Achills Worten. Größere Unterschiede lassen sich bei den Ida-Fassungen der Ilias feststellen. Hier geht es nicht nur um die Wahl des Beiworts, sondern 37 88

Zu den Beiwörtern auch unten 87 ff. Skamandros Φ 125. X 148, Xanthos E 479. Φ 382, ποταμό* Φ 206 und wohl auch θ 490 (s. o. Anm. 21), dazu die oben 50f angeführten Furt-Stellen.

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um die Ausgestaltung des ganzen Motivs, denn neben der bereits erwähnten formelhaften Verwendung des Berges als Zielangabe kennt die Ilias zahlreiche Varianten. Eine Kurzfassung des Motivs liegt Β 821 vor: Ίδης ευ κυημοϊσι lag Aphrodite dem Anchises bei. Die Knappheit der Lokalangabe entspricht dem Katalogcharakter der umgebenden Verse, der Abschweifungen nur in begrenzten Maßen zuläßt — sowohl im Griechen- als auch im Troerkatalog sind es allein die Flüsse, die einen bescheidenen Exkurs zu rechtfertigen scheinen (752ff der Titaresios, 850 der Axios). Andrerseits war die Lokalangabe, die in beiden Katalogen ohne Parallele ist, wohl angebracht, um das denkwürdige Geschehen, die Vereinigung von Mensch und Göttin (θεά βροτω εύνηθείσα), zu fixieren. Derselbe Halbvers steht auch Φ 449, ist jetzt aber durch zwei Beiwörter (ΐΓολυπτύχου ύληέσσης) ergänzt. Nirgends in der Ilias wird das Idagebirge deutlicher in seinem landschaftlichen Charakter erfaßt als an dieser Stelle, die den stereotypen Quellen- und Tierreichtum durch primäre landschaftliche Qualitäten ersetzt (Berghänge, Schluchten, Wald). Der Vers findet sich in der Rede Poseidons, in der er Apollon an die gemeinsame Fronzeit unter Laomedon erinnert, als der jüngere Gott an den Hängen des Ida Rinder weidete (βοϋς βουκολίεσκες 448). Mit der Rückerinnerung in der Zeit wird zugleich auch der Ort des Geschehens evoziert — ein „bukolisches" Miniaturbild, wenn man alle idyllischen Gefühlsmomente fernhält. Ebenfalls von den κνημοί des Ida spricht Agenor, als er sich überlegt, ob es nicht ratsamer wäre, vor dem anstürmenden Achilleus in die Berge zu flüchten und sich dort zu verstecken. Dementsprechend wird die Kurzfassung erweitert durch den Zusatz κατά τε ρωιτήια. Die häufige Verbindung ρωττήια πυκνά (Ν 199. Y 122. ξ 473 jeweils am Versschluß) weist auf die Vorstellung des Dichten, Undurchdringlichen: Im „Dickicht" glaubt Agenor selbst vor dem stärksten Feind sicher zu sein (Φ 559). Als letztes Beispiel39 für die Variation des Ida-Motivs nennen wir 2 157. Hera entdeckt ihren Gatten επ ' ακρότατης κορυφής ττολυττίδακοξ "Ιδη«;. Λ 181ff war noch einmal daran erinnert worden, daß der Göttervater "Ιδης εν κορυφησι . . . ττιδηέσσης sitzt, um das Geschehen von hoher Warte aus zu beobachten 40 . So sehr die beiden Verse einander gleichen, so sehr unterscheiden sie sich von allen bisher ge39

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X 171 liegt eine weitere Fassung des Motivs vor, ohne daß sich für ihre Wahl Gründe finden ließen. Θ 47 ff ist dem Erscheinen des Zeus auf dem Ida zu Beginn des ersten Schlachttages eine kleine Szene gewidmet. Zur Bedeutung des Standortwechsels I. S C H U D O M A , Naturerscheinungen und Naturgeschehen bei Homer, Diss. Tübingen 1960, 24.

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nannten Ida-Stellen. Zwar gehört der Quellenreichtum zum IdaTopos, aber an beiden eben genannten Stellen spielt er nur eine untergeordnete Rolle. Die beherrschende Vorstellung ist die ragende Bergspitze (besonders deutlich 5 157 durch das Beiwort im Superlativ). Beide Male dient der Berg als Ausguck, also wählt der Dichter den dafür geeigneten Ausschnitt. Daß die Lokalangabe beide Male einen ganzen Vers füllt, deutet auf die besondere Wichtigkeit des geschilderten Moments im Ablauf des Geschehens. In Λ folgt der Auftrag an Iris, in dem Hektor das Erreichen der Schiffe verheißen wird, in 2 die für den weiteren Verlauf des Kampfes entscheidende Betörung des Göttervaters durch Hera. Wo zwischen diesen beiden Hauptstellen vom Ida in Verbindung mit Zeus die Rede ist (Λ 337. M 253), genügt eine knappe Erwähnung ohne jeden Zusatz. Ein weiteres Beispiel für die Differenzierung einer durch die Tradition wahrscheinlich vorgegebenen Landschaftsformel liefert die in der Ilias mehrfach erwähnte Eiche. Wo sie nicht in Verbindung mit dem Skäischen Tor genannt ist (s. o. 47), kann sie durchaus mit individuellen, auf das Geschehen abgestimmten Zügen ausgestattet werden. Athene und Apollon treffen sich zu einem Gespräch παρά φηγω (Η 22) — wie so oft markiert eine Landmarke den Schnittpunkt zweier Linien oder Bewegungen —, und φηγφ κεκλιμένος (Φ 549) macht Apollon dem Agenor Mut, daß er nicht mit den anderen Troianern in die Stadt flieht. Beide Male handelt es sich um Episoden, denen im Gesamtgeschehen keine große Bedeutung zukommt. Aus dem knappen Hinweis wird jedoch ein ganzer Vers, wenn Athene und Apollon sich auf der Eiche niederlassen, um dem Kampf zuzusehen (H 60), oder wenn die Gefährten den verwundeten Sarpedon unter ihr auf die Erde legen (E 693). Beide Stellen erwähnen den ,,ägishaltenden Zeus" : Er ist der Vater sowohl der beiden Götter als auch Sarpedons. Unterscheidendes Merkmal ist das Beiwort. Als Ausguck muß die Eiche „hoch" sein (ähnlich Λ 183 und 2 157 beim Ida, s. o. 55f), als Ort, an dem der Götterliebling Sarpedon das Bewußtsein verliert — nach E 696 muß man sogar annehmen, daß er stirbt —, bekommt sie das auszeichnende Beiwort ττερικαλλής. Ob der Iliasdichter einen solchen Kontrast (Tod — Schönheit) beabsichtigt hat, wird sich schwerlich entscheiden lassen; der einzige Beleg wäre es jedenfalls nicht (s. o. 54). Die sinnvolle Einpassung des Landschaftsmotivs in den Erzählzusammenhang wurde in den bisher behandelten Fällen durch die entsprechende Wahl des Beiwortes und eines ergänzenden Details ermöglicht. Nun gibt es aber auch Beispiele, in denen selbst als Grundbestand keine Formel zu entdecken ist, die also ganz das Werk des Iliasdichters zu sein scheinen.

Ilias

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Hektor, den Bitten von Vater und Mutter unzugänglich, bleibt vor den Mauern der Stadt, den glänzenden Schild stützend ττύργω ετπ προύχοντι (Χ 97). Daß damit der große Turm am Skäischen Tor gemeint ist, dürfte nach X 6 klar sein. In einem wechselvollen Spiel wird nun die Szenerie in das Geschehen miteinbezogen. Schon das unmittelbar vorhergehende Gleichnis von der Schlange, die an ihrem Schlupfwinkel feindselig den Mann erwartet, nennt in auffälliger Weise zweimal den Ort des Geschehens (έτη χειΐ) am Anfang, περί χειτ) am Schluß). Verglichen wird also nicht nur Hektor mit der Schlange, sondern Hektor am Turm mit der Schlange vor ihrem Loch, das heißt neben der Kampfbereitschaft auch die an einen bestimmten Ort gebundene konkrete Situation 41 . Damit ist das thematisch vorausdeutende Verspaar X 5f (die Moira „fesselte" Hektor, vor den Stadttoren zu bleiben) anschaulich in ein Bild transponiert und gleichzeitig in episches Geschehen aufgelöst. Aber auch in den großen Monolog des Helden spielt das Mauermotiv noch hinein. In zwei weitgespannten Gedankengängen überlegt sich Hektor, welche Möglichkeiten ihm in dieser Situation bleiben, bis er mit einem scharfen άλλά (122) sich darüber klar wird, daß er letztlich überhaupt keine Wahl mehr hat. Die beiden (Schein-) Möglichkeiten werden mit einem parallelen εΐ μεν κε und εί δέ κεν (99/111) nebeneinandergestellt, und beide Male erscheint gleich eingangs die Mauer Troias in Hektors Erwägungen. Die eine Möglichkeit wäre, sich hinter „Tore und Mauern" zurückzuziehen, die andere, die Waffen abzulegen und den Speer „gegen die Mauer" zu lehnen, um dem Feind waffenlos entgegenzugehen. Was in der epischen Situation bereits vorgegeben ist — der seinen Schild gegen den Turm lehnende Hektor —, wird in Gedanken noch einmal durchgespielt, wobei der gleiche Versschluß (έρείσας 97/112) den Rückbezug noch verstärkt. Als dann jedoch der herannahende Achilleus die letzte Illusion zerstört, hat Hektor nicht mehr den Mut zu bleiben: ò-ττίσω δέ ττύλας λίπε (137). Damit hat er den Stadtbereich, der ihm allein noch Sicherheit hätte geben können, endgültig verlassen. Die Lokalangabe des folgenden Gleichnisses, όρεσφιυ 139, bezeichnet die Zone der Gefahr (s. u. 89), hier wird die Taube vom Habicht verfolgt. Was SCHADEWALDT an der Hektor-Andromache-Szene klargemacht hat, daß der Iliasdichter seine Menschen so „führt", „daß der Hörer aus der bloßen Anschauung innewird, wie es um diese Menschen steht" 42 , gilt auch von der 41

42

Vgl. SCHADEWALDT, Homer 300. Eine weitere Beziehung ergibt sich, wenn man mit H. FRANKEL, Gleichnisse 69 das Verhalten der Schlange als Versuch, die Brut zu schützen, versteht: Auch Hektor hat ihm Anvertrautes zu schützen (s. u. 60ff). Homer 217.

58

Epos

Szene „Hektor an der Stadtmauer", die den letzten Akt im HektorGeschehen einleitet. Die Flucht vor Achilleus wird dann auf jene Art veranschaulicht, in der der Iliasdichter gerne Bewegung sichtbar macht, durch die Häufung von Lokalangaben (X 145ff, vgl. o. 47 zu Λ 166ff). Dabei findet auch wieder der Feigenbaum Erwähnung, der uns bereits auf dem Fluchtweg der Troer (Λ 167) und in Andromaches Mahnung an Hektor (Z 433) begegnet ist. Bei der seltenen Erwähnung des Feigenbaums läßt sich trotz der Distanz von etlichen Büchern eine bewußte Beziehung zwischen der Z- und der X-Stelle nicht ausschließen. Beide Male ist der Baum mit dem Schicksal Hektors eng verknüpft 43 . In der beschwörenden Bitte Andromaches dient er zur Kennzeichnung der schwachen Stelle in der troianischen Verteidigungsanlage. Damals schlug Hektor die Bitte aus und besiegelte damit bereits selbst sein Schicksal, das sich in X erfüllt, wenn auch nicht genau in der Art, wie es Andromache befürchtet hatte. Ihre Angst, „alle Achaier" könnten sich auf Hektor stürzen und ihn töten (Z 409f), steht jedoch nicht in Widerspruch zum tatsächlichen Ausgang, sondern weist in einer allgemeineren Form auf ihn voraus. So zeigt sich auch an einem kleinen landschaftlichen Detail die Beziehung zwischen den beiden Hektor-Büchern Ζ und X, die für das Gesamtkonzept der Ilias nicht zu leugnen ist. Schließlich die Darstellung der beiden Skamandrosquellen (X 147ff), deren ungewohnte Ausführlichkeit der Bedeutsamkeit des Geschehens entspricht. So einmalig Hektors Tod ist trotz der vielen Tode, die in der Ilias gestorben werden, so einmalig ist die Schilderung der Quellen. SCHADEWALDT 44 hat in seiner Interpretation der Verse auf den auch sonst in der Ilias immer wieder aufleuchtenden 43

44

Seit Aristarchs Athetese sind die Verse Ζ 433—439 immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik geraten (E. B E T H E , Homer I , Leipzig 1914, 239 ff ; VON D E R M Ü H L L , Ilias 123f ; G. J A C H M A N N , Nachr. Akad. Wiss. Göttingen, phil.-hist. KL. 7, 1949, 189; zur Verteidigung: W I L A M O W I T Z , Ilias 307 und vor allem S C H A D E W A L D T , Homer 219 f). Ein Kriterium der Echtheit läßt sich aus der hier vermuteten Beziehung zu X 145 selbstverständlich nicht gewinnen, aber S C H A D E W A L D T S Erklärung scheint mir plausibler als die für eine Athetese beigebrachten Argumente. B E T H E operiert mit der „Einheitlichkeit" der Rede, die durch den Zusatz gesprengt werde, übersieht dabei aber — selbst wenn er mit seiner Behauptung recht hätte —, daß diese Einheitlichkeit sein Postulat ist, als Argument also wenig taugt. Homer 308, vgl. auch VON D E R M Ü H L L , Ilias 335 f. Daß die beiden Quellen der Wirklichkeit widerstreiten, wie VON D E R M Ü H L L meint, ist nur teilweise richtig. Daß es warme Quellen in der Troas gibt, ist bekannt ; nur die Verlagerung einer solchen unmittelbar an die Stadtmauer ist Homers eigene Erfindung (vgl. W . L E A F , The Iliad, 2 Bde, London 21900—1902, Nachdruck Amsterdam 1960, z. St.). Die Frage nach dem Grund dieser Verlagerung dürfte zugunsten der poetischen Motivation gegen die „confusion of the tradition" entschieden sein (vgl. auch LEAF, Troy 49f).

Ilias

59

Gegensatz von Krieg und Frieden hingewiesen, TREU45 ihre Funktion innerhalb der Komposition des Ganzen herausgearbeitet. Nicht weil die Quellen ein besonders lieblicher Ort wären, der zum beschreibenden Verweilen einlädt, haben sie ein Recht in der Ilias, sondern weil sich an ihnen das Schicksal des größten Troerhelden erfüllt. So bilden sie für das Geschehen eine kontrastierende Kulisse, mehr noch, dem Tod wird ein Bild des Lebens vorangestellt, in dem sich Glanz und Schönheit voll entfalten : die Quellen sind καλλιρρόω, die Tröge καλοί, die Troerinnen καλαί, ihre Gewänder σιγαλόεντα. Trotzdem hat der Iliasdichter den Ort nicht als locus amoenus konzipiert, sondern als „Arbeitsplatz"; die Quellen werden als Landschaft so gut wie gar nicht realisiert. Die beiden Vergleiche, unter denen sie der Dichter sieht und die der ersten Hälfte der Versgruppe ihr Gepräge geben, fassen sie nicht als gefügtes Bild, sondern als elementares Geschehen, als Naturvorgänge. In den nächsten vier Versen rücken dann wohl die Waschtröge ins Blickfeld, aber nicht als beherrschender Akzent in der Landschaft, sondern als dingliches Symbol, das den Gedanken an den Frieden evoziert. Sie eröffnen also den Blick in die historische Tiefe des Geschehens, nicht in die Tiefe einer Landschaft und haben damit primär zeitliche, nicht räumliche Funktion, auch wenn sie als Fixpunkt für das zentrale Ereignis des 22. Buches dienen. REINHARDT 48

hat in dem Mauerkampfkapitel seines Iüasbuches dargelegt, wie in diesem Teil der Ilias äußere Motive (neue, durch die Mauer bedingte Kampfarten, detaillierte Angaben über technische Daten der Befestigungsanlage) mit einem inneren Motiv, dem sich entwickelnden Zerwürfnis zwischen Hektor und Polydamas, vereinigt sind. Eine ähnliche Verknüpfung von Äußerem und Innerem besteht, wie bereits deutlich geworden ist, auch zwischen Hektor und der Stadt, die meist aus der Perspektive der Ebene, als Mauer, Stadttor oder Turm, bildlich realisiert wird. Daß diese drei Elemente neben dem 3. Buch (Teichoskopie) in Ζ und X, also den beiden Hektor-Büchern, besonders häufig erwähnt werden, hat natürlich seinen sachlichen Grund. Beide Bücher spielen (wie auch Γ) in der Stadt bzw. auf oder an der Mauer. Stadt und Mauer machen in ihnen einen wesentlichen Bestandteil der dichterischen Realität aus, aber nicht nur als Kulisse, sondern als funktionale Faktoren im epischen Geschehen. 45

Lyrik 9 2 ff. T R E U S Einwand gegen S C H A D E W A L D T , nicht die Helden, sondern nur der Dichter und seine Zuhörer schauten die Zeit des Friedens, trifft nicht, denn Homer geht es um die Darstellung objektiver Wirklichkeit, nicht um die Frage, ob und wieweit sie dem Menschen bewußt wird. " Ilias 277.

60

Epos

Das Skäische Tor, der am häufigsten genannte Teil der Stadtbefestigung, ist die wichtigste Verbindung zwischen Stadt und Ebene. Von hier aus fahren Priamos und Antenor in die Ebene (ττεδίουδε Γ 263) zum Vertragsschluß, ziehen Hektor und Paris in den Kampf ( H l ) ; hierher kommt Hektor bei seinem Besuch in der Stadt (Z 237) 47 , und hier trifft er Andromache, als er die Stadt eben verlassen will (Z 392ff, wieder mit der Richtungsangabe ττεδίουδε). Soll die Mauer weniger der räumlichen als der optischen (oder akustischen) Verbindung zwischen drinnen und draußen dienen, wird der Blick auf den Turm gelenkt, der einen besonders guten Blick auf das Kampffeld gewährt. Der Turm ist naturgemäß Ort der Mauerschau (έττί Tfúpycp Γ 153, dazu Erwähnung des Skäischen Tores 145. 149), „auf dem T u r m " weilt Helena, als Aphrodite zu ihr tritt (Γ 384), und zum Turm ist Andromache geeilt, um sich von der Bedrängnis der Troer mit eigenen Augen zu überzeugen (Z 373. 386). ,,Vom T u r m " schließlich dringt auch das Wehgeschrei an ihre Ohren, als Hektor gefallen ist (X 447). Immer dient der Turm sozusagen als Schaltstation, über die der Kontakt zwischen Stadtinnerem und Kampffeld hergestellt wird. In den Andromacheszenen bezeichnet der Gegensatz drinnen — draußen zudem die beiden Lebensbereiche von Frau und Mann. SCHADEWALDT48 hat schön gezeigt, wie sinnvoll der Dichter im Vorspiel der Homilie die beiden Gatten führt: Sie verfehlen einander, weil jeder den andern in dessen Bereich aufsucht. Schon in seinen letzten Worten an Andromache hatte Hektor die Ιργα von Mann und Frau unmißverständlich getrennt (Z 490ff). Räumlich fixiert erscheint diese Trennung in dem Gegensatz ττύργω — Ι ν δ ο ύ . . . εττ' ούδόν ιών (Ζ 373ff) und noch krasser X 4 3 9 f : Hektor blieb εκτοθι ττυλάων, Andromache aber webte μυχω δόμου ύφηλοΐο (dazu 460ff: Als Andromache das Wehgeschrei vernommen hat, stürzt sie aus dem Haus zum Turm). So vermittelt die Mauer immer wieder zwischen drinnen und draußen. Das schließt aber nicht aus, daß sie zugleich auch die Grenze zwischen Stadt und Ebene — und das bedeutet in der Ilias : zwischen Rettung und Gefahr — bezeichnet. Deshalb bittet Andromache den Gatten, επί ττύργω zu bleiben (Z 431), deshalb drängt Priamos den Sohn : εΐσέρχεο τείχος (Χ 56) und überlegt sich Hektor, ob er sich nicht besser hinter Tor und Mauer zurückziehen solle (X 99). Der vermeintliche Deiphobos bekommt ein Lob, weil er es gewagt hat, τείχεος έξελθειν, während die anderen „drinnen" blieben (X 237), und als 47

Zum Besonderen dieser Stelle (Verdopplung und Erweiterung des Ankunftmotivs) AREND 3 2 .

48

Homer 215 f.

Ilias

61

Hektor den Trug durchschaut, erfaßt er seine Situation in einem einfachen Gegensatz: Deiphobos ist êv τείχει (und damit in Sicherheit), ihn aber hat Athene getäuscht, der Tod ist ihm nahe (X 299f). Das heißt, Hektor begreift sich als ein „Ausgesetzter"49. Überblickt man die angeführten Szenen von der AndromacheBitte über Hektors Monolog bis hin zur Deiphobosszene, wird deutlich, wie eng die Mauern Troias (samt Turm und Skäischem Tor) mit Hektors Schicksal verknüpft sind. Natürlich ist Hektor als der beste Troerheld für seine Stadt verantwortlich. Gerade dieser Zug tritt in der Ilias deutlich in Erscheinung50. Nun gehört es aber zur Darstellungsweise der Ilias, daß innere Vorgänge nicht direkt beschrieben, sondern gleichsam in ein äußeres Medium projiziert werden. Ein solches Medium ist auch die troianische Stadtmauer. Unbeschadet ihrer sachlichen Notwendigkeit für das Iliasgeschehen, dient sie dem Dichter immer wieder dazu, die enge Bindung zwischen Hektor und Stadt poetisch zu realisieren. Da aus diesem Blickwinkel die Schwerpunkte in Γ, Ζ und X liegen, hat die Mauer darüber hinaus für die Rhythmisierung des Geschehens und damit für die Gesamtkomposition eine gewisse Bedeutung. Nach der Teichoskopie, einem der wichtigsten Bestandteile der Exposition, wird sie zum Ausgangspunkt der ersten umfassenden Bewegung der Ilias, die erst im 15. Buch am Meer selbst zum Stillstand kommt: Paris und Hektor verlassen die Stadt (Ende Z, Anfang H), womit der Kampf in sein entscheidendes Stadium eintritt. Gegen Ende nimmt sie die Bewegung, die sie aus sich entlassen hat, gleichsam wieder in sich zurück: Die Troer wagen nicht mehr, „außerhalb von Stadt und Mauer" zu bleiben (Φ 608)51. So fungiert die Mauer als Ausgangspunkt der Bewegung und als Endpunkt der Gegenbewegung. Zudem sind die wichtigsten Hektorszenen, der Abschied von Andromache (Ζ) und den Eltern (X), der zuversichtliche Auszug (Anfang H) und die entmutigte Rückkehr (Anfang X), durch das Motiv der Mauer als gemeinsamer Szenerie auch äußerlich miteinander verbunden. Das Skäische Tor wird dabei zu Hektors Schicksalstor. Nicht nur ereilt ihn in der Nähe des Tores der Tod, hier tritt auch die Versuchung an ihn heran, seiner Bestimmung untreu zu werden, einmal in der Bitte des Vaters, in die Stadt hineinzukommen, dann in den von ihm selbst angestellten Erwägungen. Nur einmal wird die enge Bindung zwischen Tor und Hektor gesprengt, in der Voraussage des sterbenden Helden 49

60 61

Ilias 425 spricht vom „Preisgegebenen". Die Deutung seines Namens in diesem Sinn („Halter") ist durchaus möglich. Schon vorher, in Polydamas' Warnung (Σ 255. 266. 274f) und dann in Hektors Erwiderung (286f), wird die rückläufige Bewegung vorbereitet. REINHARDT,

62

Epos

an Achilleus, auch er werde am Skäischen Tor fallen (X 360) : Das ineinander verflochtene Schicksal der beiden Helden findet in dem beiden gemeinsamen Ort des Todes seinen adäquaten Ausdruck.

Das

Meer

Den natürlichen Gegensatz zu den Mauern Troias bildet auf der gegenüberliegenden Seite das Meer, an dessen Strand die Griechen ihre Schiffe an Land gezogen haben. Wie dort der Blick meistens auf einen bestimmten Punkt, nämlich Skäisches Tor und Turm, gelenkt wurde, so konzentriert sich auch hier die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle: das Schiffslager. Zwar tritt es erst relativ spät, in der Beratungsszene zwischen Nestor, Agamemnon, Odysseus und Diomedes Anfang 2, anschaulich ins Bild: die in mehreren Reihen staffeiförmig auf den Strand gezogenen Schiffe; trotz der (relativen) Größe der Fläche (εύρύς . . . αιγιαλός, ήιόνος στόμα μακρόν 33f/36) lassen die die Bucht einschließenden ακραι offenbar nicht Platz genug, alle Schiffe nebeneinander anzuordnen. Jedoch ist das Schiffslager dem Hörer schon seit längerem bekannt, auch wenn es erst in I räumlich konkretisiert wird. Ν 681 f ist von den Schiffen des Aias und Protesilaos die Rede (der Zusatz θϊν' ?φ' αλός ττολιήξ είρυμέναι entspricht fast wörtlich 2 30f), Anfang Λ kommt Eris zum Schiff des Odysseus, das in der Mitte des Lagers liegt — von ihm in Rufweite dann die Schiffe des Aias und Achilleus am äußersten Rand (Θ 220ff ist die gleiche Situation mit Agamemnon geschildert) —, und A 329f treffen die beiden Herolde Achilleus bei seinem Zelt und Schiff sitzend. Dieses „Weiterentwickeln und innere Bereichern zunächst allgemein umrissener Beschreibungen" 1 trifft grundsätzlich auch für die Darstellung der troianischen Stadtmauer zu, die zwar schon im Γ in ihrem Aussehen klar erfaßt ist, aber erst in den Hektorszenen von X ihre ganze Bedeutung entfaltet. In genauer funktionaler Entsprechung dazu stehen die wichtigsten Verse über das Schiffslager (2 30 ff) an jener Stelle, an der nach dem Fall der Griechenmauer die Gefahr unmittelbar ans Lager herangerückt ist: Am Ende von O •— nach der Verzögerung durch den Göttertrug — schleudert Hektor den Feuerbrand ins Schiff des Protesilaos. Diese durch die Ponderierung der Kräfte bereits vorgegebene Bedeutung des Schiffslagers für die Komposition des Ganzen wird noch erweitert durch die Funktion, die dem Meer als wichtiger Begrenzung des Kampfplatzes zukommt. Auch diese Grenze ist, darin ebenfalls 1

SCHADEWALDT,

II. stud.

120

Anm.

6.

63

Ilias

der troianischen Mauer vergleichbar, in zweierlei Hinsicht durchlässig. Zum einen gestattet sie den Blick in weitere Räume, bereichert sie den Schauplatz des realen Geschehens um einen vorwiegend geistigseelischen Horizont, der vor allem dann in Erscheinung tritt, wenn die Griechen an die Heimat jenseits des Meeres denken (der übers Meer blickende Achilleus A 350. Ψ 143, Chryses am Strand A 34f). Zum andern verläuft hier für die Griechen die Grenze zwischen Gefahr und Rettung. Wie an die Troer die Versuchung herantritt, sich hinter die Mauern zurückzuziehen, so an die Achaier, das Heil auf den Schiffen zu suchen; wie Polydamas zum Rückzug hinter die Mauern rät, so Agamemnon zur Abfahrt mit den Schiffen. Das geschieht in der Ilias insgesamt dreimal: in der ireïpoc des B, unmittelbar vor der Gesandtschaft an Achilleus Anfang 1 (B 140f = I 27f) und, durch die individuelle Ausführung hervorgehoben, nach dem Fall der Mauer Anfang 2: nur hier macht Agamemnon detaillierte Angaben über den Aufbruch (75a nimmt 31b/32a aus der Beschreibung des Schiffslagers wieder auf), nur hier findet das Meer explizite Erwähnung (άγχι θαλάσσης . . . είς όλα δΐαν 75f)2. Abgesehen von dieser Beratungsszene einschließlich der Beschreibung des Schiffslagers tritt das Meer jedoch im ganzen Mittelteil der Ilias stark zurück, und selbst im 15. Buch, in dem Hektor sein Ziel erreicht, spielt es eine auffallend geringe Rolle. Wohl stellt es die natürliche Grenzlinie dar, deren Erreichen letztes Ziel der großangelegten Hektorhandlung, also des mittleren Iliasdrittels, ist; wohl wird hier die Gegenbewegung des letzten Drittels ausgelöst, die ihrerseits erst an den Mauern Troias zum Stillstand kommt, aber bildhaft realisiert wird das Meer außer der 2-Partie an keiner Stelle der epischen Erzählung. Nur im A und dann wieder in den letzten Büchern tritt es deutlicher in Erscheinung. Es genügt, aus dem ersten Buch an die analogen Chryses- und Achilleusszenen zu erinnern, an das Reinigungsopfer und die Fahrt nach Chryse, aus den letzten Büchern an die Achilleusszenen, die den Helden am Strand des Meeres zeigen (T 40f. Τ 59ff. 143. Qllff). Damit ergibt sich in kompositorischer Hinsicht eine ziemlich genaue Entsprechung zu den Mauern Troias, die ja ebenfalls nur im ersten und letzten Iliasdrittel deutlich hervortreten und dazwischen fast vergessen zu sein scheinen. Mauer und Meer als äußere Begrenzungen des Kampffeldes ergänzen sich also nicht in dem Sinn, daß das eine in den Vordergrund rückt, wenn das andere aus dem Blick kommt, vielmehr treten beide, die Spannung zwischen den feindlichen Mächten verdeutlichend, etwa gleichzeitig einander gegen2

Zur Beziehung der drei Szenen Ilias 2 2 0 und R E I N H A R D T , Ilias

SCHADEWALDT, 123.

II. stud.

126,

auch

VON DER M Ü H L L ,

64

Epos

über, während die mittleren Partien das Geschehen vorwiegend um die Griechenmauer3, eine mittlere Grenzlinie, gruppieren und die Ränder unscharf werden lassen. Die kompositorische Funktion der troianischen Mauer für die Polarisierung und Rhythmisierung des Geschehens wird also ergänzt durch die analoge Funktion des Meeres. Eine letzte formale Parallele zwischen Meer und Mauer ergibt sich aus der engen Bindung zwischen Achilleus und dem Meer. Wie beim Haupthelden der Troianer die Verbundenheit mit dem Schicksal der Stadt immer wieder in der szenischen Kombination Hektor — Mauer (Turm, Tor) zum Ausdruck kam, so erscheint der Hauptheld der Griechen in besonders engem Kontakt zum Meer. Allerdings ist man von einer auch nur annähernd einheitlichen Auffassung dieser Szenen weit entfernt. Denn im Unterschied zur Stadtmauer, einem epischen Requisit, möchte man beim Meer auf eine innere Beziehung zwischen Mensch und umgebender Natur nur ungern verzichten und sie als Ausdruck eines bestimmten Naturgefühls werten 4 . Um in dieser Frage objektive Kriterien zu gewinnen, wird eine Analyse aller Stellen, an denen das Meer im epischen Bericht erscheint, erforderlich sein. Am häufigsten begegnet die Wendung „am Meer entlang", und zwar als Wegangabe. So gehen die beiden Herolde Talthybios und Eurybates παρά θϊν' αλός άτρυγέτοιο (A 327b = 316b), um Briseis aus Achills Zelt zu holen, und ganz ähnlich heißt es 1182 von den drei Unterhändlern, die zu Achilleus unterwegs sind: τ ώ δε βάτην παρά θΐνα πολυφλοίσβοιο θαλάσσης. Da das Meer im alten Epos nur in ganz seltenen Fällen ohne Beiwort steht, ist das bereits eine äußerst knappe Ausdrucksweise. Beiden Stellen gemeinsam ist die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel; jedoch fällt auf, daß der Dichter überhaupt eine Angabe über den Weg macht und sich nicht wie sonst mit der Schilderung der Ankunft begnügt 5 . Trotzdem wird man dahinter 3 4

5

Zu ihrer das Kampfgeschehen gliedernden Funktion B E T H E I 142 f. Der Pluralismus der Meinungen spiegelt sich in der Beurteilung der beiden A-Szenen 34ff und 348ff am deutlichsten wider. WOERMANN, Natursinn 17 spricht von „dem Gange der Handlung entsprechenden Lokalbezeichnungen", MOTZ 55 von einer „tiefempfundenen Übereinstimmung von Handlung und Lokal", wobei das Meer das „äußere Abbild des tief aufgeregten Herzens" sei. BIESE, der jedes persönliche Verhältnis des homerischen Helden zur Natur leugnet, nimmt eine Zwischenstellung ein, wenn er an eine unreflektierte, instinktmäßige Anpassung des Lokals an den Helden denkt (Naturgefühl 19). Von den Neuen scheint T R E U eher Biese zuzuneigen, denn er spricht derartigen Ortsangaben einen Stimmungsgehalt ab und betont, daß die starke Bildhaftigkeit vor allem auf Gestus und Verhaltensweise der beiden Gestalten zurückzuführen sei (Lyrik 88ff). L E S K Y dagegen möchte an der Möglichkeit festhalten, daß eine Beziehung besteht zwischen dem „bewegten Inneren des Menschen" und der Größe der Natur (Thal. 187). V g l . AREND 28.

Ilias

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keine tiefere Absicht vermuten wollen. Eine innere Beziehung zwischen Aktion und Meer ist nicht feststellbar, άέκοντε A 327 bezieht sich auf den Auftrag und motiviert nicht den Gang der Herolde am Meer entlang. Ähnlich steht es mit den Opferszenen am Strand. Als „Landschaft" hat das Meer im kultischen Bereich nicht zu fungieren, dementsprechend unanschaulich bleibt seine Konkretisierung. A 314 werfen die Griechen auf Agamemnons Geheiß die λύματα ins Meer (είς άλα), Τ 267 f tut Talthybios mit dem geschlachteten Eber dasselbe (ττολιής αλός lç μέγα λαϊτμα). Bezeichnend für beide Stellen ist die Wahl des Terminus αλς („Salzflut"), der am wenigsten von allen homerischen Meerbezeichnungen räumliche Valenz besitzt; λαϊτμα (in der Ilias nur Τ 267) ist sicher in Zusammenhang mit dem das Opfer aufnehmenden Meer gewählt (anders dann die Verbindungen πέραν λαϊτμα u. ä. in der Odyssee). — Selbstverständlich gehören auch die Opferszenen zum neutralen epischen Bericht; zum Thema Naturgefühl tragen sie nichts bei. Mit kräftigeren Tönen schildert Homer die Heimfahrt der Griechen von Chryse, nachdem Apollons Zorn besänftigt ist: die zu beiden Seiten des Buges laut „jauchzende" (ΐαχε), wallende (ττορφύρεον) Woge, das seinen Pfad ziehende Schiff (A 480ff). Nachdem die Hinfahrt mit einem kurzen Hinweis (312) abgetan und bei der Ankunft auf der Insel das Landemanöver detailliert, aber wie immer bei Homer außerordentlich sachlich geschildert worden ist, überrascht der Wechsel im Ton der Darstellung. Er entspricht natürlich dem Stimmungsumschwung der nach erfolgreichem Unternehmen erleichterten Besatzung. Trotzdem lassen sich die Verse nicht im Sinn einer mitfühlenden Natur interpretieren, wie WOERMANN und LESKY möchten, ττορφύρεοί ist auch die Skamandroswoge, die Achilleus hinwegzuraffen droht (Φ 326), oder der Tod (E 83 u. ö.), Ιάχειν kann genausogut das Kampfgeschrei (Δ 506 u. ö.), das Schmettern der Trompete (Σ 219), das Erdröhnen des Gestades (Φ 10) bezeichnen. Die Übersetzung „jauchzen" (TH. V. SCHEFFER) unterlegt dem Verb bereits eine aus den übrigen Belegen nicht abzuleitende menschliche Verhaltensweise. Beide Ausdrücke sind in ihrem Stimmungswert nicht festgelegt, in anderem Zusammenhang könnten die Verse durchaus den Charakter furchtbarer Bedrohung annehmen®. Die Atmosphäre sorgenfreier Helligkeit ergibt sich an unserer Stelle aus den sachlichen Gegebenheiten. Zudem stehen die Verse in einem Komplex, der eins der wichtigsten Themen des A, den Zorn Apollons, zum Abschluß bringt und 6

Einen anderen atmosphärischen Wert haben sie bereits in der Odyssee bei Telemachs Abfahrt nach Pylos (ß 427ff). 5

Eiliger, Darstellung

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nach den düsteren Farben der vorhergehenden Szenen zur freundlichhellen Götterversammlung im Olymp überleitet. Damit liefern sie wieder ein gutes Beispiel für das homerische Verfahren, Seelisches nicht zu beschreiben — über die Stimmung der Besatzung verliert der Dichter kein Wort —, sondern an Dingen sichtbar werden zu lassen. Aufschlußreicher sind die beiden Szenen in A, die Chryses und dann Achilleus am Strand des Meeres zeigen. Der Priester und der Held suchen die Einsamkeit auf (άπάνευθε κιών 35, νόσφι λιασθείς 349), und hier, fern von den Menschen, beten sie, der eine zu Apollon, der seinen Tempel auf der Chryseinsel hat, der andere zur Mutter, die im Meer haust. Der Strand ist also nicht beliebige Szenerie, sondern notwendig, um die Verbindung zum chryseischen Apollon und zur Mutter herzustellen. Zu Recht erinnert LESKY7 an Ψ 143: Achilleus betet zum Spercheios und blickt dabei επί οϊνοπα πόντον, was doch wohl heißt: in die Richtung, in der seine Heimat liegt. Und bevor Telemachos aufbricht, um über seinen Vater Erkundigungen einzuziehen, geht er abseits an den Strand des Meeres und betet zu Athene (ß 260f). Mag in dieser Szene die Verbindung von menschlicher Aktion und Lokal auch nicht ganz so zwingend sein wie an den beiden Α-Stellen (Athene hat an sich mit dem Meer nichts zu tun) ; mögen auch im Unterschied zu A Angaben über die besondere seelische Verfassung des Helden fehlen (άκέων A 34, δακρύσας 349, ähnlich auch ε 82ff. 151 ff), die Wahl des Schauplatzes ist durchaus sinnvoll, da die Göttin Telemachos eine Aufgabe auf dem Meer zugewiesen hat (α 280f). In allen diesen Fällen geht es dem Dichter also zunächst einmal um die sachliche Notwendigkeit, um die „Richtigkeit" der landschaftlichen Situierung der jeweiligen Szene. Nun wird man freilich bemerken, daß beide Α-Darstellungen im Detail stark differieren. Der Lokalangabe παρά θϊνα πολυφλοίσβοιο θαλάσσης bei der Episodenfigur des Priesters entspricht bei Achilleus θΐν' εφ' όλος ττολιής. Beide Halbverse dienen der Angabe des Ziels, und demgemäß rückt das küstennahe Meer ins Blickfeld, wie die Wahl der Termini für das Meer und der Beiwörter zeigt8. Im letzten Fall jedoch schließt sich ein zweiter Halbvers an: όρόων έπ' άπείρονα ττόντον. Das heißt, Achills Gedanken überspringen den nächsten Umkreis (bei Chryses durch die im Gebet genannten Lokalitäten Chryse, Killa und Tenedos bezeichnet), sein Blick ist auf die in der Ferne sich verlierende See gerichtet (πόντος bedeutet bei Homer im Unterschied ' Thal. 186. Einen Überblick über die homerischen Bezeichnungen des Meeres mit den spezifischen Unterschieden gibt L E S K Y , Thal. 8ff.

8

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zu θάλασσα und άλς die hohe See, eine Verbindung mit πολύφλοισβος oder πολιός wäre wenig sinnvoll und kommt nicht vor) 9 . Man braucht nur die „unermeßliche See" in die Chrysesszene und das „lautrauschende Meer" in die Achilleusszene zu versetzen, um zu ermessen, wie genau jede Wendung an ihrer Stelle sitzt. Gewiß ist der formelhafte Charakter der Ausdrucksweise an beiden Stellen nicht zu leugnen, aber auch eine Formel kann treffend und weniger treffend eingesetzt werden. Daß hier alles „stimmt", liegt weniger daran, daß Griechenland weiter entfernt ist als Chryse oder daß die zweite Szene nach dem Gesetz der Klimax eine Steigerung gegenüber der ersten darzustellen hätte. LESKY sieht in dem απείρων das Pendant zum „maßlosen Schmerz des gekränkten Helden" und wertet die Stelle als Beispiel für das „sympathetische Naturgefühl" bereits in der Ilias10. Sosehr die Erklärung auf den ersten Blick einleuchtet — der Schmerz des beleidigten Priesters muß nicht geringer gewesen sein, auch wenn es sich um eine Nebenfigur handelt. Eher wird man an beiden Stellen an einen bewußt eingesetzten Kontrast denken müssen. Auch sonst bedient sich der Dichter dieses Mittels, um das Besondere einer äußeren oder inneren Situation deutlich zu machen. Wie das Schweigen der in den Kampf ziehenden Griechen um so spürbarer wird, je lauter sich die Troer gebärden (Γ Iff), so wird auch das Schweigen des Priesters, ein Vorbote des bald hereinbrechenden Unheils, im Kontrast mit dem laut rauschenden Meer poetisch realisiert11 ; und wenn Achilleus beim Gebet an seine Mutter über die unendliche See blickt, tritt das μινυυθάδιου aus der Einleitung des Gebets erst recht kraß hervor, jener Zug, der das Schicksal des Helden entscheidet. Natur und Landschaft erfüllen also sehr wohl eine Funktion, aber sie stehen primär nicht im Dienste der Psychologie, sondern erhellen auf indirektem Wege einen Sachverhalt, den Homer nicht zu beschreiben pflegt. Die letzten Bücher der Ilias zeigen Achilleus noch viermal am Meer. Wie schon im A spielt auch in diesen Szenen das Motiv der Einsamkeit eine gewisse Rolle (στάς άπάνευθε πυρής Ψ 141, δινεύεσκ' άλύων Ω 12), aber in ihrem Mittelpunkt steht der Schmerz um den toten Freund (σμερδαλέα ίάχων Τ 41, βαρύ στενάχων Τ 60, όχθήσας Ψ 143, der schlaflose Achill Ω 3ff). Darauf scheint alle Aufmerksamkeit konzentriert zu sein, denn die lokalen Angaben fallen zum Teil noch knapper aus als bei den nebensächlichen Erwähnungen des 9 10

11

Vgl. L E S K Y S Zusammenstellung der Meeres-Epitheta Thal. 155ff. Besonders Thal. 185 (auch im Blick auf e l ö l f f ) : „Antwortet das Meer mit seinem dumpfen Brausen dem Leid des Greises, dem Grolle des Helden, nimmt es mit seiner Unendlichkeit die Sehnsucht des Odysseus auf ? Sind dies die Gründe, weshalb die Menschen in leidbewegten Stunden an das Gestade der See gehen ?" In diesem Sinn auch TREU, Lyrik 91. 5»

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Meeres im Zusammenhang mit Botengängen (A 327. I 182, s. o. 64) : Τ 40 und Ω 12 ist sogar auf das Beiwort verzichtet. Auch Ψ 143 geht über A 350 nicht hinaus. An beiden Stellen gleitet der Blick über die weite See (έττ' άπείρονα ττόυτου A 350, έττΐ οίνοττα πόντου Υ143), und beide Male schließt sich unmittelbar ein Gebet an ; in Ψ steht der Vater im Mittelpunkt, in A die Mutter. Die einzige Stelle, die noch einmal aufhorchen läßt, ist Ψ 59ff: Achilleus stöhnend am Ufer des Meeres, diesmal aber nicht allein, sondern mitten unter den Myrmidonen, ferner ein Zusatz, der in Form eines Relativsatzes das Beiwort des Meeres, ττολύφλοισβος, in Bewegung umsetzt: εν καθαρω, δθι κύματ' εττ' ήιόνος κλύζεσκον12. Sicher sollen die Verse keinen neuen Schauplatz einführen 13 , aber gerade deshalb drängt sich die Frage auf, warum der Dichter an dieser Stelle in so auffälliger Weise vom Meer spricht. Wieder könnte man versucht sein, die Verse im Sinne eines sympathetischen Naturgefühls zu verstehen : Das Meer stimmt in die Klagen der Myrmidonen mit ein. Eine solche psychologisierende Betrachtungsweise stellt jedoch Beziehungen her, die nur unter der Voraussetzung sinnvoll sind, daß sie den am Geschehen beteiligten Personen auch bewußt werden. Davon kann aber weder an unserer Stelle noch sonst in der Ilias die Rede sein; die Klagenden nehmen vom Rauschen des Meeres keinerlei Notiz. Jedoch wäre es denkbar, die gegen das Festland schlagenden Wogen als Entsprechung zum schweren Stöhnen des Helden zu deuten, als ein Mittel, den Ausdruck des Seelischen zu steigern, nur eben nicht in Form explikativer Beschreibung. Dazu kommt die Kontrastwirkung dieses „Landschaftsbildes" im epischen Kontext. Nach dem Leichenmahl gehen die einen in ihre Zelte, um zu schlafen (58), als wäre nichts geschehen, der Pelide aber liegt am Strand εν καθαρω, also abseits von bergenden Zelten und Schiffen. Dann überkommt ihn — sehr wirkungsvoll vor dem Hintergrund des rauschenden Meeres — der erquickende Schlaf, in dem der tote Freund ihm erscheint. Der besonderen Bedeutung dieses Schlafs entspricht die besondere Behandlung der äußeren Gegebenheiten. Eine abschließende Synopse der wichtigsten Meeresszenen der Ilias zeigt eine auffällige Beziehung zwischen Achilleus und dem Meer. In den für ihn entscheidenden Situationen wird der Held am Strand vorgeführt: der zürnende nach dem Briseisraub, der vom Schmerz gepackte nach dem Tod des Freundes. Eine ähnliche lokale Bindung hatten wir bei Hektor feststellen können. Daß es im einen Fall die 12

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Damit vergleichbar ist Ξ 392 : das gegen Zelte und Schiffe spülende Meer. Hier steht die Aktivität des Elements eindeutig in Zusammenhang mit Poseidons Eingreifen in den Kampf (390, vgl. F r a n k e l , Gleichnisse 102 Anm. 6). Vgl. Ameîs|Heïitzî ζ. St.

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troianische Stadtmauer mit ihren Türmen und Toren ist, im andern das Meer, ist in den sachlichen Voraussetzungen der Ilias begründet. Darüber hinaus jedoch macht sich auch hier wieder die Fähigkeit des Iliasdichters bemerkbar, nicht nur „seine Gestalten in eine angemessene räumliche Umgebung zu stellen" 14 , sondern diese äußeren Gegebenheiten auch in den Dienst der Menschendarstellung zu nehmen. Kern der homerischen Hektorgestalt ist die Sorge um Troia. Sie findet ihren bildhaften Ausdruck in der häufigen Kombination Hektar— Mauer. Die Gestalt Achills ist anders strukturiert. Weder kämpft er für seine Vaterstadt, noch sind die Troianer in dem Sinn seine Feinde, in dem umgekehrt die Griechen Feinde der Troianer sind, denn einen Existenzkampf führt Achill nicht einmal nach Patroklos' Tod. Sein Wesensmerkmal ist die menschliches Maß sprengende Größe, μεγάθυμος heißt er mit ganz besonderem Recht, denn groß ist er als Kämpfer, groß aber auch in seinem Zorn und in seinem grenzenlosen Schmerz. Und diese Größe isoliert. Im Gegensatz zu Hektor, der die Einsamkeit erst in der Stunde seines Todes kennenlernt, ist Achilleus von vornherein der Einsame, der sich in seinem Groll bewußt abseits stellt. Für seine Gestalt wird man sich kaum eine geeignetere Landschaft denken können als das ebenfalls große und stürmische, grenzenlose und unberechenbare Meer. Also doch die Übereinstimmung von Seele und Landschaft? Ja und nein. Nein, wenn man die Vorgänge psychologisiert und Achill bewußt die seinem Wesen entsprechende Umgebung aufsuchen läßt; ja, wenn man darin eine tiefere Schicht homerischer Sachlichkeit sieht, ein Mittel, das direkt nicht beschreibbare Wesen des Menschen im Reflex seiner Umgebung aufleuchten zu lassen. Hier schließt sich der Ring. Meer und Mauer sind nicht nur im Handlungsablauf mitgegeben, sie schaffen auch übergreifende, das Geschehen ordnende und zugleich deutende Bezüge, indem sie ein klärendes Licht auf das Wesen der beiden Haupthelden werfen und damit zur inneren Motivation des Geschehens beitragen. Einen ganz anderen Typus von Meerbildern, deutlich vom eben besprochenen abgesetzt, aber von ähnlicher Geschlossenheit, repräsentiert die prächtige Darstellung von Poseidons Palast und Meerfahrt (N 21ff) sowie die knappe Skizze von Thetis' Höhle (Σ 402f). War es bislang der Mensch, der in einer Ausnahmesituation am Meer gezeigt wurde, sind es jetzt Götter, die mit dem Meer in besonders enger Verbindung stehen. Daß sie demgemäß als im Meer hausend vorgestellt werden, ist selbstverständlich, weniger, daß sich ihre Be14

TREU,

Lyrik 88.

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hausungen grundsätzlich von solchen auf der Erde nicht unterscheiden. Die κλυτά δώματα Poseidons funkeln golden15, und έν σττήι γλαφυρφ der Thetis hat Hephaistos die schönsten Kunstwerke geschmiedet. Das heißt, was bislang Element war und als solches auch dargestellt wurde, erscheint jetzt als mythisches Gebilde. Die vorher klar eingehaltene Grenze zwischen Meer und Erde verwischt sich, denn „elementare" Unterschiede, etwa zum Alkinoospalast (δώματα κλυτά η 82), zur Kalypso- oder Polyphemhöhle (εν σττηι γλαφυρφ ι 476. μ 210, ähnlich ε 68. 194), gibt es nicht 16 . Während das Meer im Zusammenhang mit dem Menschen weder eine nennenswerte Aktion noch Reaktion zeigte, wird es durch die Gegenwart des Göttlichen offensichtlich aktiviert. Als Thetis mit den Nereiden die Höhle verläßt, um ihren Sohn zu trösten, „bricht sich die Flut des Meeres rings um sie" (Σ 66f) ; als sie mit Iris zu Zeus geht, „weicht die Flut des Meeres auf beiden Seiten vor ihnen zurück" (Ω 96). Motivisch reicher ist die Darstellung von Poseidons Fahrt von Samothrake über Aigai nach Troia, der denkwürdige Auftakt für die jetzt einsetzende größere Aktivität des Gottes, der eigentlich erst mit diesen Versen vom Dichter eingeführt wird17. Die Meerestiere kommen aus ihren Schlupfwinkeln und „erkennen" ihren Herrn, das Meer tritt „freudig" auseinander, die Pferde fliegen dahin, ohne daß die Achse naß wird (N 27ff). Hier figuriert das Meer tatsächlich als Partner des Gottes und bekommt Eigenschaften zugesprochen, die über seinen Elementcharakter hinausgehen : Tier und Element zeigen menschliche Reaktionen. So „natürlich" sich sonst bei Homer die Natur dem Menschen darstellt, in enger Kommunikation mit dem Gott kann sie mythische Züge annehmen. Hier ausnahmsweise hat F. T H . VISCHERS berühmtes Wort, bei den Griechen hätten die mythischen Bewohner der Natur die Landschaft aufgesogen18, Gültigkeit. Jedoch ist die Natur, die uns sonst bei Homer begegnet, anderer Art. Ein resümierender Rückblick auf den Schauplatz der Ilias bestätigt auch für die Landschaftsdarstellungen im epischen Geschehens15

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Zur vierfachen Wiederholung von „Gold" und „golden" — „the simplest and most popular way of giving emphasis" —, um Poseidons Fahrt ganz in Licht zu tauchen, J. T H . K A K R I D I S , Homeric Researches, Lund 1949, 121f. Mit Recht weist L E S K Y , Thal. 93f darauf hin, daß die Schilderung von Poseidons Meerfahrt so gegeben wird, als reise Poseidon auf dem Land. Als Gegenstück könnte etwa Λ 531 ff dienen, wo die Achse von Hektors Streitwagen vom Blut der Gefallenen bespritzt wird, während Poseidons Wagen keinen Tropfen abbekommt. Zur Bedeutung der Szene für die Gesamtkomposition der Ilias R E I N H A R D T , Ilias 279 und CH. MICHEL, Erläuterungen zum Ν der Ilias, Bibl. klass. Altertumswiss. N. F. 2. R. 40, Heidelberg 1971, 29 ff. Ästhetik II, München 2 1922, 543: „Der Gott sog die Landschaft in sich auf."

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bericht jene Merkmale, die sich bei der Schildbeschreibung als konstitutiv herausgestellt haben. Fast alle szenischen Angaben beschränken sich auf die Form der Abbreviatur, die viel zu wenig anschauliches Beiwerk aufweist, als daß von einem Ausmalen des landschaftlichen Hintergrunds gesprochen werden könnte. Aber auch in ihrer knappsten Ausformung sind solche Angaben nicht beliebige Zutat, sondern stehen in enger Beziehung zur Handlung, sei es, daß sie als Fixpunkte, Schnittpunkte oder Marksteine für Bewegungen dienen (Ziel oder Weg, seltener Ausgangspunkt), sei es, daß sie allgemein den Ort oder Raum eines Geschehens bezeichnen19. Auch wenn die Wendungen, mit denen Landschaft angedeutet wird, häufig typischen Charakter haben oder zumindest typische Elemente aufweisen, überwiegt bei einem erstaunlich großen Nuancenreichtum der differenzierte Einsatz der künstlerischen Mittel das Formelhafte. Das Meer, dessen farbenreiche Darstellung im alten Epos seit je bewundert wurde, nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als die Beziehung zum Menschen bei ihm besonders eng, der seelische Gehalt der am Meer spielenden Szenen besonders groß ist. Ohne Zweifel kommt dem Meer, das der in die Einsamkeit ausweichende Mensch aufsucht, ein anderer Stellenwert zu als etwa dem Skamandros, an den ein Held aus der Schlacht entrückt wird. Trotzdem haftet den Meerszenen wegen der wiederkehrenden und sich gegenseitig bedingenden Motive von Einsamkeit und Schmerz auch etwas Typisches an, das vor einer subjektiven Ausdeutung warnen sollte. Insgesamt jedoch sind viele landschaftliche Aussagen der Ilias mehr als bloße Lokalangaben, insofern sie in der bildhaften Gegenüberstellung oder Zuordnung von Mensch und Landschaft seelische Vorgänge verdeutlichen20.

Der

Flußkampf

In seinem mythisch-wunderbaren Charakter mit Poseidons Meerfahrt verwandt, wenn auch breiter und detaillierter erzählt, ist der Kampf zwischen dem Flußgott Skamandros und Achilleus. Er ent19

20

Daß dabei knappste Angaben der Schildbeschreibung im epischen Bericht erweitert werden können, bedarf keiner Erläuterung. So könnte man die „schöne" Platane an der Quelle, wo die Griechen vor der Ausfahrt nach Troia opfern (B 305ff), als Entfaltung des einfachen ύττό δρυί Σ 558 verstehen. Die enge Verklammerung mit dem Geschehen ist hier besonders deutlich : Ohne die Platane wäre das Vorzeichen überhaupt nicht denkbar (310/312). TREUS skeptische Einstellung, ein „Stimmungsmoment" sei in solchen Ortsangaben nicht enthalten, sie seien nicht dem Gemütszustand, sondern dem Rang der Person adäquat (Lyrik 88 f), scheint mir etwas übertrieben und dürfte im zweiten Teil auch

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springt nicht der phantastischen Fabulierkunst des Iliasdichters (oder eines späteren Redaktors), sondern der auch aus Märchen und Sage bekannten künstlerischen Notwendigkeit, den Helden vor Erlangen des Ziels noch eine extreme Gefahr bestehen zu lassen1. Dafür ist bei dem gewaltigsten Helden der Ilias die Mobilisierung übermenschlicher Kräfte erforderlich. Nur so können vor dem Sieg Todesnot und Selbstverzweiflung stehen2. Obwohl der Übergang von der Götterschlacht in der Ebene (Y) zur Schlacht am Fluß (Φ) fast unmerklich gewonnen wird, führt der Dichter den Sonderschauplatz in sechzehn Versen als Exposition des folgenden Teils auffallend breit, wenn auch in der gewohnten Weise dem Fluß der Erzählung angepaßt, ein (Φ 1—16) 3 . Dreimal ist in den genannten Versen vom Skamandros die Rede, an Anfang und Ende jeweils in zwei Versen, in der Mitte etwas ausführlicher. Dabei ändert sich jeweils das spezielle Interesse des Dichters. Nach den als Zielangabe dienenden formelhaften Einleitungsversen (s. o. 50f) ist die Mittelpartie vom Lärm der sich in den Fluß stürzenden Troianer beherrscht (βράχε . . . μεγάλ' ϊαχον), während das Heuschreckengleichnis, das die spätere Überwältigung des Flußgottes durch das Feuer vorwegnimmt, zum mehr optisch gestalteten Schluß überleitet. Trotz dieses Wechsels der Perspektiven und der Fülle der Angaben erfährt man jedoch über den Fluß selbst eigentlich nur zweierlei, das allerdings mit um so größerem Nachdruck und in reicher Variation. Sooft der Dichter in den Einleitungsversen vom Skamandros spricht, versäumt er nicht, auf dessen Strömung und Wirbel hinzuweisen: ευρρείος . . . δινήευτος — βαθύρροον άργυροδίνην — βαθυδινήεντος . . . ρόος4. Dagegen ist er mit konkreten Angaben zur Landschaft des Flusses äußerst zurückhaltend (πόρος und όχθαι sind recht allgemein). Das heißt, nicht in seinem Aussehen, sondern in seiner Bewegung und Kraft wird der Fluß vorgestellt, als δύναμις, nicht als είδος. Und das entspricht genau dem späteren Gang der Ereignisse. In den Wirbeln drohen die Troer umzukommen, in ihnen birgt der Flußgott sie aber

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kaum haltbar sein. Chryses ist an Rang Achilleus zweifellos unterlegen, trotzdem wird er einer Lokalangabe gewürdigt ; auch in den abrißartigen Überblicken über das Leben sterbender „namenloser" Krieger finden sich erstaunlich viele und keineswegs immer kurze Lokalangaben (s. u. 94f). R E I N H A R D T , Ilias 4 2 3 f. Genaueres zu Komposition und einzelnen Szenen bei G. S C H E I B N E R , Der Aufbau des 20. und 21. Buches der Ilias, Leipzig 1 9 3 9 , und R E I N H A R D T , Ilias 423ff. SCHEIBNER 9 0 f .

Eine weitere Kopplung dieser Beiwörter, aber ins Ironische transponiert, Φ 130 in Achills Worten an den toten Lykaon : έύρροοξ άργυροδίνης. — Eine ähnliche Ballung findet sich 9f für die akustischen Phänomene: in beiden Versen je ein Substantiv und ein Verb, die einen stark ins Ohr fallenden Chiasmus ergeben.

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auch vor dem anstürmenden Achill (239), aus einem „tiefen Strudel" ruft der Flußgott dem Helden seine Warnung zu (213, dazu 212), Strömung und Wirbel schließlich machen Achilleus zu schaffen (240ff). Nicht auf das in sich geschlossene Bild einer Flußlandschaft als Szenerie des Geschehens kam es dem Dichter in der Exposition an, sondern auf die geballte Konzentration der Kräfte, die sich wenig später entstauen werden5. Rückt der Skamandros durch diese dynamische Darstellung seines elementaren Charakters in die Nähe der Gleichnisse, so erinnern die in großer Zahl nachgetragenen landschaftlichen Einzelheiten ganz an epische Erzähltechnik. Wie sich die Ebene von Troia erst im Lauf der Handlung allmählich konkretisiert, so gewinnt auch der Skamandros erst nach und nach Kontur, indem landschaftliche Einzelheiten in den Blick treten, wenn das Geschehen es erfordert. So etwa der Tamariskenstrauch, an den Achilleus seinen Speer lehnt (18), oder die „schöngewachsene, große Ulme", nach der der Held in seiner Todesnot greift und die ihn vor dem andringenden Skamandros vorerst rettet (242ff). Die Uferböschung erhält Bedeutung, wenn Achilleus seinen Speer in sie hineinjagt und Asteropaios trotz aller Anstrengung ihn nicht wieder herauszuziehen vermag (171 ff) oder wenn der Held von ihr in den Fluß hineinspringt (234). Und daß es am Ufer neben Tamarisken und Ulmen auch Weiden, Klee, Binsen und Schilfgras gibt, erfährt der Hörer, als Hephaistos über alles seine Flammen kommen läßt(350ff). So fügen sich die einzelnen Teile sukzessiv zwar noch zu einer lockeren Szenerie zusammen, aber ausschlaggebend bleibt auch hier, in der größten Naturschilderung der Ilias, die Bindung jedes Elements an den Gang des Geschehens.

Die Gleichnisse

Bei einer so unermüdlich behandelten Materie wie den homerischen Gleichnissen versteht es sich von selbst, daß nur die speziell mit 6

Über das Verhältnis vom Gott zu seinem Element S C H U D O M A 9 7 : „Die homerische Welt geht überall in eine göttliche über, ohne daß von diesen Übergängen viel gesprochen würde, weil keine scharfe Grenze die beiden Seiten scheidet." Der Flußgott denkt, spricht und fühlt ganz wie ein anderer Gott oder Mensch. Trotzdem ist er an sein Element gebunden, denn er handelt so, wie ein Flußgott handeln muß. Andrerseits kann er, da er göttliche Potenz ist, seine natürlichen Grenzen sprengen und ins Übernatürliche ausweichen, indem er sich vom Element frei macht (die Vorgänge scheinen ganz realistisch erzählt zu sein, enthalten aber vom „natürlichen" Standpunkt aus einige Unwahrscheinlichkeiten, etwa die, daß das Feuer Herr über das Wasser wird). Zwischen Gestalt und Naturerscheinung läßt sich also nicht scharf trennen (ähnlich auch bei der Morgenröte, dazu S C H U D O M A 3 7 ) .

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unserem Thema zusammenhängenden Fragen zur Sprache kommen; keinesfalls kann es darum gehen, den unterschiedlichen, insgesamt sich eher ergänzenden als sich widersprechenden Theorien und Definitionen eine neue hinzuzufügen. Dabei dürfen die in der reichhaltigen Fachliteratur zutage geförderten Ergebnisse im allgemeinen als bekannt vorausgesetzt werden. Für uns wichtig ist vor allem die Feststellung, daß die Kategorien, mit denen man seit WILAMOWITZ das Wesen der Gleichnisse zu fassen sucht, weitgehend identisch sind mit den j eweils für Homers Naturgefühl und Naturdarstellung verwendeten, ob nun die Stimmung (wie bei WILAMOWITZ), das Gefühl1, die Anschaulichkeit2, die Beseelung3, die Bedeutung 4 oder der „dynamische" Charakter 5 der Gleichnisse für das Wesentliche gehalten wird. Wenn wir im folgenden von der „Landschaft" der Gleichnisse sprechen, kann das nur mit einer gewissen Einschränkung geschehen. Die Gleichnisse stehen im allgemeinen für Bewegungen oder Verhaltensweisen des Menschen, also wird auch bei ihren landschaftlichen Elementen das Dynamische überwiegen. Allein schon die Funktionalität der homerischen Gleichnisse dürfte in der Regel ein festgefügtes Landschaftsbild verhindern. Fungiert Landschaft als Ausgangsoder Zielpunkt einer Bewegung, genügt die Abbreviatur; macht sie den Inhalt des Gleichnisses aus, ist sie meistens selbst Bewegung: die rollenden Wogen, der reißende Fluß, der herabstürzende Fels, der fallende Baum. Andererseits ist es nicht gerechtfertigt, die Skepsis zu weit zu treiben und den Gleichnissen die Landschaft ganz abzusprechen, wie T R E U es tut®. Denn erstens sind auch den Gleichnissen Zustandsschilderungen nicht vollkommen fremd, und zweitens agieren die Naturgewalten in einem Raum oder zeigen ihre Macht an festen landschaftlichen Gegebenheiten, die oft genug anschaulich konkretisiert sind. 1

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W. MOOG, Zeitschrift f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 7, 1912, 104—128; speziell zu den Naturgleichnissen und Naturschilderungen bei Homer: ders., Zeitschrift f. angew. Psych, u. psycholog. Sammelforschung 6, 1912, 123—173. F R A N K E L , Gleichnisse. K. RIEZLER, Die homerischen Gleichnisse und die Anfänge der Philosophie, Ant. 12, 1936, 253—271. F . M Ü L L E R , Die homerischen Gleichnisse, N . Jb. f. Ant. u. dt. Bildung 4, 1941, 175 bis 183. S C H A D E W A L D T , Homer 145. — Einen gut informierenden Überblick über die Gleichnisliteratur gibt H. STORCH, Die Erzählfunktion der homerischen Gleichnisse in der Ilias, Diss. Tübingen 1957. Lyrik 99f ; nur als „Hintergrund für den Vorgang, der sich in diesem Raum abspielt" ( 1 0 0 ) , läßt T R E U Landschaft im Gleichnis ausnahmsweise gelten. Besser trifft eine Formulierung V I V A N T E S den besonderen Charakter der Gleichnislandschaften: sie seien kaum Landschaft, „but rather an epitome of the world" (95).

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Allerdings bleibt auch dann ein grundsätzlicher Unterschied zur Landschaft der epischen Erzählung. Er hängt zusammen mit dem Wesen des homerischen Gleichnisses, das auf das Gesetzmäßige, Allgemeingültige abzielt. Der Feigenbaum am Skäischen Tor ist dieser eine individuelle Baum, nicht jener typische, mit dem ein fallender Krieger verglichen werden kann. Und die Wogen des Skamandros gehören nur ihm und gelten Achilleus, wogegen Eigennamen in den Gleichnissen die Ausnahme bilden. Trotz dieser beiden grundsätzlichen Unterschiede ist jedoch der Abstand zwischen der Welt der Gleichnisse und der Welt des epischen Berichtes nicht so groß, wie man zunächst vermuten möchte. Nicht nur sind Vorgänge und Situationen häufig gleich oder analog7, es ließe sich auch ohne Schwierigkeit die Darstellung des Skamandros (Φ Iff) 8 oder der in den Scheiterhaufen des Patroklos fahrenden Winde (Ψ 212 ff) 9 Zug um Zug aus dem Material der Gleichnisse zusammensetzen, wie umgekehrt die meisten Szenen des Achilleusschildes in Gleichnissen Verwendung finden könnten 10 . Sicher haben die Gleichnisse vor allem in zeitlicher und stilistischer, aber auch in motivischer Hinsicht als eine epische Sonderform zu gelten, jedoch hat man mit Recht die beiden extremen Positionen, die die Gleichnisse als Erbe aus kretisch-mykenischer Zeit 11 oder aber als das Persönlichste des Dichters und damit als das für den Hörer ganz Gegenwärtige verstehen, heute im allgemeinen aufgegeben. Zu deutlich sind die Unterschiede zwischen der kretisch-mykenischen und der homerischen Welt einerseits, die formelhaften und typischen Elemente auch in den Gleichnissen andererseits12. Auch die mehrfach aufgestellte, ebenfalls zur Begründung eines grundsätzlichen Unterschieds dienende Behauptung, die Natur in den erzählenden Partien 7

Vorgänge : ζ. B. der vom Berg in die Ebene stürzende Fluß, die vom Meer bespülte Küste, die vom Wind erregte Woge; Situationen: die vom Feind belagerte Stadt, Ausschau vom Berge, Aufreißen der Wolkendecke (Π 297 ff ~ Ρ 645 ff, vor allem das φαίνεσθαι der Landschaft, nachdem es wieder hell geworden ist: αίθήρ Π 300, αίθρην Ρ 646). 8 Zu Φ 306 vgl. etwa Δ 424, zur Wucht der Strömung E 87ff und Λ 492ff. 9 I m einzelnen: I 4f Boreas und Zephyr, Λ 156 Feuer vom Wind angefacht, Y 492 κλονέων δνεμος, Ξ 17 Xtyécov άνέμων, Ν 590 π ν ο ι ή vhro λιγυρη, Υ 490 θεσττιαδέξ πυρ. 10 Und zum Teil auch in Gleichnissen begegnen. Zu Σ 579ff vgl. etwa E 554ff. O 630ff. Π 487 ff. Y 403 f; zu Σ 550 ff Λ 67 ff, besonders Λ 69 mit Σ 552; zu Σ 497 ff Π 387 f. 11 So neuerdings wieder W E B S T E R 114f und 293. Manche Gleichnisse glaubt W . „mit Sicherheit", andere „wahrscheinlich" als mykenisch erkennen zu können, bleibt den Beweis dafür aber schuldig. 12 Daß das Gleichnis ein fester Bestandteil volkstümlicher Poesie ist, kann nicht geleugnet werden ; und auch das homerische Gleichnis steht sicher in einer langen Tradition. Trotzdem ist es wegen seiner individuellen Ausgestaltung ein eigenständiges Produkt. J. A. NOTOPOULOS, Class. Journ. 52, 1956/57, 323—328 weist auf folgende Unter-

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sei noch von göttlichen Mächten durchwaltet, während sie sich in den Gleichnissen emanzipiert habe13, läßt sich, ganz abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit einer entgötterten Welt schon zu Homers Zeiten, nicht halten und aus der Ilias selbst widerlegen. Mythischen Charakter nimmt die Natur höchstens in der Konfrontation mit Göttern an (s. o. 69f), die ihrerseits aus den Gleichnissen keineswegs verbannt sind. Auch in den Gleichnissen folgt die Natur nicht einem in ihr ruhenden physikalischen Gesetz, auch in ihr können Götter handeln, allen voran Zeus14. Selbst Euros, Notos, Zephyros und Boreas, an sich als Naturgewalten dargestellt, sind deutlich von Erscheinungsformen des Windes wie λαΐλαψ, άέλλη, ούρος abgegrenzt: sie können sich verbünden, gegeneinander streiten (Π 765ff) oder auch schlafen (E 524f). Neben ihrer physikalischen Funktion als bewegender Erreger (κϋμα άνεμοτρεφές O 624f) sind sie für den Iliasdichter durchaus auch göttliche Wesenheiten. Der dramatische, energische, dynamische, elementare Charakter der homerischen Gleichnisse ist in neueren Arbeiten immer wieder hervorgehoben worden, ebenso ihre bevorzugte Stellung an Höheund Wendepunkten des Geschehens. Einen ruhenden Pol bilden sie nur selten, meistens setzt sich die Dramatik des Geschehens im Gleichnis fort. So wird auch das Detail in der Regel nicht als statisches Element dargestellt, sondern dem Fluß der Bewegung eingeordnet. In seltenen Fällen kann der Dichter sogar auf eine Lokalangabe, die dem Gleichnis Halt gäbe, ganz verzichten, etwa Λ 305 ff. Um die Menge der namenlosen von Hektor erschlagenen Krieger dem Hörer faßbar zu machen, setzt er ans Ende der Reihe von Kampfschilderungen das Gleichnis der vom Sturm aufgepeitschten See. Wohl spielt der Gesichtspunkt der Menge auch im Gleichnis15 eine Rolle : Zephyros und Notos werden aufgeboten, der horizontalen Erstreckung (πολλόν δέ τρόφι κύμα κυλίνδεται) entspricht die vertikale (βαθείη λαίλατπ, υφόσε). Im übrigen jedoch ist alles auf die ungehemmt sich entladende Wucht der Bewegung konzentriert. In substantivischer Form erscheinen nur die bewegenden oder bewegten Naturmächte; sogar die Beiwörter (άργεστής, ττολύττλαγκτοηννϋσι Ρ 747 ff. Vgl. S N E L L , Entdeckung 268f. — So erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch zwischen dem davoneilenden Hektor (Dynamik) und dem 6po$ vvpóev ^Statik), mit

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Die angeführten Beispiele dürften zur Genüge gezeigt haben, daß es auch in den Gleichnissen Landschaft weder um ihrer selbst willen noch als vom Gleichnisvorgang ablösbaren Hintergrund gibt. Als Ausgangspunkt oder Ziel der Bewegung, als ihr Fixpunkt oder Raum sind die landschaftlichen Elemente fest mit dem Ganzen verknüpft. Dieser funktionale Bezug ist häufig bis zu dem Grad verstärkt, daß das Gleichnis ohne seine Landschaft nicht mehr funktionsfähig wäre. Das Zusammenbrausen der Wassermassen erfordert den Tobel, das Brechen der Wogen die felsige Küste. Insgesamt ist für die Wahl des landschaftlichen Motivs und seine Ausarbeitung im einzelnen die jeweilige epische Situation ausschlaggebend; je nachdem ist die Landschaft des Gleichnisses mehr dynamisch oder mehr statisch ausgeführt. Nach diesen Beobachtungen mehr allgemeinen Charakters, die in den Grundzügen Bekanntes am speziellen Phänomen der Gleichnislandschaften verifizierten, soll im folgenden nach einzelnen Gestaltungszügen gefragt werden. Epischer Ort und Gleichnisort Wie STORCH 69 an einigen Beispielen bereits gezeigt hat, ist die Szenerie des Gleichnisses häufig auf den Ort des epischen Geschehens abgestimmt. Wenn in Gleichnissen von einer Ebene (E 597. Ζ 507) oder von einem Garten (Φ 257ff. 346f) gesprochen wird, stellt sich die Parallele zur troianischen Ebene, also zum epischen Ort, von selbst her. Die Entsprechung kann aber auch durch parallele Hinweise direkt ausgedrückt sein. So erscheint die Skamandrosebene, in der die Griechen zusammenströmen, im Gleichnis als Wiese am Kaystros (B 461), und umgekehrt wirkt das Gleichnis nach, wenn Homer die Griechen ,,auf der blumenreichen Skamandroswiese" (467) sich aufstellen läßt. Das Beiwort ist nicht „unangebracht", „weil die ganze Blumenpracht ja durch den Aufmarsch . . . zerstört wird"27, sondern weist auf die Nähe von epischer und gleichnishafter Landschaft, die beide derselben Vorstellungswelt angehören28. Weitere Entsprechungen zwischen epischem Ort und Gleichnisort wären etwa ττεδίονδε (von dem herabschießenden Fluß) und πεδίον (von dem die Feinde vor sich hertreibenden Aias, Λ 492/496) oder ποταμόνδε in dem Heuschreckendem Hektor Ν 764f verglichen wird. Zum Bewegungscharakter des zumeist als anstößig empfundenen Vergleichs Ε. M. B R A D L E Y , Am. Phil. Ass. 98, 1967, 37—41. 27 28

M. BRAUNEISER, Tagzeiten und Landschaft im Epos dér Griechen und Römer, Würzburg 1944,123. Vgl. auch σμαραγεί δέ τε λειμών im Gleichnis — die Wiese wird dem Vorgang der geräuschvoll sich auf ihr niederlassenden Vögel assimiliert — und χθών σμερδαλέον κονάβιζε 465f im epischen Bericht. 6 Eiliger, Darstellung

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gleichnis Φ 12 ff, das in die den Flußkampf exponierende Darstellung des Skamandros eingebettet ist. Wichtiger als solche inhaltlichen Entsprechungen sind jedoch die funktionalen. Von der μισγάγκεια, dem Gleichnisanalogon zur epischen Angabe Ις χώρου ενα (dem Ort, an dem Griechen und Troer zum ersten Mal aufeinandertreffen) war bereits die Rede (Δ 446ff, s. o. 77f), ebenso vom Turm, an dem Hektor Achilleus erwartet und der im Gleichnis durch den Schlupfwinkel der Schlange vertreten wird (X 93/95, s. o. 57). Gerade im 22. Buch der Ilias reichen die Entsprechungen sehr weit. Von den neun Gleichnissen der letzten Hektorszenen (kürzere Vergleiche wie 125 oder 134f nicht mitgezählt) weisen fünf eine präzise Lokalangabe auf; die restlichen machen sie entbehrlich, da sich der Ort entweder von selbst versteht (Orion 26ff, Pferderennen 162ff, Abendstern 317f) oder die Ortslosigkeit zum Gleichnisthema gehört (Traum 199f). Priamos sieht als erster Achilleus durch die Ebene heranstürmen (25, vgl. Φ 602). Diese Feststellung ist umrahmt von zwei Gleichnissen: das Pferd im schnellen Lauf und der Unheil verkündende Orion. Beide Male wird die Ebene erwähnt: πεδίοιο (jeweils am Versschluß) bildet das Ende des ersten Gleichnisses und ist in das zweite als Teil des epischen Berichts (εττεσσύμευου -ττεδίοιο) in auffälliger Weise zwischen Vergleichsträger und angeschlossenem Relativsatz eingeschoben (23/26). Schauplatz der drei nächsten Gleichnisse ist das Gebirge (όρέστερος 93 von der Schlange, όρεσφι 139 bei Habicht und Taube, ebenso 189 bei Hund und Hirschkuh). Im zuletzt genannten Gleichnis wird das Lokal noch genauer präzisiert: Achilleus verfolgt Hektor wie eine Hirschkuh διά τ ' άγκεα και διά βήσσαξ (190), und wie diese sich υπό θάμνω duckt, so versucht auch Hektor ευδμήτους ùttò πύργους zu gelangen (191/195); Achilleus aber drängt ihn ab πράς ττεδίου (198, vgl. auch πεδίονδε 309 im letzten Gleichnis der Serie: der auf sein Opfer herabstoßende Adler). Alle Gleichnisse dieser Partie spielen also, soweit ein Ort angegeben ist, in der Ebene oder im Gebirge, und zwar in der Reihenfolge Ebene— Gebirge — Ebene. Somit hat das epische Geschehen als räumliche Bewegung zwischen Ebene und Stadtmauern in den polar gefaßten Gleichnisorten seine bildhafte Entsprechung: Gleichnis πεδίοιο 23 έττί χειτ) 93 όρεσφι 139. 189 ύττό θάμνω 191 πεδίονδε 309

Bericht der durch die Ebene heranstürmende Achilleus (ττεδίοιο 26) Hektor am Turm (πύργω irrt 97) Hektors Flucht (die Lokalangaben 145ff) Schutzsuche in Mauernähe (ύπό πύργους 195) Abdrängen in die Ebene (πρός πεδίον 198).

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Die Aufstellung zeigt, wie die Bewegung von Verfolger und Verfolgtem, im epischen Bericht durch zahlreiche Lokalangaben räumlich bereits fixiert, in ihren verschiedenen Stadien auch durch die Wahl des Schauplatzes in den Gleichnissen nachgezeichnet wird29. Diese — freilich nicht immer, aber immer wieder vorhandene — Beziehung zwischen epischem Ort und Gleichnisort bedingt nun auch eine unterschiedliche Verteilung der Gleichnislandschaften in den einzelnen Phasen der Iliashandlung. In O herrschen die Meergleichnisse vor, und zwar nicht nur relativ, also gemessen an den anderen Gleichnissen des Buches, sondern auch absolut, denn kein anderes Iliasbuch weist auch nur annähernd so viele Meergleichnisse auf. Selbst Motive, die nicht zwangsläufig mit dem Meer gekoppelt sind wie Sandburg (362ff) und Fels (618ff), stehen hier in Verbindung mit dem Meer. Nun ist O zugleich auch das Buch, in dem sich die epische Szene — nachdem die Griechenmauer durchbrochen ist — immer stärker zum Meer hin verlagert. Der Feuerbrand, den Hektor in das Schiff des Protesilaos schleudert, für die Griechen Zeichen akuter Gefahr, für die Troer Erfüllung von Zeus' Versprechen, bedeutet in dramaturgischer Hinsicht den Wendepunkt und leitet die große Gegenbewegung des letzten Iliasdrittels ein. An diesem Punkt wird das Meer, bisher Ziel der troianischen, jetzt Ausgangsbasis der griechischen Operationen, entsprechend seiner Bedeutung für die Handlung Hauptort auch für die Gleichnisse. In den folgenden Büchern tritt es dann wieder zurück, wie es auch aus dem Bewußtsein von Griechen und Troern geschwunden zu sein scheint. Denn für beide gibt es nach der Umpolung der Bewegung trotz mancher Aufenthalte und Rückschläge nur noch ein Ziel: Troia. Schlagartig ändert sich auch die Szenerie der Gleichnisse. In den auf O folgenden Büchern nimmt die Stelle des Meeres das Gebirge (Berg, Fels) ein, am deutlichsten in TT. Von den gut zwanzig Gleichnissen des Buches ist die Hälfte eindeutig im Gebirge lokalisiert, fast der ganze Rest in den Bergen zumindest denkbar (Wespen 259ff, vom Löwen Überfallene Herde 487ff, gefällter Baum 589 ff) ; einen neutralen Schauplatz (Mutter und Mädchen 7 ff, Mauerbau 212ff) gibt es nur ausnahmsweise. Ausgesprochene Meergleichnisse weist Π überhaupt nicht auf, lediglich zweimal wird das Meer, stets aber in Verbindung mit Berg oder Fels und nur als Begleitmotiv, genannt (391. 408). Diese einseitige Verteilung setzt sich, nur in be-

** Zur Deutung der Hektorgleichnisse im einzelnen vor allem SCHADEWALDT, Homer 306ff, zum Typus dieser „Verfolgungsgleichnisse" und ihrer Variationen T. KRISCHER, Formale Konventionen der homerischen Epik, Zetemata 56, München 1971, 67 f. 6'

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scheideneren Ausmaßen, in den anschließenden Erzählpartien fort, nimmt dann aber ab und hat sich in Φ und X, den beiden letzten wichtigen Gleichnisbüchern, völlig neutralisiert. Die im epischen Geschehensverlauf also besonders auffälligen Abschnitte, das Ende der Ausgangsbewegung in O und das Einleiten der Gegenbewegung in TT, sind nicht nur durch die Häufung von Gleichnissen in ihrer Bedeutung allgemein hervorgehoben, sondern auch durch die Lokalisierung eines Großteils der Gleichnisse zunächst am Meer, dann in den Bergen in ihrer Gegensätzlichkeit charakterisiert; von der veränderten Blickrichtung des epischen Geschehens ist auch die Landschaft der Gleichnisse betroffen 30 . Eine ähnliche Sonderstellung im Hinblick auf die Gleichnisse nimmt das zweite Iliasbuch ein, nur daß in diesem Fall die Einheit nicht in der Wahl des Ortes, also im landschaftlichen Motiv, als vielmehr in der Stimmung allgemeiner Freude und Zuversicht liegt31. Drei Meergleichnissen (144ff. 209 f. 394ff) stehen drei Gleichnisse mit Blumenwiese (87ff. 459ff) und Saatfeld (147f) gegenüber. Wie auf dem Land die lieblichen Aspekte (Wiese im Frühling, Vogelschwärme auf Wiesen, sich neigende Ähren) ausgewählt und die Schrecken der Berge zunächst noch zurückgestellt werden, so enthüllen sich in den Meergleichnissen (ruhig wogendes oder an die Küste schlagendes Meer) vorwiegend die freundlichen Seiten des Elements, seine optischen und akustischen Reize, nicht die todbringenden Gefahren wie in den meisten O-Gleichnissen. Das entspricht der optimistischen Stimmung beider Seiten zu Beginn der Kampfhandlungen. Aber auch die in keinem späteren Buch wieder erreichte Ausgeglichenheit von Land und Meer als Gleichnisorten findet in dem exponierenden Charakter des Buches ihre Erklärung. Im Griechen- und Troerkatalog werden beide Parteien listenmäßig vorgestellt. Die Gleichnisse von Β bilden dazu ein Analogon, indem sie die beiden unterschiedlichen Welten, aus denen die Kontrahenten kommen, im Bild sichtbar werden lassen. Im Gegensatz zu O und TT befinden sich hier, in der Exposition, beide Pole noch im Gleichgewicht, erst Beginn und Fortlauf der Handlung führen zu seiner Störung. In den Büchern Γ—Ν spielt sich das Geschehen vorwiegend in der Nähe der troianischen Mauern, später dann an der Griechenmauer, aber immer noch in beträchtlicher Entfernung vom Ankerplatz der Schiffe ab. Dementsprechend sind Gebirge und 80

31

Der an sich überraschende Umstand, daß das Meer in Ξ/Ο außer bei der Beschreibung des Schiffslagers nie in der epischen Erzählung landschaftlich konkretisiert wird (s. o. 63ff), hängt vielleicht mit der bedeutenden Rolle, die das Meer in den Gleichnissen dieser Partien spielt, zusammen. Selbst der Waldbrand Β 455 ff offenbart mit dem weithin sichtbaren Schein mehr seine Schönheit als seine verheerende Macht.

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Ebene die wichtigsten Gleichnisorte32, während der Anteil der Meergleichnisse (Δ 422ff. H 63f. I 4ff. A 305ff) auffallend gering ist. Erst am Ende von N, als die Griechenmauer gefallen ist und man das Lager der Feinde direkt angeht, steht ein durch seinen Detailreichtum hervorstechendes Meergleichnis (795ff), das zusammen mit 2 16ff — nach der Unterbrechung der Kampfhandlung durch den Göttertrug — die Kette der Meergleichnisse von O einleitet. Der Rhythmus, der das ganze Iliasgeschehen bestimmt, ist also auch in der Landschaft der Gleichnisse spürbar. Wie die Ebene von Troia auf der einen Seite durch das Idagebirge, auf der anderen durch das Meer begrenzt wird und die großen Bewegungen des epischen Geschehens zwischen diesen beiden Linien polarisiert werden, so sind auch in den Gleichnissen Berg und Meer zwei gegensätzliche, dem Grundrhythmus des Geschehens angepaßte Größen. Zu der speziellen Funktion der Landschaft innerhalb des einzelnen Gleichnisses kommt so ihre allgemeine Bedeutung als Erweiterung des Raumes, in dem sich das epische Geschehen abspielt: nicht durch Hinzufügung imaginärer Räume, sondern durch Landschaften, die ebenso konkret und mit denselben Augen gesehen sind wie Berg und Meer in den erzählenden Partien. Nur haben sie in den Gleichnissen, da sie durch keinen bestimmten Ort im Erzählzusammenhang festgelegt sind, überindividuellen Charakter.

Dopplung und Variation Zum Wesen des homerischen Gleichnisses gehört die Freiheit, ein Motiv auch ohne Rücksicht auf den epischen Zusammenhang bis zu seiner Verselbständigung auszubilden33. Diese Eigengesetzlichkeit des Gleichnisses erfährt jedoch eine Einschränkung in jenem Gleichnistyp, der mit einer starken Konzentrierung aller Motive auf eine einzige Vorstellung arbeitet. Besonders häufig ist das der Fall, wenn es darum geht, akustische Wirkungen im Gleichnis auszudrücken34. Aber 32

38 31

Gebirge: Γ lOf. 33ff. Δ 452ff. E 522ff. 554ff. Θ 555ff. I 14f. Κ183ff. A 474ff. M 132ff. 167ff. Ν 178ff. 389ff. 471ff. Ebene: Δ 243ff. 482ff. E 597ff. Ζ 506ff. Wald: Γ 151f. Κ 360ff. Λ 113ff. 155ff. 414ff. Gebirge und Ebene: A 492ff. Ν 62ff. Gebirge und Meer: Δ 275ff. E 770f. Ebene und Meer: Ν 795ff. Gebirge, Ebene und Meer: M 278ff. Vgl. besonders FRANKEL, Gleichnisse 104ff. Beliebt ist vor allem die Häufung tonmalender Wörter : ττολυφλοίσβοιο — βρέμεται — σμαραγεΐ (Β 209f), βροντής — όμάδω — παφλάζοντα — ττολυφλοίσβοιο (Ν 796ff). Besonders wirkungsvoll auch die drei Kurzgleichnisse Ξ 394ff mit dem akustischen Grundmotiv βοάα — βρόμο; — βρέμεται. — Ähnliche Wiederholungen, nur auf anderem Sektor, z. Β. Ρ 747 ff und O 618ff (s. o. Anm. 25).

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auch sonst begegnen derartige Motivdopplungen, unter Umständen prägen sie sogar die Struktur eines ganzen Gleichnisses. In dem Quellengleichnis 114f = TT 3f bringt der zweite Vers abgesehen von der Lokalangabe lediglich eine Wiederholung des ersten, indem er μελάνυδροξ in seine beiden Bestandteile zerlegt: δνοφερόν ύδωρ — eine Art Definition durch Trennung von materiellem Substrat und Akzidens. In dem Gleichnis Β 394ff wird sogar eine ganze Trias wiederholt. Die funktionale Einheit κΟμα — άκτή — NOTOS aus den ersten beiden Versen erscheint in den beiden letzten in veränderter Reihenfolge und in allgemeinerer Form : σκόπελος — κύματα — άυεμοι, aber inhaltlich kommt nichts Neues hinzu. An einer bildhaften Ausmalung durch Hinzufügung ergänzender Details war dem Dichter offenbar nichts gelegen. Auch im Bereich der Lokalangaben läßt sich diese Technik der Dopplung und Variation beobachten. Das ist an sich merkwürdig, denn wenn schon mehrere Lokalangaben gemacht werden, könnte man erwarten, daß sie sich stärker voneinander abheben und die landschaftlichen Valeurs in ihrer Unterschiedlichkeit stärker zur Geltung bringen. Aber gerade das geschieht im allgemeinen nicht. So scheut sich der Iliasdichter keineswegs, die Örtlichkeit eines Gleichnisses nicht nur zweimal, sondern auch mit derselben Bezeichnung zu erwähnen. Β 459ff lassen sich die Vogelschwärme Άσίω ευ λειμώνι nieder, am Ende des Gleichnisses heißt es: σμαραγε! δέ τε λειμών. Σ 207 ff steigt der Rauch εξ άστεος auf, αστεος εκ αφετέρου kämpfen aber auch die Einwohner. Und ein drittes Beispiel: Die Schlange erwartet den Menschen έττί χειη, und έλισσόμενος περί χειή blickt sie ihn an (X 93ff). In allen drei Fällen verzichtet der Dichter auf ein an sich gut denkbares Ergänzungsmotiv zugunsten einer Wiederholung des bereits Bekannten — das einfachste und zugleich wirkungsvollste Mittel, die Bedeutung dessen, worauf es ankommt, zu unterstreichen. Die Höhle vertritt im Gleichnis den Turm, der mit Hektors Schicksal eng verbunden ist (s. o. 57 f), hinter der belagerten Stadt des Gleichnisses wird Troia sichtbar, dessen Schicksal nach Achills Rückkehr in den Kampf besiegelt ist35. Wie sehr die Dopplung zur Steigerung beitragen kann, erhellt auch aus einem Gleichnis wie Δ 275ff. Der Hirt sieht die Wolke έρχόμενον κατά πόντου, gleich danach scheint sie ihm ιών κατά πόυτον schwärzer als Pech (durch die gleiche Stellung im Vers fällt der Gleichlaut besonders ins Ohr). Der beabsichtigte Effekt ist klar: Die

35

Auch in den folgenden Versen ist die Stadt auffallend häufig erwähnt (220. 255. 266.

286 f).

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sozusagen zweimal über das Meer heranziehende Wolke ist noch unheilvoller und erklärt das Erschauern des Hirten ((Μγησέν τε Ιδών) nur zu gut. Auf ähnliche Weise verstärkt in einem der grausamsten Iliasgleichnisse die nur hier begegnende36 Ortsverdopplung όρεσφιν und èv ούρεσι den Eindruck des Entsetzlichen: die eine Hirschkuh zerreißenden Schakale, deren blutiges Werk ein Löwe fortsetzt (Λ 474ff) 37 . Aber auch zwei verschiedene, nur demselben Vorstellungsbereich angehörende Ausdrücke können zur Steigerung eingesetzt werden, so wenn ήλίperros ττέτρη καί δάσκιος Ολη den von Hunden verfolgten Hirsch retten (O 271 ff) oder die βαθέ' άγκεα . . . ούρεος άζαλέοιο und die βαθεϊα ύλη aufgeboten werden, um die Wirkung des alles vernichtenden Feuers sichtbar zu machen (Y 490f). Gerade die Verbindung ópos (oder Verwandtes: άγκεα, βήσσαι) und Ολη ist in den Gleichnissen beliebt. In der Regel trifft man sie in Raubtier- oder Jagdszenen, während etwa beim Holzfällen, einer ebenfalls meist in den Bergen angesiedelten Szene, das Lokal, wenn überhaupt, mit einem einfachen ,,im Gebirge" angegeben wird (M 132. Π 483. Ν 390). Die Erklärung dürfte in dem Bewegungscharakter der Raubtiergleichnisse zu suchen sein. Bewegung läßt sich mit Hilfe einer Lokalangabe leichter sichtbar machen.

Das Beiwort M. PARRY kommt das Verdienst zu, als erster die Gesetzmäßigkeit des homerischen Beiworts erforscht zu haben38. Freilich war er durch sein Hauptarbeitsfeld, die südslawische Epik, derartig fixiert, daß er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dem epischen Beiwort jeglichen Eigenwert absprach und nur die metrische Funktion und dekorative Wirkung gelten ließ. Andere Forscher39, auch aus Parrys eigener Schule, sind von diesem extremen Standpunkt abgerückt und haben die Unter* Korr' δρεσφι Δ 452 (dazu âv οΰρεσιν 455) ist separativ (s. o. 77f).—Neben der doppelten Angabe des Wo (z. B. E 554f) oder Wodurch (K 184f. Λ 118. X 190) gibt es auch die Kombination des Wo mit dem Wodurch (P 282 f) oder Woher (Σ 320 f). 37 Die zweite Lokalangabe hat zugleich gliedernde Funktion: Sie steht als Abschluß der ersten Gleichnishälfte vor dem Erscheinen des Löwen, der dem Ganzen eine ungeahnte Wendung gibt. 3 8 Besonders wichtig : L'épithète traditionelle dans Homère, Paris 1928. 3 9 Zu verweisen ist vor allem auf das Kapitel „The Technique of Composition: Language", in: B O W R A , Heroic Poetry 215—253 (deutsche Ausgabe 235—277); ders., Kapitel „Style" bei W A C E / S T U B B I N G S 26—37; L E S K Y , Horneros 14ff; W . W H A L LON, The Homeric Epithets, Yale Class. Stud. 17, 1961, 95—142. 3

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schiede zwischen Homer und den epischen Traditionen anderer Völker anerkannt: den Variationsreichtum und gleichzeitig die Ökonomie der homerischen Formeln, ihr hochentwickeltes System, ihren sinnvollen, dem epischen Kontext angepaßten und oft auch einen poetischen (nicht nur technischen) Zweck erfüllenden Einsatz — lauter Möglichkeiten, die die besondere geschichtliche Situation am Wendepunkt der Entwicklung von der oral poetry zur written composition für Homer bereitstellte. Gewiß gibt es die starre Verwendung des Beiworts gelegentlich auch bei Homer 40 ; sie weist auf die lange Tradition, in der der Dichter steht. Aber wenn die vor Anker liegenden Schiffe „schnell" genannt werden (A 666 u. ö.), auch der Taghimmel „sternreich" (Θ 46 u. ö.), die von Diomedes verwundete Aphrodite „gernlächelnd" ( E 375) und der von Toten verstopfte Skamandros „lieblich" (Φ 218) heißen, so ist das etwas anderes. Hier zeigt sich nicht so sehr die starre Verwendung eines stehenden Beiworts41, das — selbst um den Preis mangelnder Affinität zur geschilderten Situation— Dichter und Publikum für einen Augenblick Ruhe gönnt. Eher äußert sich darin die auf das Wesentliche einer Person oder Sache konzentrierte Sehweise Homers, die das „Eidos" trotz aller Variationen durchhält, für die das Wesentliche gegenüber allem Individuellen, Situationsbedingten vorrangig ist 42 . Auch die Erklärung des Beiworts aus metrischen Bedürfnissen, als eines Versfüllsels, stößt bei Homer schnell an ihre Grenzen. Anhand von drei metrisch äquivalenten Beiwörtern konnte W H A L L O N 134f die sorgfältige Wahl des Epithetons auf dem von ihm untersuchten Gebiet „Götter und Menschen" nachweisen43. — So zeichnet z. B. Schnellfüßigkeit — trotz seines Sieges im Lauf bei den Leichenspielen — nicht Odysseus, sondern Achilleus aus; die Verfolgung Hektors durch Achilleus zeigt das Beiwort umgesetzt in Aktion. Und „helmschüttelnd" ist meistens Hektor — der Bezug auf die kleine Episode der Homilie liegt nahe44. In beiden Beispielen also bezeichnet 40

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Einige Beispiele für das „ t o t e " Beiwort bei W A C E / S T U B B I N G S 2 9 . Zur katachrestischen Verwendung des Beiworts (Bedeutungsleere oder -schwäche bzw. Verdunklung der zweiten Hälfte) K. M E I S T E R , Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1 9 2 1 , 2 3 3 . In einem Fall wie dem letzten spricht B O W R A , Heroic Poetry 2 4 0 sogar von einem „ironischen Kontrast". In diesem Sinn versteht auch A R E N D die typischen Szenen bei Homer (bes. 26f) : mehr als philosophisches denn als technisches Problem (vgl. auch W H A L L O N 1 3 6 ) . άνδροφόνο; steht in der Ilias fast nur für Hektor, nie für Odysseus, ΙτΓττόδαμοζ ebenfalls für Hektor (u. a.), nie für Odysseus, άντίθεος dagegen am häufigsten für Odysseus, nie für Hektor. Anders B O W R A , für den durch den „helmschüttelnden" Hektor „nothing but pleasure" gegeben ist (Heroic Poetry 2 3 4 ) . — Zur Erklärung im einzelnen sei auf W H A L LON verwiesen.

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das Beiwort, die kürzeste Art der Schilderung, ein individuelles Wesensmerkmal und erfüllt damit eine genuin poetische Funktion 46 . Auch im landschaftlichen Bereich läßt sich eine recht differenzierte Verwendung des Beiworts erkennen. Der allgemeinste Unterschied betrifft die beiden häufigsten Schauplätze der Iliasgleichnisse, Berg und Meer. Während der Reichtum der auf genauer Beobachtung beruhenden Meeresdarstellungen seit je gepriesen wurde, sah man sich bei den Bergen, die für Griechenland und Kleinasien nicht minder charakteristisch sind, zu nichts dergleichen veranlaßt. In der Tat, die Art und Weise, wie in der Ilias die Bergwelt behandelt wird, kann auf den ersten Bück kaum anders als kärglich genannt werden. Häufig ist der Schauplatz mit einem einfachen (έν) ούρεσι, όρεσσι oder όρεσφιν angegeben, und auch die Varianten ôpeoç κορυφή σι (Γ 10. E 554. TT 824, ähnlich Β 456. Ν 179) oder ούρεοξ âv βήσσι^ (Γ 34. 5 397. TT 634. 766 stets am Versanfang) sorgen nur wenig für Abwechslung, zumal alle genannten Ortsangaben ohne Beiwort stehen 46 . Im Vergleich zum Meer ist beim Gebirge der formelhafte Charakter also stärker ausgeprägt. Man hat diesen Unterschied psychologisch erklären wollen, aus einer instinktiven Abneigung der alten Griechen gegen die Berge als Stätte der Gefahr. Und nach Auskunft der Iliasgleichnisse hausen und kämpfen dort tatsächlich die Raubtiere, jagt das Wild und wird gejagt, wütet das Feuer, werden Bäume gefällt, tosen die Stürme, gibt es Nebel und Wolken, schreckt der Wanderer vor der Schlange zurück, liefert der Hirt den Raubtieren einen ständigen Kampf. Als Art Zusammenfassung dieses Negativkatalogs mag man den die allgemeine Lokalangabe οΰρεσιν erweiternden Zusatz χώρω êv οίοπόλω Ν 473 werten (ähnlich T376f: ein Feuer brennt όρεσφι σταθμω εν οίοπόλω). Der homerische, auf Gemeinschaft angewiesene und auf Geselligkeit angelegte Mensch47 hat keinerlei Grund, in der Gebirgseinsamkeit irgendeinen Wert zu sehen. Wenn das Meer trotz seiner auch bei Homer nicht unterschätzten Gefährlichkeit nicht die gleichen Schrecken verbreitet, wird das unter anderem auch daran liegen, daß im Gegensatz zum einsamen Hirten in den Bergen der Mensch auf dem Meer immer in Gemeinschaft gezeigt wird.

45

Weitere Beispiele für den differenzierten Einsatz des Beiworts bei P. C A U E R , Grundfragen der Homerkritik, Leipzig 3 1921, 449ff; L E S K Y , Horneros 15; B O W R A b e i W A C E / STÜBBINGS 31.

" Zu der auffälligsten Abweichung Ν 179 s. u. 94 f; bei οϋρεος άζαλέοιο Y 491 bezieht sich das Beiwort eigentlich auf den Wald, nicht auf den Berg. Dazu käme noch έπ' άκροπόλοισιν δρεσσιν E 523. 47 In welchem Maß, zeigen gerade die Szenen, die Chryses und Achilleus einsam am Strand des Meeres vorführen : Beide befinden sich in einer Ausnahmesituation.

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Aber es gibt wohl noch einen anderen Grund für die unterschiedliche Behandlung von Berg und Meer. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Berge im Gegensatz zum Meer keine eigene Aktivität entfalten, daß sie Ort (oder auch Teil) eines Geschehens sind, aber nicht das Geschehen selbst. Das bedeutet für sie innerhalb des Gleichnisganzen einen untergeordneten Rang und damit entsprechend den Gesetzen homerischer Erzähltechnik eine knappere Darstellung. Wiederholt hatte sich gezeigt, daß die Landschaft in stark bewegten Gleichnissen nur als Abbreviatur erscheint, als Ort, Herkunft oder Ziel der Bewegung. So enthält das Meergleichnis Δ 422 ff (s. o. 80) zwar vier Lokalangaben, aber nur eine ist durch ein Epitheton erweitert; und TT 389ff (die sich ins Meer stürzenden Flüsse, s. o. 78) steht nur beim Meer ein Beiwort, die fünf restlichen Landschaftsbezeichnungen kommen ohne Adjektiv aus. In dem Gleichnis, das den vorwärtsdrängenden Hektor mit einem herabstürzenden Steinbrocken vergleicht (N 137ff), konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf den όλοοίτροχος. Felsen, Felsrand und Wald sind zwar erwähnt, aber die Wucht des herabsausenden Brockens scheint für schmückende Beiwörter keinen Raum zu lassen (nur Fluß und Stein, also der Träger der Bewegung und die sie auslösende Ursache, sind mit einem Beiwort versehen). Auch Δ 275ff (Hirte und Unheilswolke, s. o. 86f) und A 474ff (einen Hirsch reißende Schakale, s. u.) sind die Beiwörter (und sonstigen Epithesen) fast ausschließlich auf die Träger des Geschehens, also Wolke und Wind, Schakale und Hirsch, beschränkt, während die Bergszenerie nur eben angedeutet ist48. Die Belege zeigen, daß die karge Ausstattung der Berge in der homerischen Gleichniswelt eher funktional als psychologisch begründet ist. Nur so lassen sich auch jene Fälle erklären, in denen die Berge eine reichere Behandlung erfahren. Das ist vor allem außerhalb der Gleichnisse, etwa bei Ida und Olymp, der Fall. Meist ist auf ihre Darstellung ein ganzer Vers verwendet, ein Beiwort das Mindeste, was zum Eigennamen dazugesetzt wird 49 ; dabei ruft die stereotype Bezeichnung für das Idagebirge als „Mutter der Tiere" (Θ 47. O 151. 5 283) ausgesprochen freundliche Assoziationen hervor. Der Grund für diese auszeichnende Behandlung dürfte in der besonderen Bedeutung von Olymp (ausschließlich) und Ida (meistens) als Götterbergen 48

49

Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Gleichniskette Β 455 ff. So prächtig die Verse im einzelnen ausgestattet sind, die nicht einmal besonders zahlreichen Lokalangaben stehen ohne Beiwörter. Besonders beliebt ist die Kombination eines Dativs und eines Genitive mit je einem Epitheton (A 499 = E 754. Ξ 157, ähnlich φ 449). ττολυπϊδαξ ist das regelmäßige Beiwort des Ida, beim Olymp sind αίγλήεΐζ (A 532), άγάννιφοζ (A 420. Σ186), νιφόεις (Σ 616) und π ο λ ύ π τ υ χ ο ; (Θ 411) zu nennen.

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zu sehen sein. Etwas Mythisches haftet ihnen durchaus noch an, dem Olymp mehr als dem auch in das Menschengeschehen miteinbezogenen Ida. So könnte von den „Toren" eines Berges (Θ 411) im Gleichnis schwerlich die Rede sein, und auf den Bergen der Gleichnisse hausen auch keine Götter wie auf dem Olymp. Daß die Natur in Verbindung mit Göttern ein anderes, freundlicheres Aussehen annehmen kann, hat sich mehrfach gezeigt (Ida beim Hieros Gamos, Poseidons Meerfahrt). Aber auch innerhalb der Gleichnisse sind Unterschiede nicht zu verkennen. In dem eben genannten Beispiel Λ 474ff entspricht die auffällige Wiederholung der Lokalangabe (όρεσφιν — εν οΰρεσι, s. o. 87) dem an unvorhergesehenen Wechseln reichen Geschehen. In chronologischer Reihenfolge: Verwundung des Hirsches durch einen Jäger, Flucht, Zusammenbrechen, Überfall der Schakale, Erscheinen des Löwen, Flucht der Schakale. Damit wiederholt das Gleichnis die einzelnen Stadien des epischen Geschehens, steigert aber zugleich durch die Häufung fast blutrünstiger Einzelzüge den Eindruck des Schrecklichen und Abscheulichen50. Das Außerordentliche des Gleichnisvorgangs erfordert mehr als eine neutrale Lokalangabe. Daher tritt bei der Wiederholung am Wendepunkt des Gleichnisses, nämlich vor dem unvermuteten Auftritt des Löwen, zu εν οΰρεσι εν νέμει σκιερψ ergänzend hinzu. Damit nimmt auch die Landschaft den Charakter des Bedrohlichen an, denn σκιερός bedeutet bei Homer (wie auch die anderen Wörter dieses Bedeutungsfeldes) nicht den „Schlagschatten", den ein Gegenstand wirft. Homer denkt also nicht an einen „schattenspendenden", sondern an einen „finsteren" oder „dunklen" Hain, wie auch die häufige Verbindung νίφεα σκιόεντα nahelegt51. In einem anderen Gleichnis fällt die Ausführlichkeit auf, mit der der Dichter von den Bergspitzen spricht. Π 297ff schiebt Zeus eine dichte Wolke άφ ' υψηλής κορυφής δρεος μεγάλοιο, und die Landschaft tritt hervor mit ihren Bergen und Tälern — Ausdruck des Stimmungsumschwungs der Griechen, als ihnen nach einem Teilerfolg gegen die Troer eine kleine Atempause vergönnt ist. Beherrschende Vorstellung des Gleichnisses ist die Bergspitze, die wegen ihrer Höhe — deswegen die Addition von „hoch" und „groß" — die Wolke festgehalten hat. Demgegenüber sind die anderen, plötzlich sichtbar werdenden Elemente der Berglandschaft nur als Summe gefaßt (ττδσαι ist dorò 50

51

δαφοινός, „blutrot", läßt nicht nur an die Farbe des Fells, sondern auch an φόνοζ denken (vgl. ώμοφάγοι 479) ; das Zerreißen des Opfers wird durch zwei Verben desselben Stammes wiedergegeben (SapSénrrouatv und δάτττει kurz hintereinander, durch den Gleichklang am Versende besonders effektvoll). — Zu den „Überschuß"Motiven des Gleichnisses F R A N K E L , Gleichnisse 66. Vgl. TREU, Lyrik 118. Zur Grundbedeutung der Wolke in den Gleichnissen als einer bedrohlichen Wetterwolke F R A N K E L , Gleichnisse 24.

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κοινού gebraucht) und bleiben ohne adjektivische Differenzierung (πρώονες άκροι fällt als Vorstellungseinheit nicht ins Gewicht). Nur noch Wolke und Äther, die im Gleichnis die beiden Stimmungspole der Griechen, Bedrängnis und Hoffnungsschimmer, repräsentieren, stehen je mit einem Beiwort52. Eine ähnliche Struktur im Großen, aber auffällige Unterschiede in den Einzelheiten zeigt das Gleichnis M 278 ff, das seltene Bild einer Winterlandschaft. Das Besondere der Verse hat man seit je betont. WILAMOWITZ lobt das,,mit voller Anschaulichkeit" gemalte Naturbild, glaubt aber, ihm wegen des tertium comparationis („die Dichtigkeit und die Dauer der Beschießung") einen Stimmungswert absprechen zu müssen53, und auch FRANKEL spricht von „reinster Ausmalung", nennt das Bild jedoch „stimmungsvoll und dabei so naturecht und wahr wie nur möglich"54. Obwohl wir wiederholt gesehen haben, daß „Ausmalen" nicht Sache Homers ist55, steht der Ausdruck in diesem Fall mit einem gewissen Recht. Zwar sind auch diesmal die einzelnen Elemente der Landschaft in Form einer Aufzählung gegeben, aber mit Ausnahme der letzten Wendung ist jedes Glied durch ein Beiwort erweitert: die hohen Berge und die steilen Felsen, die lotosblühenden Ebenen und die fetten Äcker, das weißliche Meer. Ausnahmsweise ist hier also ein Landschaftsbild in ruhiger Zuständlichkeit gegeben (bezeichnend der Ubergang vom schildernden Präsens der ersten Gleichnishälfte zum resultierenden Perfekt des zweiten Teils: κέχυται, εΐλυται; allein die ans Festland schlagende Welle bringt eine schwache Bewegung ins Bild). Mit diesem statischen Grundcharakter des Gleichnisses dürfte die selbst für homerische Verhältnisse bemerkenswerte Häufung der Beiwörter zusammenhängen. Die Parallele in struktureller Hinsicht besteht darin, daß wie im Wolkengleichnis von Π zunächst die Ursache, dann die Wirkung geschildert ist, auf eine Phase der Bewegung ein Zustandsbild folgt. Jedoch ist in TT der zweite Teil im Verhältnis zur Vielzahl der landschaftlichen Elemente nur sparsam mit Beiwörtern ausgestattet. Der Unterschied läßt sich nicht etwa durch den höheren Stellenwert der Winterlandschaft im M-Gleichnis erklären, denn weder im Gleichnis 52

53 54 55

Eine ähnliche Ponderierung findet sich im Gleichnis E 87 ff : Der alles mit sich reißende Fluß ist am stärksten mit Detail ausgestattet, die Aufzählung der überschwemmten Landschaft erfolgt sehr viel knapper. Horn. Unters. 216. Gleichnisse 32 Anm. 4 und 33. Dazu F R A N K E L , Gleichnisse pass., bes. 1 1 und 1 0 4 : Da es Homer unmöglich ist, ein statisches Bild zu schildern, ist der Terminus „Bild" für die Gleichnisse nur anwendbar, wenn man darunter ein Bewegungs- oder Schallbild versteht.

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noch im Geschehenszusammenhang kommt ihr besondere Bedeutung zu 56 ; auch ist der Charakter des Allgemeinen, Summarischen beiden Gleichnissen gemeinsam (auch in M stehen mit Ausnahme des Meeres alle Angaben im Plural, dem ττασαι Π 299 entspricht πάντα M 285). Während aber die Bergwelt nach dem Abzug der Wolke im Moment des Sichtbarwerdens, also sozusagen in Bewegung erfaßt wird (sämtliche Verben im Aorist), ist in der Winterlandschaft jede Bewegung unter der Schneedecke erstarrt. Diese unterschiedliche Ausführung der Landschaft in zwei Gleichnissen läßt auf eine gewisse Affinität von Statik und Beiwort schließen. Negativ war eine solche Vermutung bereits nahegelegt worden durch die zahlreichen Gleichnisse, deren starke Dynamik im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Beiwörter und sonstigen Details steht (s. o. 76f). Positiv kann eine andere Beobachtung die Vermutung erhärten. Sieht man vom Meer ab, so ist es von allen landschaftlichen Formationen die ττέτρη allein, die so gut wie nie ohne Beiwort steht. Fungiert sie wie O 618f (s. o. 80, ähnlich ττρών Ρ 747f, s. o. 80) als Gleichnisträger, ist ihre besondere Hervorhebung selbstverständlich. Wenn jedoch die Quelle κατ' αίγίλιττος ττέτρης ihr Wasser gießt (I 14f = Π 3f), der Angler ττέτρη επι προβλήτι sitzend den Fisch aus dem Wasser zieht (ΓΓ 406ff), zwei Geier ττέτρη έφ' υψηλή miteinander kämpfen (TT428f), der Falke sich άττ' αίγίλιττος ττέτρηξ ττεριμήκεος hebt, um einen anderen Vogel zu verfolgen (N 63f) 57 , so verdient das insofern Beachtung, als alle genannten Gleichnisse nicht mehr als zwei Verse umfassen und jeder entbehrliche Zusatz der Ökonomie solcher Kurzgleichnisse eigentlich widerstrebt. Auch handelt es sich, wie die Präpositionen zeigen, lediglich um Lokalangaben, also um ausgestaltende Gleichniszüge, die normalerweise keine Entsprechung im epischen Geschehen haben. Das heißt: Der Fels, Inbegriff des Statischen, zieht auch da, wo er nicht Sinnbild von Festigkeit und Widerstandskraft ist, in der Regel ein Beiwort an sich, nicht selten sogar deren zwei (N 63. O 618f. Ρ 747f)68. 5

· Der Nachsatz schließt an den ersten Vers des Gleichnisses an (νιφάδες θαμειαί — λίθοι θαμειαί), ein Stimmungsbezug zu Achaiern und Troern ist im Unterschied zu TT 297 ff nicht erkennbar. 67 Ferner ήλίβατοζ ττέτρη O 273. Die κοίλη ττέτρη, in der die verfolgte Taube Zuflucht sucht (Φ494), und die ττέτρη γλαφυρή, aus der die Bienen ausschwärmen (B 88), sind hier nicht mit aufgezählt, weil das Beiwort in beiden Fällen für den Funktionszusammenhang unentbehrlich, also nicht der Klasse der epitheta ornantia zuzurechnen ist. 68 Ähnlich liegen die Dinge bei der ύλη. Obwohl sie nie als Gleichnisträger fungiert, erscheint sie meist durch ein Beiwort konkretisiert: durch βαθύ;, wenn es auf die räumliche Ausdehnung ankommt (Π 766. Y 491, dazu βαθέ' δγκεα 490, auch E 555), durch δάσκιοί, wenn sie die verfolgte Hirschkuh retten soll (O 273).

Epos

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Neben dem Bewegungscharakter gibt es in selteneren Fällen noch ein weiteres Kriterium für die unterschiedliche Konkretisierung der Landschaft durch Beiwörter, wie eine Synopse der wichtigsten Baumgleichnisse der Ilias zeigt. Für uns geht es dabei weniger um den Gleichnisträger, der natürlich auch ein Stück Landschaft repräsentiert, als um die lokalen Begleitangaben. Ν 389ff wird der fallende Asios mit einem Baum verglichen, den die Bauleute fällen, M 132ff halten Polypoites und Leonteus stand wie Eichen. Beide Gleichnisse begnügen sich mit der einfachen Lokalangabe οΰρεσι, alle übrigen Hinweise sind streng sachbezogen: Die Bäume, die sich bei Homer meistens durch ihre Höhe auszeichnen, bekommen ein entsprechendes Beiwort (βλωθρός, ύψικάρηνος), das zweite Gleichnis, ein „Charakterbild" der beiden Trotz bietenden Kämpfer 59 , gestaltet das feste Wurzeln in der Erde als wichtigstes Bildelement besonders stark aus (zu ρίζησιν treten zwei Epitheta, wobei der Zuwachs um eine Silbe pro Wort das feste Haften nachzeichnet: μεγάλησι διηνεκέεσσ'). Der den Gleichnissen vorausgehende epische Bericht ist in seiner Nüchternheit kaum zu überbieten. Zu dramatischer Wucht gesteigert wird das Baumgleichnis, wenn es mit Hektor in Beziehung steht (2 414ff). Natürlich kommt für den stärksten Troerhelden nur die Eiche in Betracht, und um die Gewalt des von Aias geschleuderten Steins zu demonstrieren, muß fast schon das Übernatürliche bemüht werden: Zeus' Blitzstrahl (statt der Holzfäller) und Schwefelgestank. Aber jede auch noch so bescheidene Lokalangabe, ja überhaupt jedes anschauliche Beiwort fehlt, πρόρριζος kennzeichnet nicht die äußere Erscheinung des Baumes, sondern die Art seines Falls, die übrigen Beiwörter (δεινός, χαλεπός) beziehen sich auf kaum noch kontrollierbare Größen und verstärken so den Eindruck unheimlicher Wucht. Wieder einmal scheint die Kraft der Bewegung für Landschaft keinen Raum gelassen zu haben. Ganz anders dagegen die beiden Gleichnisse Δ 482ff und Ν 178ff. Das erste vergleicht den jungen Simoeisios mit einer Pappel, die εν είσμευή ελεος μεγάλοιο wächst (also nicht im Gebirge wie die meisten Bäume der Gleichnisse); nachdem der Wagenmacher sie gefällt hat (reiches Detail), liegt sie ττοταμοϊο π α ρ ' όχθαξ (ein in der Ilias nicht gerade häufiger statischer Gleichnisschluß). Im zweiten Gleichnis fällt Imbrios wie eine Esche ,,auf weit sichtbarem Bergesgipfel". Auch hier ist die Szenerie relativ breit gegeben, was bei der im übrigen sparsamen Ausführung des Gleichnisses stark ins Gewicht fällt; der Baum selbst ist durch seine isolierte Stellung ausgezeichnet60. Den M

FRANKEL,

Ebd. 36.

Gleichnisse

38.

Ilias

95

besonderen Rang beider Gleichnisse innerhalb ihrer Gruppe weist fast jeder Einzelzug aus. So haben die Beiwörter diesmal keinen typischen Charakter, λεΐοξ, mit einer gewissen Emphase erst hinter der ausführlichen Lokalangabe zu Beginn des neuen Verses nachgetragen, entspricht dem Erscheinungsbild des ήίθεος θαλερός Simoeisios (Δ 474), im Ν-Gleichnis weist das auffällige Motiv der τέρενα φύλλα auf die Jugend des Helden, den Priamos wie sein eigenes Kind ehrte. Den Gleichnissen voraus geht keine Kampfschilderung, sondern ein Resümee des Lebens des dem Tode geweihten Kriegers. Auf diese Weise den Kreis von Geburt und Tod sich schließen zu lassen, entspricht zwar der Gepflogenheit des Iliasdichters61, vor allem bei Simoeisios jedoch fällt die Länge des Exkurses und der Reichtum an individuellen Angaben auf®2. Daher ist im Unterschied zu den „neutralen" Baumgleichnissen®3 weder das Pappel- noch das Eschengleichnis austauschbar. Die besondere landschaftliche Ausgestaltung beider Gleichnisse entspricht dem besonderen Tenor der Erzählung. Zwar handelt es sich bei Simoeisios und Imbrios um Episodenfiguren. Trotzdem ist eine gewisse Anteilnahme des Dichters an ihrem Schicksal nicht zu verkennen, durchbricht er hier doch ausnahmsweise die sonst gewahrte Anonymität. G. STRASBURGER 64 hat darauf hingewiesen, daß bei beiden Helden die Herkunftsbezeichnung — neben Patronymikon und Bezeichnung der αρετή der dritte „Kennbegriff" eines Helden — durch ein Bild des Friedens erweitert ist. Bei Simoeisios ist dieses Bild sogar zu einer kleinen Geschichte ausgesponnen, die durch die schaubare Nähe von Ida und Simoeis besondere Aktualität erlangt. Und für Imbrios, einen Schwiegersohn des Priamos, gilt STRASBURGERS Satz: „Priamos (ist) das Zauberwort, welches allen damit in Verbindung gebrachten Personen Achtung und Glanz verleiht" (24). Dieser Sonderstellung der beiden Helden im Rahmen der kleinen Iliaskämpfer trägt auch der besonders stark ausgeprägte landschaftliche Charakter der ihnen gewidmeten Gleichnisse Rechnung. u

So wertet V I V A N T E 82 die Baumgleichnisse der Ilias als Ausdruck einer Erfahrung, die nicht nur menschlich ist. *2 Der Gleichnisschluß ποταμοΐο π α ρ ' όχθας entspricht dem δχθησιν Σιμόεντοί, wo die Mutter den Simoeisios gebar (Δ 475). Zu dem bereits unter den Scholiasten ausgebrochenen Streit, ob hier tatsächlich eine Entsprechung vorliege, F R A N K E L , Gleichnisse 36f, der den Streit salomonisch schlichtet. Es ist schließlich auch zu beachten, daß Simoeisios nach dem Fluß, an dem er geboren wurde, heißt. ω So kehrt Ν 389ff in Π (482ff, jetzt auf Sarpedon bezogen) unverändert wieder. M Die kleinen Kämpfer der Ilias, Diss. Frankfurt 1954, 27ff. Nach der 77f vorgenommenen Einteilung gehören beide Helden zu den Nebenfiguren mit „Affektwert" (im Unterschied zu solchen mit „Funktionswert", etwa Asios, der Polydamas' Warnung in den Wind schlägt und damit auf Hektor vorausweist).

96

Epos

In den bis jetzt betrachteten Fällen herrschten Beiwörter vor, die die Landschaft entweder in ihrer Erstreckung in Fläche und Raum oder in ihrer Kontur erfassen (ζ. Β. μέγας und ευρύς, ήλίβατος und άκρος). Daß sich für das individualisierende Beiwort, das mehr den momentanen Zustand als das Wesen kennzeichnet (πεδία λωτευντα M 283, ουρεος άζαλέοιο Υ 491), nur wenige Beispiele finden lassen, ist beim typisierenden Charakter der Gleichnisse selbstverständlich. Dagegen muß das Fehlen fast aller Oberflächenbezeichnungen, vor allem des Farbworts, auffallen, zumal es primär die Farbe ist, die Landschaft erst wahrnehmbar macht. Nur in einem Bereich spielt das Farbwort bei Homer eine bedeutende Rolle, in der Darstellung des Meeres, dessen genaue Beobachtung und feine Differenzierung oft genug bewundert worden sind: das weinfarbene (οϊνοψ) oder tiefviolette (ΐοειδής) Meer, der weißlich-graue (πολιός) Gischt in Küstennähe, das dunstige (ήεροειδής) Verschwimmen am Horizont 65 . Jedoch ist selbst hier eine Einschränkung zu machen. Es gibt in Ilias und Odyssee bei allem Reichtum der Abstufung nur die dunklen Töne; ein ,,blaues" Meer kennt Homer nicht. Die einzige Stelle, an der die Ilias von der γλαυκή θάλασσα spricht (Π 34), steht bezeichnenderweise nicht in einem landschaftlichen Zusammenhang, sondern dient zur Charakterisierung von Achills Starrsinn. Das Beiwort meint den kalten Glanz, den das Meer, offenbar aber auch der Blick des Löwen (γλαυκιόων Y172, Hes. Scut. 430) annehmen kann, ist also eher Glanz- als Farbwort 68 . Und genausowenig wie ein blaues Meer gibt es in der Ilias einen blauen Himmel, einen grünen Baum oder Wald. Dieses für den modernen Leser zunächst befremdliche Phänomen hat man auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Die seit W. E. GLADSTONES Theorie von der allmählichen Entwicklung des Farbsehens bei den Griechen67 früher häufig vertretene These von der teilweisen Farbblindheit der alten Griechen68 darf heute als darwi65

Eine Zusammenstellung aller epischen Beiwörter des Meeres bei E. B U C H H O L Z 61 ff mit den im allgemeinen richtig gesehenen Unterscheidungsmerkmalen, ferner L E S K Y , Thal. 155ff. Eine Aufstellung aller Farbwörter nach den durch sie bezeichneten Objekten gibt Α. E. KOBER, The Use of Color Terms in the Greek Poets, Diss. New York 1932. · · Vgl. M. L E U M A N N , Homerische Wörter, Schweiz. Beitr. Altertumswiss. 3, Basel 1950, 148ff. Richtig schon E. B U C H H O L Z 62 („spiegelblank"); ferner L E S K Y , Thal. 161, W. C A P E L L E , Farbenbezeichnungen bei Theophrast, Rhein. Mus. 101, 1958, 1—41, hier 11 („gleißend"), M. P L A T N A U E R , Greek Colour-Perception, Class. Quart. 15, 1921, 153—162, hier 156. 67 Studies on Homer and the Homeric Age, Oxford 1858. 68 Etwa W. SCHULTZ, Das Farbempfindungssystem der Hellenen, Leipzig 1904, der trotz mancher Modifikationen die alte These grundsätzlich beibehält. Nicht viel besser auch noch C A P E L L E 5 : „Offenbar haben die homerischen Dichter dafür (für einen blauen Himmel) noch kein Auge gehabt."

Ilias

97

nistisches Kuriosum abgetan werden. Bei dem Sinn der Griechen für Farbe und Buntheit in anderen Lebensbereichen (Kleidung, Hausgerät, Statuen, Tempel) sowie der Farbenpracht minoischer Palastarchitektur und Keramik war sie von vornherein unwahrscheinlich und als Ergebnis eines Schlusses ex silentio auch nur schwach abgesichert®9. Weiter führen jene Erklärungsversuche, die nicht auf physiologischem, sondern — an sich das Nächstliegende — auf poetischem Gebiet eine Antwort suchen. Eine große Bedeutung hat die Farbe in der griechischen Dichtung zu keiner Zeit gehabt. Die genaue Differenzierung und Benennung der Tönungen blieb der Wissenschaft vorbehalten, während die Dichtung dieselben Farbwörter oft für recht unterschiedliche Farbnuancen verwendet. Daß die Farbe im altgriechischen Epos noch stärker in den Hintergrund tritt, ist wenigstens zum Teil gattungsbedingt, wie ein Blick auf die epische Dichtung anderer Völker zeigt, wo die Dinge ganz ähnlich liegen. Auch das Gilgameschepos, die Edda und selbst das relativ späte Nibelungenlied spielen in einer Welt ohne Farbe. Es scheint ein episches Stilgesetz zu sein, sich in der Farbgebung äußerste Zurückhaltung aufzuerlegen und das Farbwort durch das Glanzwort zu ersetzen, also durch eine Kategorie, die auch in der Ilias reich vertreten ist70. Dagegen spielen Vegetationsfarben im alten Epos kaum eine Rolle. Beim Menschen begnügt es sich mit einem einfachen λευκώλενοξ oder ξανθός bzw. κυάνεοξ (vom Haar)71, und auch die epische Gewandung ist im allgemeinen nicht farbig, sondern „glänzend" (Γ 141. 419. E 315. 1 185, X 154 u. a.)72. Eine allseitig befriedigende Erklärung für dieses epische Stilgesetz der „Farblosigkeit" ist m. W. bis jetzt nicht gegeben worden. Die Vermutung von MÜLLER-BORÉ, das Glanzwort steigere die idealen Züge, während das mehr der Prosa zugehörende Farbwort eine realistische Darstellungstendenz erkennen lasse (44), trifft sicher etwas Richtiges, aber ebenso sicher greift sie mit dem Gegensatzpaar ideal — realistisch um einiges zu kurz. Geht man von der definitorischen Funktion der meisten homerischen Beiwörter aus, kommt man wohl zu einer befriedigenderen Lösung. Zum Wesen des Baumes gehört für • 9 Wie schnell sich derartige Schlüsse ad absurdum führen lassen, zeigt das Beispiel von GOETHES „Hermann und Dorothea". Wäre nur dieses Werk des Dichters erhalten, ergäbe sich für den Farbforscher Goethe anhand einer mechanischen Statistik die Unfähigkeit, ultrablaue Farben wahrzunehmen. Vgl. H. SCHULTZ, N. Jb. f. d. klass. Altertum 14, 1911, 14. 70 O. WEISE, Philol. 96, 1888, 594 gibt für Homer folgende Vergleichszahlen (in Prozenten) : hell 46, dunkel 40, rot 8, gelb 6, blau und grün zweifelhaft. 71 Vgl. TREU, Lyrik 217 ff. 72 Dazu K. MÜLLER-BORÉ, Stilistische Untersuchungen zum Farbwort und zur Verwendung der Farbe in der älteren griechischen Poesie, Klass.-phil. Stud. 3, Berlin 1922, 25 f. 7

Elliger, Darstellung

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Epos

Homer die Höhe (s. o. 94), zum Wesen des Felsen das steile Emporragen, dagegen offenbar nicht die Farbe. Andererseits kann Homer der gleichen Sache zwei verschiedene, unter Umständen sogar für unsere Begriffe sich widersprechende Farbepitheta beilegen, ύδωρ λευκόν ist eine feste epische Verbindung, aber die Quelle im Gleichnis ist μελάυυδρος und vergießt δνοφερόν ύδωρ (I 14f = Π 3f) 73 . Die Morgenröte erscheint meist als ροδοδάκτυλος, nicht selten aber auch als κροκόττεττλος, was nicht auf zwei verschiedene Dichter 74 , sondern auf genaue Naturbeobachtung schließen läßt ( M ü l l e r - B o r é : die rosigen Strahlen unmittelbar vor Sonnenaufgang — das flächige Gelb nach Sonnenaufgang). Auch die Wiedergabe der verschiedenen Tönungen des Meeres je nach Region und Zustand (Ruhe — Bewegung) läßt den Schluß zu, daß die homerische Farbangabe nicht etwas bezeichnet, was der Sache an sich zukommt, sondern der Sache in einem bestimmten Zustand, unter bestimmten Bedingungen 75 . Die von der griechischen Philosophie schon früh aufgegriffene Frage, ob die Farben objektive Naturtatsachen oder subjektive Sinneseindrücke seien, ist für das Epos zugunsten der zweiten Möglichkeit zu entscheiden. „Die Farbensprache des Epikers ist die unmittelbare Wiedergabe der Eindrücke, die er empfängt" 76 , und diese Eindrücke sind in erster Linie durch Licht und Schatten bestimmt. Das erklärt zum einen die klare Vorherrschaft des Glanzwortes vor dem Farbwort, zum anderen den weitgehenden Mangel an absoluten Farbbezeichnungen. So liegen den meisten homerischen Farbwörtern Vergleiche mit Materialien (meist Metallen: χρυσούς, άργυροΰς u. ä.) 77 oder mit Pflanzen (ίοειδής, ροδοδάκτυλος, κροκόττεττλος, χλωρός) zugrunde. Damit hat sich der Schwerpunkt des Problems verschoben. Hinter der gattungsstilistischen Erklärung für das Fehlen des epischen Farbworts zeichnet sich eine psychologische ab. (Bezeichnenderweise bieten 73

Der Gegensatz wird gemildert, wenn man λευκό; als Glanzwort versteht, was schon die Etymologie (λύχνος, lux) nahelegt (vgl. auch G. REITER, Die griechischen Bezeichnungen der Farben Weiß, Grau und Braun, Diss. Innsbruck 1962, 22ff). Dann handelt es sich bei den angeführten Stellen lediglich um Helligkeitsunterschiede des Wassers (auf den scheinbaren Widerspruch hat schon das R-Scholion zu Hes. Erg. 150 hingewiesen).

74

S o CAPELLE 1 2 .

75

Zwei weitere Beispiele: Das Blut kann κελαινός, μέλας, φοινικοϋς, έρυθρός,, πορφυρούς, der Sand κελαινός, λευκός, κυάνεος, χλωρός sein (PLATNAUER 162).

76

MÜLLER-BORÉ 14, v g l . a u c h LESKY, T h a l . 1 5 7 .

77

Dazu neben der angeführten Literatur auch J. WERNER, Blauer Himmel bei Homer ?, Forschungen und Fortschritte 33, 1959, 311—316 (mit Beispielen auch aus anderen Literaturen) und H. GAUGER, Optische und akustische Sinnesdaten in den Dichtungen des Vergil und Horaz, Tüb. Beitr. z. Altertumswiss. 16, Stuttgart 1932, bes. 17 und 23f (zur Verwendung der Farben Blau und Grün in epischer Dichtung).

Ilias

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auch die Gleichnisse, die sonst eine gewisse Eigengesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen, nicht mehr Farbigkeit als die epische Erzählung auch.) TREU'8 hat die Vermutung ausgesprochen, daß SNELLS Erklärung der homerischen „Eigenschaften" als Funktionen auch die umstrittene Frage des epischen Farbworts einer grundsätzlichen Lösung näherbringen könnte. Was die Verwendung der Farbe in den Landschaften der Ilias anbetrifft — und für die Odyssee gilt grundsätzlich das gleiche, auch wenn sie eine etwas breitere Skala aufweist und gelegentlich den bewußten Einsatz der Farbe erkennen läßt 79 —, wird T R E U S Vermutung zutreffen, χλωρός ist bei Homer nicht Baum, Wiese oder Tal (sie bekommen als Beiwort καλός oder άγλαός), sondern das ,,blasse" Entsetzen, das den Menschen packt und seine Haut grünlich-fahl erscheinen läßt 80 . Sehr wohl aber können πίσεα (Y 9) und άγκεα (δ 337. ρ 128) „grasreich" sein, ohne daß dabei an ihre besondere Eignung als Weideplätze gedacht sein müßte (ähnlich die Verwendung von ττοιήεις als Beiwort von Städten Β 503. 1 150). Auch das Gras, das die Erde auf dem Ida hervorsprießen läßt, oder der junge Ölbaum im Gleichnis sind nicht einfach ,,grün": νεοθηλής ( I 347) und εριθηλής (Ρ 53, vgl. auch τηλεθάον 55) bezeichnen das Grün als Wachsen, nicht als Sein. Wie in der gesamten griechischen Dichtung die flächigen, klar voneinander getrennten Lokalfarben zurücktreten hinter hellen und dunklen Tönungen, bei denen Licht und Schatten durchaus eigenwertig sind, so scheint speziell für das Epos der Bewegungscharakter der Farben charakteristisch zu sein81. Ilias und Odyssee kennen eine Reihe von Farbverben (μελαίνειν Σ 548 vom '8 Lyrik 218. 79 πορφύρεον μέγα φάρος εχων êv χειρί παχείη macht sich Agamemnon auf den Weg zu den Schiffen (Θ 221), πορφύρεον μέγα φάρος έλών χερσί στιβαρηαιν verhüllt sich Odysseus das Haupt, als Demodokos geendet hat (θ 84). Dort ein flüchtiges Auftauchen der Farbe, um einen Akzent zu setzen, hier die pathetische Geste, die der Farbe nur schwer entraten könnte (eine ähnliche, aber in Ausführung und Bedeutung weit schwächere Geste δ 115f und 153f, wohl nach 6 84 konzipiert). Weitere Belege: κ 352ff (das reizvolle Spiel zwischen dem Silber und Gold von Tischen und Geschirr und den über die Tische gebreiteten roten Decken), ξ 500 (χλαϊναν φοινικόεσσαν in Thoas' anschaulich gegebener Kriegsepisode, vgl. auch τ 225. φ 118). — Die bedenkenlose Verwendung der Farbe im 10. Buch der Ilias (δαφοινόν δέρμα 23, χλαϊναν φοινικόεσσαν 133) dürfte mit ein Indiz für seine Unechtheit sein. 80 χλωρόν δέος Η 479. Θ 77, ähnlich O 4. Κ 376; vom Honig Λ 631. Die Belege zeigen, daß χλωρός schon bei Homer Farbwort ist; dazu E . H A N D S C H U R , Die Färb- und Glanzwörter bei Homer und Hesiod, in den homerischen Hymnen und den Fragmenten des epischen Kyklos, Diss. Wien 1970, 150ff. 81 Dazu M . R I E M S C H N E I D E R , Farbe und Licht bei Homer, Zeitschrift f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 35, 1941, 81—109, die den Bewegungscharakter der Farben bei Homer als eines der wichtigsten Resultate ihrer Untersuchung nennt (98); vgl. auch dies., Homer, Leipzig 1950, 162 und H A N D S C H U R 14f. 7»

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Epos

Brachfeld, άκροκελαινιδυ Φ 249 vom Skamandros, λευκαίνειν μ 172 vom Wasser unter den Ruderschlägen), die gerade auf die Veränderung der Farbe abzielen, auf das Hell- oder Dunkelwerden. Auch ein Teil der Farbadjektive charakterisiert nie eine unbewegte Fläche. Neben dem Glanzwort αργός in der Doppelbedeutung „schnell" und „glänzend" 82 wären vor allem πολιός und πορφύρεος zu nennen, -πολιός ist das Beiwort des Meeres in Küstennähe und bezeichnet das weißliche Grau des Brandungsgischts ; aber auch unter den Schlägen der Ruder kann das Meer diese Färbung annehmen (μ 147. 180 ; der gleiche Vorgang 172 in verbaler Fassung: λεύκαινον ύδωρ in einem Formelvers) 83 . Noch enger ist die Verbindung von Beiwort und Bewegung bei πορφύρεος, das — von φΰρω „walle auf" (aus φίίριω mit Intensivreduplikation) abzuleiten — zunächst überhaupt kein Farbwort gewesen zu sein scheint, allerdings schon bei Homer eine Farbe bezeichnen kann, so in der Verbindung mit Regenbogen (P 547), Wolke (P 551) und Gewand (Θ 221. θ 84 u. ö.)84. Als Beiwort des Meeres hat πορφύρεος die ursprüngliche Bedeutung „wogend", „wallend" gewahrt (vgl. πορφυρή πέλαγος 2 1 6 : die Bewegung des Meeres von unten herauf). Bezeichnend ist die im Epos fast regelmäßige Verbindung mit κΰμα: die aufschäumende Woge unter dem darübergleitenden Schiff (A 481 f = β 427f, ähnlich ν 84f, wo der Bewegungscharakter (θϋε) besonders deutlich ausgeprägt ist), die sich erhebende Woge des Skamandros, die Achilleus mitzureißen droht (Φ 326, ähnlich λ 243). Auch die seltene Verbindung mit άλς läßt an das aufgewühlte Meer denken: die sich ins Meer stürzenden angeschwollenen Flüsse (Π 391 f) 85 . Auch die Erklärung des Aristoteles für πορφύρεος de col. 792 a 20 verträgt sich durchaus mit dem Bewegungscharakter des epischen Beiworts, denn sie zielt auf die Farbwirkung ab, die in einem bestimmten Moment auf den schrägen Flächen der sich erhebenden Wogen entsteht. Neben dem Bewegungscharakter mag bis zu einem gewissen Grad schließlich auch die metaphorische oder symbolische Verwendung mancher Farbwörter8® für den geringen Anteil der Farbe an den 82

83 81

85

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Daß für beide Bedeutungen dieselbe Wurzel anzunehmen ist, läßt sich nach Auskunft der etymologischen Wörterbücher allerdings nicht mit Sicherheit ausmachen (BoiSACQ, noch skeptischer H O F M A N N ) . Dazu L E S K Y , Thal. 1 5 9 , R E I T E R 5 6 ff. Eine (spätere) Vermischung mit πορφύρα ist anzunehmen, die ursprüngliche Verbindung von πορφύρω und πορφύρα nach B O I S A C Q unwahrscheinlich. Anders L E S K Y , Thal. 1 6 3 , der die Verbindung „wenig prägnant" nennt, aber ebenfalls auf die enge Verbindung des Beiworts mit der Bewegung des Meeres hinweist; vgl. auch P L A T N A U E R 1 5 9 . Dazu J. R E I L I N G E R , Symbolik der Farben bei Homer, Diss. Wien 1937; zur Bedeutung von Weiß und Schwarz G. R A D K E , Die Bedeutung der weißen und der schwar-

Ilias

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Landschaften des Epos verantwortlich zu machen sein. So ist μέλας in Verbindung mit κήρ, αίμα oder όδυναί weder reine Farbbezeichnung noch reine Metapher (für Tod oder Schmerz), sondern kennzeichnet Inneres und Äußeres zugleich; und auch das unter den kräuselnden Wellen sich dunkelfärbende Meer (μελάνει Η 64, s. o. 78f) ist Gleichnis für das bald losbrechende Unheil87. Wenn der Regenbogen, den Zeus den Menschen vom Himmel spannt, das Beiwort ττορφύρεος bekommt (P 547), dürfte dabei nicht so sehr an den untersten Streifen oder die farbliche Erscheinung des Bogens (AMEIS/HENTZE : „rötlich schillernd") als vielmehr an Krieg und Sturm gedacht sein, und deswegen ist aus dem Spektrum die Farbe von Blut und Tod gewählt88. Ein drittes Beispiel: δαφοινόξ als Beiwort von Schakal (Λ 474), Schlange (B 308) und Löwe (K 23) bezeichnet das farblich doch recht stark unterschiedene Äußere der drei Tiere nur ungenau, dagegen trifft es, was schon die Ableitung von «pôvoç nahelegt, sehr präzise ihr gefräßiges und blutgieriges Wesen89. In welchem Maße die Farbe für die Konkretisierung der Landschaft im alten Epos ausscheidet, mag zusammenfassend das Gleichnis Σ 207ff erläutern. Die für den Geschehensablauf besonders wichtige Rückkehr Achills in den Kampf hebt der Dichter durch ein außergewöhnlich langes und beziehungsreiches Gleichnis hervor, das unmittelbar an das nun tödlich bedrohte Troia denken läßt: die von Feinden belagerte Stadt und die Feuerzeichen, die auf die Notlage ihrer Einwohner aufmerksam machen sollen. Dieser erste Auftritt des Helden nach der langen Kampfpause ist vom Dichter als ein Lichtereignis konzipiert; an keiner anderen Stelle der Ilias spielen Licht und Glanz eine derart große Rolle. Von der goldenen Wolke um Achills Haupt läßt Athene eine leuchtende Flamme strahlen, und entsprechend sind Licht und Schein die Grundmotive des Gleich-

87

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zen Farbe in Kult und Brauch der Griechen und Römer, Diss. Berlin 1936. Weitere Hinweise etwa bei R E I T E R 27 f : Rot als Farbe der Macht oder des Prunks. (In der Verbindung ττορφύρεος θάνατο; E 83 u. ö. dürfte das Beiwort jedoch eher im Sinn von „dunkel" zu verstehen sein, vgl. μέλανος θανάτοιο μ 92 und die „dunkle Wolke des Todes" Π 350; im wesentlichen zutreffend auch die Erklärung bei Eustathios 116, 17 : ττορφύρεος als Spielart von „schwarz".) Weitere Beispiele für die symbolische Verwendung von μέλας bei H A N D S C H U R 210ff. In der Terminologie F R A N K E L S : Das Gleichnis bietet mehr Stimmung als Anschauung (Gleichnisse 29). — Die Wolke, in die sich Athene hüllt, um den Kampf von neuem zu entfachen, bekommt ebenfalls das Beiwort ττορφύρεος ( Ρ 651) und ist damit als Unheilswolke gekennzeichnet (vgl. L E A F im Kommentar zu Ρ 5 4 7 ) . Die Verbindung von φοινό; und φόνος, blutroter Farbe und Mordblut, im Wolfsgleichnis Π 156ff.

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Epos

nisses: Der Rauch 90 „dringt bis zum Äther", die Feuersignale „brennen", der Glanz „stürmt in die Höhe", der Schein von Achills Haupt „erreicht den Äther", die Flamme „leuchtet hell". Dagegen treten weder Stadt noch Insel noch Sonnenuntergang farblich irgendwie in Erscheinung, der unendliche Glanz hat alle Farben verschluckt. Ferner zeigt sich, daß es Glanz oder Licht für den Iliasdichter nur in der Bewegung gibt, aus einer bestimmten Lichtquelle (εξ αστεος . . . τηλόθεν εκ υήσου, άττ' Άχιλλήοξ κεφαλής) oder in Richtung auf ein Ziel hin (αίθέρ ' ϊκηται, ΰψόσε άίσσουσα), nicht als Zustand, als Helligkeit. Und schließlich: Das Licht bedeutet etwas, für die Angreifer (Griechen) Hoffnung, für die Belagerten (Troianer) Tod; im Gleichnis gelten die Feuerzeichen den Umwohnern, von denen man sich Rettung verspricht. In keinem Vers ist das Licht lediglich optisches Phänomen, immer hat es seinen Zielpunkt im Hoffen und Fürchten des Menschen91. Auch die Gleichnisse bieten also trotz ihrer vielgepriesenen Anschaulichkeit nur wenig Farbe und passen sich damit der epischen Technik der Landschaftsdarstellung an. Das entspricht zum einen der epischen Sprechweise, für die „greifbare Plastik weit wesentlicher ist als der Zauber der Farbe" 92 , zum andern dem Wesen des homerischen Gleichnisses. Wenn das Fehlen der Farbe in ihm nicht als wirkliches Defizit empfunden wird, dann deshalb, weil es in den Gleichnissen im allgemeinen um bestimmte Verhaltensweisen geht, und dafür ist es gleichgültig, wie etwas aussieht. Das heißt, auch mit einer reicheren Farbskala wäre Homer dem, was er sagen wollte, nicht nähergekommen. 90

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Zwischen Rauch und Feuer wird nicht streng geschieden (FRANKEL, Gleichnisse 52 Anm. 1). Wertmäßig ist das Licht nicht von vornherein festgelegt. Als Feuer im Gebirge kann es Rettung verheißen, als Schein des Sirius den Untergang bringen (ähnlich die Wolke: „golden" und damit glückverheißend ist sie bei Zeus' Liebeslager 2 343f, „finster", wo sie Gefahr und Unheil bedeutet, etwa Δ 275ff). L E S K Y , Thal. 160.

Odyssee Im Schlußkapitel seines Homerwerkes bemerkt A. SEVERYNS, aus den Gleichnissen der Ilias ließen sich beliebig viele Odysseelandschaften formen und umgekehrt könnten aus den Landschaften der Odyssee Iliasgleichnisse zusammengestellt werden1. Diese Feststellung nimmt bei dem unerschütterlichen Glauben des Verfassers an den einen Homer, dem Ilias und Odyssee ganz zugehören, nicht wunder, sie bedarf aber einer genaueren Prüfung. Selbst wenn man SEVERYNS' Voraussetzungen annimmt, bleibt doch die Tatsache, daß beide Großepen zwei verschiedenen literarästhetischen Bereichen angehören. Gemeinhin stellt man ja die durch Märchen, Abenteuererzählungen und — vor allem im Bezirk des Höfischen — intimere Darstellungen geprägte Odyssee der heroischen Ilias gegenüber, also Homers eigene „höfische" Zeit der vergangenen Feudalwelt. Schon ein erster Blick lehrt, daß in der Odyssee die Darstellung der Landschaft einen weit größeren Raum einnimmt als im älteren Epos. War sie in der Ilias besonders auf die Gleichnisse konzentriert, zeigt die Odyssee genau das umgekehrte Verhältnis. Ihre Gleichnisse sind nicht nur weniger zahlreich, sie beschäftigen sich auch weniger mit Landschaft und Natur2, während die eigentliche Erzählung eine ganze Reihe recht breiter und in sich geschlossener Landschaftsdarstellungen aufweist: die Insel der Kalypso, die Gärten des Alkinoos, die Ziegeninsel, den Phorkyshafen auf Ithaka, um nur die allerwichtigsten zu nennen3. Sicher hat man das eine als Wechselfunktion des anderen zu verstehen4. Weil Kalypso, Kirke, Polyphem und Phaiaken 1 2

3

4

Homère, 3 Bde, Brüssel, 1944—48, I I I 159. Das Gleichnis τ 205 ff ist eine singulare Erscheinung. Im übrigen gibt es Landschaft fast nur in Kurzvergleichen, wobei der quantitative Bezug oft die beherrschende Vorstellung ist, ζ. B. „eine Woge gleich einem Berg" (λ 243, ähnlich γ 290) oder der Kyklop, der einer „bewaldeten Bergkuppe" gleicht (i 191, ähnlich κ 113 von der Laistrygonenkönigin). Eine vollständige Aufzählung gibt Wilhelm N E S T L E , Odysseelandschaften, in: Griechische Studien, Stuttgart 1948, 32—49, hier 33 Anm. 2. Vgl. etwa auch L E S K Y , Thal. 175. — Die heroischen Partien der Odyssee weisen, darin der Ilias vergleichbar, wohl relativ viele Gleichnisse, aber kaum Landschaft auf, wie sie den lokalen Hintergrund überhaupt stärker vernachlässigen.

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Epos

ohne ihre ganz spezifische Landschaft kaum denkbar sind, wird die Landschaft zum notwendigen Bestandteil der Erzählung5. Das aber macht sie als Thema der Gleichnisse sozusagen entbehrlich. Die Odyssee bedarf keines Elements mehr, das unter anderem mit der Funktion bedacht ist, den eng begrenzten historischen Schauplatz räumlich zu erweitern, „denn ihre Handlung bewegt sich selbst schon zum großen Teil in derjenigen freieren und offeneren Welt, in welche die Gleichnisse der Ilias immer nur auf einen Augenblick hineinleuchten"®. Diese stärkere Integration in das Geschehen bedingt zugleich den individuellen Charakter der meisten Odysseelandschaften. Sie sind vorwiegend in den Erzählungen des Odysseus anzutreffen. Daneben gibt es allerdings, jetzt auch häufiger im epischen Bericht, typische Landschaften mit einem festen Motivvorrat. Zu denken wäre hier vor allem an die zahlreichen Buchten, in denen man bei den verschiedensten Gelegenheiten landet. So liegt es nahe, zwischen den phanta6

Dazu R I E M S C H N E I D E R , Homer 1 8 3 in einer f ü r ihr Temperament typischen überspitzten Formulierung: „Den Dichter der Ilias interessieren Charaktere, den Dichter der Odyssee Räume" (hier auch weitere treffende Beobachtungen zum räumlichen Sehen in Ilias und Odyssee). —· Wie schon bei der Behandlung der troischen Ebene soll auch bei den Odysseelandschaften Homer als Dichter, nicht als Geograph verstanden werden. Alle Versuche, die sich mit der Lokalisierung eines epischen Ortes und dessen geographisch genauer oder ungenauer Schilderung befassen, sind also grundsätzlich ausgeklammert. Mit gesundem Urteil zu dieser Frage schon D R E R U P 173ff; hier auch Angaben zur älteren Literatur (vgl. auch B E T H E I I I 173ff). In neuerer Zeit h a t A. L E S K Y , Wien. Stud. 63, 1 9 4 8 , 5 3 ff auf den unvereinbaren Gegensatz von Dichtung und exakter Geographie hingewiesen und dem „Anschauungsrealismus" in der Odysseeinterpretation jedes Recht abgesprochen. Trotzdem versucht man sich immer wieder an hoffnungslosen Lokalisierungen und will eine Grenze zwischen fabelhafter und geographischer Welt nicht anerkennen. Aus den letzten Jahren wären zu nennen: L. M O U L I N I E R , Quelques hypothèses relatives à la géographie d'Homère dans l'Odyssée, Aix-en-Provence 1 9 5 8 ; L. G. P O C O C K , Reality and Allegory in the Odyssey, Amsterdam 1959 (mit verwegen sicheren Identifizierungen) ; A. R O U S S E A U - L I E S S E N S , Géographie de l'Odyssée, 3 Bde, Brüssel 1 9 6 1 — 6 3 ; E. B R A D F O R D , Reisen mit Homer, Bern/München 1 9 6 4 ; G. L E S S I N G , The Voyages of Odysseus, London 1966; H. H. und A. WOLF, Der Weg des Odysseus. Tunis — Malta — Italien in den Augen Homers, Tübingen 1 9 6 8 (dazu die Besprechung von W. M A R G , Gnom. 42, 1 9 7 0 , 2 2 5 — 2 3 7 , dessen außerordentlich kritische Bemerkungen auf die meisten dieser Versuche zutreffen). — Noch weit kühner als die von B R A D F O R D wieder vorgetragenen Gleichungen (Ogygia = Malta, Scheria = Korfu, Aiolosinsel = Ustica) ist die geradezu phantastische Arbeit von R. H E N N I G über „Die"Geographie des homerischen Epos" (Neue Wege zur Antike, 1. Reihe H. 1 0 , 1 9 3 4 ) . Gewiß gibt Homer keine „Phantasieschilderungen von Landschaften", aber ebensowenig lag ihm an Landschaftsphotographien, mit deren Hilfe man das Original wiedererkennen könnte. „Mathematische Sicherheit" (14) gibt es nun einmal nicht in der Dichtung, ebenso keine „unangreifbaren Beweise" (30). * F R A N K E L , Dichtung 48.

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sievoll ausgestalteten Märchenlandschaften und den „realistischen" Landschaften zu unterscheiden, wobei die erste Gruppe durch ihre individuellen, die zweite durch ihre typischen Merkmale gekennzeichnet wäre. Aber bereits NESTLE 34 ff hat darauf hingewiesen, daß trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen beiden Gruppen eine säuberliche Trennung nicht möglich ist, weil auch das Märchenhafte durchaus realistisch gesehen ist und umgekehrt das Realistische märchenhafte Züge nicht unbedingt entbehren muß7. Eine Szene der Odyssee, die einen Vergleich mit der Ilias geradezu herausfordert, sei vorangestellt, um zu illustrieren, wie im jüngeren Epos trotz Beibehaltung älterer Formen etwas Neues im Verhältnis von Mensch und landschaftlicher Umwelt aufbricht. Der abseits von den Gefährten am Strand sitzende Achilleus (A 348ff, s. o. 66 f) hat im jüngeren Epos seine Entsprechung in dem am Rande der Kalypsoinsel sehnsüchtig übers Meer blickenden Odysseus (ε 81ff. 151ff). Wie die äußere Situation ähnelt sich auch die landschaftliche Szenerie, die an beiden Odysseestellen kaum ausführlicher gegeben wird als im A der Ilias8; nur die das einfache έπ' άκτής weiter ausführende Lokalangabe άμ ττέτρησι καί ήιόνεσσι e 156 geht über die Iüas hinaus. Aber der Odyssee-Szene eignet ein anderes Ethos, zum einen deswegen, weil sich der Schmerz des Odysseus ungehemmter entlädt : Das einfache δακρύσας der Ilias ist verstärkt durch die Dopplung κλαίε . . . δάκρυα λείβων, dem Jammer des Helden ist zusätzlich ein ganzer Vers vorbehalten (84, ähnlich 151 ff mit starker Hyperbel). Zum andern schildert der Dichter die Szene nicht als einmaligen Vorgang, sondern, wie die mannigfachen temporalen Bezüge erkennen lassen, als Situation. Odysseus sitzt bei Hermes' Ankunft auf der Insel weinend am Strand ενθα ττάρος ττερ (82). Der Zusatz dürfte kaum, wie R. MERKELBACH9 meint, auf die Schilderung einer bestimmten Szene zurückverweisen, sondern den Strand als den Odysseus zugehörigen Ort fern von Kalypso kennzeichnen. Dazu paßt die Mitteilung, daß „niemals" (οΰδέ ποτ' 151) Odysseus' Augen trocken wurden, ferner die Iterativform δερκέσκετο, die das unbestimmte όρόων der 7

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Die Unmöglichkeit einer Maren Scheidung beider Welten betont u. a. auch D. P A G E Odyssee 1 („this real world is hazy on its horizon . . ."). Zum unterschiedlichen Hervortreten märchenhafter Züge in den einzelnen Abenteuern vor allem K . M E U L I , Odyssee und Argonautika, Berlin 1921. M. stellt in den Partien, die nach seiner These auf ein altes Argonautenepos zurückgehen, also in den Abenteuern auf dem östlichen Schauplatz (Laistrygonen, Kirke, Sirenen, Plankten, Thrinakria), mehr märchenhafte Züge fest als bei den im Westen spielenden Abenteuern. θΐν ' έφ ' άλό; ττολιής A 350'—• έττ ' άκτή; ε 82.151, όρόων έπ ' άττεί ρονα πόντον Α 3 ό 0 ~ πόντον èrr' άτρύγετον δερκέσκετο ε 84. 158. Untersuchungen zur Odyssee, Zetemata 2, München 1951, 157.

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Epos

Ilias ersetzt. Die Wirkung der Szene wird zusätzlich noch dadurch gesteigert, daß unmittelbar vorher die Kalypsohöhle beschrieben wird, also jener Bereich, an dem Odysseus keinen Anteil haben will. Gegen die Hebliche, mit allen Reizen der Natur ausgestattete Grottenlandschaft steht die karge Meerlandschaft. Die Unvereinbarkeit von göttlichem und menschlichem Bereich, die im Kontrastmotiv der „mit schöner Stimme" (61) singenden Kalypso und dem Tränen vergießenden Odysseus ihren konzisesten Ausdruck findet, hat ihre äußere Entsprechung in den gegensätzlich gestalteten Orten von Gott und Mensch: 155f sind Höhle und Küste in scharfer Antithese nebeneinandergesetzt, lediglich durch einen Halbvers getrennt (παρ' ούκ έθέλωυ εθελούση), dessen grammatisch richtige Abfolge zerrissen wird durch den stark herausgearbeiteten Kontrast von Wünschen und Sichverweigern10. Gemessen am Reichtum der Höhle fällt die Darstellung vom Meer und Ufer mehr als kärglich aus. ακτή, ττέτραι und ήιόνες stehen ohne Epitheton oder sonstige Ergänzung, nur das Meer bekommt ein Beiwort. Ob man άτρύγετος (was immer noch am wahrscheinlichsten ist) als „unfruchtbar" 11 oder auch als „unermüdlich" faßt, auf jeden Fall liegt es nicht auf der gleichen Bedeutungsebene wie πολιός, dem Beiwort des Meeres in der Α-Szene, und οίνοψ, dem Beiwort des Meeres in der ebenfalls gut vergleichbaren Szene Ψ 140ff (s.o.67f). Auch der (wahrscheinlich formelhafte) Halbvers όρόων επ ' όατείρονα ττόντου A 350 ist nicht verwendet worden, obwohl er in die ε-Situation ausgezeichnet gepaßt hätte, denn gerade das unendliche Meer trennt Odysseus von seiner Heimat. Statt dessen spricht der Dichter vom πόντος άτρύγετος, sicher auch formelhaft (vgl. β 370 u. a.), aber sinnvoll als Steigerung des Kontrasts zur lieblichen Kalypsohöhle. Was bei Achilleus Ausnahmesituation war, nimmt für Odysseus den Charakter endgültiger Dauer an. Das Meer ist das ihm in besonderem Maße zugeordnete Element, denn nur über das Meer ist die ersehnte Heimat erreichbar. Dieser νόστος-Gedanke führt zu einer engeren und intensiveren Beziehung zwischen Mensch und ihn umgebender Landschaft. Als Symptom dafür darf das δερκέσκετο von V. 158 gelten. Stärker als bei όρδν (A 350) und ϊδεϊν (Ψ 143) schwingt bei δέρκεσθαι etwas Seelisches mit (SNELL12: „mit einem bestimmten Ausdruck blicken"). So sind Fels und Meer der präzise 10 11

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Dazu E. B O R N E M A N N , Odyssee-Interpretationen, Frankfurt o. J., 48. So bereits die Erklärung der Alten, die nach B O I S A C Q wahrscheinlicher ist als die von Neueren versuchte Ableitung von τρύω („unermüdlich", „ratlos"); ähnlich F R I S K , der die ebenfalls vorgeschlagene Ableitung von τρύξ (Bedeutung also: „rein", „abgeklärt") für morphologisch nicht befriedigend hält. Entdeckung 18.

Odyssee

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landschaftliche Ausdruck für die der Kalypsogeschichte zugrunde liegende epische Situation.

Inseln und Buchten

Unter den Odysseelandschaften fällt eine Gruppe von erstaunlicher Geschlossenheit auf : die für die Welt der Ägäis so charakteristischen Buchten und Inseln. Die Übereinstimmungen im Stofflichen und in der sprachlichen Ausformung sind derart stark, daß N E S T L E von „der stilistischen Herausarbeitung eines Typus aus einer gegebenen Wirklichkeit" sprechen konnte (40). Ihm kam es darauf an zu zeigen, daß die übliche Trennung von „Märchenlandschaften" (vorwiegend im Nostos) und Landschaften ,,geschauter Wirklichkeit" nicht zulässig ist. Dabei scheint ihm freilich die Suche nach Gemeinsamkeiten den Blick auf die Unterschiede bisweilen verstellt zu haben, denn eine genaue Prüfung zeigt doch die Notwendigkeit einer Klassifizierung innerhalb des Typus. Als erste Teilgruppe bieten sich an die Darstellungen von K r e t a (y 293ff), P h a r o s (δ 354ff), A s t e r i s (5 844ff) und S y r i a (o 403ff). Zwar hat jede Insel durchaus ihr eigenes Gesicht, und inhaltliche Parallelen ergeben sich nur selten (am ehesten noch zwischen Pharos und Asteris: δ 354 ~ 844, 358a ~ 846b). Aber die Prinzipien, die für die Darstellung ausschlaggebend sind, scheinen in allen Fällen dieselben zu sein. Um mit einem formalen Kriterium zu beginnen : Die Beschreibung der Insel ist jeweils als statisches Element mit einer altertümlichen, aus der Ilias bekannten Formel 13 in den Gang der Erzählung, meistens einen Fahrtenbericht, eingesprengt, und ebenso formelhaft wird mit einem demonstrativen ενθα (γ 297. δ 360. O 415) oder TT¡ (δ 847) zur Erzählung zurückgeleitet. Das kürzere oder längere Verweilen bei der Darstellung der betreffenden Insel ergibt sich aus einer gewissen Bedeutung der Lokalität für die Erzählung. Trotzdem ist die Beziehung recht locker. Gewiß ist der Anschlag der Freier wichtig genug, um einige Angaben über Asteris als Ausgangsbasis der geplanten Aktion zu rechtfertigen. Aber merkwürdigerweise bleibt die Insel ungenannt an Stellen, an denen ihre Erwähnung nötiger gewesen wäre, etwa in Athenes Warnung an Telemachos o 2914. Und in der Beschreibung Kretas wird selbstverständlich die Gefährlichkeit seiner Süd13

εστί δέ Tis y 293. δ 844, ähnlich auch δ 354; o 403 ist der Neueinsatz besonders deutlich; vgl. Β 811. Λ 711. 722. Ν 32.

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NESTLE

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küste hervorgehoben, denn hier geht ein Teil von Menelaos' Flotte unter. Aber die Ausführlichkeit im Detail fällt auf: Der Insel sind doppelt so viel Verse gewidmet wie dem Untergang der Schiffe15. Bei den ausführlichen Angaben über Pharos schließlich mag man darauf hinweisen, daß die zwanzig Tage, die Menelaos auf der Insel festgehalten wird, auf diese Weise dem Hörer am ehesten bewußt gemacht werden können1®. Aber hier besteht ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der rationalen, vorwiegend geographisch orientierten Beschreibung der Insel und dem aus Wirklichkeit und Phantasie gemischten Geschehen, dem Proteusabenteuer des Menelaos. Immer wieder also zeichnet sich die Tendenz ab, der geographischen Einzelheit mehr Raum zu gönnen, als die Sachlage erfordert hätte. Und gerade auf das Geographische scheint sich das Interesse des Dichters zu konzentrieren. Bezeichnend sind die vielen Eigennamen sowie die genauen Orts- und Entfernungsangaben, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Autopsie schließen lassen. So liegt Pharos eine Tagesreise vor der ägyptischen Küste (δ 356f), Asteris „zwischen Ithaka und Samos" (8 845), Syria „über Ortygia hinaus, wo die Wenden der Sonne sind" (o 404f)17. Aber auch abgesehen von diesen Lageangaben spielt alles Meßbare in den Darstellungen eine große Rolle. Wichtiger als das Äußere oder das Wesen bezeichnende Adjektive (αίπεΐα ττέτρη y 293, παπταλόεις δ 845) sind die räumlichen Größenangaben. Sie geben den Inseln ihr eigentümliches Gepräge: „Das geringe Gestein drängt ab die große Woge" (γ 296)18, Asteris ist „nicht groß" (δ 846), Syria „nicht übermäßig bevölkert" (o 405). Daneben fallen die zahlreichen praktischen, zweckgerichteten Mitteilungen auf. Aus den sachlichen Gegebenheiten ohne weiteres verständlich, wird meist die gute Ankermöglichkeit betont: Pharos besitzt einen λιμήν έύορμος (δ 358), Asteris λιμένες ναύλοχοι (δ 846). Nur bei der Insel Syria sind es nicht nautische, sondern landwirtschaftliche Vorzüge, die hervorgehoben werden (o 406). Für diesen Zug ins Praktisch-Rationale, der die genannten Darstellungen neben der genauen geographischen Fixierung auszeichnet, 15

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TREU, Lyrik 103 erklärt die Ausführlichkeit damit, daß hier „etwas Entscheidendes geschieht" — wohl kaum zu Recht, denn im Mittelpunkt des Interesses stehen die fünf nach Ägypten getriebenen Schiffe. Ähnlich TREU, Lyrik 102 f. Zur Lage von Syria W I L A M O W I T Z , Heimkehr 162. — Zwar kennt auch die Ilias vereinzelt derart präzise Ortsangaben, aber die Orte sind über den Namen hinaus nicht weiter individualisiert, etwa Ν 33 (das mit δ 845 weitgehend übereinstimmt) : τταιτταλόεσσα kommt als Beiwort nicht nur Imbros zu (zur Bedeutung L E U M A N N 236ff). Nach S C H A D E W A L D T S Übersetzung, Zürich/Stuttgart 1966.

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scheint mir eine kleine Einzelheit symptomatisch zu sein. In einem Gleichnis der Ilias ist eine Quelle μελάυυδρος (I 14 = TT 3), auf Pharos jedoch wird μέλαν ύδωρ von den in See stechenden Schiffen als Trinkwasser getankt (5 359). Nicht das äußere Erscheinungsbild, das Landschaftliche, bestimmt die Darstellung, sondern das für die praktischen Bedürfnisse der Seeleute Erforderliche. Immer wieder ist es die geradezu nüchterne Sachlichkeit, die an diesen Inselbeschreibungen auffällt. Nun liefert die Odyssee aber auch Gegenbeispiele, etwa die rings von einer ehernen Mauer umschlossene A i o l o s i n s e l (κ Iff). Schon der Erzählstil ist anders. Die Handlung ist nicht unterbrochen durch einen akzentuierten Neueinsatz, vielmehr wird die Insel im Akkusativ als Zielkasus fast beiläufig eingeführt: Αίολίην δ' lç υήσον άφικόμεθ'. Die Beschreibung selbst ist äußerst knapp gehalten, so daß der weiterführende Vers 5 ohne weiteres an Aiolos, das Subjekt von Vers 2, anknüpfen kann. Diese Beschränkung ist um so auffallender, als sich die Phantasie leicht dazu hätte verleiten lassen können, die märchenhaften Züge der Episode farbig auszumalen, etwa so, wie es später Vergil getan hat (Aen. I 50ff) 19 . Die wenigen Angaben, die gemacht werden, enthalten im Gegensatz zu den eben behandelten Beschreibungen nichts Nautisches (Lage, Entfernung, Trinkwasser), sondern beziehen sich auf das Aussehen der Insel, wie sie dem aus der Ferne sich Nähernden erscheint (die ringsumlaufende Mauer, der glatte Fels). Zudem fügen sich die Einzelzüge vollkommen in das Bild eines fernen, von der Menschenwelt abgeschlossenen glücklichen Daseinsbereiches. Ein zweites Gegenbeispiel ist die Schilderung des Hafens von T e l e p y l o s im Land der Laistrygonen (κ 87ff). Unverhältnismäßig breit ist die Szenerie gegeben, geradezu fachmännisch der Naturhafen beschrieben20. Aber was diese Beschreibung etwa von der Darstellung der kretischen Küste (y 293ff) unterscheidet, ist ein Zweifaches. Formal fällt die nahtlose Einarbeitung der Naturdarstellung in den Gang der Handlung auf. Wieder ist der Ort nicht als selbständiges Subjekt eingeführt, sondern als Angabe des Ziels von einem Verb der Bewegung abhängig gemacht, und wieder kann die Handlung ohne

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REINHARDT, Abenteuer 74, hat diesen Verzicht auf den Wunsch zurückgeführt, den Gegensatz zwischen erstem und zweitem Aiolos-Besuch möglichst dramatisch herauszuarbeiten. Auf einige motivische Entsprechungen in der Darstellung des Phaiakenhafens ζ 262 ff macht B. MARZULLO, Il problema omerico, Florenz 1952, 449 f aufmerksam. Seiner Folgerung, ζ 262 ff liege eine bewußte Umformung von κ 87 ff vor, wird man sich kaum anschließen können, da die Übereinstimmungen in der Mehrzahl auf typische Elemente der Hafenbeschreibung beschränkt sind.

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Epos

Schwierigkeiten dort aufgenommen werden, wo sie verlassen wurde. Wie geschickt Szenerie und Handlung verknüpft sind, zeigt ferner die Tatsache, daß in die Schilderung des Hafens das Einlaufen der Gefährten des Odysseus eingefügt und der Topos „Meeresstille im Hafen" als Erklärung angehängt wird. Der andere Unterschied liegt in der Funktion der Schilderung. Daß der Dichter etwas weiter ausholt, ist durch die Bedeutung des Geschehens —• nach diesem Abenteuer ist Odysseus' Schiff allein unterwegs — ohne weiteres erklärbar21. Die Darstellung des natürlichen Hafenbeckens mit seinen steil abfallenden Felswänden und dem schmalen Eingang ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern bereitet das grausige Ende von Odysseus' Gefährten vor: In der Enge des Beckens gibt es für sie kein Entrinnen, die natürliche Beschaffenheit des Ortes, der Sicherheit versprach, wird zur Falle. Trotzdem wird man die Landschaft nicht mit R E I N H A R D T „unheimlich" nennen wollen, denn die Schilderung bleibt ganz im realen Bereich und entbehrt aller dunklen Züge, die das kommende Unglück vorausahnen lassen könnten. Der Eindruck des Unheimlichen stellt sich erst retrospektiv ein, an sich könnte der Hafen genausogut einer verfolgten Flotte Schutz vor dem Angreifer bieten. Die Schilderung als solche ist in höchstem Grade objektiv22, was nicht ausschließt, daß erzähltes Geschehen und dargestellter Ort sich wechselseitig erhellen23. Dasselbe gilt für die Bucht der sogenannten Ziegeninsel (i 136ff). Wie beim Laistrygonenhafen erfolgt die Schilderung in zwei Teilen, diesmal aber in umgekehrter Reihenfolge. Zunächst ist ausführlich von den nautischen Vorzügen der Bucht die Rede (das stille Wasser macht Ankersteine und Haltetaue überflüssig)24, dann folgen die sehr knapp gehaltenen Angaben über die Szenerie mit Felsenquell und Pappeln. Die andere Akzentuierung der beiden Teile ist durch den Zusammenhang bedingt. Bevor Odysseus auf die Bucht zu sprechen kommt, schwärmt er von den ungeahnten, aber leider ungenutzten 21

REINHARDT, Abenteuer 5 5 f.

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Anders REINHARDT, Abenteuer 56. Ähnliches läßt sich auch in der unmittelbar anschließenden Partie beobachten. Beim Zusammentreffen der ausgesandten Boten mit der Tochter des Laistrygonenkönigs findet gerade das Alltägliche genaue Beachtung: der Weg, auf dem das Holz in die Stadt gezogen wird, die Quelle vor den Toren, wo man Wasser holt. Nichts deutet auf drohendes Unheil, im Gegenteil, der Weg ist „glatt", die Quelle „schönfließend", alles ein Bild des Friedens. Erst beim Anblick der Königin —- sie ragt wie ein „Bergeshaupt" — packt die Mannen des Odysseus das Entsetzen (κ 113), und dann vollzieht sich das Verderben um so plötzlicher und unaufhaltsam. — Der Phorkyshafen, der thematisch ebenfalls hier aufzuführen wäre, soll wegen seiner besonderen Bedeutung getrennt behandelt werden (s. u. 123ff). Man erfährt etwas von πείσμα, εύναί und ττρυμνήσια, in der vergleichbaren Darstellung ν 96ff (s. u. 123 ff) ist lediglich der δεσμοί genannt.

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Odyssee

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Möglichkeiten, die die Insel für Viehzucht und Ackerbau böte (s. u. 143). An diese wirtschaftlichen Vorzüge der Insel schließen sich die seemännischen der Bucht unmittelbar an, und selbst das άγλαόν ύδωρ, das an ihrem Ende aus einer Felsenquelle fließt, ist in dieser ganz unter dem Nutzaspekt gesehenen Schilderung wohl wegen seiner Bedeutung für die Trinkwasserversorgung erwähnt. Trotz des exkursähnlichen Charakters der Verse fehlt ihnen jedoch nicht die Beziehung zur epischen Situation. In der detaillierten Schilderung der windgeschützten Bucht läßt der Hinweis aufhorchen, daß man dort so lange bleiben könne, wie man wolle und bis die Winde wieder wehen (138f). Warum die fast zu genaue Differenzierung in den θυμός der Seeleute einerseits, die günstigen Windverhältnisse andererseits 25 ? Nach dem Kyklopenabenteuer wird das Verlangen, die Insel schleunigst zu verlassen, unwiderstehlich sein, und da im Augenblick offenbar kein Wind weht, greift man kräftig in die Ruder (i 471f)26. Die skizzierten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Inseldarstellungen wird man zunächst mit unterschiedlichen Stilschichten innerhalb der Odyssee erklären wollen. Kreta, Pharos, Asteris und Syria sind reale, geographisch faßbare Inseln, während Aiolosinsel, Telepylos und Ziegeninsel ins Reich des Märchens gehören. Jedoch hält sich auch in den drei letzten Fällen die Schilderung ausschließlich ans Reale, nicht ein einziger märchenhafter Zug ist zu finden27. Demnach ist es nicht der Gegensatz realistisch — phantastisch, der den Unterschied der beiden Gruppen begründet. Mit Recht führt R. GÜNGERICH28, der aus einigen Darstellungen der Odyssee schließt, daß der Periplus als literarisches Genus bereits 25

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κ 87 ff fehlt bezeichnenderweise ein derartiger Hinweis ; er würde der Fallenfunktion des Hafens widersprechen. Wenigstens erwähnt seien die beiden Buchten auf der Kirke- und Heliosinsel, deren Darstellung in formaler Hinsicht an die in der Ilias meist praktizierte Technik anknüpft, nur daß auf kleinen Raum reduziert wird, was sich dort durch das ganze Epos erstreckt: Die Vorstellung der Szenerie erfolgt nicht im Zusammenhang, vielmehr ist sie in die Entwicklung der Handlung eingefügt. In beiden Fällen begnügt sich der Dichter zunächst mit der knappen Mitteilung der Ankunft im Hafen (ναύλοχον êç λιμένα κ 141, âv λιμένι γλαφυρω μ 305), wofür auf Aiaia vielleicht die restlose Erschöpfung der Besatzung eine Erklärung gibt. Erst später erfährt der Hörer von Einzelheiten aus der Umgebung, jeweils aber im Zusammenhang mit der Handlung. So erweitert sich auf Aiaia die Szenerie um die „schroffe Warte" (κ 148), später dann um die Höhlen am Meer (404/424) ; auf der Heliosinsel um die Höhle, in die man das Schiff zieht (μ 317), und um die Eiche, deren Blätter zum Opfer dienen (357). In beiden Fällen hat der Hafen (außer seiner ureigenen) keinerlei Funktion zu erfüllen, und nur sie hätte zu einer ausführlichen Schilderung berechtigt. Wenn es überhaupt irgendwo wie im Märchen zugeht, dann auf Syria, wo das Volk ohne Hunger und Krankheit lebt und eines sanften Todes stirbt (o 407 ff). Die Küstenbeschreibung in der griechischen Literatur, Münster 1950, 7 f.

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Epos

in der Zeit des späten Epos existiert habe, als Beispiele u. a. die Beschreibungen der Insel Pharos und des Laistrygonenhafens an. Daß in beiden Fällen Reflexe solcher Periplusliteratur vorliegen, kann kaum bezweifelt werden; sie ist als realistisches Element in das Genus der Abenteuer- und Seefahrergeschichten eingegangen29. Aber trotz dieser gemeinsamen Wurzel bleiben die aufgezeigten Unterschiede beider Gruppen im Stofflichen und in der Erzähltechnik bestehen. Schon GÜNGERICH weist auf die Sonderstellung von Pharos hin : wegen der Angaben über Entfernungen, Ankermöglichkeit und Trinkwasserversorgung sei hier die Übereinstimmung mit dem „Grundstock" des Periplus besonders groß. Etwa dasselbe läßt sich von der Kreta- und Asterisdarstellung sagen (die Beschreibung von Syria steht nicht in einem Fahrtenbericht; als Element von Proteus' Prophezeiung hat sie eine andere Funktion). Immer zeigt sich ein starkes Sachinteresse, das auch ein geographisches oder nautisches „Überschußmotiv" rechtfertigt. Aiolosinsel und Laistrygonenhafen dagegen sind viel stärker in den Erzählzusammenhang integriert, ihre poetische Funktion ist offenkundig. Zu analytischen Schlüssen wird diese Beobachtung noch kaum berechtigen, jedoch verdient Erwähnung, daß die drei dem Periplus besonders nahestehenden Darstellungen zur Telemachie gehören, deren Zugehörigkeit zur ursprünglichen Odyssee vielfach bezweifelt wird. Und das vierte Beispiel, die Beschreibung von Syria, findet sich im 15. Buch, das Telemachs Heimkehr aus Sparta zum Thema hat, also an die Ereignisse der Telemachie unmittelbar anschließt und deshalb ebenfalls als „unecht" verdächtigt wird30. 29

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In die von E. B I C K E L , Homer. Bonner Univ. schritten 8, Bonn 1949 geforderte Elementenanalyse des Epos (statt der vorwiegend praktizierten Schichtenanlyse) wäre also zusätzlich zu Sage, Göttermythos, Märchen, Novelle und Lied der Periplus als vorliterarische Form aufzunehmen. Vgl. etwa das Verzeichnis der dem Dichter A abgesprochenen Partien in S C H A D E 2 WALDTS Odysseeübersetzung (jetzt auch in: Hellas und Hesperien I, Zürich 1970, 105). — Auf die außerordentlich diffizilen Fragen der Odysseeanalyse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Vorweg sei nur so viel gesagt, daß die Ergebnisse S C H A D E W A L D T S mit den hier gemachten Beobachtungen zu den Unterschieden in den Landschaftsdarstellungen der Odyssee weitgehend übereinstimmen. Kritisch zu Sch.s Methode äußert sich u. a. K. R Ü T E R , Odysseeinterpretationen, Hypomnemata 19, Göttingen 1969, 14ff; vgl. auch L E S K Y , Horneros 119ff.

Odyssee

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Ideallandschaften

Der Kreis von Beobachtungen, die für die Odysseeanalyse relevant werden könnten, läßt sich, selbst im engen Rahmen dieser Arbeit, noch erweitern. Es gibt in der Odyssee einige der dichterischen Phantasie frei entsprungene Landschaften, die man, nicht gerade glücklich, ,,Ideallandschaften" zu nennen pflegt. Die bekannteste dürfte die Schilderung des O l y m p sein (ζ 43ff) 31 . Die ganze Versgruppe, ein Musterbeispiel archaischer Ringkomposition32, ist in sich klar gegliedert. An Anfang und Ende steht die Göttin als Trägerin der Handlung 33, die Mitte nimmt die Beschreibung des Olymp ein, wobei als Bindeglied jeweils die Götter fungieren: der Olymp als θεών εδος (42), dann τω ε vi τέρπονται μάκαρες θεοί (46), dazu die inhaltliche Entsprechung ασφαλές αΐεί und ήματα πάντα (jeweils Versschluß). Das Schema ist mit fast mathematischer Genauigkeit eingehalten: a (1 V.) — b (1 V.) — c (3 V ) — b (1 V.) — a (1 V.), aber trotz dieser Geschlossenheit fallen die Verse nicht als selbständiges Gebilde aus dem Zusammenhang heraus 34 . Die Beschreibung selbst erfolgt in zwei Teilen, wobei, ähnlich etwa der platonischen Definition des Urschönen (Symp. 211a), den positiven Aussagen die Abgrenzung

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Eine eingehende Interpretation der Verse gibt R. S P I E K E R , Herrn. 97,1969,136—161. S. weist auch auf die besondere Stellung der Verse hin : zu Beginn der Athenehandlung zur Rettung des Odysseus. Das Ende dieses Handlungsstranges ist ebenfalls durch eine Landschaftsschilderung markiert, durch den formal und inhaltlich ähnlich gestalteten Preis Ithakas ν 242—249 (s. u. 120ff). Beide Darstellungen sind kompositionell aufeinander bezogen und verdeutlichen im Bild die zwei in der Gestalt der Athene angelegten Möglichkeiten: größte Distanz und hilfreiche Nähe (155ff). Die Olympverse beweisen, daß auch noch die Odyssee die Ringkomposition in ihrer reinen Form kennt, was nach J. H . G A I S S E R , Digressions in the Iliad and the Odyssey, Harv. Stud. Class. Phil. 73, 1969, 1—43 keineswegs so selbstverständlich ist, wie man annehmen möchte (vgl. vor allem die Zusammenfassung 40ff: Von den 24 untersuchten „digressions" der Ilias weisen fast alle Ringkomposition auf, von den 27 der an Kompositionsschemata reicheren Odyssee genau genommen nur zwei). Die Olympverse sind von G. nicht berücksichtigt worden, da die von ihr gewählten „digressions" größere kompositorische Einheiten darstellen. άπέβη γλαυκώττις (Ά6ήνη) 41 und 47. Von einer „forzosa ripetizione" kann nur sprechen, wer von vornherein in den Versen eine Interpolation sieht ( M A R Z U L L O 237). Ganz anders liegen die Dinge bei den Lokalschilderungen der Telemachie, etwa von Pharos δ 354ff (s. o. 107ff). Die Schilderung setzt mit selbständigem Subjekt und Prädikat neu ein (vfjaos Ιπειτά Tis serri), eine Rückführung innerhalb der Schilderung in den Erzählzusammenhang ist gar nicht versucht. Statt dessen knüpft Menelaos mit den gleichen Worten dort wieder an, wo er die Erzählung unterbrochen hat (θεοί . . . ?σχον 351 f — εχον Θεοί 360). 8

Elliger, Darstellung

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Epos

von dem Nichtzutreffenden vorausgeht35. In den Olympversen folgen auf drei negative Glieder zwei positive. Trotzdem ist das Gleichgewicht genau gewahrt, weil in der Dreiergruppe die Substantive ohne Beiwort, in der Zweiergruppe dagegen mit Beiwort stehen, so daß sich in der ersten Gruppe drei zweigliedrige Kola, in der zweiten zwei dreigliedrige ergeben. Den Eindruck einer einfachen Aufzählung hat der Dichter vermieden, indem er jedem Substantiv sein eigenes Verb beifügte und so die starre Zustandsschilderung in Bewegung auflöste36. Durch die drei vorangestellten Negativglieder (Wind, Regen, Schnee) bekommt die Darstellung ihre Spannung, erst durch die Negation der Gegenkräfte kann die ασφάλεια des Olymp gesichert werden. Da diese Gegenkräfte für die Welt der Menschen konstitutiv sind, entsteht das strahlende Bild des Olymp zugleich als Gegensatz zur katastrophenbedrohten Menschenwelt37. Helle und Wolkenlosigkeit des Olymp entsprechen dem ungetrübten (τέρπονται) Dasein der Götter, deren Verhältnis zu den Menschen die Odyssee im allgemeinen distanzierter darstellt als die Ilias38. Inhaltlich hat dieser Olymp mit dem Götterberg der Ilias nichts gemein. Nicht nur, daß die morphologisch jüngere Darstellung der Odyssee vom Gedanklichen und nicht vom Anschaulichen ausgeht (SPIEKER 149), das φασί (42) rückt den Berg in mythische Ferne 39 : άγάυνιφος und υιφόεις, charakteristische Beiwörter des Olymp in der Ilias, stünden im Widerspruch zur Idealität des Ortes. 35

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Genauer, worauf S P I E K E R aufmerksam macht: positiver Ausgangspunkt (εδο; ασφαλές αίεί ~ αεί öv 211a) — positiver Endpunkt (τέρπονται . . . . ήμστα πάντα ~ άεΐ öv 211b), dazwischen die negativen Aussagen. M A R Z U L L O 340 f erklärt diese besondere syntaktische Struktur der Verse und den reimartigen Gleichklang (-ται der Verbalendungen) als Einfluß aus dem Volkslied. Jedoch lassen sich ähnliche Strukturen und Klangeffekte auch sonst aus dem alten Epos belegen (eine negative Beschreibung mit gehäuftem ούδέ oder ούτε etwa auch μ 75ff bei der Schilderung des Skyllafelsen, welche Stelle M. 242 in anderem Zusammenhang als ursprünglich angibt). Andere Ausdrücke, vor allem έπνπίλναται und αΐθρη, sind für M. preziose Archaismen, so daß die ganze Olympschilderung bei ihm letztlich als ein aus sehr heterogenen Elementen zusammengefügtes Gebilde erscheint (wieso αϊβρη nur μ 75, έπιδεδρομεν nur in Verbindung mit άχλύζ υ 357 ursprünglich sein soll, ist nicht einzusehen). F . F O C K E , Die Odyssee, Tüb. Beitr. z. Altertumswiss. 3 7 , Stuttgart 1 9 4 3 , 1 0 0 sieht die Verse speziell im Gegensatz zur ,,armseligen Nacht", die Odysseus zur gleichen Zeit verbringen muß (gegen A. K I R C H H O F F , Die homerische Odyssee, Berlin 2 1 8 7 9 , 201 f, der die Verse für eine Interpolation hält). S P I E K E R 152 versteht die Olympverse als „präzisierte und pointierte Aussage" über Sein und Handeln der Götter in der Odyssee. Anders S P I E K E R , der dem φασί einen versichernden Charakter zulegen möchte und für diese Verwendung der Formel auch Belege beibringt (139). Dagegen spricht jedoch ν 249, also ein Vers aus einer ζ 41 ff nahestehenden Partie: Der Hirte, in dessen Gestalt Athene Odysseus entgegentritt, kann über die Entfernung Troias von seiner Heimat nur vom Hörensagen wissen.

Odyssee

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Der Olymp der Odyssee ist nicht mehr Sitz des Wettergottes, des Wolkensammlers und Blitzeschleuderers Zeus, vielmehr hat er Züge der Inseln der Seligen angenommen40. Und so hat man denn immer wieder die Darstellung des „zum Verwechseln ähnlichen"41 E l y s i u m 5 565ff zum Vergleich herangezogen und bisweilen sogar zur Quelle der Olympverse erklärt42. Bei allen Gemeinsamkeiten sollte man jedoch die Unterschiede beider Stellen nicht übersehen. Zunächst überrascht die Stellung der Verse im Ganzen. Die Schilderung des Elysium ist eingesprengt in die letzten Worte von Proteus' Prophezeiung: Die Götter werden Menelaos ins Elysium senden (564), weil er Helena zur Frau hat und damit Zeus' Schwiegersohn ist (569). Dieser logische Zusammenhang wird empfindlich gestört durch die eingeschobenen Elysiumverse43. ούνεκ' εχεις 'Ελένη υ 569 schließt natürlich an αθάνατοι πέμψουσιυ 564, nicht an die Darstellung des Elysium an. Als Einschub wirken die Verse zusätzlich dadurch, daß sie von den übrigen, sehr nüchtern gehaltenen Mitteilungen des 10

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Dazu M. P. N I L S S O N , Geschichte der griechischen Religion I, München 3 1 9 6 7 , 353; zum Olymp der Ilias S C H R A D E 1 7 7 . — T H E I L E R S Vermutung, der Tartaros Θ 4 7 7 f f sei als Gegenbild zum Göttersitz ζ 42 ff konzipiert (Ilias 131), stößt auf große Bedenken, auch wenn man von der allgemeinen Problematik seines „Zeusdekretsdichters" absieht. Die Entsprechungen (OUT ' άνέμοισι ζ 43 und τέρπονται 46 ~ τέρποντ ' OUT ' άνέμοισι Θ 481) sind für eine Abhängigkeit nicht zwingend genug. Zuzugeben ist jedoch, daß eine klimatologische Aussage wie Θ 481 in der Ilias auffällt. N E S T L E 35. Ähnlich W. K R A N Z , Die Irrfahrten des Odysseus, Herrn. 50, 1915, 93—112, der Elysium, Olymp und dazu den Alkinoosgarten praktisch gleichsetzt (97: „in den gleichen Farben, ja Worten") und in Kreta, dem Märchenland früherer Zeiten, die gemeinsame Wurzel sieht. Das führt zu Schwierigkeiten, die kaum befriedigend zu lösen sind : die Unterscheidung im Epos zwischen dem realen und dem märchenhaften Kreta (Scheria), die Lage des Elysium am Rande der Welt, die K R A N Z durch eine spätere Gleichsetzung mit den Gärten der Hesperiden erklären möchte. K I C H H O F F 202, noch eindeutiger M A R Z U L L O 239, vgl. auch E. R O H D E , Psyche, Tübingen 9/l01925, 69 Anm. 1 und, nur mit umgekehrter Reihenfolge, S C H R A D E 183. Dagegen hält P. C A P E L L E , Elysium und Inseln der Seligen, Arch. f. Rei. wiss. 25, 1927, 245—264 die Übereinstimmung für „ganz zufällig" und warnt vor Folgerungen, wie sie etwa U S E N E R gezogen hat, der im Elysium eine direkte Übertragung vom Bild des Götterlandes sah. C. möchte lieber η 117 ff (Alkinoosgarten) als Parallele heranziehen, wozu freilich Hesiods Elysiumverse Erg. 170ff, der seither zum Topos gewordene dreimalige Segen (τρΙς ITEOS) der Erde, besser geeignet wären. C.s These, die ganze Rede des Menelaos sei ein späterer Einschub und stamme aus einem Menelaosnostos, da sie so gut wie gar nicht auf Telemachs Bitte (322 ff) eingehe, die Schilderung des Elysium dagegen als krönender Abschluß von Menelaos' Autobiographie vorzüglich passe, ist hier nicht zu prüfen. Daß gegen die Zugehörigkeit der Elysiumverse zur ursprünglichen Odyssee Bedenken anzumelden sind, geht aus den folgenden Darlegungen hervor. Zu den Unstimmigkeiten M E R K E L B A C H , Odyssee 62. 8*

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Epos

Menelaos abstechen und im Unterschied zu den Olympversen, die zum Traum der Nausikaa und damit zum Phaiakengeschehen überleiten, keinen poetischen Sinn erkennen lassen; ihr Informationswert für Telemachos, der Aufschluß über den Verbleib seines Vaters haben will, ist äußerst gering (was allerdings fast für die ganze Menelaosrede gilt, s. o. 115 Anm. 42). Hinsichtlich der Komposition der Verse fällt im Vergleich zu ζ 43 ff auf, daß sie nicht ringartig gegliedert sind, die Rückführung in den Erzählzusammenhang also erschwert wird, und daß sie längst nicht die gleichen ausgewogenen Proportionen aufweisen. Zwar wird auch hier das Einmalige des Ortes zunächst durch negative Wendungen — wieder sind es drei —, dann durch einen positiven Satz wiedergegeben. Aber an die Stelle der sinnvollen Klimax άνεμοι — όμβρος — χιών ist eine einfache Aufzählung getreten, deren Glieder nicht durch ein eigenes Prädikat verselbständigt werden (νιφετός— χειμών — όμβρος). Die Verben wirken, gemessen am Bewegungsreichtum der Olympschilderung, blaß (πέλει, άνίησιν), die Motorik der fünffachen Folge (alle Verben im gleichen Numerus und in der gleichen Person) ist aufgegeben zugunsten einer genauen Differenzierung in Hauptverb, Partizip und Infinitiv (Ζεφύροιο . . . πυείοντος . . . 'Ωκεανός άνίησιν άναψύχειν . . . 567f). Dieser Eindruck des Rationalen verstärkt sich durch die Armut an Beiwörtern. Das einzige, πολύς, kann seinen Flickwortcharakter nur schlecht verbergen, denn auch einen χειμών όλίγος o. ä. dürfte es im Elysium kaum geben. Was — neben der nur hier im alten Epos vorgetragenen Konzeption eines Reiches, in dem der Mensch nicht dem Tod (Hades) verfallen ist — das Besondere der Elysiumverse ausmacht, liegt auf einem anderen Gebiet. ,,Für die Menschen" ist das Leben im Elysium leicht, und „um die Menschen zu erfrischen", schickt der Okeanos den Zephyr herauf. T R E U spricht in diesem Zusammenhang von einem „ersten Stück Klimalehre", das die Odyssee hier biete44. Verallgemeinert könnte man sagen: Das Elysium ist in Beziehung auf den Menschen geschildert, der Olymp in seinem objektiven Sein. Zu ähnlichen, wenn auch nicht ganz so zwingenden Beobachtungen führt die dritte Ideallandschaft der Odyssee, der H a d e s . Bekanntlich liegen zwei Unterweltsdarstellungen vor, die erste in der Weisung, die Odysseus von Kirke bekommt (κ 508ff), die zweite in der Schilderung 14

Lyrik 104. Auch sonst glaubt TREU ein klimatologisches Interesse in der Odyssee feststellen zu können, das zum Geist frühgriechischer Kolonisation gehöre. •— Daß statt des nach der Ilias zu erwartenden ήτορ (Ν 84. Κ 575) άνθρώπουζ als Objekt zu άναψύχειν steht, also der Mensch als Ganzes und nicht ein bestimmtes Organ, muß ebenfalls als Indiz für eine spätere Bewußtseinsstufe gewertet werden.

Odyssee

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vom Zug der erschlagenen Freier in den Hades (ω 9ff), κ 508ff ist die Darstellung geschickt in den Handlungsablauf eingearbeitet. Wie schon beim Laistrygonenhafen erfolgt die Schilderung des Ortes in zwei Teilen (509f und 513ff), die durch ein Handlungselement — hier die Aufforderung, das Schiff an Land zu treiben — getrennt sind. Diese Verklammerung von Ort und Handlung verhindert den Eindruck einer selbständigen Ortsbeschreibung. Zugleich schreitet im zweiten Teil die Bewegung fort, indem der Blick von der Peripherie, dem Persephonehain mit seinen Pappeln und Weiden, auf das Zentrum, das Haus des Hades mit den vier Unterweltsflüssen, gelenkt wird45. Aber auch sie sind nicht einfach in einer viergüedrigen Aufzählung genannt, sondern miteinander in Beziehung gesetzt, so daß ein regelrechtes Stromsystem entsteht: Pyriphlegethon und Kokytos fließen in den Acheron, der Kokytos ist ein Arm des Styx. Ganz in homerischer Technik ist noch ein vertikaler Akzent in die Landschaft gesetzt: die ττέτρη an der Mündung der beiden Flüsse. Gewiß stellt der zweite Teil der Schilderung trotz der Klarheit seiner Angaben erhebliche Ansprüche an das Vorstellungsvermögen. Das Ganze jedoch ist durchaus real gesehen, frei von märchenhaften und phantastischen Ausschmückungen48. Die Beiwörter sind großenteils die einer „natürlichen" Landschaft und heben den optischen oder akustischen Eindruck hervor : die Küste ist λάχεια, der Okeanos βαθυδίνης; die Pappeln werden μακραί, die Flüsse έρίδουποι genannt. Lediglich ώλεσίκαρττος47, das Beiwort der Weiden, und der „modrige" Hades schaffen die Atmosphäre von Verwesung und Tod und machen die Landschaft zur Unterweltslandschaft. Die zweite Hadesbeschreibung hat eine ganz andere Struktur. Im Mittelpunkt steht die Aufzählung der vier Stationen, an denen die Seelen der toten Freier vorüberkommen, bis sie die Asphodeloswiese erreichen. Das Kompositionsprinzip der einfachen Addition (vgl. δ 566), in diesem Fall sogar über zwei Verse hinweg, hat hier seine Berechtigung. Der lange Weg, auch durch die Wiederholung ήισαν — ίσαν — ήισαν betont (9/11/13), wird so erst recht spürbar. Jedoch fügen sich die einzelnen Angaben nicht zu einem einheitlichen Bild, wie es im κ der Fall war. Neben dem aus der ersten Beschreibung be15

ω

17

Ebenso zielstrebig, nur in umgekehrter Richtung, von innen nach außen, erfolgt die Darstellung des Laistrygonenhafens. Vgl. dazu, allerdings mit anderer Wertung, auch das Urteil von REINHARDT, Abenteuer 98: „Das Urgewaltige, Elementare, mythisch angeschaute Kräfte und deren Konflikte ist nicht Sache dieses Dichters, der dafür selbst vor der Totenwelt ein wenig Landschaft, einen heiligen Hain stellt." Zur „Unfruchtbarkeit" der Weiden, die ihre Früchte vor der Reife abwerfen, Theophr. Hist, plant. III 1, 3.

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Epos

kannten Okeanos erscheinen der Leukadische Fels, die Sonnentore und das Reich der Träume — eine diffuse, aus recht heterogenen Elementen zusammengesetzte Landschaft in mythischer Ferne. Die in der Hadesdarstellung von κ durch Bäume und Flüsse repräsentierte Natur fehlt vollständig, gerade auf das Nichtgreifbare, Unwirkliche hat es der Dichter abgesehen (am ehesten vergleichbar wären die ebenso unwirklichen Zustände auf Syria o 407ff, s. o. I l l Anm. 27). Daß die zweite Nekyia den Hadesvorstellungen von Ilias und Odyssee widerspricht, hat schon Aristarch gesehen und deswegen die ganze Szene athetiert. Dieser Hades liegt offenbar nicht unter der Erde, sondern ist identisch mit der Asphodeloswiese, so daß die Toten gleich im Hades ankommen. Auch seine Geographie ist, vom Okeanos abgesehen, singulär. Vom Leukadischen Fels48 weiß man sonst nichts, die Vorstellung von Sonnentoren widerspricht homerischer (und griechischer) Anschauung, ebenso, daß die Träume als δήμος eine Wohngemeinschaft bilden49. Zu den formalen Besonderheiten treten also auch inhaltliche; beide zusammen verbieten es m. E., die betrachteten Verse für homerisches Eigentum zu halten. Nach erzähltechnischen und stilistischen Gesichtspunkten gehören also von den vier Ideallandschaften der Odyssee nicht Olymp und Elysium, sondern Olymp und die Hadesdarstellung von κ zusammen 50 . Andererseits weisen Elysium und die Hadesdarstellung von ω gleiche Stileigentümlichkeiten auf, so daß es naheliegt, beide Partien demselben Dichter zuzuweisen. Die aufgezeigten Charakteristika sprechen dafür, daß dieser nicht mit dem Odysseedichter, wohl aber mit dem Dichter der Telemachie identisch ist. Ithaka

Als dritte Gruppe von Landschaften sollen die Beschreibungen Ithakas folgen. Die drei 51 wichtigsten sind: 48

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Dazu G . G B R L A N D , Altgriechische Märchen in der Odyssee, Magdeburg 1 8 6 9 , 44f, der merkwürdigerweise den Leukadischen Felsen mit dem Felsen gleichsetzt, von dem sich Sappho ins Meer gestürzt haben soll, und W I L A M O W I T Z , Sappho 3 1 ff. Auch sonst machen die Verse Schwierigkeiten, vgl. vor allem PAGE, Odyssey 116ff und F I N S L E R 1 / 2 , 2 3 2 . Eine eher harmonisierende Beurteilung bei K R A N Z 100 und W I L A M O W I T Z , Horn. Unters. 165; ähnlich auch VON D E R M Ü H L L , Odyssee 764f, der die 2. Nekyia trotz der Abweichungen von λ und der „unnütz gehäuften Angaben" zur Lokalisierung seinem Dichter Β zuschreibt (dem nach V. d. M. auch λ gehört). Anders etwa VON D E R M Ü H L L , Odyssee 724f, der die Schilderung des Lokals am Okeanos für das Werk seines Dichters Β hält (Vorlage soll die Thesprotis sein, in der Odysseus den Teiresias befragte). Die vierte und kürzeste, ν 195 f, sei vorläufig ausgeklammert, da sie für den Vergleich nichts ergibt.

Odyssee

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1. δ 602ff: Telemachos lehnt die Pferde, die Menelaos ihm als Gastgeschenk mitgeben will, mit der Begründung ab, daß es im Gegensatz zur fruchtbaren Ebene, über die Menelaos herrscht, auf Ithaka weder Weite Ausläufe noch Wiesen gebe; Ithaka, noch ärmer als andere Inseln, sei lediglich αίγίβοτος. 2. 121 ff : Odysseus gibt sich vor den Phaiaken zu erkennen und erzählt von seiner Heimat: von Ithaka, dem Neritongebirge und den umliegenden Inseln. Die Darstellung mündet in ein persönliches Bekenntnis zur Heimat. 3. υ 242ff: Dem nichtsahnenden Odysseus erzählt Athene von der Insel, auf der er ausgesetzt wurde : Sie ist rauh, aber nicht allzu ärmlich; zur Ziegen- und Rinderzucht geeignet, bietet sie auch hinreichend Korn und Wein, und Wald gibt es reichlich. Gemeinsamkeiten sind vor allem zwischen δ und ν zu konstatieren. Hier wie dort heißt Ithaka αίγίβοτος ; ούχ ίπττήλστος wird υ 242 von Ithaka, δ 607 von den Inseln allgemein gesagt; den auf Ithaka nicht vorhandenen δρόμοι εύρέες (δ 605) entspricht ν 243 ούδ' εύρεϊα τέτυκται. Dagegen fehlt das ι und ν gemeinsame Charakteristikum der Insel, τρηχεϊα, in δ. Insgesamt überwiegen jedoch die Unterschiede. Natürlich sind sie zunächst einmal durch die jeweilige Absicht des Sprechers bedingt. So betont Telemachos den Gegensatz von Ithaka und der fruchtbaren Ebene von Sparta. Darauf bauen seine Ausführungen auf. Die weite Ebene, die für Pferdezucht wie geschaffen ist, steht gegen die Enge auf Ithaka, die lediglich für Ziegen in Frage kommt; den Wiesen mit Klee und Gräsern entspricht als Gegensatz das harte ούτε τι λειμών. Odysseus, bestrebt, seine Herkunft einigermaßen klarzumachen, und gleichzeitig der Bitte des Alkinoos (Θ 555f) zu entsprechen (FOCKE 274), legt besonderen Wert auf die Lage des im Phaiakenland wohl unbekannten Ithaka. Deshalb orientiert er seine Darstellung an nautischen Gesichtspunkten. Er nennt die drei wichtigsten Inseln der Umgebung und versucht, durch Angabe der Himmelsrichtungen im groben Klarheit zu schaffen 52 . Außerdem will er eine Vorstellung davon geben, wie es auf Ithaka aussieht. So führt er den Neriton, offenbar das hervorstechendste Merkmal der Insel53, und ihre Rauhheit an. Daß er sie außerdem αγαθή κουροτρόφος nennt, ist aus der Situation heraus ebenfalls verständlich.

62

53

Die schon im Altertum erkannten Schwierigkeiten der Verse spiegeln sich bei S T R A BON 453 ff wider (dazu und zu den neuen Identifizierungsversuchen der genannten Inseln, speziell zu D Ö R P F E L D S Leukas-These, W A C E / S T U B B I N G S 3 0 9 f f ) . Auch Β 632 sind Ithaka und Neriton (mit dem gleichen Epitheton)zusammen genannt. Wenn die Insel trotz des Berges χθαμαλή heißt (25), so ist das kein widersprüchlicher Rest aus zwei durcheinandergeratenen Beschreibungen, einem Phantasiebericht und

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Epos

Viel direkter spricht Athene von den Vorzügen der Insel. Die Verse sind von der Homerkritik viel gescholten worden. Daß eine Kontamination vorliegt, scheint festzustehen, nur kann man sich darüber nicht einigen, wie die Widersprüche innerhalb der Verse und zu den übrigen Ithakadarstellungen am besten zu beheben sind54. Daß gewisse Diskrepanzen vorhanden sind, kann nicht geleugnet werden, aber bevor man die Verse als Flickwerk abtut, wäre zu prüfen, ob die besondere Sprechsituation nicht besondere Mittel erfordert. FOCKE 274 weist auf die Übereinstimmung zwischen dem enkomiastischen Charakter der Verse 244—247 und der Einleitung 237—241 hin: der Stolz des jungen Hirten auf seine Heimat. Wenn dabei die Vorzüge der Insel in ein etwas zu helles Licht geraten, ist das nur selbstverständlich. Aber auch das gängige Bild Ithakas ist in Athenes Loblied eingegangen: τρηχεϊα, ούχ ΐτττΓήλατος, ούδ' ευρεία, freilich mit dem Unterschied, daß dieser Negativkatalog durch einen Einschub gesprengt wird: ουδέ λίην λυττρή, was die folgenden Verse erläutern55. Dieses Nebeneinander von positiven und einschränkenden Äußerungen muß nicht unbedingt die Widersprüchlichkeit einer schlechten Kontamination sein. Es könnte auch als Meisterstück homerischer Psychologie verstanden werden, wobei die mangelnde Geradlinigkeit der ersten Verse Ausdruck der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und (nicht der aufdämmernden Kunde von der Lage Ithakas, wie E. S C H W A R T Z , Die Odyssee, München 1924, 335 f meint. Vielmehr gibt das Beiwort den optischen Eindruck wieder, den auch eine von einem Berg überragte Insel dem sich von der See her Nähernden bietet. Vgl. auch den Hinweis bei W A C E / S T U B B I N G S , trotz der sonst die Insel charakterisierenden Beiwörter κραναόζ und τταιπαλόεΐζ sei χθαμαλός glaubwürdig, da Ithaka von Süden oder Südosten gesehen niedrig erscheine, vor allem im Vergleich zu den dahinter aufragenden Bergen Kephallonias. Die antike Erklärung χθαμαλό; = πρόσχωρον τ ω ήττείρω (nach S T R A B O N 4 5 4 ) ist wenig glaubwürdig, weil κ 196 die entlegene Kirkeinsel mit demselben Beiwort versehen ist (trotz des Hinweises bei C A U E R 2 1 1 , noch heute heiße in der griechischen Seemannssprache χαμηλά „an der Küste" im Gegensatz zu υψηλά „auf hoher See"). 5 4 N E S T L E 45 spricht von einer „gedankenlosen Wiederholung der sämtlichen Eigenschaften von Syria" (o 406), W I L A M O W I T Z , Heimkehr 9 Anm. 2 von einem „Widerspruch" zu den sonstigen Schilderungen von Ithaka. Während P. VON D E R M Ü H L L , Philol. 89, 1934, 394ff das Ganze als durch V. 248 bedingten Einschub betrachtet, begnügen sich S C H W A R T Z und W I L A M O W I T Z mit der Tilgung einzelner Verse (243—245 bzw. 244—245). Mit Recht findet V. d. M. diese Lösungsversuche unbefriedigend, ohne freilich mit seinem eigenen überzeugen zu können, denn um eines Verses willen werden nicht sechs andere eingeschoben. Die Widersprüchlichkeit der Partie erklärt sich nach V. d. M. aus der situationsbedingten Notwendigkeit (vgl. V. 248), die Insel idealisierend zu preisen, dabei aber den Gegensatz zu ι 27 und δ 605ff nicht zu groß werden zu lassen. 55 Anders, nämlich als Begründung für 2 3 9 ff, versteht F O C K E 2 7 5 das γάρ von 2 4 4 , weshalb er 242 f (auch im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit δ 605 ff) als Einlage des Telemachie-Dichters betrachten möchte.

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eingestandener) Wunschvorstellung wäre. Aber wie dem auch sei, die Verse als Ganzes lassen sich, nicht trotz, sondern wegen ihrer Übersteigerung der Wirklichkeit, aus der Erzählsituation erklären, zumal Athene dem niedergeschlagenen Odysseus Mut machen will56. Diese Unterschiede in Sprechsituation und Absicht des Sprechers scheinen mir jedoch zur Erklärung der jeweiligen Eigenart der Partien nicht auszureichen. Auch wenn Telemachos durch Menelaos' großzügiges Angebot gezwungen ist, die begrenzten ökonomischen Möglichkeiten der Insel in den Mittelpunkt seiner Ithakadarstellung zu rücken, erstaunt doch die Distanziertheit, mit der er von seiner Heimatinsel spricht. Er taxiert lediglich ihren wirtschaftlichen Wert, es fällt kein Wort, aus dem man auf ein persönliches Verhältnis zur Heimat schließen könnte. Im Gegenteil, an den Schluß setzt er die Feststellung, daß unter den Inseln, die ohnehin wenig zu bieten haben, Ithaka den letzten Rang einnehme. Klares Kalkulieren und rationales Begründen 57 zeichnen seine Worte aus. Ganz anders Odysseus. Sicher hätte er die Neugier seiner Gastgeber auch mit Angaben im Stile des Telemachos befriedigen können. Aber auf die wirtschaftlichen Verhältnisse kommt es ihm offensichtlich nicht an, selbst das charakteristische αίγίβοτος (δ 606. ν 246) ersetzt er durch κουροτρόφος und knüpft damit an den Ruhm der Ithakesier und ihres bekanntesten Vertreters an (19f). Ihm ist vor allem darum zu tun, die Insel vor den Augen seiner Zuhörer Gestalt werden zu lassen. Während Telemachos nicht eine einzige Angabe über das Aussehen von Ithaka macht, erfahren wir von Odysseus, daß es gut sichtbar (εύδείελος) und flachgestreckt (χθαμαλή) inmitten anderer Inseln im Meer liegt. Verglichen mit den präzisen geographischen Angaben etwa über Kreta (y 293ff) oder Pharos (5 354ff) ist Odysseus' Schilderung jedoch merkwürdig ungenau. Eine so vage Ausdrucksweise wie προς ζόφου oder irpôç ηώ τ ' ήέλιόν τε (ι 26) wäre in den periplusnahen Schilderungen von Kreta und Pharos schlecht vorstellbar; und auch die geographisch recht ungenaue Angabe, daß Dulichion, Same und Zakynthos „rings um" Ithaka liegen (oder auch ,,zu beiden Seiten" : άμφί ι 22), kontrastiert etwa mit einer Darstellung wie y 169ff, die eine genaue Kenntnis der ägäischen Inselwelt verrät. Auffällig bedeutsam spricht Odysseus dagegen vom Neritongebirge. Nicht nur, daß es an erster Stelle genannt wird, es bekommt auch zwei Beiwörter, die es in verschiedener Hinsicht charakterisieren (είνοσί56

FOCKE 2 7 4 .

67

Bezeichnend ist das yáp, das die beiden letzten Verse einleitet und die speziell über Ithaka getroffene Aussage mit dem Hinweis auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit begründet.

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φυλλος und άριπρεττής). Die Auswahl der Motive — Athene trifft ν242ff eine völlig andere — ist stark subjektiv geprägt. Sachlich gesehen trifft Telemachos' Ithakadarstellung die realen Verhältnisse der Insel sicher besser, aber nur Odysseus zeichnet das Bild ihrer Landschaft, die hier, wie TREU58 bemerkt, an Stelle von Ithakas ruhmreicher Vergangenheit steht. Auch unabhängig von dem Bekenntnis, mit dem Odysseus seinen Ithakabericht schließt (i 28: nichts „Süßeres" gibt es zu erblicken als das eigene Land), spricht aus den Versen eine enge, auf das Heimatgefühl gestützte Verbundenheit von Mensch und Landschaft. Auch Athenes Ithakadarstellung gerät insgesamt ideal, selbst wenn (wie bei Telemachos) die starke Hervorhebung des Nutzaspekts nicht übersehen werden kann 59 , ι 21ff (Odysseus) und ν 242ff (Athene) verhalten sich wie Erwartung und Erfüllung: Unmittelbar im Anschluß an Athenes Worte begrüßt Odysseus die Vatererde, die er nun mit Hilfe der Göttin wiedererkannt hat. Sachliche Berührungspunkte ergeben sich besonders mit der Beschreibung von Syria, vor allem in der Aufzählung der Vorzüge, o 406 jedoch erfolgt sie als einfache Addition von vier asyndetischen Adjektiven (εΰβοτος, εύμηλος, οίνοττληθής, ττολύπυρος). Die Darstellung von ν dagegen zeigt eine stärkere Differenzierung. Die ökonomischen Vorzüge sind nach sachlichen Gesichtspunkten in Zweiergruppen zusammengefaßt (σίτος — οίνος, όμβρος — εέρση, αίγίβοτος— βούβοτος, Ολη—άρδμοί), und jede von ihnen bekommt ihr eigenes Prädikat 60 . Auch das Äußere der Insel, das in der Beschreibung von Syria überhaupt keine Rolle spielt, wird wenigstens gestreift (τρηχεϊα... οΰδ ' ευρεία). Insgesamt ist Athenes Ithakadarstellung — trotz der inhaltlichen Parallelen zu o 403 ff und δ 602 ff — nach Stil und Sprechhaltung der Odysseus-Erzählung zuzuordnen. Die Analysen des Landschaftstypus „Inseln und Buchten", der Ideallandschaften sowie der Ithakadarstellungen haben deutlich gemacht, daß jenseits aller inhaltlichen und situationsbedingten Unterschiede zwei Gruppen von Landschaften zu unterscheiden sind. In jeder von ihnen drückt sich eine so individuelle Seh- und Darstellungs58 59

60

Lyrik 105. Die Meinung TREUS, der in der Schilderung „idyllische Züge" feststellen zu können glaubt (105), kann ich nicht teilen. Wald, Quelle und Tau mögen zum Inventar der Idylle gehören, aber die ύλη darf bei einer Schilderung Ithakas auf keinen Fall fehlen, der Tau ist genauso Zeichen der Fruchtbarkeit wie ψ 598 f oder 5 351, und die άρδμοί sind keine idyllischen Quellen, sondern Tränken mit einem praktischen Zweck. Die Verben sind auffallend allgemein : τέτυκται, γίγνεται, βχει, εστί, ττσρέασιν. Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich offenbar auf die Fruchtbarkeit der Insel.

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weise aus, daß die Annahme zweier Dichter unumgänglich erscheint. Aufgrund der bisherigen Analysen lassen sie sich wie folgt charakterisieren (ich übernehme SCHADEWALDTS Bezeichnungen: A für den Dichter der ursprünglichen Odyssee, Β für den jüngeren Bearbeiter) 6 1 : 1. Die Landschaftsdarstellungen von A sitzen fest im Verband und haben eine deutlich erkennbare poetische Funktion, die von Β lassen sich ohne Störung des Zusammenhangs als relativ selbständige Gebilde herauslösen (den Einsatz markierende Einleitungsformel, gewaltsame Rückführung in den Erzählzusammenhang). 2. A läßt deutlich ein Kompositionsprinzip erkennen (Ringkomposition, Darstellung von innen nach außen oder umgekehrt), wobei die Reihenfolge meist sachlich bedingt ist, Β verwendet vorwiegend das Additionsverfahren, ohne daß eine Ordnung erkennbar wäre. 3. Das führt bei A zu einer dynamischeren Darstellungsweise, bei Β zu einer ausgesprochen statischen (wenig Verben). 4. Dieser Unterschied in der Gestaltung ist zumindest teilweise auf ein unterschiedliches Interesse zurückzuführen. A ist bemüht, die Erscheinungsform der Dinge zu erfassen (Vorliebe für gestalt- und wesenbezeichnende Adjektive), Β ist von einem praktischen Sachinteresse geleitet (nautische Details, wirtschaftliche und klimatologische Fragen, besondere Berücksichtigung des Meßbaren). Daher wirken seine Darstellungen nüchterner und rationaler, das Landschaftliche, das ohne anschauliche Qualitäten nicht auskommen kann, spielt in ihnen eine geringe Rolle.

Der

Phorkyshafen

Ein Beispiel jenes Landschaftstypus, den wir bereits im Laistrygonenhafen kennengelernt haben (s. o. 109f) und der, mehr oder weniger stark abgewandelt, mehrfach in der Odyssee begegnet, erfordert eine selbständige Behandlung: die windgeschützte Bucht auf Ithaka, in der der schlafende Odysseus an Land gebracht wird (υ 96ff). Hier ist jener Punkt erreicht, an dem die äußere Heimkehr des Helden abgeschlossen ist und die innere Heimkehr, „der Wiedereintritt in die Existenz des Königs und Hausherren", beginnt 62 . Odysseus

Alle hier dem Dichter Β zugesprochenen Landschaften stehen in Partien, die nach SCHADEWALDT als Eigentum des Bearbeiters zu betrachten sind. Nach VON DER MUHLLS Einteilung wären sie dessen Telemachiedichter Τ zuzuweisen. *2 M. MÜLLER, Athene als göttliche Helferin in der Odyssee, Heidelberg 1966, 87. Hier (88 ff) auch gute Bemerkungen zur immer wieder die Kritik herausfordernden Rolle

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Epos

nimmt Abschied von der Welt des Märchens und kehrt in die Wirklichkeit zurück, und diese Umstellung — auf Götterebene durch die Ablösung Poseidons durch Athene gekennzeichnet — erfordert Zeit. Entsprechend der Bedeutung der grundlegend neuen Situation fällt die Darstellung jener Gegend, an der der Held seine Heimat erkennen soll, auffallend reich aus. In den knapp zwanzig Versen tut sich eine eigene Welt auf, in der sich Menschliches und Göttliches vereinigt. Erfolgt die Darstellung des ersten Teils, von windstiller Bucht und vorspringenden Felsen, noch ganz mit den Augen des Seefahrers, so herrscht im zweiten eine teils idyllische (liebliche Grotte, ölbaum, honigsammelnde Bienen), teils märchenhafte Atmosphäre (Webstühle der Nymphen, für Götter und Menschen getrennte Eingänge). In der Darstellung des Phorkyshafens verbinden sich also nach der gängigen Terminologie Elemente der „geographischen" und der „märchenhaften" Landschaften. Die Art, wie die Schilderung der Landschaft in die epische Handlung eingebettet ist, erinnert an eine aus der Ilias bekannte Erzähltechnik. Die Beschreibung erfolgt, während sich das Phaiakenschiff der Insel nähert, sie ist also der epischen Handlung parallel geschaltet63. Da sie ferner von außen nach innen, von der Einfahrt zum Kopf hin erfolgt64, nimmt sie die Bewegung des Schiffes auf bis zu dem Punkt, wo es am Lande aufläuft. Eine zweite Klammer ergibt sich aus dem πριν είδότες in dem zur Handlung zurückleitenden Vers 113. Als Objekt ist der Phorkyshafen zu ergänzen, das heißt, den Phaiaken sind die vom Dichter mitgeteilten Einzelheiten bekannt, und deshalb steuern sie diese Bucht an. Aber auch für die anschließende Odysseus-Athene-Szene sind einige Details der Schilderung von Bedeutung, παρά πυθμέν' ελαίης (doch wohl identisch mit der 102 genannten ελαίη) legen die Phaiaken die Geschenke für Odysseus nieder (122f). Später rät Athene, sie μυχω άντρου zu bergen (363), und setzt selbst einen Stein vor die Eingänge (370). Dann lassen beide sich nieder, wieder παρά πυθμέν' έλαίης, und beratschlagen den Freiermord (372f). Den Nymphen schließlich gilt das erste Gebet des Odysseus, nachdem er seine Heimatinsel wiedererkannt hat und damit die letzten Zweifel zerstreut sind (356 ff).

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der Athene in der Phorkyshafenszene (Funktion des Nebels, Bedeutung der Verwandlung) . Vgl. εϋτ' άστήρ . . . τημος . . . προσεπίλνατο . . . νηϋ; unmittelbar vor dem Einsatz der Hafenbeschreibung (93/95) und die Wiederaufnahme der Handlung 113: Während der Schilderung ist das Schiff in die Bucht eingelaufen. Ικτοθεν und εντοσβεν 100 — έττΐ κρατός λιμένοζ 102.

Odyssee

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So hat es Homer auf mehrfache Weise vermieden, daß sich die Schilderung des Phorkyshafens trotz ihrer Ausführlichkeit verselbständigt und den Gang der Handlung sprengt®5. Jedoch auch in anderer als nur erzähltechnischer Hinsicht ist die Landschaft mit dem Szenenkomplex eng verbunden. Wie so oft in der Odyssee geht es auch in der Szene zwischen Athene und Odysseus6® um einen Anagnorismos, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen erkennt der Held in dem Ithakesier, mit dem er die ersten Worte wechselt, seine göttliche Schutzpatronin, zum andern enthüllt sich ihm die umgebende Landschaft als die seiner Heimat Ithaka. Bei diesem Erkennungsprozeß übernimmt die Landschaft selbst eine entscheidende Rolle. Nachdem der Hörer durch die Beschreibung der Phorkysbucht mit einer der wichtigsten Gegenden auf Ithaka vertraut gemacht worden ist, folgen bis zur endgültigen Wiedererkennung noch drei weitere, nach Länge, Motivwahl und Sprachgestus stark unterschiedene Versgruppen, in denen Ithaka vorgestellt wird, nun aber in engster Beziehung zu Odysseus. Zunächst sind es die Fußwege, Anlegeplätze, Felsen und Bäume (195f), die Odysseus wegen des von der Göttin darüber gebreiteten Nebels nicht erkennt, dann folgt die Vorstellung der Insel durch die (noch verwandelte) Athene (242ff, s. o. 120f) und schließlich die an topographischen Einzelheiten reiche Schilderung der Phorkysbucht (344ff), die sich wie eine Zusammenfassung des epischen Berichtes 96 ff anhört und die wichtigsten Motive (Phorkyshafen, ölbaum, Nymphengrotte) wörtlich wiederaufnimmt. Hier spricht die Göttin, die sich dem Helden zu erkennen gegeben hat, und unmittelbar danach erkennt Odysseus seinerseits die Heimat wieder. Ein Fortschreiten in der Fülle und Genauigkeit des Details in den drei genannten Versgruppen ist unverkennbar. Zwar sind 195 f Charakteristika der breiten Eingangsschilderung aufgenommen, aber Bucht, Fels, Baum und Pfad 67 erscheinen jetzt im Plural, an die Stelle des bestimmten Speziellen ist das unbestimmte Allgemeine getreten. Während die präzisen Angaben der einleitenden Schilderung ein auch in der Tiefe noch scharfes Bild der Phorkysbucht vermitteln 68 , werden 65

Die einleitende Formel Φόρκυνοζ δέ τις εστί λιμήν markiert zwar einen leichten Neueinsatz, aber abgesehen davon, daß die Länge der Schilderung ihn an dieser Stelle berechtigt erscheinen läßt, ist die Formel durch die Voranstellung des Eigennamens modifiziert und der Handlung besser eingefügt (s. u.). " Vgl. auch die Würdigung der Szene durch W. F. OTTO, Die Götter Griechenlands, Frankfurt 4 1956, 191 ff. 67 Vorher bereits 123 erwähnt: έκτόζ όδοϋ. 68 Besonders auffällig der Reichtum an Präpositionen und Ortsadverbien, vor allem im zweiten Teil (102ff).

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die geographischen Größen jetzt nur in Form einer einfachen Addition gegeben, die die Beziehungen untereinander im unklaren läßt. Demgegenüber geht die erste Darstellung, die Athene von der Insel gibt, schon mehr in die Einzelheiten (Rauheit, geringe Ausdehnung, Unergiebigkeit). Aber sieht man von den idealisierenden Zügen ab, könnte die Beschreibung ebensogut für manche andere Insel des Mittelmeerraumes gelten. Was Ithaka zur Heimatinsel des Odysseus macht, sind seine spezifischen Besonderheiten, die sich nur mit dem individualisierenden Eigennamen wiedergeben lassen und als Erkennungszeichen dienen können: die Phorkysbucht mit dem blätterstreckenden Ölbaum und der Höhle der Nymphen, das Neritongebirge mit seinem dichten Wald 69 . Diese unverkennbaren Charakteristika erwähnt Athene erst in der zweiten Vorstellung der Insel. Auch der Name Ithaka, vorher eher beiläufig am Schluß erwähnt (248), steht gleich im ersten Vers: άλλ' άγε τοι δείξω 'Ιθάκης εδος. Damit ist der deiktische Charakter der ganzen Versgruppe festgelegt, auch im folgenden wird auf alle topographischen Einzelheiten mit einem Demonstrativpronomen hingewiesen, dem jeweils ein εστί korrespondiert (345. 349. 351). Dieses dreifach gestufte Hervortreten oder Sichtbarwerden der Landschaft (είσατο δέ χθών 352) entspricht nun genau dem ebenfalls in drei Etappen sich vollziehenden Erkenntnisvorgang des Helden70. Im ersten Stadium, gleich nach dem Erwachen, erkennt Odysseus die Heimatinsel nicht (ουδέ μιυ εγνω 188)71, wegen des Nebels erscheint ihm alles fremd (άλλοϊδέα 194). Dementsprechend fällt seine (Fehl-) Reaktion aus: Er jammert und schlägt sich die Schenkel72. Nachdem 69

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1 21 f wird es von Odysseus selbst genannt, und zwar gleich am Anfang seines Berichtes, aber wohl als ein besonders wichtiges Kennzeichen der Insel. Zum folgenden vgl. H. K L E I N K N E C H T , Platonisches im Homer, Gymn. 65, 1958, 59—75, dem man allerdings nicht in allen Punkten wird folgen können. Vgl. die kritischen Anmerkungen bei H. E R B S E , Beiträge zum Verständnis der Odyssee, Unters, z. ant. Lit. u. Gesch. 13, Berlin 1972, 150f. — Zu einer völlig anderen Beurteilung des Szenenkomplexes muß ein Analytiker wie S C H W A R T Z kommen, der in der zweimaligen Erkenntnis des Odysseus und in der zweimaligen Verwandlung der Göttin eine empfindliche Störung des Erzählzusammenhangs sieht (55f). Vgl. auch die extreme Kritik an der Partie (ab 188) bei B E T H E I I 60ff (das „geringe Geschick des Verfassers", „dürftige Poesie", „impotente Naivität"). Auch αγνωστον 191 ist wohl in diesem Sinn, also (trotz 397) aktivisch („nichterkennend", nicht: „unkenntlich") zu verstehen, vgl. Pind. O. 6, 67: ψίυδέων άγνωτον. Nur dann ist die zweite Vershälfte sinnvoll und bietet TOÚVSK ' 194 keine Schwierigkeiten. Der Nebel hat also eine doppelte Funktion: Odysseus soll nicht erkennen, damit ihn Athene zur Erkenntnis führen kann (1. Finalsatz), und er soll nicht erkannt werden, damit er vorher die Freier zur Rechenschaft ziehen kann (2. Finalsatz) . Mit sichtbarem Vergnügen kostet der Dichter die Ironie der Situation aus. Immer wieder hebt er die γαΐη ττοττρωίη hervor (188, ähnlich 197. 219. 251), über die bislang

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Versuch einer ersten Orientierung — Odysseus zählt die Geschenke der Phaiaken — und der Aufklärung durch die Göttin schlägt dann der Jammer in Freude um: γήθησευ . . . χαίρων ή γαίη πατρωίη. Aber noch kann er den Worten Athenes nicht ganz glauben, er bedarf der Rückversicherung, ob es „wirklich" (έτεόυ 328) sein Ithaka ist. Erst die Nennung der Namen macht ihn zum endgültig Sehenden — der von der Göttin zerteilte Nebel ist das erzählerische Korrelat dafür73 —, und jetzt erst ist die Freude vollkommen (353—354a ~ 250—251a): Odysseus küßt den Boden seiner Heimat. Die Beschreibung der Phorkysbucht ist deutlich gegliedert. Mit αύτάρ setzt nach der Beschreibung der eigentlichen Bucht die Darstellung des Uferstreifens an ihrem inneren Ende ein. Dieser Teil ist, seiner Bedeutung für die folgenden Erzählpartien entsprechend, wesentlich breiter angelegt. Dabei richtet sich die Reihenfolge der mitgeteilten Einzelheiten wie auch sonst in der Odyssee danach, wie die Dinge sich bei der Einfahrt in die Bucht dem Auge darbieten74. Jedoch macht sich, zumindest in der Atmosphäre der Darstellung, ein Wechsel bemerkbar: J e tiefer man in die Bucht eindringt, desto geheimnisvoller scheint sie zu werden. Das Hafenbecken selbst ist noch ganz realistisch gesehen und unterscheidet sich grundsätzlich nicht von anderen Beispielen dieses Typs. Doch dann gleitet die Darstellung unmerklich aus der vordergründigen Realität heraus. Ölbaum und Höhle gehören ihr noch an, aber die Erwähnung der Nymphen eröffnet eine neue Dimension. In ihr liegen fast alle Einzelheiten, die noch folgen. Die überlangen Webstühle, an denen die Nymphen ihre Purpurgewänder wirken, führen bereits in das Reich des Märchens. Jedoch sind die Grenzen fließend. So sind die Webstühle nicht aus überirdischer Materie gefertigt, sondern schlicht aus Stein (gerade das freilich übersteigt die Realität), und eine Höhle mit zwei Eingängen ist an sich noch nichts „Wunderbares". Was sich für uns in eine reale und eine märchenhafte Welt aufspaltet, stellt sich hier als zwei zwar prinzipiell getrennte, sich jedoch wechselseitig durchdringende Bereiche des Göttlichen und des Menschlichen dar. Gerade dieses Beieinander von Gott und Mensch wird anschaulich dargestellt: Götter

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aber nur der Hörer Bescheid weiß (seit der Schilderung der Phorkysbucht). είσιδε πατρίδα γαΐαν 197 ist zwar objektiv richtig, gilt aber nicht subjektiv für Odysseus. Da, wo alles zum ersten Mal nichts als Geborgenheit atmet, muß Odysseus sich wie nie zuvor ausgesetzt fühlen. Zur Bedeutung des Nebels für die Handlungsführung gut E R B S E 150f und 160f. Zweimal ist der Gegensatz außen — innen formuliert : Εκτοθεν — εντοσθεν (100) folgen unmittelbar hintereinander, die (zum Meer hin) „schroff abgebrochenen", zur Bucht hin „flach abfallenden" Felsen verleihen dem Gegensatz plastische Realität.

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und Menschen haben, wenn auch getrennt, Zutritt zur Höhle, Dinge der Menschen stehen neben solchen der Götter, in der Höhle werden Opfer dargebracht (349 f)75, wovon die Mischkrüge und Amphoren zeugen. So darf die Höhle allgemein als Bild altgriechischen Glaubens gelten78, wie er sich dann anschließend im Gespräch zwischen Odysseus und Athene in einer besonderen Situation entfaltet: als das Bewußtsein göttlicher Allgegenwart, das aber die Grenze zwischen Gott und Mensch niemals aufhebt. Von hier aus erhellt auch der tiefere Sinn der Komposition der gesamten Versgruppe. Der einleitende Vers mit dem vorangestellten Φόρκυυος nennt mehr als nur den Namen der Bucht, er definiert sie zugleich als göttlichen Bereich, der den menschlichen umschließt77. Die Verklammerung von Naturschilderung und epischem Bericht geht also über das Erzähltechnische hinaus. Die Landschaft tritt in den Dienst von Odysseus' geistigstem Abenteuer und verdichtet zum Bild, was sich im Gespräch zwischen Gott und Mensch ereignet.

Märchenlandschaften

Daß eine Trennung der Odysseelandschaften in „märchenhafte" und „realistische" unzulässig ist, haben wir bereits angemerkt (s. o. 105). Wenn wir trotzdem an dem Terminus „Märchenlandschaft" festhalten, geschieht das in Ermangelung einer besseren Bezeichnung. Keineswegs soll damit gesagt sein, daß dieser Landschaftstyp ohne das Wunder nicht auskäme, wenn er auch in der Behandlung von Raum und Zeit eine größere Freiheit erkennen läßt. Wir beginnen mit der K a l y p s o i n s e l . Nachdem sie in den einleitenden Partien der Odyssee bereits mehrfach im Zusammenhang mit dem von der Göttin auf ihr zurückgehaltenen Odysseus genannt ist (cc 15. 50 f), folgt eine zusammenhängende Darstellung erst, als Hermes sich in Erfüllung seines Auftrages der Wohnung der Göttin nähert (ε 63ff). Es handelt sich also um ein — freilich besonders breit ausgeführtes — Element des epischen Ankunftschemas. Nach der bisher meist befolgten Regel könnte man erwarten, daß die Beschreibung der Insel gleichsam mit den Augen des ins Innere vordringenden 75

Zur Bedeutung der homerischen Grotten als Behausungen von Göttern und als K u l t s t ä t t e n SCHRADE 28 ff.

™ Dazu L. RADERMACHER, Die Erzählungen der Odyssee, SB Kais. Akad. Wiss. Wien, phil.-hist. Kl. 178, 1, 1915, 35: „ganz im Stil phantasievollen Volksglaubens" sei die Schilderung der Nymphengrotte gehalten. " Dem Meergott des ersten Verses entsprechen die άθάνατοι im letzten.

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Gottes erfolgt. Aber der Dichter läßt Hermes unverzüglich zur Höhle gelangen, und dort trifft er die Göttin. Nach einer kurzen Umschau in der Höhle (59 ff) wird dann die Schilderung der Umgebung nachgetragen, wobei das Motiv des von der Höhle sich über die ganze Insel verbreitenden Duftes die Bewegung zurück zur Außenwelt vorbereitet. Der Drang, den Gott das Ziel seiner Reise erreichen zu lassen, war offensichtlich so stark, daß zunächst nur der übers Meer führende Teil des Weges poetisch realisiert wird (51 ff). Das hat zur Folge, daß Hermes den Weg sozusagen ein zweites Mal geht, nun aber mit staunenden Augen, und daß er die Höhle ein zweites Mal betritt (58/77). Erst jetzt findet eigentlich die Begegnung von Gott und Göttin statt. Diese auffallende Handlungsführung78 verstärkt die Einheit von Höhle und Höhlenumgebung als dem Bereich der Göttin. Zur „Kultur" der Göttin in der Höhle tritt die Natur außerhalb ergänzend hinzu. Eine ähnliche Tendenz läßt sich auch in der Darstellung der Umgebung der Höhle feststellen. Auch sie führt in gegenläufiger Bewegung von der Peripherie zum Zentrum und von diesem wieder zur Peripherie zurück : der Wald mit seinen Vögeln — der sich um die Höhle rankende Weinstock — Quellen und Wiesen79. Fast von mathematischer Ausgewogenheit sind die Proportionen dieser drei Motivgruppen. Wald und Vögel nehmen fünf Verse ein (2+3), der Weinstock zwei, Quellen und Wiesen wieder fünf (2+3). Aber nicht nur im Großen (drei Versgruppen), auch im Kleinen spielt die Dreizahl eine wichtige Rolle: je drei Baum- und Vogelarten sind genannt80. So spiegelt auch die Komposition der Verse die Ordnung einer göttlichen Welt wider81.

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Im einzelnen: ενδοθι trifft der Gott Kalypso, τηλόσε . . . άνά νήσοι» verbreitet sich der Duft des Zedernholzes, Ινδον singt Kalypso am Webstuhl, dann folgt die Beschreibung der Umgebung: Bei jeder Phase also springt die Blickrichtung um. Daß die Behausung in die sie umgebende Landschaft hineingestellt wird, gehört zum Erzählstil der Odyssee. Das hebt F. MÜLLER, Darstellung und poetische Funktion der Gegenstände in der Odyssee, Diss. Marburg 1968, 123 ff in seiner Analyse der Szene besonders hervor. Als weitere charakteristische Unterschiede zu entsprechenden Darstellungen der Ilias nennt er die größere Zahl der Gegenstände im Raum selbst und das intensivere Wahrnehmen der Eindrücke mit allen Sinnen. 79 Vgl. auch άμφ( 63/72, den weiteren Umkreis bezeichnend, und περί 68: der Weinstock rankt sich um die Höhle. Das wäre einschränkend zu sagen zu R. HÄRDERS grundsätzlich richtiger Charakterisierung der Schilderung: „eigentümlich ortslos, ohne Achsen und ohne Rahmen, gereihte Einzelheiten" (Odysseus und Kalypso, in: Kleine Schriften, München 1960, 148—163, das Zitat 164). 80 Wobei der Parallelismus durch das jeweils zum dritten Glied gesetzte Beiwort besonders ins Ohr fällt. 81 Ihre Vollkommenheit findet auch in der Harmonie der sinnlichen Eindrücke ihren adäquaten Ausdruck. Wie sich bereits in der Höhle schöner Anblick, Duft und Ton 9

Eiliger, Darstellung

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Epos

Um die Eigenart dieser Welt zu kennzeichnen, spricht REINHARDT von einer Idylle, die wohl noch den Menschen verzaubern könne, aber mit dem alten Märchenzauber, wie ihn das Kirkeabenteuer repräsentiere, nichts mehr zu tun habe: aus dem motivisch wichtigen Zaubergesang der Kirke sei der Gesang Kalypsos geworden, ein begleitendes Pendant zum Zauber der Landschaft82. Diese Entsprechung von Mensch und Natur wird auch von T R E U hervorgehoben: die Harmonie von schöner Gestalt und schöner Umgebung83, die Natur, die selbst einen Gott das Staunen lehrt84. Beides ist ohne Zweifel richtig. Mit Grotte, Wald, Wiesen und Quellen erscheint hier — in dieser Vollständigkeit zum ersten Mal — der Typus der schönen Landschaft, und in ihrer Darstellung sind Anklänge an die Lyrik unüberhörbar85. Und daß das Kalypsoabenteuer als epische Situation tatsächlich eine neue psychologische Stufe gegenüber dem alten Kirkemärchen repräsentiert, hat REINHARDT gezeigt86. Nur fragt sich, ob ein idyllisches Inventar die Idylle bereits konstituiert. Sieht man in ihr lediglich die Darstellung eines engumgrenzten, ungetrübten Daseins, kann man den Terminus in diesem Fall gelten lassen; sieht man in ihr den Ausdruck eines gebrochenen Naturverhältnisses, ist er für die Odyssee nicht anwendbar. Eine Prüfung der Kriterien weist die Darstellung zunächst einmal als spezifisch homerisch aus. Es ist ein Stück Natur, das hier vorgeführt wird mit den Mitteln, die wir auch sonst aus Ilias und Odyssee kennen: im Einzelnen die präzise, mehr auf den Umriß als auf die Oberfläche konzentrierte Erfassung der Dinge, etwa in den Beiwörtern der Vögel (ταυυσίπτεροι und τανύγλωσσοι, während die Farben vollständig fehlen), im Ganzen eine sachbezogene, nichtreflektierte Darstellungsweise (besonders deutlich bei den „unpoetischen" Mitteilungen über die Meerkrähen). Ferner sind Vögel und Bäume unter Verzicht auf alles poetische Beiwerk fast nur durch ihre Gattungszugehörigkeit gekennzeichnet. Hinsichtlich der Komposition läßt sich wie schon so oft das Prinzip der lockeren Fügung erkennen. Die Lageangaben sind ganz allgemein, lediglich die Höhle als geistiger und landschaftlicher Mittelpunkt ist festgelegt. Im übrigen sind nur ein paar

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vereinten, so auch außerhalb : hochragende Bäume — duftende Zypressen und Blumen — Vögel. Abenteuer 79ff. Lyrik U l f . Vgl. das dreimalige θηήσαιτο — θηεΐτο — Θηήσατο 74ff. Der Tempuswechsel bezeichnet die drei Phasen des Staunens: das Erstaunen beim Anblick der herrlichen Landschaft (Ιδών) — das Versunkensein — das Sichlosreißen. TREU, Lyrik 111 (weiche Wiesen, das „helle" Wasser). Abenteuer 81.

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Linien ausgezogen, in vertikaler Richtung durch die betont schlanken Pappeln und Zypressen, in horizontaler durch die sich nach allen Seiten hin verteilenden Bäche und die Wiesen. Irgendeine Begrenzung wird nicht sichtbar, die einzelnen Komplexe treten in keinen auch nur annähernd fixierten räumlichen Zusammenhang 87 : wieder eher ein Vorwurf für den Zeichner als für den Maler; Luft, Himmel, Wolken und Schatten gibt es in der Darstellung noch nicht. Die Einheit der Kalypsolandschaft liegt nicht in ihrer räumlichen Geschlossenheit, sondern im üppigen Wachstum der Natur. In jeder der drei Versgruppen dient zu seiner Bezeichnung das Verb θάλλειν (θηλέειν), meist in der intensivierenden Perfektform (τηλεθόωσα vom Wald, der die Höhle umgibt, τεθήλει vom Wein, dazu θήλεου von den Wiesen), und regelmäßig wird das Verb verstärkt durch einen sinnverwandten Ausdruck (ττεφύκει 63, ήβώωσα 69, μαλακοί 72). Zudem bildet, worauf P L Ü S S 330 aufmerksam gemacht hat, θήλεον den Abschluß der Schilderung, die nur mit diesem einen Wort in den nächsten, die Handlung wieder aufnehmenden Vers übergreift, wodurch seine Bedeutung noch einmal hervorgehoben wird. Will man schon die Landschaft der Kalypso mit einem Schlagwort kennzeichnen, so ist sie weniger „idyllisch" oder „märchenhaft" — beides träfe nur die Auswahl der Motive — als „göttlich", denn die sich voll entfaltende Natur ist bei Homer regelmäßig Zeichen göttlicher Nähe (die beste Parallele aus der Ilias ist das weiche Graslager von Zeus und Hera 5 347ff, besonders 2- 347b ~ ε 63b, in der Odyssee wäre an den Alkinoosgarten zu erinnern, s. u. 137ff). Nun hat man Kalypso des öfteren als Unterwelts- oder Todesgöttin verstanden, die erst nachträglich zur liebenden Nymphe umstilisiert worden sei88. Ein vor nicht langer Zeit gefundenes Bruchstück aus den Katalogen Hesiods (Ox. Pap. XI 1358), das Kalypso als Stammutter der Kephallenen mit Hermes in Verbindung bringt 89 , legt diese Deutung nahe. Aber auch die Landschaft, in die der Dichter Kalypso hineinsetzt, könnte man in diesem Sinn deuten, denn fast 87

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Sehr schön ausgeführt von H . T H . P L Ü S S , Vergil und die epische Kunst, Leipzig 1 8 8 4 , 327 ff. So vor allem H. G Ü N T E R T , Kalypso, Halle 1919, 196ff; vgl. auch F I N S L E R I I 2 3 3 , B I C K E L 44 und G E R L A N D 50 f, der eine „entschiedene Ähnlichkeit" zwischen Kalypsoinsel und Hadeseingang (κ 510) glaubt feststellen zu können. Dagegen sprechen sich u. a. VON D E R M Ü H L L , Odyssee 7 1 2 und M E U L I 60ff aus (hier auch weitere Literatur), während R A D E R M A C H E R 2 8 und 50 die Frage unentschieden läßt. Der sprechende Name „Verbergerin" oder besser „Verhüllerin" paßt natürlich gut zu einer Todesgöttin, läßt sich aber auch mit einer Nymphe kombinieren ( M E U L I 60 Anm. 3 u n d 64, GERLAND 38).

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Daß es der chthonische Hermes sein muß, ist damit freilich noch nicht gesagt, vgl. MEULI 6 1 . 9'

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jede Einzelheit, die mitgeteilt wird, läßt sich auf den Tod beziehen. Das gilt vor allem von den Bäumen und Pflanzen. Schwarzpappeln bilden κ 510 zusammen mit Weiden den Persephonehain am Eingang des Hades; die Zypresse war bei den Griechen der Baum der Trauer schlechthin, der an Gräbern gepflanzt und der Persephone geweiht wurde (der Mythos von Kyparissos liefert das spätere Aition dazu) ; Eppich fand Verwendung beim Bekränzen von Toten und Gräbern sowie beim Totenmahl. Und selbst die Erle, die im Mythos kaum eine Rolle gespielt zu haben scheint, paßt in diese Umgebung wegen der dunkelgrünen Farbe ihres Laubes und ihrer „Unfruchtbarkeit" 90 . Auch die Wahl der Vögel, dieser „trübseligen Gesellschaft" (FINSLER II 233), allen voran der unheilbringenden Eule91, könnte eine solche Beziehung zur Unterwelt vermuten lassen. Jedoch verbietet sich eine derartige symbolische Deutung der Landschaft im alten Epos wohl von selbst, zumal kaum eine Pflanze bei den Griechen auf eine einzige Bedeutung festgelegt war und höchstens eine bestimmte Konstellation ein eindeutiges Verständnis ermöglicht. Auch die Elemente der Kalypsolandschaft lassen durchaus andere Deutungen zu. Das Veilchen, im Demeterhymnus unter den Blumen genannt, die Hades für Persephone hervorsprießen läßt (6), gehört auch in den Aphroditekult — ίοστέφαυος ist ein Beiwort der Göttin92; Pappeln sind geradezu Lieblingsplätze der Nymphen93, und auch der Wein wird gerne mit ihnen in Verbindung gebracht94, so daß man die Landschaft statt auf die Todesgöttin genausogut auf die liebende Nymphe deuten könnte. Richtiger und den Normen homerischer Landschaftsdarstellung angemessener versteht MEULI 63 f die Auswahl von Pflanzen und Tieren. Pappel und Erle, Veilchen und Eppich lieben feuchte Gegenden, und gerade der eine üppige Vegetation ermöglichende Wasserreichtum des Ortes ist ja ein wichtiger Zug der gesamten Darstellung. Für die genannten Vögel ist eigentlich nur charakteristisch, daß sie an Plätzen hausen, zu denen wenig Menschen kommen95 — auch die Wohnung der Göttin fernab von der Welt der Menschen ist Voraus90

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Belege für die Verwendung der genannten Pflanzen im Totenkult bei J . MURR, Die Pflanzenwelt in der griechischen Mythologie, Innsbruck 1890 (Pappel 17 ff, Zypresse 122 ff, Eppich 171 ff, Erle, die nur bedingt in diesen Zusammenhang gehört, 17). Daß die Eule eigentlich erst im römischen Glauben die Unheilsbedeutung angenommen hat, stellt MEULI 63 fest.

92

Weiteres bei MURR 261 ff.

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Auch das ρ 210f erwähnte Nymphenheiligtum ist von einem Pappelhain umgeben (s. u. 149ff) ; vgl. ferner Kall. Dem. Hym. 37 f.

M MURR 1 3 6 f . 85 Μ.ΈΛ31Λ 6 4 .

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setzung der Kalypsohandlung. Einen Schritt zu weit in seiner nüchternen Beurteilung der Kalypsoszenerie geht MEULI allerdings, wenn er meint, der Dichter spreche, ähnlich wie bei der Darstellung der Kyklopeninsel, auch hier „wie ein Kolonist mit geübtem Bück" (64). Das θηεΐσθαι des Gottes liegt doch wohl auf einer anderen Ebene als das geistige Pionierwesen des weit in der Welt herumgekommenen Odysseus. Die Umgebung der Kalypsogrotte ist nicht „wunschmäßig gesteigerte Wirklichkeit" (65), sondern g ö t t l i c h gesteigerte Wirklichkeit: die der Göttin eignende und ihrer „reichen Fülle göttlich-natürlichen Lebens" (PLÜSS 333) entsprechende Welt. HARDER, der in diesem Zusammenhang sogar von der „inneren Topographie" der Göttin spricht (156), hat den merkwürdigen Schwebezustand der Kalypsoerzählung zwischen märchenhafter und epischer Betrachtungsweise eindrücklich nachgezeichnet. Auf der einen Seite steht die den Menschen in ihrem Bann haltende Elfe, auf der anderen die Göttin, die „Kultur" (gezüchteten Wein, Webstuhl, Herd) und vor allem ein Schicksal hat und dadurch zur epischen Figur wird. Diesem Doppelantlitz der Kalypso entspricht die Darstellung ihrer märchenhaft anmutenden, aber die Realität nirgends übersteigenden Umgebung. Die zweite, nur in Form einer Skizze gegebene Landschaft der Kalypsoinsel hat der Dichter offenbar als Kontrast zur Grotte der Kalypso konzipiert (s. o. 105ff). Den blühenden Bäumen und Blumenwiesen stellt er Küste und unfruchtbares Meer gegenüber, der heiteren Welt der Göttin die tränenreiche Welt des Menschen (s. ο. 106)96. Noch ist über das Verhältnis von Kalypso und Odysseus so gut wie nichts gesagt, doch lassen ihre „Orte" bereits die Unvereinbarkeit beider Sphären ahnen. In der Tat, die wenigen Odysseusverse machen die Schönheiten der vorhergehenden Zeilen zu einem „shade unreal" (A. PARRY 25).

Von hier aus bekommt auch die Komposition des Ganzen ihren letzten Sinn, besonders die Sperrung der einander korrespondierenden Verse 58 (την δ' ενδοθι τέτμεν) und 81 (ούδ' άρ' Όδυσσηα . . . ένδον ετετμεν) : die Göttin, die Hermes drinnen antrifft, und Odysseus, den er drinnen nicht antrifft. Beide Feststellungen lösen die Schilderungen von Gott und Mensch in der jeweils ihm zugehörigen Welt aus, wobei der Landschaft eine Art definitorischer Funktion hinsichtlich der ihr zugeordneten epischen Figur zufällt97. 96

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Daß Ogygia den Gegenpart zu Ithaka, Kalypso den zu Penelope übernimmt, ist mehrfach ausgesprochen worden (FOCKE 243, HARDER 156, VON DER MÜHLL, Odyssee 712). Daß heißt nach wie vor nicht, daß die Landschaft zum Träger seelischer Regungen oder auch nur zu deren Widerhall würde. Auch hier wieder besteht lediglich eine

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Epos

Als „Schwester" der Kalypso hat man seit je Κ ir k e betrachtet — daß Kirke die ältere Schwester ist, daran kann seit R E I N H A R D T S Untersuchungen kein Zweifel mehr bestehen 98 . Da auch sie auf einer Insel haust, könnte man eine ähnliche Szenerie wie bei Kalypso erwarten. Aber weder von ihrer Insel noch von ihrer Behausung gibt es eine geschlossene Darstellung, und die einzelnen hier und da im Text verstreuten, dabei nicht einmal ganz widerspruchsfreien" Angaben vermitteln trotz aller Knappheit 100 ein ganz anderes Bild. Stellen wir zunächst die einzelnen Angaben zusammen101. Dem Höhepunkt des Buches, der Begegnung zwischen Kirke und Odysseus, gehen zwei kürzere Szenen voraus: Landung und erstes Auskundschaften vom Ufer aus (κ 133—197) sowie das Unternehmen des Eurylochos, das ins Innere der Insel führt (198—273). Diesem Wechsel des Blickpunktes entspricht die unterschiedliche Art der Angaben in beiden Szenen. Von der σκοπιή παιπαλόεσσα aus sieht Odysseus Rauch aufsteigen — Κίρκης εν μεγάροισι kann natürlich erst der Odysseus sagen, der das Abenteuer bestanden hat —- δια δρυμά πυκνά καί Ολην (148ff). Beide Wendungen kehren wieder in dem Bericht, den Odysseus den Gefährten von seinem ersten Erkundungsgang gibt, jetzt aber vervollständigt durch weitere, erst von erhöhter Warte aus mögliche Angaben über die Insel : Sie ist rings vom unendlichen Meer umgeben und liegt flach da (194ff). Nimmt man dazu die Anfangsverse von Odysseus' Rede (189ff), Ausdruck völliger Orientierungslosigkeit, so bietet sich ein Bild der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Nur der wiederholt genannte καπνός (149. 152. 196) bietet einen Anhaltspunkt wenigstens insofern, als er zum Aufbruch ins Innere der Insel verlockt. Freilich wird es ein Aufbruch ins Ungewisse, aber daß der Beziehung zwischen der seelischen Verfassung oder dem Wesen der betreffenden Gestalt und dem Ort, an dem sie der Dichter ansiedelt. Die Darstellung selbst bleibt objektiv, das heißt frei von jeglicher Psychologisierung, auch wenn sie seelische Vorgänge im Bild sichtbar werden läßt. 98 Zu den epischen Parallelen zwischen Kirke und Kalypso K R A N Z 102 ff, W I L A M O W I T Z , Horn. Unters. 115ff (mit weitreichenden analytischen Folgerungen; dazu auch VON der M Ü H L L , Odyssee 721, der wie W I L A M O W I T Z Κ und μ dem Verfasser der Urodyssee abspricht). 99 Dazu TREU, Lyrik 109. 100 R E I N H A R D T , Abenteuer 79 meint sogar, ohne die Hirschjagd würde der Kirkeinsel die Landschaft überhaupt fehlen. Das trifft allerdings ebensowenig zu wie die andere Behauptung, die Szene sei nur um der Landschaft willen eingeschoben. Die Landschaft spielt in ihr keine größere Rolle als in den anderen Partien des Kirkeabenteuers. ιοί YGI a u c h die Übersicht bei TREU, Lyrik 108 und die aus ihr gezogenen Folgerungen.

Odyssee

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ττολυμήτις in dieser Situation zum ersten Mal keine μήτις mehr vorhanden glaubt (192), ist doch wohl nur ein Spannungsmoment, das der Dichter ganz bewußt ans Ende der Exposition gesetzt hat. In der folgenden Szene kommen Eurylochos und seine Leute zum Haus der Kirke, das in zwei Versen geschildert wird. Es ist aus glatten Steinen gebaut und liegt in einem Waldtal an ringsgeschützter102 Stelle. Beide Verse werden in dem Bericht des Eurylochos wiederholt, nicht ohne daß auch die δρυμό, die bis dahin zu durchqueren waren, noch einmal genannt sind (251 ff). Nachdem sich dann Odysseus selbst auf den Weg gemacht hat ιεράς άνά βήσσας (275), wird außer dem δι' άκριας in Hermes' Frage (281) und der νήσος ΰλήεσσα, über die hinweg der Gott zum Olymp schreitet (307f), keine szenische Angabe mehr gemacht, die Insel scheint nunmehr hinreichend bekannt. Mustert man die einzelnen Angaben, so zeigt sich nicht nur, was 103 T R E U bereits dargelegt hat : die enge Beziehung zwischen Landschaft und epischer Handlung, nach deren Erfordernissen die Landschaft jeweils variiert wird. Gerade die ständige Wiederholung der Motive, die selbst bei einer Technik, die gern mit diesem Mittel arbeitet, auffallen muß, weist auf den zeichenhaften Charakter von Rauch, Wald und Tal. Ganz in der epischen Handlung aufgegangen, bekommen sie ihren Sinn erst durch die Bedeutung, die sie für die Handlung haben. Wenn man bei der Kirkeinsel auch schlecht von einer magischen Zauberlandschaft sprechen kann, weil die mitgeteilten Fakten viel zu nüchtern sind, so hat der Raum um Kirke doch „Bezug auf ihren Zauber" 104 . Hierher gehört nicht nur die Art ihres Erscheinens, das Hoftor und die Stimme von drinnen, sondern auch schon der Wald und der Rauch, das erste „Zeichen" der Zaubergöttin. Sicher hat der Wald die Funktion, Kirkes Palast zu verbergen und einen von der Außenwelt abgeschlossenen Raum als Ort der Handlung zu schaffen, zugleich aber lockt er, die halbwegs sichere Position aufzugeben und das Ungewisse aufzusuchen, darin nicht unähnlich dem Wald in „Hänsel und Gretel", wie auch Kirkes Palast gewisse 102

103 104

ττερίσκετττοζ ist von σκέτταξ, nicht von σκέπτω abzuleiten, vgl. die etymologischen Wörterbücher von B O I S A C Q , H O F M A N N und F R I S K ( F R I S K denkt allerdings auch an die Möglichkeit, das Wort zu σκέπτω zu ziehen), ferner F. M Ü L L E R 1 0 6 Anm. 1; anders u. a. B O W R A , Heroic Poetry 1 3 5 : „in an open ground". Die Bedeutung „ringsgeschützt" paßt auf jeden Fall an unserer Stelle (s. u. ; deshalb kann Odysseus den Palast vom Rand der Insel auch nicht ausmachen) und ebenfalls α 426. Auch das Gehöft des Eumaios liegt περισκέτττω évi χώρω (ξ 6). Einen Widerspruch zu der Tatsache, daß es offensichtlich auf der Höhe liegt, kann ich darin nicht sehen, denn windgeschützte Stellen gibt es auch oben am Berg (anders N E S T L E 4 1 ) . Lyrik 109 f. R E I N H A R D T , Abenteuer 8 3 .

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Epos

Ähnlichkeit mit dem Knusperhäuschen hat105: die abgeschiedene Lage und der Gegensatz zwischen „natürlicher" Umgebung — dort wie hier der Wald — und der „Künstlichkeit" des Hauses (Kirke wohnt in einem prächtigen Palast, nicht etwa wie Kalypso in einer Höhle). Dem Stil des Märchens entspricht ferner, daß der Wald nicht beschrieben, sondern nur genannt wird. Das Märchen kennt einen „großen" oder „finsteren" Wald, nie aber einen „grünen". Was im Volkslied als stimmungsbildender Faktor gang und gäbe ist, widerspricht den Gesetzen des Märchens, während die homerische Wendung δια δρυμά -πυκνά καΐ ύλη ν durchaus gattungsgerecht ist. Das alles weist die Kirkeinsel nicht als „Schwester", sondern als Antipoden der Kalypsoinsel aus: statt einer zusammenhängenden Darstellung des Schauplatzes knappe Landschaftsangaben, die sich meist mit der einfachen Nennung begnügen, statt der Fülle prächtigen Details die Wiederholung einiger weniger landschaftlicher „Zeichen", statt Entsprechung von Figur und Raum eine Landschaft, die erst durch die Handlungsführung in Beziehung zur Zauberin tritt; dazu die formelhafte Schärfe und die überaus klare Gliederung der einzelnen Szenen als weitere märchenhafte Stilmerkmale der Kirkeerzählung. Was REINHARDT an der verschiedenen Psychologie der beiden Göttinnen gezeigt hat — auf eine Formel gebracht: das Märchenhafte der Kirke, das Epische bei Kalypso —, erhellt also ebenso eindeutig aus Gestaltung und Funktion der Landschaft in beiden Erzählungen108. 105

108

Die Behauptung F. M Ü L L E R S (108), daß die Beschreibung des Kirkepalastes nicht nur als objektiver Bericht des Dichters, sondern zugleich auch aus der Perspektive der Ankommenden gegeben sei, wird sich schwerlich halten lassen. Zwar treffen die von M. hinsichtlich der Erzählhaltung oder -perspektive beobachteten Unterschiede zwischen Ilias und Odyssee auf einen großen Teil der örtlichkeitsbeschreibungen zu (s. u. 147ff), jedoch ist die Schilderung des Kirkepalastes genauso „objektiv" wie die von Achills Blockhütte Ω 448ff, die M. zum Vergleich heranzieht (zu ευρον . . . δώματα κ 210 vgl. „sie kamen an ein Häuschen" im deutschen Märchen: Das Märchen arbeitet nicht mit der Perspektive einer seiner Figuren). — Ebenso neutral erscheint die Landschaft beim Abschied des Odysseus, wo eben nur mitgeteilt wird, daß die Göttin άνά νήσον wegging (μ 143). Das paßt genau zum Erzählstil von κ, und fast will es schon etwas viel erscheinen, wenn C H . P. S E G A L im Anschluß an diesen Vers von einer „mysterious landscape" spricht (ähnlich weiter unten: „the dream-world of her island"). Der Odyssee-Teil seiner Studie „Circean Temptations: Homer, Vergil, Ovid", Am. Phil. Ass. 99, 1968, 419—442 (die Zitate 423 und 425) enthält gute Bemerkungen zum magischen Märchenstil des Kirkeabenteuers und zum Unterschied Kirke — Kalypso. Zum Unterschied in der künstlerischen Darstellung von Kirke- und Kalypsoabenteuer auch M E U L I 59, F O C K E 188f und T H E I L E R , Odyssee 112f. Freilich kann ich mich den Folgerungen, die F. und TH. aus den Unterschieden ziehen, nicht anschließen (TH. 105: „die überraschende Märcheneffekte suchende Handlungsfolge des Kirkedichters").

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Eher könnte man von einer Verwandtschaft zwischen Ogygia und A l k i n o o s g a r t e n sprechen (η 112ff),auch wenn es sich jetzt um eine Kulturlandschaft handelt. Allein das Staunen des Odysseus angesichts dieser Herrlichkeiten, wofür die gleichen Verse wie für Hermes' Staunen auf der Kalypsoinsel stehen (η 133 f ~ e75f), nähert beide Partien einander an, und auch die epische Situation (Verselbständigung der Ortsbeschreibung innerhalb des Ankunftschemas) ist beidemal etwa die gleiche. Aber die Übereinstimmungen reichen weiter. Wie bereits bei Kalypso zunächst das Innere der Höhle, dann ihre Umgebung ins Auge gefaßt wurde, so schließt auch hier die Schilderung des Gartens an die Darstellung des Palastinneren (88—111) an. In beiden Fällen ist die Darstellung insofern „objektiv", als sie nicht aus der Perspektive des sich nähernden Betrachters erfolgt. Nicht, was der Betrachter von seinem Standpunkt oder Weg aus sieht, sondern was der allwissende Dichter weiß, macht zum großen Teil den Inhalt der Verse aus107. Sodann zeigt der ganze äußere Komplex des Phaiakenpalastes als Kompositionsprinzip die von der Kalypsoinsel bekannte Dreigliederung, die durch das jeweils einleitende ενθα noch deutlicher 107

Zur Frage der Erzählperspektive H E L L W I G 34f Anm. 15. — Der häufig gegen die Echtheit des zweiten Teils der Palastschilderung (ab 102) vorgebrachte Einwand, Odysseus könne von seinem Standort aus die geschilderten Bereiche gar nicht einsehen, ist mehrere Grade zu naturalistisch gedacht. Um die Darstellung des Eumaioshofes ξ 5ff und erst recht der Ziegeninsel 1116ff, auf der man bei Nacht landet, wäre es nach diesem Kriterium schlecht bestellt, worauf F. M Ü L L E R 141 f hinweist; im übrigen ist die Verselbständigung von Beschreibungen ein Kennzeichen der Odyssee. Die beiden anderen Schwierigkeiten, an denen die Homerkritik Anstoß genommen hat, wiegen ebenso leicht. F ü r den Tempuswechsel (nach durchgängigem Präsens in V. 131 plötzlich 08ρεύουτο; dazu L. F R I E D L Ä N D E R , Philol. 6, 1851, 669—681) bringt M Ü L L E R 139 zwei weit auffälligere Parallelen, ζ 85 ff und (nach F R I E D L Ä N D E R S Vorgang) E 724ff, wo ähnlich wie η 131 mit einem Imperfekt von der Beschreibung zur Erzählung zurückgeleitet wird (zur Rückleitung dient auch der von F O C K E 118 erwähnte Kunstgriff, die eine der beiden Quellen unter der Hofschwelle zum Palast fließen zu lassen, also, nach V. 83, zum Standpunkt des Odysseus). Die merkwürdige Beziehungslosigkeit des Pronomens oí schließlich (103/122) findet in der Verselbständigung der Beschreibung ihre Erklärung (dazu M Ü L L E R 140). Natürlich ist Alkinoos und nicht Odysseus damit gemeint, aber das braucht nicht zu bedeuten, daß Odysseus als Bezugsperson der Beschreibung völlig vergessen sei, ganz abgesehen davon, daß die Darstellung des Ortes aus der Perspektive des Ankommenden keineswegs die einzige Möglichkeit ist, die die Odyssee kennt. — Auch V O N D E R M Ü H L L , Odyssee 715 hält die Verse f ü r eine Eindichtung, läßt aber in ihrer Beurteilung eine gewisse Unsicherheit durchblicken. Einerseits spricht er von einer „recht unüberlegten" Aufzählung von Obstbäumen — immerhin sind es die gleichen, die λ 589 f ihre Früchte sich auf Tantalos herabneigen lassen —, andrerseits hält er die „nicht mit Unrecht berühmten reichen Verse" offenbar für zu gut, als daß er sie seinem Dichter Β zuschreiben möchte; für ihn sind sie eine wenig sorgfältige Adaptation einer älteren Schilderung eines Märchenpalastes.

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Epos

hervortritt: Baumgarten (114—121), Weingarten (122—126) und Gemüsegarten mit den beiden Quellen (127—131). Der größeren Länge der Partie angemessen, ist ein einleitendes Verspaar allgemeinen Charakters vorangestellt, das den Garten zunächst als Ganzes vorführt; im letzten Vers folgt eine abschließende Zusammenfassung: der Garten als θεών άγλαά δώρα (132). Diesen formalen Parallelen entsprechen solche des Inhalts. Die Bäume machen hier wie dort den Anfang. Wieder sind sie „kräftig sprossend" (τηλεθόωσα ε 63 ~ τηλεθόωυτα η 114, beide Male am Versschluß), und wieder werden nach einem allgemeinen Vers in dem folgenden drei einzelne Gattungen genannt (die dritte jeweils mit einem Epitheton); nur vervollständigt diesmal ein dritter Vers die Aufzählung. Und wieder ist die am stärksten hervortretende Eigenschaft der Natur ihr fruchtbares Wachstum, das fast jede Einzelheit der Darstellung veranschaulicht. Und doch gelten für beide Welten verschiedene Gesetze. Nicht nur, daß die Bäume bei Kalypso völlig zweckfrei sprießen, die Quellen nach Belieben hierhin und dorthin fließen, während die Bäume des Alkinoos Frucht tragen, im Garten, wenn auch unauffällig, gearbeitet, an den Quellen Wasser geholt wird. Das betrifft den Inhalt und läßt sich aus dem Zweck des Gartens ohne weiteres erklären — nur Götter kommen ohne einen solchen Zweck aus. Was den eigentlichen Unterschied ausmacht, ist die Tatsache, daß es im Alkinoosgarten ein Wachsen gibt mit seinen verschiedenen Stadien: das Hervorsprießen, das Reifen (ττέσσειν, γηράσκει ν), das Abfallen der Blüten (άνθος άφιέναι) und das Sich-dunkel-Färben der Frucht (ίπτοττερκάζειν). Kalypsos Landschaft ist überzeitlich, sie kennt kein Werden und Vergehen (auch das dreimalige θάλλειν bezeichnet eine Qualität des Seins, nicht ein bestimmtes Stadium). Der Garten des Alkinoos dagegen ist dem Gesetz der Zeit nicht enthoben, auch wenn er dem gewöhnlichen Kreislauf der Natur nicht untersteht: die Frucht ist έττετήσιος (118), die Beete prangen έττηετσυόυ (128). Am deutlichsten läßt sich der Unterschied vielleicht mit den beiden Seinsformen wiedergeben, die Piaton in der Diotimarede des Symposion voneinander abhebt: das absolute, göttliche Sein (τό τταντάττασι τό αύτό άεί είναι 208a), das den Göttern vorbehalten und zugleich die Seinsart des Urschönen ist, und die spezifisch menschliche Form einer μέθεξις αθανασίας, das Immer-wieder-Sein durch die Ersetzung des ,,Altgewordenen" durch ein Jüngeres derselben Art (208b). Wirkt nicht das „Birne auf Birne, Apfel auf Apfel, Feige auf Feige" wie der bildliche Ausdruck dieses Gesetzes108 ? Demnach könnte man den Alkinoosgarten als ein Reich bezeichnen, in dem die dem 108

Vgl. auch η 117f.

Odyssee

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Menschen mögliche höchste Seinsform erreicht ist, während die Landschaft der Kalypsoinsel schlechthin göttliches Sein repräsentiert. Dieser Unterschied gilt ja nicht nur für die Landschaft, sondern auch für ihre Bewohner. Im Gegensatz zu Kalypso sind die Phaiaken keine Götter, aber auch keine gewöhnlichen Menschen. Sie siedeln zwischen „Märchenwunderwelt und gegenwärtiger gesteigerter Geschichtlichkeit", ,,auf der Grenze, wo die Welt der Ferne mit der Welt der Heimat sich begegnet" 109 . Auf die Dimension der Zeit übertragen heißt das: Die Phaiaken stehen zwischen der zeitlichen Welt des Epos und der überzeitlichen des Märchens. Man hat neuerdings die schwache Raumvorstellung in der Schilderung des Alkinoosgartens getadelt: das Fehlen präziser Ortsangaben und das Vielerlei von Dingen, das sich kaum zur Einheit füge110. In der Tat bekommt der Hörer von dem „Raum", in dem etwa Kalypso lebt, eine plastischere Vorstellung, weil die Landschaftsmotive bei allem Reichtum eine strenge Ökonomie erkennen lassen und zudem um ein Zentrum, die Höhle, gruppiert sind. Dieser Unterschied braucht aber nicht, wie SAUTER es in Anlehnung an SCHADEWALDT versucht, auf zwei verschiedene Dichter zurückgeführt zu werden, denn der Vorwurf SAUTERS trifft ja eigentlich auf alle Iliaslandschaften und auch auf einen großen Teil der Odysseelandschaften zu. Das die Darstellung des Gartens beherrschende additive Kompositionsschema findet sich auch etwa in der Darstellung der Ziegeninsel (anaphorisches εν μεν — εν δέ 1132/4/6, s. u. 141ff) und, noch schärfer ausgeprägt, in der Schildbeschreibung, also in zwei „unverdächtigen" Stücken homerischer Dichtung. Im übrigen ist der Vorwurf der Raumlosigkeit auf die Teile des Gartens zu beschränken, denn der Garten als Ganzes ist durchaus räumlich konkretisiert. Er liegt „außerhalb des Hofes nahe beim Eingang" (112), um ihn herum läuft ein Zaun (113, vgl. Σ 564), die eine Quelle fließt „durch den ganzen Garten", die andere „unter der Hofschwelle zum hohen Palast" (130f). Eine topographisch exakte Vorstellung des Ortes freilich wird man hier noch weniger als anderswo in der Odyssee erwarten dürfen. Der Garten ist keine Phantasielandschaft, aber auch keine präzis wiedergegebene Realität. In seiner Zwischenstellung zwischen beiden Polen ist er das räumliche Pendant zum Dasein der Phaiaken zwischen märchenhafter Unwirklichkeit und geschichtlicher Realität. Wenn auch nicht den „Märchenlandschaften" zuzurechnen, sei aus inhaltlichen Gründen der G a r t e n des L a e r t e s an dieser Stelle ein109

REINHARDT, Abenteuer 112 f.

110

SAUTER 134f, besonders scharf 135: „Auch die Gemüsebeete entbehren eines festen Haltes im Raum, kann man sich doch nicht vorstellen, in welcher Richtung sich das Rebengelände erstreckte."

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Epos

geschoben. Er scheint den Alkinoosgarten vorauszusetzen, aber beide Darstellungen unterscheiden sich in wichtigen Punkten. Beim Garten des Laertes begnügt sich der Dichter mit einigen Hinweisen. Odysseus nähert sich dem „früchtereichen Garten" (άλωή ω 221), dann betritt er den „großen Obstgarten" (όρχατος 222) und findet den Vater „in dem wohlbebauten Garten" (άλωή)111, wie er um einen Setzling die Erde auflockert (226f). Noch unschlüssig, wie er sich verhalten soll, stellt er sich unter einen „hochgewachsenen Birnbaum" (234) und leitet dann, als er sich zur πείρα entschlossen hat, seine Rede mit einem Lob des gutgepflegten Gartens und einem ausführlichen Katalog der verschiedensten Gewächse ein (246f). Setzling, Feige, Rebe, Olive, Birne und Gemüsebeet werden aufgezählt, also im wesentlichen die aus dem Garten des Alkinoos bekannten Bäume und Pflanzen. Was dort jedoch Teil eines kleinen Kosmos war und einer strengen Ordnung unterstand, wird hier zu einem zufälligen Durcheinander, denn die Aufzählung läßt keinerlei Ordnung erkennen, das erste und das letzte Glied gehören logisch einer anderen Kategorie an als die mittleren. Daß aufgezählt wird, bedingt natürlich die Situation, denn unmöglich hätte Odysseus eine epische Schilderung im Stile des Alkinoosgartens geben können. Daß jedoch so ausschließlich und so im Übermaß aufgezählt wird, ist auffällig. An die Stelle der gewöhnlichen Dreigliederung solcher Aufzählverse (etwa ε 64/66 oder η 115) ist eine Viergüederung getreten, die im folgenden Vers noch erweitert wird, ohne daß, etwa durch ein Epitheton, eine Rhythmisierung des Verses angestrebt wäre112. Sicher hat die Nennung der Pflanzen und Bäume ihren poetischen Sinn, denn bei der Wiedererkennung dienen sie neben der Narbe am Schenkel als die wichtigsten Beweisstücke (340 ff) ; mit einer Charakterisierung der Szene als eines bukolischen Idylls sollte man also vorsichtig sein (vgl. ERBSE 109). Aber formale Kriterien wie die mechanische Aufzählung der Pflanzen und die mehrfache Erwähnung des Gartens, die im Unterschied zu den Wiederholungen der Kirkelandschaft (s. o. 134f) nichts leistet, dazu die krasse Realistik in der Schilderung des greisen Laertes113 lassen an der Echtheit der Szene Zweifel aufkommen114. 111

112

113

111

άλωή und όρχατο; sind hier wie auch 224/226 und 245 ohne Bedeutungsunterschied gebraucht, während η 112 mit όρχατος der ganze Garten, η 122 mit άλωή nur der Weingarten gemeint ist. ω 247 tritt κήττο; noch als dritte Bezeichnung hinzu. Dieselbe Versstruktur auch o 406 in einer Partie, die dem Dichter Β zuzuschreiben ist (s. o. 107ff). Sie begnügt sich nicht mit der Gestalt, wie sie sich dem Auge darbietet, sondern fügt zu jeder Einzelheit der Kleidung auch den Zweck hinzu. Ein großer Teil der Forscher spricht das ganze ω (dazu den Schluß von ψ) der alten Odysseedichtung ab (VON DER MÜHLL und SCHADEWALDT schlagen es jeweils ihrem

Odyssee

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Eine Ausnahmestellung nimmt die Beschreibung der dem Kyklopenland vorgelagerten Ziegeninsel ein (i 116—141). Mehr noch als die Länge — es ist mit Abstand die ausführlichste Landschaftsbeschreibung der Odyssee — überrascht der Blickwinkel, unter dem Landschaft hier gesehen wird. Nicht so sehr das, was ist, als vielmehr das, was nicht ist, aber sein könnte, steht im Mittelpunkt der Darstellung und bestimmt ihren Aufbau. Die Verse 118—129 sprechen in erster Linie von dem, was es auf der Insel nicht gibt, nämlich Menschen, die das Vieh weiden, das Wild jagen, das Land bestellen oder mit ihren Schiffen Verbindung zu anderen Menschen aufnehmen könnten115, die Verse 130—141 von den Möglichkeiten, die die Insel dem Menschen böte116. Beide bei Abzug der beiden Einleitungsverse genau gleich großen Hälften sind ihrerseits wieder in zwei Partien unterteilt (7: 5 und 6 : 6 Verse), und zwar so, daß sich die Themenkreise jeweils entsprechen: Landwirtschaft (dazu Viehzucht und Jagd) im ersten und dritten Viertel, Seefahrt im zweiten und vierten. Die Teile eins und zwei sowie drei und vier sind also jeweils durch die Form der Darstellung (negativ — potential), die Teile eins und drei sowie zwei und vier durch denselben Themenkreis aufeinander bezogen117. REINHARDT hat von der Ziegeninsel gesagt, nirgends sonst werde „Landschaft in der Odyssee in solchem Maß um ihrer selbst willen

Dichter Β zu). — Zu den hier gemachten Beobachtungen vgl. besonders die Charakteristik der gesamten Laertesszene und ihres Dichters bei T H E I L E R , Ilias 146 f (keine Konzentration auf die seelische Situation, „einleuchtend lebensnah", Vorliebe für das Zweckmäßige, unruhiger Handlungsablauf durch Überladung mit Details) und PAGE, Odyssey 112 („it is all very lively and amusing and decadent", aber es fehlt der Bezug zur Handlung) ; anders W I L A M O W I T Z , Horn. Unters. 69 (ein „ganz junges Machwerk") und auch VON D E R M Ü H L L , Odyssee 766: ein gelungenes Stück von B, das den ländlichen Ton hübsch getroffen hat. — F . M Ü L L E R 116 ff sucht in heftiger Auseinandersetzung mit S A U T E R die Verse für die alte Odyssee zu retten. Aber auch wenn man ihm in manchem beipflichten möchte (vor allem in der Frage einer einheitlichen Ausrichtung der einzelnen Angaben auf Laertes als Bezugsperson), es bleiben die erheblichen Unterschiede im Stil der Darstellung. — Die letzte Würdigung der Szene bei E R B S E 97 ff, der wenigstens die Anagnorisis für den ursprünglichen Plan der Odyssee in Anspruch nehmen möchte. 115 118

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In den zwölf Versen zählt man allein acht Negationen. Vgl. κε (κεν) 130. 131. 133. 134. 138; die potentiale DarsteUungsweise ist bereits 126f vorbereitet. Daß die Beschreibung des Hafens im Realis steht, hängt natürlich damit zusammen, daß er für Odysseus tatsächlich als Hafen dient und mit der Handlung eng verbunden ist. Dazu kommt die außerordentlich sorgfältige Ringkomposition im ersten Teil: αίγες — πάτο; άνθρώπων — κν/νηγέται (dazu Hirte und Bauer) — άνδρων χηρεύει — αίγας, also a — b — - c — b — a, wobei das erste und letzte Glied die einzigen positiven sind und auch für die Handlung eine gewisse, wenn auch nur episodische Rolle spielen: Odysseus und seine Leute machen Jagd auf die Ziegen.

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Epos

gegeben"118. Aber es fragt sich, ob der Ziegeninsel trotz der besonderen Form ihrer Darstellung grundsätzlich nicht die gleiche poetische Funktion zukommt wie etwa der Kalypsohöhle oder dem Alkinoosgarten. Sicher ist die Beschreibung der Ziegeninsel „um ihrer selbst willen" gegeben, insofern sie vordergründig für die Handlung entbehrlich ist. Aber auch diesmal hat die Landschaft eine definitorische Funktion, weil sie das äußere Pendant zu ihren Bewohnern darstellt. Die vorangestellte Charakteristik der Kyklopen (106 ff) konzentriert sich auf zwei Punkte: auf die durch die „asoziale" Lebensweise bedingte Gesetzlosigkeit119 und die an das Märchen erinnernde Fruchtbarkeit des Landes, die jede Arbeit von Menschenhand entbehrlich macht. Beide Motive sind auch für die Darstellung der Ziegeninsel von maßgeblicher Bedeutung. Nicht nur kehren einige Einzelheiten wieder120, auch die Gesamtkomposition ist von diesen beiden Gesichtspunkten bestimmt. Im wirtschaftlichen Bereich liegen die Übereinstimmungen auf der Hand, im politischen nimmt vor allem der Abschnitt über die fehlenden νέες und υηώυ τέκτονες (125 ff) das Motiv der isolierten Lebensweise wieder auf, denn er hebt nicht so sehr die speziellen Möglichkeiten des Handels als vielmehr die allgemeinen Kommunikationsmöglichkeiten der Schiffahrt hervor121. Das Hausen in der Höhle ist hier, sehr im Gegensatz etwa zu Kalypso (ι 114 a = α 15 a), ein Stück indirekt vorgetragener Kritik. Wieder ist also, wie schon bei Kalypso und den Phaiaken, eine besondere, von der menschlichen deutlich unterschiedene Lebens- oder Seinsweise ins Bild umgesetzt, übernimmt die Landschaft die Aufgabe, ihre Bewohner vorzustellen, noch bevor diese handelnd vom Dichter eingeführt werden. Dasselbe wiederholt sich bei der Höhle des Kyklopen (i 182ff). In ihrer Verbindung von wilden (eingegrabene Felssteine, große Fichten, hochbelaubte Eichen 122 ) und pastoralen Abenteuer 63. Sie bezieht sich freilich nur auf die fehlenden Polisvorstellungen (vgl. 112), denn innerhalb der Familie gibt es durchaus eine Themis (114f). Vgl. dazu W. NESTLES Charakterisierung des Kyklopen Herrn. 77, 1942, 60: der Riese als Gegenbild der eigenen Welt des Dichters, als Umkehrung des ζώον πολιτικόν, als „apolitischer Barbar". 1 2 0 άσπαρτα καΐ άνήροτα 109 ~ 123, Wein und Getreide 110 ~ 133 f. 121 Vgl. besonders 128f, wo wieder (wie schon im vorhergehenden Abschnitt) der Trennungsstrich zwischen Kyklopen und Menschen (άνθρώπων 128 ~ 119, άνδρεζ 129 ~ 124) deutlich gezogen ist, diesmal im politischen Bereich : Was den Menschen definiert, ist nicht nur seine Arbeit, sein Beruf, sondern auch das Leben in der großen Gemeinschaft; vgl. auch die Betonung des oíos 188ff. 1 2 2 Die beiden Wendungen sind an sich nicht auffällig, ihre Kombination jedoch und die Stellung der steigernden Beiwörter an Anfang und Schluß des Verses verursachen den Eindruck des Gigantischen. 118

119

Odyssee

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Elementen (sich über die Höhle wölbender Lorbeer, Schafe und Ziegen, dazu später die Melkeimer) ist auch sie ein Spiegelbild ihres Bewohners : eines Barbaren mit Gefühl123. In funktionaler Hinsicht entpricht die Ziegeninsel also durchaus vergleichbaren Schilderungen. Was ihren besonderen Rang ausmacht, ist die Perspektive der Darstellung. Nicht der Dichter, der alles weiß, stellt objektiv fest, was es gibt, um dann, ebenso objektiv, den Eindruck auf die betrachtende Person zu konstatieren, sondern epische Feststellung der Landschaft und geistige Verarbeitung durch die epische Figur durchdringen sich gegenseitig. Zwar spricht Odysseus an dieser Stelle nicht im Ichstil, aber allein schon durch die zahlreichen Potentialen Wendungen kommt ein subjektives Moment in die Darstellung. Außerdem handeln die Verse ja vorwiegend von dem, was auf der Insel nicht vorhanden ist, geben also eher Gedankengänge des Erzählers als wirklich Wahrgenommenes wieder. Besonders deutlich ist diese gedankliche Verarbeitung der optischen Eindrücke in den Versen 132—135, also an der Zäsur vor der in herkömmlicher Manier gegebenen Hafenbeschreibung. In strengem Parallelismus, durch zweimaliges μάλα κ ' (κευ) an der gleichen Versstelle markiert, wandelt sich das fruchtbare Land zum Rebland, der Ackerboden zum Getreidefeld. Zwar werden, ganz im Stil der Schildbeschreibung oder des Alkinoosgartens, die landschaftlichen Details durch anaphorisches έν μεν — ευ δέ eingeführt (εν μέυ γάρ λειμώνες . . . εν δ' αροσις), aber die sachliche Aufzählung des Vorhandenen wird jeweils unterbrochen durch das in Gedanken bereits durchgeführte Experiment, was sich aus den üppigen Möglichkeiten alles machen ließe. Daß aus der ganzen Darstellung die ionische Entdeckerfreude des Kolonisten spricht, hat man längst gesehen124. Was bei Kalypso um seiner selbst willen oder um das Auge zu erfreuen da war, bekommt hier seinen Sinn erst durch den Nutzen, den es verspricht — nicht zuletzt darin unterscheidet sich die Welt der Götter von der der Menschen, λειμώνες μαλακοί gibt es dort wie hier (ι 132f ~ ε 72), aber das zusätzliche Beiwort ύδρηλοί läßt nicht an eine Blumenwiese wie bei Kalypso, sondern an eine Viehweide denken. Und das üppige 123

Vgl. auch A . P A R R Y 26f. 124 Vgl. etwa VON D E R M Ü H L L , Odyssee 720 und besonders R E I N H A R D T , Abenteuer 64: „Fast begeistert sich Odysseus, als ob er zum Siedler werden wollte." Man könnte sogar aus der Darstellung so etwas wie ein kulturpolitisches Programm herauslesen. Zumindest sind die wichtigsten Lebensformen genannt, im großen der Landarbeiter (im weitesten Sinn) und der Seefahrer, der ihm gleichberechtigt gegenübertritt und dessen menschenverbindende, Handel und Kultur schaffende Funktion sogar mit einem gewissen Pathos vorgetragen wird, im kleinen der Hirte, Jäger und Landmann.

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Epos

Wachstum, dort wie hier ein zentrales Motiv, erschöpft sich nicht in einem zweckfreien „Sprießen" (θάλλειν ε 63ff), sondern ist Voraussetzung für einen guten Nutzerfolg (άροσις λείη, βαθύ λήιου, πϊαρ οϋδας). Bäume und erst recht die Vögel sind unter diesem Blickwinkel natürlich entbehrlich. Sicher ist es nicht gerechtfertigt, aus den Versen den Schluß zu ziehen, den man häufig gezogen hat, daß nämlich der Grieche nur unter dem Nützlichkeitsaspekt seine Aufmerksamkeit der Landschaft zuwende ; der utilitaristische Grundzug in der Darstellung der Ziegeninsel ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wohl aber werden sich der begeisterte Ton und die Länge der Darstellung aus dieser ihrer speziellen Perspektive erklären lassen. Wegen des außerordentlich hohen Bewußtseinsgrades, mit dem hier — wenn auch unter einem sehr praktischen Aspekt — Landschaft erfahren wird, ist es wohl nicht zu gewagt, die Schilderung der Ziegeninsel das erste künstlerisch gestaltete Landschaftserlebnis in der griechischen Literatur zu nennen125. Der Überblick über die Märchenlandschaften wäre unvollständig ohne Sky 11 a und Charybdis. Wenn überhaupt irgendwo, könnte man hier eine phantastisch ausstaffierte Landschaft erwarten. Wieder aber ist man erstaunt, wie sehr sich das Märchenhafte in homerischen Bahnen bewegt. Der Fels der Skylla (μ 73ff in Kirkes Prophezeiung) unterscheidet sich grundsätzlich nicht von einem Felsen in einem Iliasgleichnis, der ebenfalls wegen seiner Steilheit und Höhe unzugänglich sein und mit der Spitze in die Wolken ragen kann. Nur sind in μ beide Vorstellungen wesentlich stärker als sonst herausgearbeitet, indem die Beschreibung über weite Strecken hin negativ in nicht enden wollender Aufzählung erfolgt12®. Der Eindruck des Ungeheuren entsteht dadurch, daß menschliche Gesetze und Möglichkeiten hier versagen; der für die Witterung so wichtige Wechsel der Jahreszeiten spielt keine Rolle (75f), und selbst mit zwanzig Händen und Füßen ließe sich nichts ausrichten (77ff). Die Dunkelheit nimmt an keiner 125

1M

Eine ähnliche Durchdringung der Landschaft durch den Betrachter läßt sich kurz darauf ein weiteres Mal beobachten. Die Höhle des Kyklopen — sie ist als Erlebnis (crnioç εΐδομεν ι 182), nicht in Form einer epischen Feststellung eingeführt — wird so geschildert, als sähe Odysseus alles, wovon die Rede ist: Lorbeer, Fichten und Eichen, ebenso Schafe und Ziegen. In Wahrheit aber sind die Tiere zur Zeit draußen auf der Weide, im Pferch pflegen sie nur die Nacht zuzubringen (ΐαύεσκον 184). Odysseus schließt also von dem, was er vor Augen hat, auf das, was sich in diesem Raum sehr wohl abspielen könnte; d. h., er ergänzt die Landschaft wieder durch seine eigenen Vorstellungen. — Ganz ähnlich auch ι 187, wo der flüchtige Leser annehmen muß, das Ungeheuer ruhe tatsächlich in der Höhle. Natürlich weiß der Odysseus, der von Polyphem erzählt, mehr als der, der zum ersten Mal die Höhle des Kyklopen sieht (dazu auch F. M Ü L L E R 109ff). In vier Versen (75—78) häufen sich sieben Negationen.

Odyssee

145

Stelle der Ilias und Odyssee so stark den Charakter des Bedrohlichen an. Zwar ist die νεφέλη κυανέη, die den Skyllafelsen einhüllt, nichts Ungewöhnliches, aber schon das ständige Ausgeschlossensein der αϊθρη läßt Schlimmes ahnen. Gesteigert kehrt das Motiv in den knappen Angaben zur Höhle wieder, die diesmal nicht in ihrer Form (μέγα, γλαφυρό ν), sondern in ihrer Atmosphäre erfaßt ist: σττέος ήεροειδές, προς ζόφου είς ερεβος τετραμμένον (80 f)127. Daß προς ζόφον hier im Unterschied zu den meisten anderen Belegstellen128 mehr als nur Richtungsangabe ist, beweist der Zusatz ets ερεβος, der an die Stelle des sonst oft genannten Gegenpols (ηώς oder ήλιος) getreten ist und nicht nur die Finsternis verstärkt, sondern zugleich die Höhle als Ort des Todes kennzeichnet. Dieser Darstellung des Skyllafelsen in Kirkes Vorhersage entspricht der epische Bericht. Er nimmt das Motiv der undurchdringlichen Finsternis wieder auf (μ 232f: ήεροειδής ist jetzt Beiwort der ττέτρη)129, und in den das Skyllaabenteuer abschließenden Versen spricht Odysseus vom „Jammervollsten", das seine Augen je gesehen haben (μ 258f). Kein phantasievolles Ausmalen im Detail, sondern Konzentrierung auf ein oder zwei beherrschende Vorstellungen und Steigerung durch Motivwiederholung oder -variation waren schon wiederholt wichtige Mittel der Landschaftsdarstellung in Ilias und Odyssee. Sie weisen auch den Skyllafelsen als „homerische" Landschaft aus130. Wesentlich knapper spricht Kirke von der Charybdis (μ 101 ff). Das einzige Detail, das sie mitteilt, ist der große Feigenbaum, der denn auch im Verlauf der Handlung seine Rolle bei der Rettung des Odys127

Zwar ist auch die Höhle der Phorkysbucht ήεροειδέ; (ν 103. 366), jedoch entscheidet über den Stimmungswert der Zusammenhang: dort numinoses Halbdunkel, hier unheilverkündende Finsternis, "β M 240. ι 26. ν 241. κ 190. 129 B O W R A (bei W A C E / S T U B B I N G S 3 2 ) vermutet darin eine Umbildung der Formel ήεροειδέα ττόντον. 180 Zur ganz unmythisch aufgefaßten Skylla gut V I V A N T E 110. — Wie die Charybdis, so ist auch die Skylla ohne exakte geographische Anschauung geschildert, worauf A . L E S K Y , Wien. Stud. 6 3 , 1948, 65f mit Recht hinweist (Z. T . gegen B O R N E M A N N zu μ 201). Trotzdem zeigt die Darstellung keine Unklarheiten, wie K R A N Z 104f meint. Daß die Lage nicht präzise bestimmt wird, läßt sich auch von den anderen örtlichkeiten der Odyssee sagen und ist an sich noch kein Indiz für ein sekundäres, im Osten spielendes „Pontos-Gedicht", das dann mit dem westlichen Schauplatz der ursprünglichen Odysseepartien verbunden worden wäre. — Zur Beziehung zu einem älteren Argonautenepos M E U L I 82 ff, speziell zu Skylla und Charybdis V O N DER MÜHLL, Odyssee 728 f: Beide Örtlichkeiten waren ursprünglich selbständig, wurden aber vom Odysseedichter zusammengekoppelt, da die alten SymplegadenPlankten des Argonautenepos, die ja seit Iasons Durchfahrt stillstanden, nicht mehr zu verwenden waren. 10

Eiliger, Darstellung

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Epos

seus zugewiesen bekommt (μ 432f, wieder ist „groß" das Beiwort). Dafür entfesselt der epische Bericht (μ 235ff) das Inferno der Charybdis um so eindrucksvoller (während die Skylla nach ihrer ausführlichen Vorstellung in der Kirkeprophezeiung als hinlänglich bekannt gilt und daher nur erwähnt wird). Aber selbst das Inferno vollzieht sich trotz Aufbietung aller akustischen Mittel nach strengen Gesetzen. Die insgesamt sieben Verse sind ein Musterbeispiel der qualitativen und quantitativen Klimax: am Anfang die einfache Nennung von Skylla und Charybdis, am Schluß das blasse Entsetzen, das die Mannen des Odysseus packt; dazwischen das Ausspeien und Einschlürfen des Wassers, wobei auffallende Parallelismen das Ungeheure nachdrücklich steigern131. Dem korrespondiert die Gliederung des Ganzen in zwei, drei und vier Verse für die verschiedenen Phasen des Vorgangs, wobei der Blick von der Höhe (ύψόσε . . . άκροισι σκοπέλοισιν) in die noch furchtbarere Tiefe gelenkt wird (εντοσθε . . . ύττένερθε). Auch die sparsamen Lokalangaben (im engeren Sinn) bezeichnen die verschiedenen Höhenlagen: die άκροι σκόπελοι die obere, die πέτρη die mittlere, die sandbedeckte γαία die untere Region. Im übrigen sind jedoch die stark lautmalenden Verben das hervorstechende Kennzeichen der Verse. Durch ihre fast regelmäßige Stellung im zweiten Daktylus sowie durch ihre ähnliche Lautung fallen sie besonders ins Ohr, wobei allerdings nur jeder zweite Vers mit einem durch seine Lautgestalt hervorstechenden Verb ausgezeichnet ist: άνερροίβδησε — άναμορμύρεσκε — άναβρόξειε — εβεβρύχειν (236/38/40/42). Für Beiwörter bleibt, wie es bei Homer in stark bewegten Schilderungen die Regel ist, kaum Platz (der Versschluß άλμυρόν ύδωρ ist formelhaft), während die wenigen statischen Elemente (Klippen, Fels) dazu dienen, die Bewegung sichtbar, die Geräusche hörbar zu machen. Auch die anderen Angaben, das auf die Totalität zielende zweimalige ττδσ' (dazu noch ττολλω 237) und das das χλωρού δέος schon vorbereitende, ebenfalls zweimal betont an den Versanfang gesetzte δεινόν ordnen sich der allgemeinen Tendenz ein. So erweist sich die Charybdis durch die Wahl der darstellerischen Mittel (verbale Dynamik) als wirkungsvolles Gegenstück zur Skylla. Nur ist das Element des Märchenhaften noch stärker zurückgetreten. Mag auch die Natur nirgends sonst in Ilias und Odyssee derart entfesselt in Erscheinung treten, die Einzelheiten der Schilderung sind zum großen Teil aus Iliasgleichnissen bekannt: das brodelnde Meer, 131

Im einzelnen : θαλάσσης άλμυρόν ύδωρ 236/240 j eweils als zweite Vershälfte, κυκωμένη 238/241 an der gleichen Versstelle, Seivóv 236/242 und π δ σ ' 238/241 jeweüs am Versanfang; dazu paralleler Satzbau: δτ' έξεμέσειε — δτ' άναβρόξειε 237/240 mit folgendem Hauptsatz.

Odyssee

147

der hochspritzende Gischt, der dröhnende Fels, in kompositorischer Hinsicht die vertikale Lenkung des Blickes. Eine Bemerkung der Scholien zu μ 103 verdient in diesem Zusammenhang Beachtung: der Dichter habe nicht einen ölbaum oder sonst einen Baum gewählt, sondern den Feigenbaum, da er an Steilabhängen zu wachsen pflege132. Bei aller Häufung des Furchtbaren in der Natur, das mit drastischen Mitteln dargestellt wird, sprengt der Dichter nirgends den Rahmen des Natürlichen.

Ilias und Odyssee

Im letzten Abschnitt des Odyssee-Kapitels soll von einigen Landschaften die Rede sein, die sich in den bisherigen Gruppen nicht unterbringen ließen. Sie mögen zugleich dazu dienen, ergänzend und zusammenfassend grundsätzliche Unterschiede zwischen Ilias- und Odysseelandschaften aufzuzeigen. Wir hatten bereits darauf hingewiesen (s. o. 103 f), daß das landschaftliche Mehr der Odyssee durch den unendlich viel weiteren Horizont ihres Geschehens bedingt ist. Ohne lokales Kolorit wären die Irrfahrten des Odysseus kaum zu erzählen gewesen. Also ergab sich für den Dichter die Notwendigkeit, auch den Raum dieser Irrfahrten vor Auge und Ohr des Publikums lebendig werden zu lassen. Das Ergebnis ist eine Vielzahl von individuellen Landschaftsschilderungen, die zwar mit typischen Einzelmotiven arbeiten, als Ganzes jedoch weder mit den formelhaften Darstellungen im epischen Bericht der Ilias noch mit den typisierten Landschaften der Gleichnisse etwas zu tun haben. Indes scheint mir die umfassendere Welthaltigkeit der Odyssee als Erklärung für die größere Zahl der Landschaftsdarstellungen nicht auszureichen. R E I N H A R D T hat davon gesprochen, daß erst die Icherzählung die Möglichkeit schaffe, „das landschaftliche Wunder aus dem mythischen ganz zu befreien"133. In der Tat findet sich der größte Teil der Odysseelandschaften in den Apologen, so daß ein Zusammenhang zwischen landschaftlichem Mehr und Icherzählung nahegelegt wird: Odysseus erzählt von den Landschaften, die er selbst „erfahren" hat134. Diese Verengung auf die Erlebnisperspektive wird 132 183 134

Zur Funktion des Feigenbaums WILAMOWITZ, Horn. Unters. 129 Anm. 8. Abenteuer 63; in überspitzter Form 65: „Ohne Ich-Erzählung keine Landschaft." Exemplarisch für diesen grundsätzlichen Unterschied ist die kleine Episode, die Odysseus ζ 162 ff erzählt. Staunend vor Nausikaa stehend, vergleicht er sie mit einer jungen Palme, die er einst auf Delos sah. Das heißt, genau genommen „vergleicht" 10*

148

Epos

zwar teilweise dadurch wieder ausgeglichen, daß Odysseus dem Typ des allwissenden Erzählers angenähert ist 135 , aber es bleibt bei einer zweiten „Direktheitsstufe" (SUERBAUM 173), die durch die Icherzählung und die dadurch notwendig gegebene Festlegung auf eine bestimmte Perspektive ermöglicht wird136. Damit fungiert Landschaft erstmalig als Objekt bewußter Wahrnehmung, und dementsprechend ist auch die Ausdrucksskala für das Wahrnehmen von Natur und Landschaft größer geworden137. Zwar gibt es nach wie vor auch in der Odyssee keine Landschaft um ihrer selbst willen. Wie wir gesehen haben, lassen fast alle Landschaftsdarstellungen einen poetischen Zweck mehr oder weniger deutlich erkennen, sei es, daß sie für die Handlung wichtige Voraussetzungen schaffen (Fallenfunktion des Laistrygonenhafens), sei es, daß sie den Raum bestimmter Figuren der Erzählung in strenger Zuordnung zu ihnen abgrenzen und mit Atmosphäre füllen (Kalypsohöhle, Alkinoosgarten). Dieses Übersich-Hinausweisen der Odysseelandschaften ist etwas anderes als der zeichenhafte Charakter der Landschaften in den Iliasgleichnissen. Diese Landschaften haben innerhalb der Erzählung einen geringen Stellenwert, denn sie sind, wie es im Wesen des Gleichnisses liegt, „uneigentlicher" und damit sekundärer Ausdruck für etwas Primäres, „Eigentliches". Demgegenüber behaupten die erwähnten Landschaften der Odyssee ein weit höheres Maß an Selbständigkeit.

er nicht, er stellt nur das damalige Erlebnis neben das jetzige. In die Sprache der Ilias übersetzt hieße das etwa: „Nausikaa war wie eine junge Palme. Voll Staunen sah sie Odysseus." Die Beziehung zwischen Mädchen und Palme, ontisch bereits vorgegeben, wird sachlich festgestellt (nicht erst hergestellt). In der Odyssee dagegen ist diese seinsmäßige Beziehung nicht vorhanden, Odysseus stellt sie selbst erst her, indem er ein Erlebnis mit dem anderen verknüpft. Dadurch spielt der Vergleich in die Sphäre des Subjektiven hinüber. Man wird einwenden, daß die fragliche Stelle kaum anders hätte lauten können, da Odysseus selbst erzähle und damit der Erlebnischarakter von selbst gegeben sei. Aber auch dann wäre etwa die folgende Fassung denkbar: „Nausikaa, du bist wie eine junge Palme. Voll Staunen sehe ich dich an." Statt dessen teilt Odysseus nähere Begleitumstände mit, die zur Sache nichts beitragen, und flicht auch einen Hinweis auf die κακά κήδεα ein. Alles ist sein persönliches Erleben. iss vgl. W. SUERBAUM, Die Ich-Erzählungen des Odysseus, Poetica 2, 1968, 150—177: „Die Gestalt des Erzählers Odysseus ist ein Bild des Odyssee-Dichters" (168). 138 Mit Recht weist SUERBAUM darauf hin, daß durch die Verteilung der beiden „Stoffe" der Odyssee auf zwei Erzählebenen und die Zuweisung der Märchenwelt an die IchErzählung deren Glaubwürdigkeit gesteigert wird (während der Dichter selbst dadurch möglicherweise seine Distanzierung vom erzählten Stoff bekunden wollte). 137 YGJ T R E U j Lyrik 84ff. Hinzuweisen wäre vor allem auf θεδσθαι ε 74ff und η 133f, vgl. auch ζ 166/168; zwar begegnet in der Ilias die Wendung θαύμα Ιδέσθαι, aber sie bezieht sich stets auf einen künstlich gefertigten Gegenstand (E 725. Σ 377, vgl. auch Σ 549).

Odyssee

149

Und das gilt nun nicht nur von den Apologen, sondern ebenso von der epischen Erzählung im traditionellen Sinn, also auch dann, wenn nicht durch die Figur des Betrachters (Odysseus, Hermes) ein subjektives Moment in die Darstellung einfließt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Brunnen, der am Wege von Eumaios' Hof zur Stadt liegt (p 204ff). Ein Grund, weshalb der Dichter in acht Versen von ihm, seinen Erbauern, dem Pappelhain und dem Nymphenaltar, den wasserholenden Bürgern und den opfernden Wanderern erzählt, ist schlechterdings nicht auszumachen. Zwar entspricht es altepischer Technik, einen Treffpunkt durch eine landschaftliche Abbreviatur zu markieren. Auch ist die Begegnung mit Melantheus insofern bedeutsam, als Odysseus zum ersten Mal Bekanntschaft mit den Freiern macht, zwar noch mittelbar durch einen untergeordneten Diener, aber doch gleich mit aller Drastik, die auf die Gesinnung der Herren schließen läßt. Eine gewisse Relation zwischen Bedeutung der Szene und Ausführlichkeit der szenischen Angaben ist also durchaus vorhanden138. Jedoch : Die Szene bleibt Episode, das auffallend reiche Detail läßt sich von hierher nicht erklären139. Lehrreich ist ein Vergleich mit den Skamandrosquellen X 147 ff (s. o. 58f). Die Darstellung ist auf die beiden Quellen konzentriert, die wegen ihrer außergewöhnlichen Natur offenbar nur mit Hilfe pathetischer Vergleiche adäquat dargestellt werden können ; zudem bekommt sie ihren letzten Sinn erst vor dem Hintergrund des Krieges und des bedrohten Troias. Im Gegensatz zu dieser „heroischen" Darstellung erwähnt die Odyssee neben der Quelle, die zwar ebenfalls καλλίρροος genannt, im übrigen aber nur durch ein einfaches ψυχρός näher bestimmt wird, noch Hain und Altar, also jene von der Phorkysbucht her bekannten Elemente. Zusammen ergeben sie eine Szenerie, die als noch nicht säkularisierter Typ des locus amoenus gelten darf. Ferner sind die waschenden Frauen durch wasserholende140 Bürger ersetzt, und statt der Zeitlosigkeit der Skamandrosquellen wird in den Namen dreier berühmter Ahnherren — einer hat Ithaka, ein anderer dem Gebirge auf der Insel den Namen gegeben — die geschichtliche Dimension dieser Landschaft angedeutet. Man möchte diese Einzelzüge, so unscheinbar sie sind, in Zusammenhang bringen mit dem, was F. JACOB Γ die , .Durchpolitisierung' ' des Stoffes im 1,8

189

140

Auch Eumaios' Gebet an die Nymphen 240ff schafft eine Klammer zwischen Handlung und Szenerie, aber als Voraussetzung für das Gebet hätte es keiner acht Verse bedurft. Der Brunnen, an dem die Leute des Odysseus die Tochter des Laistrygonenkönigs treffen (κ 103ff), wäre ein weiteres Beispiel: Die Szenerie ist entbehrlich, trotzdem werden genaue Angaben über die Gegend gemacht. Zum Wasserholen dienen auch die Brunnen η 131f (η 131b = ρ 206b) und κ 105ff.

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Epos

jungen Epos genannt hat 141 und was man in allgemeiner Form als das biotische Element der Odyssee bezeichnen könnte. (Die aristotelische Unterscheidung zwischen „pathetischer" Ilias und „ethischer" Odyssee Poet. 1459 b zielt in dieselbe Richtung.) In diesen — man ist versucht zu sagen : bürgerlichen Rahmen würde ein starkes Aufgebot von Epitheta, die verdeutlichende Umschreibung mit Vergleichen oder die emphatische Wiederholung der Schönheit des Dargestellten, also gerade die charakteristischsten Gestaltungselemente der Skamandrosquellen, nicht hineinpassen142. Ein weiterer Unterschied ist durch die „Künstlichkeit" des IthakaBrunnens gegeben. Ausdrücklich wird die κρήνη τυκτή genannt, die Namen der Ithakesier, die die Quelle gefaßt haben (ποίησ'), sind eigens angeführt. Auch der Altar ist künstlich gefertigt (τέτυκτο), nicht etwa eine Naturanlage, und selbst der Pappelhain wirkt kunstvoll abgezirkelt (ττάντοσε κυκλοτερές). Die Darstellung der Skamandrosquellen weist kaum etwas Vergleichbares auf. Zwar sind die ττλυνοί λαΐνεοι sicher als künstlich angelegte Waschtröge vorzustellen, aber das Hauptgewicht liegt auf den beiden Quellen, und die sind, wie die Vergleiche mit Feuer, Schnee usw. zeigen, als Naturvorgang dargestellt. Diese vor allem in den Gleichnissen der Ilias zu beobachtende Annäherung von Landschaft und Naturvorgang gilt für die Odyssee nicht mehr. Ihre Landschaften sind in der Regel Gebilde mit einer klar erkennbaren festen Struktur. So wird in der Darstellung des Ithaka-Brunnens an erster Stelle vom Brunnen selbst als dem Zentrum des Bildes berichtet. Dann folgt die Ausleuchtung der Ränder. Um den Brunnen herum (άμφί) steht der Pappelhain, von oben her (ΰψόθεν) fließt aus einem Fels das Wasser, und darüber (εφύττερθε) befindet sich der Altar der Nymphen. Das heißt, es wird zwischen einer unteren und einer oberen Zone unterschieden, aber so, daß alle landschaftlichen Angaben auf den Brunnen als Bildmitte orientiert sind. Es ergibt sich also eine eher horizontale Komposition, im Unterschied zu anderen, nicht weniger fest gefügten Landschaften mit einer ausgesprochenen Tiefenwirkung, etwa der Phorkysbucht, oder mit einer planen Komposition wie dem Athenaheiligtum der Phaiaken (ζ 262ff), Kalypsohöhle und Alkinoosgarten. Immer jedoch stehen die angege141 142

VGL < J A Z U F . J A C O B Y , Die geistige Physiognomie der Odyssee, Ant. 9, 1933, 159 bis 194, besonders 167 ff, und W A L T E R N E S T L E , Herrn. 77, 1942, 136ff. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt der Vergleich zwischen X 153ff und ζ 86ff. Nur zwei Einzelheiten seien herausgegriffen. An beiden Stellen sind die πλυνοί erwähnt, aber statt „breit, schön und steinern" werden sie ζ 86 lediglich ΙττηετανοΙ genannt. Von der Wäsche heißt es ζ 87, sie sei „sehr schmutzig" — sicher „richtiger" als X 154, denn die zu waschende Wäsche sind kaum „glänzende Gewänder". Das Heroische ist herabgestimmt zum Liebenswürdig-Reizvollen.

Odyssee

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benen landschaftlichen Elemente in einer räumlichen Beziehung zueinander. Symptomatisch dafür sind die zahlreichen Präpositionen und Ortsadverbien dieser Darstellungen. Sie belassen den Gegenstand nicht in einem idealen Raum, sondern weisen ihm seinen Ort im Gesamt der Komposition zu. Selbstverständlich kommen auch die Landschaftsdarstellungen der Ilias nicht ohne lokale Bezeichnungen aus. Aber sie sind weniger zahlreich und fungieren meistens als Richtungsangaben: es wird nach dem Woher und Wohin gefragt. Das heißt, die landschaftlichen Elemente in der Ilias sind wesentlich durch ihre Funktion bestimmt, und erst durch sie treten sie miteinander in Verbindung. In den stärker räumlich ausgeführten Kompositionen der Odyssee dagegen wird die Lage der Teile im Bildaufbau mehr oder weniger deutlich angegeben, werden die Teile selbst in eine räumliche Beziehung zueinander gesetzt. In diesen Zusammenhang fügt sich eine andere Beobachtung. Als ein konstitutives Element der Landschaft darf der Weg (Pfad, Straße) gelten, in dessen Funktion es liegt, das Disparate zu verbinden; im Bild selbst dient er oft dazu, den Eindruck der Tiefe zu vermitteln. Natürlich ist auch in Ilias und Odyssee von solchen Wegen die Rede, aber doch, wie mir scheint, mit einem charakteristischen Unterschied. Der von Achilleus verfolgte Hektor läuft κατ' άμαξιτόν um die Stadt (X 146), Nestor schlägt vor, in die Mauer auch Tore einzubauen, damit durch sie eine ΐτπτηλασίη όδός sei (Η 340) ; in einem Gleichnis reitet ein Mann mit vier aneinandergekoppelten Pferden λαοφόρον καθ' όδόυ zur Stadt ( 0 682). Mit Ausnahme des letzten Beispiels ist weder angegeben, woher der Weg kommt noch wohin er führt, die Formulierungen lassen lediglich auf ein funktionales Verständnis des Weges als einer „Fahrstraße" oder eines „Gehweges" schließen, wobei das Element des Verbindenden wohl mit vorgestellt, aber nicht eigens ausgedrückt ist. Demgegenüber läßt die Odyssee einen anderen Sprachgebrauch erkennen. Odysseus und Eumaios gelangen zur Quelle στείχοντες όδόυ κάτα παιπαλόεσσαν in der Nähe der Stadt (p 204) ; Odysseus steigt vom Hafen empor τρηχεϊαν άταρττόν zum Gehöft des Eumaios (ξ I f ) ; die Leute des Odysseus gehen von den Schiffen λείηυ όδόν zur Stadt der Laistrygonen (κ 103). In allen drei Fällen verstärkt das Beiwort, das den Weg nicht funktional, sondern in seiner äußeren Beschaffenheit kennzeichnet, den Anschauungsgehalt, und durch die Angabe über das Woher und Wohin des Weges treten die übrigen Landschaftsangaben in ein Bezugsystem143.

143

Soll die Angabe des Weges zur Orientierung eines Ortsunkundigen dienen, genügt eine einfache Angabe (ζ 264f. 291).

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Epos

Nun kann nicht übersehen werden, daß auch die Ilias Vergleichbares bietet, etwa wenn die Maulesel Schiffsholz εξ δρεος κατά τταπταλόεσσαν άταρ-ττόν ziehen (Ρ 743) oder wenn die Wespen ihr Haus bauen όδω ÉTTI τταιπαλοέσση (M 168, vgl. auch Ν 335). Jedoch ist der Weg in den genannten Beispielen — es handelt sich um Gleichnisse144 — die einzige Lokalangabe; er hat also primär lokalisierende, nicht verbindende Funktion. Erst in der Odyssee leistet er etwas für den Bildaufbau : als Element, das der Darstellung Einheit und Tiefe verleiht. Zwei letzte Szenen, jeweils auf dem Hintergrund der Ilias gesehen, sollen das Odysseekapitel abschließen. S o n n e n a u f - und - u n t e r g a n g bezeichnen in der Ilias Anfang und Ende des Tages und damit eine Zäsur im epischen Geschehen. Die bekannten formelhaften Wendungen bedürfen keiner Variation, denn etwas Persönliches sollen sie nicht aussagen, zur Erfüllung ihrer sachlichen Funktion reichen sie völlig aus. Anders im Bericht von der Jagd mit den Söhnen des Autolykos, die Odysseus die Wunde überm Knie eintragen sollte (τ 431 ff). Nicht nur, daß der Hörer das Eindringen der Jäger ins Gebirge gleichsam miterlebt, von der Peripherie (ganz allgemein: öpos) durch die „windigen Schluchten" bis ins „Waldtal", dem eigentlichen Schauplatz des Geschehens. Auch die frühe Morgenstunde gehört dazu. Die Strahlen der eben aus dem Okeanos aufsteigenden Sonne treffen die Fluren. Die gleichen Verse stehen auch Η 421 f: eine unpersönliche Mitteilung zur Markierung eines neuen, mit dem anbrechenden Tag beginnenden Handlungsabschnittes. Atmosphärischen Wert hat der Sonnenaufgang nur in der Odysseeschilderung: als individueller Begleitumstand eines persönlichen Erlebnisses145. In der bekanntesten Jagderzählung der Ilias, der Geschichte vom Kalydonischen Eber (I 538ff in der Phoinixrede) konzentriert sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Gefährlichkeit des Untiers und die gewaltige Schar von Jägern, die zu seiner Erlegung erforderlich ist. Vom Sonnenaufgang oder einem ähnlichen Begleitumstand ist nicht die Rede, und auch die Gegend, in der die Jagd stattfindet, wird nicht mit einem einzigen Wort angedeutet (nur verwüstete Felder und ausgerissene Bäume sind erwähnt). Natürlich verfolgt die Erzählung des Phoinix ein anderes Ziel als die Geschichte von der Jagd mit den Autolykossöhnen : dort eine Paränese in Form eines mythologischen 114

115

Außerhalb der Gleichnisse gibt es einen „räumlichen Weg" in der Ilias nur im Weinberg der Schildbeschreibung (Σ 565) ; zu seiner künstlerischen Funktion sowie zur Sonderstellung der gesamten Weinbergszene s. o. 36 f. Daran ändert die mythische Auffassung der Sonne ebensowenig wie die durch das fehlende ούρανόν είσανιών (Η 4 2 3 , vgl. KIRCHHOFF Ζ. St.) sich ergebende leichte Unstimmigkeit.

Odyssee

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Exempels, hier eine sich selbständig machende Erzählung als Erklärung für Odysseus' Narbe. Aber das allein wird schwerlich ausreichen, die Unterschiede in der Darstellung befriedigend zu erklären. Ein Hinweis auf den neuen Erlebnisstil der Odyssee muß ergänzend hinzutreten. Dieser neue Stil macht sich nun auch bemerkbar in Versen, die nach ihrer heroischen Diktion ohne weiteres in der Ilias stehen könnten. Odysseus nähert sich schwimmend der P h a i a k e n k ü s t e . Nach altepischer Technik entwickelt sich ihre Darstellung aus der Handlung heraus. Zunächst hört Odysseus den Lärm der gegen das Festland brüllenden Wogen146, dann folgt ein optischer Eindruck: der alles verhüllende Meerschaum; den Schluß bildet die Feststellung, daß es keinerlei Buchten gibt, sondern weit und breit nur spitze Klippen (ε 405)147. Jedoch kann man sich fragen, ob der letzte Vers wirklich eine objektive Feststellung des wissenden Dichters ist. Unmittelbar vorher und nachher ist von Odysseus die Rede, so daß man die Verse unwillkürlich auf ihn bezieht: Eindrücke, die der mit den Wogen Kämpfende wahrnimmt. Aber wie dem auch sei, in dem durch die Hoffnungslosigkeit der Lage ausgelösten Selbstgespräch artikuliert Odysseus seine Wahrnehmungen, indem er ganz bewußt die Verhältnisse konstatiert 148 und seine Schlüsse daraus zieht : Da das Meer auch an der Küste noch tief ist (άγχιβαθής 413), bietet sich kaum eine Möglichkeit, an Land zu kommen. Ein derart bewußtes Aufnehmen der Natur durch den Menschen läßt die Ilias nirgends erkennen. Dabei fehlt es keineswegs an parallelen Situationen, auch der Flußkampf etwa zeigt den Menschen im Ringen mit dem Element (s. o. 71ff) 149 . Aber auch in den Partien des Flußkampfes, in denen der Skamandros nicht anthropomorph vorgestellt wird, besteht ein grundlegender Unterschied zur Darstellung der Odyssee. Wohl trifft Achilleus mit dem Speer die Uferböschung (Φ 171), zieht ihn wieder heraus (200), stürzt sich vom Ufer mitten in den Fluß (233f) und klammert sich an eine ,,schöngewachsene große" Ulme (242f). Aber die landschaftlichen Elemente sind als 146

Die ersten Verse sind ganz aufs Akustische abgestellt: δούττον . . . £όχθει . . . κϋμα . . . δεινόν έρευγόμενον (ε 401 ff). 147 Der Vers nimmt das einleitende Motiv von 401 wieder auf und verstärkt es durch triadische Ausdrucksweise. ιω wieder verbinden sich optische und akustische Eindrücke, nur daß die Akzente jetzt umgekehrt verteilt sind und die Akustik zurücktritt; einzelne Entsprechungen: βόχθει 402 ~ ρόθιον 412, πάγοι 405 ~ 411. 149 Motive und Vokabularium der Odysseeszene sind weitgehend aus den Meergleichnissen der Ilias bekannt (έρεύγεσθαι vom Meer Ρ 265, ττροβλής Β 396. Π 407). Ferner handelt es sich auch in ε um epischen Bericht, nicht um Icherzählung.

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Epos

natürliche Gegebenheiten einfach da, sie brauchen nicht eigens bemerkt zu werden, und schon gar nicht geben sie Anlaß zur Reflexion. In ε dagegen hat der Dichter auf jedes „schmückende" Beiwort verzichtet. όξύς und λισσός (411 f) weisen auf die Gefährlichkeit der Felsen und die Schwierigkeit, an Land zu steigen, haben also unmittelbaren Bezug auf Odysseus. Und auch im übrigen wird nur mitgeteilt, was Odysseus selbst wahrnimmt. Im Unterschied zum Flußkampf — Achilleus wird im Eifer des Gefechts kaum Muße gehabt haben, auf die Schönheit der Ulme zu achten — ist in ε die Landschaft mit Auge und Ohr der epischen Figur wahrgenommen. Schon öfters hat man die Odyssee als Vorläuferin der Lyrik verstanden. Im Seesturm des ε wird diese Nähe faßbar, denn hier kommt eine Sehweise zum Durchbruch, wie sie später für die Lyrik kennzeichnend sein wird. In einer neuen Art ergreift der Mensch geistig Besitz von der Landschaft, indem er sie mit Bewußtsein wahrnimmt und als sich zugeordnet erlebt. Damit ist die selbstverständliche Nähe von Natur und Mensch nicht mehr gegeben, beide rücken, wenn auch noch in engen Grenzen, auseinander und geben so den Raum frei, der für ein bewußtes Erleben der Natur Voraussetzung ist. F . M Ü L L E R hat in seinen Analysen der Kyklopenhöhle (111 ff) und der Kalypsogrotte (131 ff) gezeigt, wie im Unterschied zur Ilias die Gegenstände nicht mehr als selbständige Wesen mit eigener Vergangenheit im epischen Geschehen auf- und wieder abtreten, sondern als Objekt aus der Distanz ins Auge gefaßt werden und im Betrachter ihren Bezugspunkt haben (besonders deutlich 1218: εθηεύμεσθα έκαστα). Die Gegenstände leben nicht mehr wie selbstverständlich mit und neben dem Menschen, vielmehr wendet sich der Mensch in einem bewußten Akt ihnen zu. Der in diesem Zusammenhang mehrfach in der Odyssee verwendete Terminus ΘεδσΘαι ist dafür symptomatisch. Das Verb bekommt „seinen eigentlichen Inhalt durch die Gebärde des Sehens oder durch affektive Momente" 150 , bezeichnet also nicht ein zufälliges Wahrnehmen oder Affiziertwerden, sondern ein besonders intensives Hinschauen ( L I D D E L L - S C O T T : ,,to gaze at"). Daß auch die Landschaft zum Gegenstand eines solchen Schauens werden kann, ist für uns das eigentlich Neue in der Odyssee. Dabei ermöglicht die neugewonnene (durchaus auch im räumlichen Sinn zu verstehende) Distanz des Betrachters, die Landschaft als Einheit zu erfassen, also als Lands c h a f t " (s. o. 2) im strengen Sinn. Daher sind die Odysseelandschaften mehr als Skizzen oder Summen von Landschaftselementen 151 : 150

Snell, Entdeckung 20.

151 vgl. die Charakteristik der Landschaften in der Ilias bei M a r z u l l o 460: ,,è solo funzionale, appena segnato e quasi per simboli".

Odyssee

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in sich abgeschlossene und zumeist sorgfältig komponierte Landschaftsbilder. Daß die Landschaften der Odyssee gleichsam aus einem anderen Material als die der Ilias gefertigt sind, hat sich immer wieder gezeigt. Sie haben etwas Märchenhaftes, ohne unwirklich zu sein152, etwas Phantasievolles, ohne phantastisch zu sein, etwas Idyllisches, ohne daß der Idylliker aus ihnen spräche. Das Heroische ist auf ein bürgerliches Maß reduziert. Aber nicht weniger bedeutungsvoll sind die Unterschiede in der formalen Gestaltung. Nur noch ausnahmsweise zeigen die Odysseelandschaften die Mächte der Natur in Aktion. Nicht Kampf und Dramatik sind ihre wichtigsten Kriterien, sondern Ruhe und Ausgewogenheit. Das führt gelegentlich — ein denkbar scharfer Gegensatz zu den meisten bewegungs- und energiegeladenen Landschaften der Iliasgleichnisse — zu einer Häufung ausdrucksleerer Verben allgemeinen Charakters 153 oder sogar zur vollständigen Unterdrückung des Verbs154. Das statische Element ist stärker geworden, da die Odyssee Landschaft primär nicht mehr als Naturvorgang, sondern eben als Landschaft darstellt 155 . Zwar haben die spezifisch malerischen Valeurs kaum zugenommen, ist die Darstellung kaum farbiger geworden. Trotzdem ist der Bildcharakter stärker ausgeprägt wegen eines nun deutlich erkennbaren Kompositionsprinzips. Der dritte Hauptunterschied besteht in dem individuellen Charakter der meisten Odysseelandschaften. Auch wenn sie teilweise aus typischen Elementen zusammengefügt sind, hat jede doch ihre unverwechselbare Eigenart, die einen Austausch verbietet. Sowenig Kirke und Kalypso geistige Schwestern sind, sowenig sind es ihre Landschaften; Alkinoosgarten und Ziegeninsel repräsentieren zwei Nutzlandschaften, der eine die fertige Anlage, die andere den geistigen Entwurf, motivisch aber ergeben sich keinerlei Berührungspunkte; der Hof des Eumaios, Kyklopenbehausung und Hof des Laertes : drei Fassungen desselben Themas, aber unter verschiedenen Aspekten; schließlich Ithaka, durch Neritongebirge und Phorkysbucht vor ande-

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Dazu REINHARDT, Abenteuer 62: Die Landschaft der Odyssee „reiht sich in die gleiche Reihe wie das Märchenwunder", freilich ohne „des Gesteigerten und Magischen" noch zu bedürfen. 153 Ζ. Β. εασιν — είσίν •— εστί (ν 105ff), ή ν — τέτυκτο (ρ 208ff), έστιν — τέτυκται — γίγνετοπ — εχει — ?στι — παρέασιν (ν 242ff). 154 Beispiele: ν 97f. 102f. η 129. ζ 262ff. 292. ι 21f. 155 \ y a s FRANKEL vom Menschen der Ilias gesagt hat, er sei mehr in seinem Wirken als in seinem Sein erfaßt (Dichtung 86), gilt auch von der Landschaft der Ilias, dagegen nicht von den Odysseelandschaften.

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Epos

ren Inseln des Mittelmeeres ausgezeichnet166. Den geographischen Gegebenheiten der Ilias fehlt in der Regel alles Individuelle, Unverkennbare. Skamandros und Simoeis sind im Grunde austauschbar, an welche Küste die Woge prallt, in welchem Gebirge der Baum gefällt wird, ist irrelevant. Erst im jüngeren Epos scheint der Sinn für das Einmalige erwacht zu sein. Wie seine epischen Figuren, so zeichnet es auch seine Landschaften als Individuen, nicht als Typen. Die aufgezeigten Unterschiede wird man nicht ausschließlich auf Unterschiede des Stils und der Erzählhaltung zurückführen können. Gewiß stammt das Landschaftsmaterial der Ilias zum großen Teil aus den Gleichnissen, deren strenge Funktionalisierung wohl Naturschilderungen, nicht aber durchkomponierte Landschaftsbilder zuläßt; das unterschiedliche poetische Material zwang zu einer unterschiedlichen stilistischen Ausführung. Und in der Landschaftsdarstellung außerhalb der Gleichnisse zeigt die Ilias eine andere Erzählhaltung als die Odyssee, insofern der Geschehensraum im Verlauf der Ereignisse sukzessiv und nur punktuell ausgeleuchtet, nicht wie in der Odyssee selbst zum Gegenstand der Erzählung erhoben wird157. Aber das ist für eine Erklärung der tiefgreifenden Unterschiede immer noch zu wenig. Eine anthropologische Erklärung, wie sie bei der Analyse mehrfach versucht wurde, muß ergänzend hinzutreten. Vielleicht sollte man noch nicht von einer „reflektierten" oder „reflektierenden" Naturanschauung sprechen, wie TREU158 es tut, weil die Grenzen fließend sind und auch die Odyssee durchaus noch „objektive" Landschaftsdarstellungen im Sinne der Ilias kennt. Daß sich jedoch im jüngeren Epos eine neue Art, Landschaft zu sehen und dichterisch zu bewältigen, ankündigt, kann nicht übersehen werden. 156

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Auch der Ithaka-Brunnen ist unmöglich mit vergleichbaren Darstellungen zu verwechseln. Auch wenn der Brunnen im Land der Laistrygonen (κ 103ff), die Quelle im Athenaheiligtum der Phaiaken (ζ 291f), das Nymphenheiligtum in der Phorkysbucht (v 107 ff) die wichtigsten Landschaftselemente (Quelle, Hain oder Baum, Weg) gemeinsam aufweisen, haben sie doch jeweils ihr eigenes Gesicht, sei es auch nur durch ein individuelles Einzelmotiv wie die Wiese in ζ, den Fahrweg aus den Bergen in κ, die Nymphenhöhle in v, den Wanderer in p. HELLWIG 31 ff nennt die beiden Arten szenischer Raumschilderung in der Ilias und Odyssee „indirekte Schilderung" (Vorherrschen der Aktion) und „direkte Ortsbeschreibung" (vorwiegend Zuständlichkeit) ; vgl. auch die Zusammenfassung 1 3 6 ff. Lyrik 86.

LYRIK

Als Mittler zwischen Epos und Lyrik betrachtet man gerne Hesiod und, wenigstens zum Teil, auch die Homerischen Hymnen. In der Tat bedeutet H e s i o d eine auf die Lyrik vorausweisende Erweiterung des epischen Sprachschatzes, und manche Stelle bei Sappho und Alkaios läßt eher an eine Hesiod- als an eine Homerimitation denken1. Hinsichtlich unserer Fragestellung jedoch bietet sich ein etwas anderes Bild. Im allgemeinen verhindern Thema und Eigenart der Werke Hesiods das stärkere Hervortreten der Landschaft. Meistens begnügt sich der Dichter mit einfachen Lokalangaben, oft sogar mit der Nennung des Namens; selbst ein so wichtiger Ort wie der Helikon wird nur als Sitz der Musen, nicht als Landschaft realisiert. Das häufigste Epitheton bei derartigen Angaben ist bezeichnenderweise ζ άθεος (Theog. 6. 23. 483), also ein Begriff ohne genuin landschaftliche Qualität. Trotz dieser Einschränkungen ist es jedoch angebracht, auch im Rahmen dieser Arbeit kurz auf Hesiod einzugehen. Denn wenn auch fast alle bei ihm vorkommenden Wendungen für landschaftliche Elemente aus Ilias und Odyssee bekannte Formeln sind2, lassen sich doch bisweilen charakteristische Unterschiede feststellen. Daß in den zu kleinen Naturbildern 3 ausgestalteten Angaben der Jahreszeiten in den Erga die Natur stärker als in den homerischen Epen beobachtet und nach Nutzen und Schaden für den Menschen befragt wird, ist natürlich themabedingt. Trotzdem lassen gewisse Einzelheiten aufhorchen. Wenn Hesiod als Zeichen für den beginnenden Frühling an die ,,ins Licht" fliegende Schwalbe erinnert, ist der Hinweis auf die Menschen (es φάος άνθρώττοις Erg. 569) an sich entbehrlich. Aber Hesiod kam es offenbar nicht auf den objektiv feststellbaren Wechsel der Jahreszeit an, sondern auf dessen Bedeutung für den Menschen. 1

Vgl. TREU, Lyrik 2 4 4 ff.

2

Vgl. den Überblick bei F . K R A F F T , Vergleichende Untersuchungen zu Homer und Hesiod, Hypomnemata 6, Göttingen 1963, 163 ff. Der die Zeit zum Pflügen und den Winter ankündigende Schrei des Kranichs aus den Wolken (448 ff) ; der Ruf des Kuckucks in den Zweigen der Eiche (486 f) ; der Schwalbenflug beim nahenden Frühling (568 f) ; blühende Distel und singende Zikade zur Sommerzeit (582ff); Erquickung am schattigen Quell (593ff, s. u. 173ff).

3

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Lyrik

Noch auffälliger ist diese Einbeziehung des Menschen bei der Schilderung der Winde und Stürme in der Theogonie : θυητοϊς μέγ ' όνειαρ heißt es 871 von den Winden, πήμα μέγα θυητοΐσι 874 von den Stürmen (vgl. ferner 876. 877. 879). Immer wieder läßt sich bei Hesiod beobachten, wie der Ausschnitt dessen, was an Natur und Landschaft ins Bild tritt, auf den Menschen hin orientiert ist4. In diesem Zusammenhang verdient auch die Verbindung εργ' ερατά aus der Sturmschilderung (Theog. 873ff) Beachtung (879). Die homerischen Beiwörter von εργα bezeichnen entweder die Menge (πολλά . . . εργα E 92) oder die Fruchtbarkeit (πίονα εργα M 283), während es für die Verbindung von ερατός mit einem Landschaftsbegriff vor Hesiod keinen Beleg gibt5. Auch andere Wörter dieses Bedeutungsfeldes verwendet Hesiod entweder zum ersten Mal (έφίμερος Theog. 132) oder in einem weiteren Sinn als Homer. So erscheint ζ. Β. χαρίεις Theog. 129 in Verbindung mit einem Landschaftsbegriff (εναύλοι), wofür Homer keine Parallele bietet. Zu Recht konstatiert T R E U für Hesiod eine Zunahme an Ausdrücken „für ein subjektives Wohlgefallen des Menschen an der Natur"®. Eine ähnliche Tendenz zeigt auch das Eingangsbild des Demet e r h y m n u s : die blumenpflückende Kore. Die Parallele zu 2 347 ff liegt auf der Hand. Dort wie hier gehorcht Gaia dem Wink einer höheren Gottheit, die ihren Trug spinnt, hat also das „Blumenstück" eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Und beide Male gehören Krokus und Hyazinthe zum Katalog. Aber im Hymnus entfaltet sich die Blütenpracht weit üppiger. Die Blumen, durch das eingeschobene λειμων' άμ μαλακόν (7) in zwei Triaden geteilt, erfreuen mehr noch als durch ihr Aussehen durch ihren Duft: es sind ausnahmslos stark duftende Blumen genannt (vgl. auch 13: κώζ' ήδιστ' όδμή). Der Duft aber ist trotz ε 59ff kein Thema epischer Darstellungen7. So ist 5 349 auch nicht der Duft, sondern das πυκνού καΐ μαλακόν als besonderer Vorzug der Blumenwiese genannt. 4

In der Boreasdarstellung Erg. 504ff sind ähnliche Tendenzen spürbar, nur fungieren hier statt der Menschen die Tiere als letzter Beziehungspunkt. 6 Das homerische ίρατεινό; steht allgemein von Städten und Ländern, Φ 218 auch ΙρατΕΐνά jbéeôpa. « Lyrik 245. ' I m bewußten Einsetzen der Farbe dagegen geht der Demeterhymnus über das bei Homer Gewohnte nicht wesentlich hinaus, wie TREU, Lyrik 249 meint. Wohl weist der Hymnus auffallend viele Farbwörter auf, aber sie bezeichnen meist nur den Glanz, nicht eine bestimmte Farbe, oft auch das Material. F ü r den ganzen Hymnus charakteristisch ist der thematisch bedeutsame Gegensatz von Hell und Dunkel (Leben und Tod) : χρυσάωρ, άγλαόκαρποί und άγλαόδωρος als Beiwörter der segenspendenden Göttin, κυάνεον κάλυμμα als immer wiederkehrender Ausdruck der Trauer um die geraubte Tochter.

Hymnen

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Der Steigerung der Blütenpracht entspricht die gesteigerte Reaktion beim Betrachter. Ein einzelner Gott oder Mensch reicht für die Größe des Staunens nicht aus8, es müssen „alle unsterblichen Götter und sterblichen Menschen" aufgeboten werden (lOf), und damit nicht genug: Der Schauplatz weitet sich, dem Wunderbaren des Vorgangs entsprechend, in kosmische Dimensionen, Himmel, Erde, und Meer „lachen" (13f). εγέλασσε vom Element hat bei Homer Τ 362 eine Parallele, allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied. Das Verb meint hier den Widerglanz der Waffen9, im Hymnus dagegen läßt der Zusammenhang eher an eine menschliche Reaktion als an einen physikalischen Vorgang denken, denn da erklärt sich das „Lachen" aus dem herrlichen Anblick und dem Duft der Blumen10. Das einzige Lied der Sammlung, in dem die Landschaft eine größere Rolle spielt, ist der Hymnus auf Pan (19), der um einiges jünger als der Demeterhymnus sein dürfte. In der ersten Hälfte entfaltet sich in immer neuen Variationen der Raum, den der Gott durchstreift : baumreiche Auen, steile Felsen, schneebedeckte Berge, dichtes Gebüsch, die Nachtigall in den Zweigen, die Quelle mit dem dunklen

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σέβα; ΐδέσθαι (10) ist die dem Hymnus gemäße Abwandlung der neutralen epischen Wendung βαϋμα Ιδέσδαι. Unmittelbar vorher spricht Homer vom Glanz, der in den Himmel steigt, danach vom Funkeln des Erzes. Freilich ist zwischen innen und außen bei Homer nicht scharf zu trennen (vgl. auch unser „vor Freude strahlen"). Für diese Erscheinung der am menschlichen Geschehen partizipierenden Natur liefern auch andere Hymnen einige Beispiele, besonders die beiden Lieder auf Artemis (27, 6ff) und Athene (28, 9ff). Das Erbeben der Berge (τρομεΐν, τρέμειν), das Kräuseln des Meeres (φρίσσειν), die Erschütterung des Olymp (ελελίζεσθαι), der Aufruhr des Meeres (κινεΐσθαι) sind bereits Homer geläufige Vorstellungen, und die in den Hymnen vollzogenen Erweiterungen (z. Β. ΐάχειν und φρίσσειν von der Erde) bleiben durchaus im Rahmen des Herkömmlichen. Auffallend ist lediglich die Häufung der Fälle. Sie läßt sich aus der durch die spezifischen Erfordernisse des Hymnus bedingten Diktion erklären: Wie schon in der Ilias, bekundet auch hier die Natur die Macht des Göttlichen, das sich in ihr spiegelt. Man sollte an diesen Stellen noch nicht von Mitfreude und Mittrauer der Natur sprechen, denn die Verben haben fast ausschließlich eine mechanisch-physikalische Bedeutung und setzen eine „Beseelung" der Natur durch den Menschen keineswegs voraus. — TREU, Lyrik 250 will sogar das Verdorren der Bäume im Aphroditehymnus (5, 269 ff) als Trauer der Natur um den Tod der Nymphen deuten. Aber es ist nur die Rede von den Bäumen, die zugleich mit den Nymphen entstehen und, wenn der Tod naht, verdorren (272). Das Absterben des Baumes ist also Zeichen für die scheidende Seele, es bedeutet selbst den Tod, nicht die Trauer über den Tod. — Auch wäre zu prüfen, wie weit es sich in solchen Fällen um feste Formeln (zum Topos „Klage der Natur beim Tod eines Helden" im Epos B O W R A , Homeric Poetry 140 ff) und Vorstellungen handelt, die mit der individuellen Aussageform der Lyrik nichts zu tun haben (ganz abgesehen davon, daß die Vorstellung einer mitempfindenden Natur zumindest der frühen griechischen Lyrik nicht gemäß ist). 11 Elliger, Darstellung

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Lyrik

Wasser, die weiche Wiese mit Krokus und Hyazinthe. Das Ganze wirkt wie ein Cento, bei dem Ilias und Odyssee als Steinbruch gedient haben 11 . Dabei herausgekommen ist eine Pan-Landschaft von überraschender, aber keinesfalls homerischer Wirkung. Was die Landschaft als unhomerisch ausweist, sind nicht so sehr auffällige Umbildungen homerischer Wendungen (ττετρήεντα κέλευθα 7), Neubildungen (μηλοσκόττοζ 11) und neuartige Verbindungen12, auch nicht der bewußt gesetzte Farbakzent des roten Luchsfells auf der Krokus- und Hyazinthenwiese13, sondern die zum Prinzip erhobene Diffusität der Angaben, die dem ziel- und richtungslosen Umherschweifen des Gottes entspricht. Die ersten sieben Verse, sozusagen des Prooimion, nennen, wie es hymnischem Brauch entspricht, neben Namen, Herkunft und Wesen auch die Wirkungsbereiche des Gottes und seiner Begleiterinnen, der Nymphen (jeweils mit einem Relativpronomen angeschlossen: (ôç 2 — αϊ 4 — ös 6)14. Beim dritten Mal ist an die Stelle der einfachen Lokalangabe (Substantiv und Beiwort) eine triadische Angabe mit je drei Substantiven und Beiwörtern getreten. So hat der Dichter den Übergang zum folgenden Teil bereits gewonnen. Denn in ihm entfaltet sich die skizzierte Szenerie des Prooimions in zwei voll ausgestalteten, einander korrespondierenden Naturbildern 15 , der Musikszene mit dem Nachtigallvergleich und dem Tanz der Nymphen an der Quelle. Jetzt hat sich die Bewegung des umherschweifenden Gottes gefangen; statt von Ort zu Ort zu springen, ruht der Blick auf Quelle und Blumenwiese. Wie die Idawiese, auf der sich Zeus und Hera lagern (2 347ff), ist sie „weich", und Krokus und Hyazinthe wachsen dort wie hier; aber nur der Hymnus erwähnt den für die Landschaften der Lyriker charakteristischen Duft (ευώδης 26). So neu sich manche Formulierung bei Hesiod und in den Hymnen im Vergleich zu Homer ausnimmt — Äußerungen über sich selbst und über die eigene Einstellung zur Umwelt gibt es erst bei den Lyrikern. Allerdings wird man gut daran tun, moderne, vorwiegend an Werken der Romantik gewonnene Vorstellungen von der griechischen Lyrik 11

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Besonders die beiden Gleichnisse ΓΤ 3f (Quelle) und τ 518 ff (Nachtigall) sind weidlich ausgeschlachtet worden; vgl. aber auch I 227. 348. O 273. Ψ 122. ε 72. μ 187 u. a. φείθροισι μαλακοΐσιν 9, ίαρ πολυανθέζ 17, υάκινθος ευώδης 25f (noch stärkere Betonung des Duftes im Dionysoshymnus, 7, 35ff). Ein ähnlicher Farbreiz im Dionysoshymnus : das dunkle Haar des Gottes und sein rotes Kleid (4ff). Zum Aufbau des Hymnus und zur Funktion der Landschaft H. S C H W A B L , Der homerische Hymnus auf Pan, Wien. Stud. 82, 1969, 5—14. Zu den Entsprechungen S C H W A B L 1 0 .

Gleichnisse

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möglichst fernzuhalten. Denn nicht nur die monodische Dichtung, die unseren Erwartungen von Lyrik vielleicht noch am ehesten entspricht, ist hier zu berücksichtigen, sondern auch die — in der antiken Theorie von der Melik nicht geschiedene — Chorlyrik. (Die beiden restlichen Gattungen, Iambos und Elegie, haben für unser Thema nur geringe Bedeutung.) In der Chorlyrik aber sind die subjektiven Aussagemöglichkeiten durch die besonderen Vortragsbedingungen von vornherein beschränkt. Selbst bei einem scheinbar so persönlichen Selbstbekenntnis wie dem berühmten Eros-Fragment des Ibykos (fr 5 P) darf man nicht übersehen, daß es sich um das Werk eines „höfischen" Dichters handelt, das für den Vortrag in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen gedacht war, also trotz seines ausgeprägten subjektiven Charakters nur bedingt als „Erlebnislyrik" angesprochen werden kann. Ähnlich steht es mit der Naturlyrik. Auch sie hat es bei den Griechen im strengen Sinn nicht gegeben. Wohl werden weite Bereiche der Natur erst von den Lyrikern entdeckt, und gewiß haben sich Seh- und Gestaltungsweise gegenüber dem Epos geändert. Aber auch jetzt noch ist die Natur nur ein Thema unter vielen anderen und dabei nicht einmal ein besonders wichtiges. Das Nachtlied Alkmans, Sapphos Aphroditehain und ihr Arignota-Gedicht, das ErosFragment des Ibykos und einige Alkaios-Strophen, das ist, selbst wenn man die Trümmerhaftigkeit der auf uns gekommenen lyrischen Dichtung berücksichtigt, außerordentlich wenig. Bei dieser Lage scheint es am sinnvollsten zu sein, sachliche Gesichtspunkte die Reihenfolge der zu besprechenden Fragmente bestimmen zu lassen, auch wenn wir dabei in Kauf nehmen, in einem Zeitraum von etwa 150 Jahren hin und her springen zu müssen. Nur Pindar und Bakchylides, deren Werk für uns nicht so fragmentarischen Charakter hat, sollen im Zusammenhang behandelt werden (wenn auch Bakchylides kaum Material für unser Thema bietet).

Zu den literarischen Formen, die die Lyriker vom alten Epos übernommen haben, gehört vor allem das Gleichnis16. Es soll uns — nach Hesiod und den Hymnen — eine weitere Brücke zwischen Epos und Lyrik bauen. An vier recht verschiedenartigen Beispielen wird klar werden, daß das an Formeln reiche epische Gleichnis beim Lyriker 16

Dazu K. DIETEL, Das Gleichnis in der frühen griechischen Lyrik, Diss. München 1939. Über das Verhältnis der Lyriker zu Homer neben TREU, Lyrik O. v. WEBER, Die Beziehungen zwischen Homer und den älteren griechischen Lyrikern, Diss. Bonn 1955, und Α. E . HARVEY, Homeric Epithets in Greek Lyric Poetry, Class. Quart. N. S. 7, 1957, 206—223. 11«

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in der Regel zum Vergleich verknappt oder in eine andere Bildform umgesetzt wird und dabei eine individuellere Bedeutung annimmt, daß die wesentlichen Neuerungen der Lyriker aber keineswegs auf die Form beschränkt sind. Wenn Sappho von sich selbst bekennt, daß Eros ihr die Sinne erschüttert habe cos άνεμος κατ όρος δρύσιν έμπέτων (fr 47 LP), mag den Vergleich ein episches Vorbild inspiriert haben. Seine nächste Parallele hat er bei Hesiod, in dessen Winterbeschreibung Erga 509 ff der Boreas „viele hochbelaubte Eichen . . . in den Tälern des Gebirges auf die vielnährende Erde stürzt, auf sie einfallend" (εμπίπτων). In der lyrischen Fassung erscheint das Bild durch den Wegfall aller Beiwörter und sonstiger Details stark verkürzt und auf das Wesentliche beschränkt : die beiden Träger des Vorgangs (aktiver und passiver Pol), eine auf das Minimum reduzierte Ortsangabe und das Verb, dessen infinite Form die Selbständigkeit des Gleichnisses aufhebt und das Bild eng in den Zusammenhang einpaßt. Trotz dieser Verknappung jedoch wäre der Vergleich im Epos ohne Schwierigkeiten denkbar — nur in einem anderen Zusammenhang, etwa für den Ansturm oder Tod des Helden (je nachdem, welcher Aspekt des Bildes vorherrschen soll), keinesfalls aber für die elementare Erschütterung der Seele; und dann als Bericht eines unmittelbar nicht beteiligten Berichterstatters, nicht als Selbstaussage eines direkt Betroffenen. Was sich im Gleichnis artikuliert, ist das Gefühl wehrloser Preisgegebenheit17, wobei jedoch die Objektivierung der Leidenschaft, hier im Medium des Bildes, für die Dichtung der Sappho bezeichnend ist: nicht der Aufschrei einer gemarterten Seele, sondern die fast leidenschaftslose Beschreibung der Leidenschaft, auch wenn diese von Sappho nicht mehr als von außen andringende, sondern aus dem eigenen Innern aufsteigende Macht erfahren wird18. Im Sinne einer solchen Distanzierung, die eine Deutung der Verse als Identifikation zwischen Mensch und Natur von vornherein verbietet, ist auch die Wahl der Eichen, also den im Epos den mächtigsten Helden vorbehaltenen Bäumen, für den Vergleich zu sehen. Für eine Frau passender hätte man sich, etwa nach dem Vorbild des Gleichnisses Ρ 53 ff, einen vom 17

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F R A N K E L , Dichtung 207. Bezeichnend dafür ist die übertragene Verwendung des Verbs τινάσσειν, das Homer nur in Verbindung mit Gegenständen gebraucht. Sappho setzt den in die Eichen fahrenden Sturm und ihre Liebesleidenschaft in eins ("Epos δ ' έτίναξέ μοι φρένας). Dazu V. Ν . J A R C H O , Zum Menschenbild der nachhomerischen Dichtung, Philol. 112, 1968, 147—172 (zu fr 47 LP 162 f). — Ganz ähnlich ist es in dem anderen Eros-Fragment der Sappho (130 LP), δονεί υ bezeichnet wie τινάσσειν die Erschütterung von außen (M 157 vom Wind, der die Wolken vor sich hertreibt, Ρ 55 den jungen ölbaum schüttelt). Sappho setzt als Objekt sich selbst.

Gleichnisse

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Sturm geknickten jungen Ölbaum vorstellen können. Aber dieses zartere Bild hätte nicht nur die Macht des Eros verkleinert, sondern auch zu einer Selbstidentifikation geführt, die Sappho offenbar gerade hat vermeiden wollen (deshalb auch der Plural δρύσιν). Der Zusatz Kcrr ôpoç bezeichnet wie εν ώρεσι im Gleichnis mit der von Hirten achtlos niedergetretenen Hyazinthe (fr 105c LP) den Bereich des Ungeschützten, wo man, im Gegensatz etwa zum umhegten Aphroditehain des Ostrakon-Gedichtes (s. u. 178ff), jeder Gefahr ausgeliefert ist. Insgesamt zeigt auch der Eichenvergleich, was für Sapphos Abhängigkeit von Homer allgemein gilt: Anklänge an das Epos werden nicht gemieden, aber in freier Handhabung umgedeutet oder übertragen19. Ein anderes Sturmgleichnis, nun aber von homerischen Ausmaßen, steht in Solons erster Elegie (18ff). Läßt man den Zusammenhang einmal außer Betracht, könnte man denken, ein Iliasgleichnis vor sich zu haben, so viel Homerisches gibt es im Ganzen wie im Detail 20 . Die innere Dynamik des Gleichnisses beruht auf der Vorwegnahme des Wesentlichen im ersten Vers (der Wind, der die Wolken rasch vertreibt), während die drei Stationen auf dem Weg des Windes (πόντος — γή — ούρανόξ) erst nachträglich differenziert werden21. Der letzte Vers greift das Anfangsmotiv noch einmal auf, ersetzt aber den Vorgang (νεφέλας διεσκέδασεν) durch das Resultat: Von den Wolken ist nichts mehr zu sehen. So tritt das Hauptthema des Gleichnisses, das schnelle Zerstieben der Wolken als Bild für das rächende Eingreifen des Zeus (τίσις), eindrücklich in zwei Phasen hervor. Auch der Gegenpol, die Erde, auf der sich das elementare Naturgeschehen für die Menschen am unmittelbarsten vollzieht, erscheint zweimal im Gleichnis, und zwar, wie es der Bewegungsablauf erfordert, mit entgegengesetzten Vorzeichen. Zunächst verheert sie der Sturm (γήν κατά ιτυροφόρον), dann bescheint sie die Sonne (κατά πίονα γαΤαυ). 19

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ροδοδάκτυλος ist bei Sappho nicht die Morgenröte, sondern der Mond (fr 96, 8 LP), λυσιμελήΐ nicht der Tod, sondern die Liebe (fr 130 LP). Dazu B O W R A , Lyric Poetry 232f mit weiteren Beispielen. Um nur das Auffälligste zu nennen: στρύγετος πόντο; O 27 u. ö., ipyct καλά E 92, μένος ήελίοιο Ψ 190. κ 160; δηώσα; am Versanfang 2 518; ττυροφόρος und πίων, bei Solon Beiwörter von γαία, stehen bei Homer häufig mit ähnlichen Begriffen (äpoupa M 314, πεδίον Φ 602, άγρόζ Y 832, Ιργα M 283 u. ö.). Zum Motiv der zerstreuten Wolken vgl. E 525f, des wieder durchscheinenden Äthers Π 297ff. Auch an Π 384ff wäre zu erinnern, jedoch das Gleichnis als „sichere und wirkliche Vorstufe" zu betrachten, wie D I E T E L 19 will, ist nur bedingt möglich. Wohl nimmt das homerische Gleichnis durch seinen ethischen Bezug eine Sonderstellung ein, aber das Unwetter i s t hier die Strafe des Zeus und steht nicht als Bild für sie. Auf den Unterschied der durch Aorist-Partizipien gekennzeichneten Zwischenstationen (κινήσας, δηιώσας) und der durch das Präsens markierten Endstation (ΐκάνει) macht D I E T E L 1 8 aufmerksam.

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Lyrik

Ist die Ringkomposition nicht gerade typisch für das epische Gleichnis, so entspricht das „Weiterarbeiten" des Gleichnisses ganz homerischer Technik. Zunächst wird man die Verse, die den bis dahin konsequent fortschreitenden Gedankengang unterbrechen und das letzte Glied als Anakoluth enden lassen, mit der Plötzlichkeit des göttlichen Einschreitens in Verbindung bringen (εξοπτίνης — αίψα)22. Dann aber verschiebt sich der Aspekt auf den Telosgedanken hin (ες τέλος 28, vgl. auch 17). Auch wenn die Strafe des Zeus auf sich warten läßt, eintreffen wird sie mit der gleichen Gewißheit, wie die Frühjahrsstürme (ήρινός 19)23. Das ausleitende τοιαύτη (25), das den Anakoluth auffängt, knüpft also nicht unmittelbar an den Anfangsgedanken an. Erstaunlich dabei ist das Ausmaß, in dem sich das Gleichnis verselbständigt. Wenn LATTIMORE 164 von ,,pure illustration" spricht, mag das ein wenig übertrieben sein, Tatsache jedoch ist, daß nur Anfang und Ende auf das Wirken der Zeus-τίσις bezogen werden können. Die Erde, die im Gleichnis als Opfer des Unwetters figuriert, ist ein frei ausgestaltetes Motiv, die καλά εργα müßten eigentlich für die Taten der von der Strafe getroffenen Frevler stehen. Natürlich steigert die breite Ausführung des Naturbildes die elementare Furchtbarkeit des Zeus, und der (sprachlich allerdings nur zum Teil realisierte) Gegensatz hell — dunkel mag auf das Hauptthema des Gedichtes Recht — Unrecht weisen, worauf BÜCHNER 182 aufmerksam macht. Reines Dekor ist das Gleichnis also auch bei Solon nicht, aber von der strengen Funktionalität homerischer Gleichnisse ist in ihm nicht mehr viel zu finden. Ein weiteres kommt hinzu. Der Wind (άνεμος), nicht etwa wie an den vergleichbaren Iliasstellen Zeus oder Boreas, vertreibt die Wolken. Ferner ist der Olymp aus dem Vers, der für 21 f als Vorlage gedient hat (αίττύυ "Ολύμπου E 868, vgl. auch 367), durch den neutralen ούραυός ersetzt, der zwar besser in den Zusammenhang paßt, aber mit dem beibehaltenen Epitheton αίπύς nicht recht harmoniert. Das heißt, Solon hat Homer „entmythologisiert". Was Homer möglicherweise schon so verstanden, jedenfalls aber noch mythisch ausgedrückt hat, formuliert er als reinen Naturvorgang24. Im Wechselverhältnis dazu

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So auch Wilamowitz, Sappho 264, Κ. B Ü C H N E R , Solons Musengedicht, Herrn. 87, 1959, 163—190, hier 182, R . L A T T I M O R E , The First Elegy of Solon, Am.Journ.Phil. 68, 1947, 161—179, hier 164. Vgl. dazu F R A N K E L , Wege 70 Anm. 1. Zu den bei Solon beliebten Analogien zwischen Naturereignissen und politischsozialen Verhältnissen (etwa fr 10 und 11 D) W. J A E G E R , Solons Eunomie, SB Preuß. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. 1926, 79ff, jetzt auch in: Antike Lyrik, hrsg. v. W. Eisentmt, Darmstadt ΙθΙΟ, θ—31.

Gleichnisse

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ist wohl die zweimalige Verwendung von καλός zu sehen, die um so bemerkenswerter ist, als Schmuckepitheta sonst nicht gerade ein Charakteristikum des solonischen Stils sind. Die καλά εργα haben eine Parallele in der Ilias (E 92), in der auch eine Platane (B 307), ein Stück Land (M 313f), ein Weinberg (Σ561ί) oder ein Waldtal (Σ 588) ,,schön" genannt werden können. Nie aber nennt Homer die Sonne schön, wie es Solon tut (zu ήελίοιο μένος 23 vgl. Ψ 190. κ 160). Dabei bekommt das καλόν, ähnlich wie ήρινός 19 (zu άνεμος), durch die Sperrung von seinem Beziehungswort und die durch folgende Zäsur noch stärker abgesetzte Stellung am Versanfang besonderes Gewicht, dürfte also eher als wichtiger Teil der Aussage denn als schmückendes Beiwort zu werten sein25. Und selbst wenn man καλόν adverbial (zu λάμπει) versteht 26 , bleibt es bei der starken Betonung der ästhetischen Wirkung von Landschaft und Naturvorgang. (In die gleiche Richtung weist die zweimalige Verwendung von ίμερτός in den spärlichen Fragmenten der Salamis-Elegie fr 2 D als Beiwort der Insel.) Als drittes Beispiel uneigentlichen Sprechens, diesmal in Form von Metaphern, diene ein Vierzeiler aus dem zweiten T h e o g n i d e e n b u c h , also noch einmal aus dem erotischen Bereich, in dem die metaphorische Ausdrucksweise seit je zu Hause war. Die Verse 1249ff variieren das Hauptthema des zweiten Buches. Der geliebte Knabe ist seinem Liebhaber offenbar einige Zeit untreu geworden, jetzt aber wieder zu ihm zurückgekehrt; Weide, Wasser und Wälder werden gegen die Gerste, also wohl das Futter, das das Pferd bei seinem anderen Herren bekam, ausgespielt. Vorbild ist natürlich das Gleichnis Ζ 506ff, jedoch ist es vollkommen in die erotische Sphäre transponiert worden27. Die beiden für den Vierzeiler konstitutiven erotischen Metaphern ϊτπτος und ηνίοχος geben auch der Landschaft übertragene Bedeutung. Sie figuriert nicht mehr als Szenerie oder Rahmen für einen Vorgang, sondern ist in der Form eines Katalogs Inbegriff all dessen, was sich der Geliebte nur wünschen kann. Dabei hat sich auch ihr Charakter geändert. Der Fluß, in dem sich das Pferd badet, ist durch die Quelle ersetzt, die Weide durch den Wald. Das heißt, aus der Zwecklandschaft des Pferdes ist die ästhetisch reizvolle Landschaft

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Zum Rang des Beiworts bei Solon TREU, Lyrik 270f. Daß die für Solon charakteristische Sperrung des Beiworts zu einer Entwertung führen kann, ist T R E U zuzugeben, daß sie bisweilen auch das Gegenteil bewirkt, zeigen die genannten Stellen. So B Ü C H N E R 1 6 3 („es glänzt. . . schön"). Als Adjektiv auf μένος bezogen bei A. C O L O N N A , L'antica lirica greca, Turin 2 1 9 5 6 , 2 9 ζ. St. Zu 1249b vgl. Ζ 506b und Theogn. 1269. Bezeichnend ist auch die syntaktische Realisierung des Gedankens : Reiter und Landschaft sind genauso durch ein einfaches τε verbunden wie die Teile der Landschaft

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des Menschen geworden, wie auch die drei Beiwörter καλός, ψυχρός und σκιερός — es sind typische des locus amoenus — beweisen. Das Pferd im schattigen Hain: an sich eine abstruse Vorstellung, die nur durch die metaphorische Bedeutimg der Landschaft sinnvoll wird28. Weder Gleichnis noch Metapher im strengen Sinn ist das A r c h i lochos-Fragment 56 D, das im allgemeinen, zusammen mit fr 56 A, als das erste Beispiel für die bei Alkaios vollständig ausgebildete Allegorie vom Staatsschiff gilt. Wir haben keinen Grund, den metaphorischen Charakter der von Heraklit (Alleg. Horn. 5) ausdrücklich als Allegorie zitierten Verse anzuzweifeln, werden allerdings den Begriff Allegorie sehr weit fassen müssen: als poetisch frei ausgestaltetes, dabei durchaus realistisches, aber nicht Punkt für Punkt ausdeutbares Bild. Der in seiner Unmittelbarkeit überraschende Anfang läßt zunächst an ein Stück Erlebnislyrik denken, jedoch leitet schon das gnomenartig formulierte κιχάναι δ ' εξ άελτττίης φόβος29 in der zweiten Hälfte des dritten Verses zur größeren Reflektiertheit der folgenden Strophen über. Mit der Anrede an Glaukos (Γλαυχ', δρα) springt der Dichter mitten in die Situation hinein und liefert damit eins der frühesten Beispiele für den besonders von R. HEINZE30 betonten dialogischen Charakter antiker Lyrik. Dieser persönlichen Sprechhaltung entspricht der individuelle Zuschnitt der Naturbeobachtungen, die von seltener Schärfe sind31. Zwar erinnert das aufgewühlte Meer, auf das Glaukos seine Blicke lenken soll, an homerische Sturmgleichnisse; und wenn die senkrecht über den Felsspitzen stehende Wolke als σημα χειμωνος gedeutet wird, mag man darin mit BOWRA32 die Nachwirkung des homerischen Bildes von der Kriegswolke sehen (P 243, vgl. auch die Unheilswolke in den Gleichnissen Δ 275ff. E 522ff). Aber das Entscheidende an den Versen des Archilochos ist nicht die

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unter sich. — Ähnliche Verkürzungen homerischer Gleichnisse zu Metaphern mit gleichzeitiger Umdeutung auch 959 (κρήνη μελάνυδροζ, wohl ebenfalls mit erotischem Nebensinn) und 348 (χειμάρρους ποταμός). Vgl. dazu fr 74 D, besonders άελπτοι; 1 und δέος 4. Die horazische Ode, in: Vom Geist des Römertums, Darmstadt 3 1960, bes. 175ff. — Die Anrede an Glaukos, wohl einen parischen Freund des Dichters, auch fr 13 D (ebenfalls am Versanfang) und 68 D. Zu όρθόν ιοί m a i vgl. f r 43 D und Simonides f r 62 Ρ ; ferner T r e u , Lyrik 265 u. ö. über den Sinn der Lyriker f ü r „räumliche Tiefe, räumliche Dichte und Profilierung". Class. Rev. 54,1940,127—129. Dagegen geht P a g e , Sappho 181 sicher zu weit, wenn er meint, es sei „not a long step" vom Gleichnis O 381ff zu Archilochos' allegorischem Bild.

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allegorische Adaptation homerischer Bilder durch den Lyriker; dazu ist der allegorische Charakter der Verse zu schwach ausgeprägt. Das beigefügte ήδη (κύμασι ταράσσεται πόντος) und der Eigenname άκρα Γύρεων33 — beide in einem homerischen Gleichnis schlecht denkbar, da sie dessen überindividuellem Charakter widersprächen — schränken die Aussage zeitlich und räumlich auf eine konkrete Situation im Lebensraum des Dichters ein. Als historischen Hintergrund der Verse hat man die Rüstung der Thasier zur Verteidigung ihrer eigenen Insel oder ihres Besitzes auf dem thrakischen Festland sehen wollen (LASSERRE 217f). Dazu würde der Zusammenhang, in dem Heraklit das Fragment zitiert (εν τοις Θρηκικοϊς . . . δεινοΐς) ausgezeichnet passen. Das bleibt natürlich eine Vermutung, aber sie ist einleuchtender als BOWRAS Versuch, mit Hilfe von δ 500f. 506f die Gyreischen Felsen auf Euboia zu lokalisieren. Wenigstens wäre man nicht gezwungen, die Unsichtbarkeit der Felsen (auf Euboia) von Paros (und Thasos) aus mit dem allegorischen Charakter der Verse zu entschuldigen (BOWRA: Die Felsen standen vor dem g e i s t i g e n Auge des Dichters). Ungezwungener und zugleich sinnvoller ist die Annahme der Felsen auf Tenos, wo sie von Paros, der Heimatinsel des Dichters, aus sichtbar waren, und zwar in nördlicher Richtung, aus der die thrakische Gefahr drohte. Ist diese Deutung richtig, hätte man sich die Verse als den poetischen Reflex eines in der Heimat des Dichters bekannten Naturphänomens zu denken. Der für Archilochos charakteristische Erlebnishintergrund müßte sich dann nicht ins Allegorische verflüchtigen. Die vier angeführten Beispiele, inhaltlich alle auf Homer zurückgehend, aber in der Ausformung sich immer weiter von ihm entfernend, haben vier Möglichkeiten bildhafter Rede bei den Lyrikern deutlich werden lassen : die Verkürzung des epischen Gleichnisses zum Vergleich (Sappho), das Festhalten an der Langform (die seltene Ausnahme: Solon), die Auflösung des Gleichnisses in mehrere einander korrespondierende Metaphern (Theognis), Ersatz des Gleichnisses durch ein Landschaftsbild aus der Umwelt des Dichters (Archilochos). 33

άκρα Γι/ρέων darf heute als gesichert gelten. Zum Streit um die richtige Lesart (Eigenname oder nicht? Lage der Gyreischen Felsen?) B O W R A (S. O. Anm. 32), dessen Auffassung auch F. J A C O B Y , Class. Quart. 35, 1941, 108 Anm. 1 trotz gewisser historischer Bedenken zuneigt; D . W . T H O M P S O N , Class. Rev. 55, 1941, 67, der als Konjektur γ ' ούρέων vorschlägt, dabei aber mit der Partikelkombination δέ und γε in Schwierigkeiten gerät; F. H. S A N D B A C H , Class. Rev. 56, 1942, 63—65, der die m. E. entscheidende Cicerostelle ad. Att. V 12, 1 heranzieht und mit mehreren Argumenten die Lage der Gyreischen Felsen an der Südküste von Tenos mehr als wahrscheinlich macht (vgl. auch F. L A S S E R R E , Les épodes d'Archiloque, Paris 1950, 217 f und M. T R E U in seiner Archilochosausgabe, München 1959, z. St.).

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Dabei zeichnet sich in formaler Hinsicht die Tendenz ab, das Bild möglichst eng in den Kontext aufzunehmen, statt es wie beim epischen Gleichnis durch den klar fixierten Anfangs- und Endpunkt als selbständiges Gebilde zu behandeln. Neu ist ferner die stärkere Rückbeziehung auf den Sprecher, die wir selbst in dem ganz episch wirkenden Gleichnis Solons (das nicht ohne Emphase gesetzte καλόν) glaubten feststellen zu können (die Häufung ästhetischer Beiwörter bei Theognis, der dialogische Charakter der Archilochosverse). Bevor wir uns den wenigen großen Fragmenten, in denen die Landschaft eine beherrschende Rolle spielt, zuwenden, soll uns eine zweite Gruppe kleinerer Fragmente beschäftigen. Sie läßt eine größere Selbständigkeit in der poetischen Bewältigung von Landschaft erkennen und ist daher nur noch bedingt unter dem Generalthema „freie Umarbeitung einer epischen Vorlage" zu fassen. Telemachs vergleichende Gegenüberstellung von Pylos und Ithaka (5 602ff, s. o. 119) hatte sich durch objektive Nüchternheit ausgezeichnet. Es ging, wie sich schon an den rein quantitativen Adjektiven vom Typ πολύς und ευρύς ablesen ließ, ausschließlich um den Nutzwert der Gegenden. Selbst έττήρατος diente hier lediglich zum Vergleich von Ziegen- und Pferdeweide, war also ebenfalls zur ökonomischen, nicht zur ästhetischen Qualifizierung gebraucht. Auch die übrigen Ithaka-Beschreibungen der Odyssee unterschieden sich in diesem Punkt nicht grundsätzlich von δ 602 ff. Ganz anders A r c h i l o c h o s in den Versen über seine zweite Heimat, das wenig geliebte Thasos (fr 18 D). Während die Geburtsinsel Paros beim Dichter offensichtlich höher im Kurs stand (ίμ]ερτη Παρ[ος Pap. Οχ. 2313 fr 38), vergleicht er Thasos nicht eben wohlwollend mit einem Eselrücken (όνου ράχις). Ausgehend von epischen Insel-Beiwörtern, also etwa von χθαμαλός (ι 25 von Ithaka, κ 196 von der Kirkeinsel), εύδείελος (ι 21 von Ithaka) oder auch άριπρεπής (ι 22 vom Neriton), wird man den Vergleich zunächst auf den aus der Meerperspektive sich bietenden Umriß der Insel beziehen (während die flächenhafte Ausdehnung (ευρύς δ 605. ν 243) nicht realisiert ist). Aber die Wahl ausgerechnet eines Eselrückens — er ist nicht „rundlich wie ein Pferderücken, sondern spitz und unbequem und abgeschunden dazu" 34 — zeigt das starke Ethos des Vergleichs, der sich im äußeren Erscheinungsbild nicht erschöpft. Das bestätigt die weitere Charakteristik der Insel: Ολης άγρίης έττιστεφής. Auch mit dieser Wendung geht Archilochos über das vergleichbare τρηχύς homerischer 31

W. MARO, Griechische Lyrik, Stuttgart 1964 (Reclara-Bibliothek Nr. 1921—23), 184.

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Inselbeschreibungen (t 27. κ 417. ν 242) hinaus. Nicht nur ist der Ausdruck des Lyrikers anschaulicher35, er zeigt auch, was man sich bei dem Vergleich mit zu denken hat : das struppige Fell, das alles andere als schön und liebenswert ist. Hier liegt nicht der Versuch vor, die Insel von ihrem Wesen her objektiv zu erfassen, vielmehr artikuliert sich in der sehr persönlichen Sicht der Dinge unverblümt die Aversion eines Individuums, dem es gar nicht darum zu tun ist, den ebenfalls vorhandenen Vorzügen der Insel gerecht zu werden (vgl. Plut. exil. 12p. 604bc, bei dem die Verse überliefert sind: τα καρποφόρα καί οΐνόπεδα τταρορών)36. Noch direkter, da ohne die Form des Vergleichs, drücken zwei weitere Verse, die aller Wahrscheinlichkeit nach zum selben Gedicht gehören37, Archilochos' Gefühle aus. Der eigenen Insel wird alles Schöne und Reizvolle abgesprochen, sie ist weder καλός noch έφίμερος noch έρατός38 — Archilochos bietet einen großen Teil des lyrischen Qualitätsvokabulariums auf, um die Ablehnung zu motivieren. Als positives Gegenbild erscheint die Gegend άμφί Σίριος poás, also am Golf von Tarent. Hier hat sich Archilochos offenbar mit der einfachen Nennung begnügt. Schönheit und Fruchtbarkeit dieses Landstrichs waren wohl bald nach Gründung der ersten Kolonien hinlänglich bekannt, so daß der Golf von Tarent sehr schnell symbolische Bedeutung erlangen konnte 39 . Insgesamt ist das Thema des zweiten Verspaares, über das erste hinausgehend, die Wirkung der Insel auf den Menschen: eine an ästhetischen Kategorien orientierte Wertung, nicht eine möglichst objektive Deskription. 35

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Eigentlich: „randvoll mit Wald" (Homer verwendet έτπστεφής von randvoll gefüllten Bechern, Θ 232. β 431). Eine ganz andere Anschauung spricht aus dem öpo; άνθέον ΰλαι (die Rhipäischen Berge, also die halb mythische Südgrenze des Hyperboreerlandes, die meist von Nacht bedeckt ist, vgl. Soph. OK 1248) in einem schwerverständlichen Alkman-Fragment (90 P), das mythische Vorstellungen mit real Geschautem vermischt. Hier zieht sich der Wald tatsächlich „wie ein Flaum, Flor oder Schimmer" über das Gebirge (FRANKEL, Dichtung 189 Anm. 24; vgl. auch W. KILLY, Elemente der Lyrik, München 21972, 12 f). Wobei freilich zu bedenken ist, daß wir nicht sagen können, wie Thasos im 7. Jahrhundert wirklich ausgesehen hat; vgl. G . P E R R O T T A / B . G E N T I L I , Polinnia. Poesia greca archaica, Messina/Florenz 21965, 74. — Vergleichbar in der ablehnenden Haltung, aber anders, nämlich klimatologisch begründet, ist Hesiods Urteil über sein Heimatdorf Erg. 639 f. Athenaios 12, 523 d, der die beiden Verse zitiert, spricht von einem Vergleich mit dem „schlechteren" (ήσσονος) Thasos. Derselbe Katalog (statt έρατός Ιράσμιος), nur durch ein viertes Glied (τερπνός) erweitert, erscheint auch in der Weibersatire des Semonides (fr 7, 51f D von der „Wieselfrau"). Zu biographischen Spekulationen gibt die Stelle also keinerlei Anlaß, auf Autopsie läßt restlos nichts schließen (vgl. schon A. HAUVETTE, Archiloque, Paris 1905, 53 ff, ferner T R E U in seiner Archilochosausgabe z. St.).

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Lyrik

Noch persönlicher gehalten ist ein (wohl nur als Fragment überliefertes: γάρ 783) Gedicht aus dem ersten T h e o g n i d e e n b u c h . Der Dichter dieser Verse — aller Wahrscheinüchkeit nach ist es nicht Theognis40 — ist weit in der Welt herumgekommen, nach Sizilien, ins rebenreiche Euboia, ins glänzende Sparta 41 . Aber so freundlich er überall aufgenommen wurde — nichts Lieberes gibt es für ihn als das Vaterland, Der Schluß erinnert an Odysseus' Bekenntnis zur Heimatinsel vor den Phaiaken (vgl. ού . . . γλυκερώτερον άλλο ι 27f, s. o. 121f, und ουδέν . . . φίλτερον αλλο bei Theognis), wenn auch die Prämissen — hier die berühmtesten Gegenden, dort das ärmliche Ithaka — entgegengesetzt sind. Was jedoch in Odysseus' Bericht über Ithaka erst zum Schluß deutlicher hervortritt, entfaltet sich beim Dichter des Theognideions in fast pathetischer Breite: Nicht das Große, sondern das Kleine, mit dem man sich verbunden weiß42, verdient den Vorzug. Die Verse mit ihren kräftigen Epitheta (άμπελόεις, δονακοτρόφος, άγλαός43) sind in ein prächtiges homerisches Gewand gekleidet. Trotzdem manifestiert sich in ihnen nicht ein Epiker. Homer läßt Odysseus hinter seinem Bericht fast ganz zurücktreten; das einleitende ναιετάω hat nicht viel Gewicht, und die Wende ins Persönliche erfolgt erst am Schluß (εγώ γε 27). Der Dichter des Theognideions dagegen beginnt mit einem anaphorischen ήλθον, und auch in den folgenden Versen erzählt er von sich selbst (με, μοι)44. Erst der letzte Vers bringt die Wende aus dem Bereich individuellen Erlebens ins Überpersönliche: ούτως ούδέυ ctp' ήν φίλτερον αλλο πάτρης. Aus dem im Stil einer Gnome formulierten Vers ist das Ich des Dichters, auf das vorher alles bezogen war, verschwunden. Die Positionen an Anfang und Ende und damit die Verteilung von Subjektivem und Objektivem sind also genau umgekehrt wie im Ithaka-

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Trotzdem wird die Stelle gerne f ü r biographische Zwecke herangezogen. Dazu F. J A C O B Y , Theognis, SB Preuß. Akad. Wiss., phü.-hist. K L . 1931, 133f. Nach J . s t a m m t der Dichter dieser Verse ebenfalls aus Megara, ist aber jünger als Theognis. J. versucht die Stelle im Zusammenhang mit dem „Proöm" 757—792 zu verstehen (Preis der Heimat und Schutz vor der Persergefahr). Jedoch läßt sich nicht übersehen, daß weder das Ganze noch das γ ά ρ von 783 an das Vorhergehende anschließen. Zu den möglichen Erklärungen, weshalb Athen in diesem Reigen nicht erwähnt wird, B . A. V A N G R O N I N G E N in seinem Kommentar zum ersten Theognisbuch, Amsterdam 1966, z. St. V. G. erinnert auch an ι 34ff, wo die Voraussetzungen ähnlich sind wie im Theognideion. F R A N K E L , Dichtung 4 6 3 Anm. 1 4 . άγλαός gebraucht Homer allerdings nur für Sachen und Menschen, noch nicht für Städte und Landschaften. Ein subjektives Element liegt auch in der Dopplung τέρψΐζ — φίλτερον, die (wie auch jeder Ausdruck für sich) den Rückbezug auf den Sprecher stärker zum Ausdruck bringt als das homerische γλυκερώτερον.

Alkaios und Hesiod

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bericht des Odysseus. Beim Lyriker bleibt der größte Raum der Selbstaussage vorbehalten. Das letzte Beispiel, das wir für die Umarbeitung einer epischen Vorlage durch einen Lyriker anführen wollen, das Alkaios-Fragment 347 LP, ist nach allgemeiner Auffassung die getreueste antike Kopie, die wir kennen. Ob sich freilich die Umarbeitung in der Umsetzung in den heimischen Dialekt und ein heimisches Versmaß (Asklepiadeen) erschöpft, wie P A G E meint 45 , erscheint zweifelhaft. Wie so oft, fordert Alkaios zum Trinken auf. Das kann er selbstverständlich zu jeder Tages- und Nachtzeit tun; hier dient die Sommerhitze zur Begründung. Als Zeichen des Sommers sind genannt der dörrende Sirius, die aus den Zweigen ertönende Zikade und die blühende Distel, ganz ähnlich wie in Hesiods Sommerbeschreibung Erg. 582 ff. Da sie auch in zahlreichen anderen Motiven und Formulierungen übereinstimmt 46 , übersieht man leicht die Unterschiede. Zunächst der Rahmen. Bei Hesiod steht die Partie im Bauernkalender. Voraus geht die Schilderung vom Ende des Winters (Schwalbe als Frühlingsbote, Schnecke 564ff), es folgt die Darstellung des Herbstes (609ff). Mit einem ήμος (582), das dem früheren ευτε (564) und όποτε (571) sowie dem folgenden ευτε (609) korrespondiert, sind die Verse im Zusammenhang fest verfugt, wird der Sommer in die Gesetzmäßigkeit der Jahreszeiten miteinbezogen. Distel und Zikade, gleich zu Beginn genannt, figurieren, wie vorher bereits Schwalbe und Schnecke, sozusagen als Datumsangabe, sie sind das Zeichen für die heiße Jahreszeit. Alkaios dagegen spricht in einem ganz bestimmten, gerade durch seine Unwiederholbarkeit wertvollen Augenblick, nicht von einer Konstellation, die schon immer so war und auch in Zukunft so sein wird. Ihm kommt es auf das einmalige Jetzt an, und deswegen ersetzt er das generelle τημος und τότε (Erg. 585/88) durch das individuelle νυν, spricht er von diesem einen Sommer (ά δ' ώρα mit bestimmtem Artikel), nicht von jedem beliebigen (θέρεοξ ώρη).

« Sappho 306. 16 Vgl. P A G E , Sappho 306 und die Zusammenstellung bei H A R V E Y 219ff. Für die Unterschiede sind ζ. T. sicher metrische Gründe ausschlaggebend gewesen, so bei der Ersetzung der hesiodischen Beiwörter für Männer und Frauen. Trotzdem ist bemerkenswert, daß in der Darstellung der Zikade etwa ein Fragment der Sappho (89 D) der epischen Vorlage näherkommt (zur Ergänzung des unvollständig überlieferten V. 3 R. S T A R K , Rhein. Mus. 99, 1956, 177). Zum Unterschied zwischen Sappho und Alkaios (sie fühlt mit der Natur, er nur Durst) W I L A M O W I T Z , Sappho 61 ff. — In struktureller Hinsicht ergibt sich eine Parallele zu Archilochos fr 56 D (s. o. 168 f) : Aufforderung — beobachteter Naturvorgang (bei Alkaios auf Chiffren reduziert) — Folgerung allgemeinen Charakters (bei Alkaios das Verhalten von Männern und Frauen).

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Lyrik

Diese besondere Blickrichtung des Lyrikers bedingt den Unterschied in der Komposition. Den Auftakt macht, wie schon im Archilochos-Fragment 56 D, die Anrede an ein nicht näher bezeichnetes Du : τέγγε πλεύμουας οΐνωι. Sirius, Zikade und Distel folgen erst an zweiter Stelle, denn sie haben kausale (yáp), nicht wie bei Hesiod temporale (ήμος) Funktion. Bei beiden Dichtern steht also die durch Distel, Zikade und Hundsgestirn repräsentierte Wirklichkeit nicht um ihrer selbst willen. Aber während bei Hesiod die Selbständigkeit an ein übergeordnetes Ganzes verlorengeht, ist es bei Alkaios die Subjektivität des Dichters, die der Natur ihren Stellenwert zumißt. Er gruppiert die Motive der epischen Vorlage um. Distel und Zikade als die konkretesten Ausschnitte der Wirklichkeit sind eingerahmt von der Aufforderung zu trinken und der Feststellung über das Verhalten von Frauen und Männern. Beim dritten Motiv, dem Hundsgestirn, muß in Anbetracht der für den Lyriker gebotenen Verknappung der doppelte Hinweis auffallen : Zunächst wird es in allgemeiner Form (τό άστρου), dann gesteigert mit Namen (Σείριος) und Tätigkeitsmerkmalen genannt. In der Umklammerung der übrigen Kennzeichen des Sommers durch das doppelte Siriusmotiv verrät sich bereits die Tendenz der Umformung; in der Verselbständigung der epischen Zeitangabe (θέρεος καματώδεος ώρη) zum Satz (ά δ ' ώρα χαλέπα) und in der über die Vorlage hinausgehenden Feststellung, daß alles dürstet, findet die Vermutung ihre Bestätigung: Die unerträgliche Hitze ist das zentrale Thema der Verse, wenn auch nur — aber gerade das macht den poetischen Witz des Ganzen aus — als Begründung für die Aufforderung zum Trinken 47 und damit natürlich auch als Rechtfertigung, ein entsprechend großzügig bemessenes Quantum Wein zu sich zu nehmen 48 . So ist die durch den Typus des Trinkliedes bedingte Versetzung des Trinkmotivs an den Anfang auch innerlich motiviert (bei Hesiod erfolgt die Aufforderung zu trinken 17

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Wobei man freilich nicht vergessen sollte, daß solche Trinkgelage im Kreise der έταΐροι durchaus auch politischen und ähnlichen Zwecken dienen konnten (vgl. Kapitel 1 „Über das Trinken in der Poesie des Alkaios" bei J . T R U M P F , Studien zur griechischen Lyrik, Diss. Köln 1958). οίνο;, οίνου, οίνου bei Hesiod dreimal am Versende (589. 592. 596). Nach W. N I C O LAI, Hesiods Erga, Heidelberg 1964, 121 f dienen die Wortwiederholungen (vgl. auch die Motive Ziegen, Schatten und Essen) in diesem Fall „zur Intensivierung des Ausdrucks" (anders in der Winterdarstellung 504ff, wo sie einen kompositorischen Zweck verfolgen). — Als Nebenmotiv mag der Eros immerhin in Frage kommen. Hesiods Hinweis auf Frau und Mann behält Alkaios bei, während er auf Ziegen und Wein (Erg. 585), die in seinem Zusammenhang unbrauchbar sind, verzichtet. Vielleicht steckt in dem σκόλυμοζ, der im Altertum als Aphrodisiakum bekannt war (Plin. Nat. hist. 22, 86 f), eine (der Vorlage fremde) Anspielung. Die unmittelbare Nachbarschaft mit den γυναίκες μιαρώταται könnte zu dieser Vermutung führen (s. BOWRA, Lyric Poetry 160).

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erst am Schluß, dazu in unverbindlicher Form