Raumkonfigurationen in der Romantik 9783110231014, 9783110231007

Around 1800 there is a new symbolisation and narration of ‘internal spaces’, spiritual and psychic processes, states or

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Raumkonfigurationen in der Romantik
 9783110231014, 9783110231007

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Heimaträume, fremde Räume
Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen in Arnims »Isabella von Ägypten«
»Großmutter Laroche«: Erinnerungs-Räume der Jugendzeit in Bettina von Arnims »Die Günderode« und »Clemens Brentanos Frühlingskranz«
Eingerichtete Sehnsucht: Narrativierung des Wohnens in Bettina von Arnims »Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde«
»Eine Art Grimm gegen die Häßlichkeit«: Räume sozialer Ausgrenzung
Vom Missbrauch der Räume: Anmerkungen zu Heinrich Heine
Raumperformanz / Poetik des Raumes
Die Raumkonstrukte der Camera obscura
Zu E. T. A. Hoffmanns »Don Juan« und der literarischen Rezeptionder Opernszenen um den reisenden Enthusiasten
Ausstellungsraum und/oder Theaterbühne: Zur Rolle der bildenden Kunst im Selbstverständnis der romantischen Kunstkritik bei Brentano und Arnim mit einem neuen Ausblick auf Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer«
Techniken der Raum- und Zeitbeherrschung um 1800: Brentanos und Kleists »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« und Alexander von Humboldts »Kosmos«
»Amazonenrepublik« und »Raum von vier Dimensionen«: Zur Genese von Texten Arnims
Himmel und Halle: Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studenten- und Pilgerdrama
»Nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues«: Burgen, Schlösser und Paläste als poetologische Symbole in Klassik und Romantik
Naturräume
»Waldeinsamkeit«: Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus
»Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes«: Wasser-Räume und Poesie in der Romantik
Die beleidigte Natur: Undines Abschied und die Folgen
Transitorische, bewegliche Räume
»Zwischen beiden Welten als Vermittlerin«: Liminaler Raum bei L. Achim von Arnim
»Der grosse Einsiedler Pallast, worin viele tausend Gelehrte, Liebhaber, Sechswöchnerinnen, ungestört neben einander wohnen können.« Gedankenräume im Umkreis der »Zeitung für Einsiedler«
In der Kutsche: Heterotoper Raum und heterogene Gemeinschaft in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten«
Geschlossene Räume
Tapetentüren und geheime Kammern: Zur Struktur und Funktion des verborgenen Raums in Erzähltexten der Romantik
»Physik der Geister«: Arnims Erzählung »Die Majorats-Herren«
Der Ofen: Zur Ambivalenz des vertrauten Ortes in Texten der Romantik
Backmatter

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Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft

Band 7

Raumkonfigurationen in der Romantik

Eisenacher Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft Herausgegeben von Walter Pape

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

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Umschlagabbildung: Johan Christian Clausen Dahl (1788–1857): Blick aus einem Fenster auf Schloss Pillnitz (1824). Öl auf Lw., 46 × 70 cm. © Museum Folkwang, Essen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-11-023100-7

ISSN 1439-7889

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Satz: Walter Pape, Kçln Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

HEIMATRÄUME, FREMDE RÄUME Roswitha Burwick Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen in Arnims »Isabella von Ägypten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Barbara Becker-Cantarino »Großmutter Laroche«: Erinnerungs-Räume der Jugendzeit in Bettina von Arnims »Die Günderode« und »Clemens Brentanos Frühlingskranz« . . . . 15 Norbert Wichard Eingerichtete Sehnsucht: Narrativierung des Wohnens in Bettina von Arnims »Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde« . . . . . . . . . 25 Antje Roeben »Eine Art Grimm gegen die Häßlichkeit«: Räume sozialer Ausgrenzung . 35 Hartmut Kircher Vom Missbrauch der Räume: Anmerkungen zu Heinrich Heine . . . . . . . . . 45

RAUMPERFORMANZ / POETIK DES RAUMES Kerrin Klinger und Matthias Müller Die Raumkonstrukte der Camera obscura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ariane Ludwig Zu E. T. A. Hoffmanns »Don Juan« und der literarischen Rezeption der Opernszenen um den reisenden Enthusiasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Konrad Feilchenfeldt Ausstellungsraum und/oder Theaterbühne: Zur Rolle der bildenden Kunst im Selbstverständnis der romantischen Kunstkritik bei Brentano und Arnim mit einem neuen Ausblick auf Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

VI

Inhalt

Claudia Nitschke Techniken der Raum- und Zeitbeherrschung um 1800: Brentanos und Kleists »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« und Alexander von Humboldts »Kosmos« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Heinz Härtl »Amazonenrepublik« und »Raum von vier Dimensionen«: Zur Genese von Texten Arnims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Daniel Fulda Himmel und Halle: Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studenten- und Pilgerdrama . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Walter Pape »Nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues«: Burgen, Schlösser und Paläste als poetologische Symbole in Klassik und Romantik . . . . . . 139

NATURRÄUME Stefan Nienhaus »Waldeinsamkeit«: Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus . . . . . . . . . . . 153 Eva-Maria Broomer und Judith Purver »Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes«: Wasser-Räume und Poesie in der Romantik . . 161 Klaus Peter Die beleidigte Natur: Undines Abschied und die Folgen . . . . . . . . . . . . . 179

TRANSITORISCHE, BEWEGLICHE RÄUME Michael Andermatt »Zwischen beiden Welten als Vermittlerin«: Liminaler Raum bei L. Achim von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Renate Moering »Der grosse Einsiedler Pallast, worin viele tausend Gelehrte, Liebhaber, Sechswöchnerinnen, ungestört neben einander wohnen können.« Gedankenräume im Umkreis der »Zeitung für Einsiedler« . . . . . . . . . . . . 203

Inhalt

VII

Christian Schmitt In der Kutsche: Heterotoper Raum und heterogene Gemeinschaft in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

GESCHLOSSENE RÄUME Carsten Lange Tapetentüren und geheime Kammern: Zur Struktur und Funktion des verborgenen Raums in Erzähltexten der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . 239 Uwe Japp »Physik der Geister«: Arnims Erzählung »Die Majorats-Herren«. eine topographisch-vergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Yvonne Pietsch Der Ofen: Zur Ambivalenz des vertrauten Ortes in Texten der Romantik 261

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Vorwort

»Das Auge hat in sich Raum genug für eine ganze Welt« – Graf Friedrichs Worte in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart fassen das Paradox der Raumwahrnehmung in ein scheinbar einfaches Bild. In der Zeit um 1800 werden die ›Räume des Inneren‹, werden geistige und psychische Prozesse, Zustände oder Beziehungen, die sich unmittelbarer Anschauung entziehen, neu symbolisiert und narrativiert: Die Gehirnhöhlen werden begehbar (so in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen.), die subjektivierten Landschaften des Werther werden zu phantastischen Abbildern des Inneren. Im Gegensatz dazu soll das Kolloquium vor allem die erzählten ›realen‹ Räume als analytische Ausgangspunkte in ihrer Symbolfunktion und der Art ihrer Narrativierung erfassen. Es geht dabei um die kulturelle Kodierung solcher Raumkonfigurationen: Häuser und Zimmer, Möbel und Öfen, Schlösser und Türme, Klöster, Kirchen und Grüfte, Opern- und Ausstellungsräume mit ihren je verschiedenen Möglichkeiten des Abschließens und der Öffnung durch Fenster, Türen und anderen Schwellen. Jedoch auch die sich öffnenden Natur-Räume: Wälder, Gebirge und ferne Länder sollen in ihrer Konkurrenz zum geschlossenen Raum untersucht werden. Das Moment des Öffnens und Abschließens von Räumen kann die Perspektive von narratologischen Untersuchungen produktiv lenken, so können Erfahrungen der Grenze und räumlichen Beschränkung die Figurenzeichnung maßgeblich strukturieren. Die Analysen erzählter Räume und Architekturen und ihrer Beziehung zu ihren ›Bewohnern‹ und ›Besuchern‹ stehen auch im Zeichen des spatial oder topographical turn und tragen damit zu einer neuen Vermessung eines sowohl erzähl- und darstellungstechnisch als auch kulturanthropologisch zentralen Komplexes bei. Der Blick auf die erzählten Räume verstellt aber nicht den Blick auf den Raum als erkenntnistheoretisches Problem und hält sich natürlich fern vom Wutzschen Reduktionismus aufs Zuhandene, der ja in seiner Nachschrift des Federschen Traktats1 »über Raum und Zeit von nichts handelte als vom Schiffs-Raum und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt«. Arnims Konzept der vierten Dimension findet denn auch gehörige Beachtung, unter anderem durch Heinz Härtl, der in seinem Beitrag in diesem Band die entsprechenden handschriftlichen Aufzeichnungen aus dem Nachlass erstmals ediert: »Daß dann auch der Raum mehr als drei Dimensionen haben muß und die Zeit mehr Evolutionen als Vergangenheit, Gegenwart und

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Johann Georg Feder: Über Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantschen Philosophie. Göttingen: Dieterich 1787.

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Vorwort

Zukunft und das Denken außer dem Objekt und Subjekt noch ein drittes kennen muß ist wohl gewiß.« Zu Beginn der Beitragsgruppe »Heimat-Räume, fremde Räume« analysiert Roswitha Burwick die »Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen in Arnims Isabella von Ägypten« und geht dabei von Arnims Raumkonzeptionen aus. Sie geht den komplexen Vernetzungen der Raumkonzepte nach und zeigt, wie Arnim moderne Konzepte von Exil, Heimatlosigkeit und Verlust des eigenen (persönlichen und nationalen) Raumes gestaltet. Die verschlungene Narrativierung von Erinnerungsräumen der Kindheit in Bettina von Arnims Die Günderode und Clemens Brentanos Frühlingskranz arbeitet Barbara Becker-Cantarino heraus und geht dabei von Bollnows Raumvorstellung aus, nach der der konkreten Raum ein Medium und eine Funktion des Lebens ist. Die Semantik der Räume steht auch im Mittelpunkt der Ausführungen von Norbert Wichard, der sich ebenfalls einem Werk der Bettina widmet: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Es geht für Norbert Wichard nicht um das Thema ›Sehnsucht‹, sondern für ihn ruft die narrative Struktur das Prinzip der Räumlichkeit auf den Plan: Die ersehnte Nähe wird räumlich über das Wohnen, die Zimmereinrichtungen und die damit verbundene Privatheit imaginiert. Auch in Antje Roebens Beitrag geht es um eine Narrativierung des Wohnens, diesmal jedoch mit der negativen Konnotation von »Räumen sozialer Ausgrenzung«, wie sie in Therese Hubers Erzählungen Die Verkannte und Die Hässliche thematisiert werden. Antje Roeben zeigt, wie durch Räume Dominanzen und Machtstrukturen erzeugt werden, wie diese »mit Unheimlichem, Geheimnissen, sozialen Schranken und belastenden Erinnerungsstücken aufgeladen und ausgestattet« werden. Von einem anderem »Missbrauch der Räume« handelt Hartmut Kirchers Untersuchung zu Heinrich Heine, der das Verlassen eines vertrauten Schutzraums und damit Gefährdung und Heimatlosigkeit vor allem im Rabbi von Bacherach in den Blick nimmt und die Umfunktionierung bzw. Zweckentfremdung sakraler Räume sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen untersucht. Durchaus ästhetische Aspekte haben die »Raumkonstrukte der Camera obscura«, die Kerrin Klinger und Matthias Müller analysieren. Denn die neue Art der Wahrnehmung fordert vom Betrachter eine aktive Neuinterpretation dessen, was er sieht. Wenn Goethe Räume (Arbeitszimmer, Bibliothek, den Weimarer Theatersaal) als dunkle Kammern benutzt, verweist das indirekt auch auf die zeitgenössische Benutzung von Projektion mit der Laterna magica für theatralische Effekte auf der Bühne. Nicht mit solchen Fragen der Bühnenrepräsentation, sondern mit der narrativen Funktionalisierung von Opernszenen bei E. T. A. Hoffmann befasst sich Ariane Ludwigs Beitrag. Sie zeigt, wie das Opernhaus in der Literatur zu einem fast magisch exponierten Ort wird: »Die literarische Gestaltung von Raumstrukturen

eines Opernhauses« wird »als ›reale‹ Architektur und gleichzeitig als Bild seelischer Innenräume« erzählerisch inszeniert. Darüber hinaus ist interessant, das Hoffmanns fiktive Opernszenen in dem Fantasiestück wiederum tatsächliche Inszenierungen inspiriert haben. Mit der Narrativierung von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer und seiner Präsentation in der Berliner Kunstausstellung befassen sich die Beiträge von Konrad Feilchenfeldt und Claudia Nitschke. Feilchenfeldt bietet eine faszinierende und

Vorwort

XI

überraschende Lesart von zwei zentralen Raumkonstellationen: Einmal hebt er den Ausstellungs-Kontext und den von Brentano theatralisch inszenierten Dialog vor einer »Deckoration« hervor, zum anderen stellt er die im Bilde dargestellte Raumerfahrung in eine Tradition, die über Goethe bis zu Barthold Heinrich Brockes’ Das Firmament zurückreicht. Claudia Nitschke stellt die topographische Semantik von Friedrichs Bild ebenfalls in einen neuen Kontext; sie untersucht das Zusammenspiel zeitlicher und räumlicher Strukturen »anhand des romantischen Progressions- und Sehnsuchtsmodells« und kontrastiert Alexander von Humboldts These von der »unausgesetzt fortschreitenden Erweiterung unseres Gesichtskreises« mit den Lesarten des Friedrich-Gemäldes. Zur Thematik und Definition von Arnims Vierdimensionalität liefert Heinz Härtl mit der Datierung und Zusammenstellung von handschriftlichen Aufzeichnungen aus dem englischen Taschenbuch von 1803/04 und zwei Fragmenten aus dem Goethe- und Schiller-Archiv ein Konvolut, in dem dessen aus den Naturwissenschaften abgeleitete Raumtheorie und seine Gedanken über die zeitgenössische kultur- und sozialgeschichtliche Geschlechterproblematik präzisiert werden. Interessant ist, wie Arnim aus dem Modell dualistischer Geschlechterbeziehungen Möglichkeiten einer neuen Gesellschaftsordnung in drei- bzw. vierdimensionalen Räumen entwickelt, die sich u.a. auf seine Lektüre von Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman stützen. Dass in seinen poetischen Texten diese komplexen Theorien fehlen, begründet Härtl damit, dass Arnim in seiner Ästhetisierung eine Leichtigkeit des Erzählens anstrebte und komplexe philosophische Begriffe eher indirekt seinen Lesern zu vermitteln suchte. »Himmel und Halle: Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studenten- und Pilgerdrama« überschreibt Daniel Fulda seinen Versuch Handlungsschauplätze, die auf außerliterarische reale Räume verweisen, in Arnims Drama zu verstehen. Endlicher (Halle) und unendlicher (Jerusalem) Raum werden kontrastiert; Halle als »empirisches Raumgefüge« enthält durchaus Verweise, die über dieses hinausgehen, doch erst im ›Jerusalem‹-Teil stehen alle Räume im Kontext der Pilgerfahrt und werden ›surrealistisch‹. Walter Pape zeigt, wie in der Darstellung von Burgen, Schlössern und Palästen kulturelle und individuelle, weniger aber subjektive Identität verbildlicht werden. Die poetologische und kulturelle Symbolhaftigkeit der romantischen Schlösser und Paläste bei Arnim und anderen kann Walter Pape zufolge auch als eine ästhetische Auseinandersetzung mit drei zentralen Schlössern in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96) und ihrer Symbolik gelesen werden. Wasser und Wald, Waldeinsamkeit und Nixen gehören sicher zu den exponierten Naturräumen der Romantik. Sehnsucht und Grausen, reale und transzendente Welt treffen sich im feuchten Element, skeptische Selbstreflexion und ›Duftextrakt‹ (Ricarda Huch) treffen sich, wie Stefan Nienhaus darlegt, in der ›Waldeinsamkeit‹, deren problematische Vieldeutigkeit meist vergessen wird. Der Donaustrudel bei Grein im österreichischen Strudengau wird für Eva-Maria Broomer und Judith Purver zum Ausgangspunkt für die ›realitätsbezogene‹ Zweideutigkeit des Wassers, das sowohl lebensspendend als auch tödlich sein kann, und so zur Metapher für die Gefahren der Poesie selbst. – Klaus Peter liest Fouqués Undine konsequent von der

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Vorwort

Unmöglichkeit her, in der Moderne im Einklang mit der Natur zu leben: Und so wird der Verlust der Natur als Idylle in den Kontext der Geschichtsphilosophie der Frühromantik gestellt. Räume werden von anderen Räumen durch Grenzen geschieden; besonders die Überschreitung des Raums des Irdischen hin zum Jenseits einerseits und zur Poesie andererseits erweist sich als zentraler Aspekt der Romantisierung des Raums. Michael Andermatt geht von Arnims Auffassung aus, dass der Mensch im Tode in einen »Raum von vier Dimensionen« eingehe. Gleichsam die Vorbereitung auf die neue vierdimensionale Welt, wo sich alle Rätsel lösen, ist die Poesie. Andermatt untersucht Arnims romantisierten Raum als liminalen Raum, in dem mit dem Übergang von der dreidimensionalen in die Welt der vierten Dimension erzählerisch experimentiert wird. – Die ganze Raumvielfalt der »Gedankenräume im Umkreis der Zeitung für Einsiedler« fächert Renate Moering in ihrem Beitrag auf, angefangen vom imaginären romantisch-grotesken Einsiedlerpalast, den »Gelehrte, Liebhaber, Sechswöchnerinnen« bewohnen über die in der Zeitung für Einsiedler thematisierten Gärten und Landschaften bis hin zu ihren autobiographischen Bezügen, zum »Raumbedürfnis« Arnims. Auch hier finden ständig Grenzüberschreitungen statt, zeigen sich Räume als transitorisch. Einem zunächst sehr ›realistisch‹ erscheinenden Raum, der Kutsche, wendet sich Christian Schmitt zu; doch ist er weniger an einer Kulturgeschichte der Kutsche im Kontext von Arnims Isabella von Ägypten interessiert als daran, den Raum der Kutsche als Heterotopie im Sinne Foucaults zu beschreiben, der nicht nur die heterogenen Figuren und ihre Welten, sondern auch ihre literarischen Traditionen zusammenführt. Die Kutsche ist zwar auch ein geschlossener Raum, doch ein beweglicher und extrem transitorischer und eben deshalb nicht geheimnisvoll wie verborgene und wirklich geschlossene Räume. Solchen architektonischen Räumen und der damit verbundenen Konfrontation von Vertrautem und Fremden geht Carsten Lange vor allem bei E. T. A. Hoffmann nach und zeigt, dass solche Räume auch der indirekten Darstellung des Inneren der Figuren und des Unbewussten dienen. Einen topographisch und kulturell geschlossenen Raum thematisiert Arnims Erzählung Die Majorats-Herren mit der Enge eines Ortes, der Judengasse. Der Ort wird in der Erzählung jedoch, wie Uwe Japp zeigt, unterschiedlich konnotiert als Ort der Beobachtung, Ort des Todes und Ort der Posse. Der abschließende Beitrag von Yvonne Pietsch über einen geschlossenen Raum untersucht den Ofen als ambivalenten am Beispiel von Werken Arnims und der Kinder- und Hausmärchen; sie nimmt dabei ihren Ausgang von Jacob Grimms Abhandlung über den Ofen in seiner Deutschen Mythologie (1835) und arbeitet das Wechselspiel zwischen dem heimlichen und dem unheimlichen Ofen auch mit Blick auf Freuds Konzept des Unheimlichen heraus. Die Tagung wurde unterstützt durch eine Beihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Vereins der Freunde und Förderer der Universität zu Köln. Der Raum für die Vorstellung und die Diskussion der ersten Fassung dieser Beiträge lag unterhalb der Wartburg in Eisenach, das Achim von Arnim 1820 durchreiste und dessen »hübsche Sitze im offenen Garten« er in einem Tagebuchfragment von

Vorwort

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1820 (GSA 03/253) pries. Solche räumliche Offenheit zeitigte auch Früchte für die Offenheit der Diskussion des geschlossenen Kreises, der naturgemäß einige Fragen offen ließ. Denn im Raum der Wissenschaft gibt es keine (ab)geschlossenen Räume; Schiller verfocht noch kantisch optimistisch die Grenzenlosigkeit der Vernunft, von der er sagte: »sie erkennt keine andern Grenzen an als des Gedankens, und von diesem wissen wir, daß er sich über alle Grenzen der Zeit und des Raumes schwingt.« Hierin haben Poesie und Wissenschaft etwas gemeinsam, denn heute hat sich auch in Physik und Mathematik die vierte Dimension als Denkmodell etabliert. Arnim verbildlicht in seiner Einleitung zu den Kronenwächtern diese Grenzüberschreitungs-Problematik: »Wer mißt die Arbeit des Geistes auf seinem unsichtbaren Felde? Wer bewacht die Ruhe seiner Arbeit? Wer ehrt die Grenzen, die er gezo-

gen?« Die sichtbaren Grenzen einer wissenschaftlichen Diskussion sind viel greifbarer: Sie werden stets durch die Buchdeckel repräsentiert; wer sie aufklappt, öffnet jedoch das zwischen ihnen Verborgene wieder der Lektüre und Diskussion, was sich alle Beiträger des 7. Kolloquiums der Internationalen Arnim-Gesellschaft wünschen.

Köln, ein Jahr danach, im Oktober 2009 Walter Pape

HEIMATRÄUME, FREMDE RÄUME

Roswitha Burwick

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen in Arnims »Isabella von Ägypten«

Dachkammern, Kellerräume und einsame Häuser stehen Palästen und Prunkgemächern gegenüber, kleinste Wohnflächen brechen auf in Traumwelten und geographische Weiten, seelenvolle Gestalten sind schicksalhaft verbunden mit seelenlosen Gefährten, die sie verführen und korrumpieren. Diese vielschichtigen Räume existieren mit- und gegeneinander. Indem sie sich in einem ständigen Spannungsverhältnis befinden, können sie sich auflösen, neu formieren und liminale Grenzräume schaffen, in denen letztendlich nichts mehr klar unterscheidbar wird. In diesen Räumen verortet der Erzähler sowohl die fiktiven, als »real« konstruierten Gestalten neben den Figuren, die aus Mythologie, Märchen und Sage heraustreten, sich unter die »Lebenden« mischen und diese von sich selbst entfremden. Arnim instrumentalisiert damit auch den Erzähler, der sich selbst mit seinen Gestalten auf dieser Raumebene bewegt und von seiner eigenen Phantasie getäuscht, den Leser zu täuschen versucht. Die Erzählung selbst ist die Geschichte Isabellas, der Herrscherin des in der Fremde verstreuten Volks der Zigeuner, die dazu berufen ist, ihr Volk zurückzuführen in die »Heimat,« nach »Ägypten,« das jedoch keineswegs eine greifbare geographische Region ist, sondern als gestaltloser Raum konzipiert ist, dessen Vorstellung aus der Imagination und den Traumvisionen des Erzählers in die der Hauptgestalten transponiert wird. Das Finden des eigenen Lebensraumes ist damit keine Heimkehr in eine ideale Wirklichkeit, eine Rückkehr in das gelobte Land, sondern eine Wanderung, die mit Enttäuschung, Leid und Trauer verbunden, sich in einer grandiosen Traumvision aufzulösen versucht, letzten Endes jedoch offen und fragwürdig bleibt. Mit der Identifikation der Quellen für die »Geschichte« Isabellas und der »Geschichte« der Zigeuner problematisiert der Erzähler weiterhin seine »Geschichte«, indem er die Historizität des Volkes mit der Fiktionalität seiner Quellen und der Hauptgestalt vermischt. Neben den Standardwerken über die Geschichte der Zigeuner und Kaiser Karl V. verarbeitete Arnim auch die aus Volksliedern, Sage und Mythologie verbreitete Zigeuner- und Golemthematik.2 Auf der fiktionalen Ebene problematisiert dann der Erzähler seine Quellenlage, indem er berichtet, dass die »Geschichte« Isabellas nur aus den Berichten über ihre Rückkehr bekannt ist; über ihren Tod will der Erzähler von dem Reisenden Taurinius erfahren haben, der wiederum Einzelheiten über das Totengericht von einem Priester vernommen hatte, die dieser ihm aus einer Pergamentrolle vorgelesen hatte. Durch die vielfache 2

Arnim: Isabella von Ägypten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1254–1259.

Roswitha Burwick

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Verschachtelung der Quellen und Erzählebenen – historische Quellen, sakrale Dokumente, Reiseberichte, literarischer Text – werden nicht nur die Charaktere, sondern auch die ihnen zugeschriebenen Handlungsräume in ein komplexes Gefüge vernetzt, dessen Gesetze und Strukturen nicht genau bestimmt werden können, da sie keine Permanenz besitzen. Wie ich bereits an anderer Stelle zu beweisen versuchte, sind Arnims Raumvorstellungen eng mit den naturwissenschaftlichen Raumvorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verknüpft, denen er mit seiner Theorie von komplexen Vernetzungen und Wechselwirkungen eine eigenständige Gestaltung gab.3 Bereits in seinem Erstlingswerk, dem Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen (1799), hatte er Kants Phoronomie mit seiner spezifischen Kraftlehre erweitert, indem er neben den physischen auch die chemischen Wirkungen mit einbezog, die er dann mit der »freyen Repulsivkraft« in ein dynamisches Wechselspiel umsetzte, dessen Ursachen es zu erforschen galt. Wie Schelling, Ritter u.a. versuchte auch Arnim, die Problematik von »Duplizität« (den Dualismus der Polarität des Magneten) und »Triplizität« (der chemischen Wirkung der Elektrizität, und des Galvanismus, wie sie an der Voltaischen Säule zu beobachten waren) zu erklären. So stellte er Schellings geometrisch gedachte Linie der Polarität des Magneten in Frage, da sich die höchste Anziehungskraft auf den Mittelpunkt der Schnittfläche beschränken würde.4 Er argumentierte dagegen, dass die magnetische Wirkung nicht durch die Gegensätze von Punkt und Fläche, sondern durch das gleichzeitige Mit- und Gegeneinander erfolge, da »d i e P o l e w i r k l i c h n i c h t P u n k t e , s o n d e r n z w e i D u r c h s c h n i t t s f l ä c h e n s i n d , die man aber natürlich in den meisten Fällen so betrachten kann, als wenn die Anziehung in einem Punkte in ihrer Mitte vereinigt sey.«5 Nach Arnim zerfällt damit der Magnet durch die beiden schneidenden Flächen » i n d r e i T h e i l e , i n z w e i g l e i c h e u n d e i n e n u n g l e i c h e n T h e i l : also auch hier die Duplicität in der Triplicität; also auch hier die Erschöpfung der Combination zur Verbindung des Entgegengesetzten zu Einem, die ich schon für die Mischung der Magneten dargethan, die sich endlich auch für die nothwendige Zahl der Individuen in der magnetischen Kette nachweisen läßt.6

Durch die Integration der Dualität (zwei Schnittflächen) in die Triplizität (Anziehung in einem Punkt) wird die Fläche zum zweidimensionalen Raum, durch den mathematischen Punkt der Mitte – den ungleichen und kleineren Teil, den man sich

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Burwick: »Verließ die Physick ganz um Trauerspiele zu machen« und: Burwick: »Ahndung, Combination und Metamorphose«. Vgl. hierzu auch den in diesem Band veröffentlichten Aufsatz von Heinz Härtl, der Schellings und Arnims Diskussion über die 3. Dimension bespricht. Vgl. Heinz Härtls Beitrag in diesem Band S. 111–120: »Amazonenrepublik« und »Raum von vier Dimensionen«. Arnim: Ideen zu einer Theorie des Magneten 1801. Werke und Briefwechsel, Bd. 2, S. 367. Vgl. dort auch die Anm. Und zwar müssen die beiden gleichen Theile kleiner als der größere seyn, weil sonst unerklärlich bliebe, wie in diesem der neutralisirte Punkt, (Mittelpunkt,) sich habe bilden können. Arnim: Ideen zu einer Theorie des Magneten 1801 – ebenda, Bd. 2, S. 367f .

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen

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in einer vertikalen Linie vorstellen kann – zum dreidimensionalen Raum erweitert, in dem sich die Wechselwirkungen vollziehen und damit sichtbar werden können. Mit der weiteren Integration der elektrischen Wirkungen mit den magnetischen Wirkungen – dem Elektromagnetismus – wird damit ein Grenzraum geschaffen, in dem sich das Kräftespiel frei entfalten kann; in dem sich die Anomalien zu den vorher aufgefundenen Gesetzen dem Forscher offenbaren und diese wieder in Frage stellen; in dem die Empirik der Naturwissenschaft von der Vielfalt der Naturerscheinungen abgedrängt wird; in dem die Phantasie sich mit der Ratio auseinandersetzt. Dieser Raum ist strukturiert durch das System frei wirkender Kräfte, die einen freyen Austausch von Qualitäten ermöglichen, wodurch nicht allein die Identität der Körper, sondern auch die des sie umgebenden Raumes verändert wird.7 In die Vernetzung der Elektrizität mit dem Magnetismus wird nun auch Arnims Lichttheorie mit einbezogen, wenn er argumentiert, dass auch hier alle Wirkungen im Verhältnis ihrer Beziehungen zu einander erfolgen. Erschöpfung aller möglichen Combinationen entgegengesetzter Zustände zur Verbindung derselben in einem Einzelnen, ist Bedingung aller Bewegung in der Natur, also auch der galvanischen oder electrischen. Es giebt zwei einander entgegengesetzte electrische Zustände: +E und –E, und ++, +–, – – sind alle mögliche Combinationen derselben. Demnach werden zur Hervorbringung electrischer Thätigkeit zwei Klassen erfordert: eine, die eines einfachen; die zweite, die durch diese einfachen in einen zwiefachen Zustand versetzt werden kann, und von diesen zwei Klassen drei Individuen. So sehen Sie dieses von Ritter entdeckte Gesetz der galvanischen Action, welches ich auch bei genauerer Betrachtung im Magnetismus gefunden, auf eine scheinbar scherzhafte, aber doch wohl ernsthafte Art bewiesen; auch die Nothwendigkeit der Anschauung der Materie nach drei Dimensionen kann hiernach vollständig bewiesen werden.8

Diese Grundkonzeption der Verschiedenheit und Veränderlichkeit alles Daseienden im Verhältnis zu dem ihm umgebenden Raum entwickelt Arnim in einem handschriftlichen Konzept, in dem er sich mit den Gesetzen der Elemente auseinandersetzt.9 Er führt aus, dass durch die Veränderlichkeit der Erfahrung die Verschiedenheit des Daseienden und damit »Einheiten (Individualität)« angenommen werden müssen, »deren uns unbekannte Ursach wir Qualität nennen wollen.«10 Insofern diese Anschauungen im Raume sind, so müssen diese Q u a l i t ä t s - E i n h e i t e n auch R a u m e i n h e i t e n , und jene Qualität Ursach dieser Raumeinheit seyn. 4. Sind diese verschiedenen Qualitätseinheiten zugleich Raumeinheiten, wie vorher bewiesen, so wird Verändrung der Qualitätseinheit auch Verändrung der Raumeinheit sie wird Ve r b i n d u n g oder S c h e i d u n g Trennung seyn aber umgekehrt da die Raumeinheit erst Folge der Qualitätseinheit ist, nicht jede Verändrung der Raumeinheit wird auch Aendrung der Qualitätseinheit seyn. Das, was das Uebergehen der Qualitätseinheiten der Verbindung bestimmt wollen

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Auch in seinen Beiträgen zur Elektrizität und zum Licht entwickelt Arnim dieses Konzept des dreidimensionalen Grenzraumes. Vgl. Arnim: Anmerkungen zur Licht-Theorie – Werke und Briefwechsel, Bd. 2, S. 283. Ebenda, S. 283. Arnim: – GSA 03/308. Arnim: – ebenda, S. 1v.

Roswitha Burwick

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wir aus Analogie mit uns, die wir auch aus Liebe zum Individu von der Gattung in die Familienverbindung zurückgezogen werden es W a h l v e r w a n d t s c h a f t nennen.11

Nach Arnims Theorie kann demnach eine Qualitätsveränderung der Individuen auch zur Ursache einer Qualitätsveränderung der Struktur des Raumes werden, d.h. der in dem Grenzgebiet verortete Raum stellt neue Anforderungen an die Erfahrungsmöglichkeiten des Beobachters. In einem Handschriftenfragment spekuliert Arnim über eine Raumvorstellung von vier Dimensionen, die durch einen im Innern verorteten ideellen Pol konstruiert werden kann. In dieser Raumeinheit »liegt alles aufgespeichert was [wir] zu vergessen scheinen, darum scheint es nur daß unsre Gedanken keine Zeit brauchen, freilich keine Zeit wie diese.«12 Aus diesem inneren ideellen Pol heraus ist es dem Menschen möglich, durch geistige Berührung eine höhere Welt und die diese Welt bestimmenden Gesetze zu ahnen. Gewöhnlichen Menschen eröffnet sich diese vergeistigte Welt in der Liminalität der Sterbestunde; dem Künstler gestaltet sich diese Ahnung in seinem Werk:13 Warum ist ein gutes Bildniß mehr als der Mensch selbst? Wie kann ein Mensch darin eine ganze Welt zeigen? |6r| Weil inso fern ihm der ideelle Pol geöffnet der Mensch mehr umfasst, als in ihm und in aller Welt sichtbar, er eröffnet allen Wesen diesen ideellen Pol; daher selbst bey gewöhnlichen Menschen ihre Sterbereden merkwürdig, wo ihnen das Beste was sie gedacht vortrit in dem Annähern zur höheren Dimension. Für Künstler muss es ein sehr reicher Augenblick seyn, ein Beyspiel giebt Klopstock.14

Arnim beginnt die »Zueignung an meine Freunde Jakob und Wilhelm Grimm« mit dem Bild des feinen Strauches, der, in fremde Erde verpflanzt, sich den Strukturen des von ihm bewohnten Raumes zu fügen versucht: mit dem Aufgange der Sonne blüht er auf, mit dem Untergang der Sonne schließt er die Blüten. Nur das verstehende Auge des Dichters erkennt die ihm eigenen verborgenen Gesetze: durch die Berührung seiner Hand – d. h. durch seine Liebe – vermag er es, sein »Leben« nach dem ihm eigenen Gesetzen zu gestalten. So dankbar ist er diesem Licht der Welt, Das ihn erweckt, und färbt, und frisch erhält; Doch mehr als Licht ist ihm mein Aug’ verwandt, Das seinen Sinn im eignen Licht verstand! Wenn ihm ein Händedruck von mir geschenkt, Gelebt ist dann sein Tag, sein Blatt gesenkt; Er wünscht sich Nacht, wenn es noch helle tagt, Daß keine Fliege summt, kein Räuplein nagt;

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13 14

Arnim: – ebenda, S. 1v. Vgl. Härtl: »Amazonenrepublik«, S. 116. Es handelt sich hier um die beiden Fragmente , GSA 03/254 und , GSA 03/258. Zitiert wird hier aus GSA 03/258. Vgl. zur Liminalität in Arnims Werk: Andermatt: »Raum von vier Dimensionen«, S. 1–17. Arnim: . GSA 03/258. Vgl. auch Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 228–230.

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen

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Er wünscht sich Nacht, weil er so innig liebt, Und weil ihn stört, was ihn nicht wieder liebt. Falsch nennt die Welt den Strauch: Berühr mich nicht, Er heißt: Umschließ mich Freund, ich scheu das Licht.15

Arnim schließt die Zueignung mit der Bitte an die Freunde, seine Erzählungen in einem Raum zu verorten, in dem es ihm möglich wird, seine ihm eigene Erzählform zu entfalten, d.h. es der Freiheit der dichterischen Imagination zu überlassen, die Erzählebenen und damit die Handlungsräume in immer neuen Kombinationen durchzuspielen. Was uranfänglich, doch der Welt verbunden, Was keinem eigen, was sich selbst erfunden, Was unerkannt, doch nimmer geht verloren, Was oft erstirbt und schöner wird geboren. So nehmt dies Buch, es ist das schönste nicht, Doch ist’s empfangen und gereift am Licht, Es ist sich selber keiner Schuld bewußt, Und was ihm fehlt, das fehlt der Menschenlust.16

Er kann so argumentieren, dass in den Grundstrukturen der in der Fiktion gestalteten »realen« Welt die Raumstrukturen von Mythos, Sage und Märchen immer noch vorhanden sind und nicht – wie die Brüder Grimm es in ihren Sammlungen getan haben – einem »geschlossenen Ganzen« zugeordnet werden können, das der Vergangenheit angehört und der Moderne fremd bleiben muss. Durch die dichterische Phantasie wird der Erinnerungsraum der Vergangenheit in Beziehung gebracht mit dem gelebten Raum der Gegenwart. Die Vermischung von Mythos, Sage und Märchen mit den historischen Ereignissen um Karl V. schafft eine Dynamik, die eine neue Deutung der Geschichte provoziert. Im Gegensatz zu den Grimms bedeutet »Wahrheit« für Arnim nicht die Trennung von Vergangenem und Gegenwärtigen; Objektivem von Subjektivem; er plädiert vielmehr für die Gleichzeitigkeit der Erlebnis- und Erzählebenen, indem er die persönlichen und historischen Ereignisse, hier die Begegnung Isabellas mit Karl V., auch in die Erlebnis- und Erzählräumen von Dichter und Leser verortet und sie damit zeitlos macht. Ihr Freunde wißt, daß ich von keiner Schule, Daß ich um keines Menschen Beifall buhle; Ihr wißt, daß wir uns oft um Wahrheit stritten, Und keinen Irrtum an einander litten: In Eurem Geist hat sich die Sagenwelt Als ein geschloss’nes Ganze schon gesellt, Mein Buch dagegen glaubt, daß viele Sagen In unsern Zeiten erst recht wieder tagen, Und viele sich der Zukunft erst enthüllen, Nun prüfet, ob es Euch das kann erfüllen.17 15 16 17

Arnim: Isabella von Ägypten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 614, Z. 10–21. Ebenda, S. 616, Z. 12–19. Ebenda, S. 616, Z. 20–29.

Roswitha Burwick

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In der »Anrede an meine Zuhörer im Herbste 1811« definiert Arnim erneut das Handlungsfeld seines Erzählraums, indem er den Wunderglauben der Kindheit (Schlaf, Nacht) und der Phantastik der Traumwelt absetzt von der Nüchternheit der rational bestimmten Tagwelt des Erwachsenen. Die Phantasie des Dichters wird nun die geistige Kraft, die den von Reflexivität und Zweifeln verschütteten Handlungsraum neu erschließt, damit das Wechselwirken von kreativer Leistung und Rezeption »in ewiger Verwandlung und Vergeltung« durch die »Begeisterung« eines dritten dynamisiert werden kann. Die Duplizität von Dichter und Werk schafft damit eine zweidimensionale Begegnungsebene, die durch den Zutritt, d. h. die physiologisch und zugleich auch chemisch gedachte Reaktion des Lesers aktiviert wird. In der »Berührung« von Dichter und Leser im dichterischen Werk wird diese Begegnungsfläche zur Dreidimensionalität der Triplizität erweitert, in der Phantasie und Begeisterung Qualitäts- und Raumveränderungen mit sich bringen können. [...] nur die wenigen, die sich der Begeisterung frei überlassen haben, ohne sie beherrschen zu wollen, die bleiben unverwandelt, und kommen ohne ein solches Leiden zum Urquell des höheren Lichtes, das eben so die Theorie einer andern Welt ist, wie unser Licht, ohne von einer Theorie erfaßt zu werden, die Theorie aller unsrer Naturerscheinungen aufschließt.18

Mit Dichter/Erzähler, Leser/Zuhörer und Text sind drei Raumeinheiten geschaffen, die sich nun gegenseitig durchdringen und durch ihr In- und Miteinander sich selbst und damit auch den Raum verändern können. Arnim kompliziert diese Konstellation weiter, indem er die Rezeption eines gedruckten Textes noch einmal in Leser und Vorleser differenziert. Dieses Verhältnis fächert er weiter auf, indem er den Leser eines vorgegebenen Textes von der Unmittelbarkeit des Erzählers unterscheidet, der die Geschichte immer wieder »ganz von frischem noch einmal erzählen« kann. Erzähler, Hörer und Text »bewohnen« somit einen Erzählraum, der durch den Austausch von gemeinsamen Erfahrungskomponenten Qualitätsänderungen erfährt.19 Wie in einer chemischen Reaktion wird dieser Raum durch die frei wirkenden Kräfte der Beteiligten dynamisiert: der Erzählvorgang wird damit ein schöpferischer Akt, in dem nicht nur die fiktionalisierte historische Textgestaltung, sondern auch die Entstehungsgeschichten der anthropomorphen Gestalten des Alrauns, des Bärenhäuters und des Golems gemeinsam vollzogen wird. Die bereits in der »Zueignung« angelegte Metapher des in die Fremde verpflanzten Strauches wird in der »Anrede an meine Zuhörer« mit der Theorie des Lichts, das potentiell alle Naturerscheinungen aufschließen kann, wieder aufgegriffen und in der Novelle thematisiert und problematisiert, indem Arnim die Figuren von der Nacht- in die Tagwelt überführt, sie rationalisiert und damit langsam entzaubert. Das Landhaus ist der Nacht zugeordnet; als Wohnraum von Isabella wird es durch den Mond, der das von der Sonne reflektierte kalte Licht symbolisiert, erleuchtet. Dem Landhaus, dem Ort der ersten Begegnung von Isabella und Karl, sind die Städte Buik und Gent gegenübergestellt, in denen sich die wechselvollen Ereignisse

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Ebenda, S. 618. Ebenda, S. 621.

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen

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in wenigen Tagen und Nächten abspielen. Die Liebesnacht in Gent und die Zeugung des Sohnes Lrak, der das Herrschergeschlecht Michaels in Ägypten fortführt, sind begleitet von der Erscheinung des Kometen, der das Licht der hellen Sommernacht in seiner Bahn durch das All in der Weite des Kosmos reflektiert. Im Moment dieses Aufbruchs der dreidimensionalen in die vierdimensionale Welt reift Karl vom dahinvegetierenden Thronfolger zum Herrscher: »[…] er stand innerlich, wie ein Stern hinaufgerissen, über der Welt, mit der er bis dahin fortvegetiert hatte; was er künftig täte und spräche, alles schien ihm bedeutsam.«20 Auch Isabellas Transformation aus der kindlichen Naivität zur fraulichen Reife vollzieht sich in Bildhaftigkeit und der Metaphorik des Sehens: Denn wie ich mir Dir gegangen, ahndete ich von allem dem nichts; und sieh, wie die Spinnweben am Baum im Mondschein sichtbar glänzen, während ich das Tauwerk des Schiffes dort im Dunkel nicht unterscheiden kann: so fühle ich höhere Wege und ahnde doch nichts, was mir in den nächsten Tagen bevorsteht.21

Eng vernetzt mit der Erfahrung der liminalen Raumvorstellungen der geschlossenen Räume, in denen die Dimensionen aufbrechen und den Blick in eine höhere Welt öffnen, sind die Erfahrungen in den Weiten der Natur, in denen psychologisches Erleben und Träume miteinander verschmelzen. So markiert der Dornstrauch auf der Grenze einer Feldmark, unter dem Isabella in einen tiefen Schlaf versinkt und die Vision von der Rückkehr ihres verstoßenen Volkes nach Ägypten sowie der Geburt ihres Sohnes hat, eine Stufe der Sublimierung, die in der Apotheose des Schlusses gipfelt. Das Schloss Karls wird zunächst zum Raum der Ernüchterung über seine Liebe zu Isabella, die von realpolitischen Überlegungen bestimmt wird, und der Entzauberung des Alrauns. Die Novelle steigert damit die Räume der privaten Sphäre (Gartenhaus), der gesellschaftlichen Sphäre (die Städte) und der politischen Sphäre (Schloss) zur Stufe der vergeistigten Sphäre der Pyramide und der Kathedrale, in der beide Hauptfiguren ihre Körperlichkeit verlieren, um sich in den »Gefilden der ewigen Gedanken« wieder zu begegnen. In dem von Karl selbst erbauten prächtigen Grabmal in der Klosterkirche öffnet sich die »irdisch geschlossene Decke« im Moment seines Todes zu einem vergeistigten Handlungsraum, in dem seine Sehnsüchte, seine Trauer und der Wunsch nach Unsterblichkeit in der Gestalt Isabellas zusammenschmelzen. Auch Isabellas Tod erfolgt in dem von ihr gebauten Grabmal in der Pyramide. Die Architektur der Kirche, die »wie betende Hände unzählige Blütenknospen und Reihen erhabener Bilder« zur Spitze des Baues mit dem Kreuz emporrichtet, symbolisiert die Bewegung nach oben, mit der die Gedanken aus dem Innern Karls aufsteigen. Im Gegensatz zu der nach oben sich verengenden Projektion des von Karl gedachten Raumes entfaltet sich der Raum Isabellas in die von unzähligen Quellen durchzogene Weite des Niltals. Damit werden auch die kulturellen Erfahrungsräume von Ost und West mit einander in Berührung gesetzt.

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Ebenda, S. 693. Ebenda.

Roswitha Burwick

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Bereits in seinem Schüleraufsatz von 1797 hatte Arnim auf eine höhere Welt hingewiesen, in der die Kette der Wesen zusammenschmilzt und in einem Zustand der Vollkommenheit, in dem Zeit und Raum nicht mehr existieren, fortdauern kann: »Vielleicht, daß einst die Kette der Wesen zusammenschmilzt, und daß sie dann mit dem Gefühle der wahrgenommenen Vollkommenheit ohne Form von Zeit und Raum fortdauert.«22 In dem handschriftlichen Fragment spezifiziert Arnim diesen Raum von vier Dimensionen, zu dem der Mensch nur im Sterben Zugang findet, da nun der »eine Pol versinkt zu bloßen Dimensionen« während der »andre die vierte in einem neuen Raume in einer neuen Zeit« gewinnt.23 Nur hieraus läst sich die Evoluzion der Welt durchs |1r| Sterben erklären, sichtbar, wägbar geht nichts fort, sichtbar wägbar kommt nichts bey der Belebung und doch sind alle letzten Gesetze dieses Sichtbaren Wägbaren ein Räthsel, weil sie jenseits bestimmt sind. Also im Sterben, wo der eine Pol versinkt zu blossen Dimensionen, gewinnt der andre die vierte in einem neuen Raume, in einer neuen Zeit in der er nach der Idee beständig fortgelebt hat, wo er das Beste wie das Schlimmste, was ihn geistig beschäftigt lohnend und |1v| strafend wiederfindet.24

Die verschiedenen Handlungsräume der Charaktere weiten sich konzentrisch aus, indem der weibliche Handlungsraum des Gartenhauses, der anfangs von Bella und Braka dominiert ist, integriert wird in den gesellschaftlichen Handlungsraum, in dem die Liebesnacht Karls und Isabellas statt findet. Isabella wird hier von ihren Gefährten getrennt, findet sie aber wieder im Schloss, dem Handlungsraum Karls, der durch die kurze Begegnung der Liebenden zu einem Raum wird, in dem politische und kulturelle Missverständnisse ausgetragen werden. Wieder spalten sich die Handlungsräume in weiblich/männlich, die jedoch am Ende erneut durch die visonäre Vereinigung der beiden Liebenden verbunden werden. Trotz der Markierungen eines harmonischen Liebestodes, der sich in der Vierdimensionalität einer vergeistigten Sphäre vollzieht, wird deutlich, dass diese Apotheose nur durch das Spannungsverhältnis zwischen Isabella und Karl möglich wird. Gerade in dem Mitund Gegeneinander trennen und vermischen sich die kulturellen und geistigen Handlungsräume: West und Ost, Christentum und Orientalismus, von einander entfremdet durch die Architektur von Klosterkirche und Pyramide, finden ihren Sinnzusammenhang in den kulturell bestimmten religiösen Handlungsräumen, in denen die Menschen ihre letzte Ruhe finden. Die einzelnen Handlungsräume werden somit allein von den Figurenkonstellationen bestimmt, die im steten Mit- und Gegeneinander agieren und damit zugleich zu Ursache und Wirkung werden. So ergibt sich bereits im Gartenhaus eine Reihe von Konstellationen, konstruiert aus »Duplizität in der Triplizität«, in immer wechselnden Kombinationen der einzelnen Figuren ausgespielt, die die Qualitäten der Individuen und des Handlungsraums beständig verändern. (Bella – Braka: Bella – Braka – Michael; Bella – Alraun: Bella – Alraun – Karl; Bella – Alraun – Michael; Alraun – Bella; Alraun – Bärenhäuter; Alraun – Bella – Bärenhäuter; Alraun – 22 23 24

Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 1, S. 262. Arnim: . GSA 03/258. Arnim: . GSA 03/258.

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen

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Braka – Bärenhäuter, etc.). Jeder der Handlungsräume wird von lebenden, wiederbelebten und künstlich erschaffenen Gestalten bewohnt, die fest in die gesellschaftlichen Strukturen eingebunden sind. Sie werden offen als fremdartig und nicht zugehörig identifiziert, agieren gemäß ihrer zwiespältigen Natur, und werden trotz ihres grotesken Aussehens als menschliche Wesen akzeptiert. Da nach Arnims Theorie ein »höheres Spiel der Kräfte auch in den gemeinsten Mischungen sich offenbart«,25 wird ihre Gegenwart zum entscheidenden Faktor in der Verbindung der mythischen Geschichte der Zigeunerkönigin Isabella und der Realgeschichte Karls V. Die Novelle beginnt mit einem vom Türschieber eingerahmten Bild Isabellas, in dem sich Farben, Düfte und Lichterscheinungen vermischen: Bella streckt den dunkelgelockten Kopf mit den glänzenden schwarzen Augen zum Schieber hinaus in den Schein des vollen Mondes, der »glühend wie ein halbgelöschtes Eisen aus dem Duft und den Fluten der Schelde eben hervor kam, um in der Luft immer heller wieder aus seinem Innern heraus zu glühen.«26 Das Rot von Brakas Mantel steht im Kontrast zum Schwarz der Haare und Augen Bellas. Obwohl die beiden Frauen räumlich voneinander getrennt sind, werden sie durch die Farbenkombination – Rot ist der farbige Schatten von Schwarz – auch mit einander verbunden. Der Einbruch der phantastischen Welt in die als »Realität« kodierte Geschichte ist vorbereitet durch Mythen, die besonders von den in der Fremde lebenden Völkern zur Bewahrung ihres kulturellen Erbes gepflegt werden. Die Erzählung Brakas von Michaels Tod, die Verheißung der Rückkehr der Zigeuner aus dem Exil, und das Ritual des Totenmahls symbolisieren diese mythischen Strukturen, die unterbaut werden durch den Traum Isabellas und den auf der Schelde dahintreibenden Leichnam Michaels, eine Szene, die Arnim bildhaft festhält. Die durch den Tod des Vaters ausgelöste »Vergeistigung« Isabellas erhält ihr Gegengewicht durch die Erzählung Brakas von der Wette des Erzherzogs, der sich den Gespenstern im Landhaus aussetzen will, um seinen Mut zu beweisen. Isabella spielt nun den Geist, es kommt zur Begegnung mit Karl, der durch seine Furcht nun fest von dem Einfluss der Geisterwelt auf die »Realität« überzeugt wird. Mit dem Eintritt Karls in das Landhaus und der Begegnung mit Isabella verändern sich die Qualitätseinheiten ihres scheinbar geschlossenen und daher geheimnisvollen Handlungsraums, der bisher durch die Kultur der aus der Heimat verbannten Zigeuner bestimmt war. Die Welt Isabellas mit dem Zauberbuch, den Todesritualen, den Verheißungen der Rückkehr aus dem Exil in die Heimat und der Prophezeiung der Geburt eines Erlösers vermischt Christliches mit Heidnischem und repräsentiert damit einen Handlungsraum, der, in einer ihm fremden Umgebung verortet, seine Akteure als Außenseiter stigmatisiert. Doch auch Karls Welt ist problematisiert: Karls Träume, sein Gespensterglaube und Cenrios Täuschung Adrians mit der Fälschung eines Werks von Petrus Lombardus kennzeichnen auch diese Welt als einen Grenzraum, in dem die Realitätsebenen nicht mehr klar zu unterscheiden sind, da die Akteure täuschen und getäuscht werden. So stehen sich 25 26

Arnim: Göthe’s Farbenlehre. GSA 03/355. Arnim: Isabella von Ägypten – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 622.

Roswitha Burwick

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Isabellas und Karls Welten keineswegs diametral gegenüber: sie sind vielmehr die Flächen, auf denen sich die Grenzen zwischen Realität und Geisterwelt vermischen. Als Karl Bella in Buik wiederbegegnet, sieht er sich ganz in seinem Glauben bestätigt: »Cenrio, sagte er, wir sind in den Händen von wunderbaren Geistern, wir glaubten mit ihnen zu spielen und sie spielen mit uns; ich möchte fliehen, aber ich kann nicht, sie ist zu schön! – «27 Die erste Begegnung Karls und Isabellas, gekennzeichnet durch die physikalischen und chemischen Gesetze der Wahlverwandtschaft, bringt Veränderungen, die von nun an den Verlauf der Erzählung bestimmen. Isabellas Wunsch, an Karls Welt teilzuhaben, wird zum Wunsch nach Geld und Reichtum, der nur durch die Zauberkräfte aus Michaels altem Buch erfüllt werden kann. Die Macht des Geldes führt mit der Schaffung des Alrauns auch zur Schaffung eines neuen Handlungsraums, der nun durch die Gesetze von Mythologie und Realität bestimmt wird. Beide Welten durchdringen sich und werden durch die komplexen Gesetze bestimmt, die das Ineinander der Kräfte und Gegenkräfte, die stets in einem gewissen Verhältnis zu einander stehen, vorantreiben. In diesem hybriden Raum ersteht nun auch die Märchengestalt des Bärenhäuters sowie des Golem, Isabellas Doppelgängerin, eine Figur aus der jüdischen Sagenwelt. Diese seelenlosen Gestalten fügen sich wohl in die vorgegebenen Strukturen ein, verursachen jedoch durch ihre »doppelte Natur« Verwirrung und Leid, da diejenigen, die sie »ins Leben riefen,« nicht mehr unterscheiden können zwischen dem Wahren und dem Vorgegebenen. Das Spiel von Täuschenden und Getäuschten wird nun auf verschiedenen Ebenen – auch durch die Ironie des Erzähler – und in verschiedenen Kombinationen durchgeführt: Braka erinnert Bella daran, dass Cornelius nur eine »alte Wurzel« ist, der man kein Unrecht tun kann, »eine andre wird mir nichts dir nichts klein geschnitten und gekocht;«28 Durch gutes Essen gewinnt die irdische Natur des Bärenhäuters frisches Leben, so dass er sich immer mehr überzeugte, »er werde sie nicht mehr so geruhig zu Grabe bringen, wie sie sonst darin gelegen, auch erhob sich zuweilen ein solcher Streit zwischen dem lebenden und verstorbenen Körper in ihm, dass es ihm über der ganzen Haut zuckte und juckte.«29 Begegnung und »Vermischung« von Lebenden und Scheinlebenden treiben die Handlung voran und führen schließlich zur »Entzauberung«, zur Resignation und zu Verzicht. Die den anthropomorphen Gestalten anfangs zugesprochenen geheimen Kräfte verlieren an Wirksamkeit oder werden verinnerlicht, indem sie psychologisiert werden zu den Charaktereigenschaften von Sinnlichkeit, Habsucht und Geldgier, die das Leben von Kaiser Karl V. letztendlich bestimmen. Die alte mythologische Welt der vergrabenen Schätze ist aufgebrochen und säkularisiert in der modernen Welt des Kapitalismus; der aus den Tiefen der Erde durch Magie geborene Alraun ist als Finanzkraft unentbehrlich geworden für die Realpolitik von Karl, so dass er ihm seine Liebe zu Isabella opfert, um ihn an sich zu binden.

27 28 29

Ebenda, S. 677. Ebenda, S. 671. Ebenda, S. 672.

Die Vielschichtigkeit der Raumvorstellungen

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[...] er sollte ihr an der linken Hand angetraut werden, und mit ihr in einem Hause unter den Titel ihres Feldmarschalls wohnen, doch von Tisch und Bett geschieden sein; nur müßte er geloben, um sich dieser Auszeichnung würdig zu machen, mit unermüdlichem Fleiße alle verborgnen Schätze aufzusuchen, und ihm, als dem Schützer des künftigen Zigeunerreichs, zu überliefern.30

Während Isabella sich von dem Alraun befreien konnte, bleibt Karl ihm verfallen. Die Definition der magnetischen Pole als »Durchschnittflächen«, in denen »die Anziehung in einem Punkte in ihrer Mitte vereinigt sey« könnte angewendet werden auf die zweite Begegnung Karls mit Isabella in Buik, da hier ein Handlungsraum geschaffen ist, in dem inmitten der größten Verwirrungen und Verwechslungen aller Personen Karl und Isabella zusammentreffen und in einem Moment der Vereinigung zu sich selbst finden und eine höhere Welt erahnen. Es ist charakteristisch für Arnims Erzählkunst, dass er gerade hier das Groteske mit dem Erhabenen überlagert: Wie vergebens quält uns das Verhältnis zu manchem Menschen; könnten wir uns einbilden, er sei ein Toter, eine Erdscholle, eine Wurzel, unser Kummer und unser Zorn müßte verschwinden, wie aller Gram über unsre Zeit, wenn wir nur endlich gewiß wüßten, daß wir bloß träumten.31

Und mit einem Bezug auf den Anfang und dem Hinweis auf die Sensibilität des in fremde Erde verpflanzten Strauches fährt er mit einem Naturbild fort: Wenn es sich in stürmender Nacht, zuweilen in Blumenbeeten ereignet, daß ein Paar getrennte Blumenkelche zusammengebeugt werden, und sich nicht erkennen, bis der Mond wieder hervortritt, so ist die Freude stumm, die Grillen singen aber davon die lange Nacht bis zum Morgen, wo die Vögel sie ablösen.32

Bellas Erzählung von der »alten Wahrsagung« ihres Volkes, nach der ein Kind von ihr und »einem Weltbeherrscher die letzten Unglücksscharen unserer verfolgten Untertanen zum segensreichen Nil würde führen«,33 reißt auch den Erzherzog aus seiner bisherigen Lebensweise. Er wird sich der Verantwortung als zukünftiger Herrscher bewusst und auch Bella ist von ähnlichen Gefühlen und Ahnungen überwältigt, die sie vorbereiten auf den Verrat Karls und ihre Rolle als Königin der Zigeuner, die dazu bestimmt ist, ihr Volk in die Heimat zurückzuführen und den Thronerben zu gebären, der ihre Herrschaft nach ihrem Tode weiterführen kann. Wie meine Ausführungen nur skizzieren konnten, verarbeitet Arnim in der Novelle seine Vorstellungen vom Wirken der Kräfte im individuellen und im zwischenmenschlichen Verhalten, das wiederum vom Kräftespiel in den von ihnen bewohnten Handlungsräumen abhängt, in vielfachen Kombinationsmöglichkeiten. Mit den Begriffen der Duplizität in der Triplizität schafft er einen weiteren Hand30 31 32 33

Ebenda, S. 730. Ebenda, S. 691. Ebenda, S. 691. Ebenda, S. 692

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Roswitha Burwick

lungsraum zwischen Erzähler, Leser und Text, der sich durch das Prinzip der Wahlverwandtschaft variieren lässt. Durch die Spannung, die in den Verschiebungen innerhalb dieser Triangulation besteht, werden wieder Kräfte frei, die den Handlungsraum des Erzählten mit dem Gelebten vermischen. So verbindet Arnim die Zeugung des Sohnes von Karl V. und Isabella, die durch das wunderbare Sternzeichen ins Kosmische gesteigert war, mit dem Kometen von 1811 und der bevorstehenden Geburt seines ersten Sohnes. Mit der Einbindung von autobiographischen Elementen in die fiktive Welt des gedachten Lebens von geschichtlichen und mythologischen Gestalten exemplifiziert Arnim das von ihm konzipierte Modell eines komplexen Relationsgefüges, in dem die Grenzen zwischen Autor, Erzähler, Text und Leser keine trennenden Scheidewände sind, sondern zu liminalen Raumeinheiten werden, auf denen Phantastik und Realität miteinander verschmelzen.

Barbara Becker-Cantarino

»Großmutter Laroche«: Erinnerungs-Räume der Jugendzeit in Bettina von Arnims »Die Günderode« und »Clemens Brentanos Frühlingskranz«

Im Sommer 1808 begann Bettina Brentano ihren Brief an den in Heidelberg weilenden Achim von Arnim: »Offenbach, den 28ten Juny. Du siehst nun wie ich in der Welt verschiedene Nachtquartiere habe, so eben steige ich aus meiner Großmutter Bett [...].«1 Bettina war auf dem Weg zu den Savignys nach Trages, hatte in Offenbach im Haus der ein Jahr zuvor verstorbenen Großmutter Sophie von La Roche Station gemacht und wünschte bei Achim in Heidelberg sein zu können. Ihr Briefanfang mit dem bedeutungsvollen Hinweis auf das ›Bett der Großmutter‹ scheint ihren realen Besuch in Offenbach symbolisch mit dem Ort ihrer Kindheit zu verbinden, dem Haus ihrer Großmutter. Diesen Kindheitsort hat Bettina von Arnim verschiedentlich in ihren ersten drei Briefbüchern erwähnt, erinnert, imaginär ausgesponnen und als Raumkonfigurationen in die etwa dreißig Jahre später entstandenen Texte eingeschrieben. Die kulturelle und genderspezifische Kodierung ihrer räumlichen Konfigurationen sollen in ihren Funktionen untersucht werden, um das narrative und poetologische Potenzial und kulturell-symbolische Verflechtung von erlebtem Raum in der Kindheit und späterer Erinnerung daran, von real erfahrenem und poetisch imaginiertem und strukturiertem Raum in den Briefbüchern Die Günderrode (1840) und Clemens Brentanos Frühlingskranz (1845) herauszuarbeiten. Bettina von Arnims Raum-Diskurse sind zunächst von anthropologischem Interesse; sie hat sich in den Kindheitsjahren bei der Großmutter Sophie von La Roche (1730–1807) in deren »Grillenhütte« in Offenbach orientiert, ihr Sensorium entwickelt und ihre sie wohl am meisten prägende Sozialisation erfahren. Diese kam in den räumlichen Strukturen der Kleinstadt, des Hauses, Arbeitszimmers, des Gartens und des sozialen Handlungs- und Kommunikationsraumes der Großmutter (im Gegensatz zum wenig geliebten Frankfurter Elternhaus). Die räumliche Gestaltung und Topographie Offenbachs und der »Grillenhütte« ist in die Raumkonzepte ihrer Briefbücher eingegangen.

I. Während in den 1990er Jahren die postmoderne Exploration des Raumes in literarischen Texten als Topographie gehandelt und dann sogar zum ›topographical turn‹ 1

Bettine von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 4, S. 63.

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Barbara Becker-Cantarino

in den Kulturwissenschaften hochgespielt wurde,2 befasste man sich auch erneut mit der theoretischen Auslotung von Raumkonzepten.3 Dabei wurde immer wieder die Großtadt-Flanerie oder das Labyrinth der Großstadt als urbaner Erlebnisraum anvisiert. Im postkolonialen Diskurs erscheinen Zentrum und Peripherie als Markierungszeichen, dagegen eher Grenze und Schwelle in der mythischen Landschaft.4 Damit wird wie auch in der Gender-Forschung mit einem mehr objektivistischen Raumkonzept gearbeitet, einem absolutem Raum, einem ,container’, in dem Körper und Gegenstände enthalten sind.5 Solche strukturalistischen, abstrakten Vorstellungen greifen nicht für die Raumkonzepte, die Bettina von Arnim besonders in ihre (auto)biographisch angelegten, subjektiven Briefbücher eingeschrieben hat. Ihr Raumverständnis gehört eher in die Nähe von Kants radikal subjektivistischen Standpunkt; Raum war für sie wie im folgenden näher zu zeigen sein wird, eine mit Erinnerung verbundene Bewusstseinskategorie als individuelles Subjekt. Kant hatte schon in seiner vorkritischen Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen, 1770; Inauguraldissertation bei Antritt seiner Professur) kategorisch festgestellt: »Der Raum ist nicht etwas Objektives und Reales weder eine Substanz noch ein Verhältnis, sondern ein subjektives, ideales.«6 Später in der Kritik der reinen Vernunft bezeichnete Kant den Raum als eine bestimmte (notwendige) Vorstellung apriori, die von einer empirischen Raumerfassung grundsätzlich zu unterscheiden sei, jedoch nicht unabhängig von dieser sei. Raum (und Zeit) werden zur erkenntnistheoretischen Instanz bei Kant, um die äußere Welt erst erfassen zu können. Statt vernunftgeleitetem, erkenntnistheoretischem Interesse steht bei Bettina von Arnim jedoch die subjektivistische Erfahrung im Zentrum. Für sie ist der Raum real, unmittelbar und sinnlich erfahrbar, ist ›erlebter Raum‹ wie ihn der Existenzphilosoph Otto F. Bollnow beschrieben hat: »Dieser erlebte Raum ist, wie zur Vermeidung von Missverständnissen noch einmal ausdrücklich betont sei, nichts Seelisches, nichts bloß Erlebtes oder Vorgestelltes oder gar Eingebildetes, sondern etwas Wirkliches: der wirkliche konkrete Raum, in dem sich unser Leben abspielt;« der Raum wird so als konkrete Erlebniswirklichkeit des Menschen konzipiert: »Raum [...] ist bezogen auf ein Leben, das sich in ihm entfaltet.«7 Für Bollnow, wie für Bettina, ist der konkrete Raum ein Medium und eine Funktion des Lebens, das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Raum ist »zugleich

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Weigel: Zum ›topographical turn.‹ Raumkonzepte in den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften, 235. Henri Lefèbvre wichtiges Werk La production de l’espace (1974) erschien erstmals 1991 in englischer Übersetzung und wurde zum vielzitierten Standard, eine deutsche Übersetzung steht noch aus; vgl. auch Miller: Topographies, 1995. S. den informativen Überblick über die Forschung bei Krug: Auf der Suche nach dem weiblichen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800, S. 17–47. Ebenda, S. 18. Kant: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 63. Bollnow: Mensch und Raum, S. 19, 34. Bollnow grenzt sich wohl bewusst von dem Konzept des »Lebensraumes« ab, um etwaige Anklänge an die Ideologie von »Volk ohne Raum« zu vermeiden.

»Großmutter Laroche.« Erinnerungs-Räume der Jugendzeit

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Struktur des menschlichen Daseins selber.«8 Der gelebte Raum ist so bedeutungsvoll, mit subjektiven Werten erfüllt, wandelbar in der individuellen Stimmung des Individuums, kann fördernd, hemmend, feindlich oder freundschaftlich erfahren werden. Die Bedeutungshaftigkeit des Raumes korrespondiert mit der Stimmung des Individuums; der Raum ist so nicht der ›container‹ oder Behälterraum, in den der Mensch eingefügt ist. Der Raum ist so nicht starr, homogen und unendlich, sondern vielfältig und heterogen, veränderlich in der Wahrnehmung des Individuums und damit relational.9 Diese Theorie vom subjektiven Raumerleben kann die poetische Ausgestaltung in den (auto)biographisch inszenierten Briefbüchern Bettina von Arnims verdeutlichen helfen, da die Autorin topographische Reminiszenzen an konkrete Ortsbezüge als poetische Effekte mit bedeutungsvollem Erleben in diesen Texten einsetzt. Bettina von Arnims Jugendräume sind eben auch durch den Filter der Erinnerung gegangen und gehören zur Memorialkultur, sind Teil einer Verarbeitungsgeschichte der Romantik. Aus der Perspektive von narratologischen Untersuchungen kann für Bettina von Arnims sprachgewaltige Texte so eine weitere Beschreibungsebene in den Erinnerungsräumen10 erschlossen werden, wenn gezeigt wird, wie die von ihr im Zusammenhang mit dem Ort und der Person der Großmutter erlebten, erinnerten, imaginierten und ausgesponnenen Räume die Figurenzeichnung maßgeblich strukturieren und Bedeutung verleihen.

II. Auf der historischen Ebene sind die versteckten Anspielungen und Erwähnungen von Offenbach und der ›Grillenhütte‹ der Großmutter Reminiszenzen an die Jahre 1797 bis 1801 (und später), die Bettina selbst im dem Hause der Großmutter und Schriftstellerin Sophie von La Roche in Offenbach, verbracht hat. Die seit 1788 verwitwete La Roche war eine bekannte Schriftstellerin mit einer umfangreichen Bibliothek, einem weiten Bekanntenkreis und regem Briefwechsel, die in den Jahren, als die Brentano-Mädchen bei ihr in Pension waren,11 den Amerika-Roman Erscheinungen am See Oneida (1797), die Textsammlung Mein Schreibetisch (1799), den Roman Fanny und Julia oder die Freundinnen (1801) und – nach ihrer 8 9 10

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Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 20. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999) und die Flut nachfolgender Untersuchungen zur Memorialkultur haben den Begriff für das 20. Jahrhundert mehr oder weniger verengend festgeschrieben. La Roche war seit dem Tode ihres Mannes verarmt und seit der Besetzung des linken Rheinufers durch die Franzosen 1794 ohne Witwenpension; sie war auf die Einkünfte aus ihrer Schriftstellerei, von Pensionsgästen und gelegentliche Zuwendungen von wohlhabenden Freunden angewiesen. Sie erhielt anfangs 250 Gulden, ab 1801 270 Gulden pro Vierteljahr für die Betreuung der drei Mädchen, wie aus erhaltenen Quittungen ersichtlich ist; es war ihr selbst unangenehm, dass sie auf diese Bezahlung angewiesen war. Im La-Roche Haushalt in Offenbach lebten noch zwei mittellose, unversorgte Frauen, die (geschiedene) Tochter Luise Möhn und eine ,Base‹ des verstorbenen Ehemannes Georg Michael von la Roche, die ›alte Cordel‹; sie hatten eine Magd. Vgl. hierzu mein: Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin, bes. S. 201–224.

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Reise12 zu ihrem Sohn Karl mit Besuch in Weimar – die Reisebeschreibung Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck (1800) verfasste und publizierte. Bettina war nach dem Tode ihrer Mutter Maximiliane (geb. La Roche, 1756–1793) und dem überraschenden Ableben auch des Vaters Peter Anton Brentano (1735– 1797) zunächst in dem katholischen Mädchenpensionat der Ursulinen im kurmainzischen Fritzlar erzogen worden, bis die Besetzung Fritzlars durch die Franzosen im Mai 1797 die Übersiedelung der Mädchen nach Offenbach veranlasst hat. Bettina kam als 12jährige zusammen mit ihren zwei jüngeren Schwestern Ludovica (Lulu, 1787–1854) und Meline (Magdalene, 1788–1861) zur Großmutter und blieb (mit Unterbrechungen zu Besuchen in Frankfurt, Ausflügen in den Rheingau auf die Güter befreundeter Familien) bis zu ihrem 18. Lebensjahr in Offenbach, als sie im November 1802 in die vergleichsweise repressive Atmosphäre13 im Stammhaus der Brentanos, den ›Goldenen Kopf‹ in Frankfurt zu ihrem (20 Jahre älteren) Stiefbruder und Vormund Franz Brentano (1765–1844) zurückkehrte. Die persönliche, kulturhistorische (und nur begrenzt die textliche) Basis für Die Günderode und den Frühlingskranz sind bekanntlich Bettinas enge emotionale Beziehungen und Briefwechsel mit dem knapp fünf Jahre älteren Bruder Clemens Brentano und mit der als Mentorin fungierenden, ebenfalls fünf Jahre älteren Freundin Caroline von Günderrode. Im Oktober 1797 war der damals 19jährige Clemens Brentano während der Semesterferien aus Halle nach Offenbach zu Besuch gekommen; damit begann die enge, emotionale Beziehung der beiden, die erst mit Clemens’ Heirat der Sophie Mereau (1803) empfindlich gestört wurde. Clemens vermittelte Bettina die prägenden romantischen Ideale und Ideen und versuchte dann auch sie mit seinen Freunden (den aristokratischen, begüterten Savigny, dann mit Achim von Arnim) zu verbinden, als die Familie um die standesgemäße Verheiratung der Brentano-Töchter besorgt war (Gunda heiratete den auch von Bettina verehrten Savigny 1804, Lulu 1805 den Hofbankier des Kurfürsten von Hessen-Kassel Jordis, Meline heiratete 1810). Nach Clemens Verheiratung schloss sich Bettina etwa seit dem Herbst 1804 der wohl auch als Gesellschafterin fungierenden Günderrode an, bis die Beziehung wegen Günderrodes Verhältnis mit dem (verheirateten) Heidelberger Altphilologen Friedrich Creuzer von Günderrode aufgekündigt wurde (Günderrode beging im Juli 1806 Selbstmord). Im Herbst 1814 besuchte Clemens Brentano »seine Lieblingsschwester Bettina und den Herzensfreund Arnim« in Wiepersdorf und die drei machten Aufzeichnungen über Arnims, Bettinas und Brentanos Vorfahren und frühe Erlebnisse.14 Sie 12

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La Roche machte diese Reise nicht mit Bettina sondern mit deren ältester Schwester Sophie Therese (1776–1780), mit der La Roche in ständigem Briefwechsel stand, besonders seit sie ab 1793 die Mutterstelle für die jüngeren Geschwister vertrat. Sie verstarb auf ungeklärte Weise bei ihrem Besuch bei Wieland im Sommer 1780. Großmutter La Roche hatte Bettina mehr Freiheiten erlaubt als üblich war; sie glaubte an die Entwicklung des Guten und Kreativen im Individuum ohne Zwang oder einengendes System, wenn das Individuum zur »Arbeit« an sich selbst bereit war. Ihre menschliche Fürsorge ließ sie allen Brentano-Enkeln angedeihen; ihre ästhetische Erziehung beeinflusste besonders Bettina. Ich danke Heinz Härtl für den Hinweis auf seine Publikation: »Anekdoten, die wir erlebten und hörten,« Zitat auf S. 84.

»Großmutter Laroche.« Erinnerungs-Räume der Jugendzeit

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erzählten nicht von ihren Eltern sondern von der Generation ihrer Großeltern, wohl da alle drei die eigenen Eltern kaum erlebt hatten,15 und schrieben »Anekdoten, die [sie] erlebten und hörten« nieder, die den Reiz mitunter subversiver, privater Spuren des vergangen 18. Jahrhunderts hatten und die nicht als solche zur Veröffentlichung bestimmt waren, sondern später verschiedentlich für literarische Texte bearbeitet wurden. Unter diesen Texten ist auch »Großmutter Laroche«, wo Bettina ein amüsiert-vertrauliches Bild der empfindsamen ›grande dame‹ der Spätaufklärung zeichnete: Nachmittags um zwei Uhr musten wir ihr vorlesen meistens Bücher der Madame Genlin sie empfing freundlich jeden Fremden der sie besuchte doch war sie nicht gern in dieser Lecture gestört; sie saß am Fenster und ein von außen angebrachter Spiegel zeigte ihr schon von ferne die vorübergehenden, so wie sie einen erblickte von dem sie ahnden konnte dass er sich zu uns verfügen würde, fing sie an halblaut auf ihn zu schimpfen; der Racker, der Saukerl […] bis er zur Zimmerthüre hereintrat, wo sie ihn noch mit demselben Athemzug aufs freundlichste bewillkommte: kommen sie auch endlich mal wieder in mein Grillenhaußgen? Wollen sie die kleine elende Hütte der alten Laroche wieder mit ihrer Gegenwart beleben […].16

Hier situierte Bettina von Arnim ihre Großmutter in deren Alterssitz (ein mehrstöckiges, für seine Zeit repräsentatives Stadthaus) märchenhaft in eine »kleine elende Hütte« und schloss auch eine weitere skurrile Anekdote um ein »Petersiliengärtgen« in der Schweiz an, einen Ort lebenslanger Sehnsucht in La Roches Imagination.17 Zwar besuchte La Roche in späteren Jahren die Schweiz auf drei Reisen, doch war es für La Roche das Wunsch-Land der Jugendträume (mit Wieland, dann der Freundschaft mit Julie Bondeli, die sie nie selbst persönlich kennen lernte) und das Land, wo sie später nach dem frühen Tod ihres Lieblingssohnes Linderung für ihre Trauer suchte – was La Roche eben auch in ihren publizierten Werken verarbeitet hat. Bettina von Arnim, die sicher die Jugendgeschichten der Großmutter und auch ihre Bücher kannte, ging es nicht um biographisch-historisches Detail, sondern um eine dichterische Fiktion des gelebten Raumes der »Grillenhütte« und einem »Petersiliengärtgen,« in dem auch die Großmutter zu einer märchenhaft verschleierten, schwatzhaft erzählenden Alten geworden ist, die Geschichten ersinnt und erzählt. Die Hütte als bergender Raum, der Garten als lebendige, nutzbar gemachte Natur: Bettina von Arnims Text »Großmutter Laroche« ist eine Verarbeitungsgeschichte von Erinnerungsräumen aus ihrer Jugend, ein Text von mehreren anderen, die sie dann in ihren Briefbüchern variierte und bearbeitend einfügte.

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Achim von Arnims Mutter war an den Folgen seiner Geburt schon 1781 verstorben, woran Arnim lebenslang gelitten hat, sein Vater überließ ihn und seinen Bruder der Großmutter Labes zur Erziehung und blieb den beiden fremd; Clemens Brentano war 13 beim Tod seiner Mutter 1793, Bettina war acht Jahre alt, ihr Vater heiratete bald danach ein drittes Mal und starb schon 1797. Ebenda, S. 33. Vgl. hierzu mein: Reliquien empfindsamer Freundschaft: Sophie von La Roche, Julie Bondeli und die Schweiz, bes. S. 170–75.

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III. Es gehört bekanntlich zu der Arbeitsweise Bettina von Arnims, dass sie Textfragmente und sogar längere Passagen in die Briefbücher, die sie formal als Briefwechsel angelegte, übernommen hat und mit dem Anschein von Authentizität gespielt hat. Für das Günderodebuch konnte Bettina von Arnim bei der Abfassung in den späten 1830er Jahren auf den (heute verlorenen) Briefwechsel mit der Jugendfreundin zurückgreifen, den sie selektiv verwendete, umformulierte, mit eigenen Texten durchsetzte und auch aus früheren Briefen anderer Personen, sowie aus Texten der Günderrode Passagen interpolierte.18 Ebenso verfuhr die Autorin beim Frühlingskranz – auch hier hat sich weder der originale Briefwechsel noch das handschriftliche Manuskript erhalten –, wie Karl August von Varnhagen von Ense 1844 berichtet hat: »Bettine fand die Briefe ungeordnet, und ließ sie ungeordnet, bald ist der Leser im Jahre 1801, bald im Jahre 1804 [...]; um die Verwirrung zu vollenden, schaltete Bettine mancherlei ein [...]. Sie sagte mir selbst, dass sie jetzt beim Abschreiben manches hinzufüge, ausbilde, näher bestimme.«19 Im Kontext dieser beiden Briefbücher erscheint die Großmutter als die menschliche, moralische, und emotionale Instanz und Leitfigur, denn »außer der Großmama und Dir hab ich nie Frauen gesehen, die mir edel vorkamen«20 schreibt die Bettina-Figur an Caroline. Mit feiner Ironie hat Bettina von Arnim ein Bild der Großmutter in der Natur gezeichnet und das Gefühl betont: Es war gar wunderlich wie sie unter einem großen Kastanienbaum mir gegenüberstand, in dem der Mond sich spiegelte, in dem langen schwarzen Grosdetourkleid mit langer Schleppe, noch nach dem früheren Schnitt, der in ihrer Jugendzeit Mode war. Ei, wie fein ist doch die Großmama, alle Menschen sehen gemein ihr gegenüber aus, die Leute werfen ihr vor, sie sei empfindsam, das stört mich nicht, im Gegenteil findet es Anklang mit mir und obschon ich manchmal über gar zu Seltsames hab mit den andern lachen müssen, so fühl ich doch eine Wahrheit meistens in Allem.21

Die ›Großmama‹ gewinnt kein individuelles Profil, ist keine Handlungsinstanz im (sowieso handlungsarmen) Text, sondern sie steht für Zeit und Ort der Kindheit, Jugend und Geborgenheit, für den Ort der Heimat in der Vorstellung der BettinaFigur. Die Großmutter erweckt und fördert die Emotionen (Leidenschaft): »Gestern sprach ich mit der Großmutter, die sagte: was der Verstand nicht faßt, das begreift das Herz,« und die Bettine-Figur kommentiert diesen Ausspruch mit: » Ich begreif das wieder nicht«,22 um dann weiter Gedanken über das Verhältnis von Verstand und Gefühl auszubreiten, ohne jedoch das Gefühl abzuwerten. Sie betont die Harmonie und Übereinstimmung der beiden: »Mit der Großmama bin ich im besten 18

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Siehe die Aufstellung von neun erhaltenen, authentischen Briefe und Günderrode-Texten mit den Veränderungen im Günderodebuch bei Bettina von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 828–852. Zitiert nach Bäumer/Schultz: Bettina von Arnim, S. 14. Bettine von Arnim: Die Günderode – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 368. Mit Bettine-Figur bezeichne ich die imaginierte Bettina im Text, mit Caroline die imaginierte Günderode. Ebenda, S. 461. Ebenda, S. 399.

»Großmutter Laroche.« Erinnerungs-Räume der Jugendzeit

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Vernehmen [...], es gefällt ihr, daß ich gern bei ihr bleib«,23 in ihrer Nähe ist die kultivierte Natur, der Garten: »Heut morgen kam ich dazu wie der Bernhards24 Gärtner mit einem Nelkenheber die dunkelroten Nelken in einem Kreis um einen Berg von weißen Lilien versetzte, in der Mitte stand ein Rosenbusch. Diese Früharbeit gefiel mir wohl, und hab mit Andacht dabei geholfen, der Dienst der Natur, der sei wie ein Tempeldienst.«25 Die Farben- und Blumenmetaphorik gehört zu den traditionellen literarischen Topoi, die religiös konnotierte Naturverehrung schließt an das Naturverständnis der Frühromantik an. Bettina von Arnim formulierte ein »Programm autonomer Selbstbildung, bei der die natur ihr einziger Lehrmeister ist.«26 Immer wieder ist die Bettina-Figur in den Garten der Großmutter situiert, der zugleich Geborgenheit und auch Begrenzung und Einschränkung signalisiert und auch auf Fruchtbarkeit literarischer Produktion deutet. Die Bettina-Figur wünscht sich mit der Freundin zusammen zu sein, um »alles zu erdenken wie Gott, dann bin ich auch Dichter. Ich denke mirs so schön alles mit dir zu überlegen, wir gehen dann zusammen hier in der Großmama ihren Garten auf und ab, in den herrlichen Sommertagen, oder im Boskett, wos so dunkle Laubgänge gibt.«27 Der (romantische Ort) des dunklen Laubenganges ist nicht unheimlich, sondern ein Ort kreativen Wachstums, an dem »alles im Gespräch« gemeinsam »entfaltet« werden soll.28 Die Bettine-Figur imaginiert, wie sie Aprikosen aus dem Garten heimlich abends stehlen möchte, um sie der Freundin zu schicken. – Die Fruchtbarkeit des Gartens spielt auch auf die literarische Produktion einmal der Großmutter selbst und auf die Caroline von Günderrodes an, die die Bettine-Figur Caroline vermitteln möchte, so wie die La Roche Vermittlerin für Günderrodes Publikation wurde (sie hat nachweislich einen Prosatext Günderrodes in ihren Herbsttage,1805, veröffentlicht und ihr wohl auch den Offenbacher Verleger für Gedichte von Tian, 1804, vermittelt). Auch die Bibliothek, als Schatzort unerwarteter Funde,29 nicht als Ort toter Buchgelehrsamkeit sondern nützlichen Wissens, hat ihren Platz im Kosmos des großmütterlichen Lebensortes; die Bettina-Figur zieht es dann in den Garten: »Ich wandle zwischen Hecken, seh jede Erdscholle benutzt, der Salatkopf in der mitt, die Bohnenstangen oben drüber, und mir bangt, daß ich nicht angepflanzt bin.«30 Bibliothek und Nutzgarten werden als produktive Orte gesehen, die Bettina-Figur (eine Reflexion der Autorin über sich selbst) nennt hier auch ihren »Kopf ein Feld das brach liegt« und artikuliert damit zugleich die Distanz zum nützlichen Wissenserwerb. Im späteren Frühlingskranz schaltete die Autorin dann eine mehrere Seiten umfassende Passage ein, die die (mutwillige) Zerstörung des Gartens unter der

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Ebenda, S. 416. Der Fabrikant Bernhard war ein Nachbar La Roches in der Domstraße in Offenbach. Bettine von Arnim: Die Günderode – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 416. Isselstein: Briefwechsel als Bildungsprojekt, S. 212. Bettine von Arnim: Die Günderode – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 448. Ebenda. Ebenda, S. 426. Ebenda.

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französischen Besatzung, dann durch Ernte und Frost beschreibt,31 ohne jedoch die symbolische Dichte des Günderodebuches zu erreichen. Der Jugend-Ort Offenbach wird gegen die Stadt Frankfurt, wo die Verheiratung durch die Familie und damit das Ende der Jugend und Freiheit angestrebt wird, ausgespielt. Die Bettine-Figur schreibt »an die Großmama, sie solle [sie] vom Franz [dem ältesten Bruder, Vormund und Frankfurter Familienoberhaupt] zu sich begehren nach Offenbach. [...] Hier in Offenbach war ich gleich wieder ruhig.«32 Sie empfiehlt Caroline in Offenbach zu verweilen, denn in Frankfurt »würden Sitten- und Splitterrichter Dich verdrießlich machen« (G, 502). Das Haus der Großmutter ist auch der (heimliche) Lese- und Schreibort der Bettine-Figur, die der Freundin erzählt, wie die »hundertjährige Cousine« sie beim heimlichen Lesen im Bett erwischt habe und ihr das Buch wegnimmt.33 Die Großmutter fungiert auch als Erzählerin und Ort literarischer Tätigkeit in romantischer Einkleidung, wenn die Bettine-Figur schreibt: »Heut abend mußt ich mit der Großmama spazieren gehen, am Kanal beim Mondschein. Sie erzählte mir aus ihrer Jugendzeit«34 und sie rät Caroline: »Was dir die Großmama aus ihren Leben erzählt das merk Dir doch alles wenns auch nur mit wenig Zeilen ist, später ist es einem gar interessant.«35 Auch diese ständige Verschmelzung der Zeitebenen, hier der Jugendzeit der La Roche, Bettinas Jugend und die spätere Erinnerung daran, ist charakteristisch für den Erzählstil Bettina von Arnims, die alle Ebenen der erzählten Zeiten in eine scheinbar kontinuierliche, immer präsente Gegenwart zusammenführt. Haus und Garten als Ort der Großmutter bedeutet Heimat und Ganzheit: Diese Häuslichkeit hat einen eigenen poetischen Schimmer alles ist in der höchsten Reinlichkeit und Heimlichkeit erhalten, – und zu jeder Stunde und zu jeder Jahreszeit ist nichts vernachlässigt, selbst das aufgerichtete Brennholz am Gartenspalier ist unter ihrer Aufsicht der Schönheitslehre. – Wenn es im Winter muß verbraucht werden, so läßt sie es immer so abnehmen daß die Schneedecke so weit wie möglich unverletzt bleibt, bis Tauwetter einfällt wo sies abkehren läßt. Im Herbst hat sie ihre Freude dran wie die roten Blätter der wilden Rebe es mit Purpur zudecken [...] Wer den wunderschönen Blitz ihres Auges verkennt, wenn sie manchmal sinnend mitten im Garten steht, und späht nach allen Seiten, und geht dann plötzlich hin, um einem Zweig mehr Freiheit zu geben, um eine Ranke zu stützen! – und dann so befriedigt in der Dämmerung den Garten verläßt, als habe sie mit der Überzeugung alles gesegnet.36

Mit feiner Ironie und naiver Perspektive schildert die Autorin Bettina von Arnim die Großmutter in ihrer Verbundenheit mit Natur und dem Ort der Jugend. In ihren 31 32 33

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Bettine von Arnim: Clemens Brentano’s Frühlingskranz – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 71–77. Bettine von Arnim: Die Günderode – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 487. Ebenda, S. 309. Diese und viele andere Begebenheiten werden oft in biographischen Darstellungen zu Bettina von Arnim benutzt, obwohl es sich hier um phantasievolle Interpolationen und keineswegs reale Fakten handelt. Gemeint ist ›die alte Cordel‹, die zwischen Magd und Familienmitglied im Haushalt La Roches versorgt lebte und kein eigenes Zimmer, nur einen Schlafplatz im Lehnsessel der Stube hatte. Ebenda, S. 459. Ebenda, S. 502. Bettine von Arnim: Clemens Brentano’s Frühlingskranz – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 182.

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Briefbüchern hat die Autorin Bettina von Arnim nicht nur die Romantik ihrer Jugendzeit zurückgerufen, sie hat auch La Roche ein Denkmal gesetzt.37 Da ist das Haus, die Bücher und die Bibliothek als Zeichen für die literarische und geistige Welt; der Garten, die Blumen, die Beete, die Pappeln als Zeichen für die (gezähmte) Natur und ihre Nähe zu den Menschen; und da sind die Besucher als Zeichen für die ›Philister‹, die die Kindheitsidylle stören und bedrohen. Charakteristisch für ihr romantisches Poesieverständnis ist vor allem die Verschmelzung des Ortsbezugs, Personen und Zeitebene. Vor diesem Hintergrund kann die Art und Weise, wie der Ort der Großmutter in Bettina von Arnims Texten erscheint, als Versuch einer Verabschiedung klassischer topologischer Muster. In einer anderen Episode in Die Günderode spricht Bettina von Arnim den ÄsthetikBegriff in ihrer indirekten, gespielt-naiven Art an: Heute Nachmittag brachte der Büri38 der Großmama ein Buch für mich – Schillers Ästhetik – ich sollts lesen meinen Geist zu bilden; ich war ganz erschrocken wie er mirs in die Hand gab als könnts mir schaden, ich schleuderts von mir. – meinen Geist bilden! – ich habe keinen Geist, – ich will keinen eignen Geist; – am Ende könnt ich den heiligen Geist nicht mehr verstehen, – Wer kann mich bilden außer ihm? – Was ist alle Politik gegen den Silberblick der Natur! – Nicht wahr, das soll auch ein Hauptprinzip unserer schwebenden Religion sein, dass wir keine Bildung gestatten, – das heißt kein angebildet Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selber, und soll sich zu Tage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder ein Quell, die ganze Bildung soll darauf ausgehen, dass wir den Geist ans Licht hervorlassen.39

Bettina von Arnim baut hier als Autorin rhetorisch ihre Bettine-Figur im Roman auf, ein gegen Schillers Ästhetik (und den Offenbacher Dichter Buri) quasi instinktiv rebellierendes, ein sich naiv gebendes ›Kind‹. Dass die Autorin jedoch auch die traditionellen Topoi von Natur, Nation und Klassik beherrschte, zeigt die Vorrede zu Die Günderrode. Hier ernennt die Autorin ihre Adressaten – die Jugend, die Studenten – zu »goldenen Blumen auf zertretenem Feld« und spricht von »Muttererde.«40 Sie spricht von ihren »Begeistrungspfaden« und »Germanias Hainen« mit »Ebnen« und »stolzen bergen – klassische Topi der politischen Rhetorik, wie sie im Vormärz wieder aktualisiert wurde. Auch diese poetisiert sie

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Bettina von Arnim wendet eine ganz ähnlich lose, metaphorische Erzähltechnik an, die oft assoziativ oder auch sprunghaft Personen, Gefühle oder Dinge aneinanderreiht. Auf die aufklärerische Wissensvermittlung ihrer Großmutter hat sie jedoch bewusst verzichtet und statt dessen in romantischer Manier das Ungewisse, Verworrene, Unklare betont. Bei aller zeitlichen Distanz und Weiterentwicklung Bettina von Arnims gibt es in der Tat auffallende Parallelen zu Werk und Leben der Großmutter La Roche. La Roches »kritische und unkonventionelle aufklärerische Idealvorstellungen« (Albrecht: Das Angenehme und das Nützliche, S. 82), ihre Insistenz auf den Prinzipien des selbständigen Handelns und Denkens auch für Frauen bahnten den Weg für Bettina von Arnims selbstbestimmtes Leben und für ihre späteren karitativen und politischen Aktivitäten. Christian Karl Ernst Buri (1758–1816), in Offenbach lebender Verwaltungsbeamter und Dichter, befreundet mit La Roche. Bettine von Arnim: Briefe und Werke, Bd. 1, S. 468. Schillers Ästhetische Briefe waren 1795 erstmals erschienen, 1801 in seinen Kleinen prosaischen Schriften wieder gedruckt worden. Bettine von Arnim: Die Günderode – Werke und Briefe, Bd. 1, S. 197.

Barbara Becker-Cantarino

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mit Anspielungen an die klassischen Orte der Dichtung mit »die Ihn hinanjubelt den Parnassos, zu Kastaliens Quell.«41

IV. Dagegen wird in romantischer Vereinnahmung von Natur, Jugend, Dichtung die ›Häuslichkeit‹ der Großmutter zum geistigen, poetisierten Raum von Bettina von Arnims Briefbüchern. Ihr Raumkonzept in den Briefbüchern ist ein organisches, immer mit Aspekten von gewachsener und ungeordneter Natur verbunden. So enthält schon der erste lange, der Freundin-Figur Günderrode in den Mund gelegte Brief eine ausführliche, graphische Beschreibung vom Frankfurter Zimmer der Bettina-Figur. Der Lebensraum der Bettina-Figur ist eine naturwüchsige, chaotische Ansammlung von Gegenständen, Pflanzen und Tieren (Folianten, Homer, ein Kanarienvogel, eine Reisekarte, ein Orangen-Kübel, ein Flageolet usw.), es ist ein Genre-Bild als Ausdruck natürlicher Genialität, ein an die niederländischen Maler erinnerndes Stillleben, in seiner chaotischen Inszenierung ein Kunstwerk: in dem »Zimmer sah es aus wie am Ufer, wo eine Flotte gestrandet war.«42 Mit der Metapher der gestrandeten Flotte wird das Zimmer eben auch zum betont unkriegerischen, unmännlichen Raum kreativer Unordnung. Anstatt mit dem Fensterblick der Aufklärung oder mit klassischem Blicken über ganze Landschaften und Räume zu schauen oder aus dem Gesellschaftstreiben in die Weite der Natur zu fliehen, arbeitet Bettina von Arnim mit subjektiven, fiktionalisierten und emotionalisierten topologischen Kodes vom Haus und Garten, mit autobiographisch inszenierten und beglaubigten Sinn- und ›Denkmalen‹. Das Ergebnis sind Erinnerungsräume mit Gefühl, Aura und Bedeutung. Die Autorin greift nicht auf topologische Ordnungen, auf historisch, kulturell und institutionell geprägte Topographien in der literarischen Tradition zurück, sondern in ihrer Kompilations- und Variationstechnik von Briefen schafft sie Erinnerungsräume mit symbolischer Qualität und emotionaler Kodierung in den Briefromankonstruktionen. Die Briefbücher ermöglichen so eine Tradierung der Erinnerung über den Tod der Individuen Günderrode, Clemens Brentano und der Romantik hinaus, eine Art Unsterblichkeit der Dichtung als Entsprechung zur Unsterblichkeit der Seele: »die Verewigung des Namens ist die weltliche Variante des Seelenheils,« der Dichter kann so »kraft [besonderer Kunst (oder Magie)] auf die noch ungeborenen Adressaten einer späteren Zeit einwirken.«43 Die Wirkung der Erinnerungsräume mit »Großmutter LaRoche« in den Briefbüchern beruht auf deren Poetisierung und Romantisierung, der Entgrenzung und der organischen Verbindung mit den imaginierten Bettina und Günderrode Figuren, ein genuines romantisches Projekt.

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Ebenda. Ebenda, S. 310. Assmann: Erinnerungsräume, S. 38, 39.

Norbert Wichard

Eingerichtete Sehnsucht: Narrativierung des Wohnens in Bettina von Arnims »Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde«

Liebend umschleicht der junge Wilhelm Meister nachts sein »Heiligtum der Liebe«1, das in der Gestalt der Wohnung Marianens präsent ist. Das Öffnen der für Wilhelm verschlossenen Türe zu seiner Geliebten zerstört jedoch mit Norbergs Erscheinen und mit der Entdeckung dessen Briefes jäh Wilhelms Liebeshoffnungen. Friedrich Schlegel erkennt früh die dynamische Spannung des Erzählens zwischen Wohnraum und erlebter Sehnsucht am Ende des ersten Buches von Goethes Lehrjahren: Unvermerkt ist indes die Erzählung lebhafter und leidenschaftlicher geworden, und in der warmen Nacht, wo Wilhelm, sich einer ewigen Verbindung mit seiner Mariane so nahe wähnend, liebevoll um ihre Wohnung schwärmt, steigt die heiße Sehnsucht, die sich in sich selbst zu verlieren, im Genuß ihrer eignen Töne zu lindern und zu erquicken scheint, aufs äußerste, bis die Glut durch die traurige Gewißheit und Norbergs niedrigen Brief gelöscht, und die ganze schöne Gedankenwelt des liebenden Jünglings mit einem Streich vernichtet wird.2

Die der Sehnsucht eingeschriebene Polarität von Distanz und Nähe – von »Allein und abgetrennt« sowie »Ach! der mich liebt und kennt / Ist in der Weite.«3 – entfaltet Goethe kunstvoll in dieser Episode als Verräumlichung der Sehnsucht: Etwa durch die Lenkung des Blicks von Wilhelm bzw. des Lesers: Wilhelm entfernt sich von Marianes Wohnung, blickt dann »an der Ecke« zurück und entdeckt schließlich mit Unbehagen »eine dunkle Gestalt«. Aufgrund der Entfernung – oder auch der verschleiernden Sehnsucht – kann er keine Details erkennen.4 Von einer Verräumlichung der Sehnsucht kann – wie sich im Folgenden zeigen soll – in Bettina von Arnims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) gesprochen werden. Die Raumaffinität der Sehnsucht wird in der Literatur poetisiert und hier insbesondere an die Bettine-Figur des fiktionalen Textes geknüpft. Die Sehnsucht wird dabei erzählerisch weniger an einen abstrakten Raum gebunden, sondern an einen konkreten, wenn auch teils imaginierten Raum. Bei Bettina von Arnim 1

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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 9, S. 426. Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister – Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. I, Bd. 2, S. 128. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 9, S. 603f. Ebenda, S. 426.

Norbert Wichard

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rückt damit der Komplex des Wohnens in den Fokus, der gerade um 1800 in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem intensiv erörterten Thema wird, wie man allein an den zahlreichen Beiträgen zu Möbeln, Wohnarchitektur und anderen Einrichtungsfragen in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden erkennen kann. Bettina von Arnims Goethebuch partizipiert demnach an verschiedenen Diskursen des Wohnkomplexes: zunächst an dem über die Sehnsucht vermittelten Diskurs von Nähe und Distanz bzw. allgemeiner von Privatheit und Öffentlichkeit. Zugleich schreibt sie durch die narrative Funktionalisierung von Möbeln die Modediskurse der Zeit fort. Mit dem Wohnen sind jedoch auch über die Architektur immer Fragen der Kunst und Ästhetik aufgerufen, die Bettina von Arnim durch die Rezeption Goethes und hierbei insbesondere der Lehrjahre ebenfalls im Goethebuch aufruft; die Bettine-Figur stellt die Bedeutung der Lehrjahre selbst heraus: Wie ich aber endlich Deine Herrlichkeit fassen sollte, da dehnten mir große Schmerzen die Brust aus, ich legte in Tränen mein Angesicht auf das erste Buch was ich von Dir in Händen bekam, es war der Meister, mein Bruder Clemens hatte es mir gebracht. Wie ich allein war da schlug ich das Buch auf, da las ich Deinen Namen gedruckt, den sah ich an als wie Dich selber.5

Im Folgenden soll die Analyse zunächst auf den imaginierten Wohn- und Sehnsuchtsraum gerichtet werden, dann auf den erzählten Wohnraum und die an ihn geknüpften ästhetischen Diskurse.

1. Der ersehnte Goethe Speziell für das Tagebuch in Bettina von Arnims Goethebuch ist bereits die poetologische Funktion des Sehnsuchtsbegriffs als »dynamisches Element im Begriffsumfeld von ›Liebe‹« herausgearbeitet worden. Sehnsucht wird demnach einerseits unbestimmt verwendet, andererseits mit der »Nachtigall« auch konkretisiert. Darüber hinaus seien feine Verbindungen zu den Begriffen ›Ahnung‹, ›Wehmut‹ oder auch ›Begeisterung‹ feststellbar; somit wird ›Sehnsucht‹ im Tagebuch Teil eines »System[s] von Leitbegriffen«.6 Wie sich diese Systematik erzählerisch mit dem Wohnen verbindet, sei zunächst diskutiert. Bettine formuliert im ersten Teil einen Brief an Goethe, der mit der Intensivierung der Sehnsucht und des Verlangens nach Goethe durch eine imaginierte Bewegung raumgreifend wird. Die Bettine des Goethebuchs schreibt: »[Ich] saß heute Morgen auf dem Sessel und las still und andächtig in einer Chronik, ohne mich zu bewegen, denn ich wurde dabei gemalt, so wie Du mich bald sehen sollst […].« Sie beschreibt im Anschluss, wie sie einen Brief Goethes bekommt, der offenbar Sonette enthält, wodurch sie in größte Spannung und Erregung versetzt wird. Bettines sehnsüchtige Einbildungskraft spinnt ihr Entzücken sogleich weiter:

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Arnim, Bettine von: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 518. Vgl. zu »Liebe als Bildungsfaktor« im Vergleich zu den Lehrjahren Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon, S. 145–156. Leitner/von Steinsdorff: Grammatik der Liebe, S. 146–148.

Eingerichtete Sehnsucht

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»Ach! und was will ich denn mit Dir? – Nicht viel; Dich ansehen oft und warm, Dich begleiten in Dein stilles Haus […].«7 Sitzend beginnt auf diese Weise ihre imaginative, sehnsuchtvolle Bewegung in Richtung Goethe mit dem Ziel, alle räumlichen Grenzen zu überschreiten und den Moment der Seligkeit, der außer der Nähe nichts weiter bedarf, festzuhalten. Darauf erinnert sich die Bettine-Figur an einen Besuch in der herzoglichen Bibliothek, dem Bettina von Arnims zweiter Besuch in Weimar im November 1807 zu Grunde liegt: Die Sehnsucht wird mittels der Nachtigall typisch und erkennbar konkretisiert, sie findet aber zudem ein spezifisches Ziel, nämlich Goethes Büste: »Auf der Bibliothek da konnte ich nicht umhin mich zu Deiner jungen Büste aufzuschwingen, und meinen Schnabel wie eine Nachtigall dran zu wetzen […].«8 Die Sehnsucht Bettines erhält somit ihre Ableitung und Entspannung in der symbolischen Aufladung eines Kunst-, aber auch Einrichtungsgegenstandes. In einem späteren Brief an Bettine schreibt Goethe (sehr ähnlich auch im Originalbriefwechsel): »meine Einbildungskraft folgt Dir mit Vergnügen sowohl auf die Bergeshöhen als in die engen Schloß- und Klosterhöfe.«9 Bettine greift einen zeitgenössischen Begriff der Einbildungskraft auf, gilt doch – so formuliert es Friedrich Schlegel –, dass »die Tätigkeit der Einbildungskraft […] ihren Grund in der Liebe, der Sehnsucht« hat.10 Sie beginnt ihre Antwort mit folgenden Worten: Wenn deine Einbildungskraft geschmeidig genug ist mich in alle Schlupfwinkel von verfallenem Gemäuer, über Berg und Klüfte zu begleiten, so will ich’s auch noch wagen Dich bei mir einzuführen; ich bitte also: komm, – nur immer höher, – drei Stiegen hoch – hier in mein Zimmer, setz Dich auf den blauen Sessel am grünen Tisch, mir gegen über; – ich will Dich nur ansehen, und – Goethe! – folgt mir deine Einbildungskraft immer noch? – dann mußt Du die unwandelbarste Liebe in meinen Augen erkennen, mußt jetzt liebreich mich in deine Arme ziehen; […] und mußt mich küssen; denn das ist was meine Einbildungskraft der deinigen beschert.11

Wieder verortet die Bettine-Figur ihre Sehnsucht räumlich, und zwar explizit in einem Wohnraum: Indem sie gemäß ihrer eigenen Einbildungskraft bzw. der damit verbundenen Sehnsucht Goethe imaginativ in ihr Zimmer einführt, ihn auf den Sessel platziert und schließlich einen Kuss von ihm begehrt. Erzählerisch werden dabei zunächst zwei Grenzen etabliert: erstens der Weg ins Zimmer: »– nur immer 7

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Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 110f. Vgl. auch Originalbriefwechsel, ebenda, S. 584f. Ebenda, S. 111. Zur Funktion »eines weiblichen Pygmalion« vgl. Schmitz: Bettine in Weimar, S. 138. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 244. Vgl. auch Originalbriefwechsel, ebenda, S. 632. In den Briefen zuvor berichtet Bettine von ihren Eindrücken u.a. von Godesberg mit dem Siebengebirge und den Höfen der Münchener Residenz. Schlegel: Die Psychologie als Theorie des Bewußtseins – Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Abt. II, Bd. 12, S. 368. Die Äußerung Schlegels ist dem Kontext einer Entfaltung des Genie-Begriffes entnommen. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 245–246. Vgl. auch Originalbriefwechsel, ebenda, S. 633f.

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höher, – drei Stiegen hoch –«; sowie zweitens der Sessel: »mir gegen über«. Nachdem der vorgestellte Goethe bzw. seine Einbildungskraft die Höhengrenze genommen hat, sollen ihn Bettines Augen in ihre Arme ziehen und schließlich der Kuss alle räumlichen Grenzen überwinden. Im unmittelbaren Anschluss wird noch eine weitere, dritte Grenze aufgebaut, die sich metaphorisch des Raumes bedient, des Herz-Raumes: »Ich führ Dich noch weiter; – tritt sachte auf in meines Herzens Kammer; – hier sind wir in der Vorhalle; – große Stille!« Der Weg ins Innere von Bettines Herz ist leicht überwindbar: »– geh hin poch an – es wird allein sein und, herein – Dir rufen.«12 Dreimal wird eine Grenze von der Bettine-Figur markiert, die erst durch ihre Lockung bzw. die liebende Sehnsucht überwindbar wird. In Anlehnung an Lotmans Sujetbegriff lässt sich diese Konstellation folgendermaßen beschreiben: Die drei im Text lokalisierten Grenzen erzeugen einen Widerstand. Diese Textstelle erscheint nun gerade deswegen besonders intensiv, weil Goethe dreimal über die Grenze in ein immer mehr verdichtetes ›semantisches Feld‹ der Nähe und Liebe geleitet wird (bis in das Herz hinein) und damit jeweils ein ›Ereignis‹ erzeugt wird.13 Die Grenzen der Wohnräume, das Wechselspiel von privaten und öffentlichen Räumen werden in diesem Brief somit erzählerisch produktiv, zunächst durch die erste Grenzüberschreitung in den intimen Wohnraum Bettines, dann durch die bewegende Annäherung durch das Medium Möbel und schließlich nochmals gesteigert durch den poetisierten Herzraum.

2. Zu Hause bei Goethe Goethe und Bettina von Arnim begegneten sich mehrfach persönlich: zweimal 1807, 1810 in Teplitz; 1811 ereignet sich die Auseinandersetzung mit Goethes Ehefrau Christiane, vier weitere Begegnungen sind zwischen 1821 und 1826 in Weimar belegt.14 Insbesondere der Streit mit Christiane sorgte für einen deutlichen Bruch im Verhältnis von Goethe und Bettina. Dass ihre Treffen aber wohl jeweils verschieden wahrgenommen wurden, lässt sich anhand von Äußerungen, die auch als raumsensibel zu bezeichnen sind, zeigen. Aus Teplitz schreibt Goethe an Christiane am 11. August 1810: Ich war eben in ein neues Quartier gezogen und saß ganz ruhig auf meinem Zimmer. Da geht die Thüre auf und ein Frauenzimmer kommt herein. Ich dencke es hat sich jemand von unsern Mitbewohnern verirrt; aber siehe es ist Bettine die auf mich zugesprungen kommt und noch völlig ist wie wir sie gekannt haben. […] Sie hat mir unendliches erzählt von alten und neuen Abentheuern. Am Ende geht es denn doch wohl auf eine Heyrath mit Arnim aus.15

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Ebenda, S. 246. Eine ausführliche und aufschlussreiche Interpretation dieser Briefstellen findet sich auch bei Goozé: Desire and Presence. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 311–340. Vgl. Bäumer/Schultz: Bettina von Arnim, S. 61f. Goethe: Napoleonische Zeit – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 6 (33), S. 591.

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Ganz anders wird die Überschreitung der Raumgrenzen in den so genannten Töplitz-Fragmenten, die als Vorarbeiten zum Goethebuch anzusehen sind, von Bettina von Arnim funktionalisiert. Dort werden die Grenzen der Gesellschaft bzw. des Hauses mehrfach überschritten. Die Erzählerin berichtet im Schlussteil der Fragmente, wie sie ihr eigenes »Schlafzimmer« wieder verlässt, ohne »Oberkleider« in einen »Pelz« gehüllt hinab in den Hof steigt. Ähnlich, wie Wilhelm Meister durch das Spiel der Musikanten entrückt vor Marianes Wohnung ausharrt, schläft Bettine selig vor den »erleuchteten Fenstern« des Ersehnten ein. Aber sie erwacht, schleicht »auf den Fußspitzen bis zu seiner Thür«, tritt schließlich hinein und: »so nahm ich das Kopfkissen was er auf dem Stuhl am Bett hatte liegen lassen, das legte ich auf die Erde am Fußende des Bettes dalegte ich mich drauf in meinen Pelz eingehüllt [...], so schlief ich wieder ein«. Bis morgens ein »Posthorn«, den romantischen Topos vollendend, Bettine und Goethe weckt und zum Aufbruch ermahnt.16 Schon Werner Vordtriede stellt fest: »Halb wie Mignon, halb wie eine EichendorffGestalt schläft sie zu Füßen des geliebten Mannes.«17 Die stark erotisierte und dabei stilisierte Erzählung von Bettines und Goethes Begegnung endet mit den Goethe in den Mund gelegten Worten: »Aber nun komm nicht wieder herein, sonst bist du und ich verloren.«18 Der vielleicht bekannteste und am meisten kommentierte Besuch Bettina von Arnims bei Goethe ist ihr erster, am 23. April 1807, über den es verschiedene Briefäußerungen gibt (u.a. die Briefe von Bettina von Arnim an Savigny, ihren Bruder Clemens oder Goethes Mutter an Christiane19). Aber der Besuch ist natürlich auch Teil vom Briefwechsel mit Goethe’s Mutter im Goethebuch. Clemens Brentano bezweifelt in einem Brief an die Schwester »irgend ein Nutzen« darüber, »daß alle Menschen in Europa wissen, daß Du nicht wohl erzogen auf dem Sofa sitzen kannst und Dich übel erzogen auf eines Mannes Schoß setzest […]«.20 Trotz des allgemeinen Goethekults hat auch Brentano das Goethebuch seiner Schwester aufgrund der vielen erotischen Anspielungen als »Tabubruch« verstanden.21 Die Sofa-Szene ist im Brief an Goethes Mutter des Goethebuchs von zentraler Bedeutung; eine ähnliche Szene hat ja in dem bereits zitierten, allerdings späteren Brief an Goethe in Form des sehnsüchtigen Einlassens Goethes in ihr Zimmer eine Rolle gespielt. Wiederum wird eine vergleichbare Grenztopologie etabliert: Goethe führt 16

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Bettine von Arnim: Die Töplitz-Fragmente – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 808f. Zur Entstehung und Sprache der Töplitz-Fragmente vgl. Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon, S. 77–90, sowie Schmitz: Bettine in Weimar, S. 112–114. Zur Diskussion steht, inwieweit das Erzählte einen außerliterarischen Hintergrund hat und ob ggf. Goethe sich bewusst in den Äußerungen seiner Frau gegenüber in Zurückhaltung übt. Vordtriede: Bettina und Goethe in Teplitz, S. 348. Vgl. ebenda auch die grundlegende Synopse der verschiedenen Fassungen der Fragmente. Bettine von Arnim: Die Töplitz-Fragmente – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 809. Vgl. Schmitz’ und von Steinsdorffs Erläuterungen in Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, besonders S. 826–830; sowie Milch: Die Junge Bettine, S. 126–136. Brief an Bettina von Arnim (München, 17.6.1834). Brentano: Briefe, Bd. 2, S. 331. Becker-Cantarino: Erotisierte Freundschaft in der Konstruktion romantischer Identität am Beispiel Bettina von Arnims. – In: Dickson/Pape (Hrsg.): Romantische Identitätskonstruktionen, S. 229–245, hier S. 237.

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Bettina nach ihrer Ankunft »in sein Zimmer und setzte mich [Bettine] auf den Sopha gegen sich über«.22 Lange Pause – ich auf das fatale Sopha gebannt, so ängstlich. […] Ich sagte plötzlich: hier auf dem Sopha kann ich nicht bleiben, und sprang auf. – Nun! sagte er, machen Sie sich’s bequem; nun flog ich ihm an den Hals, er zog mich auf’s Knie und schloß mich an’s Herz. – Still, ganz still war’s, alles verging. Ich hatte so lange nicht geschlafen; Jahre waren vergangen in Sehnsucht nach ihm, – ich schlief an seiner Brust ein; und da ich aufgewacht war, begann ein neues Leben.23

Die aktive Rolle übernimmt auch in dieser Episode Bettine, dieses Mal ermutigt sie nicht Goethes Einbildungskraft zur Grenzüberschreitung, sondern sie handelt direkt selbst: »hier auf dem Sopha kann ich nicht bleiben, und sprang auf […].« Das SofaMöbel ist nicht nur Teil des Diskurses von räumlicher Nähe und Distanz, sondern auch des zeitgenössischen Modediskurses. Im Journal des Luxus und der Moden werden Möbel nicht nur dargestellt, sondern auch in ihrer Funktion festgelegt: Ein »Canapee«, das mit dem Sofa eng verwandt ist, sei – so heißt es im Journal – schon immer ein »bequemer Sitz« gewesen, »zum vertraulichen Gespräch zweyer Freunde bestimmt«.24 Bequemlichkeit und die damit verbundene Intimität werden auch im vorliegenden Brief aufgerufen und damit auch der Modediskurs als Teil des Wohnkomplexes integriert. Da das Sofa zudem eine klare Geschlechtspräferenz besitzt – noch zur Konvention des 19. Jahrhunderts gehört die Regel: »Herren nie aufs Sopha!«25 – lässt sich auch Bettines inszenierter Bruch der Raum- und Diskursgrenzen nachvollziehen, wenn sie die weibliche konnotierte Möbelzone verlässt und auf den sitzenden Goethe zustürmt.

3. Geheiligte Ankunft: Bettine und Wilhelm Die Ankunft der Bettine-Figur bei Goethe in Weimar, kurz bevor sich die erwähnte Schoßszene entfaltet, kann direkt in Bezug zu Goethes Lehrjahren gesetzt werden; eine solche Verknüpfung liegt angesichts der mehrfachen Erwähnung der Lehrjahre im Goethebuch und durch die Mignon-Affinität Bettines nahe.26 Der Besuch zeichnet sich anfänglich durch eine (wenn auch spielerische) Konventionalität der jungen Bettine aus, wenn sie zunächst Wieland um eine Empfehlung bei Goethe bittet. Dann erst betritt sie nämlich Goethes Haus, unterliegt den Eindrücken dessen Treppenhauses, um dann in den Bannkreis von Goethes klassizistischen Bau22

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Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 25. Ebenda. Siehe: [anonym]: Ammeublement. 1. Ein Englisches Canapee. [Kupfertafel VII] – In: Journal des Luxus und der Moden, Februar 1786, S. 84–87, hier S. 84. Vgl. auch Emmrich/Schroeder: Interieurs, S. 507. Zumindest bezüglich des Verhaltens in Besuchszimmern bei den konventionellen Visiten, Linke: Sprachkultur, S. 184. Vgl. zu dem Komplex z.B. insgesamt Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon.

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projekten zu geraten.27 Goethes Wohnhaus und dessen fiktive Entsprechung in Bettina von Arnims Text überlagern sich hier natürlich in starkem Maße. Susan Bernstein betont zudem die Parallelen von Goethes Haus am Frauenplan mit dem Haus des Oheims in den Lehrjahren, um – mit Blick auf dessen Musealisierung bis heute – zu schließen: »Goethe’s building becomes our Bildung.«28 Stellt man jedoch die ästhetischen Diskurse der Lehrjahre in den Mittelpunkt, konzentriert sich der Bildungsprozess auf das Verhältnis von Wilhelm und seiner Beziehung zur Kunst. Entscheidend für ihn ist dabei die Baukunst, die durch das Haus des Oheims repräsentiert ist, dort erkennt er schließlich: »Ist doch wahre Kunst, rief er aus, wie gute Gesellschaft; sie nötigt uns auf die angenehmste Weise das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.«29 Von einer ähnlichen ästhetischen Erfahrung mag nun auch die Bettine-Figur im Goethebuch geprägt sein: Sie berichtet Goethes Mutter davon, wie ihr noch das Rauschen des Brunnens vor dem Haus »betäubend« in den Ohren klingt, als sie sich anschickt, die »einfache Treppe« hinaufzugehen, und die dortigen Statuen »Stille« (»auf diesem heiligen Hausflur«) »gebieten« – und es heißt: »In den Zimmern ist die höchste Einfachheit zu Hause, ach so einladend!«30 Wilhelm Meisters Ankunft im Haus des Oheims, kurz bevor er Natalie trifft, wird auf eine ähnliche Weise erzählt: Als Wilhelm das Haus betritt, gelangt er zum »ernsthaftesten, seinem Gefühle nach, dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte«. Er steigt eine »breite sanfte Treppe« hinauf, »Statuen und Büsten standen auf Piedestalen und in Nischen geordnet«; bis er in den »Vorsaal« und schließlich »durch ein paar Zimmer in ein Kabinett« zu Natalie gelangt, wo sie gemeinsam Platz nehmen: Sie setzt sich mit Felix auf ein Canapee, Wilhelm bittet sie auf einen Sessel Platz zu nehmen.31 Nach Wilhelms Ankunft bei Natalie trifft er schließlich auch Mignon wieder, und es entwickelt sich ebenfalls eine Schoßszene: »Mignon […] hatte Felix auf dem Schoße und drückte ihn an ihr Herz, sie sah völlig aus wie ein abgeschiedner Geist, und der Knabe wie das Leben selbst, es schien als wenn Himmel und Erde sich umarmten.«32 Felix, der die Zukunft seines Vaters Wilhelm repräsentiert, bildet mit Mignon eine zeitenthobene, stille Ersatz-Vereinigung, die Bettine auch im Goethebuch auf Goethes Schoß erlebt. ›Stille‹, ›Himmel‹ und ›Erde‹ und das Bild vom ›Schoß‹ rufen dabei das typische Inventar der literarischen Darstellung romantischer Liebe auf.33 Vor allem Konstanze Bäumer hat die zahlreichen Mignon-Beziehungen in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde herausgearbeitet, die Bettina von Arnim

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Pielmann: Goethes Treppenhäuser, S. 178. Bernstein: Housing Problems, S. 39. Vgl. auch Pape: Aesthetics, S. 133. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 9, S. 896. Vgl. hierzu ausführlich Pape: Aesthetics, S. 130–134, sowie Papes Beitrag in diesem Band S. 141–144. Arnim, Bettine von: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 25. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 9, S. 892f. Ebenda, S. 905. Vgl. etwa Eichendorffs Gedicht Mondnacht, Schulz: Romantik, S. 115.

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dem Bettine-Kind des Goethebuchs im Gegensatz zum Originalbriefwechsel bewusst als Stilmittel einschreibt.34 Auch vor dem Hintergrund der Raumdiskurse des Wohnens scheint jedoch die Figur Wilhelms für die Bettine-Figur im Goethebuch eine Rolle zu spielen, und damit werden auch zwei Kunstanschauungen relevant: Einerseits gehört Mignon jenem vergangenen ›naiven‹ Dichtertypus an, dessen Zeit mit der Moderne endet, da nunmehr – im Sinne Schillers – eine kritisch sentimentalische Haltung erfordert wird.35 Wilhelm andererseits entwickelt sich vom dilettierendern Dichter und Schauspieler zu einem Kunstbetrachter, der seine Einbildungskraft kontrolliert und nicht mehr im Stoff der Kunst identifikatorisch zergeht und seinen Platz im bürgerlichen Leben findet. Gerade im Kontext seiner neuen Raumwahrnehmung ist seine Bildung und seine Glücksgeschichte zu sehen: Die Baukunst kann gerade in exemplarischer Vollendung (wie in Form des Hauses des Oheims), so Goethe in seinem Baukunst-Aufsatz (1795), »einen gebildeten Geist bis zum Erstaunen und Entzücken« führen.36 Die Bettine-Figur, die sich bewusst mit den Mignon-Motiven umgibt, stellt also einerseits ihre Sehnsucht mittels der Einbildungskraft subjektiv anhand von WohnRaumstrukturen dar. Die Bettine jedoch, die wie Wilhelm von der Raumästhetik wahrer Baukunst berührt wird und in ihren stillen Bann gezogen wird, erfährt ein Raumerlebnis, das erzählerisch sorgfältig ausgestaltet wird. Im Moment von größter Nähe, verliert sich der Raum und eröffnet, wenn auch nur für den Moment, eine Glücksgeschichte, die zwar wie jede Erfahrung letztlich noch individuell erlebt werden muss, jedoch für ein allgemeines, absolutes Glück steht: »Still, ganz still war’s, alles verging. Ich hatte so lange nicht geschlafen; Jahre waren vergangen in Sehnsucht nach ihm, – ich schlief an seiner Brust ein; und da ich aufgewacht war, begann ein neues Leben.«37

4. Die letzte Einrichtung: Ein Denkmal Werden im Wohnkomplex verschiedene Diskurse gebündelt, die sich erzählerisch entfalten können, so kann man Bettina von Arnims geplantes Denkmal als räumlich-visuelle Bündelung ihres Verhältnisses zu Goethe verstehen. Im Tagebuch des Goethebuchs beschreibt sie den Entwurf, den Goethe einmal etwas distanziert »das wunderlichste Ding von der Welt«38 genannt hat: Goethe in halber Nische auf dem Thron sitzend, sein Haupt über die Nische […] erhaben, wie der Mond sich über den Bergesrand herauf hebt. […] die rechte Hand, welche meine Blumen34

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Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon, hier S. 130. Zu den Beziehungen zur Mignon-Figur vgl. außerdem Landfester: Selbstsorge als Staatskunst, S. 180–201. Vgl. Berghahn: Kommentar, S. 132–135. Goethe: Baukunst (1795) – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. I, Bd. 18, S. 368. Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 25 (vgl. auch Anm. 23). Goethe an Christoph Ludwig Friedrich Schultz (3.7.1824), Goethe: Die letzten Jahre – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Abt. II, Bd. 10 (37), S. 179.

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hielt, ist […] gesenkt, und hält, nachlässig seines Ruhms vergessend den vollen Lorbeerkranz gesenkt, sein Blick ist nach den Wolken gerichtet, die junge Psyche steht vor ihm, wie ich damals, sie hebt sich auf ihren Fußspitzen, um in die Saiten der Leier zu greifen, und er läßt’s geschehen in Begeistrung versunken. Auf der einen Seite der Thronlehne ist Mignon als Engel gekleidet mit der Überschrift: »So laßt mich scheinen bis ich werde«, jenseits Bettina, wie sie, zierliche kindliche Mänade auf dem Köpfchen steht, mit der Inschrift: »Wende die Füßchen zum Himmel nur ohne Sorge! Wir strecken Arme betend empor, aber nicht schuldlos wie Du.«39

Im geplanten Denkmal treffen Mignon, Bettine und Psyche, die als zweite Bettine – »wie ich damals« – Goethe kongenial in die Leier zu greifen versucht, zusammen. Den »höheren Standpunckt« (so die Formulierung im Originalbriefwechsel40), den Psyche kletternd anstrebt, interpretiert Bäumer im Kontext von Bettina von Arnims Veränderungen im Verhältnis zu Goethe.41 Ihr Denkmal kann man zudem als letzte, von der Bettine-Figur selbst reflektierte und thematisierte Schoß- bzw. Sesselszene des Goethebuchs interpretieren: Liebe und Nähe sind dem Entwurf eingeschrieben, aber auch wieder der Wunsch nach Grenzüberschreitung (durch den Griff in die Leier). Als realisiertes Denkmal wird es damit aber auch zu einem erweiterten Einrichtungselement von Architektur oder – en miniature – vom Wohnen. Das eigentliche Denkmal ist jedoch Bettina von Arnims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde selbst geworden, das auch den Untertitel Seinem Denkmal trägt.42 Die Sehnsucht der Bettine-Figur wird mittels der verschiedenen Diskurse des Wohnens narrativiert. Wie am Anfang der Lehrjahre Wilhelm die Wohnung Marianes umschleicht, wird ein Spiel von Nähe und Distanz inszeniert, von sehnsuchtsvoller räumlicher Vereinigung und bitterem Abstand; Grenzen werden von Bettine imaginativ, damit aber nicht weniger kunstvoll überschritten – und auch die ästhetischen Diskurse von Mignon und Wilhelm finden ihren Ort im narrativierten Raum. Goethes Wohnhaus ist dabei der Fluchtpunkt der Wohndiskurse – auf fiktionaler Ebene sowie zudem in der Wahrnehmung Bettina von Arnims, die an Kanzler von Müller (vermutlich Ende 1837) schreibt: Ich denk an Goethes Haus, ich denk an die Wechsler im Tempel, wir wollen sie mit Geislen hinaus jagen; dies Haus ist der Kern aller heiligen Erinnerungen, es ist die Basis eines Monuments für ewige Zeiten und was Ihr Weimaraner der ganzen Welt schuldig seid; und so kurze Zeit nach seinem Tod ist es profaniert; und verfeilscht an fremde Menschen und diese Treppen werden von gleichgültigen Bewohnern gemißbraucht. Dies einzige, lieber Müller, bewircken Sie, daß das Haus frei bleibe von fremden Bewohnern, daß seine feierliche Stille nicht verunglimpft werde; machen Sie, daß Ihr Landesvater es kaufe, es kann ja verzinst werden bis das Kapital da ist. – Denn wenn die Menschheit erst ans Profane gewöhnt ist, dann läßt sie sichs gefallen. Krönen Sie sich also mit der Marterkrone Ihrer Vormundschaft und dringen Sie

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Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 568. Ebenda, S. 733. Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon, S. 110–112. Vgl. auch Growe: Briefleben, S. 133–143. Vgl. auch den Kommentar von Heinz Härtl zum Denkmalprojekt in Bettina von Arnim: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde – Werke 1, S. 649–657, bes. S. 654.

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Norbert Wichard darauf, daß das Haus gekauft werde. Dann lassen Sie keinen mehr drin wohnen, O nein, lassen Sie keine unzüchtigen Weiber drinn wohnen.43

Bettina von Arnims Engagement für den Erhalt des Hauses am Frauenplan als geheiligter Ort der Goethe-Verehrung zeugt von dem Wunsch nach der Konservierung des goethischen Wohnens, so wie sie es selbst wahrgenommen hat. Die weihevolle Stimmung soll nicht durch ein fremdes Wohnen zerstört werden. Die Musealisierung des Hauses würde damit wie in ihrem Goethebuch zu einer dauerhaften Inszenierung des Wohnens führen. Die Formulierungen im zitierten Brief erinnern an die des Goethebuches (etwa durch den Bezug auf die Stille oder das Treppenhaus), aber auch der weitere Wortlaut des Briefes enthält eine bekannte Struktur: »Dann will ich kommen und wir wollen das Monument in der Halle wo seine Leiche stand stellen, und nach der Straße zu soll das Haus verschlossen bleiben. Und nach dem Garten vom Parck aus kann man hinein gehen. – So träum ich.«44 Die mögliche Platzierung ihres Denkmals in den intimen Wohnbereich Goethes ist wiederum als produktive Grenzüberschreitung zu werten. Insofern ist das Haus nicht nur der »Kern aller heiligen Erinnerungen«, sondern auch der Ort einer musealisierten wie literarisierten eingerichteten Sehnsucht.

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Schüddekopf/Walzel (Hrsg.): Goethe und die Romantik. 2. T., S. 300f. Vgl. auch den Kommentar in Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, S. 839–847, bes. S. 840. Schüddekopf/Walzel (Hrsg.): Goethe und die Romantik. 2. T., S. 301.

Antje Roeben

»Eine Art Grimm gegen die Häßlichkeit«: Räume sozialer Ausgrenzung

1. Hässlichkeit als literarisches Motiv Im Vorwort seiner Ästhetik des Häßlichen rechtfertigt Karl Rosenkranz 1853 seinen Text, indem er der prüden Wissenschaft vorwirft: Unsere deutsche Literaturgeschichte ist durch das Zurechtmachen derselben für Mädchenpensionate und höhere Töchterschulen schon ganz kastriert worden, um nur immer das Edle, Reine, Schöne, Erhebende, Erquickende, Gemütliche, Liebliche, Veredelnde und wie die Stichworte weiter lauten, für die zarten Jungfrauen- und Frauenseelen herauszustellen.1

Gerade damit ist ein Paradox formuliert, das Rosenkranz’sche Negativschöne2, als Desiderat in der Literatur, das zugleich seinen eigenen Ausschluss produziert. Räume sozialer Ausgrenzung sind auch die Räume des Hässlichen und solche Räume sollen im Folgenden als Grundlage für eine »Analyse des Zusammenspiels von narrativen Techniken der Raumdarstellung, Fokalisierung und der Bezugnahme auf den gender-Diskurs« dienen, um so »Aufschluß über gesellschaftliche Formen der Darstellung, Wahrnehmung und Semantisierung des narrativen Raums«3 zu geben. Besonders aufschlussreich ist die Sympathielenkung, die sich anhand von Raumstrukturen, gerade den unheimlichen Räumen der (Schauer-)romantik, ablesen lässt und durch die Dichotomie Hässlichkeit – Schönheit besondere Schärfe erhält. Hässliche Mädchen- und Frauenfiguren, die Angst der Schönen vor Hässlichkeit und das Strukturprinzip des unheimlichen Raums als Ort sozialer Ausgrenzung häufen sich gerade in Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Dass »das Geschlecht der Figuren an Form und Funktion der Raumdarstellung weit mehr beteiligt [ist], als außerhalb feministischer und geschlechterkritischer Forschung angenommen wurde«4, ist inzwischen Forschungskonsens. Die außerliterarische Relevanz dieser Thematik zeigt sich beispielsweise an Herders Abhandlung Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele? von 1766, die sich explizit, wie zu erwarten, auch an Leserinnen richtet: »die Schönen werden mich lesen, weil sie ein

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Rosenkranz: Die Ästhetik des Häßlichen, S. 10. Ebenda, S. 15. Allrath: Feministische Narratologie. – In: Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, S. 60. Würzbach: Erzählter Raum. – In: Helbig (Hrsg.): Erzählen und Erzähltheorie, S. 58.

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schmeichelhaftes Ja auf diese Frage erwarten; die Häßlichen, weil sie sich einen Trost, und ein erbauliches Nein! versprechen.«5 Umberto Eco trägt in den Geschichten der Schönheit und der Hässlichkeit Bildund Textbeispiele dazu aus sämtlichen Genres zusammen.6 Durch den sich öffnenden literarischen Markt um 1800 und die zunehmende Zeitschriftenproduktion in Deutschland werden diese Themen popularisiert, gerade auch durch neue Autorschafts- und Leserkonzepte realisiert und finden so in Höhenkamm- wie Trivialliteratur ihre Verbreitung: Der Begriff der ›Massenkünste‹ hat dabei [bei der Aufhebung der Trennung von Kunst und Kitsch] den Vorteil, dass er nicht länger in Kategorien des Ersatzes, der Flucht oder der Kompensation operiert, vielmehr jene in ihrer eigenen Dynamik und Faszination ernst nimmt [...]. Auch Massenkünste vermitteln, wie andere Künste, die Erfahrung von Schönheit, Verausgabung, Erschrecken und Mitleid sowie Ahnung eines Anderen; auch sie ermöglichen Distanzierung von Gegebenem. Ihre Funktion besteht freilich nicht mehr in der Exklusion und Distinktion, sondern in der umfassenden Inklusion aller ins System der Massenmedien.7

Autorinnen um 1800 publizieren gerade auch in Periodika, eben weil diese Raum bieten für ›Dilettantismus‹ und, begünstigt durch die Möglichkeiten der Distribution, ein breites Lesepublikum erreichen.8 In einem Brief an ihren Vater Christian Gottlob Heyne 1810 erläutert Therese Huber ihr Selbstverständnis als arbeitende Frau und Schriftstellerin während ihrer Ehe und ihren veränderten Stand als Witwe: [...] das gütige Urteil welches Sie über mein Talent als Autor fällen, hat mich weinen machen [...]. Weiblicher ging wohl nie ein Weib von der, ihrem Geschlechte vorgeschriebenen, und es allein beglückenden Bahn ab; als ich. Ich schrieb um meinen Mann die Mittel zu erleichtern, Weib und Kind zu ernähren, und nie erfuhr es bis zu Hubers Tod ein Mensch daß ich die Feder ansetzte.9

So veröffentlicht Therese Huber als Witwe 1819 die Erzählung Die Hässliche in Cornelia, einem bekannten Taschenbuch für Deutsche Frauen, das sich bis 1841 großer Beliebtheit erfreute.10 Nach Sulzer ist das Hässliche durchaus für die Kunst zugelassen, sofern es in das Schöne überführt wird.11 Diese Vorstellung wird in Die Hässliche realisiert und anhand der Erzählung der Räume verbildlicht, die, wie

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Herder: Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 136. Vgl. Eco: Die Geschichte der Schönheit, 2004, Die Geschichte der Hässlichkeit, 2007. Günter: Im Vorhof der Kunst, S. 36. Vgl. ebenda, S. 90f. Huber: Briefe 1810–1811, S. 194, hier: Brief 103. Günter: Im Vorhof der Kunst, S. 71. Vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Zweyter Theil: Hässlich, S. 457–459. Wie außerdem Ursula Franke schreibt, beginnt erst um 1900 eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Hässlichen ohne Bezug auf das Schöne als das eigentlich dadurch erst hervorgehobene positive Gegenbild, nicht mehr nur als untergeordnetes Hilfsmittel, vgl. Ursula Franke : Hässliche (das). – In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 1003–1007.

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Bachmann-Medick in ihrem Forschungsüberblick zum spatial turn zeigt, als »soziale Konstruktion«12 wahrgenommen werden. Grundsätzlicher heißt es dazu im Handbuch der Kulturwissenschaften, dass kulturelle Räume »institutionalisierte Figurationen auf symbolischer und – das ist das Besondere – auf materieller Basis, die das soziale Leben formen«13, seien. Durch Räume werden Dominanzen erzeugt, deren Machtstrukturen sich darin zeigen, dass sie nicht zu erschließen sind, dass sie mit Unheimlichem, Geheimnissen, sozialen Schranken und belastenden Erinnerungsstücken aufgeladen und ausgestattet sind. In diesen Kontext passt das Verhüllen der Hässlichkeit, das Ausschließen des Nichtnormierten aus dem sozialen Raum. Damit scheint es zunächst so, als wenn der Raum aus der Figur heraustrete und diese dann dominierte; in besonderem Maße spielt die Schauerliteratur mit diesem Konzept.14 An deren anthropomorphisierten Räumen lässt sich zeigen, wie das Innere nach Außen getragen wird, wie Räume Menschen verändern. Der Raum versiegelt den Umkreis der Figuren oder (zer)stört ihn – gleichsam als werde der Raum zum Akteur, obwohl natürlich umgekehrt gilt: Der Raum wird nicht erzählt, wie er ist, sondern wie er empfunden wird. Ein Raum kann nur »Träger von Atmosphären«15 sein, die ihm zugewiesen werden. Dabei ist der Zusammenhang von Hässlichkeit und Raum von Interesse, und zwar insofern, als jene diesen unheimlich stimmt und dem Raum eine Tiefendimension gibt. Literarische Raumdarstellung – z. B. die Detailbeschreibung von Interieur – suggeriert ein Verharren, eine erzählte Tiefe: Elisabeth Bronfen benennt die Kategorie Raum als »der sequentiellen Oberfläche [dem zeitlichen Nacheinander der Erzählung] entgegengesetzte Tiefe im Sinne einer simultanen Mehrflächigkeit«16.

2. Räume der Ausgrenzung I: Die Hässliche als Gefahr In Therese Hubers Erzählung Die Hässliche gibt es innerhalb der städtischen Gesellschaft keine Schutzräume für die hässliche Alwine, die die Totenkopfzüge ihres verstorbenen Vaters geerbt hat, in jungen Jahren also bereits an der Erbkrankheit der Progerie leidet. Nicht nur die Geheimnisse des Inneren in Form des Gehirns, auch dessen Hülle, der Schädel und zumal der Totenkopf, sind als Motive in der Literatur fest verankert.17 Für Alwine bedeuten aufgrund ihrer Krankheit soziale Räume Zurschaustellung und Entblößung. Die Erzählung lebt davon, Räume zu dysfunktionalisieren: entweder, indem sie vollständig abgedunkelt und nur bei Nacht benutzt werden, oder, indem sie für Blinde ihre Relevanz verlieren.

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Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 284, in der Tradition Lefebvres und Bourdieus. Löw: Raum – Die topologischen Dimensionen der Kultur, S. 46. Zum bisherigen Forschungsstand vgl. Lange: Architekturen der Psyche, S 21–25. Löw: Raum – Die topologischen Dimensionen der Kultur, S. 56. Bronfen: Der literarische Raum, S. 356. Vgl. Alt: Literatur und Gehirn um 1800. – In: Elsner/Frick (Hrsg.): Scientia Poetica, S. 163–192.

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Eine erzählerische Analepse liefert uns die notwendigen Hintergrundinformationen: Alwine wächst bei ihrer Mutter auf einem einsamen Landgut auf. Höflichkeit, Gewohnheit und Geld verhindern, dass man dem Kind aufrichtig gegenübertritt. »Mit dem konkreten Begriff der Schönheit entdeckt Alwine ihre Hässlichkeit, indem sie die abfälligen Bemerkungen anderer Menschen [...] nun zu deuten vermag und als Gegenteil des Ideals begreift. Alwina kompensiert den Schmerz über diese Entdeckung mit dem Studium des Schönen.«18 Allerdings kann sie weder in abstrakten Worten noch in ihrer Körpersprache ausdrücken, wie Schönheit sie ergreift: Diese Unfähigkeit hat zwei Ursachen, die in ihrer Selbstfixierung liegen; genauer, in dem Wissen um ihre Hässlichkeit und in der Scheu, den Eindruck zu erwecken, sie versuche krampfhaft hübsche Mädchen nachzuahmen. Besonders selbstquälerisch ist die Gegenüberstellung mit Sara, »einer der reizendsten Blondinen«19. Je stärker ihre Empfindung ist, desto kälter und unnatürlicher wirkt sie auf der Oberfläche. Um diese Diskrepanz, die argumentativ nicht aufgehoben werden kann, zurückzudrängen, wird folgende Lösung vorgestellt: Die Ausschaltung aller Diskurse der Oberfläche, nämlich des umgebenden Raums, der sozialen Umwelt und nicht zuletzt des Körpers im Raum. Raumumgebung und Umwelt werden ausgeschaltet durch ständige Abdunklung der Innenräume, der Totenkopf wird unter einem Schleier verborgen. Unheimlich sind die Räume, in denen sich Alwine aufhält, durch die Hässliche selbst und das Geheimnis ihrer Hässlichkeit als einer »Seelenkrankheit«20. Auch die geheimnisvolle Protagonistin in E.T.A. Hoffmanns zeitlich unmittelbar vorangehender Erzählung Das Gelübde (1817) ist seelenkrank: eine von Kopf bis Fuß verschleierte Frau, deren Gesicht, wenn es versehentlich erblickt wird, maskenweiß und totengleich starr ist. Das titelgebende Gelübde ist unmittelbarer Anlass für die abschreckende Maske, geht der Verhüllung voraus. Unter dem Schleier schimmert ein unbewegtes Gesicht hindurch, das keine Regungen kennt.21 Coelestine kann nicht im Schutzraum des Klosters bleiben, da sie unübersehbar hochschwanger ist. Der neue Raum, der ihr zugewiesen wird, ist der Fremden gegenüber zunächst feindlich eingestellt, und das nicht nur aufgrund der kompromittierenden Situation einer unverheirateten Schwangeren und ihres auffälligen Äußeren wegen, sondern, ganz wie in Therese Hubers Erzählung, aufgrund ihrer abweisenden, steifen Art, die sie gleich bei ihrer Ankunft mit ihrer Zimmerwahl deutlich macht. Nicht die hergerichteten, geselligen Zimmer zur Straße wählt sie, sondern eine kleine nach hinten gehende Kammer, die von Hermenegilda als Klosterzelle eingerichtet wird und in der sie sich die meiste Zeit einsperrt. Erst ihre Hilfsbedürftigkeit nach der Geburt lässt sie menschlicher erscheinen. Während Hermenegilda in der Hausfrau eine Vertraute findet, die ihr Geheimnis unter dem Schleier wahrt, ist Alwines Vertraute die Mutter von Alphons. In ihrer

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Stegemann: Die Häßliche und ihre »selenkundige Tendenz«, S. 44. Huber: Die Hässliche, S. 376. Ebenda, S. 375. Vgl. Liebrand: Hoffmanns Nachtstück Das Gelübde. – In: Füllmann (Hrsg.): Der Mensch als Konstrukt, S. 171–180.

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Pflege kann Alwine ihre wahren Fähigkeiten als ›Tugendengel‹ beweisen. Als aber Alphons’ Mutter gestorben ist, wird auch der Schutzraum für Alwine aufgehoben. »Man öffnete die Fenster dem Tageslichte, das mit hellem Wintermorgenstral hereinbrach [...]«.22 Alphons soll also eine »Speculationsbraut«23 heiraten, der er bislang zwar nicht in die Augen geschaut hat, aber deren Anlagen er während der gemeinsamen Pflege seiner Mutter beobachtet hat. Nachdem die schützende Dunkelheit aufgehoben ist und Alphons zufällig Alwines Gesicht unter dem Schleier erblickt hat, ist ein guter Ausgang zwischen dem schaudernden Alphons und Alwine nur durch Glück im Unglück denkbar. An dieser Szene macht Linda Worley deutlich, dass nicht nur Alwines Kälte und ihr Stolz sie hässlich machen, sondern dass tatsächlich der Totenkopfschädel abstoßend ist, Alwine also durchaus im Recht ist, eine Hochzeit abzulehnen, auf der sie eine hässliche Braut sein müsste.24 Daher ist auch keine Lösung, dass Alwine bloß ›natürlicher‹ werden müsste. Alphons also, in Folge einer inzwischen erlittenen Kriegsverletzung bzw. aufgrund seiner Erfrierungen, erblindet und verliert die Stimme, ist somit auf die Hilfe anderer angewiesen. Erst indem der Lebensraum als Orientierungsgröße ausgeschaltet ist (und damit auch alle Normvorgaben wie Schönheitsideale), kann er das spüren, was angesichts seiner sterbenden Mutter bereits augenscheinlich wurde: Alwines Charakter und ihre milde, unverkrampfte Art des Umgangs. Dabei wird die Erzählinstanz nicht müde zu betonen, dass es nicht Alphons ist, der diesen Graben zwischen Äußerem und Innerem nicht überwinden kann, sondern vielmehr Alwine, die weder aus Dank über die rettende Erbschaft noch aus Mitleid geliebt werden will. Entsprechend wird sie nicht dadurch geheilt, dass Alphons sie nicht mehr sieht; im Gegenteil, während sie sich ihm nicht zu erkennen gibt, schildert er der vermeintlichen Friedlef immer wieder, wie sehr ihn nicht die Hässlichkeit des Totenkopfs abgeschreckt hat, sondern ihre daraus resultierende Unnatürlichkeit und Eitelkeit. Die nun durch Alphons’ unbewusstes Geständnis seiner nicht mitleidigen, sondern aufrichtigen Liebe geheilte Alwine kann sich Alphons zeigen und den Raum für ihn strukturieren, ihm »Licht und Erde« ersetzen, in einfachen Worten Bilder von Landschaft und Umgebung entwerfen. Um das Unheimliche in den Alltag dieser Mannheimer Kleinfamilie zu integrieren, braucht es den Ausschluss des gesellschaftlich genormten Raums und die Zurückgezogenheit der Familie. Das Motiv der unbekannten Braut und der unheimlichen Raumumgebung gestaltet Therese Huber auch in ihrer Erzählung Die Verkannte. Vermittelt werden hier Furcht und Respekt davor durch eine weite Reise; am Ziel angelangt, wird in einer Prolepse das Schauerhaus und sein Geheimnis bereits angedeutet: »[...] was seiner Zukunft eine glückliche Wendung hätte geben können, sein Eintritt in dieses Haus, dem er so nahe angehören sollte, hatte die widerwärtigste Gestalt, erweckte die abschreckendsten Folgerungen.«25 Bei dem Haus handelt es sich um eine »alte Burg«, bei dem Ankömmling um Julius, der bis dato nicht nur ans Ende einer 22 23 24 25

Huber: Die Hässliche S. 369. Ebenda, S. 358. Vgl. Worley: The Body, Beauty, and Woman, S. 372. Huber: Die Verkannte, S. 96.

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langwierigen Reise gelangt ist, sondern auch ans Ende seiner Freiheit als Junggeselle. Und mit entsprechend gemischten Gefühlen steht er nun vor der Burg und ihrem Inneren. Die anfangs berichteten verstrickten Familienumstände (bei Huber fast immer die gleiche Ausgangskonstellation) legen zum einen den Konflikt an, dienen zum anderen als Vorbereitung auf die unheimliche Ankunftssituation. In diesem Fall kommt Julius zu seiner versprochenen, noch unbekannten Braut Anna (man ahnt bereits, dass die Unbekannte auch die ›Verkannte‹ sein wird). Ein Achsenbruch zwingt Julius allerdings kurz vor dem Ziel, zu Fuß das letzte Stück zum Schloss zu bewältigen. Er weiß, dass es kein Spaziergang werden wird, ihm ist genretypisch »unheimlich«26 zumute. Dieser Weg hin zur Burg und der Eintritt schließlich ist nicht nur typisch, sondern es lässt sich daran auch zeigen, was sich beim Betreten eines Innenraums oft nur innerhalb von Sekunden vollzieht – eine Entwicklung von Raumwahrnehmung, die Bronfen folgendermaßen charakterisiert: Im Erlebnismoment wird ein begehbarer Raum zuerst nur wahrgenommen, dann semantisiert, um dem Erlebnis eine Erklärung zuzufügen. In der Erinnerung wird er immer fiktionaler, entsprechend der zunehmenden Distanz zwischen Erlebnismoment und Gegenwart, wird dadurch aber auch zunehmend »wirklicher« (real) empfunden, weil das Wegfallen der Gebundenheit an ein Erlebnismoment oder eine Situation ein Erkennen der Essenzen freilegt.27

Julius wandert nicht gerade zielstrebig dem Schloss zu, da er geradewegs der Ehe, auch »Knechtschaft« betitelt, zugeht; die »letzte Stunde seiner Freiheit« verbringt er mit düsteren Gedanken und, noch schlimmer, der Entdeckung, dass er einen Tag vor dem versprochenen Datum ankommen wird.28 In dieses Zeitgefüge bricht mit Macht der Naturraum ein: Julius gerät in ein Sommergewitter. Die Erzählung vom Anblick des Schlosses wird ganz der Tradition der Schauerliteratur gerecht: Im Moment des Anblicks schiebt sich der Mond vor die Wolken und »bestralte die hohen Turmspitzen der alten Burg und hinter ihr das unabsehliche Meer, auf welchem sie sich wie ein schwarzes Todtengerüst abzeichnete.« Auf hohen Felsen emporragend, sieht Julius die Burg und die Tannenspitzen mit den Zacken der Felsen zusammenfließen und hört die tobende Brandung. Die Turmuhr schlägt zehn und kein Licht ist mehr in den Fenstern der Burg zu erkennen, als er den Weg zum Tor nimmt. Dort gewährt man ihm keineswegs sofort Einlass, sondern es wird geflüstert, Lampen erleuchten, er hört Schritte und es dauert einige Zeit, bis ein Bediensteter öffnet und Julius erklärt, dass die Herrschaften außer Hause seien. Unter zudringlichen Reden zieht dieser Kammerdiener auf dem Weg ins Haus und drinnen alle Aufmerksamkeit auf sich und läuft Julius zudem vor die Füße, so dass dieser keinen Blick umherschweifen lassen kann. Dem imposanten Anblick der Burg von außen und aus der Ferne folgt keine adäquate Fortsetzung in der Beschreibung von Details oder der Auffahrt und der Halle. Julius wird regelrecht in ein unattraktives, zum Innenhof gehendes Zimmer abgeschoben; sein Appartement sei noch nicht fertig gestellt. Als man ihn endlich allein lässt, setzt er sich mit 26 27 28

Ebenda, S. 90. Bronfen: Der literarische Raum, S. 33. Huber: Die Verkannte, S. 90f.

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diesem wenig gastfreundlichen Empfang und seinen unangenehmen Gefühlen auseinander, was durch seine Blicke, die er durch den Raum schweifen lässt, narrativ vermittelt wird: Das Zimmer, in dem er sich befand, war ziemlich groß, nur ein breites Bogenfenster gab ihm Tag; das Geräth bewies eine wunderliche Disharmonie zwischen altväterischer Baufälligkeit und befremdlichem Luxus. Alles Holzwerk war aus dem vorigen Jahrhundert, aber Teppiche, Wandbekleidung, Kornleuchter, Vasen, Silberzeug und Porzellan, welches alle Tische bedeckte, von unverhältnismäßiger Pracht und geschmackloser Zusammenstellung.29

Kurz: Das Zimmer ist nicht nur völlig überladen mit wenig zusammenpassenden Möbeln und Accessoires, sondern wirkt beinahe wie ein Lager. Wenn man vom gestimmten Raum ausgeht, so lässt sich diesem Zimmer keine Funktion zuschreiben, es erscheint insgesamt nicht als bildlich von den Hausbewohnern belebter Raum, sondern passend zur vollkommenen Stille im Schloss »wie in einem Grabe«. Besonders die Kommentare »wunderliche Disharmonie« und »befremdlicher Luxus« lassen aufhorchen: Darin steckt genau das Geheimnis dieses Hauses und die Adjektive verdeutlichen explizit die Haltung, die der noch unvoreingenommene Julius einnimmt: Befremden und Verwunderung. Der Leser kann bis zuletzt mutmaßen, weshalb dieses Zimmer und die zusammengewürfelten Gegenstände so ausführlich dargestellt werden: Neben der Funktion, dass durch die evozierten unangenehmen Gefühle Julius regelrecht aus dem Zimmer in das dunkle Schloss getrieben wird, lässt der Raum vom Ende der Erzählung die Vermutung zu, dass man es hier mit geraubten, gebrandgeschatzten und wahllos gehorteten Gegenständen zu tun hat. Zufällig öffnet sich durch einen Luftzug eine bisher unbemerkte Tür, hinter der ein Lichtstrahl in das Zimmer fällt, in dem Julius am Fenster steht, und Stimmen werden hörbar. Magisch angezogen nähert er sich dem Türspalt. Auf dieses Zimmer richtet sich seine Aufmerksamkeit, gemischt mit Unruhe und Misstrauen. Er beobachtet eine Verkleidungsszene und vermutet seine versprochene Braut Anna mit einem heimlichen Geliebten und einem unehelichen Kind, die heimlich und verkleidet aus der Burg geschmuggelt werden. Er sieht vom Fenster aus beide durch eine versteckte Pforte verschwinden und reist empört ab. In der Erzählung Die Verkannte werden sämtliche Topoi der Schauerliteratur aufgerufen und dann einsinnig, aus der Retrospektive und im sicheren Schutzraum eines Klosters, aufgelöst. Julius’ Unterstellung war tatsächlich falsch, er verkennt Anna insofern, als sie den Opfern ihres Vaters, Kopf der Küstenpiraterie, zu fliehen hilft. Kennzeichen dieser Schauerliteratur ist, im Gegensatz z. B. zu den Schauererzählungen E.T.A. Hoffmanns, die Auflösung des unheimlichen Moments. Eine Art Fortsetzung der Hässlichen und der Verkannten zugleich findet sich gewissermaßen in Adalbert Stifters Novelle Brigitta. Die programmatische Formulierung des Ich-Erzählers, »So bin ich denn nun begierig, was ich in dieser Wohnung Freundliches oder Häßliches erleben werde?«30, wird in der Studienfassung

29 30

Ebenda, S. 96 (so auch die folgenden Zitate). Stifter: Brigitta, S. 44, 45.

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um eine Erzählpassage erweitert, die die Wohnung detailliert beschreibt. Diese wird, wie auch der Blick aus dem Fenster bestätigt, als fremd und ungewohnt charakterisiert, was zumal durch die ungewöhnliche Ankunftssituation, die Steppe und das Totengerüst zusätzlich so wirken muss. Auch Brigitta, die bereits als Kind »eher unschön«31 ist – man spricht dann von einer »häßlichen und bereits auch alternden« Frau – muss wie Alwine ihren gekränkten Stolz ablegen, um wieder zu ihrem Mann zurückzufinden. Denn nach einem Seitensprung Stephans reicht Brigitta konsequent die Scheidung ein; später aber nähern sich Stephan und Brigitta in der Bewirtschaftung eines Musterguts als Nachbarn einander über Jahre wieder an. Brigittas ungewöhnliche Selbstständigkeit resultiert tatsächlich aus ihrer spröden, hässlichen Art: Die durch die ständige Ablehnung vor allem der Mutter hart gewordene Brigitta fordert von Stephan absolute Liebe: »›Weil ich‹, antwortete sie leise, ›keine andere Liebe fordern kann, als die allerhöchste. Ich weiß, daß ich häßlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern, als das schönste Mädchen dieser Erde.«32

3. Räume der Ausgrenzung II: Die Pflicht, schön zu sein Die Erzählung Justine (1818) von Caroline Auguste Fischer hat eine achtzehnjährige junge Frau zur Protagonistin, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil der Huber’schen Alwine zu sein scheint: »Aber die blendende Weiße ihrer Haut, ihr vollkommen schöner Mund, ihre blühende und zugleich ätherisch-leichte Gestalt, vor allem aber ein wunderliebliches Stumpfnäschen, erwarben ihr den Sieg, wo sie sich zeigte.«33 Eine hinreißende Schönheit, ist sich Justine ihrer Wirkung durchaus bewusst, aber sie ist abweisend und unhöflich. Justine versucht, ihr Inneres zu verbergen: »Sie war einmal gewohnt, äußerlich kalt zu erscheinen und die außerordentliche Zartheit und Innigkeit ihrer Empfindung zu verbergen.«34 Darüber gerät sie in Streit mit ihrem Vater. Ihr Verehrer und nachsichtiger Freund der Familie, Walther, wird von Justine konsequent abgewiesen, woraufhin er sich zum Kriegsdienst meldet. Dass der eigentlich so geliebte Walther, dem sie nie ihre Liebe zeigen konnte, ihr endlich auch eine Abfuhr erteilt, »versteinert« Justine geradezu, sie lässt ihre Arbeit liegen und die Räume verwahrlosen.35 Die Auflösung für Justines Verhalten liegt in den Ratschlägen der verstorbenen Mutter, die Männer als »natürliche Feinde«36 der Frauen deklariert und Justine vor ihnen warnt. Frauen müssten sich in der Ehe verstellen. Vor allen Dingen gibt sie ihr folgende Pflicht mit auf den Weg: »Doch muß die Frau – setzte sie hinzu – nicht die erste ihrer Pflichten, nämlich die, schön zu seyn, unerfüllt lassen.« Der Vater nennt das Unsinn, es gäbe eine solche Pflicht nicht. Aber Justine geht weiter ins Detail: 31 32 33 34 35 36

Ebenda, S. 87 (so auch das Folgezitat). Ebenda, S. 111. Fischer: Justine, S. 262. Ebenda, S. 273. Ebenda, S. 279. Ebenda, S. 282.

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Die Männer haben jetzt nicht allein die Abneigung, sondern eine Art Grimm gegen die Häßlichkeit, und bespötteln sie nicht mehr, sondern bestrafen sie wie das unerträgliche Verbrechen. Warum man daher nicht das spartanische Gesetz, die häßliche Kinder umzubringen, wenigstens in Ansehung der Mädchen, wieder einführt, kann ich nicht wohl begreifen. Daß es eine Wohlthat für sie seyn würde, ist gar nicht zu bezweifeln.37

Die Replik des Vaters kann als Reaktion auf diese außerliterarischen Diskurse zur Erhaltung der sozialen Ordnung gelesen werden: »So konnte nur eine schöne Frau [die Mutter] sprechen, und zwar, ohne die Häßlichen gehört zu haben.«38 Die Angst vor dem Rosenkranz’schen Negativschönen, vor der vergänglichen Schönheit, lässt Justine keinen Platz in der Gemeinschaft finden. Die einzige Möglichkeit zur Selbstverwirklichung für eine Frau, wie sie durch ihre Mutter gelernt hat, öffnet sich durch Bildung. Sie weiß genau, worauf sie sich nach dem Tod des Vaters einlässt, denn darauf hat sie sich gewissenhaft und autodidaktisch vorbereitet: eine eigene Profession in England. Sigrid Nieberle spricht von der »›Ortlosigkeit‹ der Figur«39, denn in der Erzählung werden solche Raumwechsel nie konkret, ihre Ausbildung und Profession lassen sich nicht verorten. Allerdings klärt Justine in einem Katalog verschiedener Länder auf, welche Ideale für Frauen in den einzelnen Ländern gelten. Sie ist sicher, dass sich hinter dem Begriff der Weiblichkeit ein Konzept und Frauenideal versteckt, das gegen Frauen verwendet wird. Sehr moderne Ansätze finden sich, wenn Justine für eine Geschichte der Frauen aus Sicht der Frauen und für eine Revolution der Menschenrechte, die auch für Frauen von Nutzen sind, plädiert.40 Die Diskussion wird zunehmend pauschaler, es geht um die Frauen, und zwar von Seiten des Vaters aus: »Das Genie bricht durch alle Hindernisse. Was habt ihr denn geleistet?«41 Doch Justine will nicht heiraten und sich damit begnügen, ihren Mann heimlich zu lenken. Ihr Vater versucht zwar zu akzeptieren, aber: »Diese Denkungsart ist nicht weiblich.«42 Als der Vater verarmt durch die Kriegswirren stirbt, geht Justine nach England und wird dort eine erfolgreiche Sängerin; auf der Rückreise nach Deutschland trifft sie zufällig auf Walther, seine Frau Sophie und deren gemeinsames Kind Fritz. Die soziale Realität zeigt sich an dieser Gasthaus-Szene: Die Zimmer sind der Familie Walthers vorbehalten, Justine als Alleinstehende wird abgewiesen. Walthers Frau Sophie entspricht dem zuvor diskutierten Weiblichkeitsideal und ist auf Ausgleich bedacht: Sie lässt Justine unterbringen, klärt Justine darüber auf, was die verstorbene Mutter in ihrer Argumentation wohl vergessen hat, nämlich die Liebe. Indem sie ausführt, dass Weib und Herz zu einem Wortfeld gehören, mehr noch, im Grunde austauschbare Begriffe seien, macht sie die übliche Dichotomie zwischen Liebe und Verstand sowie innere und äußere Herrschaft auf.

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Ebenda, S. 283. Ebenda, S. 284. Nieberle: FrauenMusikLiteratur, S. 96. Vgl. Purver: Die Erzählungen Caroline Auguste Fischers im Kontext ihrer Zeit. – In: Bunzel (Hrsg.): Schnittpunkt Romantik. Fischer: Justine, S. 298. Ebenda, S. 301.

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Sophie glaubt auch an die Pflicht, schön zu sein, nur unter anderer Nomenklatur: alle keuschen, fleißigen und »natürlichen« Mädchen seien schön. Es ist fraglich, ob sie mit dieser auf Ausgleich bedachten Antwort nicht aber Justine ins Abseits stellt, die sich in ihrem Leben diesem Diktum gerade nicht untergeordnet hat. Das wird auch kenntlich an der Abseitsstellung Justines, wenn sie nachdenklich am Fenster steht, sich gemeinsam am Tisch mit der Familie unwohl fühlt und bis zuletzt verschlossen bleibt, selbst wenn sie ihr Verhalten Sophie gegenüber erklärt hat. Schließlich lehnt sie eine Unterbringung bei der Familie ab und reist nach Italien weiter. Walther selbst versteht diesen inneren Konflikt Justines nicht, er nennt sie eine kaltherzige »Zauberinn«43 (325) und sieht ihr düsteres Ende voraus. Justine kommt nicht auf natürliche Weise ums Leben; wie sie aber stirbt, bleibt eine Leerstelle im Text.44 Justine ist falsch erzogen, nicht aber auf die gleiche Weise wie Hermenegilda, Alwine oder Brigitta seelenkrank. Diese Krankheit, die sich so offensichtlich am Äußeren ausdrückt, ist, ebenso wie die Verkennung der Braut Anna, kein unveränderbarer Zustand. Es gibt Nischen neben den öffentlichen, sozialen Räumen der Ausgrenzung, in die die Seelenkranken integriert werden können. Keineswegs also kann man nur von einer Literatur für Mädchenpensionate sprechen, wie Rosenkranz sie rezipiert hat. Und keineswegs bleibt nur die Option, wie sie Herder ironisch zuspitzt: Wenn das Äußere als »Wohnhaus der Seele« ein »Empfehlungsschreiben an unsere Mitmenschen« sein soll, bliebe hässlichen Menschen nichts übrig, »als, wie es die Spartaner mit ihren häßlichen und schwachen Kindern machten, sich in den Fluß zu stürzen: Man gehe alsdenn in ein Hospital, oder zu dem Kahn des Charons, oder in seiner Mutter Leib, um noch einmal geboren zu werden.«45

43 44 45

Ebenda, S. 325. Vgl. Nieberle: FrauenMusikLiteratur, S. 92–102. Herder: Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele – Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 135.

Hartmut Kircher

Vom Missbrauch der Räume: Anmerkungen zu Heinrich Heine

Wir merken […], daß unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muß unsern Vätern zumut gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providencielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generation darf sich rühmen, dass sie dabei gewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur die Zeit übrig. […] was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.1

Dem französischen Kritiker, der ihn einen »romantique défroqué«2, einen ›entlaufenen Romantiker‹, nannte, hat Heine Recht gegeben. Früher und klarsichtiger als andere erkannte er die epochalen Dimensionen der Zeitenwende, die er miterlebte (und als Denker und Dichter begleitete). Seine Diagnose basiert auf einer komplexen Mischung von Skepsis und Fortschrittsoptimismus. Besorgnis wegen der besonders im restaurativen Deutschland dominanten Tendenz zu historischer Regression einerseits und Einsicht in die unausweichliche Notwendigkeit von Veränderungen auf wissenschaftlich-technischem, ökonomischem und politischsozialem Gebiet andererseits haben diesen demokratischen Intellektuellen entscheidend geprägt. Der Zeitschriftsteller Heine gilt heute als einer der ersten Vertreter der Moderne.3 Dabei sah er nicht nur die Zukunftschancen, sondern auch die Bedrohung jener tradierten Werte und Verhältnisse, deren Bewahrung ihm lieber gewesen wäre. Einigen bisher eher wenig beachteten Aspekten dieser Ambivalenz widmet sich – gleichsam ausschnitthaft – der vorliegende Beitrag. * Einen bestimmten Ort zu haben, dem man sich uneingeschränkt zugehörig weiß, kann ein Gefühl von Geborgenheit und Selbstgewissheit vermitteln. Ein Verlassen 1 2 3

Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 5, S. 449. Ebenda, Bd. 6, I, S. 447. Vgl. Höhn: Heinrich Heine.

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Hartmut Kircher

dieses vertrauten Schutzraums oder eine gravierende Änderung der Funktionsbestimmung dieses Ortes kann Entfremdung, Gefährdung, Heimatlosigkeit zur Folge haben. In zahlreichen Varianten und auf unterschiedlichen Ebenen ist dies bei Heine zu beobachten. Der Weggang des unglücklich Liebenden aus Hamburg, der ›schönen Wiege seiner Leiden‹4, oder die Flucht vor Zensur und polizeilicher Verfolgung aus dem restaurativen Deutschland ins Pariser Exil sind zwei bekannte Beispiele. Auch der unfreiwillige Aufenthalt in der »Matratzengruft«5 während seiner letzten acht Lebensjahre wäre hier zu nennen. Erzwungene, hingenommene und gewollte Dislozierungen hat Heine erlebt und/oder literarisch verarbeitet. Im Folgenden sollen vor allem die Umfunktionierung bzw. Zweckentfremdung sakraler Räume sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen zur Sprache kommen. Am Anfang des historischen Romans Der Rabbi von Bacharach schildert Heine mit liebevoller Ausführlichkeit die heimelig-innige Atmosphäre einer Passahfeier. Sie findet statt im Treffpunkt der jüdischen Gemeinde des mittelalterlichen RheinStädtchens, im Hause des Rabbi Abraham, gleich neben der Synagoge. Der große Saal ist festlich geschmückt, die Sabbatlampe beleuchtet »die andächtig vergnügten Gesichter«6 der Anwesenden, die Tische sind reichlich gedeckt mit symbolischen und realen Speisen, es wird gebetet, gesungen und aus einer prächtigen Haggada vorgelesen. Plötzlich erscheinen unangekündigt zwei in weite Mäntel gehüllte Männer, angeblich reisende Glaubensgenossen, die an der Zeremonie teilnehmen möchten. De facto aber schmuggeln die Fremden den Leichnam eines Kindes hinein, um anschließend den unsinnigen Ritualmord-Vorwurf zu erheben, dass die Juden Christenblut bräuchten, um ihre Brote einzutunken. Vom aufgehetzten Pöbel werden dann fast alle Gemeindemitglieder umgebracht. Der ursprüngliche Anlass der Zusammenkunft, das Gedenken an die Befreiung der Juden »aus ägyptischer Knechtschaft«7, wird durch das Pogrom in sein Gegenteil verkehrt, die Überlebensfeier zur Todesstunde, der sakrale Ort zum Mordschauplatz. Der Romananfang ist narrative Klage und Anklage gegen christliche Intoleranz und Gewalt. Heine hat den 1824/25 begonnenen Text nicht vollendet und erst 1840 nach knapper Ergänzung publiziert – als Reaktion auf aktuelle Nachrichten von einem RitualmordPogrom in Damaskus.8 Im dritten Teil des Rabbi-Fragments tritt im Frankfurter Ghetto ein »spanischer Ritter« namens Don Isaak Abarbanel auf, einst als Jugendfreund mit dem Rabbi in Spanien, nun ein Abtrünniger, der bekennt: »Der Verkehr mit dem Volke Gottes ist sonst nicht meine Liebhaberei, und wahrlich nicht um hier zu beten, sondern um zu essen, besuche ich die Judengasse... [...] ich liebe Eure Küche weit mehr als Euren Glauben; es fehlt ihm die rechte Sauce.«9 Auch dieses Verhalten ist fast so etwas wie Missbrauch eines bestimmten Ortes, wenn auch in vergleichsweise milderer 4 5 6 7 8

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Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 39. Ebenda, Bd. 6, I, S. 180. Ebenda, Bd. 1, S. 466. Ebenda, S. 465. Mehrere zeitgenössische Dokumente sind abgedruckt in Heine: Der Rabbi von Bacherach, S. 50–67. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 498.

Vom Missbrauch der Räume

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Form. Diese schillernde Gestalt verweist freilich auf einen ernsteren Hintergrund, der mit Heines persönlicher Problematik zusammenhängt und den er auch in zwei anderen Texten dargestellt hat. Im Oktober 1825 sendet er an seinen Berliner Vertrauten Moses Moser, der über den schleppenden Fortgang der Arbeit am Rabbi genau informiert ist, eine Romanze mit dem Titel Almansor und merkt dazu an: Ein junger Spanischer Jude, von Herzen ein Jude, der sich aber aus Luxusübermuth taufen lässt, korrespondirt mit dem jungen Jehude Abarbanell und schickt ihm jenes Gedicht, aus dem Maurischen übersetzt. Vielleicht scheut er es doch, eine nicht sehr noble Handlung dem Freunde unumwunden zu schreiben, aber er schickt ihm jenes Gedicht. – Denk nicht darüber nach. – – –10

Zu diesem Zeitpunkt ist Heine bereits, ohne innere Überzeugung und ohne Wissen seiner näheren Umgebung, zum Protestantismus übergetreten. In der Romanze Almansor11 wird aus der Perspektive des muslimischen Protagonisten eingangs mit großer Sympathie der Dom zu Córdoba beschrieben: Dreizehnhundert Riesensäulen Tragen die gewaltge Kuppel. Und auf Säulen, Kuppel, Wänden Ziehn von oben sich bis unten Des Korans arabsche Sprüche, Klug und blumenhaft verschlungen. […] »O, ihr Säulen, stark und riesig, Einst geschmückt zu Allahs Ruhme, Jetzo müsst ihr dienend huldgen Dem verhaßten Christentume!«12

Die Stadt Córdoba erlebte ihre Blütezeitzeit unter den Arabern im 10. und 11. Jahrhundert, die Hauptmoschee war die erste maurische Kultstätte in Spanien. Sie wurde zwangsweise in eine katholische Kathedrale umfunktioniert, in der Almansor sich widerwillig taufen lässt, um die Liebe seiner schon konvertierten Donna Clara nicht zu verlieren. In seiner Phantasie jedoch wünscht er sich, nach dem Vorbild des alttestamentarischen Samson, den depravierten Prachtbau über Priestern und Volk zusammenbrechen zu lassen. Das bleibt allerdings eine Traumvision. In einer ebenfalls Almansor betitelten Tragödie hatte Heine schon einige Jahre zuvor die Scheiterhaufen der spanischen Inquisition und die an Mauren wie Juden vorgenommenen Zwangstaufen unter Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragonien angeprangert und zugleich seine eigene opportunistische Konversion antizipiert. Die von der Schauerromantik inspirierte erste Szene führt den Protago10 11 12

Heine: Briefe, Bd. 1, S. 228. Vgl. dazu Hinck: Konfessiondialektik. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 159.

Hartmut Kircher

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nisten zurück in seine längst verlassene frühere Wohnstätte, in das Innere eines alten, verödeten Maurenschlosses: Almansor: Es ist der alte, liebe Boden noch, Der wohlbekannte, buntgestickte Teppich, Worauf der Väter heilger Fuß gewandelt! Jetzt nagen Würmer an den seidnen Blumen, Als wären sie des Spaniers Bundgenossen.13

So wird gleich zu Beginn augenscheinlich, dass die neuen Herrscher den andersgläubigen Vertriebenen physisch und psychisch den Boden entzogen haben. Die in dem von den Christen eroberten Granada angesiedelte Handlung des Stücks diente Heine dabei nicht zuletzt auch als leicht decodierbare Darstellung der gängigen preußischen Praxis »frömmelnder Proselytenmacherei«14 zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Heines Kritik an dergleichen Umfunktionierung bzw. Missbrauch bestimmter Räume ist nicht primär religiös motiviert, sondern sie zielt auf die christliche Intoleranz, die ihren Alleingültigkeitsanspruch mit allen Machtmitteln durchzusetzen bereit ist. Für die sozial und mental Unterdrückten büßen die von der Gegenseite usurpierten Räume ihre traditionelle Schutzfunktion ein, machen sie zu Ausgelieferten und Heimatlosen. Heine, der vielfach und sehr konkret unter der zeitgenössischen Judenfeindlichkeit zu leiden hatte, solidarisiert sich mit den Verlierern. Seine Konversion hat ihm nicht geholfen, er erkannte bald, dass ›der Jude mit Taufwasser nicht abzuwaschen‹15 war. Insbesondere wegen der ausbleibenden Aufnahme in die ›christliche‹ Gesellschaft ist er ja 1831 nach Paris übergesiedelt – eine Entscheidung, die für ihn auch eine Art Heimatverlust bedeutet hat. Als Reaktion auf die mannigfache Zweckentfremdung sakraler Räume hat Heine es sich zugute gehalten, seinerseits christliche Kirchen in unangemessener Weise zu ›nutzen‹. Die harmloseste Variante stellen in seinen Reisebildern die ausdrücklichen Hinweise dar, dass er oft bis zu den Pforten eines Gotteshauses gelangt, aber dann – entgegen der Lesererwartung – doch nicht hineingeht. Auf Norderney, so seine Begründung, sei ihm just vor der Kirchentür jenes Zitat aus dem Faust eingefallen, in dem Mephisto sagt: »Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil; / Allein es ist mir mal zuwider.«16 In Berlin antwortet er einem ihn begleitenden Bekannten auf die Frage nach dem Sinn zweier an den Dom angebauter Türmchen, das seien »Vogelkörbe«, in denen »Dompfaffen abgerichtet«17 würden und lotst ihn dann rasch am Gotteshaus vorbei. An der doppeltürmigen Münchner Frauenkirche stört

13 14 15 16 17

Ebenda, S.277. – Vgl. dazu Kircher: Heine und das Judentum, S.187. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 61. Vgl. Heine: Briefe, Bd. 1, S. 284. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 218. Ebenda, S. 12.

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ihn, dass sie sich in »stiefelknechtlicher Gestalt […] über die ganze Stadt erhebt.«18 In seiner Jugend, teilt Heine an anderer Stelle mit, sei er als »eifriger Kirchgänger«19 regelmäßig zu einer Madonna im Kölner Dom gepilgert (es handelt sich um das von Stefan Lochner gemalte Altarbild Verkündigung Mariä), weil diese ihn so lebhaft an seine damalige Geliebte erinnert habe. Beim Betreten des Doms zu Gnesen empfindet er prompt Missfallen.20 Um so mehr aber gefällt im selben Gotteshaus dem Protagonisten seines stark autobiographischen Schelmenromans Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski die vor dem Grabmal des Heiligen Adalbert kniende schöne Beterin, deren vieldeutiger Seitenblick ihn gestreift hat. Anschließend ergeht sich der pikarische Held tagelang in recht unfrommen, anzüglich-erotischen Fantasien.21 Einen Gipfel der Provokation stellt eine Passage aus dem Reisebild Von München nach Genua dar. Vor der sengenden südlichen Hitze in Trient flüchtet sich der Reisende in den Dom und erkennt: Man kann sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es läßt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen, weiblich gesinnt verzeihen sie sogar, wenn man ihre eignen holden Züge in die sündigen Gedanken verflochten hat, und zum Überfluß steht noch in jeder Ecke ein brauner Notstuhl des Gewissens, wo man sich seiner Sünden entledigen kann.22

Nicht zuletzt dank dieser Stelle wurde der Verfasser bald danach in die Index-Liste des Vatikans eingereiht.23 Und die Brisanz ließ sich auch nicht herunterspielen mit Heines späterer Erklärung, das seien doch nur »arglose Muttergotteswitze«.24 Die Technik entspricht vielmehr genau der des von Sigmund Freud analysierten tendenziösen Witzes. Dessen »Angriffsobjekte […] können […] Institutionen sein, Personen, insofern sie Träger derselben sind, Satzungen der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen genießen, dass der Einspruch gegen sie nicht anders als in der Maske eines Witzes […] auftreten kann.«25 Man könnte noch hinzufügen, dass Heines ›Maske‹ in diesem Fall ziemlich durchsichtig ist… Kaum weniger despektierlich als das Bonmot von der »Sommerreligion« ist in Die Bäder von Lucca die ironische Beschwerde des konvertierten Juden Hirsch Hyazinth, der in seiner Einfalt die Zahlen auf den Kirchenlied-Täfelchen einer protestantischen Kirche in Hamburg als Lotterienummern gezogen und absolut gar nichts gewonnen hat. Der Kommentar des Kollekteurs: »Unter uns gesagt, diese

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Ebenda, S. 319. Ebenda, Bd. 1, S. 563. Ebenda, Bd. 2, S. 91. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 506. Ebenda, Bd. 2, S. 346. Vgl. Wolf/Schopf u. a.: Macht der Zensur, S. 159. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 464. Freud: Der Witz, S. 88.

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Religion schadet nichts und ist so rein wie ein Glas Wasser, aber, sie hilft auch nichts.«26 Heine bietet also gegen einen Missbrauch einen anderen, konträren auf. Das prägnanteste Beispiel sind wohl seine Auslassungen im Wintermärchen über den »verteufelt schwarz« emporragenden Kölner Dom: Dieser sei als des »Geistes Bastille« gedacht gewesen, sagt er mit revolutionärem Unterton, und in »diesem Riesenkerker« habe die »deutsche Vernunft verschmachten« sollen – Heine rät statt dessen, das damals noch unvollendete Bauwerk gar nicht erst fertig zu stellen, sondern die »inneren Räume« als »Pferdestall« zu verwenden. [Tatsächlich wurde ja der Kölner Dom eine Zeitlang als Futtermagazin missbraucht.] Ebenso provokativ ist die Empfehlung, die (im Mittelalter aus Mailand geraubten) Heiligen Drei Könige aus ihrem Sarkophag im Kölner Dom zu holen, nach Münster zu verfrachten und in den Eisenkörben unterzubringen, die (noch heute sichtbar) außen am Turm der Lambertikirche hängen. Gleichsam ein Revancheakt, denn dort waren 1536 die Leichen von drei als Gegner des Katholizismus hingerichteten Wiedertäufern zur Schau gestellt worden: Der Schneiderkönig saß darin Mit seinen beiden Räten, Wir aber benutzen die Körbe jetzt Für andere Majestäten. Zur Rechten soll Herr Balthasar Zur Linken Herr Melchior schweben, In der Mitte Herr Gaspar […].27

Die zitierten antireligiösen Polemiken sind Ausdruck von Heines selbstbewusstem sensualistischen und strikt diesseitsorientierten Konzept in seinen mittleren Jahren, das er dem asketisch-sinnenfeindlichen Spiritualismus des Christentums wie des Judentums entgegen hält. Architektonische Gebäude werden bewusst zweckentfremdet, um die ideologischen Gedankengebäude, deren materielle Manifestationen sie sind, zu destruieren. Heines Position ist freilich keineswegs rein destruktiv, sondern er plädiert für dezidierte ›Raumwechsel‹. Eine der wichtigsten, zumindest temporär und partiell tragfähigen Alternativen ist für ihn die Natur, zu der er sich in einem zeitweilig durchaus pantheistischen Sinne hingezogen fühlt und die er als Zufluchtsort schätzt. Vor allem am Meer, im Wald, auf den Bergen findet er am ehesten den benötigten geistigen Bewegungsraum. In Die Nordsee bekundet er einigermaßen pathetisch: »Nie war mir ein Dom groß genug; meine Seele mit ihrem alten Titanengebet strebte immer höher als die gotischen Pfeiler, und wollte immer hinausbrechen […] Die hohe Einfachheit der Natur […] zähmt und erhebt mich zu gleicher Zeit.«28 Folgerichtig werden religiöse Empfindungen und Vokabeln profaniert und auf die irdischen Schönheiten umgewidmet. Als exemplarisch kann Heines (hier durchaus 26 27 28

Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 428. Ebenda, Bd. 4, S. 584–586. – Vgl. dazu Lauer: Heine und der Kölner Dom. Ebenda, Bd. 2, S. 225f.

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ohne Ironiesignale auskommende) Schilderung eines Sonnenuntergangs in der Harzreise gelten: Auf der Turmplatte des Brockengipfels stehend, betrachtet er, »in Andacht versunken«, das Naturschauspiel: »Es ist ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet stimmt […], die Hände falteten sich unwillkürlich; es war, als ständen wir, eine stille Gemeinde, im Schiffe eines Riesendoms, und der Priester erhöbe jetzt den Leib des Herrn, und von der Orgel herab ergösse sich Palestrinas ewiger Choral.«29 Entsprechend und erst recht wird der Anblick einer schönen Frau mehr als einmal (und nicht ganz ohne Ironie) mit einem »Gottesdienst«30 verglichen. Eine andere, nicht minder bedeutsame Alternative zum alten Kirchenglauben ist für Heine die neue, von der Französischen Revolution angestoßene Politik in Europa – elementar vorbereitet durch Gutenbergs Erfindung, denn die »Druckerpresse zersprengte das Dogmengebäude, worin der Großpfaffe von Rom die Geister gekerkert […]«.31 Im Schlussabschnitt der Englischen Fragmente kleidet Heine, bestärkt durch die Pariser Juli-Ereignisse 1830, seine optimistische Revolutionsbegeisterung wiederum in Formulierungen, die der religiösen Sphäre entnommen sind: Die »Freiheit ist eine neue Religion«, Christus immerhin deren »hoher Priester«. »Die Franzosen sind […] das auserlesene Volk der neuen Religion, in ihrer Sprache sind die ersten Evangelien und Dogmen verzeichnet, Paris ist das neue Jerusalem […].«32 Analog dazu und ebenso emphatisch preist Heine im Buch Le Grand Napoleon als ›weltlichen Heiland‹ und »das heilige Grab« auf Sankt Helena als Wallfahrtsort.33 Hier sei nur am Rande erwähnt, dass Heines Tenor wenige Jahre später wesentlich illusionsloser ausfällt, als er nämlich die Französischen Zustände des Juste-Milieu unter Louis Philippe aus eigener Anschauung kennen gelernt und neben der hemmungslos-unsozialen Selbstbereicherung des Bürgertums eine verheerende Cholera-Epidemie mit erlebt hat.34 Als wichtigste politische Aufgabe seiner Zeit betrachtet Heine die Emanzipation aller Menschen, ihre Befreiung von jeglicher Form sozialer oder geistiger Unterdrückung. Das bezieht sich durchaus nicht nur auf klerikale Bevormundung. In den Englischen Fragmenten schildert er einen Besuch im berühmt-berüchtigten Londoner Gefängnis Old Bailey, wo er einem Gerichtsverfahren beiwohnt, an dessen Ende ein vergleichsweise kleiner Gauner zur Genugtuung der Reichen und des sensationslüsternen Pöbels zum Tode verurteilt wird. Der Gerichtssaal wird als »schwül und dumpfig« beschrieben. Dass trotz einer in goldenen Lettern angebrachten »Bibelstelle, die vor ungerechtem Richterspruch warnt«, Klassenjustiz stattfindet, wird durch ein charakteristisches Detail sinnfällig gemacht: Der allegorischen Darstellung der Justitia ist »die Hand mit der Wage abgebrochen […], und nichts als ein blindes Weibsbild mit einem Schwerte« ist übrig geblieben. Und weiter: 29

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Ebenda, S. 144. – Andererseits lehnt Heine »unwahre Naturempfindung und dergleichen grüne Lügen« (ebenda, S. 405) entschieden ab. Sentimentale Schwärmerei desillusioniert er nicht nur in dem bekannten Gedicht »Das Fräulein stand am Meere« (vgl. ebenda, Bd. 4, S. 327). Ebenda, S. 259. Ebenda, S. 595. Ebenda, S. 601. Ebenda, S. 276. Vgl. dazu Witte: Düsseldorf – London – Paris.

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»Ungefähr gegen die Mitte des Gebäudes ist der Altar dieser Göttin,« denn dort kommt »das Galgengerüst zu stehen […]«.35 Der studierte Jurist Heine verbindet seine Kritik an der inhumanen Exekutionspraxis im damaligen England mit einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen die Todesstrafe und beruft sich dabei ausdrücklich auch auf christliche Grundwerte.36 Eine Zweckentfremdung anderer Art berichtet Heine 1832 als Korrespondent der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« aus der französischen Hauptstadt: Nachdem der Bürgerkönig aus dem Palais Royal ausgezogen ist, weil dort noch immer der »Geist der Revolution«37 nistet, und in die Tuilerien übergesiedelt ist, lässt er, »bausüchtig wie er ist«, von dem dazugehörenden Park einen Teil für seine private, vor der Öffentlichkeit abgeschirmte Nutzung abtrennen. Er provoziert damit »den gerechten Unmut des Publikums über die Verunstaltung des ganzen Gartens, eines Meisterstücks von Le Nôtre, das eben durch sein großartiges Ensemble so sehr imponiert. Es ist gerade, als wollte man einige Szenen aus einer Racineschen Tragödie ausschneiden.«38 Der Kritik an der mutwilligen Zerstörung eines Kunstwerks fehlt nicht der politische Hintersinn, denn Heine vergisst nicht das Gerücht zu erwähnen, dass Louis Philippe diese Maßnahme vor allem getroffen habe, um vom neuen Domizil aus die Place de la Concorde nicht mehr sehen zu müssen – den Ort, an dem die Guillotine stand.39 Für Heine ist rein Ornamentales oft nebensächlich; gewiss gibt er Beschreibungen von Orten und Räumen auch in der Absicht, der bildlichen Vorstellungskraft der Leser konkrete Anhaltspunkte zu liefern, meistens jedoch sollen sie zugleich der sinnbildlichen Veranschaulichung übergeordneter Zusammenhänge dienen. Dabei erweist er sich immer wieder als sehr genauer Beobachter. Als Beleg mag der folgende, auf den ersten Blick eher beiläufig anmutende kleine Passus aus der Reise von München nach Genua gelten. Die Rede ist von einem unbedeutenden italienischen »Nest« namens Ala: An der Ecke des windschiefen Marktes, der so klein ist wie ein Hühnerhof, steht mit großmächtigen, gigantischen Buchstaben: Piazza di San Marco. Auf dem steinernen Bruchstück eines großen, altadligen Wappenschilds saß ein kleiner Knabe und notdürftelte. Die blanke Sonne beschien seine naive Rückseite, und in den Händen hielt er ein papiernes Heiligenbild, das er vorher inbrünstig küßte. Ein kleines, bildschönes Mädchen stand betrachtungsvoll daneben, und blies zuweilen akkompagnierend in eine hölzerne Kindertrompete.40

In subtilster Form – fast möchte man sagen schein-heilig – wird hier unter eleganter Umgehung der Fäkalsprache auf die Überlebtheit der vom Autor zutiefst verachteten europäischen Feudalaristokratie und auf deren systemstabilisierende

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Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 555f. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 588. Ebenda, Bd. 3, S. 107. Ebenda, S. 111. Vgl. dazu Mota-Alves: Berlin, London, Paris. Der moderne Blick auf die Großstadt in Heines publizistischen Schriften. – In: Goltschnigg/Grolleg-Edler (Hrsg.): Harry ... Heinrich ... Henri ... Heine, S. 61. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 357.

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Verbindung mit dem Klerus angespielt. Dem denkbaren Vorwurf der Blasphemie weicht der Erzähler dabei geschickt aus, denn die Devotionalie wird keineswegs verunstaltet. Allerdings wird sie doch indirekt in einen bedenklichen Kontext gerückt. Zudem ist die ganze Schilderung des Geschehens auf dem nach einem Heiligen benannten Schauplatz (Ort und Ortsbezeichnung stehen in krassem Missverhältnis zueinander) gewürzt durch den naiv-voyeuristischen Blick der schönen jungen Zuschauerin. Zumindest kann man in diese Szenerie die Andeutung mit hinein lesen, dass die alten Ordnungsmächte bald der Vergangenheit angehören werden und dass einer heranwachsenden, diesseitig-lebensfreudigen Generation die Zukunft gehören wird. Desgleichen klingt Heines Hoffnung mit an, dass diese Jugend sich keinen ungerechtfertigten Respekt mehr einflößen lässt vor den in seinen Augen anachronistischen Autoritäten. Möglicherweise beabsichtigte er, wie auch andernorts gelegentlich, mit dem Motiv der Trompete (hier noch als Spielzeug) sogar die dezente Konnotation einer späteren revolutionären Änderung der Verhältnisse. Die oben angeführten Beispiele haben bereits erkennen lassen, dass bei Heine oft despektierliche Enttabuisierungsabsicht mit im Spiel ist. Die macht auch vor dem Höchsten nicht Halt. Der durchaus philosophisch gebildete und bibelkundige Heine knüpft dabei bewusst nicht an bestimmte Traditionen jüdisch-christlicher Himmelsvorstellungen an, für die, wie Max Jammer dargelegt hat, Gott und Raum gleichzusetzen sind.41 Vielmehr benutzt er gängige simplifizierende und anthropomorphisierende Versionen, um sie zu konterkarieren: In den Neuen Gedichten (Zyklus Katharina, Nr. VII) wird – vorsichtshalber in einer Traumdarstellung – der von der Theologie apostrophierte Raum transzendentaler Geborgenheit, der Ort der Seligen, in ein elendes Jammertal umstrukturiert. Das lyrische Ich geht im Himmelreich mit seiner Liebsten spazieren – ohne sie »Wär der Himmel eine Hölle« – und begegnet dort all den »Auserwählten, / […] Gerechten und […] Frommen, / Die auf Erden ihren Leib / Für der Seele Heil gepeinigt: / Kirchenväter und Apostel, Eremiten, Kapuziner, / Alte Käuze, einge Junge – / Letztre sahn noch schlechter aus!«42. Die Genannten werden als erbärmliche, trostlos da hockende Gestalten karikiert, die für sein hübsches, lebensvoll-blühendes Mädchen keinen Blick übrig haben: Nur Christus selbst, der einzige schöne Mann an diesem Ort, schaut mit »Menschengüte« und »Götterruhe«, auf sie hernieder, wie einst auf Magdalena (vgl. Lukas 7, 36–50). Die diesseitsverneinende Askese wird desavouiert, dem göttlichen Menschensohn hingegen wird natürlich-bejahende Sinnenfreudigkeit zugeschrieben. In der Denkschrift über Ludwig Börne fingiert Heine wiederum einen Traum, in dem er seine religiöse Grundüberzeugung mit der ihm eigenen, scheinbar verharmlosenden Anschaulichkeit umschreibt: Kam auch in den Himmel. Tür und Tor stand offen. Lange, hohe weithallende Säle, mit altmodischen Vergoldungen, ganz leer, nur daß hie und da, auf einem samtnen Armsessel, ein

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Vgl. Jammer: Das Problem des Raumes, S. 48. »Nebenbei sei erwähnt, dass das göttliche Numen bei den Kabbalisten den Namen ›makom‹ d. h. Ort, trägt.« Ebenda, S.49. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 4, S. 366.

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alter gepuderter Bedienter saß, in verblichen roter Livree und gelinde schlummernd, in manchen Zimmern waren die Türflügel aus ihren Angeln gehoben, an andern Orten waren die Türen fest verschlossen und obendrein mit großen runden Amtssiegeln dreifach versiegelt, wie in Häusern wo ein Bankrott oder ein Todesfall eingetreten.43

Beim weiteren Rundgang begegnet der Träumende einem alten, weißhaarigen Mann, den er für den Herrgott hält. Es ist aber nur der Registrator…. Mit der Erkenntnis »Pan ist tot!«44 erwacht er wieder. Der Himmel, so formuliert Heine im Sinne Ludwig Feuerbachs, wurde erfunden für »Menschen, denen die Erde nichts mehr bietet […]«, und fährt fort, Karl Marx antizipierend: »Heil dieser Erfindung! Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goß, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung, Glauben!«45 In der radikalsten Phase seiner weltanschaulichen Entwicklung ist Heine noch weiter gegangen. Am Anfang des Wintermärchens intoniert er seine (saint-simonistische) Zielsetzung in den berühmten provokatorischen Versen »Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. […] Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.«46 Parallel dazu erläutert er in mehreren Prosaschriften seine Opposition gegen jegliche Jenseitsvertröstung detaillierter. Seinen persönlichen Beitrag sieht er nicht zuletzt darin, dass er »unumwunden das Schulgeheimnis ausgeplaudert«, habe, »daß die deutsche Philosophie just das Gegenteil ist von dem, was wir Frömmigkeit und Gottesfurcht nannten, und daß unsre modernsten Philosophen den vollständigsten Atheismus als das letzte Wort unsrer deutschen Philosophie proklamierten. Sie rissen schonungslos und mit bacchantischer Lebenslust den blauen Vorhang vom deutschen Himmel […].«47 Die sich daraus ergebende Reduktion auf den irdischen Denkraum bedeutet freilich einen Verlust, den auch Heine selber im späteren Rückblick für unkompensierbar gehalten hat. In letzter Konsequenz führt sie zu »metaphysischer Obdachlosigkeit«48, zu jener Gott-losigkeit, von der Heine bekanntlich nach 1848 in der »Matratzengruft« wieder Abstand genommen hat (»mit meinem Atheismus« hat »es, gottlob! ein Ende«49, heißt es in den Geständnissen). Aber für ihn steht fest: Die alte Ordnung hat ihre Gültigkeit verloren, eine neue ist noch nicht etabliert. Für sie muss noch Raum geschaffen werden.

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Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 56. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 578. Ebenda, Bd. 6, I, S. 466. Hürlimann: Sprung, S. 82. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 6.1, S. 467.

RAUMPERFORMANZ / POETIK DES RAUMES

Kerrin Klinger und Matthias Müller

Die Raumkonstrukte der Camera obscura

Die Camera obscura war im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein weit verbreiteter und viel genutzter Apparat, der in Kunst, Wissenschaft und zur Unterhaltung Anwendung fand.1 Der Begriff Camera obscura leitet sich von Lateinisch Camera ›Gewölbe‹ oder ›Zimmer‹ und obscura ›dunkel‹ ab. Demgemäß ist die Camera obscura in ihrer Grundform ein geschlossener, abgedunkelter Raum, der in der Größe vom Kästchen bis zum Festsaal variieren kann, mit einer einzigen Öffnung, durch die Licht einfällt. Auf der der Öffnung gegenüberliegenden Wand bildet sich dann eine kopfstehende, seitenverkehrte und verkleinerte Projektion der Außenwelt ab.2 Bekannt ist das Camera-obscura-Prinzip seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, als transportable Apparatur wurde die Camera obscura seit der Renaissance genutzt. Wesentliche Anwendungsmöglichkeiten sind unter fünf Stichpunkten zusammenzufassen: Als Sehapparat fungierte die Camera obscura wie der optische Sucher eines Fotoapparates. Als Zeicheninstrument war die Camera obscura ein mehr oder weniger handliches Gerät, das es dem Zeichner ermöglichte, die zweidimensionale Projektion des Raumes nachzuzeichnen. Zur Observation der Sonne oder im militärischen Bereich wurde die Camera obscura zumeist als ein feststehendes Gebäude eingerichtet, so dass der Beobachtende im Innenraum von außen nicht sichtbar war. Im optischen Laboratorium nutzte man das Camera-obscuraPrinzip, um das Sonnenlicht auf einen feinen Strahl zu reduzieren. Auch zur Entfernungsmessung konnte die Camera obscura eingesetzt werden, wobei man Original und Abbild mathematisch ins Verhältnis setzte. Darüber hinaus wurde die Camera obscura seit dem 17. Jahrhundert als ein Modell für die Funktion des menschlichen Auges beziehungsweise für den gesamten Wahrnehmungsprozess herangezogen. Der folgende Beitrag konzentriert sich vornehmlich auf die transportable Ausführung der Camera obscura, wie man sie um 1800 auch auf Spaziergängen mitführen konnte. Grundlegend sind dabei die Forschungen zu Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und dessen Aussagen zur Anwendung der Camera obscura.3 Goethe besaß eine solche portable Camera obscura in Form eines handlichen hölzernen Kastens, dessen Öffnung mit einer Linse versehen ist (Abb. 1). Der 1

2 3

Siehe zu Funktionsweise und Geschichte der Camera obscura: Müller: Georg Friedrich Branders Camera obscura von 1767. Vgl. grundlegend dazu: Hammond: The camera obscura. Vgl. Klinger und Müller: Goethe und die Camera obscura.

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Projektionsstrahl wird in der Box über einen Spiegel geleitet, um das ursprünglich kopfstehende Projektionsbild aufzurichten. Die Projektion erscheint auf einem Bildschirm aus einer einseitig mattgeschliffenen Glastafel. Diese Art der Camera obscura ist allerdings weniger zum Zeichnen, als vielmehr zum Schauen an sich geeignet.

Abb. 1: Replikation nach Goethes portabler Camera obscura (Original: Klassik Stiftung Weimar Inventar-Nr.: GNF 0498). Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2008.

Der Dichter gibt sowohl in seinen naturwissenschaftlichen als auch literarischen Werken vereinzelt Auskunft über die vielfältige zeitgenössische Praxis. Bei ihm ist der Begriff Camera obscura mehrfach bestimmt – wie im ausgehenden 18. Jahrhundert üblich4 – und zwar einerseits als optisches Kabinett und andererseits als Zeichen- bzw. Sehapparat. So spricht er etwa von ›dunkler Kammer‹, ›portativer Camera obscura‹ oder ›finsterem Zimmer‹ – welchen funktionalen Typ Goethe dabei konkret vor Augen hatte, klärt sich oft nur aus dem jeweiligen Kontext. Aufschlussreich ist hier eine Textstelle im zweiten Teil seines Romans Die Wahlverwandtschaften. Charlotte erhält auf ihrem Landgut Besuch von einem englischen Lord, der sich aufs Reisen verlegt hat und seine Aufmerksamkeit besonders dem Park des Anwesens widmet. Goethe beschreibt dessen vornehmliche Tätigkeit auf dem Landsitz der Gastgeber mit folgenden Worten: »[...] er beschäftigte sich die größte Zeit des Tages, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer einzufangen und zu zeichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen.«5 Der Engländer gebraucht die Camera obscura also als eine Art Sucher, um spektakuläre und erinnerungswürdige Ausschnitte der Landschaft aufspüren und sie hernach zeichnend für spätere Erzählungen zu einer Sammlung zu ordnen (Abb. 2). 4

5

Vgl. z. B. Zedler: Universal-Lexikon, Bd. 5. S. 377– 384; Gehler: Physikalisches Wörterbuch, Bd. 4, S. 860–869. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt I, Bd. 20, S. 336.

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Abb. 2: Landschaftsabbildung mit Doppelprojektion: Goethes Gartenhaus im Weimarer Ilmpark auf dem Bildschirm der Camera-obscura-Replikation. Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2008

Der zurückgezogen auf dem Land lebenden kleinen Gesellschaft, die seine Sammlung von Prospekten betrachtet und seinen Berichten lauscht, wird auf diese Weise eine unbekannte Außenwelt präsentiert, ohne dass sie sich äußerlich bewegen muss. Das Wahrnehmen des Reisenden selbst wird durch seinen instrumentell geleiteten Blick jedoch einseitig. Ihm entgeht vieles, was in seiner Umgebung geschieht, während er sie nur durch die Camera obscura betrachtet. Er hat die besondere, eigentümliche Prospektansicht der Gegend im Sinn und denkt vielleicht schon daran, was er später andernorts berichten könnte. Er ist ein Reisender, der seinen traditionellen Familiensitz verlassen hat und sich auch nicht recht auf seine gegenwärtigen Gastgeber einstellen kann. Sein Zustand wird als ruhelos und sein Wahrnehmen als fragmentarisch charakterisiert. Durch die Camera obscura wird der Blick auf die Landschaft eingegrenzt und kanalisiert, wodurch sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf ein zu erinnerndes Abbild richtet. Die zweidimensionale Zeichnung tritt an die Stelle des räumlichen Erlebnisses. Der Engländer ist so gedanklich stets unterwegs und die Cameraobscura-Zeichnung wird zu einem Zeugnis und gewissermaßen auch zu einem Stellvertreter des direkten Erlebnisses. Denn diese Form des Reisens und ihre Dokumentation bedingt, dass sie für den Berichtenden erst im Nachhinein – durch die Erzählung anhand der Aufzeichnungen – gegenwärtig und sinnvoll wird. Gleichwohl wird dieses Abbild – als ein Erinnerungsbild – als bloßer Ausschnitt und die Suche nach ihm als Beschränkung gekennzeichnet, wodurch mit unter das Wesentliche – nämlich das Raumganze – verkannt wird. Gerade die aufklärerische Auffassung vom Reisen verlangte – die Bildungsreise erlebte um 1800 einen Höhepunkt –, dass die eigenen Eindrücke schreibend und mit unter auch zeichnend fixiert wurden, um sie einer Öffentlichkeit zu demonstrieren, wobei gerade englische Dilettanten die Camera obscura häufig als Zeichenhilfe einsetzten.

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Einen weiteren Hinweis zu solch einer Nutzung gibt Goethe in der Biographie des Landschaftsmalers Jakob Philipp Hackert (1737–1807), die 1811 erschien. In den Nachträgen zu dieser Schrift findet sich eine biographische Notiz zu dem Engländer Charles Gore (1729–1807), wobei sich Goethe an die Aufzeichnungen von Gores Tochter Emily (1760–1826) hielt.6 Nach jahrelanger intensiver Reisetätigkeit hatte sich Gore mit seinen beiden Töchtern 1791 in Weimar niedergelassen. Auf seinen Reisen fertigte Gore eine Vielzahl von Prospektzeichnungen und -aquarellen an, wobei er nach Goethe »als Liebhaber«7 zum getreuen Abbilden eine Camera obscura genutzt habe und zwar in voller Kenntnis ihrer Mängel.8 Goethe bewunderte Gores Zeichnungen und schätzte dessen Gesellschaft.9 Und so war er erfreut, als diese große Sammlung nach Gores Tod 1807 der Herzoglichen Bibliothek in Weimar übergeben wurde.10 Möglicher Weise war Gore Goethe Anregung zur Gestaltung der Figur des englischen Reisenden in den Wahlverwandtschaften (1808), die ein Jahr nach dessen Tod erschienen. In seinen Aufzeichnungen Über Landschaftsmalerei. Theoretische Fragmente11, in welchen er die von Philipp Hackert nachgelassenen »theoretisch-praktische[n] Betrachtungen«12 zur Landschaftsmalerei verarbeitete, diskutiert Goethe die Camera obscura als zeichnerisches Hilfsmittel und stellt die Nachteile ihrer Projektion dar.13 Diese sei zwar für Dilettanten ganz dienlich, so der Autor, doch dem Künstler sei aus folgenden Gründen davon abzuraten: Außer dem Fokus sind alle Linien, wie bekannt, krumm; alles zieht sich in die Länge, alle Kleinigkeiten, die angezeigt, werden zu klein; dadurch gewöhnt er sich eine kleine Manier an, und weil die Lichtstrahlen durch verschiedene Gläser gebrochen werden, bis sie auf ’s Papier fallen, so sieht man alles verdunkelt. In der Ferne und im Mittelgrund vermißt man den schönen Silberton, der mit dem Luftton so schön in der Natur herrscht. Hier ist alles mit einem leichten Flor überzogen, mit einem gewissen Rauchton, den viele Künstler Speckton nennen [...].14

Der Künstler würde sich auf diese Weise Falsches angewöhnen und gerade der Landschaftsmaler solle lernen, sich auf das Große und Ganze zu konzentrieren und nicht in Details zu verlieren.15 Diese Kritik spiegelt sich in gewisser Weise auch in der Darstellung des Engländers in den Wahlverwandtschaften wieder, dem so etwa das zwischenmenschliche

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Vgl. ebenda Bd. 46, S. 331–340; sowie Krügel: Die Reisebilder des Charles Gore in seinem künstlerischen Nachlaß, S. 318. Ebenda, S. 338. Vgl. ebenda; siehe dazu auch Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt I, Bd. 33, S. 321. Abbildungen von Gores Prospekten finden sich im Ausstellungskatalog: Jakob Philipp Hackert: Europas Landschaftsmaler der Goethezeit. Zu den Mängeln Valenciennes: Praktische Anleitung zur Linear- und Luftperspektive für Zeichner und Mahler. Vgl. ebenda, S. 337. Vgl. ebenda, S. 339f. Vgl. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 46, S. 356–373. Ebenda, S. 356f. Vgl. ebenda, S. 357–361; sowie S. 403f. Ebenda, S. 360f. Vgl. ebenda, S. 361.

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Geschehen aus dem Blick gerät. Gleichwohl birgt der Anblick eines Cameraobscura-Bildes einen gewissen sensationellen Effekt, wie ihn Goethe im Achten Versuch seiner Farbenlehre beschreibt: Nicht weniger ergriffen wir die Gelegenheit in einer portativen Camera obscura an einem Festtage, bei dem hellsten Sonnenschein, die buntgeputzten Leute auf dem Spaziergange auzusehen. Alle nebeneinander sich befindenden variegirten Kleider waren deutlich, sobald die Personen in den Bildpunct oder in seine Region kamen; alle Muster zeigten sich genau, es mochte bloß Hell und Dunkel, oder beides mit Farbe, oder Farbe mit Farbe wechseln. Wir können also hier abermals kühn wiederholen, daß alles natürliche und künstliche Sehen unmöglich wäre, wenn die Newtonische Lehre wahr sein sollte.16

Bedingt werden diese visuellen Erfahrungen nicht zu Letzt durch den instrumentellen Aufbau einer Camera obscura. Durch die Verwendung einer Linse, wie bei der kleinen Camera obscura Goethes, werden die Projektionen heller und farbintensiver (Abb. 3), allerdings nicht kontraststärker in der Helldunkel-Wiedergabe.

Abb. 3: Der orbikulare Effekt bei der Projektion des Jenaer Paradiesparks auf dem Bildschirm der Camera-obscura-Replikation. Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2006.

Außerdem nimmt die Bildhelligkeit vom Zentrum des Bildes, dem so genannten ›Bildpunct‹, zum Rand hin ab. Der hellste Bildabschnitt im Zentrum ist kreisrund – dieser orbikulare Effekt wird durch die Brechung des Lichts in der Linse hervorgerufen. Durch den Einsatz eines Spiegels kann es ferner zu Farbabweichungen kommen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Quecksilberamalgamspiegel genutzt, die eine leicht gräuliche Grundfarbe und einen Reflexionsgrad von nur etwa 60 Prozent besaßen. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war desgleichen die chromatische Aberration optischer Linsen von erheblichem Einfluss für die Farbwiedergabe, welche so stark differieren konnte. Weiterhin ist zu beobachten, dass, sobald man nicht lotrecht auf den Bildschirm blickt, die Projektionsqualität durch eine doppelt abgebildete Projektion getrübt wird, da das Bild sowohl auf die Unterseite, als auch auf die Oberseite der Glasflä16

Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. II, Bd. 2, S. 110.

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Kerrin Klinger und Matthias Müller

che projiziert wird. Ein vergleichbarer Effekt wird durch die Doppelreflexion am Glasspiegel hervorgerufen. Wie Goethe in seinem Landschaftsfragment andeutet, ist das Projektionsbild bei der mit einer Linse ausgestatteten Camera obscura durch Verzerrungen im Randbereich gekennzeichnet. Durch die Linse werden alle vertikalen und horizontalen Konturlinien der Objekte zum Rand der Projektionsfläche hin verzerrt und gekrümmt. Geschuldet ist dies der kissenförmigen Projektion eines der Linsenwölbung entsprechend gekrümmten Bildes auf die plane Fläche des Bildschirms. Die Abbildung in einer Camera obscura mit Linse gleicht demgemäß nur bedingt der geometrisch konstruierten Zentralperspektive mit ihren geraden Fluchtlinien. Außerdem sind für das Zeichnen vor allem die Konturwerte relevant, allerdings werden gerade diese durch den Linseneinsatz verschleiert, das heißt, die Projektion hat eine flächige, leicht verschwommene Anmutung. Die einzelnen Objekte werden in der Projektion förmlich facettiert, das heißt, die Bildelemente wirken in verschiedene Schärfeebenen aufgefächert und in der Projektion in einzelne Farbflächen aufgelöst, wodurch ein fast impressionistischer Eindruck entsteht – besonders, wenn sich Objekte, wie Blätter im Wind, leicht bewegen (Abb. 4). Die Abbildung erscheint farbintensiver, im Helldunkel kontrastärmer und weniger konturiert.

Abb. 4: Fassettierung der Blätter eines Baumes an der Kahlaischen Straße in Jena auf dem Bildschirm der Camera-obscura-Replikation. Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2006

Daraus lässt sich schließen, dass die Camera obscura weniger zum Zeichnen, als vielmehr zum artifiziell überblendeten Neusehen der Umgebung anregt, da sie besonders den Eindruck des Raumes im Vergleich zum natürlichen Sehen modifiziert. Bei Goethes kleiner Camera obscura wird der Aspekt des Sehapparates sogar in den Vordergrund gerückt, da sie sich wegen ihrer geringen Größe kaum zum Skizzieren von Konturen eignet (Abb. 5).

Die Raumkonstrukte der Camera obscura

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Abb. 5: Replikation nach Goethes portabler Camera obscura (Original: Klassik Stiftung Weimar Inventar-Nr.: GNF 0498). Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2008

Nicht zu Letzt durch die Monokularität der Camera obscura wird die Raumwahrnehmung verfremdet. Die Projektion hat einen durch die Konstruktion der Camera obscura festgesetzten Blickpunkt, der sich selbst bei einer Veränderung des Betrachterstandpunkt zur Projektionsfläche kaum verändert. In diesem Punkt gleicht die Projektion einem Tafelbild, denn durch die optische Einrichtung der Camera obscura wird der Blickpunkt der Projektion bestimmt. So kann das Auge zwar über das projizierte Bild wandern, aber nicht eigenständig über die zu fokussierenden Ebenen entscheiden, da der Blickpunkt infolge der optischen Einrichtung – etwa wegen der festgelegten Brennweite – nur auf einer der Ebenen liegt. Obendrein kann einem bewegten Objekt nur begrenzt nachgeblickt werden, es sei denn die Camera obscura wird nachgeführt. Insofern wird der Blick im Camera-obcura-Bild quasi still gestellt. In der Projektion verschwindet die Kontinuität des Raumes, er wirkt diskontinuierlich und gestaffelt. 1775 beschrieb Johann Georg Büsch (1728–1800) diesen Schichtungseffekt, indem er die Beobachtung des Hamburger Mathematik-Professors Georg Simon Klügel (1739–1812) wiedergibt: Herr Klügel ließ in der Camera obscura eine Anzahl kleiner Gärten mit einer dahinter liegenden Reihe hoher Häuser sich abbilden. Dabey schien alles dicht hinter einander zu liegen, die Häuser viel zu nahe, zu deutlich in den kleinen Theilen, z. B. den Dachziegeln, zu lebhaft in den Farben, und wie es ihm vorkam, auch zu groß. Das Helldunkle des Baumschlags hingegen, fiel sehr natürlich aus.17

Auf dem Bildschirm bilden sich keine eindeutigen Konturlinien ab, sondern nebenund hintereinander stehende Flächen, damit verliert sich auch der Eindruck von Dreidimensionalität im projizierten Raumbild. Bewegte Objekte werden so zu 17

Gehler: Physikalisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 866.

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flächigen Bildelementen, die scheinbar von rechts nach links oder umgekehrt geschoben werden, als seien sie wie Zeichentrickfiguren animiert. Man gewinnt diesen Eindruck infolge der verflacht wiedergegebenen Tiefe der einzelnen Projektionsobjekte. Die Raumtiefe wird so in eine Abfolge von zweidimensionalen Ebenen transformiert, wodurch es zwischen den Ebenen zu Perspektivsprüngen kommt.

Abb. 6: Thomas Jones: Gebäude in Neapel, 1782, Öl auf Papier, 14,2 x 21,6 cm, National Museum and Galleries of Wales, Cardiff, Abb. entnommen aus: Sumner und Smith (Hrsg.): Thomas Jones (1742–1803), S. 220.

Diese Schichtung der Bildebenen findet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert auch in landschaftlichen Ölskizzen, die der Engländer Thomas Jones (1742–1803) (Abb. 6) zwischen 1782 und 1783 in Italien anfertigte.18 Wie viele Engländer befand sich Jones auf Studienreise im Land der Antike, er war finanziell unabhängig und nicht auf den Verkauf seiner Werke angewiesen.19 Einige stilistische Merkmale seiner Skizzen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Camera-obscura-Projektion auf. An dieser Stelle soll nicht behauptet werden, dass Jones tatsächlich eine Camera obscura verwendete, sondern eine seiner Studien soll zur Illustration herangezogen werden, um eine solche Projektion zu veranschaulichen. In der Ölskizze Gebäude in Neapel (1772) findet sich ein vergleichbarer Unschärfeeindruck der hinteren Bildebenen. Das Bild zeigt eine bildparallele Häuserwand, links daneben wird ein Ausblick in die umliegende Stadt gewährt, mit gestaffelten Häuserfronten und verschiedenen Kuppeldächern. Der Bildausschnitt ist eng gewählt, Boden sowie Seitenränder sind abgeschnitten, wodurch die Architektur ihre Verortung im Raum verliert. Der Perspektivensprung zwischen naher Haus18

19

Vgl. etwa Busch: Die autonome Ölskizze in der Landschaftsmalerei, S. 126–133; sowie Busch: Das sentimentalische Bild. Vgl. Sumner und Smith (Hrsg.): Thomas Jones (1742–1803).

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wand und ferner Stadtlandschaft wird von Jones in keiner Weise vermittelt. Die nahe Hausfront ist in Helldunkel gegliedert und wird klar und detailreich geschildert, wohingegen die ferne Häuserlandschaft verschattet, verblaut und eher summarisch angelegt ist. In der Stadtlandschaft erzeugen nur die Fenster, im Grunde dunkle Rechtecke, so etwas wie den Eindruck von Tiefe. Im Vergleich zu anderen Skizzen derselben Gebäudekonstellation wird deutlich, dass Jones die Erscheinungsrealität recht genau wiedergibt, wobei er das Motiv in ein jeweils anderes Konstruktionsraster einfügt. Jones’ Studien sind demgemäß in ein Spannungsverhältnis von empirischer Studie und synthetischer Komposition einzuordnen.20 Vereinfacht gesagt, werden zwar Bildgegenstände dargestellt, die – wie z. B. Häuser – räumliche Ausdehnungen zu vermitteln scheinen, aber die Bildelemente werden nur als Flächen angeordnet. Bei Jones wird die Bedeutung der Reiseskizzen als Erinnerungsträger betont – die so festgehaltenen Motive fanden keine Umsetzung in seiner Ausstellungskunst, sondern verblieben im privaten Raum. Da er das zugrunde liegende Konstruktionsraster nicht verbirgt oder verschleiert, sondern durch Markierungen explizit darauf verweist, ist die Ölskizze nicht nur Erinnerung an einen konkreten Ausblick, sondern auch an den Wahrnehmungs- und Arbeitsprozess, in welchem die Dinge in die Konstruktion eingebettet wurden. Diesen Prozess sollte man sich nicht als ein Nacheinander vorstellen, denn Konstruktion und Wahrnehmung bedingen sich. Der künstlerische Blick ist geschult, derartige konstruktive Bezüge bereits im Sehen herzustellen und sie eventuell auch unter zu Hilfenahme von Bleistift, Lineal, Dreieck und geometrischen Operationen auf dem Bildträger umzusetzen. Bei Jones wird offenkundig, dass dem Bild von vorn herein ein konstruiertes Moment inne wohnt. Da der menschliche Blick entsprechend seiner kulturellen Prägung nach Relationen und Bezügen sucht, konstruiert er sich in gewisser Weise seine Umwelt, in dem Augenblick, in dem er sie wahrnimmt. Jones macht diesen Wahrnehmungsprozess anschaulich, da er Erscheinungsrealität und Konstruktionsraster gleichermaßen gelten lässt. Diese Schichtung oder Staffelung entspricht ganz den Bildern in Guckkästen, wie sie seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf nahezu jedem Jahrmarkt zu finden waren, und auch die Gestaltung von Bühnenbildern folgte diesem Muster. Durch hintereinander gestellte Bildebenen wird hier Räumlichkeit simuliert. Die Camera obscura um 1800 war nicht nur von künstlerischer oder wissenschaftlicher Bedeutung, sondern als visuelle Attraktion ein Treffpunkt zu geselligem Beisammensein. In Goethes Schriften finden sich verschiedentlich Hinweise auf Zusammenkünfte in einer Camera obscura. Da sich Goethes Interessen in dieser Hinsicht vielfach überschnitten, kann der konkrete Zweck kaum eindeutig abgegrenzt werden. In seinem Tagebuch finden sich Notizen zum Besuch seiner Camera obscura im November 1808 zusammen mit Beate Elsermann (1887–1831),21 die in diesem Jahr als Schauspielerin am Weimarer Theater beschäftigt war, Sophie von Baumbach (1785–1869) und Pauline Gotter (1786/88–1854),22 die zweite Frau 20 21 22

Siehe dazu Wegner: Der geteilte Blick, S. 13–33. Vgl. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. III, Bd. 3, S. 398. Vgl. ebenda, S. 399.

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Friedrich von Schellings (1775–1854). Diese Besuche fanden vermutlich in Weimar statt. Im Oktober 1808 trug Goethe in sein Tagebuch ein, dass er in Jena die Camera obscura an der Brücke besucht habe.23 Leider ließ sich bisher noch nicht rekonstruieren, in welchem örtlichen Zusammenhang dieser Vermerk steht. Versucht man die Lokalität zu bestimmen, so zeigt ein Plan von 1813 folgende Flussüberquerungen: die Engelbrücke über die Leutra im Westen Jenas, das Wehr und die Camsdorfer Brücke über die Saale im Süden der Stadt sowie in der Nähe des Stadtschlosses eine Brücke über die Mühllache. Hinsichtlich ihrer umliegenden Bebauung kommen jedoch vor allem das Saaltor und Turm an der Mühllache beziehungsweise das Brückentor und die Herberge Grüne Tanne an der Saale in Frage.24 Aufgrund der Aussicht wäre das Brückentor gut zum Observationsraum geeignet. Doch dazu konnten auf zeitgenössischen Abbildungen von Carl Hirsch25 oder von Ludwig Heß26 allerdings keine Hinweise gefunden werden. In gewisser Weise kann die Camera obscura als ein Fernseher verstanden werden. Und so ist die Camera-obscura-Projektion weniger mit einer Photographie, sondern vielmehr mit einer Filmaufnahme vergleichbar, denn auf dem Bildschirm wird Bewegung abgebildet. Der irische Naturforscher Robert Boyle (1627–1691) schreibt dazu: Wenn man einen ziemlich großen Kasten so konstruiert, daß auf einer Seite ein dünnes Blatt Papier wie eine Trommelhaut aufgespannt wird, in einer bestimmten Entfernung vom anderen Ende, in die man ein kleines Loch bohrt, das mit einer Linse versehen ist, dann sieht man durch ein kleines Loch oben am Kasten, daß sich auf dem Papier nicht nur Bewegungen abzeichnen, sondern auch Formen und Farben von Gegenständen, und dies in einer so lebendigen Weise, die mich nicht wenig ergötzte, als ich diesen tragbaren dunklen Raum, wenn ich ihn so nennen darf, zum ersten Mal anfertigen ließ.27

Der Sensationseffekt erhöht sich zudem, wenn die Bilder der Camera obscura mit artifiziellen Bildern manipuliert werden, das heißt eine vermeintliche Realität projiziert wird. Auch hierfür sind frühe Beispiele bekannt: Johann Samuel Traugott Gehler (1751–1795) vermerkt in seinem Physikalischen Wörterbuch von 1787 zu der Projektionstechnik des Italieners Giambattista della Porta (1535–1615): Er nahm auch statt natürlicher Gegenstände kleine gemalte Bilder, die er nahe am Brennpunkt des Linsenglases so stellte, daß sie von der Sonne erleuchtet wurden. Diese Bilder, verkehrt gestellt, erschienen im dunklen Zimmer aufrecht und vergrößert. Da er ihnen allerlei Bewegung geben konnte, so stellte er auf diese Art Jagden, Schlachten u.d.gl. vor – ein Kunststück, das in den damaligen Zeiten der Unwissenheit übernatürlich erschien.28

Man muss sich dieses Spektakel als eine Art Filmvorführung denken, die della Porta außerhalb des dunklen Raumes inszenierte. Gernsheim schreibt zu della Portas Technik: »Diese Art der Unterhaltung kann, zumindest in psychologischer 23 24 25 26 27 28

Vgl. ebenda, S. 359. Siehe Karte von 1813 in Hellmann (Hrsg.): Mein erstes Semester in Jena. Siehe Möller, und Leber: Jena, S. 31. Siehe Koch: Jena – das liebe närrische Nest, S. 36–38. Gernsheim: Geschichte der Photographie, S. 21. Gehler: Physikalisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 864.

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Hinsicht, als früher Vorläufer des Kinos angesehen werden.«29 Bemerkenswert ist hier ist die Simulation von Realität und damit Manipulation der Projektionen. An dieser Stelle deutet sich an, dass die apparativ definierten Grenzen zwischen Camera obscura und Laterna magica verschwimmen. Eine Laterna magica ist ein in sich abgeschlossener Apparat, der zur Projektion eine Art Diapositiv und eine künstliche Lichtquelle nutzte. Allerdings wurde die Laterna magica erst im 17. Jahrhundert – aller Wahrscheinlichkeit nach 1656 von Christiaan Huygens (1629– 1695) – konstruiert und 1671 durch die Schrift Ars magna lucis et umbra Athanasius Kirchers publiziert.30 Della Porta inszenierte mittels Camera obscura so etwas wie ein Lichtspieltheater, indem er außerhalb des verdunkelten Zuschauerraumes ganze Jagden veranstaltete, die dann ins Innere projiziert wurden. Diese Vorführungen hatten auf die Zuschauer oft eine sehr eindringliche und suggestive Wirkung – auch Goethe waren die Schriften della Portas bekannt. Eine Erscheinung solcher Art beschreibt er im zweiten Teil seines Fausts, wenn er den Knaben Wagenlenker sinnieren lässt: Farbig glitzert’s in der Ferne, Irrend leuchten bunte Sterne, Wie von magischer Laterne, Schnaubt heran mit Sturmgewalt. Platz gemacht! Mich schaudert’s!31

Wie sich Goethe einen solchen Auftritt vorstellte, lässt sich an Hand einer seiner Zeichnungen erahnen: hier erscheint hinter den Protagonisten das leuchtende und übergroße Brustbild des Erdgeistes.32 Allerdings scheint die Laterna magica nicht in Weimarer Bühneninszenierungen eingesetzt worden zu sein, denn 1828 erkundigt sich Goethe interessiert bei Wilhelm Johann Carl Zahn (1800–1871), einem Berliner Maler, Architekten und Hochschullehrer nach einer Faust-Aufführung des Fürsten Anton Heinrich von Radziwill (1775–1833), von der er gehört hatte: Da Sie gefälligst kleine Aufträge auszuführen sich erboten haben, so wollt ich Sie um Folgendes ersuchen: Fürst Radziwill, welcher verschiedene Privataufführungen einiger Scenen meines Faust begünstigte, ließ die Erscheinung des Geistes in der ersten Scene auf eine phantasmagorische Weise vorstellen, daß nämlich, bey verdunkeltem Theater, auf eine im Hintergrund aufgespannte Leinwand, von hinten her, ein erst kleiner, dann sich immer vergrößernder lichter Kopf geworfen wurde, welcher daher sich immer zu nähern und immer weiter hervorzutreten schien.33

Goethe erklärte sich diesen theatralischen Effekt durch eine Laterna-magica-Projektion und möchte eine solche erwerben, wobei er gegebenenfalls dem Hersteller das zu projizierende Bild zusenden würde. Es kann daher gefolgert werden, dass vor

29 30 31 32

33

Gernsheim: Geschichte der Photographie, S.17. Kircher: Ars Magna Lucis Et Umbræ. Goethe: Faust. Zweiter Theil – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 15, S. 40. Vgl. dazu Goethe: Erscheinung des Erdgeistes, Theaterzeichnung zum Faust, Bleistift auf bläulichem Papier, 166 x 208 mm, o. Jahr – Hecht: Goethe als Zeichner, S. 171. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. IV, Bd. 45, S. 79: Brief vom 12. Dezember 1828 an Wilhelm Johann Carl Zahn.

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1828 im Weimarer Theater keine derartigen Spektakel aufgeführt wurden. Möglicherweise stand Goethes Auftrag an Johann Michael Christoph Färber (1778–1844) im September 1829, ihm eine Laterna magica von Jena nach Weimar zu senden, in einem solchen Zusammenhang: »Der Museums-Schreiber Färber erhält hiedurch den Auftrag, die in dem physikalischen Museum befindliche große Laterna magica, mit der dazu gehörigen Linse und Lampe, durch die Botenfrau herüber zu senden; sodann von den gemalten Gläsern nur wenige hinzuzufügen.«34 In diesem Zusammenhang ergibt sich für Goethes portative Camera obscura eine weitere, von ihm jedoch nicht erwähnte, Nutzungsmöglichkeit: Im Kaiserlich Privilegirten Reichs-Anzeiger vom 14. Juni 1796 findet sich folgende Anzeige: »Camer. obsc. Von Nußbaumholz, bequem in der Tasche zu tragen, mit matt geschliffenen Glastafeln, auf denen die sehr scharf bezeichneten Gegenstände mit Bleyfeder nachgezeichnet, und am Fenster auf Papier durchgezeichnet, oder feucht abgedruckt werden können.«35 Wie sich dies praktisch realisieren lässt, wird jedoch nicht ausgeführt, daher ist ein solcher Gebrauch aus heutiger Sicht und in Anbetracht der geringen Größe einer so kleinen Taschen-Camera-obscura eher unwahrscheinlich. Dennoch wäre es prinzipiell möglich gewesen, die matt geschliffenen Glastafeln in einer Laterna magica als Bildträger zu verwenden. Dass in Goethes Bekanntenkreis die Laterna magica bei geselligen Anlässen zur Unterhaltung genutzt wurde, legt eine Tagebuchnotiz vom Dezember 1807 nahe: »Abends zu Frommanns, wo Dr. Seebeck, Oken und die Demoiselles Seidlers waren. Etwas gespielt, gesungen und die laterna magica producirt.«36 Eine solche Laterna-magica-Vorstellung konnte nicht nur Vergnügungszwecken dienen, sondern auch pädagogisch wirksam sein. Goethe kannte auch diese Einsatzmöglichkeit der Laterna magica, wie aus der Niederschrift eines Gesprächs vom 24. Juli 1786 hervorgeht. Der Student und spätere Pädagoge Siegismund Gottfried Dietmar (1759–1834) berichtet Goethe von seinem Besuch im Erziehungsinstitut des Pfarrers und Reformpädagogens Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) in Schnepfenthal: »Ich erzählte ihm alles, was mich von dem Salzmannschen Erziehungs-Institut interessirt hatte. Mein Vorschlag, den ich dem Professor Salzmann gethan, die Naturgeschichte den Kindern in den Abendstunden mittels einer Laterna magica zu lehren, gefiel ihm besonders.«37 Goethe warnt jedoch vor diesem Einsatz der Laterna magica wegen deren suggestiven Wirkung: »Kinder haben Mühe, die von Menschen gebildeten Formen von den natürlichen Gestalten zu unterscheiden, und es wäre nicht zu verwundern, wenn sie den Vater fragen: wie machst du die Bäume?«38 Weshalb Kinder, bevor sie in die allgemeine Geographie anhand von Medien eingeführt werden, die Natur ihrer näheren Umgebung direkt kennenlernen sollten.

34 35 36

37 38

Ebenda, Bd. 46, S. 76. Kaiserlich Privilegirter Reichs-Anzeiger vom 14. Juni 1796. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. III, Bd. 3, S. 303/304: Tagebucheintrag, Dezember 1807. Ebenda, Abt. V, Bd. 1, S. 80f.: Gespräch mit Siegismund Gottfried Dietmar am 24. Juli 1786. Ebenda, S. 81.

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Abb. 7: Goethes Gartenhaus in Weimar auf dem Bildschirm der Camera-obscura-Replikation. Foto: Ernst-Haeckel-Haus, Jena 2008

Auch die Camera obscura schafft einen Abstand zur Umwelt und somit eine Distanzierung in der Wahrnehmung – durch Invertierung und Rahmen –, die ein Neusehen ermöglicht. (Abb. 7) Der Betrachter ist durch die Einrichtung des Apparates auf einen bestimmten Abstand (Fokus) zwischen Objekt, Linse und Projektionsfläche festgelegt, um ein deutliches Bild zu erhalten. Dieses Bild ist kein Fensterausblick, da es auf einen bestimmten Blickpunkt festgestellt ist, das heißt, der Blick kann nicht wandern, außerhalb des Blickpunktes bleibt das projizierte Bild unscharf. Dennoch kann die Camera obscura in ihren Grenzen als optischer Sucher eingesetzt werden. Durch die Eingrenzung des Blickfeldes und die Konzentration auf eine einzige scharf abgebildete Tiefenebene fokussiert sich die visuelle Wahrnehmung auf einen Ausschnitt der Realität und blendet zwangsläufig auch aus. Der Blick wird durch die Apparatur in gewissem Sinne still gestellt, indem er auf den Ausschnitt der Projektionsfläche fixiert ist. Eine eigentümliche Verwirrung der Sinne stellt sich ein, wenn der Betrachter zwar visuell von der Außenwelt abgeschirmt ist, aber gleichzeitig die Geräusche der Außenwelt wahrnimmt. Die visuelle Raumwahrnehmung wird dann durch die auditive konterkariert. Vollzieht ein Objekt auf dem Camera-obscura-Bildschirm mit seitenverkehrter Projektion eine horizontale Querbewegung, wird das begleitende Bewegungsgeräusch in tatsächlicher Bewegungsrichtung des Objekts invers zum Camerabild wahrgenommen. Dies führt zu einer sinnlichen Irritation, wodurch der Betrachter gefordert ist, seine Wahrnehmungen neu zu interpretieren. Bewegt sich der Betrachter, während er auf den Bildschirm der sich mit ihm bewegenden Camera obscura blickt, kann diese Irritation verstärkt werden. Dies war etwa durch die Umrüstung einer Kutschenkabine zur Camera obscura möglich, wie sie 1753 in den Hannoverischen gelehrten Anzeigen beschrieben wurde.39 Der Betrachter kann sich dann nur vermittels der Camera-obscura-Projektion visuell orientieren. 39

Vgl. Hannoverische gelehrte Anzeigen, 44. Stück (1753), Sp. 634–638.

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Es kann also festgehalten werden, dass sich das Camerabild durch Realismus und Simultanität, Inversität und eben auch Verfremdung auszeichnet. Man kann auf dem Bildschirm der Camera obscura so etwas wie einen Film sehen. Gleichwohl bleibt das Bild der Camera obscura eine an die Realität gebundene virtuelle Realität. Dabei ist das Camera-obscura-Bild insofern immersiv,40 als dass es durch die Fülle realistischer virtueller Eindrücke den Betrachter gefangen nimmt, der sich so seiner tatsächlichen physischen Umgebung nicht mehr bewusst ist – analog etwa zu Albertis Beschreibung des Fensterblicks aus dem 16. Jahrhundert bzw. zum Kino des ausgehenden 19. Jahrhunderts –, sondern in die abgebildete Realität eintaucht und die Bildbegrenzung nicht mehr als solche wahrnimmt. In engem Zusammenhang mit dem Bildbewusstsein als eine spezifische Aktivität des Betrachters steht die Gewöhnung. Der hohe Bekanntheitsgrad und die weite Verbreitung dieses Apparates legen eine Dispositionierung der Wahrnehmung nahe, die durchaus Analogien zum heutigen Fernsehbild zu lassen, denn die Objekte werden auf dem Bildschirm zu einer selbst referenziellen Imagination des Realen – sie führen ihr Eigenleben. Das Camera-obscura-Bild ist eine virtuelle Dopplung der Realität. Das entscheidende Merkmal der Projektion ist ihre Bewegung. Das Bild ist nicht materiell, gleichwohl ist es als Projektion abhängig von der Präsenz des Objekts und den Bedingungen der Apparatur. Überblickt man die kunsthistorischen Diskurse zur künstlerischen Nutzung der Camera obscura, so fällt auf, dass dort vor allem in Hinblick auf perspektivische Darstellungen41 und andere statische Arrangements wie etwa Stillleben oder Genredarstellungen42 argumentiert wird. Außerdem ist die Camera-obscura-Projektion als eine nicht-dynamische Darstellung vielfach Gegenstand bildtheoretischer Kontroversen.43 Allerdings ist das projizierte Bild einer Camera obscura selten ein stillstehendes und ihr Reiz liegt gerade in der Wiedergabe von Bewegungen. Die Camera obscura bewirkt durch ihre speziellen bildgebenden Eigenschaften einerseits eine Distanzierung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem und andererseits die erhöhte Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ausschnitt. Auf diese Weise ermöglicht die Camera obscura nicht nur ein Neusehen, sondern regt auch ein Nachdenken über die Bedingungen des Sehens an. Vielleicht liegt in diesem besonderen Verfremdungseffekt der Camera-obscuraProjektion für Goethe der Grund, gegen Ende seines Lebens in einem Brief an Friedrich Johannes Frommann (1797–1886) vom 8. April 1827 zu warnen: Freunde, flieht die dunkle Kammer Wo man euch das Licht verzwickt, Und mit kümmerlichstem Jammer Sich verschrobnen Bilden bückt.

40 41

42 43

Vgl. Wiesing: Artifizielle Präsenz. Seipel (Hrsg.): Bernardo Bellotto genannt Canaletto; Pedrocco: Canaletto und die venezianischen Vedutisten. Steadman: Vermeer’s camera; Kleinmann: Rahmen und Gerahmtes. Crary: Techniques of the observer; Kemp: Behind the picture; Böhme: Theorie des Bildes; Wiesing (Hrsg.): Philosophie der Wahrnehmung.

Die Raumkonstrukte der Camera obscura

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Abergläubische Verehrer Gab’s die Jahre her genug, In den Köpfen eurer Lehrer Laßt Gespenst und Wahn und Trug.44

Die ersten zwei Zeilen beziehen sich auf Goethes Experimente zur Natur der Farben und die Rezeption seiner Farbenlehre. Der folgende Satz spiegelt Goethes Sicht auf die Abbildungsvorgaben der Apparatur wieder, die für ihn keiner naturgetreuen Wiedergabe entsprechen und einen Nutzer dazu verleiten, nach apparativen Zwängen Zeichnungen anzufertigen. Die letzten vier Zeilen enthalten die Aufforderung an den Leser, sich nicht an fehlbare Autoritäten zu halten – wobei das »Gespenst« bei Goethe und anderen Autoren Synonym für die prismatischen Farben bzw. den Regenbogen sind,45 Wahn und Trug sind auf das »verzwickte« Licht und die »verschrobnen Bilder« gemünzt. Auch wenn Goethe hier ein Fazit seiner optischen Versuche mit der Camera obscura zieht, könnte man dies auch als eine Aufforderung an Reisende, wie den Engländer in den Wahlverwandtschaften, verstehen, sich nicht in Trugbilder zu verfangen.

44 45

Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. IV, Bd. 42, S. 337. Im 18. Jahrhundert war es nicht unüblich, das mit Hilfe eines Prismas erzeugte farbige Lichtspektrum als ›Gespenst‹ zu bezeichnen. Vgl. z. B. Dekker: Auf Vorposten im Lebenskampf, Bd. 2, S. 10.

Ariane Ludwig

Zu E. T. A. Hoffmanns »Don Juan« und der literarischen Rezeption der Opernszenen um den reisenden Enthusiasten

In Clemens Brentanos Godwi verirrt sich Jost von Eichenwehen bei dem Versuch, eine Vorstellung in der Oper zu besuchen, in den Substruktionen des Theaters – andere Figuren der deutschsprachigen Literatur der Romantik finden ohne Probleme den Weg in verschiedene Opernhäuser: Ludwig Achim von Arnims Mistris Lee in der gleichnamigen Geschichte, die Titelfiguren der ebenfalls in den Wintergarten integrierten Verserzählung Nelson und Medusa, der reisende Enthusiast aus E.T.A. Hoffmanns Don Juan1 sowie die Protagonisten von Wilhelm Hauffs Novelle Othello. Der Titel der beiden letztgenannten Novellen ist der einer Oper: Unter ›Don Juan‹ wurde Mozarts und Da Pontes Don Giovanni im 19. Jahrhundert an deutschsprachigen Bühnen aufgeführt, mit der Wahl des Titels Othello nimmt Hauff Bezug auch auf Rossinis damals beim Publikum sehr beliebte2, auf Shakespeares Tragödie beruhende Oper. Im Zentrum dieser Erzählungen von Hoffmann und Hauff steht die Aufführung der im Titel genannten Opern, in beiden im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts entstandenen Texten wird ein Opernhaus zu einem literarischen Ort. Indem ab ca. 1800 in Opernhäusern spielende Episoden immer häufiger von Dichtern beschrieben werden, erschließen sich der poetischen Darstellung eine Räumlichkeit und Szenenfolgen, deren Schilderung ein reiches Spektrum motivischer Strukturen und narrativer Strategien entfalten wird: Von der »soirée à l’opéra«3 in den Romanen von Stendhal, Balzac und Flaubert bis in die Gegenwartsliteratur ist das Opernhaus bedeutender Ort vor allem in Romanen und Novellen. Der Musik in hohem Maße verbundene Schriftsteller haben komplexe Opernszenen4 verfasst. Nach Wilhelm Heinses Hildegard von Hohenthal und vor Thomas 1

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3 4

In Ergänzung der zahlreichen Interpretationen, die Hoffmanns Novelle bisher erfahren hat – vgl. z. B. Deterding: Poetik, S. 148–161; Eilert: Theater, S. 41–55; Kaiser: Don Giovanni und Don Juan; Mattli: Tod der Primadonna, S. 37–55; Meier: Fremdenloge und Wirtstafel; Wittkowski: Musikerdichtungen, S. 62–65 – wird in der folgenden Darstellung Don Juan auch in einen intertextuellen Kontext zu anderen literarischen Opernszenen gestellt. Vgl. auch die entsprechenden Opernszenen in Balzacs Briefroman Mémoires de deux jeunes mariées und in Ludwig Börnes Erzählung Die Karbonari und meine Ohren, in denen die Protagonisten Rossinis Otello besuchen. Vgl. die Darstellung von Pierre Michot: La soirée à l’opéra. ›Opernszene‹ wird im vorliegenden Aufsatz als Terminus für Szenen in der Literatur verwendet, die in einem Opernhaus spielen. In diesem engeren Sinne spricht u. a. Daniel Fuhrimann von ›Opernszenen‹ (vgl. z. B. Fuhrimann: Herzohren, S. 335), während Hans Rudolf Vaget in Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik unter diesem Begriff auch poetische, nicht an den Handlungsort ›Opernhaus‹ gebundene Beschreibungen von Werken der Opernliteratur fasst,

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Ariane Ludwig

Manns Novellen Der kleine Herr Friedemann und Wälsungenblut, Franz Werfels Verdi. Roman der Oper, Thomas Bernhards Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige oder Alejo Carpentiers Concierto barocco5 schildert der dichtende Komponist und komponierende Dichter E.T.A. Hoffmann als einer der ersten unter den musikalisch kompetenten Schriftstellern ausführlich den Opernbesuch eines seiner Protagonisten. Während der rätselhaften Titelfigur von Hoffmanns erster Erzählung Ritter Gluck der Genuß einer künstlerisch gelungenen Aufführung einer Oper im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin versagt bleibt, wird dem reisenden Enthusiasten in der Novelle Don Juan das Glück zuteil, eine musikalisch auf höchstem Niveau gestaltete Vorstellung des Don Giovanni in der Originalsprache erleben zu dürfen – ein besonders kostbares Geschenk, wenn man die zur Zeit der Abfassung von Hoffmanns Erzählung übliche Konvention, dieses ›dramma giocoso‹ in deutschsprachigen Ländern fast ausschließlich in Übersetzung zu spielen, bedenkt. Vor diesem aufführungsgeschichtlichen Hintergrund wird die Begeisterung des selbst komponierenden Enthusiasten nachvollziehbar: »Hier am deutschen Orte italienisch? Ah che piacere! ich werde alle Rezitative, alles so hören, wie es der große Meister in seinem Gemüt empfing und dachte!«6 In Hoffmanns Novelle aus den Fantasiestücken in Callot’s Manier wird Don Giovanni in einem Theater gegeben, das mit einem Hotel verbunden ist: »Diese Tapetentür führt auf einen kleinen Korridor, von dem Sie unmittelbar in Nro. 23 treten: das ist die Fremdenloge.«7 Vorbild für diese phantasievoll anmutende Konstruktion war das mit dem Bamberger Theater verbundene8 Hotel »Die Rose«, Hoffmanns Stammlokal9 während seiner Zeit als Dirigent, Komponist und Theatermaler am dortigen Theater (1808–1813), das unter Hoffmann und Franz von Holbein in den Jahren 1810 bis 1812 »zu einer der führenden Provinzbühnen des deutschen Sprachgebiets« aufstieg10; 1810 wurde dort Don Giovanni aufgeführt. In den Opernszenen vor allem der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird häufig der Theaterbesuch eines musikinteressierten, gebildeten Laien geschildert, der wie Olivier Bertin, der Protagonist von Guy de Maupassants Roman

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so dass diesem weiteren Sprachgebrauch zufolge z. B. das Zauberberg-Kapitel »Fülle des Wohllauts« ›Opernszenen‹ enthält (S. 79). Der kubanische Musikwissenschaftler Alejo Carpentier beschreibt in Concierto barocco die Generalprobe von Vivaldis Oper Montezuma. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 84. – Dass der Enthusiast seiner Begeisterung für die originalsprachige Aufführung mit einem »Opernzitat« (Kaiser: Don Giovanni und Don Juan, S. 8) aus Don Giovanni Ausdruck verleiht – »Che piacer, che piacer che sarà!« singen Zerlina, Masetto und der Chor der Bauern – unterstreicht, wie gut er die Oper kennt – Lorenzo Da Ponte: Don Giovanni, S. 62 u. ö. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 83. Vgl. auch den Kommentar zu Don Juan in ebenda, S. 675: »Auch in Bamberg gelangte man vom Gasthof ›Zur Rose‹ durch einen Gang direkt in den angebauten Theatersaal.« Hartmut Kaiser weist darauf hin, dass die Fremdenloge in diesem Theater wie in dem in Hoffmanns Don Juan beschriebenen die Nummer 23 hat; vgl. Kaiser: Don Giovanni und Don Juan, S. 23; Abbildungen des E.T.A. Hoffmann-Theaters in Bamberg bzw. der Fremdenloge im genannten Heft. Vgl. Eilert: Theater, S. 43. Kaiser: Hoffmann, S. 24f.

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Fort comme la mort, Charles Gounods Faust »presque par cœur«11 kennt, wie Fontanes Ingenieur von Gordon »mit Verständnis und Freudigkeit«12 der Ouvertüre von Richard Wagners Tannhäuser folgen kann oder wie Thomas Manns AarenholdZwillinge in Wälsungenblut aufgrund einer tiefen, mehr als wahlverwandtschaftlichen Vertrautheit mit Wagners Walküre scharfe Kritik an der musikalischen Qualität einer Aufführung des zweiten Teils der Ring-Tetralogie zu äußern vermögen. Zuweilen befindet sich im fiktiven Opernpublikum eines Romans oder einer Novelle ein Musiker wie Balzacs genialischer Komponist Gambara in der gleichnamigen Erzählung oder wie Schnitzlers Dirigent Georg von Wergenthin in Der Weg ins Freie. Dass in Don Juan der komponierende Künstler Hoffmann über den Opernbesuch eines Komponisten schreibt, führt dazu, dass das Kunstwerk Oper ins Zentrum der Darstellung rückt. Während in vielen literarischen Opernszenen das Theater der gesellschaftlichen Repräsentation im Vordergrund steht und die aufgeführte Oper irrelevant bis zur Nichterwähnung ist wie in Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy, Choderlos de Laclos’ Briefroman Les liaisons dangereuses oder in Tolstojs Anna Karenina, wird umgekehrt in Hoffmanns Erzählung das Publikum nur einer kurzen Bemerkung gewürdigt und als nahezu amorphe Masse beschrieben: »Logen und Parterre waren gedrängt voll.«13 Diese knappe Aussage steht dem metaphorischen Aufwand, den z. B. wenige Jahre zuvor Achim von Arnim in Mistris Lee der Beschreibung der Opernbesucher gewidmet hat,14 diametral gegenüber. Hoffmanns Don Juan ist wie die Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni mit ihrem Andante- und Molto Allegro-Teil bzw. wie die zweiaktige Oper in zwei Abschnitte gegliedert: Im Verlauf der zunächst geschilderten Aufführung erhält der Enthusiast auf rätselhafte Weise15 Besuch von Donna Anna in der »kleinen Fremdenloge«, die aufgrund ihrer Kapazität »zu zwei, höchstens drei Personen«16 den geeigneten Raum für eine intime Begegnung darstellt. Im Pausengespräch mit Donna Anna, einer Figur, die derart eins ist mit der Rolle aus Mozarts Oper,17 dass Hoffmann ihr keinen ›bürgerlichen‹ Namen gibt, scheinen sich dem Erzähler »die Tiefen des Meisterwerks«18 erst zu öffnen. Nach dem Besuch der Aufführung hält der IchErzähler sich kurz im Wirtshaus auf, bis er des philisterhaften »Gewäsches«19 der anwesenden Gäste überdrüssig ist. Im zweiten, »In der Fremdenloge Nro. 23«20 überschriebenen Teil sucht er um Mitternacht erneut die Loge auf, wo er in einem 11 12 13 14 15

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Maupassant: Fort comme la mort – Romans, S. 1001. Fontane: Cécile – Sämtliche Werke. Romane. Erzählungen. Gedichte, Bd. 2, S. 299. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 84. Vgl. Arnim: Mistris Lee – Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 218. Vgl.: »Es war Donna Anna unbezweifelt. Die Möglichkeit abzuwägen, wie sie auf dem Theater und in meiner Loge habe zugleich sein können, fiel mir nicht ein.« Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 88. Ebenda, S. 83. Vgl. z. B. auch Kaiser: Don Giovanni und Don Juan, S. 19, der von einer »kompromißlosen Gleichsetzung von Person und Rolle« spricht. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 88. Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 91.

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an seinen Freund Theodor gerichteten Schreiben ›andeuten‹ möchte, »wie ich jetzt erst das herrliche Werk des göttlichen Meisters in seiner tiefen Charakteristik richtig aufzufassen glaube.« Als Künstler fühlt er sich befähigt, die Sprache des »Geweihten« zu verstehen, nachdem er »im Tempel die Weihe«21 empfangen habe, eine Formulierung, in der die Begegnung mit Donna Anna nachhallt. Der reisende Enthusiast wird von Donna Anna, die ihm zu einer Art Muse wird, zu einer tiefen Befassung mit Mozarts Werk angeregt. Ex negativo stimuliert aber auch die Begegnung mit der Welt der Philister an der Wirtshaustafel die künstlerische Auseinandersetzung mit der Oper. Der Wechsel zwischen den Räumlichkeiten der Erzählung, zwischen Alltagswirklichkeit und dem Reich der Kunst wirkt fruchtbar in dem dialektischen Sinne, den Norbert Miller allgemein als Ermöglichungsgrund für Hoffmanns Schaffen beschreibt: dieser Dichter »bedarf [...] für seine Phantasie des Widerstands durch die Alltäglichkeit.«22 Die die Aufführungsgeschichte von Mozarts Oper beeinflussende Deutung,23 die der Enthusiast in seiner Interpretation des Don Giovanni vorlegt, wird durch die in Verbindung mit der musenähnlichen Figur der Donna Anna leise anklingende Inspirationsmetaphorik – der Reisende glaubt, »einen zarten, warmen Hauch«24 zu fühlen – in die Nähe eines künstlerischen Werkes gerückt. Die geradezu schöpferische Nachgestaltung25 von Mozarts Oper durch den Enthusiasten ist im wesentlichen auf die Titelfigur und auf Donna Anna26 konzentriert. In der vom Enthusiasten vertretenen These von einem faustisch-perfektibilistischen »Streben nach dem Höchsten«27, das Don Juans Liebe zur Frau als ein Moment der Sehnsucht zugrunde liege, wird die Deutung des Verführers um einen neuen Aspekt bereichert. Die in die Erzählung integrierten Anklänge an Goethes Faust28 finden einen sinnvollen 21 22 23 24 25

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Ebenda, S. 92. Miller: Hoffmann und die Musik, S. 127. Siehe die beiden letzten Fußnoten zu diesem Aufsatz. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 87. Vgl. Dieter Borchmeyer, der Hoffmanns Don Juan als »eine faszinierende Kontrafaktur zu Mozarts Oper«, jedoch nicht »als authentische Deutung des Dissoluto punito« charakterisiert (Borchmeyer: Mozart, S. 149). Albert Meier spricht von einer »exaltierten Neuinterpretation« (Fremdenloge und Wirtstafel, S. 523). Klaus Deterding bemerkt überzeugend, dass der »Autor hier den ›Don Giovanni‹ von Mozart neu entstehen« lässt, dass die »Interpretation des Don Juan gegeben [wird] als [...] im Innern geschaute Gestalt: als Wahrheit (Hoffmanns Wahrheit) der Mozart-Oper ›Don Juan‹.« Detering: Hoffmanns Erzählungen, S. 35. Hartmut Kaiser (Don Giovanni und Don Juan, S. 9) macht auf folgende erzählerische Strategien Hoffmanns im Zusammenhang mit der Exponierung Donna Annas aufmerksam: »Nur in der Beschreibung der Sängerin verwendet der Erzähler Ausrufezeichen; nur von ihrer Stimme ist er fasziniert, die der anderen Bühnengestalten findet er nicht erwähnenswert.« Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 93. Vgl. z. B. die Beschreibung des Bühnenbilds des Festsaals (2. Akt) »mit einem großen, gotischen Fenster im Hintergrunde, durch das man in die Nacht hinaussah« – Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 89; nur der Vollmond fehlt, um die Assoziation an Fausts Studierzimmer zu Beginn des ersten Teils von Goethes Tragödie vollständig zu bestätigen, vgl. Goethe: Faust – Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 7,1, S. 33f. Die Wahrnehmung des Enthusiasten von seiner Umgebung erinnert an die Gretchens nach Fausts und Mephistopheles‘ ›Besuch‹ in ihrem Zimmer: »Es war mir so eng, so schwül in dem dumpfen Gemach!« Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in

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Bezugsort, indem Don Juan zu einer Art Faust-Figur29 wird. Im Unterschied zu der späteren Darstellung in Kierkegaards Entweder – Oder, in der betont wird, dass »der Gegenstand« von Don Giovannis »Begehren[...] das Sinnliche und dieses allein ist«30, sind dem an das Sinnliche gebundenen Streben des Don Juan in der Deutung von Hoffmanns Enthusiasten metaphysische Dimensionen inhärent in den »Ahnungen des Höchsten«31. Wäre Don Juan der von ihm – nach Ansicht des Reisenden – verführten Donna Anna früher begegnet, hätte sie es vermocht, ihn »die ihm inwohnende göttliche Natur erkennen zu lassen«32. Der zweite Teil der Novelle schließt mit der Wiedergabe eines Gesprächs an der Wirtshaustafel am Mittag des der Aufführung folgenden Tages. Der Enthusiast erfährt den Tod der Donna Anna, der »Morgens Punkt zwei Uhr«33 eintrat, zu dem Zeitpunkt also, als der Reisende in der Loge über seiner neuen Deutung bzw. Interpretation von Mozarts Oper sitzend, »Anna’s Stimme zu hören«34 glaubte. Wird vom Ich-Erzähler im Zusammenhang mit der Aufführung des Don Giovanni die Rundung des Werks »herrlich zu einem Ganzen« durch den »fugierte[n] Chor«35, also die Entscheidung der Operntruppe, die Fassung der Prager Uraufführung mit dem Auftritt der Solisten und deren Schlußensemble »Questo è il fin di chi fa mal!«36 zu spielen, hervorgehoben, endet die Novelle gleichsam in der Art der Wiener Erstaufführung des ›dramma giocoso‹, d.h. unmittelbar nach dem Tod – natürlich nicht der männlichen Titelfigur der Oper, sondern der weiblichen Hauptfigur der Erzählung. Der Zweiteilung sowohl der aufgeführten Oper als auch der von Hoffmanns Novelle korrespondiert der Umstand, dass die Handlung um den reisenden Enthusiasten auf zwei Räumlichkeiten konzentriert ist: »Fremdenloge und Wirtstafel«37, wobei die Loge der zentrale Ort des Erlebens ist. Vergleicht man Don Juan in Hinblick auf das Opernhaus als Handlungsort mit anderen Romanen oder Novellen, in die Opernszenen eingeschrieben sind, fällt auf, dass der Text des romantischen Dichters einer der wenigen ist, der fast ausschließlich im Opernhaus spielt: Hatten z. B. Laurence Sterne in A Sentimental Journey und Wilhelm Heinse in Hildegard von Hohenthal einen langen narrativen ›Anlauf‹ benötigt, bis sie ihre Protagonisten in ein Opernhaus in Paris bzw. in Rom finden ließen, steht bezeich-

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sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 91; vgl. Goethe: Faust – Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 7,1, S. 117: »Es ist so schwül, so dumpfig hie.« Vgl. auch Kaiser (Don Giovanni und Don Juan, S. 6), der von einem »faustischen Sucher« spricht, oder Wittkowski, der auf eine Vermischung des »metaphysischen Dilemmas mit einer romantischen Version des Faustproblems« (Musikerdichtungen, S. 63) hindeutet. Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 119. Vgl. auch die Gegenüberstellung von Don Juan und Faust: »Don Juan ist somit der Ausdruck des Dämonischen, das als das Sinnliche bestimmt ist, Faust ist der Ausdruck des Dämonischen, das bestimmt ist als jenes Geistige, welches der christliche Geist ausschließt.« Ebenda, S. 109f. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 92. Ebenda, S. 95. Ebenda, S. 97. Ebenda, S. 96. Ebenda, S. 90. Da Ponte: Don Giovanni, S. 162. So lautet der Titel eines (oben bereits zitierten) Aufsatzes von Albert Meier.

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nenderweise im ersten Satz der Don Juan-Novelle der »Ruf: Das Theater fängt an!«38 Gleich zu Beginn wechselt der Erzähler aus der kunstfernen Atmosphäre des Wirtshauses durch die Tapetentür in das System Kunst, vollzieht, systemtheoretisch gesprochen, ein crossing in die Welt der Kunst. In der Fremdenloge wird ein Kunstwerk zum eigentlichen Reflexionspunkt der Novelle, im durch das Theater symbolisierten System Kunst betrachtet sich die Kunst als eigenständiges System. Die Aufmerksamkeit auf die Differenz Kunst/Realität, die in dieser Form erst mit der abgeschlossenen Ausdifferenzierung der Kunst als eigenes System um 180039 beschreibbar ist, wird in besonderem Maße auch durch die Rückkehr des Enthusiasten in die Loge unmittelbar nach der Aufführung gelenkt. Im Vergleich zu anderen Texten, in die Opernszenen integriert sind und in denen meist nur ein einziger Opernbesuch beschrieben wird, fällt die zyklische Struktur40 auf, die Hoffmanns Erzählung durch die Rückkehr des Protagonisten in die Fremdenloge erhält; man fühlt sich erinnert an Raumkonstruktionen in romantischen Romanen,41 in denen die Reisen der auf der Suche nach einer verlorenen, fremdgewordenen Heimat umherziehenden Figuren sich oft in Kreisbewegungen gestalten. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus.«42 Die ersten Verse der Winterreise fassen nahezu programmatisch das Fremdheitsgefühl romantischer (Künstler-)Figuren in der Welt zusammen.43 Vor diesem Hintergrund gewinnt die ›Fremdenloge‹ eine besondere Bedeutung: Der für die Fremden44 bestimmte Ort wird dem Enthusiasten, dem am Ort des Geschehens nicht beheimateten Komponisten, zur künstlerischen Heimat in der Begegnung mit Mozarts »Oper aller Opern«45. Dass die Fremdenloge sich »dicht beim Theater«46 befindet, unterstreicht, dass Hoffmanns Erzähler ›dichter‹ an dem aufgeführten Werk ›dran‹ ist als andere Personen aus dem Publikum. Die Plazierung von Hoffmanns Protagonisten in der Nähe der Bühne betont dessen Affinität zu Mozarts Werk. – Mehrere Jahrzehnte 38 39 40

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Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 83. Vgl. z. B. Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 60. Im Zusammenhang vor allem mit Ausführungen zu den Lebens-Ansichten des Katers Murr (und ohne konkreten Bezug auf die Don Juan-Novelle) weist Steven Paul Scher darauf hin, »wie sehr Hoffmann mit dem Phänomen der Kreisbewegung, sowohl als ontologische Idee wie auch als kompositorische Strategie, beschäftigt war.« Scher: ›Kater Murr‹ und ›Tristram Shandy‹, S. 164. Vgl. Kremer: Prosa der Romantik, S. 125 und S. 129. Müller: Winterreise, S. 38. Vgl. noch allgemeiner Siegfried Gröf zu Beginn einer Untersuchung über Fremdheitserfahrungen in der erzählenden Literatur der Frühromantik, der er die oben zitierten Verse Wilhelm Müllers voranstellt: »In diesen Versen aus Wilhelm Müllers Winterreise schlägt sich das Lebensgefühl einer ganzen Generation nieder.« Gröf: Fremdheitserfahrungen, S. 7. Hartmut Kaiser erinnert im Zusammenhang mit der Fremdenloge an »die Wichtigkeit dieses Wortes [fremd] im Begriffsbestand der Romantiker [...]. In der ersten von Novalis’ Hymnen an die Nacht hat es religiösen Sinn; Hoffmann will damit Menschen bezeichnen, die nicht ›hier‹ ihre eigentliche Heimat haben, sondern im Reich der Kunst, in ›Italia‹, in ›Atlantis‹ oder in ›Dschinnistan‹.« Kaiser: Don Giovanni und Don Juan, S. 22f. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 90. Ebenda, S. 83.

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nach dem Erscheinen von Hoffmanns Don Juan lässt auch Guy de Maupassant in seinem späten Künstlerroman Fort comme la mort den Protagonisten Olivier Bertin von einer Bühnenloge aus eine Aufführung einer Oper erleben, die dieser besonders gut kennt: Gounods Faust wird an diesem Abend in der Garnier-Oper gespielt. Wie der Plazierung von Hoffmanns Protagonisten im Zuschauerraum entspricht auch der des Malers Bertin eine innere Affinität zu dem aufgeführten Werk. Olivier Bertin »avait lu autrefois le poème qu’il estimait très beau, sans en avoir été fort ému, et voilà que, soudain, il en pressentit l’insondable profondeur, car il lui semblait que, ce soir-là, il devenait lui-même un Faust.«47 Während Faust dem alternden Künstler Bertin zu einem Spiegel seiner selbst wird, inspirieren Hoffmanns Ich-Erzähler die Aufführung der Oper und besonders das Donna Anna-Erlebnis zu einer Art Neuschöpfung von Mozarts Werk. Der reisende Enthusiast nimmt seinen Weg von größeren Räumlichkeiten wie dem Hotelzimmer in den intimen Innenraum der Loge: »der geheimnisvolle Weg« geht – um mit Novalis, den Hoffmann verehrte,48 zu sprechen – »[n]ach Innen«49. Zu diesem Innenraum gelangt der Ich-Erzähler durch eine Tapetentür. Ähnlich wie in Heinrich von Ofterdingen die Worte des alten Bergmannes »eine versteckte Tapetenthür«50 im Inneren des Protagonisten öffnen, führt auch die Tapetentür in Hoffmanns TheaterGasthaus nicht nur in die Loge, sondern auch in die seelische Innenwelt des Enthusiasten. Auf diese Weise kann in einer nahezu dialektischen Wendung die kleine Loge für den Erzähler vor allem während seines mitternächtlichen Aufenthalts zu einem Ort der schöpferischen Entgrenzungserfahrung51 werden: Indem der Weg des Reisenden in die Loge auch ein Weg in die Tiefen seines Gemüts52 ist, steht die Loge für einen ähnlichen Bereich des Psychisch-Unterbewussten wie einer »der wichtigsten Schauplätze der romantischen Literatur:«53 der Berg bzw. die Höhle54. In dem nach 47 48 49 50

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Maupassant: Fort comme la mort – Romans, S. 1001. Vgl. Matt: Augen der Automaten, S. 2. Novalis: Blüthenstaub – Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 233. Novalis: Heinrich von Ofterdingen – ebenda, Bd. 1, S. 299; vgl. den ganzen Satz: »Die Worte des Alten hatten eine versteckte Tapetenthür in ihm geöffnet.« (Hervorhebung von A. L.). Vgl. Inka Mülder-Bachs Interpretation der in Heinrich von Ofterdingen erwähnten »Tapetenthür« als ein »dem Tagesbewusstsein verborgene[r] Zugang zu einer inneren Welt.« Mülder-Bach: Tiefe. Zur Dimension der Romantik. – In: Mülder-Bach/Neumann (Hrsg.): Räume der Romantik, S. 83–102, hier S. 94. – Zu Novalis’ ›Tapetenthür‹ vgl. auch den Beitrag von Carsten Lange in diesem Band. Vgl. ähnlich Albert Meier, der von einem »ekstatischen Entgrenzungserlebnis des Enthusiasten beim zweiten Aufenthalt im menschenleeren, dunklen Opernhaus« spricht – Meier: Fremdenloge und Wirtstafel, S. 522. Vgl. in diesem Zusammenhang den Hinweis von Inka Mülder-Bach (Tiefe : Zur Dimension der Romantik. – In: Mülder-Bach/Neumann [Hrsg.]: Räume der Romantik, S. 83–102, hier S. 86) darauf, dass die »Rede von den ›tiefsten Tiefen‹ des Gemüts [...] gegen Ende des 18. Jahrhunderts schon topisch geworden ist«. Ebenda, S. 95. Zu Höhle und Berg bzw. zu romantischen Texten, in denen diesen wichtige Funktionen zukommen, vgl. Inka Mülder-Bach: »Die Texte, die von dieser Faszination [an Berg und Höhle] zeugen, entwerfen Schlüsselszenen des modernen Subjekts, und dies nicht nur insofern, als sie protopsychoanalytische Topologien und Semantiken formulieren.« Ebenda, S. 95. Vgl. auch Detlef Kremer, der darauf hinweist, dass die Höhle »bei Novalis und zahlreichen anderen

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drei Seiten hin geschlossenen Raum der Loge kann in Hoffmanns Don Juan das stattfinden, was Hans Blumenberg im Zusammenhang mit Überlegungen zur Höhle allgemein beschreibt: »Der geschlossene Raum erlaubt, was der offene verwehrt: die Herrschaft des Wunsches, der Magie, der Illusion«55. Auch vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Konstante kann für den reisenden Enthusiasten die Loge zu einem Ort nicht nur des künstlerischen Erlebens, sondern auch des künstlerischen Schaffens werden, das nach Hoffmanns Überzeugung aus der Wendung nach innen erwächst56, im Hören auf den »im Innern versteckten Poeten«57. Iwan Turgenjew und Marcel Proust blieb es vorbehalten, die hier assoziativ hergestellten Verbindungen zwischen dem Logenort der Kultur und der urtümlichen Höhle poetisch zu entfalten: Turgenjew verleiht in Vešnie vody (Frühlingsfluten) einer Loge höhlenhafte Züge,58 Proust imaginiert in Le Côté de Guermantes Logen »à l’Opéra«59 als »grottes marines«60, spricht von der Loge als »antre«61. Die literarische Gestaltung von Raumstrukturen eines Opernhauses als ›reale‹ Architektur und gleichzeitig als Bild seelischer Innenräume begegnet nach Hoffmanns »fabelhafter Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen«62, erst wieder in Gaston Leroux’ Roman Le Fantôme de l’Opéra. Wie in Hoffmanns Don Juan-Novelle wird im Zusammenhang mit literarischen Opernszenen häufig, oftmals in enger Anlehnung an den Topos des ›theatrum mundi‹, von Todesfällen berichtet: Sänger treten während der Vorstellung von der

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Romantikern als Chiffre des Unbewussten mit einer ›Traumwelt‹ [...] assoziiert wird« – Kremer: Prosa der Romantik, S. 127. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 14. Vgl. Peter von Matts (Augen der Automaten, S. 6) Betonung folgender »Wahrheit, die für das Verständnis Hoffmanns unabdingbar ist«: Sie »besteht in der Überzeugung, daß das Kunstwerk im Innern des Künstlers vollendet und vollkommen da ist«, so dass sich, wie Matt am Beispiel u. a. von Kreisler darlegt, »der Künstler jedesmal ganz und ausschließlich in sein Inneres wenden muß, wenn er ein Kunstwerk schaffen will« – ebenda, S. 9. Hoffmann: Johannes Kreislers Lehrbrief – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 448; vgl. auch die Formulierung vom »Entstehen der Melodien im Innern«, ebenda, S. 453. In dieser Novelle wird ein Theaterbesuch beschrieben, den der Protagonist Dimitri Pawlowitsch Sanin und Marja Nikolajewna gemeinsam unternehmen. In der Fremdenloge des Wiesbadener Theaters bringt Marja das Gespräch auf die in Vergils Aeneis geschilderte Liebesvereinigung von Dido und Aeneas. Loge und Höhle, von der Raumstruktur ohnehin sehr ähnlich in der Dialektik von Geschlossenheit und Offenheit und aufgrund des Wechselspiels von Geborgenheit in einem kleinen Raum und Blick in die weite Welt, werden durch die Anspielungen von Marja in der Vorstellung des Lesers nahezu identisch, der Loge teilt sich die erotische Atmosphäre der »Höhlenhochzeit« – (Wlosok: Vergils Didotragödie, S. 342) von Dido und Aeneas mit. Diese Beobachtung wird bestätigt dadurch, dass am dem Theaterbesuch folgenden Tag ein Gewitter Sanin und Marja während eines gemeinsamen Ausritts veranlasst, die Liebesbegegnung zwischen der karthagischen Königin und dem aus dem brennenden Troja Geflohenen in einer einsamen Hütte nachzu›spielen‹. Marjas Äußerung – »Bravo! Da capo! Erinnern Sie sich, daß ich gestern von der ›Äneis‹ sprach? Die wurden doch auch im Wald von einem Gewitter überrascht!« Turgenjew: Frühlingsfluten, S. 152f. – bindet dieses Abenteuer auch durch die theatralischen Zustimmungsformeln an den Theaterbesuch zurück. Proust: Le Côté de Guermantes – À la recherche du temps perdu II, S. 336. Ebenda, S. 338. Ebenda, S. 352. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 83.

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Bühne des Lebens ab wie Hans Christian Andersens Lykke-Peer im gleichnamigen Roman, Opernbesucher sterben nicht lange nach einem in der Oper verbrachten Abend wie der Maler Olivier Bertin in Maupassants Roman Fort comme la mort; seit Gaston Leroux’ Fantôme de l’Opéra bis hin zu Josef Haslingers Opernball und Thea Dorns Ringkampf ist das Opernhaus Schauplatz zahlreicher Mordanschläge. Den Tod der Donna Anna in Hoffmanns Don Juan umgibt ein Geheimnis, das zu unterschiedlichen Deutungen animiert hat. Führt die Identifikation mit der Rolle im Zusammenspiel mit der Ansicht des Enthusiasten, Mozarts Donna Anna werde das von ihrem Bräutigam Don Ottavio erbetene Jahr vor der Hochzeit nicht überleben, zu ihrem Tod? Stirbt sie aufgrund der intensiven Gestaltung ihrer Rolle, durch die »Kunst, die Leib und Leben verzehrt«63? Christian Mattli denkt sogar an Mord: der Enthusiast habe die Sängerin »zu Tode« »magnetisiert«64. Einer Aufklärung des für Hoffmanns Erzählungen konstitutiven »ungelösten Rests«65 scheint man allerdings kaum näher zu kommen unter Einbeziehung dieser These von »einer verkappten Mordgeschichte«66. Erst in Wilhelm Hauffs Othello wird aus dem künstlerischsublim Unergründlichen, das den Tod der Donna Anna in Hoffmanns Don Juan umweht, ein kriminell Rätselhaftes. In der Novelle des von Hoffmann deutlich beeinflussten67 Dichters wird von seltsamen Todesfällen berichtet: »sooft ›Othello‹ gegeben wird, muß acht Tage nachher jemand aus der fürstlichen Familie sterben.«68 Diese Konstellation ist zu beobachten, seit ein Fürst im Jahre 1740 eine Schauspielerin, seine Geliebte, am Ende einer Aufführung von Shakespeares Othello durch den bestochenen Darsteller der Titelfigur eines echten und nicht nur eines Bühnentodes sterben ließ.69 Daran, dass nach dieser und allen folgenden Aufführungen von Othello ein Mitglied der hohen Familie zu Tode kommt, ändert auch die Umstellung des Spielplans auf Rossinis gleichnamige Oper nichts. Die Handlung von Hauffs Novelle setzt ein, während im Theater des Fürstentums die Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni erklingt. Im Verlauf der Aufführung bemerkt Major von Larun, ein – wie Hoffmanns reisender Enthusiast70 – Orts63 64 65 66

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Safranski: Hoffmann, S. 422. Mattli: Tod der Primadonna, S. 45. Mayer: Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmanns, S. 260. Mattli: Tod der Primadonna, S. 44. – Christian Mattli, der die These von einem »magnetischen Tod« aufstellt, merkt selbst an, dass es dafür zwar »Indizien«, aber keine »Beweise« gibt, ebenda, S. 46. Vgl. Neuhaus: Hauff, S. 57. Hauff: Othello – Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 447. Vgl. hierzu Stefan Neuhaus: »Der Bühnenmord Othellos an Desdemona wurde zum ›realen‹ Mord. Hierin ist eine interessante Variation zu Hoffmanns Don Juan zu sehen« Neuhaus: Hauff, S. 59. Anders als Hoffmanns Enthusiast interessiert sich Hauffs Major allerdings nicht für Mozarts ›dramma giocoso‹, vgl. Hauff: Othello – Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 437. Rossinis Otello bezeichnet Larun zwar als »ein herrliches Kunstwerk« und erwähnt, dass ihn »selten eine Musik so an[spricht] wie diese« (ebenda, S. 439), doch als ein die Musik – wie Hoffmanns Reisender – liebender und verehrender Mann kann er kaum bezeichnet werden. Auf diesen Unterschied zwischen beiden Figuren scheint Hauff fast augenzwinkernd hinzuweisen, wenn er den Grafen den Major von Larun vor einem gemeinsamen Besuch bei dem Regisseur anweisen lässt: »stellen Sie einen Dilettanten oder Enthusiasten vor, oder was in unseren Kram paßt.« Ebenda, S. 445; Hervorhebung von A. L.

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fremder, dass Prinzessin Sophie in den polnischen Grafen Zronievsky verliebt ist, und erfährt, dass es ihr sehnlichster Wunsch ist, Rossinis Otello aufgeführt zu sehen. Die erbetene Vorstellung findet trotz der bekannten Todesfälle statt. Während der Aufführung von Otello liest die Prinzessin ein Billett, durch das sie erfährt, dass der von ihr geliebte Graf verheiratet ist. Diese Nachricht führt zu ihrem Tod »acht Tage nach ›Othello‹«71. Äußerungen der Oberhofmeisterin lassen den Verdacht aufkeimen, dass dieser Tod von einigen Personen billigend in Kauf genommen worden, wenn nicht sogar beabsichtigt war, um eine weitere Annäherung zwischen dem Grafen und der Prinzessin zu verhindern. Sophie hat eine besondere Affinität zur Figur der Desdemona, vor allem liebt sie das ›Lied von der Weide‹. Dieser Schwanengesang der Desdemona wird zu dem der Prinzessin: Nachdem das Weidenlied verklungen ist, liest Sophie in ihrer Loge besagtes Billet. Wie Desdemona wird die Prinzessin zum Opfer von intriganten Machenschaften, wie Othellos Frau liebt Sophie einen Mann, der von Teilen der Gesellschaft als Außenseiter abgelehnt wird. Ist die Handlung des Don Giovanni für die Konfigurationen von Hauffs Novelle kaum von Bedeutung, wird der Zusammenklang von Desdemonas Tod und dem Sterben der Prinzessin durch mehrere Hinweise auf den ›Schwanengesang‹ akzentuiert. Hauff lässt die Konstellationen der Novellen- und der Opernhandlung in der Verflechtung zweier Fiktionsebenen in einen intertextuellen Dialog zueinander treten und nutzt die Einblendung einer Opernszene in einer Weise, die in Novellen und Romanen häufig begegnet: In vielen Opernepisoden der Literatur ist das Opernhaus ein Ort des intertextuellen Spiels. Nur selten wählen Schriftsteller den Namen einer Oper als Titel einer Erzählung oder eines Romans, in dem die Aufführung des entsprechenden musikalischen Werks beschrieben wird;72 dass Hauff seine 13 Jahre nach dem Erscheinen von Hoffmanns Don Juan veröffentlichte Erzählung mit dem Titel von Rossinis Oper überschreibt, kann als wichtiger Hinweis auf eine thematische und motivische Nähe des Othello zu der von Hoffmann geschilderten »Begebenheit«73 aufgefasst werden. Über die Wahl des Namens einer Oper als Titel hinaus machen sowohl der Umstand, dass die Aufführung einer Oper und der Tod einer jungen Frau in Hauffs Othello in kausalen Zusammenhang zueinander gestellt werden, als auch die Eröffnung der Erzählung mit einem Besuch einer Don Giovanni-Vorstellung deutlich, dass Hauff in seiner Novelle Hoffmanns Don Juan rezipiert. In Hauffs Erzählung wird die Rolle des Don Giovanni von einem »neu angeworbenen Sänger«74 gesungen. Dass ›neu‹ an exponierter Stelle im ersten Satz des Textes steht und dass wenig später von einem »neuen Don Juan«75 die Rede ist, zeigt, dass Hauff eine Art »neuen Don Juan« in aemulatio mit Hoffmanns bekannter Novelle anstrebt. Als ›neu‹ bzw. anders im Vergleich mit der früheren Erzählung ist u. a. , dass in 71 72

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Ebenda, S. 473. Neben Hoffmanns Don Juan und Hauffs Othello kann Élémir Bourges’ Roman Le crépuscule des Dieux in diesem Zusammenhang genannt werden, in dem die erste Aufführung der Götterdämmerung in Bayreuth im Jahre 1876 eine wichtige Rolle spielt. Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 83. Hauff: Othello – Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 434. Ebenda, S. 435.

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Othello aus den zwei Logenbesuchen des reisenden Enthusiasten zwei Opernabende geworden sind. Auch der Umstand, dass die Aufmerksamkeit des Erzählers und seiner Figuren während der Aufführung von Mozarts Don Giovanni vor allem auf das Publikum gerichtet ist, unterscheidet Hauffs Darstellung von der Hoffmanns. Nicht Mozarts »Oper aller Opern«76 steht im Zentrum, sondern »die schönste, herrlichste Oper«77 als die Rossinis Otello in Anlehnung an die von dem Enthusiasten für Mozarts Oper verwendeten Epitheta ornantia bezeichnet wird. Dass Hauff seine Novelle mit einer Opernaufführung beginnen lässt, dient vor allem der Einführung der Hauptfiguren – aus Hoffmanns Opernszene ist zu Anfang von Hauffs Erzählung eine Gesellschaftsszene geworden, das Opernhaus erscheint als Ort der Selbstdarstellung der Gesellschaft.78 Indem Hauff Ereignisse, die in einem Theater spielen, mit Todesfällen in Zusammenhang bringt, spielt er Jahrzehnte vor Gaston Leroux’ Fantôme de l’Opéra und den vor allem durch diesen Roman initiierten ›Opernkrimis‹ des 20. und 21. Jahrhunderts bereits mit Versatzstücken dieser Variante des Topos vom Opernhaus als literarischem Ort. Zur Abrundung dieser Ausführungen seien weitere Anspielungen in literarischen Opernszenen auf Hoffmanns Don Juan-Novelle kurz genannt: Im Hungerpastor greift Wilhelm Raabe in der Schilderung einer Don Giovanni-Aufführung mit anschließendem Wirtshausbesuch variierend die Bespielung zweier Schauplätze – Theater und Wirtshaus – auf. In Franz Werfels79 Romanfragment Die schwarze Messe ist der Einfluß des Don Juan zu bemerken. Noch deutlicher in Anlehnung an Hoffmanns Novelle gestaltet Werfel eine Szene in seinem in Venedig spielendem Roman Verdi, dem Dieter Borchmeyer bescheinigt, »wohl fast der einzige spezifisch musikologische Roman vor Thomas Manns Doktor Faustus« und »eines der wenigen Beispiele professioneller Musikdarstellung im deutschen Roman«80 zu sein. In der Begegnung des in einer tiefen Schaffenskrise steckenden Verdi mit der jungen Sängerin Margherita Dezorzi in einer Loge des Teatro Rossini während einer Aufführung von La forza del destino findet die zwischen Erotik und künstlerischer Inspiration in der Schwebe gehaltene Begegnung zwischen Hoffmanns reisendem Enthusiasten und Donna Anna einen literarischen Reflex.81 76 77 78

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Hoffmann: Don Juan – Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2,1, S. 90. Hauff: Othello – Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 438. Diese Akzentverlagerung wird auch darin deutlich, dass der Fremde in Hauffs Novelle ein Opernglas – in literarischen Opernszenen das typische Accessoir des Opernbesuchers, der das Publikum zu beobachten beabsichtigt, also um der Gesellschaft willen die Oper besucht – bei sich hat und es auch entsprechend einsetzt; in Hoffmanns Don Juan wird ein Opernglas mit keinem Wort erwähnt. Franz Werfel ist ähnlich wie die zu Beginn der Ausführungen genannten Schriftsteller E.T.A. Hoffmann, Thomas Mann, Thomas Bernhard und Alejo Carpentier ein in musikalischen Fragen kundiger Autor, dessen »lebenslange Passion« – Abels: »Die Wahrheit erfinden«. Über Franz Werfels »Verdi. Roman der Oper«, S. 216 – die Oper war; Werfel übersetzte Libretti zu Verdis Opern ins Deutsche, edierte Verdis Briefe (vgl. ebenda, S. 219) und komponierte selbst (vgl. ebenda, S. 222). Borchmeyer: Verdi contra Wagner, S. 129. Daniel Fuhrimann kommt offenbar das Verdienst zu, als erster auf diesen Bezug hingewiesen zu

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Die Aufführungsgeschichte von Mozarts Don Giovanni zeigt, dass Hoffmanns Don Juan-Novelle der Gestaltung und Inszenierung des Werks prägende Impulse bis hinein in die Besetzung der Rollen82 verliehen hat.83 Die poetischen Opernszenen in dem Fantasiestück sind vermutlich die einzigen, denen eine derartige Karriere auf den Opernbühnen der Welt beschieden war. Neben diesen außerliterarischen Wirkungen haben Hoffmanns Opernszenen, wie die vorangegangenen Ausführungen u. a. zu zeigen versuchten, die Darstellung einiger Episoden in literarischen bzw. fiktionalisierten Opernhäusern angeregt und geprägt.

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haben, vgl.: »Nicht nur in Hinsicht auf den Musenkuß und den intimen Logenbesuch einer Sängerin mitten in einer Aufführung scheint die Szene in Werfels Roman von Hoffmanns Don Juan inspiriert zu sein. Frappierend in der Übereinstimmung ist außerdem der explizite Hinweis auf das ungeschminkte Gesicht der jeweiligen Logenbesucherin« – Fuhrimann: Herzohren, S. 366. Dies wird besonders deutlich im Zusammenhang mit der Rolle der Donna Anna: Die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient war die erste, die als dramatischer Sopran die Donna Anna – und nicht die Donna Elvira – sang. »Von da an rückte Donna Anna immer mehr zur weiblichen Hauptperson eines Dramas der Personen auf.« Attila Csampai: Mythos und historischer Augenblick in Mozarts ›Don Giovanni‹, S. 10. Parallel zur dramatischen Aufwertung der Donna Anna erfolgte eine Abwertung des Don Ottavio zum »weichlichen Schwächling« (Bitter: Wandungen, S. 100), eine Interpretation, die sich durch die Gestaltung dieser Rolle durch Anton Dermota und vor allem durch Fritz Wunderlich als nicht überzeugend erwies. Vgl. kritisch zusammenfassend Dieter Borchmeyer: »Das Deutungsmuster des Hoffmanschen Don Juan hat sich bei Publikum und Interpreten – ob bewusst oder unbewusst – mit wenigen Ausnahmen bis heute gehalten, selbst bei denen, die vorgeben, es abzulehnen.« Borchmeyer: Mozart, S. 147.

Konrad Feilchenfeldt

Ausstellungsraum und/oder Theaterbühne: Zur Rolle der bildenden Kunst im Selbstverständnis der romantischen Kunstkritik bei Brentano und Arnim mit einem neuen Ausblick auf Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer« Caspar David Friedrichs »Seelandschaft«, inzwischen gängig definiert als Mönch am Meer, ist eines der wohl am häufigsten gewürdigten romantischen Gemälde.1 Dabei verdankt es seinen Ruhm sicher nicht der malerischen Ausgestaltung eines facettenreichen Bildgeschehens. Es geht darin weder um die epischen Details einer bildnerisch gestalteten Erzählung, noch um eine differenziert zu deutende, geheimnisvoll chiffrierte Symbollandschaft kleinteiliger Bildelemente. Das Szenario zeigt nichts weniger als ein Stück unebenes Ufer,2 auf dem ein, in eine Mönchskutte gehüllter, nachdenklicher, Betrachter mit aufgestütztem Kinn – in der ikonographisch gut bezeugten Geste des Melancholikers – in die Ferne des scheinbar grenzenlosen Meers hinausblickt, über dem sich ohne eine ganz klare Horizontbegrenzung der Himmel wölbt, das Firmament.3 Das Gemälde ist erst kürzlich infolge einer Beschädigung gerade in diesem Bereich restauriert worden, und es ist deswegen unklar, was die künstlerische Absicht oder unfreiwillige Ursache dieser Unschärfe ist, Dunst, aufsteigender Wasserdampf in kühlerer Luft, ein malerisch gestaltetes Naturschauspiel, oder einfach das Produkt einer restauratorischen Übermalung.4 Das Bild würde deswegen von der Komposition seiner Elemente her besehen – auch in der heutigen kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Romantik – kaum noch ein zentrales Fallbeispiel geblieben sein, wenn es nicht schon infolge seiner kritischen Würdigung durch Heinrich von Kleist in den von ihm herausgegebenen Berliner Abendblättern gleich bei seiner erstmaligen Präsentation in der Berliner Kunstausstellung 1810 vor allen anderen Exponaten auf eine nachhaltige journalistische Weise ausgezeichnet worden wäre.5 Jedenfalls ist es auffällig, dass 1

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Vgl. Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 302–304 Nr. 168. – Die Bezeichnung »Seelandschaft« geht auf Heinrich von Kleist in den Berliner Abendblättern zurück; vgl. Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, Abb. 2. Zur Identifizierung des bereits von Werner Sumowski im Zusammenhang mit dem Mönch am Meer lokalisierten Strands auf der Insel Rügen vgl. Busch: Caspar David Friedrich, S. 49–59. Vgl. Wedekind: Caspar David Friedrich. – In: Clair (Hrsg.): Melancholie, S. 376f. Vgl. Timm: Zur Maltechnik Caspar David Friedrichs. – In: Verwiebe (Hrsg.): Caspar David Friedrich, S. 99–103. – Den Hinweis auf diesen Aufsatz und einschlägige Informationen zur Restaurierungsproblematik des Gemäldes verdanke ich der Freundlichkeit von Frau Dr. Angelika Wesenberg bei der Alten Nationalgalerie Berlin. Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft., nachgedruckt in: Börsch-Supan/Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 76. Ferner Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. Caspar David Friedrichs »Der Mönch am Meer«, Abb. 2, bzw. S. 40–44.

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Ludolf von Beckedorff kurz davor, ebenfalls als Rezensent der Berliner Kunstausstellung und ebenfalls in den Berliner Abendblättern, nur die Porträtdarstellungen würdigt und damit Friedrichs »Seelandschaft«, anders als später Arnim, nicht einmal erwähnt.6 Es ist daher auch kaum zu widerlegen, dass Kleists Beschäftigung mit Friedrichs Gemälde weniger dem Gemälde selbst als der anders gelagerten Tatsache geschuldet ist, dass seiner Veröffentlichung in den Berliner Abendblättern eine ebenfalls für die Berliner Abendblätter bestimmte Einsendung über Friedrichs Gemälde vorausgegangen war, die er in der ihm vorliegenden Fassung jedoch nicht zum Druck freigeben wollte und deswegen vor der Drucklegung erheblich überarbeitet hat. Der Vorgang ist gut dokumentiert. Die beiden Einsender Arnim und Brentano hatten sich anlässlich der Berliner Kunstausstellung im Unterschied zu Beckedorff mit Friedrichs »Seelandschaft« nicht nur intensiv beschäftigt, sondern ihre Beschäftigung mit diesem Bild in einem nachdenklich-satirischen Text von nahezu vier eng beschriebenen Folio-Seiten zu Papier gebracht, der aus der herausgeberischen Sicht von Kleist schon wegen seines allzu großen Umfangs in den Berliner Abendblättern nicht gedruckt werden konnte.7 Ihr gemeinsam hergestelltes Manuskript ist im Original erhalten und eines der wenigen noch existierenden handschriftlichen Zeugnisse, an denen sich das künstlerische Zusammenwirken eines romantischen Autorenkollektivs bis in die Unterschiedlichkeit der Schriftzüge der beiden beteiligten Autoren beobachten lässt.8 Was den gemeinsam verfassten Text der beiden, ehemals Heidelberger, nunmehr in Berlin wirkenden Romantiker äußerlich kennzeichnet, ist seine Gliederung in drei Teile, von denen der erste im wesentlichen die textliche Grundlage für die von Kleist redaktionell überarbeitete und veröffentlichte Fassung darstellt. Brentano schildert in diesem ersten Abschnitt das teilweise Unbehagen, das der Betrachter des Bildes empfindet, wenn er sich in die Lage des Mönchs zu versetzen versucht. Der zweite Abschnitt wechselt aus der auktorialen Perspektive eines in der ersten Person schreibenden Betrachters in die Ebene der Fiktion eines Gesprächs zwischen verschiedenen Besuchern und Besucherinnen, die Brentano als Berichterstatter in der Ausstellung belauscht haben will und deren Dialoge das zentrale von Brentano ebenfalls verfasste Haupt- und Mittelstück des Textes ausmachen. Erst der dritte Abschnitt trägt die Schriftzüge von Arnim und gilt deswegen als sein Beitrag,9 in 6

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Beckedorff: Kunst-Ausstellung. – In: Berliner Abendblätter (1810), Blatt 6–9, 14–17, 6.–10. und 16.–19. October, S. 23f., 27–29, 31f., 35f., 55–57, 59f., 63f., 67f. Ferner Arnim: Uebersicht der Kunstausstellung. Ebenda, Blatt 37–39, 12.–14. November, S. 143–145, 147f., 151–153, hier 147, nachgedruckt in: Börsch-Supan/ Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 76. Vgl. auch Burwick: Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 34. Vgl. Kleist: Erklärung. – In: Berliner Abendblätter (1810), Blatt 19, 22. October, S. 78. Zur Überlieferungsgeschichte des Textes vgl. Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 38– 48, Abb. 20–21. Einen Neudruck des von Brentano und Arnim eingereichten, von Kleist für die Veröffentlichung abgelehnten Textes enthält auch Brentano: Werke, Bd. 2, S. 1034–1038. Vgl. Kurz: Vor einem Bild, S. 128. – Für die Verfasserschaft Arnims spricht auch eine als Selbstzitat aus seiner Ausstellungs-Rezension in den Berliner Abendblättern überlieferte Textstelle, vgl. Burwick: Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 40f.

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dem es darum geht, dass ein weiterer fiktiver Besucher, »ein glimpflicher, langer Mann«,10 hinter dessen Identität ein Selbstporträt Arnims vermutet wird,11 vom lauschenden Berichterstatter des zweiten Abschnitts ganz gezielt nach seinem Urteil über Friedrichs Bild befragt wird und darüber seine etwas skurrile Meinung zum Besten gibt. Der Text endet, wiederum in Brentanos Handschrift, damit, dass der Berichterstatter, ganz begeistert von den künstlerischen Einsichten, die der ›glimpfliche, lange Mann‹ geäußert habe, mit diesem nach Hause geht und bei ihm wohnen bleibt. Nicht mit einzelnen Persönlichkeiten des damaligen Berlin identifiziert sind dagegen die von Brentano geschilderten anderen Besucher der Ausstellung im mittleren Abschnitt.12 Dabei handelt es sich einmal um ein Paar von »Dame« und »Herr, welcher vielleicht sehr geistreich war«,13 »Zwei junge Damen«, »zwei Kunstverständige«, »Eine Erzieherin mit zwei [hübschen] Demoiselles«14 und um »Eine Dame und ihr Führer«.15 Die Angaben enthalten sich jeglicher namentlichen Zuordnung zu einer individuell fassbaren Persönlichkeit, und auch, dass die zweite »Dame« auf den Namen Luise hört, sollte nicht überwertet werden, selbst wenn dies der Vorname der damals gerade verstorbenen populären preußischen Königin gewesen ist;16 es sind insgesamt nur Typen, und ihre Gespräche sind in kurze Szenen zusammengefasst, aus deren Dialogen übrigens auch noch einzelne Sätze oder Stichworte in Kleists Überarbeitung eingeflossen sind. In den Gesprächen werden historische Namen dagegen durchaus erwähnt und erweisen sich als willkommene Anlässe zu einem wortwitzigen Spiel, das aus Brentanos Poetik gut bezeugt ist.17 Die erste Szene, die die »Dame« und den sich »geistreich« gebenden ›Herrn‹ ins Blickfeld rückt, beginnt vor dem Bild von Friedrich mit einem Blick der Dame in den Ausstellungskatalog: »N°. zwei: Landschaften in Oel. Wie gefällt Sie

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Schultz (Hrsg.): »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 45. Vgl. den Kommentar von Friedhelm Kemp. – In: Brentano: Werke, Bd. 2, S. 1221 zu 33. Eine der Damen gilt allerdings als ein Porträt von Charlotte Pistor, Brentanos und Arnims Logisgeberin in Berlin, vgl. ebenda, S. 1221 zu 33. Ferner Schultz: Drei Blicke auf Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer«. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 25–33, hier S. 27. Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 41. Ebenda. S. 42. Ebenda. S. 43. Ebenda. S. 42. – Immerhin ist der Name Luise im Zusammenhang mit dem in der Berliner Kunstausstellung gezeigten Porträt der verstorbenen preußischen Königin von Schadow von höchster Aktualität, und Beckedorff beginnt seine Besprechung der Ausstellung mit einer Würdigung gerade dieses Porträtgemäldes. Vgl. Beckedorff: Kunst-Ausstellung. – In: Berliner Abendblätter (1810), Blatt 6, 6. October, S. 23f. – Nicht auszuschließen ist aber auch eine Reminiszenz der Louise aus August Wilhelm Schlegels »Athenäum«-Aufsatz »Die Gemählde«. Vgl. Wegner: Der geteilte Blick, S. 13f. Schaub: Le Génie Enfant, S. 156ff.

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Ihnen?«18 Der »Herr« antwortet im zeitgenössischen Kunstjargon: »Unendlich tief und erhaben.« Dies nimmt die »Dame« auf brentaneske Weise wörtlich,19 indem sie die Tiefe auf die Distanz zum Meeresgrund bezieht und die Erhabenheit auf das aufragende Profil der Figurendarstellung: »Sie meinen die See, ja die muß erstaunen tief sein, und der Kapuziner ist auch sehr erhaben.« Zwar korrigiert der »Herr« jetzt die »Dame«, kann jedoch deren Begriffsstutzigkeit auch mit Blick auf den Namen Friedrich nicht verhindern, bei dessen Erwähnung die Gattin eines Kriegsrats verständlicherweise zunächst an den militärisch erfolgreichen Friedrich II. von Preußen denkt und nicht an den Dresdner Maler und dessen Erhabenheit des Empfindens. »Nein, Frau Kriegsrath, ich meine die Empfindung des einzigen Friederichs bei diesem Bilde.« Und konsequenterweise wundert sich deswegen auch die »Dame«, ohne ihren Dialogpartner richtig verstanden zu haben, nur, dass ein Bild, das auf der Berliner Kunstausstellung 1810 als zeitgenössische Neuheit gezeigt wird, bereits dem 1786 verstorbenen preußischen König bekannt gewesen sein sollte: »Ist es schon so alt daß er es auch gesehen?« – Und deswegen muss der »Herr« die »Frau Kriegsrat« aufklären: »Ach, sie misverstehen mich, ich rede [nicht von Friedrich dem einzigen ich rede] von dem Mahler Friedrich, [der es wagte etwas so ungeheures, diese trübe, unendliche Einsamkeit und Sehnsucht auszudrükken], Ossian schlägt vor diesem Bilde in die (aus seine) Harfe«.20 Während aber damit das Paar sein Gespräch beendet, geht das Missverstehen im nächsten belauschten Wortwechsel zwischen den ‚zwei jungen Damen weiter: »Hast du gehört, Luise, das ist Ossian.« Worauf die zweite »Dame« antwortet: »Ach nein du misverstehst ihn, es ist der Ozean.«21 Es mag durchaus nachvollziehbar sein, dass Kleist ein Text, der aus solchen Passagen zusammengestellt war, nicht nur vom literarischen Niveau her besehen bedenklich vorgekommen ist, sondern auch im Hinblick auf eine Kunstkritik, die das vom damaligen König von Preußen zum Kauf in Betracht gezogene und schließlich auch angekaufte Gemälde22 öffentlich in Frage gestellt hätte und insofern auch den preußischen Monarchen als dessen Käufer in seinem Ansehen hätte beschädigen können. Kleist steht aber offenbar am Anfang einer ästhetischen Auseinandersetzung nicht nur mit Friedrichs Mönch am Meer als Einzelwerk, sondern ganz allgemein einer kunstgeschichtlichen Würdigung dieses Gemäldes, bei deren Terminologie eine aus seiner Sicht philosophische Grundlegung der Kunstbetrachtung noch im heutigen Theoriediskurs wissenschaftlicher Episteme weiter nachwirkt.23 Dass jedoch auch Brentanos an der literarischen Form der Satire 18

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Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 41. Die Erwähnung des Gemäldes zitiert hier den Eintrag des Ausstellungskatalogs wörtlich. Vgl. ebenda, S. 48 Abb. 25. Schaub: Le Génie Enfant, S. 156ff. Vgl. Ammer: Betrachtung der Betrachtung, S. 151. Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 41. Ebenda, S. 42. Börsch-Supan/ Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 302. Dies gilt besonders für den den Aufsatz von Begemann: Brentano und Kleist vor Friedrichs

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orientierte Kunstkritik nicht ohne Nachwirkung geblieben ist, nachdem der von Kleist unterdrückte Text in der ursprünglichen Fassung immerhin 1826 erstmals fast ungekürzt publiziert werden konnte,24 zeigt ein Pamphlet des aus dem Kreis um Heinrich Heine bekannten Advokaten Johann Hermann Detmold, der außerdem auch zur weitläufigen Verwandtschaft der Familien Arnim und Brentano gehörte.25 In seiner 1834 erstmals erschienenen Anleitung zur Kunstkennerschaft oder Kunst in drei Stunden ein Kenner zu werden formulierte Detmold unter der Rubrik »Kunstkenner-Phraseologie« sechzig sentenziöse Floskeln, die in ihrer Tonlage auch in den von Brentano erfundenen Kunstdialogen vor Friedrichs Mönch am Meer hätten vorkommen können. Charakteristisch ist an dem sowohl Detmold, als auch Brentano gemeinsamen Stil die einerseits spöttisch-pseudofachliche und andererseits die die äußere Einrichtung der Kunstvermittlung und -präsentation miteinbeziehende Diktion. So lautet bei Detmold Nr. 56 seiner »KunstkennerPhraseologie«, die auch einem von Brentanos Ausstellungsbesuchern in den Mund hätte gelegt werden können: »Diese Landschaft ist nicht mehr als Vedute.« Etwas weniger anspruchsvoll lautet dagegen Nr. 51: »Dieses Bild hängt äußerst ungünstig.«26 Und mit diesem kunstkritischen Argument der Hängung darf man sich sogar nach Nr. 1 von Detmolds »Kunstkenner-Phraseologie« auch herausreden, wenn man merkt, dass man sich als »Kunstkenner« blamieren könnte; denn wenn man die berechtigte Kritik eines andern ›Kunstkenners‹ auf sich gezogen habe, »so kann man entweder sagen: man habe das daneben hängende Bild gemeint, welches eine vortreffliche und von Kunstkennern viel gebrauchte Ausflucht ist, oder aber man sagt, man habe es ironisch gemeint, und die Ironie ist auch ein gutes Mittel.«27 Detmold orientiert sich in seiner Kunstkritik, soweit sie nicht satirischen Schreibregeln folgt, an einer Kunstbetrachtung, die das lokal-räumliche Ambiente ihrer Voraussetzung und Vermittlung einbezieht und darin im profanen Milieu mit Faktoren rechnet, die mit Blick auf die christliche Sakralkunst auch bei Wackenro-

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Mönch am Meer, S. 54–95. Ferner auch Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 165–167, mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Begemanns Veröffentlichung, ebenda, S. 371. Der Erstdruck erfolgte mit den Initialen B. A. unter dem Titel: Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner. (Bei einer Kunstausstellung). – In: Iris. Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen u. Nützlichen (1826) Nro. 20. 28. Januar, S. 77f. Ein Exemplar dieser Veröffentlichung befindet sich im Freien Deutschen Hochstift. Vgl. Tunner: Brentanos Mitarbeit an den »Berliner Abendblättern«, S. 127. Ferner Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. Caspar David Friedrichs »Der Mönch am Meer«, S. 38f. – Zur Satire vgl. auch Maisak/Schultz: Verschiedene Empfindungen bei einem Berliner Ausstellungsbesuch, S. 130. Detmold war mit Sophie von Guaita verheiratet, deren Mutter Brentanos Schwester und Arnims Schwägerin Meline geb. Brentano war. Vgl. Mühlhan: Detmold, Johann Hermann, S. 619f. Detmold: Satiren, S. 140f. Ebenda, S. 115. – Im Zusammenhang mit der satirischen Kritik der Kunstkritik ist im Übrigen auch auf die satirische Kritik der Literaturkritik zu verweisen, die im zeitlichen Umfeld von Arnims und Brentanos Satire der Ausstellungsbesucher 1810 ebenfalls zu belegen ist. Vgl. West [d.i. Josef Karl Schreyvogel] (Hrsg.): Neueste Manier alle Bücher zu recensiren. – In: Das Sonntagsblatt 2 (1808), Bd. 2, Nro. 76, S. 141–151.

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der und Tieck deren Beschäftigung mit der Kirchenmalerei bestimmten.28 Brentano verbindet in seinem Text mit seiner Satire auf die Kunstkritik eine theatralische Schreibintention, mit der er das Belauschen der einzelnen Gespräche und deren Inszenierung als kunstkritische Dialoge auf eine nahezu bühnengerechte Stilhöhe zu heben versucht. Die eigene Ratlosigkeit beim Anblick von Friedrichs Mönch am Meer soll nach Brentano durch das Anhören von Gesprächsfolgen überwunden werden, wobei das Hören allein auch nicht ausreichen würde; denn, wie der mit Arnim identifizierte ›glimpfliche, lange Mann‹ am Ende der Gespräche feststellt: »Es ist gut, dass die Bilder nicht hören können, sie hätten sich sonst schon längst verschleiert, die Leute gehen gar zu unzüchtig mit ihnen um und sind fest überzeugt, sie ständen hier wegen eines geheimen Verbrechens am Pranger, das die Zuschauer (aus sie) durchaus entdecken müsten.«29 Dabei greift das Stichwort »Zuschauer« nur auf, was Brentano mit Blick auf sich selbst und seine Eindrücke von Friedrichs Bild bereits zur Einleitung seiner Lauschattacke auf die Ausstellungsbesucher als Zielvorgabe seines Verhaltens bezeichnet hatte: »Dieser wunderbaren Empfindung nun zu begegnen lauschte ich auf die Äußerungen der Verschiedenen Beschauer um mich her, und theile sie als zu diesem Gemählde gehörig mit, das durchaus Deckoration ist, vor welchem eine Handlung vorgehen muß, indem es keine Ruhe gewährt.«30 Die von Brentano belauschten Gespräche sind demnach theatralisch inszenierte Dialoge vor einer »Deckoration«, die in Friedrichs Mönch am Meer auf den Gehalt von Kontext- oder Zweckkunst reduziert ist, wie sie Goethe später an einem Aufsatz Johann Heinrich Meyers in der Zeitschrift Über Kunst und Alterthum unter der Bezeichnung »Theater-Malerey« an Beispielen einzelner »Theater-Maler« exemplifiziert hat, und es ist im Zusammenhang einer solchen Kunstausübung nichts Ungewöhnliches, wenn bei der kritischen Einschätzung solcher, wie es in dem Aufsatz heißt, »Decorationen«, in seinem Fallbeispiel von Friedrich Beuther, »etwas Räumliches, Weites in allen diesen Darstellungen« enthalten ist.31 Erst in der Raumvorstellung können Anblick von Kunst und Anhören von Kunsturteil als zwei unterschiedene Wahrnehmungsebenen von Kunst zusammengelegt und geradezu im Sinne von Synästhesie zusammengeführt werden. Die Voraussetzungen zu einer solchen Zusammenführung resultierten allerdings nicht aus der Betrachtung allein des Bildes von Friedrich, sondern auch aus der Tatsache seiner Präsentation und Vermittlung im Rahmen seiner Ausstellung als Ausstellungsexponat anlässlich der Berliner Kunstausstellung, wobei sich Brentano über die bauliche Beschaffenheit des 28

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Vgl. dazu die Entstehung von Sternbalds Altarbild im 7. Kapitel des Ersten Buches in: Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, S. 65–75, hier 68ff. Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 45. Ebenda. S. 41. – Zur Anspielung auf »Bilder und Kulissen« bei Brentano vgl. auch Kurz: Vor einem Bild, S. 134ff. Maisak/Schultz: Verschiedene Empfindungen bei einem Berliner Ausstellungsbesuch, S. 116, mit weiterführender Literatur. Goethe/Meyer: Theater-Malerey. – In: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Bd. 20, S. 521; dazu 1386–1391.

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Ausstellungsortes in der Akademie ebenso wenig äußerte wie über die innenarchitektonische, museologische, Qualität der Ausstellung. Auf jeden Fall ging es ihm anders als Kleist nicht um das Gemälde und dessen kritische Wahrnehmung und Würdigung als Kunstwerk, sondern um seine Instrumentalisierung im Rahmen eines Raumkonzepts, zu dem es allerdings auch als Bühnenbild einen genuin bildnerischen Beitrag leisten konnte. Dabei hätte sich Brentano explizit für diese räumliche Konzeption seiner »Verschiedenen Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner« auf Goethes Dialoggedicht Verschiedene Empfindungen an einem Platze berufen können, das – erstmals 1795 im Musen-Almanach für das Jahr 1796 erschienen und im drucktechnischen Kontext mit dem anderen damals erschienenen Dialoggedicht Antworten bei einem gesellschaftlichen Fragespiel – mit einem ähnlichen Typenpersonal arbeitet wie Brentano; Goethes Typen heißen auch »Die Dame«, dann »Der junge Herr«, »Das Mädchen«, »Der Jüngling« und schließlich »Der Erfahrene«, »Der Zufriedne«, »Der lustige Rat«, »Der Schmachtende« und »Der Jäger«. Allerdings ist die Dialogsituation bei Goethe noch kein Rollen-, sondern ein einseitiges »Fragespiel«, das den einzelnen Akteuren monologische Verse mit Reimen in den Mund legt,32 während sich bei Brentano die Akteure in ungebundener Rede und Gegenrede dialogisch wenigstens miteinander auszutauschen versuchen, auch wenn es infolgedessen, wie gezeigt, zu unfreiwillig komischen bzw. von den Autoren Arnim und Brentano als komisch beabsichtigten Missverständnissen kommt.33 Dabei ist die Bedeutung des Raums, wenn auch in seiner Entgrenzung als Merkmal künstlerischer Komposition in Friedrichs Mönch am Meer, nicht erst eine Erkenntnis aus der von der Kunstwissenschaft dafür bevorzugt zitierten Kleistischen Überarbeitung des mehrheitlich von Brentano stammenden Aufsatzes für die Berliner Abendblätter. Das Raumproblem, dessen sich Brentano beim Besuch der Berliner Kunstausstellung vor keinem anderen Gemälde als demjenigen von Friedrich bewusst geworden ist, ist in dessen bildnerischer Konzeption weniger im Sinne Kleists und seiner viel zitierten, kognitiven Feststellung zu sehen: »[...] so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die

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Goethe: Verschiedene Empfindungen an einem Platze, Antworten von einem gesellschaftlichen Fragespiel – Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 1, S. 651–655, 1216f. Interessant weil im zeitlichen Kontext des Herbsts 1810 ist auch die offensichtliche Aktualisierung von Goethes Verschiedene Empfindungen an einem Platze in einem Brief von Rahel Robert an ihre Freundin Regine Frohberg vom 6. September 1810: »Mit Prinzeß Solms hatten sie recht. Ueber Marianne Eibenb:[erg] kann ich mich durchaus nicht wundern. Wenn ein Mann von einem Weibe, u. einer erst kürzlich bekanndten, borgt, haße ich: besonders, wenn noch bekanndte Männer vorhanden sind. Ganz recht! Ich, u. meine briefe, u. alle meine äußerungen, müßen immer sehr ‚verschiedene Empfindungen in Ihnen hervor bringen.« Laut einer Anmerkung zu dieser Briefstelle von Varnhagens Hand hatte Alexander von der Marwitz damals von Regine Frohberg Geld geliehen. Vgl. Varnhagen: Briefe an eine Freundin. Rahel Varnhagen an Rebecca Friedländer, S. 263. – Ich danke Heinz Härtl für die Autopsie des Zitats am Original in der Biblioteka Jagielloska in Kraków. – Zur Institutionalisierung des Begriffs vgl. auch Paulin: Tiecks Empfindungen vor Caspar David Friedrichs Landschaft, S. 155 mit einer Belegstelle bei Wackenroder.

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Augenlider weggeschnitten wären.«34 Vielmehr datiert darin die Raumerfahrung, wo nicht aus Goethes Verschiedene Empfindungen an einem Platze, aus einer aufgeklärt-christlichen Tradition, zu deren künstlerischer Veranschaulichung im Bildungshorizont der Zeit von Caspar David Friedrich schon das Eingangsgedicht Das Firmament aus Barthold Heinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott aus dem Jahr 1721 aufgerufen werden kann. Als jüngst mein Auge sich in die Sapphirne Tieffe, Die weder Grund, noch Strand, noch Ziel, noch End’ umschrenckt, Ins unerforschte Meer des holen Luft-Raums senckt’, Und mein verschlungner Blick bald hie- bald dahin lieffe, Doch immer tieffer sanck; entsatzte sich mein Geist, Es schwindelte mein Aug’, es stockte meine Seele Ob der unendlichen, unmäßig-tieffen Höle, Die, wol mit Recht, ein Bild der Ewigkeiten heisst, So nur aus Gott allein, ohn’ End’ und Anfang, stammen. Es schlug des Abgrunds Raum, wie eine dicke Fluht des Boden-losen Meers auf sinckend Eisen thut, In einem Augenblick auf meinem Geist zusammen. Die ungeheure Gruft voll unsichtbaren Lichts, Voll lichter Dunckelheit, ohn’ Anfang, ohne Schrancken. Verschlang so gar die Welt, begrub selbst die Gedancken; Mein gantzes Wesen ward ein Stauvb, ein Punct, ein Nichts, Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder; Verzweiflung drohete der gantz verwirrten Brust: Allein, o heylsams Nichts! glückseliger Verlust! Allgegenwärt’ger GOtt, in Dir fand ich mich wieder.35

Im Kontext von Brockes’ Gedicht erschließt sich das Gemälde von Friedrichs »Seelandschaft« in einer emblematischen Bildlichkeit, in der sowohl das »unerforschte Meer des holen Luft-Raums« als auch »des Abgrunds Raum« eine aus Friedrichs Mönch am Meer bekannte, textuelle Referenz aufweisen und die Bildgestaltung sogar noch in weiteren Elementen ihrer Durchführung solche Referenzen berücksichtigt.36 34

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Vgl. Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan/Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, S. 44. Dazu vor allem Traeger: »... als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«, S. 86–106. Die neueste These zu dieser Formulierung veröffentlichte Bexte: Augenlider, weggeschnitten, S. 14. Ferner Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 167. Wegner: Der geteilte Blick, S. 18. Brockes: Irdisches Vergmügen in Gott, S. 5. – Auf die Verbreitung gerade dieses ersten Gedichts aus Brockes Irdisches Vergnügen verweist auch Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott, S. 477. In der professionellen, d. h. kunstgeschichtlichen, Friedrich-Forschung betonen die Nähe Friedrichs zu Brockes punktuell zunächst Frank: Aussichten ins Unermessliche, S. 36, und, andeutungsweise im Zeichen der physikotheologischen Tradition, Noll: Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich, S. 54. Dabei findet sich ein würdigender Hinweis auf das Firmament-Gedicht von Brockes, allerdings interdisziplinär betrachtet, wie in seiner sonst anregenden Darstellung auch, unter Ausschluss jeglicher kunsthistorischen Perspektive, also

Ausstellungsraum und/oder Theaterbühne

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Es ist jedoch erstaunlich, inwiefern die zeitgenössische Aktualität einer journalistischen Kontroverse aus dem Jahr 1810, freilich unter hochgradig ausgewiesenen Repräsentanten der romantischen Epoche, den Blick für die Nachwirkung eines Gedichts, das wie Brockes’ Firmament die bildnerische Umsetzung in Friedrichs Mönch am Meer geradezu vorweggenommen zu haben scheint, einfach verdunkeln konnte, und es bleibt eine offene Frage, ob Friedrichs »Seelandschaft« angesichts seiner bewegten Interpretationsgeschichte nicht doch – um noch einmal mit Arnim zu reden – »sich schon längst verschleiert« und damit seiner empirisch-künstlerischen Wahrnehmung zugunsten einer rezeptions- und forschungsgeschichtlichen entzogen hat.37

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auch der Forschungsliteratur zu Caspar David Friedrich, bereits bei Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 110–113. – Den unmittelbaren Hinweis auf Brockes’ Gedicht als Beispiel lyrischer Thematisierung von Erhabenheit, worauf auch Koschorke, ebenda, Bezug nimmt, verdanke ich persönlich jedoch dem Diskussionsbeitrag aus einem im Wintersemester 2006/07 abgehaltenen Seminar »Mozart in der Dichtung« von stud. phil. Florian Gassner (Deisenhofen). Dabei ist die Bewertung des von Arnim, Brentano und Kleist überlieferten Texts im kunstwissenschaftlichen Fachdiskurs intern immer noch kontrovers. Während Busch diesen »berühmten Text« als »stiefmütterlich behandelt« betrachtet, vgl. Busch: Caspar David Friedrich, S. 71, wird er von Koerner ausführlich paraphrasiert, wobei Koerner allerdings den Text in dessen ursprünglicher Fassung. »in zwei Teile« gegliedert sieht, von denen »die Einleitung aus Kleists Feder« stammen und die »Reihe fiktiver Dialoge [...] Clemens Brentano zusammen mit Ludwig Achim von Arnim« verfasst haben soll. Koerner: Caspar David Friedrich, S. 240–245; Koerner bezieht sich bei dieser irrigen Annahme, ebenda, S. 286, auf den Abdruck des Textes bei Hinz: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, S. 22. Nachgedruckt ist dieser Text außerdem im Anhang auch bei Hofmann: Caspar David Friedrich, S. 282–285, allerdings mit dem vergleichbar fehlerhaften Nachweis der Druckvorlage von »1852 im 4. Band der ‚Gesammelten Werke von Achim von Arnim«, statt richtig von Clemens Brentano. – Für seine Korrektur und redaktionelle Durchsicht des vorliegenden Aufsatzes danke ich meiner langjährigen studentischen Hilfskraft Arnd Jecke M.A. Eingehende Vorarbeiten zu diesem Beitrag datieren aus einem im Sommersemester 2007 an der Ludwig Maximilians-Universität durchgeführten Hauptseminar, dessen exklusivem Teilnehmerkreis ich für seine aktive Mitwirkung zu bestem Dank verpflichtet bin. – Die Abbildungserlaubnis für C. D. Friedrichs »Mönch am Meer« erteilten freundlicherweise die Staatlichen Museen zu Berlin, Nationalgalerie.

Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 110 × 43.31 cm. Alte Nationalgalerie, Berlin

Claudia Nitschke

Techniken der Raum- und Zeitbeherrschung um 1800: Brentanos und Kleists »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« und Alexander von Humboldts »Kosmos«

Während lange Zeit die temporalen Konsequenzen der Umbruchszeit um 1800 im Zentrum der Forschung standen, gibt es im Zuge des spatial turns1 einen neuen Fokus auf die topographischen Semantiken der Romantik: Die fundamentalen Transformationen sind in der Vergangenheit vorrangig in temporalen Kategorien beschrieben und als Elemente jener ›Verzeitlichung‹ konzeptualisiert worden, die als Signatur der Moderne gilt. Doch so wie jede Beschreibung von temporalen Strukturen auf räumliche Semantiken angewiesen ist, so sind die Umstrukturierungen der Zeit […] unauflösbar mit neuen Raumerfahrungen und Raumkonzepten verknüpft.2

In diesem Sinne soll hier das unauflösliche Zusammenspiel zeitlicher und räumlicher Strukturen und ihrer Evolution in der Romantik anhand des romantischen Progressions- und Sehnsuchtsmodells untersucht werden, das die vielkommentierte Verzeitlichungs- und Beschleunigungserfahrung der Umbruchszeit um 1800 an eine spatiale Dimension koppelt.3 Diese Vernetzung von Raum und Zeit scheint in ihrer spezifischen Qualität besonders in den unterschiedlichen Versionen der von Clemens Brentano und Ludwig Achim von Arnim gemeinsam formulierten und von Heinrich von Kleist nochmals entscheidend überarbeiteten Ausstellungskritik Verschiedene Empfindungen vor Friedrich’s Seelandschaft, worauf der Kapuziner, auf der diesjährigen Kunstausstellung bzw. Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft nachvollziehbar. Der vermutlich von Brentano verfasste Eingangspassus der Bildkritik4 entspricht in weiten Teilen Kleists späterer Adaption: Es ist (aus Exx Xx) herrlich, in unendlicher (aus vor einer unendlichen) Einsamkeit am Meeres Ufer, [voll] unter trübem Himmel (aus trüben Wol) auf eine unbegränzte (aus unendliche) Waßerwüste hinzuschauen, und dazu gehört, daß man dahin gegangen, daß man zurückmuß, daß man hinüber mögte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und [es] seine Stimme doch im Rauschen der Fluth, im Wehen der Luft, im (aus dem) Ziehen der Wolken, in dem einsamen Geschrei der Vögel[stimmen?] vernimmt (aus empfindet), dazu gehört ein Anspruch den das Herz macht, und ein Abbruch, den einem die Natur thut. Dies aber 1 2

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Vgl. dazu Weigel: Zum ›topographical turn‹ und Bachmann-Medick: Spatial Turn. Mülder-Bach, Neumann: Einleitung – In: Mülder-Bach und Neumann (Hrsg.): Räume der Romantik, S. 7–11, hier S. 7. Dazu umfassend Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 173–193. Vgl. zur Textgeschichte Burwick: Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft.

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Claudia Nitschke ist aber vor dem Bilde unmöglich, [das] und das war ich in (aus vor) dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nehmlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch (aus Abbruch ) den mir das Bild that, indem es denselben nicht erfüllte, und so wurde ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wohinaus ich mit Sehnsucht blickte, die See, fehlte ganz.5

Bei diesen ersten Sätzen handelt es sich um eine Form der Ekphrasis, in welcher zum einen der Bildinhalt, zum anderen aber vor allem die rezeptionsästhetische Implikation der unkonventionellen Landschaftsdarstellung vorgestellt wird. Unter Verwendung der Zeichen des Mediums Schrift wird auf ein anderes Medium, ein Gemälde, bezug genommen.6 Diese verdeckte Intermedialität, eine fremdmediale Imitation, ist in der Form von literarischen Annäherungen an die bildende Kunst seit dem 18. Jahrhundert eine gängige Praxis: Je emphatischer der Kunstbegriff, desto schwerer, über bildende Kunst zu reden, zumal in einer selbst nicht ästhetischen, prosaischen Sprache. Daraus zieht die Kunstbeschreibung die Konsequenz, selbst künstlerisch sein zu müssen, um im Transfer von der Augenwelt in die Sprachwelt das spezifisch Ästhetische zu bewahren. Die Beschreibungen mobilisieren die eigenen literarischen Potentiale, sie werden narrativ und psychologisch; aus dem Bild wird eine Geschichte, aus dem stillgestellten Moment visueller Darstellung wird bewegtes, handlungsträchtiges Seelenleben. Kunstbeschreibung gerät zur Beschreibungskunst. Die Namen Winckelmanns oder Diderots oder Heinses stehen dafür ein.7

Helmut Pfotenhauer verweist damit auf die emphatische Aufladung eines Temporalisierungsprozesses, den auch schon Lessing in seiner Abhandlung Laokoon angedeutet hat – als eine mediale Vereinnahmung, die vom Konzept der visuellen Gleichzeitigkeit zur handlungsorientierten Sukzession übergeht. Im Medienwechsel findet also bereits präsentationsgebunden eine Verzeitlichung statt, die es in Brentanos Fall noch genauer zu analysieren gilt. Der Modus der ekphrastischen Bildkritik ist in der Überschreitung der Mediengrenzen ein wichtiges Diagnostikum, mit dessen Hilfe die spezifischen Wahrnehmungsschwierigkeiten und ihr spatial5

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Hs. Freies Deutsches Hochstift 7977, hier zitiert nach Schultz: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. – In: Jordan und Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs, S. 38–48 Abb. 20–21, hier S. 40–41. Vgl. dazu auch Brentano: Verschiedene Empfindungen vor Friedrich’s Seelandschaft von, worauf der Kapuziner, auf der diesjährigen Kunstaustellung – In: Kemp (Hrsg.): Werke, Bd. 2, S. 1034–1038. Vgl. zur Textgeschichte Burwick: Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft: Arnim, Brentano, Kleist – In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S. 33–44. Die Entwicklung des Terminus’ Ekphrasis vom rhetorischen Begriff, der die ausführliche Beschreibung einer Sache einer Rede bezeichnete, bis hin zum literarischen Genre, zum kunstgeschichtlichen Terminus technicus, aber auch neuerdings als Bezeichnung jeglichen verbalen Verweises auf eine visuelle Repräsentation kann hier nicht erarbeitet werden. Ohne die komplexe Begriffsgeschichte des Terminus Ekphrasis in diesem Kontext spezifizieren zu können, scheint hier die intermediale Qualität des Begriffes von besonderer Bedeutung. Vgl. das Folgende. Pfotenhauer: Winckelmann und Heinse, S. 313. Pfotenhauer beschreibt dann den Wandel unter Winckelmann hin zu einer Übergangsform der Kunstbeschreibung, die sich neuen akademischen Forderungen beugt.

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temporales Layout besonders ins Auge stechen lässt:8 Zunächst fällt nämlich auf, dass bereits die Transformation des Gegenstands in die Abbildung als Übergang von der Realität als Präsenz9 in die Repräsentation thematisiert wird: Die anfangs eingeforderte »Herrlichkeit« ist offensichtlich eine komplexe Empfindung zwischen Anspruch und Abbruch, die dem Bild aber kritisch abgesprochen wird, weil es das Meer lediglich abbilde: »Dieses [die Empfindung] aber ist vor dem Bild unmöglich.« Die »Herrlichkeit« ist an eine Form der Sehnsucht gekoppelt, die Friedrichs Bild eben nicht evozieren kann – diese Sehnsucht taucht lediglich als Postulat auf, dessen Nichterfüllung die kritische Einstellung zum Bild begründet. Somit dient der erste Paragraph nicht der Beschreibung eines Bildeffekts, sondern eines zum Befremden des Betrachters ausbleibenden, eines – in der Terminologie des Textes – abgebrochenen Bildeffekts, der analog zum Natureffekt funktioniert, abgesehen vom offensichtlich entscheidenden Gegenstand der Sehnsucht, der beim Transfer der Betrachter-Natur-Relation hin zur Betrachter-Bild-Relation verlorengeht. In der Natur-Betrachter-Relation erscheint die »Sehnsucht«, mit der auf das Meer geschaut wird, als ein Chronotopos,10 in dem eine räumliche Konstellation auf die Möglichkeit ihrer Überschreitung geprüft wird. Dazu gehört laut Brentano, »daß man hinüber [über das Meer] möchte, daß man es nicht kann«. Die Sehnsucht richtet sich in diesem Sinne auf die Transgression, auf die Bewegung, und ist an beides gekoppelt: an den Raum, der überschritten werden soll, und an die temporalisierte Potenz, die eben in der Zukunft liegt.11 Somit ist es nicht die tatsächliche Bewegung,12 sondern die mögliche Bewegung, die das Sehnsuchtsgefühl kon 8

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»Wahrnehmungskrisen erweisen sich stets auch als Realitätskrisen und näherhin als Krisen der Repräsentation.« Neumann und Oesterle: Einleitung – In: Neumann, Oesterle, Pfotenhauer (Hrsg.): Bild und Schrift, S. 11. Vgl. zu diesem Diskurs um 1800 insgesamt den Sammelband: Albes und Frey (Hrsg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Darin besonders Drügh: Präsenzen und Umwege. Kleist medienanalytische Ekphrasis, S. 181–207. Drügh sieht gerade in Kleists Texten, insbesondere der hier einschlägigen Bildbeschreibung eine »Erkundung des Problemfelds, das sich zwischen den Konzepten der Präsenz und Repräsentation öffnet« (Ebd., S. 204) und zeigt damit, »daß die Ästhetik der Differenz und die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts forcierte und um 1800 massenmedial implementierte Ästhetik der Präsenz keine Gegenpole darstellen, sondern semiotisch analoge Konsequenzen zeitigen: die Zeichen auf sich, auf ihre Immanenz zurückwerfen« (Ebenda, S. 206), wobei sich die Technik der Beschreibung als idealer Seismograph dieses Prozesses erweist. Der Begriff Chronotopos knüpft hier an Bachtins Erkenntnis an, dass »alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden« sind (Bachtin: Formen der Zeit im Roman, S. 192) und soll für das Folgende hier vor allem den raum-zeitlichen Doppelcharakter der Sehnsucht hervorheben. Albrecht Koschorke weist auf die Parallelität dieser beiden Begriffe im gemeinsamen Grund der Potentialität hin: »Ferne und Zukunft werden parallele Begriffe, die dem Sosein der Realität zwar keine formulierte Utopie, aber den utopischen Wert der Kategorie des Möglichen entgegensetzen.« Koschorke. Geschichte des Horizonts, S. 183. Das Gefühl der utopischen Sehnsucht, das Brentano hier als ein an die Natur gebundenes beschreibt, hat sich in diesem Fall jedoch nicht in das Bild übersetzt, obwohl die Anspruchsund Abbruchbewegung analog vollzogen werden. Das ist für die Sehnsucht als raumbewältigender Bewegungsablauf in einem Zeitkontinuum relevant: In ihm liegt eigentlich – so ex negativo Brentano – die Erfüllung begründet: »Das romantische Schweifen in die Ferne trägt

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stituiert: Es wird mit einem utopischen Potential aufgeladen, weil es eine zeitliche Bindung und Richtung erhält. Der Mönch am Meer ist – nicht nur nach der Ansicht der Zeitgenossen13 – eine radikale Bildvariante;14 nichtsdestoweniger geht es in diesem Kontext nicht so sehr um das Bild selbst,15 sondern vielmehr um die literarisierte Bildkritik, in der das Befremden auf spezifische Wahrnehmungsgewohnheiten verweist: »Die horizontalen Schichten des Mönchs […] erzeugen ein Paradox: Leere in ihrer Fülle.«16 Dieses Paradox gilt es im Folgenden, genauer zu bestimmen. Mit Blick auf Friedrichs Tafelmalerei wurde grundsätzlich auf das perspektivische Phänomen hingewiesen, das den Betrachter in den Bildraum einschließt:17 »Caspar David Friedrich legt seine Landschaften weiträumiger aus, als es dem

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einen chiliastischen Impuls räumlich aus. Doch indem die Dichtung der Romantiker die Transzendenzflucht in räumliche Motorik übersetzt, übereignet sie die Attribute des transzendenten Ziels in wachsendem Maß der Raumbewegung selbst, als der Modalität poetischen Empfindens.« Ebenda, S. 186. Vgl. dazu auch Frank: Aussichten ins Unermeßliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich, S. 85: »Das Bild arbeitet der eindeutigen plastisch-räumlichen Gliederung entgegen, die in der Fläche die Tiefenerstreckung mit allen ihren Überschneidungen und Verkürzungen klärt, jener ›Haltung‹, die ein obligatorisches Ziel […] auch der klassizistischen« Malerei war. Werner Hofmann erwähnt »die senkrechte Schichtung der Raumpläne, die von keiner perspektivischen Tiefenachse zusammengehalten werden.« Zugleich verweist er auffällig auf den Eindruck der Zeitlosigkeit (»Keine bestimmte Tageszeit läßt sich ausmachen. Der Zeitablauf scheint an seinen Endpunkt angelangt.« Hofmann: Caspar David Friedrich, S. 57), eine Beobachtung, die sich mit der Diagnose Brentanos und Kleists deckt. Vgl. dazu allgemein Börsch-Supan: Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. Dessen kontextuelle Deutung, besonders mit Blick auf sein Gegenstück Abtei im Eichwald, hier nicht berücksichtigt werden kann. So weisen Jähnig und Börsch-Supan etwa darauf hin, »daß die Darstellung der neu verstandenen Unendlichkeit als das schlechterdings Unermeßliche, die im ›Mönch am Meer‹ unternommen ist, zugleich ein Blick Friedrichs in sein Inneres ist, daß also in dem Augenblick, in dem die zentralperspektivische Sicht der Welt mit dem Menschen im Mittelpunkt aufgegeben ist, das Subjekt in ganz neuer Weise in das Zentrum rückt, ist ein erstaunlicher Vorgang. Ohne Verständnis für diesen religiösen Balanceakt müssen der ›Mönch am Meer‹ und sein Gegenstück als Ausdruck der Verzweiflung erscheinen.« Börsch-Supan, Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 26. Busch resümiert in diesem Sinne: »Die absolute Befolgung des Naturvorbildes scheint Friedrich Gottes Schöpfung gegenüber gefordert, jede Abweichung wäre ein Verstoß gegen die göttliche Wahrheit. Doch was der Mensch in der Natur sieht und studieren kann, ist immer nur ein Ausschnitt. Deswegen lehnt Friedrich schon relativ früh die bloße Vedute ab.« Busch: Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher, S. 257. Vgl. zu den verschiedenen Deutungsversuchen des Bildes auch Busch: Ästhetik und Religion, S. 46–48. Hofmann: Caspar David Friedrich, S. 60–61. Helmut Börsch-Supan weist in diesem Zusammenhang auf das große Blatt »Kreidefelsen der Insel Möen« (um 1805/06) hin, in dem »das Motiv des sehnsuchtsvollen Schauens in eine Unendlichkeit« weiterentwickelt und intensiviert wird, »indem das Ziel des Sehens außerhalb des Bildes verlegt und die überirdische Wirklichkeit nun – wohl zum erstenmal so deutlich – mit der elementaren Macht des Meeres identifiziert wurde. Insofern ist diese Zeichnung eine Vorstufe zum ›Mönch am Meer‹ […] Neuartig ist in der Zeichnung auch die Charakterisierung des Menschen als eines Fremdlings in der Natur. Indem der Betrachter sich mit der Figur identifiziert, wird die Natur für ihn abstrakt.« Börsch-Supan, Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich, S. 22.

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natürlichen Sehwinkel der Augen entspräche, und läßt auch die vertikalen Elemente an den beiden Seiten des Vordergrunds fort, etwa Bäume oder Felsen, die herkömmlicherweise die Bildrahmung kompositorisch unterstützen. Dadurch entsteht ein quasi panoramatischer Effekt. Der Betrachter scheint perspektivisch in den Bildraum hineingerückt. Die Rückenfiguren verstärken noch diesen Zug in den Bildraum hinein.«18 Bei Friedrichs »Seelandschaft« scheint nun nach Brentano genau das Gegenteil stattzufinden: Statt als Stellvertreter die Instanz im Bild zu sein, wird nicht nur der Betrachter aus dem Bild verwiesen, sondern er wird dort paradoxer Weise auch zugleich der Stellvertreter des bildimmanenten Kapuziners.19 Die Bewegung ins Bild wird durch eine Bewegung aus dem Bild heraus ersetzt. Brentano formuliert in diesem Sinne, dass das im Bild Gesuchte erst zwischen dem Bild und dem Betrachter gefunden werden könne: Dabei scheint es sich vor allem um die Justierung des Blicks zu handeln. Angesichts der Leere am Horizont bleibt unerschließbar, worauf die immanente Betrachterfigur ausgerichtet ist. Insofern es keine Blickführung für den Betrachter gibt, ist auch er – genau wie der Mönch – mit der gleichförmigen Einöde konfrontiert, die keinen Anhaltspunkt zu einer möglichen Bildgliederung bietet. In diesem Sinne hat Michael Brötje darauf hingewiesen, dass sich der Mönch am Meer jeglicher Strukturierung entzieht, insofern zwischen den verschiedenen Bildelementen kein »definitiver Zusammenhang«20 etabliert werden kann: Damit ergibt sich nach Brötje eine performative Dopplung, mit der die Orientierungslosigkeit des Nachdenkens am Meer im Betrachter als Strukturierungsdilemma imitiert wird. In Brentanos Deutung kann nun die vom Bild etablierte Spannung nicht mehr in Bezug auf ein potentielles Ziel aufgelöst werden. Die typische Mechanik der Sehnsucht besteht zwar genau aus diesem Anspruch und Abbruch, wobei die beständige Aussetzung der Erfüllung das perpetuum mobile Sehnsucht zeitlich in Gang zu halten vermag; die gegenstandslose Sehnsucht indes erweist sich als zirkulär.21 Sie verliert ihre immanente Zieldimension und wird so offensichtlich zur Herausforderung für den Betrachter.22 Diese räumliche Überwältigung durch das 18

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Korschorke: Geschichte des Horizonts, S. 165. Daraus folgert Koschorke, dass es keine Distanz mehr zwischen realem und imaginärem Raum gebe. Der Betrachter werde mithin vom Bild vereinnahmt. Vgl. dazu das Folgende. Jörg Traeger verweist auf die Kritik Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohrs am Tetschener Altar: »das Fehlen einer Sehweise und Charakterisierung der Landschaft in Massen […], den Entzug eines bestimmbaren Betrachterstandortes und die Flächenhaftigkeit des Ganzen, das hat Friedrich im ›Mönch am Meer‹ radikal weitergeführt.« Traeger: »…Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«. Bildtheoretische Betrachtungen zu einer Metapher von Kleist, S. 88–89. Brötje: Die Gestaltung der Landschaft im Werk C. D. Friedrichs und in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, S. 68. Traeger beschreibt dies als selbst-referentiell: »Das Bild hat seine alten Spannungspole kurzgeschlossen. Es ist zum Medium von Identität geworden.« Traeger: »…Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«, S. 90. Allerdings nimmt dies hier (in der Aus- und Abgrenzung gegen den Betrachter) die Form einer negativen Identität an. Dass diese Form der Offenheit auch als positive Transgression gedeutet werden kann, zeigt Christian August Semlers Reaktion im Journal des Luxus und der Moden (1809) auf das Bild:

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Bild, die im Grund eine Bewegungsverweigerung (im Sinne des Chronotopos Sehnsucht) ist, wird von Brentano als räumliche Leerstelle beschrieben: Die »Repräsentation« unterschlägt die utopische Dimension, insofern der Export der Bewegung zwischen Meer und Betrachter auf die Beziehung zwischen Bild und Betrachter das Meer als Gegenstand der Sehnsucht eliminiert. Es fällt auf, dass die im Bild verweigerte Sehnsuchtsbewegung in der Bildbeschreibung überdeutlich kompensiert wird. Das Frustrationsgefühl wird als Rezeptionshaltung auf der einen Seite verdeutlicht, indem die geforderte Bewegung im Bild vor dem Bild imitiert wird; auf der anderen Seite gelingt es Brentano, die Stagnation des Bildes im Medium der Sprache wiederum in Bewegung zu transformieren. Insofern ist die ekphrastische Behandlung hier von entscheidender Bedeutung, um die Leerstelle zu markieren: Raum erweist sich hier nur als beherrschbar durch die zeitliche Dimension und vice versa ist Zeit (als potentielle, zukünftige Überschreitung) nur greifbar durch ihre spatiale Präsentation: Die durch Friedrichs »Seelandschaft« hervorgerufene Irritation – als Erfahrung einer Unerschließbarkeit des Raumes – kommentiert dabei insbesondere die zeitliche Achse des romantischen Chronotopos: In der Romantik wurde die neue Qualität der Zeit partiell verräumlicht, so dass die Zukunft als sehnsüchtiges Fernweh formuliert und räumlich gebunden werden konnte. Einschlägige Mechanismen einer solchen subjektiven Beherrschbarkeit des Raumes erscheinen mit Blick auf Friedrichs »Seelandschaft« jedoch aufhoben. Angesichts dieses als total erfahrenen Raumes kollabiert zwangsläufig auch die romantische Zeitutopie in ihrer verräumlichten Variante. Kleists Bildbesprechung unterscheidet sich von dem Sehnsuchtsmodell, das Brentano vorträgt, so dass ein kurzer Blick auf das Ende seiner Bildbesprechung notwendig scheint. Immerhin wich dieses von Brentanos Vorstellungen in einem solchen Ausmaß ab, dass Brentano über die der Verwendung seiner Initialen nachhaltig verstimmt war. An den weitgehend übernommenen Paragraphen schließt Kleist folgendermaßen an: Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnißvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Joungs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die

»Ein kahlköpfiger Alter in einem braunen Gewande steht auf jenem Strande, fast ganz gegen das Meer hingewendet und scheint, wie seine Stellung und besonders die das Kinn unterstützende Hand anzeigen, in tiefes Nachdenken versunken. Niemand wird wohl zweifeln, daß das Unermeßliche, was sich vor seinen Augen in die weite, düstre Ferne hin ausbreitet, der Gegenstand seinen Nachdenkens ist; man fühlt sich angezogen, mit ihm zu sinnen; jeder leiht ihm vielleicht andere Gedanken, weil jeder von dem großen und ernsten Gegenstande eine andere geistige Ansicht zu nehmen, durch seine Individualität bestimmt wird; indessen convergieren doch alle diese Gedankenreihen, und es giebt einen Punkt, wo sie zusammentreffen.« Semler: Ueber einige Landschaften des Malers Friedrich in Dresden, S. 233–234. Selbst Semler hebt dabei eine von ihm angenommene Konvergenz der Gedankenreihen in einem Punkt hervor, womit er die scheinbare Ziellosigkeit des Bildes auf einer anderen Ebene aushebelt. Die Neuheit des Bildes, um die es hier geht, wird hier anders verortet und aufgelöst, kreist aber letztlich um eine ähnliche Diagnose wie bei Brentano und Kleist, vgl. dazu das Folgende.

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Augenlieder weggeschnitten wären. Gleichwohl hat der Mahler Zweifels ohne eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen; und ich bin überzeugt, daß sich, mit seinem Geiste, eine Quadratmeile märkischen Sandes darstellen ließe, mit einem Berberitzenstrauch, worauf sich eine Krähe einsam plustert, und daß dies Bild eine wahrhaft Ossiansche oder Kosegartensche Wirkung tun müßte. Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte; so, glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmahlerei beibringen kann.23

Kleist betont die Entgrenzung und Gegenstandslosigkeit des Bildes (wobei er zugleich Kommentar-Fragmente der von Arnim und Brentano großteils ironisch porträtierten, vorbeidefilierenden Austellungsbesucher integriert), wenn er vorschlägt nach der Art des Gemäldes einen Quadratmeter Sand, mit einem Berberitzenstrauch mitsamt einer Krähe darzustellen – zwei weitere Aspekte knüpfen direkt an die von Brentano angedeutete Problematik an: Zum einen wird hier durch die vorgeschlagene Zuspitzung der Quasi-Motivlosigkeit die Entgrenzung des Bildes ins »Pathologische«24 ausgedehnt, indem die weggeschnittenen Augenlider die Auseinandersetzung mit der räumlichen Totalität unausweichlich machen.25 Der Kapuzinermönch wird in dem kurzen Zusatz Kleists durch eine Krähe ersetzt, was im weitesten Sinne Brentanos Verweigerung entspricht, den Mönch als Repräsentant des Betrachters im Bild anzunehmen. Zum anderen greift Kleist Brentanos Einwand auf, dass die Anspruchs-Abbruchs-Bewegung im Sinne des Sehnsuchtsmodells nur in der Natur sinnhaft funktioniere, und modifiziert ihn hier im Kontext des Erhabenheitsdiskurses: »Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte, so glaub’ ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen.« Insofern er dies als stärkstes Lob für diese Art von Landschaftsmalerei begreift, fällt seine Bewertung unter der hypothetischen Prämisse positiver aus als die Brentanos – ein Lob, das freilich in seiner Bedingtheit nicht direkt auf dieses Gemälde applizierbar ist, da dieses die Elemente eben nur repräsentiert. Obwohl er Brentanos Bedingung hier übernimmt, wurde desöfteren auf den unterschiedlichen Zugriff der beiden verwiesen. Während Brentano die Leerstelle als inakzeptablen Makel begreift, da durch ihn das zielgerichtete Sehnsuchtsmodell ausgehebelt wird, erkennt Kleist in der Übersteigerung der Totalität eine Qualität

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Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 543–544. Kurz: Vor einem Bild. Zu Clemens Brentanos »Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner«, S. 128. Es ist besonders diese Formulierung, die einen Bezug zur zeitgenössischen Obsession mit Panoramen aufdrängt, der im Folgenden noch genauer untersucht werden muss. Drügh weist in diesem Zusammenhang überdies darauf hin, dass sich Friedrich für dieses neue Medium interessierte, ganz im Einklang mit seiner kritischen Haltung zur Zentralperspektive. Drügh: Präsenzen und Umwege. Kleist medienanalytische Ekphrasis. – In: Albes und Frey (Hrsg.): Darstellbarkeit, S. 181–207, hier S. 193. Zum Panorama vgl. besonders: Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. In diesem Kontext müssen aus Platzgründen die medienanalytischen Implikationen unberücksichtigt bleiben, vgl. dazu wiederum umfassend Drügh: Präsenzen und Umwege, S. 194–207.

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der Natur wieder: Diese gleicht dem zeitgenössischen Konzept des Erhabenen und entfaltet somit eine zentripetale Kraft: Im Übergang vom Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen beschreibt Kant dieses Phänomen folgendermaßen: »Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns und der Denkungsart, die in die Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt«.26 Mag das Befremden auch zunächst überwiegen, das stärkste Lob der Landschaftsmalerei liegt in der totalen Imitation der totalen Entgrenzung,27 die zwar Füchse und Wölfe zum Heulen bringt, dem vernunftbegabten Individuum aber dabei helfen mag, dank der Souveränität des Subjekts eine Zentrierung zu erreichen – diese Konsequenzen werden bei Kleist allerdings nicht ausdifferenziert, sondern lediglich kontextuell angedeutet. Das SpielerischAssoziative28 des Kleistschen Duktus, der in der Referenz auf Brentanos und Arnims Prätext, aber auch auf einige prominente kulturelle Konzepte in einem (partiell durchaus ironischen) Rundumschlag ein breites Spektrum zeitgenössischkonventioneller Präferenzen in seine Bildkritik integriert, tut der implizierten Korrektur des Gemäldes keinen Abbruch:29 Der Stein des Anstoßes, um den es hier im Wesentlichen geht, bleibt im Kern – trotz gegensätzlicher Analyse – bei Brentano und Kleist derselbe. Anders als Kleist beklagt Brentano allerdings die Beschneidung der zentrifugalen Bewegung, indem er die Bewegung ohne »Ziel« als zirkulär bestimmt. So resümiert auch Christian Begemann: »Dem auf Selbsterhaltung und Herrschaft bedachten bürgerlichen Subjekt der Erhabenheitstheorien, das seine Unterlegenheit gegenüber der Natur ummünzen will in Erhebung über diese, steht in den romantischen Sehnsuchtskonzeptionen ein Subjekt gegenüber, das mit der Auflösung seiner Individualität liebäugelt.«30 Dass es sich bei Brentano um eine Affinität zur individuellen Auflösung handelt, während Kleist eine subjektive Verdichtung intendiert, ist allerdings nicht vollständig überzeugend: Denn postuliert wird bei Brentano eine Bewegung, in welcher Raum und Zeit sich gegenseitig stabilisieren, d.h., es wird ein Fortschreiten, ein Werden eingefordert, während bei Kleist indirekt das souveräne Ich in den Blick rückt. Der totale Raum begegnet bei Brentano keiner potentiellen, subjektiven Vermittlung durch Vernunftideen, sondern muss bereits in der 26 27

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Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 90. Vgl. dazu auch Kleists Anmerkung zum perfekten Panorama: »Denn da es nun doch einmal darauf ankommt, den Zuschauer ganz in den Wahn zu setzen, er sei in der offnen Natur, so daß er durch nichts an den Betrug erinnert wird, so müßten das andere Anstalten getroffen werden. Keine Form des Gebäudes kann nach meiner Einsicht den Zweck erfüllen, als allein die kugelrunde. Man müßte auf dem Gemälde selbst stehen, u nach allen Seiten keinen Punct finden, der nicht Gemälde wäre.« Vgl. auch den restlichen Teil des Briefes. Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge, 16. August 1800 – Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4, S. 71. Werner Hofmann deutet die verschiedenen kulturellen Referenzpunkte mit Blick auf ihre Relevanz und Bedeutsamkeit für das Bild Friedrichs: Vgl. deswegen zur Apokalypse, Ossian, Young etc. Hofmann: Caspar David Friedrich, S. 57–60. Dazu auch Begemann: Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung, hier S. 90–91. Auch bei Brentano und Arnim wird die Überforderung im zweite Teil humoristisch gebrochen. Begemann: Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer, S. 95.

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Beschreibung verzeitlicht werden, um zunächst überhaupt als Defizit kommunizierbar zu sein. Die Techniken der Selbststabilisierung im Raum durch den Raum, die beide Autoren hier andeuten, sind grundsätzlich verschieden, begründen sich aber gleichermaßen in der Forderung einer Beherrschbarkeit des Raumes – entweder in der Konvergenz von Raum und Zeit in der Sehnsuchtsutopie31 oder aber in der räumlichen Abkopplung angesichts der dargestellten Totalität bei Kleist: Beide Autoren entwickeln ihre Thesen im Abgleich zur Natur (im Gegensatz zur repräsentierten Natur). Obwohl sie damit ihre Sehnsuchts- und Erhabenheitsmodelle auf unterschiedliche Weise naturalisieren, präsentieren beide zugleich gleichermaßen ihre Vorstellungen von spatialer Beherrschbarkeit als notwendig und »wahr« (im Sinne von »natürlich«). Insbesondere Brentanos Sehnsucht als Modell der Progression, als utopische Qualität der Romantik zeigt die Verschmelzung eines neuen Zeitverständnisses mit einem temporalisierten Raumverständnis. Dieses Skandalon der räumlichen Überforderung in Friedrichs Bild steht dem Bestreben um 1800 entgegen, die Welt räumlich zu erschließen und zu strukturieren. Brentanos und Kleists ekphrastisch kompensierende Bildkritiken sind als Mangelbeschreibung nicht zufällig gewählt: Sie verkörpern das Management eines Paradoxons für die Raum-Zeit-Koordinaten um 1800, das in einer anderen Form, nämlich der des Reisens, deutlicher greifbar scheint: Bei diesem Paradox handelt es sich um die Gratwanderung zwischen einer Überschreitung und einem sich gleichzeitig ausdehnenden Ordnungssystem, das diese Überschreitung partiell aufhebt. Als paradigmatisch für diese kanalisierte Transzendierung und als heuristisch hilfreich für die hier vorliegenden Bildkritiken erweist sich, wie angedeutet, die »Reisewut« (Wolf Lepenies) um 1800, in der Bewegung als raumzeitliches Kontinuum sowohl die Zunahme des Wissens als dynamisches Element erlaubt, als auch die Stabilität des Erkenntnisrahmens als spatiales Ordnungskonzept validiert. Der Anstieg an Reiseliteratur um 180032 und das damit korrelierende, vermehrte öffentliche Interesse daran stehen in diesem Sinne in unmittelbarem Zusammenhang mit dem hier relevanten Chronotopos, der sich besonders in Brentanos Bildkritik in nuce zeigt. Koschorke verweist auf die gleichzeitige ästhetische und ökonomische Aneignung der Welt durch das Bürgertum, bei der die Zivilisationsgrenze immer tiefer ins Unbekannte vorgezogen werden soll.33 Mit dieser Form der Aneignung geht ein Prozess Hand in Hand, den Karl Guthke als »Erfindung der Welt um 1800« bezeichnet hat: Die Geburt der globalen Bildung im »zweiten Entdeckungszeitalter«, welches sich »(im Unterschied zu den früheren besitzergreifenden, aus31

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Begemann formuliert dies folgendermaßen: »Sehnsucht ist eine spezifische Form der romantischen Utopie. Als eine dynamische Utopie tritt sie an die Stelle der statischen Raumutopie der Aufklärung, die in Staatsroman und Idyllik das realisierte Ideal des richtigen Lebens an einen Ort verlegt hatte, der zwar fiktiv war, jedoch einer ›möglichen Welt‹ angehörte, die sich nicht prinzipiell außerhalb des Erfahrungsraums der aufgeklärten Subjekte befand.« Begemann: Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer, S. 63. Guthke: Erfindung der Welt, S. 35–36. Korschorke: Geschichte des Horizonts, S. 129.

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beuterischen und missionarischen)« bewusst wird, »daß es jenseits seines Erdteils andere gibt, wo Kulturen beheimatet sind, mit denen auseinanderzusetzen sich lohnt, wenn er sich mit der Frage beschäftigt, ›wer‹ er denn selbst sei. Menschenkunde wird Völkerkunde«.34 Die physische und interpretatorische Erschließung der Welt dient auch der Selbstverortung im Vergleich mit und im Kontrast zu anderen Kulturen. Die Welterkundung stellt sich damit ebenso als geographische Strukturierung wie auch als ihre Deutung dar: Die räumliche Aufteilung bietet ein Raster für die oszillierenden Eindrücke um 1800, indem die Neuheit transformiert wird in eine Erschließungsbewegung, die in ihrer geographischen und ethnologischen Logik nachvollziehbar scheint. Am Ende steht die Vorstellung von eine Art »Kosmos«, der sich als potentiell »vermessbar«35 erweist und der dem Chaos der zeitgenössischen Ereignisse als zugrundeliegendes, strukturierendes Ordnungsmuster entgegensteht. Exemplarisch räsonniert Alexander von Humboldt darüber in seinem aussagekräftig betitelten opus magnum Kosmos,36 das, wenn auch deutlich später verfasst37, doch in der Tradition der Raum-Zeit-Erwägungen um 1800 steht: »Was die neue Cultur uns gebracht, ist die unausgesetzt fortschreitende Erweiterung unseres Gesichtskreises, die wachsende Fülle von Ideen und Gefühlen, die thätige Wechselwirkung beider.«38 Wie Wolf Lepenies ausführt, wurde Humboldt in einer Zeit geboren, in der »der Versuch, die Natur zu erforschen, sich vor allem auf den Raum richtete; vom ›Ganzen der Natur‹ hatte Georg Forster gesprochen«.39 34 35

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Guthke: Erfindung der Welt, S. 3. Dieser Terminus ist nicht unproblematisch, ist dies doch Friedrich Schillers Hauptkritikpunkt an Alexander von Humboldts Verfahrensweise: »So finde ich bei ihm [Humboldt], bei allem ungeheuren Reichthum des Stoffes, eine Dürftigkeit des Sinnes, die bei dem Gegenstande, den er behandelt, das schlimmste Uebel ist. Es ist der nakte, schneidende Verstand der die Natur […] schaamlos ausgemessen haben will […]. Er hat keine Einbildungskraft und so fehlt ihm nach meinem Urtheil das nothwendigste Vermögen zu seiner Wißenschaft – denn die Natur muß angeschaut und empfunden werden«. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Jena, 6. August 1797 – Werke (Nationalausgabe), Bd. 29, S. 112–113, Hervorhebung von mir. Vgl. auch Lepenies: Alexander von Humboldt – Vergangenes und Gegenwärtiges – In: Ette et al.(Hrsg.): Alexander von Humboldt, S. 3–15, hier S. 7. Diese Kritik Schillers ist tatsächlich nur bedingt angebracht (vgl. das Folgende); der Terminus »Vermessung« scheint aber nichtsdestoweniger exemplarisch für die spatial-temporale Haltung des »zweiten Entdeckungszeitalters«, so dass seine Verwendung hier trotz der pejorativen Konnotation als legitim erscheint. Ottmar Ette verweist etwa auf Humboldts Bemühen »um das Einschmelzen allen Einzelnwissens in ein gleichsam ästhetisches Weltkontinuum, Harmonisierung also zum ›Kosmos’ klassischer Sinngebung«, Ette: Einleitung – ebenda, S. X. Der erste Band erschien erst 1845, der letzte 1862. Allerdings betont Humboldt nicht nur im ersten Kosmos-Band, das ihm dieses Projekt bereits seit 50 Jahren undeutlich vorgeschwebt habe, sondern äußert auch 1796 Georg Forster gegenüber die Idee einer »physique du monde«. Vgl. Werner: Himmel und Erde, Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein ›Kosmos‹, S. 13. »[…] die Arbeit [der Erschließung der Welt] gelingt, weil sie das gemeinsame Werk aller gebildeten Nationen ist, weil die Vervollkommnung der Bewegungsmittel auf Meer und Land die Welt zugänglicher, ihre einzelnen Theile in der weitesten Ferne vergleichbarer macht.« Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 2 (1847), S. 71. Lepenies: Alexander von Humboldt – Vergangenes und Gegenwärtiges. – In: Ette et al.(Hrsg.): Alexander von Humboldt, S. 5.

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Obwohl Raum die Kategorie des wissenschaftlichen Reisens um 1800 darstellt (insofern jeder Naturforscher Forschungsreisender war),40 ist seine Erschließung doch auf eine Zeitachse angewiesen. Das Zusammenspiel von Raum und Zeit erweist sich hier als besonders aufschlussreich, da die zeitliche Dimension im räumlichen Ordnungsdenken aufgefangen wird, die kosmische Gliederung und das Naturganze aber wiederum nur raum-zeitlich, eben durch das Reisen erkennbar und verständlich wird. Ein Blick auf Alexander von Humboldts Kosmos-Konzept und die damit verbundenen Darstellungsprinzipien lohnt an dieser Stelle, weil sich daraus eine Dualität von Progression und Stabilisation als coping mechanism ableiten lässt, der sich ex negativo auch bei Brentano und Kleist andeutet. Das mit enzyklopädischem41 Impetus vorgetragene Projekt (Alexander von Humboldt benennt in diesem Sinne die »höhere Kenntniß des Naturganzen«42 als langfristiges Ziel) akzentuiert das Ordnungsbestreben des faktisch oder mental Reisenden und kondensiert die Veränderung in eine spezifische Stabilität, die sich erstaunlicher Weise in der räumlichen Erschließungsbewegung manifestiert: Zukunft erscheint hier greifbar in einem spatialen Prozess, dessen Ziel zwar benennbar, aber doch auf lange Sicht ausgesetzt scheint: »Ein vernunftmässiges Begreifen der gesamten Natur [ist] nicht zu erwarten weil solches Problem zu den unbestimmten gehört und wir noch nicht alle Stoffe und Naturkräfte (Naturthätigkeiten) kennen. Der Hauptzweck des Kosmos scheint mir ausführbar der zu sein von einzelnen Gruppen realer Naturprocesse Geseze und unverkennbare Beweise eines Causalzusammenhanges zu erkennen.«43 Dieser »Causalzusammenhang«44 prägt auch Humboldts »Naturgemälde«,45 um deren mediengebundene Vermittlungsprobleme Humboldt weiß: Es ist ein gewagtes Unterehmen, den Zauber der Sinnenwelt einer Zergliederung seiner Elemente zu unterwerfen. Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindruckreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß

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Ebenda. Blumenberg vermerkt dazu, dass Humboldts »Kosmos«-Projekt als Versöhnung zwischen französischer Enzyklopädie und Novalis’ Enzyklopädistik zu verstehen sei, was für ihn ein Korrespondenzsystem zwischen Mensch und Natur und als solches darstellte. (Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 286). Enzyklopädisch meint hier also in diesem Kontext lediglich die Zielvorgabe der angestrebten Gesamterschließung, auch wenn diese ausgesetzt bleibt. Humboldt selbst distanziert sich nachdrücklich vom zeitgenössischen Terminus der »Encyklopädie«: Im Gegensatz zu einem solchen oberflächlichen Zugriff möchte er »das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen« betrachten. Humboldt: Kosmos, Bd. 1 (1845), S. 40. Ebenda, S. 19. Brief Alexander von Humboldt an Rudolph Hermann Lotze vom 11. Februar 1859. Familiennachlaß Lotze, Bad Homburg, G. Nr. 44, zitiert nach Werner: Himmel und Erde, S. 4. Vgl. dazu auch Humboldt: Kosmos, Bd. 4 (1858), S. 6–7. Johann Götschl versteht der das Ziel, »die Einheit in der Vielheit zu erkennen« als »HumboldtHypothese«: Charakteristika eines evolutiven dynamischen Wissenschaftsbegriffes: Alexander von Humboldt als Vorläufer einer evolutiven Modellierung der Wissenschaftsentwicklung – In: Ette et al.(Hrsg.): Alexander von Humboldt, S. 111–136, hier S. 111. Humboldt: Kosmos, Bd. 1 (1845), S. 10.

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eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde […] Will man aber aus der objektiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen.46

Damit bewegt sich Humboldt im Spannungsfeld der hier relevanten Intermedialität, wobei er gängige theoretische Dilemmata der sprachlichen Abbildung (die zwangsläufige Sukzession des Simultanen)47 zu Beginn des ersten Kosmos-Bandes problematisiert: »Bei der reichen Fülle des Materials, welches der ordnende Geist beherrschen soll, ist die Form eines solchen Werkes, wenn es sich irgendeines litterarischen Vorzugs erfreuen soll, von großer Schwierigkeit. Den Naturschilderungen darf nicht der Hauch des Lebens entzogen werden, und doch erzeugt das Aneinanderreihen bloß allgemeiner Resultate einen ebenso ermüdenden Eindruck als die Anhäufung zu vieler Einzelheiten der Beobachtung.«48 Humboldt bedient sich zwar der Enumeratio partium-Technik,49 versucht diese aber zugleich eine größtmögliche Kohärenz der Beschreibung im Text zu erzeugen; gleichzeitig wendet er sich50 angesichts seines Synthesepostulats, das generell von der Auflistung und Zergliederung unterminiert wird,51 verstärkt einem anderen Konzept der Naturbeschreibung zu:52 Friedrich Schiller hatte in diesem Sinne (in 46 47

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Ebenda, S. 9–10. Vgl. dazu insgesamt Hey’l: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller, S. 278–295. Humboldt: Kosmos, Bd. 1 (1845), S. VIII. Zu seiner versuchten Rehabilitierung der poetischen Beschreibung im Sinne der Horazischen Maxime »Ut pictura poesis«, vgl. Hey’l: Das Ganze der Natur, S. 282–287. Im Sinne von Lessings Ausführungen im Laokoon: »[…], sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Coexistierende des Körpers mit dem Consekutiven der Rede dabei in Collision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöst wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung der Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.« Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie –Werke und Briefe, Bd. 5.2, S. 127. Wie es Lessing etwa mit Blick auf Albrecht von Hallers deskriptives Lehrgedicht Die Alpen konstatiert: »Ich höre in jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich weit entfernet zu sehen.« Ebenda, S. 126. Vgl. zu den spezifischen Darstellungsaporien und ihren Kontexten: Albes: Getreues Abbild oder dichterische Komposition? Zur Darstellung der Natur bei Alexander von Humboldt – In: Albes und Frey (Hrsg.): Darstellbarkeit, S. 209–233, hier S. 218– 221. Albes weist daraufhin, dass sich Georg Forster und Humboldt beide von der Vorstellung einer zeichenhaften Abbildung der Realität distanzieren, dass Humboldt aber anders als Forster keinen reisenden Betrachter einführt, der seine Erlebnisse sukzessive beschreibt, sondern in Ansichten der Natur zusätzlich eine auktoriale Erzählstimme einführt, die einen objektiven Standpunkt indiziert. Dies spiegelt wiederum die Korrespondenz zwischen der dynamischen Präsentation und der gleichzeitigen hier auktorialen Absicherung. Albes macht deutlich, dass es Humboldt um eine authentische Naturvermittlung und weniger um ein »Naturgemälde« geht, wobei er ständig das Darstellungsproblem mitreflektiert: »Gerade die Erkenntnis, daß sich das Absolutum der Naturwahrheit nur in Gestalt prekärer Zeichenrelationen darstellen läßt, macht die Modernität von Humboldts Texten aus.« Ebd., S. 232. Vgl. exemplarisch zu der Entmimetisierung der Beschreibungskunst im 19. Jahrhundert: Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik.

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Reaktion auf eine ähnliche Problemlage) in seiner Rezension von Matthisons Gedichte einen Fokus auf die bewegte Natur nahegelegt:53 »Die landschaftliche Natur ist ein auf einmal gegebenes Ganzes von Erscheinungen, und in dieser Hinsicht dem Maler günstiger, sie ist aber dabei auch ein sukzessiv gegebenes Ganzes, weil sie in einem beständigen Wechsel ist, und begünstigt insofern den Dichter.«54 Diese Frage nach dem, was in der sprachlichen Präsentation, abgebildet werden soll, erweist sich für diesen Kontext in zweierlei Weise als einschlägig: Zum einen imitiert es die Verzeitlichung, der sich auch Brentano und Kleist für ihren kritischen Ansatz bedienen: »Die Ansichten der Natur lösen die räumliche Gleichzeitigkeit in szenische Bewegung auf. Im Kosmos wird es dann um die Schilderung des Gegenwärtigen als Gewordenen gehen, vor allem aber wird dort die Gleichzeitigkeit der Erscheinungen durch ihre Projektion auf die Geschichte ihrer Erkenntnis verzeitlicht.«55 Zum anderen geht die Verzeitlichung dieser Naturbeschreibung bei Humboldt mit einem neuen Fokus einher, den Schiller als das Prozesshafte der Natur ausmachte. Dieses Prozesshafte, grundsätzlich zyklisch Temporalisierte allerdings wird wiederum durch eine ordnende Kraft Gesetzen zugeordnet, die den »Naturgemälden« zugrundeliegen.56 Damit ergibt sich für Humboldts-Darstellungstechnik eine entscheidende Verbindung zur unterschlagenen Zeitlichkeit bei Friedrich, die um einen zentralen Aspekt bereichert wird: die »eigentümliche Entwicklungslosigkeit« im »Konzeptuellen«.57 Humboldts Bestreben, das Diverse der Welt als anschauliches Ganzes zu präsentieren,58 geht eben einher mit einer namensgebenden Kosmos-Vorstellung, die, wie ausgeführt, weniger als theoretisches Prinzip, sondern vielmehr als anschauliche ästhetische Idee erscheint.59 In der »Doppelmatrix« des Wortes Kosmos zum einen als ansprechender Schmuck und

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Dieses Postulat korreliert mit Humboldts Fokus auf die Dynamik in Natur und Kultur Wissenschaftsbegriff, »der sowohl die physikalische als auch die kulturelle Wirklichkeit mit all ihren Zufällen und Unbestimmtheiten adäquat zu erfassen sucht, um sie innerhalb einer umfassenden Theorie darzustelle. Damit [wird…] erstmals ein dynamisches Forschungskonzept skizziert.« Götschl: Dynamischer Wissenschaftsbegriff, S. 112. Friedrich Schiller: Über Matthissons Gedichte – Werke (Nationalausgabe), Bd. 22, S. 247. Ebenfalls in Übereinstimmung mit Lessings Überzeugung: »Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.« Lessing: Laokoon –Werke und Briefe, Bd. 5.2, S. 117. Hey’l: Das Ganze der Natur, S. 282. Vgl. dazu auch Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Böhme: Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts – In: Ette et al. (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Aufbruch in die Moderne, S. 17–32, hier S. 17. »Es ist die denkende Betrachtung der durch die Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen.« Humboldt: Kosmos, Bd. 1, S. 31. »Es geht Humboldt und seinen Zeitgenossen nicht mehr um die Darstellung der Phänomene mit ihren optischen wahrnehmbaren Merkmalen in einem räumlichen Tableau, sondern um Einsichtnahme in den tiefenstrukturellen Funktionszusammenhang, in dem die sichtbaren Merkmale positioniert sind.« Albes: Getreues Abbild oder dichterische Kompositon? Zur Darstellung der Natur bei Alexander von Humboldt. – In: Albes und Frey (Hrsg.): Darstellbarkeit, S. 209–233, hier S. 212.

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zum anderen als Ordnung60 spiegelt sich insofern, was Humboldt als »Genuß der höheren Ordnung« bezeichnet.61 In Die Lesbarkeit der Welt verdichtet Hans Blumenberg dieses Bezugsverfahren von Anschaulichkeit und Ordnung: Humboldts Technik der »Naturansichtigkeit« bestände gerade darin, »das Erlebnis auf das Wissen […] zu beziehen; nicht um die Subjektivität des Augenblicks zu zerstören, sondern um sie zu integrieren.«62 Humboldts ästhetisch gebrochene Vorstellung von einer höheren Ordnung und sein spezifisches Welterschließungsverfahren, das Reisen, stellen idealtypisch die beiden Aspekte des hier relevanten raum-zeitlichen coping mechanisms dar, der in seiner spezifischen Dualität für die gesamte Epoche repräsentativ ist:63 Das Humboldtsche Kosmos-Konzept, das zwischen räumlicher Bewegung und konzeptuellen Stillstand changiert, ist eine populäre Variante, die das Bedürfnis nach »Entparadoxierung« von intentionaler Überschreitung und der zugleich eingeforderten Stabilität (ein Wunsch, der angesichts des unausweichlichen krisenhaften Umbruch um 1800 nachvollziehbar scheint) greifbarer entwikkelt als Brentano und Kleist in ihrer abwehrenden Reaktion auf die von Friedrich präsentierte räumliche Totalität. Dabei ist entscheidend, dass Friedrichs Bild gerade kein Panaroma darstellt:64 Das panoramatische Schauen, das um 1800 einen Aufschwung erfährt, entspricht wiederum der Ganzheitsidee und dem Ordnungsgedanken, ähnlich dem, wie ihn Humboldt vorgetragen hat, und provoziert also, trotz des gelegentlich hervorgerufenen Schwindels beim Zuschauern, keinen konzeptuellen Widerstand: Die neue panoramatische Perspektive stellt eine innovative formale Konsequenz des hier beschriebenen gedanklichen Unterbau dar und ruft damit eine physische Reaktion wegen des Bruchs einer darstellerischen Konvention hervor, nicht aber die vielschichtige, inhaltliche Empörung, die als Bildreaktion auf Friedrichs Mönch am Meer festgestellt werden konnte.65 60

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Vgl. dazu Humboldt: Kosmos, Bd. 1, S. 61. Zur Etymologie des Wortes nach Humboldt vgl. auch ebenda S. 61–63. Böhme: Ästhetische Wissenschaft, S. 18. Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 293. Vgl. Guthke: Erfindung der Welt, S. 53. Vgl. dazu auch Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 296: »Geht es nicht mehr um ›das Malerische‹ in der Natur, sondern um dessen Realisierung als Malerei, hat Humboldt technische Grenzüberschreitung im Auge, […] um eine Totalität der Eingezogenheit in die Landschaft technisch zu gewinnen: als Runduminszenierung, Panorama, Diorama, Neorama.« »Die Überschau des Menschen vollzieht die Schöpfung der Welt zum zweitenmal. Es ist dieser durch den gesellschaftlichen Aufbruch des Bürgertums im 18. Jahrhundert aktualisierte Auftrag, die Natur des Menschen zuzueignen und vom Menschen her zu durchdringen«, wie Korschorke anhand von Herder deutlich macht, Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 143. Koschorke beschreibt den Wandel gegenüber der Rahmenschau der Aufklärung folgendermaßen: »Im Panorama verliert folglich das zentralperspektivische Postulat der Simultanschau seine Gültigkeit. Nur indem der Betrachter sich um sich selbst dreht, nicht mit festgestellten Augen nach dem Muster der Camera obscura, kann er den gesamten, ihn einschließenden Bildraum überblicken. Gegenüber der summativen Reihung von Einzelbildern, wie sie der rationalistische Diskurs über die Sinnenwelt veranstaltete, ist aber in diesem Kreisen des Blicks die Stiftung von Totalität nicht einer hinter den Sinnen wirkenden Verstandestätigkeit überlassen. Die Ordnungsfunktion […] geht vielmehr an das spontane Organisationsvermögen des Sehens über.«Ebenda, S. 165.

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Besonders Brentanos Strategie im Umgang mit dem Unbehagen ist hier von Interesse, insofern er die Überforderung nachträglich zeitlich korrigiert: Niklas Luhmann deutet eine semantisch greifbare Form der Verzeitlichung generell als spezifische Verarbeitung jener irreversiblen Umstellung von einer primär stratifikatorisch zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft, insofern »jeder Komplexitätsschub in Gesellschaftssystemen, das heißt jede Änderung der Differenzierungsform, die ihr entsprechenden Temporalstrukturen erzeugt.«66 In diesem Sinne ist die Brentanos romantische Lösung anders konzipiert als der Kosmos-Gedanke bei Humboldt, da er die Stabilität (als Progressionsgedanken) gerade in der konstanten Überschreitung, der grenzenlosen Temporalisierung ausmacht, wohingegen Humboldt die quasi räumlich stillgelegte (nach spezifischen Gesetzen dynamisch-produktive) Ordnung des Kosmos als die zeitlich zu erschließende Zielvorgabe benennt. In beiden Fällen erlauben es Raum und Zeit reziprok, Komplexität zu kommunizieren und beherrschbar zu machen. Ex negativo macht die Reaktion auf den Mönch am Meer Bild deutlich, dass Raum um 1800 in dezidiert zeitlichen Kategorien und (vice versa) verhandelt wird: Der Chronotopos des philosophischen Reisens, das zur Erkenntnis der eigenen historischen Position dient, korrespondiert in diesem Sinne auffällig mit der Irritation der von Brentano und Kleist über die Tatsache, dass die Zeitkomponente im Friedrichs Bild dystopisch eingezogen scheint: Letztlich sind beide Parameter – Raum und Zeit – hier voneinander abhängig, da sie nur zusammen ein beherrschbares Koordinatensystem, eine Art räumlich entwicklungsfähigen Kosmos kreieren, der jenes utopische Zukunftspotential enthält, das die Spannung von Anspruch und Abbruch sinnvoll und erträglich gestaltet: Die Entwicklungsdimension als Erschließung scheint auch für den Raum unabweisbar geworden. Analog zum Strukturmuster der Sehnsucht resümiert Kleists Position ebenfalls den Wunsch nach Beherrschbarkeit, wenn auch der Zusammenbruch der Zeitachse hier anders geahndet wird: Koschorke beschreibt in diesem Sinne auch die Entwicklungen der ästhetischen Weltrepräsentation mit Blick auf das Erhabene als Bewältigungsstrategie, insofern das Erhabene den Schrecken fiktionalisiere.67 Der totale Raum ohne Gegenstand ist in jedem Fall ein Ärgernis,68 eine philosophische 66

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Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, S. 295: »Wenn es zutrifft, daß ein Wechsel der Differenzierungsform ein Gesellschaftssystem und mit ihm auch seine Umwelt komplexer macht und wenn die zunehmende Komplexität zunehmend auch eine stärkere Verlagerung ins Nacheinander wechselnder Relationierungen erfordert, ist zu erwarten, daß solche Veränderungen in den Erfahrungen des gesellschaftlichen Lebens und in der sie fixierenden Semantik registriert werden. […] Als Basis für die verstärkte Inanspruchnahme von Zeit für ein geordnetes Wechseln von Relationierungen muß zunächst die Gegenwart selbst verzeitlicht werden, nämlich reduziert auf einen Umschaltpunkt, in dem Zukunft zur Vergangenheit wird. Nur eine derart punktualisierte Gegenwart gibt die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft für einen Wechsel der je aktualisierten Relevanzen frei. […] Und erst eine so punktualisierte Gegenwart wird konsequent zeitlich verstanden, nämlich von dem her, was Vergangenheit und Zukunft für den Umschaltvorgang bedeuten.« Ebenda, S. 260–261. Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 130. Vgl. hierzu auch die bekannte Reaktion Helene Marie von Kügelgens: »Ein großes Bild in Öl

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Herausforderung, die das spezifische Modell der temporal-spatialen Erschließung gefährdet und sinnhaft kompensiert werden muss. Angesichts der Zeitdiskurse der Sattelzeit, der Verzeitlichung spezifischer Wahrnehmungsmuster ist diese Verzeitlichung des Raumes in der Bewegung der »Entdekkungreise« oder in Brentanos versuchter Annäherung an das Sehnsuchtskonzept nicht verwunderlich; nichtsdestoweniger überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Zeiterfahrung als Entwicklungsdimension auch auf die Raumerfahrung ausdehnt. Zugleich bindet die hier erschließbare Raumkonzeption das flüchtige Zeitkonzept und verdinglicht es. Das ablehnende Befremden bzw. die bedingte Anerkennung der Autoren über den im Bild aufgekündigten Raum-Zeit-Bezug illustriert auf diese Weise ex negativo die Bedeutung des Raumes als eine romantische Bewältigungstechnik der neuen Zeiterfahrung und vice versa.

sah ich auch, welches meine Seele gar nicht anspricht. […] Auf der ewigen Meeresfläche sieht man kein Boot, kein Schiff, nicht einmal ein Seeungeheuer, und in dem Sande keimt auch nicht ein grüner Halm, nur einige Möven flattern umher und machten die Einsamkeit noch einsamer und grausiger.« Anna und Emma von Kügelgen (Hrsg.): Helene von Kügelgen, geb. Zoege von Manteuffel. Ein Lebensbild in Briefen, S. 155–156.

Heinz Härtl

»Amazonenrepublik« und »Raum von vier Dimensionen«: Zur Genese von Texten Arnims

In zwei seiner im handschriftlichen Nachlass befindlichen Aufzeichnungen reflektiert Arnim die Möglichkeit eines Raumes von mehr als drei Dimensionen. Die Wichtigkeit dieser Reflexion für Arnims Raumgestaltung und poetisches Verfahren hat Michael Andermatt bereits in einem 1997 erschienenen Aufsatz1 und zuletzt in seinem in diesem Band veröffentlichten Beitrag über den »Liminalen Raum« im Œuvre des Dichters aufgezeigt, und sie wurde auch in der Diskussion während des Kolloquiums hervorgehoben. Weil die betreffenden Texte für dessen zentrales Thema und darüber hinaus relevant sind, werden sie im Folgenden in ihren bisher teilweise unerkannten Zusammenhängen ediert. Deren Rekonstruktion ermöglicht verallgemeinerbare Einblicke in die Genese Arnimscher Texte. Bevor Arnim über einen mehr als dreidimensionalen Raum spekulierte, suchte er in einer der zahlreichen naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die er während seiner Studentenzeit publizierte, die von Schelling vertretene Auffassung von der Dreidimensionalität der Materie zu unterstützen. Schelling hatte diese Auffassung in seinem 1800 veröffentlichten System des transcendentalen Idealismus und außerdem in dem etwa gleichzeitigen Aufsatz Allgemeine Deduction des dynamischen Proceßes und der Categorieen der Physik postuliert, der im ersten Band seiner Zeitschrift für speculative Physik erschienen war. Dreidimensionalität sei, wie zusammengefasst wurde, »das wesentliche Merkmal der Materie« und »Resultat der Selbstkonstruktion der Materie aus Kräften«.2 Dieser Theorie sekundierte Arnim in seinen Anmerkungen zur Licht-Theorie, indem er die »Nothwendigkeit der Anschauung der Materie nach drei Dimensionen«3 auch im Magnetismus begründet sah. Der Aufsatz Arnims erschien 1801 in den von seinem Hallenser Lehrer, dem Physiker Ludwig Wilhelm Gilbert, herausgebenen Annalen der Physik, jedoch mit einer Fußnote des der Empirie verpflichteten Gilbert, derzufolge es dem Verfasser mit seiner Behauptung »nicht recht Ernst«4 gewesen sein könne. Andererseits zog Arnim die Aufmerksamkeit Schellings auf sich, der in seiner Zeitschrift für speculative Physik Gilberts Vorbehalt ironisch attackierte und mitteilte, Arnim denke »darauf, aus dem Galvanismus zu erklären, warum wir genöthigt seyn, die 1

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Andermatt: »Raum von vier Dimensionen«. Romantisierter Raum bei L. Achim von Arnim. – In: Michel (Hrsg.): Symbolik von Ort und Raum, S. 1–17. Durner: Einleitung zu: Schelling, Zeitschrift für speculative Physik, Bd. I, S. XXXIV. Arnim: Naturwissenschaftliche Schriften I, Teil 1 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 2, S. 283. Ebenda.

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Materie als nach drei Dimensionen ausgedehnt anzuschauen«.5 Nachdem Arnim sich in einem Schreiben an Schelling darüber beschwert hatte, seine Auffassung sei »unrichtig« dargestellt worden,6 versicherte dieser ihm seiner Zuneigung, die übergreifende Konvergenz im Sachlichen betonend: »Wenn Sie […] die 3. Dimensionen aus dem Galvanismus ableiten zu können glaubten, so war dieß ganz identisch mit dem, was ich vom chem. Proceß sagte, und konnte daher meiner Absicht nicht entgegengesezt werden.«7 Nach dem Ende des Studiums verzichtete Arnim bekanntlich auf eine naturwissenschaftliche Karriere zugunsten der dichterischen. Damit ging es ihm, was die Raumvorstellung anlangt, nicht mehr um den Nachweis der Dreidimensionalität der Materie, sondern um die Überbietung dieser avancierten naturwissenschaftlichen und -philosophischen Annahme durch das Postulat einer weiteren Dimension. Es steht in einem Taschenbuch mit Einträgen aus den Jahren 1803/04, die vorwiegend während des England-Aufenthaltes zwischen Juli 1803 und Juli 1804 niedergeschrieben wurden, mit dem Arnim seine Bildungsreise beendete. Terminus post quem ist aufgrund der Erwähnung von Klopstocks Tod der 14. März 1803. Der bereits von Christof Wingertszahn 1990 veröffentlichte Eintrag8 wird im folgenden etwas erweitert nochmals nach der Handschrift ediert:9 Sehr auffallend ist es, daß Ausschweifungen den Weibern gut anschlagen, sie werden stark und erreichen hohes Alter dabey, (böse Krankheiten ausgenommen) dahingegen Männer davon ausgedörrt, auch kann man nicht sagen daß in solchen schwächligen Ehen die Mädchen schwächer als sonst geboren werden, aber wohl die Knaben und weniger. Dies scheint das nahende Uebergewicht das Reich der Weiber zu verkünden, vielleicht ist dies + das tausendjährige Reich seyn, vielleicht wird dann der ewige Friede in den Thaten geschlossen und der ewige Krieg in den Träumen beginnt, das Wirken hat |95| dann einen Mittelpunkt, das Denken kennt aber dann die Wahrheit nicht mehr. Uns liegt jezt die Wahrheit im Gegensatz zwischen zweyen, ob es wohl noch eine höhere Wahrheit giebt, wo ein solches Verhältniß zwischen dreyen sich findet, daß diese Wahrheit dadurch nicht aufgehoben wird ist wohl gewiß vielmehr muß sie so darauf erbaut seyn wie die Stereometrie auf die Planimetrie. Daß dann auch der Raum mehr als drey Dimensionen haben muß und die Zeit mehr Evoluzionen als Vergangenheit Gegenwart und Zukunft und das Denken außer dem Subjekt und Objekt noch das dritte kennen muß, dem wir uns jezt nur unendlich |96| nähern ist wohl gewiß, also kann dann wohl in denselbem Raume den wir jezt bewohnen in derselben Zeit noch eine andre Welt seyn, so wie unendlich viele Flächen im Matematischen Sinn noch keine Dicke bekommen und also nichts weiter wie eine Anschauung von dem Körper bleiben, von dem wir doch gar nichts wissen würden, wenn wir nicht verständen was Dicke. Dieses löst das Problem der Evoluzion der Welten auf, der sterbende Körper erhält einer seits eine neue Dimension in seinem einen Pole, so versinkt da der andre Pol nach allen bisherigen Dimensionen, er zerstäubt und zerduftet. Er bekommt eine 5 6

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Ebenda, Teil 2, S. 897. Arnim: Briefwechsel 1788–1801 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 30, S. 143, Nr. 138.K. Von dem Brief ist nur das Konzept überliefert. Ebenda, S. 151, Nr. 144. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 228–230. Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethemuseum, Sign. B69, S. 95–103. Seitenwechsel ist mit Angabe der beendeten Seite in | | vermerkt. Handschriftenbeschreibung‚ Variantendarstellung und Einzelstellenerläuterungen erfolgen bei der Edition in der Weimarer ArnimAusgabe.

»Amazonenrepublik« und »Raum von vier Dimensionen«

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neue |97| Zeitevoluzion, unsre Perioden des Blutumlaufs, der Schlafzeit, der Reproduction des Wachsens Blühens und Sinkens haben sich in einer höheren aufgelöst. Durch die Kunst läst sich dieses ahnden, sie zeigt wie in der Mahlerey zwey Dimensionen alles geben kann, was dreye sonst dem Auge darbiethen, Musik und Bildhauerkunst geben den todten Stoff den Lebensausdruck des Lebenden, jene den flüssigen diese den festen (jene ist die Bildhauerey des Flüssigen (also der Liebe so wie diese Bildhauerey der Ehre)) Es scheint als wenn das Vergnügen der Baukunst auch nur darin liegt das in den Verhältnissen einer Dimension der Linie als Repräsentant der übrigen auch jene erinnert wird, wie bey den Zeichnungen von Umrissen denn die Anwendung der Farben |98| oder der Bildhauerey bey jener ist ganz unabhängig, so wie bey dieser der hinzugefügte Schatten und Licht, welches wiederum zeigt wie grössere Verhältnisse durch kleinere ausgedrückt werden können. Der Tanz endlig vollendet in allen seinen Zweigen das Kunstwerk, in seinem Gegensatze zur Dichtkunst, jener auswärts, diese inwärts sammelt eine Welt von Empfindung des Räumligen wie des Zeitligen diese in einem Punkte jene in einem Augenblick. Wozu nun die übrigen, wenn diese uns alles jenes darstellen können. So führt uns dieser Gesichtspunkt auf das Entgegengesezte, wie hier die Kunst von der Grenze des Lebens umschlossen dieses Leben durch eine Zusammenziehung auf einen kleinen Abschnit zu verbinden weiß |99| so giebt sie eben dadurch die Gewißheit einer Blüte die über dieses Leben selbst wiederum hinaus wächst. Sehr merkwürdig in dieser Rücksicht ist der Tod der Künstler und das sind freilig alle Menschen, aber doch die bestimmter, welche sich einer Kunst besonders gewidmet haben wie Klopstock der nun das höchste was er gedacht, gegenwärtig glaubte, so wie viele Menschen in diesen Augenblicken etwas hohes sagen was sie sonst nie erreichen konnten. Daher der Werth den wir auf lezte Reden der Verstorbenen legen. Wenn ich dies alles noch einmal überdenke, so finde ich daß so ausserordentlich dies manchen klingen mag, ich nichts [als] den allgemeinen Glauben an |100| Geister als Schatten der Verstorbenen erklärt habe, etwas was freilig als ein Wahn von den Philosophen leicht wegstreiten läst, aber das der Natur nach ganz nothwendig Diese Schatten sind eine wahre natürlige Mahlerey der Menschen, eine wahre Kunstäusserung aus dem Verluste aus der Noth etwas Höheres zu bilden, sie haben nur zwey Raumdimensionen und eine eingeschränkte Zeit der Erscheinung nur eine Gegenwart. Die wahren Schatten der Verstorbenen haben aber mehr Dimensionen und mehr Zeitverhältnisse wie wir gesehen und wie sie uns erscheinen das läst sich wohl weder sehen noch abmessen, es sind die Fasen unsrer Seele die von ihnen beleuchtet werden. Sehr merkwürdig ist es indessen |101| die Art wie die verschiedenen Völker ihre Schatten sich denken, wie einige sie lieblich gestalten, andre sie verzerren, einige Farbe, andre Sprache ihnen geben, wie noch andre ihre Gestalt verwandeln sie in Thiere übergehen lassen oder in Wolken, es lassen sich daraus mannigfaltige Schlüsse über den Zustand der lebenden Kunst unter diesen Völkern ziehen. Der Krampf ist der Uebergang alles Lebens, er verrichtet die höchste medizinische Kunst, der Schlaf ein allgemeiner Krampf in ihm werden sich also diese Kunstbildungen genauer darstellen. Es giebt Kanarienvögel die sich zwischen den Busen ihrer Herrin sich ein Lager aus ihren Flügeln decken, welche Träume welche Schatten und Lichter sie da finden, hat keiner erzählt, aber sie liegen stille da und wecken sie beym Morgenlicht mit Gesang, vielleicht sagen sie dann aus was sie geträumt haben, sie versteht es wohl. Gar sinnreich sind die Träume dem Verstand aller Unverständigen |102| aufzufinden ich habe oft behalten was mir als grosse Entdeckung vorkam im Traum, im Wachen kam es mir einfältig vor. |103|

Die hier nicht zu analysierende Aufzeichnung ist in ihrer Komplexität und spekulativen Energie dem analogisierenden und assoziierenden Denken Schellings, Schlegels, Ritters, Novalis’ und anderer Avantgardisten der Jahrhundertwende nahe, dem, was Novalis »Wechselrepraesentationslehre des Universums« nannte.10 Dessen 10

Novalis: Schriften Bd. 3: Das philosophische Werk II, S. 266.

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Fragmente vermischten Inhalts waren Ende 1802 in den von Tieck herausgebenen Schriften des jung Verstorbenen erschienen, und wenn Arnim auch Vorbehalte gegen die Novalis’schen Fragmente hatte,11 dürften sie ihn doch besonders zu Niederschriften ähnlicher Art angeregt haben. Mit der Aufzeichnung Arnims, in der er über einen Raum von »mehr als drey Dimensionen« spekuliert, konvergiert insbesondere ein etwa zeitgleiches Briefkonzept an Stephan August Winkelmann, das den Terminus »Ahndung« vor Winkelmanns Begriff der »Metamorphose« privilegiert.12 Der von Arnim angenommene multidimensionale Raum ist, wie die Untersuchungen Andermatts gezeigt haben, ein entgrenzter und unfester Raum, in dem auch Vorstellungen und Träume, Transzendentes und Transzendentales, das Geheimnisvolle, Jenseitige und Wunderbare Platz haben. Es ist der Raum der von »Ahndung« inspirierten Dichtung. Etwa fünf Jahre später rekurrierte Arnim in einer weiteren Aufzeichnung auf die Niederschrift im Taschenbuch. Die neue Aufzeichnung steht auf vier Doppelblättern, von denen er alle Seiten (1r-8r) mit Ausnahme der letzten (8v) beschrieben hat. Die beiden ersten (1r-4v) und die beiden letzten (5r-8v) Doppelblätter sind jeweils für sich archiviert,13 und auch editorisch ist der Zusammenhang aller bisher nicht erkannt worden. Die beiden ersten Doppelblätter wurden zuerst von Helene M. Kastinger Riley veröffentlicht14 und danach in der Arnim-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags ediert.15 Von den beiden letzten teilte Roswitha Burwick 1985 zwei Auszüge mit,16 durch welche die Arnimsche Hypothese von einem »Raume von vier Dimensionen« überhaupt erst bekannt wurde. Die Burwicksche Datierung in das Jahr 1828 ist bereits von Wingertszahn17 und Andermatt18 bezweifelt worden. Sie kann nun richtiggestellt werden. Denn die Konvergenz des Beginns der Aufzeichnung mit einer Stelle in Arnims Brief an Brentano vom 24. Februar 1808 ermöglicht eine Datierung in den Februar dieses Jahres, genauer vermutlich in die zweite Februarhälfte. Die Briefstelle lautet: Beaumont und Fletschers Theater von Kannegiesser übersetzt wird dir viel Vergnügen machen; merkwürdig ist die Darstellung der Weiber bey ihm und Schakspeare, so viel Verschiedenheit die Männer haben, die Weiber sind ihm alle entweder geil, trotzig, höhnisch, zoten witzig und superklug oder gut und schwach ohne alle andre Characterisirung; das verglichen mit Göthe.19

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Vgl. seinen Brief an Brentano, Mitte Februar 1803, in: Arnim: Briefwechsel 1802–1804 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 31, Nr. 287. Ebenda, S. 237, Nr. 300.K. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign. 03/254 und 03/258. Kastinger Riley: Ludwig Achim von Arnims Jugend- und Reisejahre, S. 96–98. Arnim: Schriften – Werke in sechs Bänden Bd. 6, S. 233–235. Burwick: Achim von Arnim: Physiker und Poet, S. 149f. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 230. Andermatt: »Raum von vier Dimensionen«. Romantisierter Raum bei L. Achim von Arnim. – In: Michel (Hrsg.): Symbolik von Ort und Raum, S. 17. Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. II, S. 508. Am gleichen Tag empfahl Arnim die Verdeutschung von Dramen der Shakespeare-Zeitgenossen Francis Beaumont und John Fletcher auch Bettina: »Von Beaumont und Fletschers Schauspielen ist eine hübsche Übersetzung von Kannegiesser, Berlin Braunes 1808, erschienen.« Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und Liebe, Bd. 2: 1806–1808, S. 153.

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Die Arnimsche Aufzeichnung lautet:20 Göthe schreibt uns einen Vorzug in dem Verhältnisse zum weiblichen Geschlechte vor den Alten zu. Aber nicht blos vor den Alten sondern selbst vor der letzten Kunstblüte unter Schakespeare, der mit seinen Bearbeitungen des englischen Theaters seine Zeit so vollständig wie Homer umfasst und Plato, Beaumont und Fletscher, die uns in einer neue[n] angenehme[n] Uebersetzung (Berlin Braunes 1808) sonst angenehm nahestehen liegen uns in der Darstellung der Weiber doch fremd wie Schakespeare. Wie mannigfaltig wissen sie das Charakteristische |1r| eigentümlicher Naturen frey vom Geschlechte in den Männern darzustellen, die Weiber bleiben immer unter dem Geschlechtsbegriffe, den sie sich von ihnen gemacht, entweder geil, trotzig, herrschsüchtig ohne Würde, zotenwitzig und superklug, alle Welt auf Heirathsgeschichte bringend oder gut und schwach. Wie reichlich wahr verschieden hat sie Göthe und andre unsrer Zeit dargestellt. Kommt jene Ansicht von der Königin Elisabeth von England? Sicher nicht, denn sie ist früher und später, statt die Weiber zu erniedrigen beschimpft sie vielmehr die Männer jener Zeit, welche die Weiber nach dem Untergange |1v| des Ritterthums aus dem einen Mittelpunkte der Begierde anschauen musten, eine Anschauung die unter uns meist nur betrogene oder erschöpfte Menschen haben, denen es auffallend ist wie Ausschweifungen die Weiber meist nur geistig selten körperlich vernichtet, daß noch immer viel starke Mädchen geboren werden aber weniger und schwächere Knaben. Die Beobachtung ist richtig in den geschwächten Ständen es war sogar ein Reich der Weiber über die Männer sehr wahrscheinlich, wenn nicht eine Revoluzion in Europa zwischengetreten |2r| wäre, die der geistigen Entwickelung wieder eine dauerhaftere Masse zugeknetet hätte. Sonderbar ist es, daß sich der Friede mit England so verzögert, wo die Weiber in einem wirklichen Anstreben gegen die Männer unter einander begriffen. Der Geist von Miß Wulstonekraft Weiberrechten ist eigentlich national und keineswegs erloschen. Ich fordre Fremde auf sich darüber zu erklären, was sie davon erfahren haben, ich mache sie aufmerksam auf das Zeichen der Männer, wenn die Frauen bey Tische |2v| aufstehen, auf die Zeichen der Weiber beim Theemachen, auf die grossen zweyspannigen Beichtstühle und hölzernen Ehestandsgefängnisse, welche sie Betten nennen. Beantwortet mir einmal, warum Engländerinnen ihre Schlafzimmer so ängstlich bewachen. Von dem allen sagen die Reisebeschreiber nichts, wir wissen wohl warum und erinnern sie nur an das Andreaskreutz, um ihnen unser Mitwissen des Geheimnisses kund zu thun. |3r| Ich will nur die eine Frage beantworten: Was wäre daraus geworden, wenn das Reich der Weiber über ganz Europa sich erstreckt hätte? Wir trauen den Weibern keine Wahrheit zu, weswegen wir sie auch selten damit bedienen, es wird viel gesprochen von der Unrechtmässigkeit der Lüge, aber wenn nun keiner Wahrheit verlangt. Wahrscheinlich würde also dann keine Wahrheit verlangt werden, sondern nur eine Art Eindruck wie der von Gemählden, wenn die Weiber Richterinnen würden. Dadurch würde der ewige Friede in der |3v| Tat geschlossen, der bisher nur geträumet wurde und der ewige Krieg im Traume würde dagegen beginnen. Ich behaupte dadurch nicht, daß darum keine Wahrheit in der Amazonenrepublik wäre, nur eine andre. Unsre heutige Wahrheit liegt im Gegensatze zwischen zweyen jene neue Wahrheit könnte vielleicht im Verhältniß zwischen dreyen liegen, was uns jezt nur Geheimniß oder Scherz ist; diese verhielte sich zu unsrer Wahrheit wie Stereometrie zur Planimetrie |4r| Daß dann auch der Raum mehr als drey Dimensionen haben muß und die Zeit mehr Evoluzionen als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das Denken ausser dem Objekt und Subjekt noch ein drittes kennen muß ist wohl gewiß. Nähern wir uns vielleicht dem? In demselben Raume, den wir jezt erfüllen kann also vielleicht ein andrer höherer Raum coexistiren für höhere Anschauung die Form, dasselbe mit der Zeit. Berühren können wir den ebensowenig |4v| als tausend mathematische Flächen irgend eine Dicke geben, woher weiß ich aber davon und kann ihn ahnden? Aus meinem ideellen Pole, der eben darin begründet ist, der da seine Zeitrevoluzion und seinen Blutumlauf hat, in jenem Raume von vier Dimensionen liegt 20

Zur Wiedergabe vgl. Anm. 9.

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alles aufgespeichert was wir zu vergessen scheinen, darum scheint es nur daß unsre Gedanken keine Zeit brauchen, freilich keine Zeit wie diese. Nur hieraus läst sich die Evoluzion der Welt durchs |5r| Sterben erklären, sichtbar wägbar geht nichts fort, sichtbar wägbar kommt nichts bey der Belebung und doch sind alle letzten Gesetze dieses Sichtbaren Wägbaren ein Räthsel, weil sie jenseits bestimmt sind. Also im Sterben, wo der eine Pol versinkt zu blossen Dimensionen, gewinnt der andre die vierte in einem neuen Raume, in einer neuen Zeit in der er nach der Idee beständig fort gelebt hat, wo er das Beste wie das Schlimste, was ihn geistig beschäftigt lohnend und |5v| strafend wiederfindet. Wahrscheinlich sind wir früher in einem Raume von zwey Dimensionen gewesen, daher die unerklärlichen Eigenthümlichkeiten der Menschen. Ich erwähnte schon daß ich dieses durch geistige Berührung ahnde, aber alle geistige Berührung ist nur Ahndung, wenn es sich nicht darstellen sollte den Sinnen und das geschieht in der Kunst. Warum ist ein gutes Bildniß mehr als der Mensch selbst? Wie kann ein Mensch darin eine ganze Welt zeigen? |6r| Weil inso fern ihm der ideelle Pol geöffnet der Mensch mehr umfasst, als er ihm und in aller Welt sichtbar, er eröffnet allen Wesen diesen ideellen Pol; daher selbst bey gewöhnlichen Menschen ihre Sterbereden merkwürdig, wo ihnen das Beste was sie gedacht vortrit in dem Annähern zur höheren Dimension. Für Künstler muß es ein sehr reicher Augenblick seyn, ein Beyspiel giebt Klopstock. Ich habe also hier bewiesen, wo irgend |6v| ein Glaube welcher Art er sey, da ist der Unsterblichkeitsbeweis gegeben, wenn er auch nicht geführt wird, es braucht also auch keinen darum bange zu seyn, eben so wenig um die Geister, deren ich mich angenommen habe. Die Gespenster finden eben dadurch nur unter die merkwürdigen Fasen unsrer Seele zurück, deren nationelle Verschiedenheit blos historisch merkwürdig, es ist eine Abirrung des |7r| producierenden Kunstsinns, lieblich und erfreulich sind sie sicher jedem echten Künstler, jeder edlen Seele. Der Krampf ist der Uebergang aller Lebensperioden, er vernichtet zuletzt alle medicinische Kunst, der Schlaf ein allgemeiner Krampf, in ihm werden sich also diese Aberrazio der Kunstbildungen besonders darstellen, es giebt Kanarienvögel die sich zwischen dem Busen ihrer Herrin mit ihren |7v| Flügeln decken, was die wohl träumen? Ich weiß es nicht, aber sie liegen ganz still bis sie dem Morgenlicht mit Gesang ihren Traum verkünden, sie haben mich auch auf diese Lehre geholfen. Sehr sinnreich sind die Träume, der Verstand alles Unverständigen; so wie uns das oft sehr unverständig vorkommt, was uns darin entzückte. Hier noch ein Lied der Art |8r|

Arnim thematisiert wie in der früheren Taschenbuch-Aufzeichnung zunächst das Geschlechterverhältnis, aber die Akzente sind unterschiedlich gesetzt. In der frühen geht es primär um die anthropologische Verhältnisbeziehung, in der späteren um deren literarische Gestaltung. Dabei bezieht Arnim sich auf Goethe, die elisabethanischen Dramatiker, die englische Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und vermutlich auf Kleist, um eine Entwicklungstendenz hin zu Akzeptanz und Dominanz der Frauen festzustellen und sogar die Möglichkeit einer »Amazonenrepublik« ins Auge zu fassen. Dieser Terminus kommt in der Taschenbuch-Version nicht vor, in der das »Reich der Weiber« thematisiert wurde. Die Annahme liegt nahe, dass Arnim zu dem Kompositum »Amazonenrepublik« und überhaupt zur Amazonenthematik21 von Kleists Drama Penthesilea inspiriert wurde, dessen Titelheldin die Fürstin der Amazonen ist. Das Stück erschien im Juli 1808, ein Vorabdruck mehrerer Szenen kam jedoch bereits im Januar jenes Jahres im ersten Heft der Zeitschrift Phöbus heraus, das Arnim, der zur selben Zeit seine Zeitung für Einsiedler plante, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht entgangen sein wird.22 Der 21 22

Vgl. Ziegler: Arnims Amazonen, S. 169–186. Kurz nach dem 1. März 1808 erwähnt Brentano in einem Brief an Arnim den »steife[n]

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Erscheinenstermin des ersten Phöbus-Heftes passt zu dem Datum der Briefe an Clemens und Bettina Brentano vom 24. Februar, aus dem sich das entscheidende Datierungskriterium für die Aufzeichnung ergibt. Vor 1808 scheint in Arnims Texten – mit Ausnahme einer frühen Schülerarbeit aus den Jahren 1793/9423 – das Wort »Amazonen« nicht vorzukommen, 1808 jedoch steht es in der Zeitung für Einsiedler24 und ein Jahr später im Wintergarten. Bereits der erste Satz der Aufzeichnung Arnims zielt in die feministische Richtung. Die Äußerung Goethes, die er referiert, ohne sie nachzuweisen, steht in dem 1805 erschienenen Buch Winkelmann und sein Jahrhundert, in dem Goethe einen »merkwürdige[n] Unterschied« zwischen Antike und Moderne feststellt: »Das Verhältnis zu den Frauen, das bei uns so zart und geistig geworden, erhob sich kaum über die Grenze des gemeinsten Bedürfnisses.«25 Die folgenden Bezugnahmen auf das elisabethanische Theater einerseits, Mary Wollstonecraft andererseits konkretisieren diese Feststellung, indem sie schon für die zwei Jahrhunderte, die seit der Shakespearezeit vergangen sind, auf einen enormen Wandel verweisen. Arnim besaß nicht nur das 1792 erschienene Hauptwerk der Wollstonecraft, A Vindication of the rigths of woman, in der dritten Auflage von 1796, sondern auch den erschütternden Bericht über ihr Leben und Sterben, Memoirs of the author of A Vindication of the rights of woman, den ihr Mann William Godwin 1798 veröffentlicht hatte.26 Mit der im Verhältnis zur Taschenbuch-Eintragung intensivierten Bezugnahme der 1808 entstandenen Aufzeichnung auf literarische Werke ist eine Literarisierung der Aufzeichnung selbst verbunden. Der Verfasser schiebt nun einen Erzähler oder Informator vor, der sich in ihrem Verlauf mit den Personalpronomen der ersten Person Singular und Plural verstärkt bemerkbar macht und am Ende mit der Ankündigung »Hier noch ein Lied der Art« zu erkennen gibt, dass er einen fiktionalen oder halbfiktionalen Text zum Besten gibt, dem ein weiterer folgen soll. Die Einführung einer erzählenden oder mitteilenden Instanz hat sicherlich die Funktion, die Verantwortung für das Mitgeteilte vom Verfasser zu distanzieren, und diese

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sächsiche[n] Phöbus« (Arnim/ Brentano: Freundschaftsbriefe, S. 514), voraussetzend, dass der Freund das neue Journal kennt. Arnim: Schriften der Schüler-und Studentenzeit – Werke und Briefwechsel (Weimarer ArnimAusgabe), Bd. 1, S. 49. Im 55. Sonett der Arnimschen Sonetten-»Beylage« (Arnims Tröst Einsamkeit, S. 380). Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens Bd. 6.2, S. 353. – In der von der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar verwahrten Arnim-Bibliothek sind zwei Exemplare der Erstausgabe von Winkelmann und sein Jahrhundert überliefert (Sign. B 2720, B 2721). Dass Arnim sich positiv auf das Goethesche Winckelmann-Buch bezieht, ist rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert, denn es gehörte nicht zu den Werken Goethes, denen die Romantiker ansonsten Referenz erwiesen. Besonders im Schlegel-Kreis war es verhasst, weil Goethe sich mit ihm zur heidnischen Antike statt zu Christentum und Mittelalter bekannte. (Vgl.: Körner: Romantiker und Klassiker, S. 165, 200f.; Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens Bd. 6.2, S. 1054f.) Beide Bücher sind in der Arnim-Bibliothek überliefert: Arnim: Schriften der Schüler- und Studentenzeit – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 1, S. 23, Sign. B 2556 und B 519.

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Instanz dürfte nicht zufällig in dem Maße auffällig werden, in dem der spekulative Charakter des Mitgeteilten zunimmt. Über die Assoziationsbrücke einer Veränderung der Wahrnehmungsweise durch eine »Amazonenrepublik« ist mit anderen theoretischen Annahmen auch die Vorstellung von einem »Raume von vier Dimensionen« mit der Emanzipationsthematik verbunden. Eine erzählende oder mitteilende Zwischeninstanz hätte Arnim kaum eingeführt, wäre mit der Überarbeitung der Aufzeichnung nicht eine Veröffentlichung beabsichtigt gewesen. Vermutlich schrieb Arnim sie zunächst für seine am 1. April 1808 mit der ersten Nummer erscheinende Zeitung für Einsiedler, die er seit Anfang des Jahres und wohl besonders im Februar intensiv vorbereitete. Wahrscheinlich sollte die Aufzeichnung einem größeren Erzähl- oder Mitteilungszusammenhang integriert werden, vielleicht einer Vorstufe jener Suite von locker miteinander verbundenen Texten, die in der Zeitung für Einsiedler seit dem 23. April 1808 unter dem Titel Scherzendes Gemisch von der Nachahmung des Heiligen mehrere Nummern durchzog. Zu der Veröffentlichung kam es jedoch erst ein Jahr später im nächsten realisierten Großprojekt Arnims, und dafür wurde der Text noch einmal wesentlich überarbeitet. Mit der neuen Version leitet der Erzähler des Wintergartens im Die neuen Amazonen untertitelten Fünften Winterabend von der Geschichte Mistris Lee zu dem Romanzenzyklus Nelson und Meduse über. Die Geschichte und die Romanzen werden von einem reisenden Lord mitgeteilt, doch beansprucht für die Romanzen auch der Erzähler, der sie beim Aufschreiben verändert habe, einen Verfasserschaftsanteil. Seine Überleitung besteht im wesentlichen aus der Wiedergabe eines Dialogs zwischen ihm und dem Lord, so dass die Verantwortung für das Erzählte mehrfach gebrochen und zudem durch unklare Übergänge verundeutlicht wird. Die Übergangs-Passage wird im Folgenden nur auszugsweise wiedergegeben:27 Es ist ein entsetzliches Geschlecht die Weiber, so schloß der Engländer, […] erkennt und seht nur an den schwarzen Haaren, sie mögen sie noch so herrlich mit Perlen durchwinden, die fleischfressenden Raben, die über dem Meeresstrudel schweben, und in anscheinender Gleichgültigkeit auf Opfer warten, die ihnen die Gesellschaft herbeizieht. Ich muste herzlich lachen über den Vergleich, aber die Engländer haben das noch seit Schakespeare behalten, daß sie in den Weibern bloß das Geschlecht sehen, das ist aber im Manne eben so schlecht oder eben so gut, denn beide Worte gehören so wenig dazu, wie die Rührung meines chemischen Professors zu den Alkalien, wenn er von ihrem traurigen Schicksale sprach, mit den Säuren Neutralsalze zu bilden. Wenn ein Mensch in seinem Leben je ganz Thier seyn kann, so kann er nie wieder ganz Mensch werden, und das scheidet die beiden ewig streitenden Raçen der Menschen, in denen die Liebe nur ein augenblicklicher Waffenstillstand für den ewig wiederkehrenden Zank ist. – So glauben Sie wohl gar, fragte er, daß die Nationen nur als Repräsentanten der verschiednen beiden Geschlechter nationell gegen einander kämpfen, z. B. Engländer und Franzosen. – Warum sollte ich es nicht auch so ausdrücken können, es wird sich 27

Arnim: Der Wintergarten, S. 239f. – Die Herausgeber von Arnims Schriften stellen zwar in einer Anmerkung fest, dass Äußerungen in dem von ihnen mitgeteilten Teil der Aufzeichnung mit der Stelle im Wintergarten konvergieren, nehmen aber merkwürdigerweise trotzdem an, »daß es sich bei diesem Text möglicherweise um einen Vortrag handelt, den Arnim vor der Deutschen Tischgesellschaft gehalten hat, also erst im Jahre 1811 oder später« (wie Anm. 15, S. 1168).

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am Ende zeigen, wer männlicher gefochten, es sei denn, daß in Europa endlich eine Herrschaft der Weiber alles vereinte, was mir sehr wahrscheinlich wird, wenn ich sehe, wie die Weiber seit der Mistris Wolstonecraft über der Männer Ungerechtigkeit klagen, und sich so schön auswachsen und ausbilden gegen die Männer, die ihr Dasein gar keiner Verschönerung und körperlichen Vollendung mehr kräftig und werth achten. – Nun, nun, sie ziehen die Siebenmeilen-Stiefeln an, ich kann nicht mitkommen, lassen sie uns lieber von unsrer schönen Sängerin reden, die wohl verdiente, die ganze Amazonenrepublick zu regieren, und doch ist sie nichts gegen die berühmte Meduse, die uns wunderbar Sang und Tanz zu vereinigen wuste, als wär es nur eine Kunst, und die wirklich zur Amazone geworden ist. So kam er allmälig auf Ihre Geschichte [...]

Die Wintergarten-Version macht plausibel, warum in der frauenemanzipatorischen Thematik der Aufzeichnung von 1808 die englischen Bezugnahmen dominieren, und da ein früher Entwurf des Stoffes der Mistris Lee mit dem Titel Der Zufall. Geschichte der Mrs Ligh bereits in demselben Taschenbuch aus den Jahren 1803/04 steht,28 in dem Arnims mit dem Geschlechterverhältnis verbundene Eintragung über einen Raum von »mehr als drey Dimensionen« sich befindet, ergibt sich auch ein entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen diesen Niederschriften aus der Zeit seines England-Aufenthalts. Merkwürdig bleibt erstens, dass Arnim seine Vorstellung von einem Raum mit mehr als drei Dimensionen ausgerechnet zusammen mit Reflexionen insbesondere zur Geschlechter- und Emanzipationsproblematik verschriftlicht hat, und zweitens, dass die Raumvorstellung dort, wo die Reflexionen erzählerisch zur Veröffentlichungsreife gediehen sind, gar nicht mehr zur Sprache kommt. Dies dürfte vor allem darin Ursache haben, dass Arnim in seinen fiktionalen Prosa-Veröffentlichungen eine Leichtigkeit und Lockerheit des Erzählens anstrebte, das durch theoretische Passagen gefährdet, vereindeutigt und angreifbarer geworden wäre. Wahrscheinlich wollte er das, was ihm besonders wichtig war, mit Rücksicht auf den Erwartungshorizont des durchschnittlichen Lesepublikums nicht unvermittelt mitteilen, vielleicht aus Zweifel an der Möglichkeit unmittelbarer Mitteilbarkeit komplizierter Sach- und Vorstellungsverhalte überhaupt und im Bewusstsein, dass diese eher indirekt, in Verfremdungen und Brechungen der Erzählperspektive und im Vertrauen auf das Assoziations- und

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Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethemuseum, Sign. B69, S. 70f. Bereits ediert Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 82f. Die Hauptquelle Arnims für seine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit fußt, hat Sheila Dickson ermittelt: An Apology for the Conduct of the Gordons, S. 300–321. Vgl. auch den bisher übersehenen Bericht in der von Friedrich Justin Bertuch herausgegebenen Zeitschrift: London und Paris, Bd. 12, Stück 8, Weimar 1803, S. 314–323. Ihm stehen die Schlagzeilen voran: »Entführung der Mrs. Leigh durch die Gebrüder Gordon. Besondere Umstände bei ihrer Verhaftung. Große Anstalten zu ihrem Verhör vor der Grand-Jury in Oxford. Rede des Richters Lawrence. Endurtheil«. Den Bericht hat vermutlich Johann Christian Hüttner, England-Korrespondent von »London und Paris«, eingesandt. Arnim wird der Beitrag kaum entgangen sein. Zu seiner Kenntnis der Zeitschrift vgl. den Londoner Brief an Brentano vom 5. Juli 1803 (Arnim: Briefwechsel 1802– 1804 – Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe), Bd. 1, Nr. 314, Z. 163–174 und Erläuterung). Datierungsrelevant ist das Erscheinen des Stücks mit dem Bericht über Mrs. Leigh: vermutlich erst April/Mai 1804, jedenfalls nicht vor dem 16. März 1804, denn dieses Datum hat der davor plazierte Beitrag.

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Ergänzungsvermögen kompetenter Leser kommunizierbar seien. Damit kann die Absicht verbunden gewesen sein, Geheimnisse zu wahren. In Arnims fiktionalen Veröffentlichungen geht die vierdimensionale Raumvorstellung in die Raumdarstellung ein und ist in ihr verborgen. Es handelt sich also nur scheinbar um eine Reduktion von Komplexität im Verhältnis zu rekonstruierbaren Prätexten. Bei Interpretationen fiktionaler Werke sollten diese nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Das hat allerdings die komplette Edition der Taschenbuch- und sonstigen Aufzeichnungen Arnims und damit den zügigen Fortgang der Weimarer ArnimAusgabe zur Voraussetzung. Dass die vorgestellte Textgenese kein Einzelfall im Arnimschen Œuvre ist, sei abschließend an einem an anderer Stelle auszuführenden Beispiel angedeutet. Es betrifft die Verarbeitung des Freitodes der Günderrode in Briefen, Aufzeichnungen und im fiktionalen Werk Arnims. Auf einen Brief, den Bettina ihm darüber zwischen dem 20. und 24. August 1806 geschrieben hatte, reagierte er zunächst mit einem sechsseitigen Antwortkonzept, dann mit der Ausfertigung und schließlich mit einem Exzerpt der Ausfertigung. Diese drei Versionen weichen voneinander ab, die Ausfertigung ist vor allem auf die Adressatin bezogen, das Exzerpt auf den Schreiber. Wie sehr Arnim die Selbstmordproblematik anlässlich des Todes der Günderrode beschäftigte, erhellt aus einer weiteren Verarbeitungsstufe, auf der er die Briefversionen fiktionalisierte: einem titellosen Text, dessen Protagonist »Heldenwang« heißt. Schon der Anfang macht den Zusammenhang mit den Briefversionen evident. Das Konzept an Bettina beginnt: »Der sanfte blaue Blick der armen Günterode begegnet mir sicherer, nun sie nicht mehr sprechen kann, sie sieht freyer und ohne Zurückhaltung in die Welt, wir fühlen uns enger befangen, schlagen die Augen nieder und an unsre Brust […]«.29 Der Anfang des »Heldenwang«-Fragments lautet: »Der sanfte blaue Blick unseres Heldenwang’s begegnet mir sicherer […]«.30 Nun schreibt jedoch nicht mehr Arnim an Bettina, sondern ein fiktionaler Adressant an einen fiktionalen Adressaten, und die Günderrode ist zu einem fiktionalen Freund verändert. Arnim verfremdet den Freitod und verwandelt ihn in Literatur. Die Ironie, die mit der Übertragung verbunden ist, kommt vor allem im Namen des Protagonisten zum Ausdruck, mit dem zugleich die Tat problematisiert wird. Das »Heldenwang«-Fragment entstand 1808 vermutlich ebenfalls für die Zeitung für Einsiedler, Arnim hat es darin jedoch auch nicht veröffentlicht. Erst in dem 1812 erschienenen Erzählzyklus mit Melück Maria Blainville als zweiter Erzählung fand er eine angemessene Darstellungsweise für die Suizid-Thematik und den Tod der Günderrode. Die Dichterin wird kontrastiv zu dem Selbstmord des Arztes Frenel idealisiert, der in Melück Maria Blainville in die Untaten der französischen Revolutionäre verwickelt ist. Die Poesie ist nun nicht mehr wie im »Heldenwang«-Fragment von der Reflexion dominiert. Diese ist Gestaltung geworden und in die Beziehungen zwischen den Teilen des Zyklus eingegangen.

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Handschrift: Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Sign. 7228. Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign. 03/172.

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Himmel und Halle: Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte in Achim von Arnims Studenten- und Pilgerdrama

1. Von der Zeit zum Raum Verglichen mit der Zeit, der anderen grundlegenden Anschauungsform unserer Welterfahrung, hat der Raum nur wenig Beachtung durch die Literaturwissenschaft gefunden. Literarische Techniken der Zeitgestaltung gehören zum kleinen Einmaleins der Erzähltextanalyse, mit der Bestimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit, von Erzählfolge, Zeitraffung und Zeitdehnung.1 Darüber hinaus wurden aus der Zeitstruktur literarischer Texte wiederholt Theorien mit Grundlegungsanspruch entwickelt, so von Emil Staiger2 oder von Käte Hamburger und Harald Weinrich.3 Paul Ricœur bestimmt die Literatur sogar von einem anthropologischen Bedürfnis nach Refiguration der Zeit her, soll heißen nach Integration der in die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerfallenden menschlichen Zeiterfahrung.4 Derartig ambitionierte Aufmerksamkeit ist den Raumdimensionen der Literatur nicht zuteil geworden. Wolfgang Kayser hat vom Raumdrama als einem von drei Dramentypen gesprochen – neben dem Figuren- sowie dem Handlungsoder Geschehensdrama.5 Schon bei Kayser wenig profiliert,6 hat sich der Begriff aber nicht durchgesetzt. Prominenter ist der ›Chronotopos‹ Michail Bachtins geworden.7 Gemeint ist die Verbindung einer Handlungsfolge in der Zeit mit einer Raumkonstellation – so wie eine Pilgerfahrt ein Handlungsmuster darstellt, das sich notwendig räumlich entfaltet. Einen Vorrang von Raumhinsichten in der Literaturwissenschaft kann die beachtliche Karriere des Chronotopos freilich kaum belegen,

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Vgl. die Dominanz von Aspekten der Zeitgestaltung bei Gérard Genette, dem einflussreichsten Autor der neueren Narratologie: Die Erzählung, S. 21–114. Nahezu gleichberechtigt wird die Raumdimension erst in David Hermans Kognitiver Narratologie behandelt, vgl. Herman: Story Logic, S. 263–299. Vgl. Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Hamburgers Logik der Dichtung bestimmt das literarische Erzählen bekanntlich von dessen präteritalem Tempus her, das kein Vergangensein, sondern Fiktivität bedeute, was Weinrichs Tempus-Buch zur Unterscheidung von erzählter Welt (im Präteritum) und besprochener Welt (im Präsens) ausbaut. Vgl. Ricœur: Temps et récit; Zeit und Erzählung. Bd. 2. Vgl. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 368–373. »Als Beispiel« führt Kayser Wallensteins Lager an, wobei er selbst einschränkt: »wenn wir es isolieren« (ebenda, S. 370), nämlich davon absehen, dass das »bunte Nebeneinander« des Stücks auf die noch nicht auftretende Titelfigur der Wallenstein-Trilogie ausgerichtet ist. Vgl. Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.

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bildet der Raum hier doch nur eine Dimension, die der Handlung funktional zugeordnet wird, zunächst als deren notwendiger Rahmen und darüber hinaus als Veranschaulichung von deren Problem- und Bedeutungsgehalt. Das literaturtheoretisch vielleicht größte Gewicht hat die Raumdimension bei Jurij M. Lotman erhalten. Auf Bachtin aufbauend, bestimmt Lotman das entscheidende »Ereignis« einer literarischen Handlung als Überschreitung einer »Grenze«: damit gemeint ist primär eine semantisch fassbare Überschreitung der gegebenen Ordnung, die sich häufig jedoch räumlich konkretisiere.8 Wahrscheinlich hat das geringere Gewicht von Raum- gegenüber Zeitaspekten seine guten Gründe: Eine Zeitdimension gewinnen literarische Texte bereits in ihrer Lektüre, und diese Zeit des Gelesenwerdens ist nichts, was ihnen äußerlich wäre, sondern bildet, seit langem als ›Erzählzeit‹ terminologisiert, das Widerlager der erzählerischen Zeitgestaltung. Einen derartig engen Bezug zwischen dem Raum, in dem ein Text gelesen wird, und den dargestellten Räumen gibt es nicht oder allenfalls, weitaus kontingenter, im Verhältnis zwischen dem gespielten Raum eines im Theater aufgeführten Dramas und dem jeweiligen Bühnenraum.9 Das Zeitgestaltungspotential des Erzählers ist bis zur gängigen Münze auktorialer Zitate (der Erzähler als »raunender Beschwörer des Imperfekts«10) bekannt. Wer hingegen spricht vom Erzähler oder Dramatiker als einem Architekten von Raumfolgen? Nun wurde vor einigen Jahren ein »topographical turn« ausgerufen, auch von einem »spatial turn« ist die Rede.11 Was mit diesen Schlagworten zusammengefasst wird, geht in aller Regel nicht von jenem Forschungsdefizit aus, das gerade im Vergleich mit dem poetologischen und literaturtheoretischen Rang der Zeitdimension angedeutet wurde. Das gewachsene Interesse für die Raumdimension von Literatur dürfte vielmehr mit allgemeinen intellektuellen, gesellschaftlichen, politischen Umorientierungen zusammenhängen. Die großen Zeitperspektiven – Utopien, Geschichtsphilosophien – schienen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus erledigt. Mit der Globalisierung rückte statt dessen die Raumdimension in den Vordergrund. Bei den postkolonialen Referenzautoren des ›topographical turn‹ wie Homi K. Bhabha (The Location of Culture, 1994)12 wird dieser außerliterarische Einfluss unmittelbar deutlich. Man könnte nun meinen, dass die Bedingtheit des ›topographical turn‹ durch Veränderungen in der außerliterarischen Weltwahrnehmung zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für literarische Bezüge auf reale Orte führt, gewissermaßen gegenläufig zu jener Selbstbezüglichkeit, die für den zuletzt vorherrschenden dekonstruktiven Blick auf literarische Texte charakteristisch ist.13 Die Vokabel ›topogra8 9 10 11

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Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 327, 332. Vgl. Fulda: »Breter, die die Welt bedeuten«. Bespielter und gespielter Raum. Mann: Die Kunst des Romans, S. 349. Vgl. Weigel: Zum ›topographical turn‹; Borsò/Görling (Hrsg.): Kulturelle Topografien; Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur; Stockhammer (Hrsg.): TopoGraphien der Moderne. Vgl. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Auf eine solche »Geographie der Literatur« zielt das Göttinger Projekt »Schauplätze – Handlungsräume – Raumphantasien. Ein literarischer Atlas Europas« (http://literaturatlas.eu/index.html, besucht am 13.11.2008).

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phisch‹ weist indes nicht allein auf Orte oder Räume, sondern ebenso auf deren Aufzeichnung. Und nicht erst bei Reisebeschreibungen oder einer Kartierung, also bei bewusst eingesetzten Aufzeichnungstechniken, beginnt der Einsatz von Kulturtechniken. Vielmehr unterscheiden die Theoriegewährsleute des ›topographical turn‹ grundlegend zwischen Orten als physikalisch messbaren Positionen und Größen und Räumen als personal angeeigneten Orten: als Orten, »mit de[nen] man etwas macht«.14 Mit der terminologischen Unterscheidung von ›Orten‹ (lieux) und ›Räumen‹ (espaces) stammt diese Betonung der Konstruktivität jeglicher personal angeeigneter Räumlichkeit von Michel de Certeau. Dass Räume konstruiert werden, jedenfalls in ihrer Wahrnehmung und Nutzung, dass Räumlichkeit also ein Produkt von Sichtweisen, Beschreibungen und Handlungen ist, die recht unterschiedlich ausfallen können, bildet aber die generelle Prämisse des ›topographical turn‹. Kulturwissenschaftlich sei nach den Diskursen und Praktiken zu fragen, »die den Raum organisieren«.15 Übrigens wird die Konstruktivität von Räumen bereits in der sozialwissenschaftlichen Raumtheorie so formuliert, dass literaturwissenschaftliche Analysen sich leicht anschließen lassen. Der Ethnologe Marc Augé begreift den kulturell erfahrbar gemachten Raum als versprachlichten: »Der Ort erfüllt sich durch das Wort«.16 Theoretisch ist die Unterscheidung zwischen dem ›reinen‹ Ort und dem personal angeeigneten Raum nicht ganz konsistent, weil die Bestimmung von Orten, auch wenn sie mit Hilfe objektivierender Techniken wie Physik oder Geometrie betrieben wird, nicht unabhängig von menschlichen Beobachtern erfolgt. Gleichwohl ist der mit der Unterscheidung von lieu und espace bezweckte Hinweis auf die diskursiv-praktische Konstruktion von Räumen wichtig, und zwar auch für die Untersuchung literarisch dargestellter Räume. Denn sie schützt vor dem Missverständnis, außerhalb fiktionaler Texte hätte man es mit fixen, eindeutig ›verortbaren‹ Räumen zu tun. Die begriffliche Unterscheidung von ›Orten‹ und ›Räumen‹ übernehme ich dagegen nicht, da es der Literatur- oder Kulturwissenschaftler ohnehin ›nur‹ mit ›Räumen‹ (im Sinne Certeaus) zu tun hat.

2. Gespielte Räume – erzählte Räume, Realräume – Transzendenz Die Einladung zu diesem Kolloquium bat um Beiträge, die bei den »›realen‹ Räumen« in den Texten Arnims und anderer romantischer Autoren ansetzen, um deren »Symbolfunktion« zu erschließen. Gemeint sind wohl nicht unbedingt Räume der außerliterarischen Realität, auf die romantische Texte Bezug nehmen, sondern die fiktional gesetzten Räume, in denen literarische Figuren sich bewegen (wie Zimmer, Kirchen, Wälder, Landschaften…), im Unterschied zu den bloß von ihnen imaginierten »Räumen des Inneren« oder der Psyche (genannt werden die be14 15 16

Certeau: Kunst des Handelns, S. 218 u. 217. Ebenda, S. 217. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 92; vgl. Certeau: Kunst des Handelns, S. 218: »Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird«.

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gehbaren Hirnhöhlen, die Brentano und Görres entwerfen17). Dem folgend, setzt der vorliegende Beitrag bei Handlungsschauplätzen an, allerdings solchen, die zumindest teilweise auf außerliterarisch reale Räume verweisen. In Arnims Werk bietet sich einem solchen Ansatz vor allem das Doppelschauspiel Halle und Jerusalem an.18 Hier signalisiert bereits der Titel den Bezug auf außerliterarisch reale Orte. Auf diese Raumdimension nicht zu verzichten, ist erforderlich, um die volle Spannweite literarischer Raumbezüge in den Blick zu bekommen. In Arnims Doppeldrama ist diese Spannweite besonders groß, denn sie reicht von erfahrbaren Realräumen (erfahrbar wohlgemerkt für die Rezipienten, nicht nur fiktiv für die Figuren) bis zu transzendenten Räumen.19 Halle und Jerusalem erbringt damit für die menschliche Raumerfahrung bzw. -imagination eine ähnliche Integrationsfunktion, wie Ricœur sie der erzählerischen Refiguration für die Zeiterfahrung zumisst. Allerdings scheint die Wahl dieses Dramas mit einer anderen Akzentsetzung des Einladungstextes in Konflikt zu geraten, nämlich mit dessen Frage nach der narrativen Modellierung von Räumen. Szenenanweisungen leisten allenfalls partiell dasselbe wie narrative Raumentwürfe, nicht nur weil sie in aller Regel deutlich knapper und grober ausfallen als erzählerische Beschreibungen der Szenerie.20 Vor allem lassen sie sich, an den Anfang einer Szene(nfolge) gesetzt, nicht so eng mit den Wahrnehmungen oder dem Charakter einer Figur oder einer sekundären Bedeutungsebene verbinden, wie es einem Erzähler möglich ist, der die Beschreibung von Räumen, die Vorstellung von Figuren sowie Andeutung von symbolischen Bedeutungen direkt ineinander blenden kann (man denke an die Wohnung von Behrens im Zauberberg oder das Rom-Kapitel im Taugenichts). In Halle und Jerusalem

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Vgl. Lange: Architekturen der Psyche, S. 214–218. Halle und Jerusalem erschien 1811, entstanden ist es im wesentlichen 1809, also geraume Zeit nach Arnims Studienaufenthalt in Halle 1798/99, gewidmet ist es »C. Brentano und J. Görres […] zur Erinnerung guter und böser Tage in Heidelberg«. In der Weimarer Arnim-Ausgabe ist das Drama noch nicht ediert; Ulfert Ricklefs, der Bearbeiter des Bandes, hat als Grundlage seines Kommentars aber eine Interpretation vorgelegt, die zugleich die umfassendste Analyse des Stücks überhaupt darstellt, vgl. Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹. Zitiert wird nach der Ausgabe (auf der Grundlage des Erstdrucks) von Paul Kluckhohn in der Reihe Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, mit Seiten- und ggf. Akt- und Szenenangabe im laufenden Text. Transzendente Räume sind der Teil literarischer Raumbildung, der vom Instrumentarium der aktuell aufblühenden Forschung zur ›Geographie der Literatur‹ nicht erfasst wird; vgl. dazu Piatti: Die Geographie der Literatur. Indem es vorhandene Ansätze mustert und in Beziehung setzt sowie ein mehrstufiges Forschungsprogramm einschließlich einer differenzierten Terminologie vorschlägt, bedeutet Barbara Piattis Buch einen großen Schritt nach vorne in der literarischen Raumforschung. Innovativ ist auch die enge Verknüpfung mit der Kartographie, die zugleich allerdings eine Restriktion bedeutet, weil sie Realräume (»Georäume«), die in literarische Fiktionen »importiert« werden, privilegiert. Notwendigerweise nicht berücksichtigt werden hingegen Räume, die gar nicht von dieser Welt sind, und zwar nicht nur, weil sie ›erfunden‹ sind, sondern weil sie unserer Raumerfahrung nicht entsprechen (wie eben transzendente Räume). Zum Nebentext als narrativem Moment des Dramas vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung.

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beschränkt sich die Raummodellierung aber gar nicht auf Szenenanweisungen und die übliche Ergänzung durch sog. ›gesprochene Kulissen‹, also Szeneriehinweise im Dialog der Figuren oder Teichoskopien21. Räume sind vielmehr wiederholt Gegenstand des Dialogs; sie werden zwar nicht von einer Erzählerinstanz, auf die der ganze Text zurückgeht, entworfen, aber in erzählender Rede der Dramenfiguren. Auch im Nebentext folgt eine Reihe von Szeneriehinweisen erst bei laufender Szene. Dass Halle und Jerusalem, dem romantischen Ideal der Gattungsmischung entsprechend, ein Drama mit starken epischen Zügen sei, wurde wiederholt in der Forschung vermerkt.22 Mehrfach gehen Szenenanweisungen sogar in regelrechte kurze Erzähltexte über, und sogar eine Erzählerstimme schaltet sich kommentierend ein.23 Auch unter dem Gesichtspunkt der Raummodellierung kann das Stück daher legitimer Weise neben narrativen Texten im engeren Sinne analysiert werden, nämlich daraufhin, mit welchen Benennungstechniken hier Räume entworfen werden. Halle und Jerusalem zählt vermutlich zu den am wenigsten gelesenen Dramen eines kanonischen Autors. Als Theatertext scheint es missraten, schon weil sein Umfang eine Aufführung kaum zulässt und auch Leser abschrecken kann. Was die »extravagante Form« des Stücks positiv bedeutet, hat hingegen Detlef Kremer in einem Aufsatz aufzuweisen unternommen.24 Kremer betont den »bricolage«Charakter des Textes; wie ein »Mosaik« aus Bruchstücken zusammengesetzt sei Halle und Jerusalem schon hinsichtlich seiner Quellen. Das gelte für Arnims digressive Umarbeitung seiner ›Vorlage‹ Cardenio und Celinde von Gryphius25 ebenso wie für die Entlehnung von Figurentypen oder des szenischen und gedanklichen Aufbaus teils von Shakespeare, teils von Calderon, teils aus dem Sturm und Drang.26 Als weiteres Formmodell für Arnims Text nennt Kremer das »Labyrinth«.27 Gemeint ist, dass sich die Gestaltungskraft des Autors wie in einem Labyrinth verirrt und allenfalls mühsam »einen Ausgang gefunden« habe (was herkömmlichen Beurteilungen des Stücks dann doch wieder ziemlich nahe kommt). Nicht gemeint ist, dass die Figuren sich in einem Labyrinth bewegen oder darin befangen sind. In der Tat ist gegen die Suggestionskraft des Labyrinths als eines

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Z. B. Jerusalem, 6. Szene, S. 238. Z. B. von Ehrlich: Arnim als Dramatiker, S. 132. Zu Arnims Dramatik und seinem Verhältnis zum Theater vgl. auch Burwick: Achim von Arnims Verhältnis zur Bühne. Vgl. Halle I,5, S. 63, III,1, S. 140 (beides sogar mit Hinweis auf – nicht ausformulierte – Dialoge), Jerusalem, S. 229 und 294: »Der Reisende wendet sich beschämt fort und zieht in alle Welt und spricht vom Christentum in tausend Worten, aber seine Worte haben keine Kraft des ewigen Lebens, weil seine Liebe ohne Tat ist, von ihm kommen alle neuen poetischen Christen, ich rede von denen, die es nur in ihren Liedern sind.« Kremer: Durch die Wüste, S. 137. Die folgenden Zitate ebenda, S. 140f. Vgl. dazu Paulin: Gryphius’ ›Cardenio und Celinde‹ und Arnims ›Halle und Jerusalem‹. Übrigens legitimiert Arnim seine Bearbeitung des älteren Stücks mit prinzipiellen Vorbehalten gegen das künstlerische ›Abschließen‹ in einer Welt, die bis zu ihrem »Untergang« offen ist (ebenda, S. 11). Bereits die Werkentstehung hat demnach etwas mit räumlichen Präferenzen zu tun. Vgl. Kremer: Durch die Wüste, S. 141–144. Ebenda, S. 146. Das folgende Zitat ebenda.

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»topographischen Musters«28 für Halle und Jerusalem zu betonen, dass die Raumfolge des Dramas bzw. der Weg, den die zentralen Figuren durch diese Räume nehmen, trotz aller zeitweiligen Abweichungen gut erkennbar zu einem »Ausgang« führt. Der Weg, den der von »Uferlosigkeit«29 gekennzeichnete Text weist, hat durchaus ein klares Ziel. Halle, der erste Teil, stellt den Studenten Cardenio ins Zentrum, der »mit allem ausgestattet [ist], was Freundschaft, Liebe, Kunst und Wissenschaft uns geben kann« (III,14, S. 196), genialisch, aber auch rücksichtslos gewaltsam.30 Vergeblich bemüht sich Cardenio um die Zuneigung der tugendhaften Olympie, die aber den harmloseren Lysander erwählt. Daher wirft er sich der weniger tugendhaften Celinde an den Hals, ohne aber von Olympie ganz abzulassen. Erst als Celindes Versuch scheitert, Cardenios Herz durch Magie für sich zu gewinnen, bereuen beide, und sie beschließen, ihre Verfehlungen durch eine Pilgerfahrt zum Heiligen Grab zu büßen. Diese Pilgerfahrt bildet, beginnend mit der Schiffsreise, die Handlung des zweiten Stücks, wobei die Zentralfigur Cardenio sowie Celinde nur noch in einem relativ kleinen Teil der Szenen vorkommen. Als weitere Pilger werden Olympie und Lysander, der ewige Jude Ahasver sowie eine Reihe teils aus dem Halle-Drama bekannter, teils neu eingeführter Nebenfiguren gezeigt.

3. Halle oder die Lust am erlebbaren Raum Der »ein Studentenspiel« untertitelte erste Teil hat fünfzehn verschiedene Schauplätze (mit 17 Szenenwechseln), die sämtlich in Halle, der Stadt der im 18. Jahrhundert führenden preußischen Universität, angesiedelt sind. Im Vergleich mit manchem Sturm-und-Drang-Drama ist das eine mäßige Fülle von Schauplätzen. Eine Besonderheit des Stücks bildet hingegen die präzise Lokalisierung einiger hervorstechender Auftritte an realen Orten: Am Anfang, etwa in der Mitte sowie am Schluss von Arnims Stück besteht die Szene aus zentralen und bekannten Räumen der Stadt Halle und der sie umgebenden Saalelandschaft. Dazu gleich mehr; zunächst ein typologisierender Überblick: Die größte Szenengruppe bilden ortsunspezifische Schauplätze, nämlich Zimmer der Haupt- und wichtiger Nebenfiguren (Olympies, ihres Bruders Viren, eines Juden namens Nathan, Celindes, Cardenios) oder Straßenabschnitte vor deren Häusern (Olympies und Virens bzw. Celindes). Nebenbei bemerkt: In diesen Szenen folgen offene und geschlossene Räume ziemlich streng aufeinander. Als auch in anderen Dramen verbreitete Technik ist diese Abwechslung aber wenig signifikant. Einen weiteren Typ bilden zwei milieuspezifische Schauplätze, nämlich a) ein »großer Kommerssaal« (I,18, mit »Musik auf einer Galerie, von Tobakswolken verhüllt, viele[n] Studenten an Tischen, die Chorführer mit gezogenen Hiebern, Halloren31 schleichen an den Tischen umher«, S. 89), und b) der Versammlungs28 29 30 31

Ebenda. Ebenda. Ausführlich zu Cardenio: Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹, S. 175–195. Halloren hießen die Arbeiter in den Hallischen Salzsiedereien. Hier bedienen sie die Studenten.

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raum eines Studentenordens (III,2): »Ein schwarzes Zimmer, in dessen Hintergrunde eine goldene Sonne, von der alle Beleuchtung ausgeht, unter der Sonne ein Altar mit einem Kreuze von Rosen umwunden.« (S. 149)32 Hinzu kommen zwei handlungsspezifische Schauplätze, nämlich ein Kirchhof und das Innere einer Kirche (Szenen 8 und 9 des III. Aktes). Hier soll Cardenio vom und zum Tode verführt werden (S. 179), bzw. Celinde wird von ihrer Mutter gedrängt, einer frischen Leiche das Herz aus dem Leib zu schneiden, um ihrem unwilligen Geliebten daraus einen Trank zu bereiten, der ihn fixieren soll. Von grundsätzlichem Interesse in unserem Zusammenhang ist, ob die Kirche samt Kirchhof in Halle lokalisierbar ist. Als öffentliches Gebäude von erheblicher Größe wäre eine erfundene Kirche als solche erkennbar – im Unterschied zu den unspezifischen Zimmern und Häusern, die ebenso erfunden sind wie die Figuren, die sie bewohnen. Der Name der Kirche fällt nicht, nur ein Hinweis auf – vermutlich nahe – »Blumengärten […], die an dem Rand der Saale nach des Stromes Rauschen lauschen, wo sanftes Grün mit Tau die Lippen netzet, wo reife Frucht sich in die Hände drängt« usw., dies alles als Kontrast zum, so Cardenio, »rauhen Land« der Grabsteine auf dem Kirchhof (S. 179). Diese Hinweise passen auf St. Laurentius, das in Saalenähe direkt neben dem Botanischen Garten liegt und das auch damals schon die einzige von einem Friedhof umgebene Kirche in Halle war (genaugenommen in der Vorstadt Neumarkt; der Botanische Garten wiederum wird in der Gräfin Dolores namentlich als Schauplatz eines »Morgenfestes« genannt, das die Universität zu Ehren des Königspaares gab33). Die Szenerie von Kirche und Kirchhof in Arnims Halle kollidiert also nicht mit der Topographie der realen Stadt dieses Namens. Generell gilt: Auf offensichtlich vom empirischen Halle abweichende Raumsituationen verzichtet das Drama. Schließlich sind noch die Räume zu nennen, die nicht gespielt, sondern nur erzählt werden. Am plastischsten erscheint ein solcher Raum in der Erzählung, die der Student Stürmer von seinem Ausflug nach Bad Lauchstädt gibt (ca. 20 km südlich von Halle), wo im Sommer das von Goethe geleitete Weimarer Hoftheater gastierte:34 »wir waren recht vergnügt am Schwanenweiher, wo unter den Kastanien kühle Luft mit schönen Frauen buhlt, die Sonne schwamm so heiß und träge auf der Flut, das alte Schloß sah wunderlich in unsre Flüchtigkeit hinein.« (III,2, S. 149) Diese starken Raumeindrücke wurden indes noch überboten durch den Eindruck, den der – von Stürmer so genannte – »Meister« selbst machte, und zwar gerade auch in räumlicher Hinsicht: »Deutschlands Meister, der war heute angekommen und schritt mit ernstem Blick den Gang herunter, zu eng erschien der breite Gang, noch einen andern außer ihm zu fassen« (S. 150).

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Zum Hallischen Studentenleben in der Zeit vgl. Kertscher: »[…] in Halle herrscht in Absicht des Trinkens viel Decenz«. Vgl. Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden. Bd. 1, S. 194. Bei der Giebichensteiner Bartholomäuskirche, also erheblich weiter vor der Stadt, vermuten hingegen Heidi Ritter und Eva Scherf den Schauplatz der Szene (vgl. Ritter, Scherf: Die Weltseele durchlebt alles, S. 50). Vgl. Hentze (Fotogr.), Rüdiger (Einf.): Bad Lauchstädt.

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Abb. 1: Ausschnitt aus J. C. Homann: Darstellung des Grundrisses und Prospectus der Königl.Preusisch-Magdeburgischen und des Saal-Crayses HauptStadt Halle, kolorierter Kupferstich, nach 1722.35 St. Laurentius liegt in der linken oberen Ecke des Kartenausschnitts bei Nr. 5, der Botanische Garten unmittelbar südlich davon; weitere Gärten liegen etwas weiter nordwestlich direkt an der Saale.

Nun aber mehr zu den offenkundig spezifisch Hallischen Schauplätzen. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Markt, setzt das Stück ein. Als weiterer topographischer Hinweis heißt es: »Im Hintergrund des Theaters erscheint das alte akademische Gebäude« (die sog. Ratswaage neben dem Rathaus), »der Torweg ist geöffnet, es werden von einem Buchhändler Dissertationen und Bildnisse berühmter Gelehrter ausgehangen.« (I,1, S. 49f.) Später ist zudem mehrfach von dem »Promotionssaale« die Rede (S. 52, 60 als Regieanweisung, 63), in dem Cardenio als Opponent des Philosophen Wagner auftreten wird. Gemeint ist der Saal im Obergeschoss der Ratswaage;36 der Zugang führt durch den erwähnten Torweg. Wohl noch charakteristischer für Halle ist der Schauplatz am Anfang des dritten und letzten Aktes des ersten Dramas:

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Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtmuseums Halle, Christian-Wolff-Haus. Rathaus und Ratswaage wurden im Zweiten Weltkrieg beschädigt und später abgerissen.

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Abb. 2: Ausschnitt aus der »ABBILDUNG der vornehmsten PROSPECTEN der Königl. Preusisch-Magdeb. u. des Saal-Creises Haupt-Stadt HALLE«, kolorierter Kupferstich von Johann Christoph Homann, Nürnberg, nach 172037

Ufer der Saale. Der Fluß ist mit bunt bewimpelten Schiffchen bedeckt, auf der einen Seite des Vordergrundes sieht man das Logengerüst für die Gäste des Lysander, der das Fischerstechen gibt. Olympie sitzt in dessen Mitte auf einem hohen roten Sessel, an ihrer Seite steht ein Tisch mit Preisen, goldenen Ketten, silbernen Pokalen und silbernen Kränzen. […] Durch die Menge des Volkes, das den Raum unter dem Gerüste einnimmt, drängt sich der feierliche Zug der Halloren mit alten Waffen, Flambergen, Streitkolben und dergleichen, sobald sie sich dem Schiffe nähern, legen sie ihre Röcke ab und erscheinen in zierlichen weißen Schifferkleidern mit bunten Bändern geschmückt, sie ergreifen die Stechstangen und besteigen tanzend die Schiffe, wo das Stechen in der gewohnten Art beginnt, nach welcher sie sich in entgegengesetzte Parteien scheiden und einander mit den Steckstangen von den Kähnen ins Wasser zu stoßen suchen – wer übrigbleibt, hat gesiegt. […]« (III,1, S. 140)

Diese – hier noch gekürzte – Szenenanweisung illustriert zugleich, wie der Nebentext bisweilen eigene kleine Erzählungen ausbildet. Später ist noch von einer »Brücke« die Rede, über die Cardenio in eines der Boote steigt, um sich am Stechen zu beteiligen (S. 143). Frappierend weit gehen hier die Übereinstimmungen mit einer gemalten Darstellung des Hallischen Fischerstechens, die in einem studenti-

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Stadtarchiv Halle, Sign. II 119. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle.

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schen Stammbuch von ca. 1750 überliefert ist. Es handelt sich mithin um eine Szenerie von hoher Lokaltypik.

Abb. 3: Serresches Stammbuch: Fischerstechen an der Westseite der Neuen Residenz (1735)38

Hier lassen sich schon erste Bemerkungen darüber einflechten, wie Arnims Text Räume erschafft: Der dargestellte Raum der Fischerstechenszene ist weniger architektonisch definiert (wie die Eröffnungsszene vor dem Rathaus) als durch ein Ritual, das aber fast ebenso feste Konturen hat (darauf deutet die Wendung »in der gewohnten Art«). Beide Szenen lehnen sich an reale Räume an; die Räume des Dramas sind nicht unabhängig von ihren Vorbildern und Bezugspunkten in der Realität. Die Realräume ›Hallischer Marktplatz vor dem Rathaus‹ und ›Saaleufer mit Fischerstechen‹ fungieren regelrecht als Stützen des poetischen Raumentwurfs, denn dieser nutzt die voraussetzbare Bekanntheit jener Realräume, um sich detaillierte Szenenanweisungen zu ersparen. Die Szenenanweisung zum Fischerstechen macht die Anlehnung an den entsprechenden Realraum sogar explizit (»in der gewohnten Art«), aber auch die Szenenanweisung zu Markt, Rathaus und – zunächst nicht genanntem – Promotionssaal vervollständigt sich erst durch Erinnerung des Lesers an den entsprechenden Realraum. Die dritte spezifisch Hallische Szenerie hat ebenfalls einen herausgehobenen Ort im Dramenverlauf, denn es handelt sich um die Schluss-Szene. Schauplatz ist: »Der Felsen bei Gibichenstein. Ahasverus sitzt in dem bekannten Fenster Ludwig des 38

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle.

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Springers und sieht nach dem Sonnenaufgang.« (III,10, S. 183) Wieder ist die Szenenanweisung sehr knapp gehalten, weil die – ausdrücklich einkalkulierte – Bekanntheit des entsprechenden Realraumes Details erübrigt. Hinweise auf weitere Charakteristika der Landschaft werden gleichwohl im nachfolgenden Dialog gegeben. So lenkt Ahasverus den Blick Cardenios auf die unter dem Giebichenstein fließende Saale: »Sieh unter dir den Strom, wie er so ernst rauscht, sich Wege bahnte durch die hohen Felsen,39 den lieblichen Gefilden leicht vorüberstreift, als säh’ er nicht die stolze Pracht, die sich in ihm bespiegelt und erquickt« (S. 185) Und etwas später zwei weitere Blickweisungen, jetzt von Olympie für Lysander und umgekehrt: »Sieh jetzt, wie rätselhaft die Fähre, sich selbst bewegend, wie lebendig quer durch den Strom von unsrer Seite reißt, zu jenem Ufer treibt, zum wilden Felseneingang. Der alte Charon nimmt gleichgültig seinen Sold, und langsam steigen jetzt die Seelen zu dem Richtstuhl an.«

Abb. 4: G. Müller und Herculeß Hoessel: Der Giebichenstein an der Saale bei Halle, übermalte Zeichnung, um 1800 verlegt bei Franz Asner in Berlin40

Und gleich darauf Lysander zu Olympie: »Sieh lieber dort, wie hell des Petersberges Klostertrümmer41 im Gnadenschimmer leuchten; in frommer, alter Zeit, da

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Rechts die Klausberge, links die Kröllwitzer Höhen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle. Auf dem gut 10 km entfernten Petersberg befand sich ein Augustinerherrenchorstift, das 1540 aufgehoben wurde und dann verfiel.

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hätten sie schon dort Vergebung ihrer Sünden und ein stilles Klosterleben sich erwerben können.« (S. 192) Unverkennbar geht es bei diesen Hinweisen nicht allein um eine weitere Detaillierung des szenischen Raums im Sinne einer ›gesprochenen Kulisse‹. Die Bestandteile der Landschaft, auf die die Figuren und mit ihnen die Leser bzw. Zuschauer den Blick richten sollen, werden vielmehr mythisch überhöht (die Fähre nach Kröllwitz als ein Charonsnachen), allegorisch und anagogisch ausgedeutet (die Fähre als Lebensschiff, das dem jenseitigen Ufer zutreibt: gedenke, dass Du sterben und vor den himmlischen Richter treten musst) bzw. mit geistlichen Gedanken über die Sündenvergebung verbunden. Auch Ahasvers zuerst zitierte Blicklenkung zur strömenden Saale hin verbindet den (verbalen) Pinsel des Landschaftsmalers mit Gedanken über den Lebensweg des Menschen: »so treibt ein fester ernster Wille, so kommt der Strom durch tausendfache Krümmen mit hundert andern ähnlicher Gesinnung zum Meere, das sie dann all von dieser Erde Staub entführen kann.« (S. 185) Gemeinsam haben alle drei Ausmalungen der Landschaft um den Giebichenstein, dass sie sich aufs Pilgern und dessen Heilspotential beziehen, sei es vergleichsweise wie Ahasvers und Olympies Verweise auf Strom und Fähre, sei es kontrastiv wie Lysanders Hinweis auf die Vergebung, die früher schon in einem nahen Kloster zu erlangen war.42 Was lässt sich als Ergebnis dieses Durchgangs durch die Schauplätze und Raumbildungstechniken des Halle-Dramas festhalten? Es scheint Arnim sowohl auf die exakte Situierung der Handlung in einem empirischen Raumgefüge anzukommen als auch auf die Überschreitung des bloß topographisch Deskriptiven. Letzteres gilt vor allem für die Schluss-Szene auf dem Giebichenstein mit seinen Aussichten auf die Saale (als topographisch Konkretes und Wiedererkennbares) sowie den daran anschließenden Gedanken über das Pilgern (als Weg des Menschen zu seinem geistlichen Ziel). Im zweiten Teildrama Jerusalem wird dieses Motiv dann aufgenommen und in den Vordergrund gerückt.43

4. Jerusalem oder der geöffnete Himmel In Jerusalem haben wir es mit anderen Typen von Schauplätzen zu tun. Es fehlen jetzt die konventionellen Dramenschauplätze Zimmer und Straße. Zudem kommen keine lokalkoloristischen Schauplätze mehr vor, die der Autor aus eigener Ortkenntnis ausmalt und die auch das Publikum leicht als realitätsentsprechend erkennen kann. Es fehlen also die beiden in Halle dominierenden Schauplatztypen ›neutraler Raum, der sich überall befinden könnte‹ auf der einen Seite und ›konkreter Ort, der leicht identifizierbar ist‹ auf der anderen. Stattdessen haben wir eine längere Reihe von weder neutralen noch präzise lokalisierbaren Schauplätzen: 42

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Allgemein zur Sakralisierung dargestellter Räume, besonders der Natur, in der romantischen Literatur vgl. Rigby: Topographies of the Sacred. Ehrlichs Befund, »beide Teile fallen strukturell auseinander, stehen sich antithetisch-korrespondierend gegenüber« (Arnim als Dramatiker, S. 133), ist insofern zu modifizieren.

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– Das Oberdeck eines Pilgerschiffs (2. Szene,44 S. 199). – Eine Felsenküste (4. und 5. Szene, S. 216). – »Wüste in der Nähe prächtiger Ruinen« (7. Szene, S. 244), später ergänzt durch »zwei Einsiedeleien«, die sich Cardenio und Celinde »aus Zweigen in den Zweigen eines hohlen Baums« sowie »in dessen Höhlung« »erbaut« haben (S. 246). – »Ein Brunnen in der Wüste, an welchem ein weiblicher Kopf in Marmor aus einem Röhrlein das Wasser ausströmen läßt.« (8. Szene, S. 252). Später ist in den Bühnenanweisungen zudem von zwei Höhlen die Rede, aus denen weitere Figuren kommen (S. 252f.). Diese Stationen markieren den Weg, den Ahasverus, Cardenio und Celinde zurücklegen müssen. Die drei ersten Stationen bestehen sämtlich aus unwirtlichen bis bedrohlichen Räumen, die durchquert werden müssen: Im Meer, in das sie wie weiland Jonas gestürzt werden (S. 209), drohen sie zu ertrinken, an der wüsten Felsenküste hingegen zu verdursten (S. 218). Die Wende zur Erlösung markiert dann der Brunnen in der Wüste. Drei weitere Schauplätze dieses Typs sind in Jerusalem angesiedelt. Wiederkehrende Figuren sind nun Olympie, der Admiral Sidney und weitere Engländer: – »Der Harem des Bassa von Jerusalem« mit dem »Bassa am Schreibtische, seine Frauen um ihn her, Verschnittene bestellen mancherlei Papiere an ihn.« (9. Szene, S. 263). – »Das Nonnenkloster in Jerusalem« mit »Olympie, [der] Äbtissin und viele[n] Nonnen auf dem Altan, der von Weinreben beschattet ist und weit über die Gegend hinausschaut.« (10. Szene, S. 268). – »Eine Schmiede«, die als Herberge dient (12. Szene, S. 273). Eine Stationenfolge wie bei der ersten Szenengruppe haben wir hier nicht mehr; da alle Schauplätze der zweiten Gruppe in Jerusalem angesiedelt sind, kommt es nicht mehr darauf an, einen Weg zurückzulegen – weder im räumlichen noch im übertragenen Sinne, denn die Zentralfigur dieser Szenen ist Olympie, die moralischste Figur des Stücks. Gleichwohl sind die Schauplätze auch dieser Gruppe per se signifikant dafür, ob sich die Figuren auf einem Heils- oder Unheilsweg befinden, vor allem natürlich mit dem Kontrast von Harem und Kloster. Halle weist, wie gesagt, noch nicht diesen Schauplatztyp eines von vornherein geistlich indexierten Raumes auf. Er ist in hohem Maße semantisch aufgeladen, erheblich stärker nicht nur als die ›neutralen‹ Räume Zimmer und Straße, sondern auch als die topographisch identifizierbaren Räume in und um Halle (die Flusslandschaft am Giebichenstein erhält erst durch die Figurenkommentare ihre Symboldimension). Zusammengehalten wird die beschriebene Raumfolge vom Schiffsdeck bis zur Herberge in Jerusalem durch Idee und Praxis der Pilgerfahrt.45 Unter dem Gesichtspunkt der heilsnotwendigen Pilgerfahrt haben alle jene Räume von vorn44

45

In Jerusalem gibt es keine Akteinteilung und Szenenzählung. Stattdessen gibt es eine Szenenabteilung durch Übertitelung. Darauf bezieht sich die von mir vorgenommene Szenenzählung. Vgl. Paulin: Gryphius’ ›Cardenio und Celinde‹ und Arnims ›Halle und Jerusalem‹, S. 107, 144f.

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herein einen Sinn, wie »grotesk«, »phantastisch« oder »surrealistisch« sie auch gestaltet sind,46 sei es dass sie als zu überwindende Hindernisse, sei es dass sie als Zeichen der Annäherung an das festgelegte Ziel wahrgenommen werden. Dieses Ziel wird nicht erst mit der Golgatha-Reminiszenz der ersten Szene des Jerusalem-Teils47 exponiert, sondern schon in der allerersten Szene, also auf dem Hallischen Marktplatz bzw. im dort gelegenen Promotionssaal, wenn Cardenio seine Disputation mit dem Philosophen Wagner durch den Beweis gewinnt, »das Heil’ge Grab sei Mittelpunkt der Welt« (I,5, S. 64). Im Halle-Drama hat dies aber noch keine praktische Bedeutung für Cardenio. Erst in der Schlussszene eignet er sich seine theoretische Einsicht als handlungsleitende Maxime an. Für den aufmerksamen Leser hingegen gilt der Imperativ der Hinordnung des Lebens auf Christi Tod und Auferstehung bereits während des gesamten »Studentenspiels«: Durch die Bestimmung des Heiligen Grabes als »Mittelpunkt der Welt« ist der Spielraum des Dramas und idealer Weise auch der Weltwahrnehmung der Rezipienten von vornherein strukturiert oder genauer: zentralisiert, mit maximaler, nämlich globaler Reichweite. Wenn die Handlung des ersten Stücks trotzdem doppelt um sich selbst kreist – thematisch um Cardenios unbändige Liebesneigungen, räumlich um die Stadt Halle –, so liegt dies letztlich daran, dass den Protagonisten die Orientierung auf jenen Mittelpunkt der Welt fehlt. Im Grunde ist der Schauplatz Halle also von vornherein als defizitärer Ort erkennbar: zum einen historisch-empirisch, weil seine Universität seit gut einem Jahrhundert das deutsche Zentrum jener Aufklärung bildete, die in rationalistischer Verkürzung meinte, sich allein an ihrer »Schlüsse ungeheure[] Folge« halten zu können, und die Heilsbedeutsamkeit von Christi Tod und Auferstehung negierte (so jedenfalls die Darstellung der »Aufklärung« in Arnims Drama, vgl. I,5, S. 63f.),48 zum anderen theatralisch, weil gerade die Realistik der drei vorgestellten Szenen auf die Bekanntheit dieser Orte weist – und das heißt mit Blick auf geistliche Pilgerschaft: auf ein Verharren im altbekannt Weltlichen. Als »Saalathen« (S. 215), als »die frohe Stadt voll Reichtum und voll Jugend, voll Wissenschaft und Kunst« apostrophiert zu werden (S. 192), erscheint als Manko, wenn all dies nicht zugleich auf die andere Stadt des Doppeltitels hingeordnet begriffen und gelebt wird. Die Wiedererkennbarkeit bekannter Realräume weist im Raumsystem des Stücks auf ein geistliches Defizit. Gleichwohl hat auch Jerusalem drei Schauplätze, die durch Eigennamen auf die Realität und ihre Räume verweisen: – »Sidneys Admiralschiff ›der Tiger‹« (3. Szene, S. 213). Die Figur des Sidney verweist auf den englischen Admiral William Sidney Smith, der 1798 den französischen Angriff auf Palästina abwehrte. 46 47

48

Diese Aspekte betont an sich mit Recht Kremer: Durch die Wüste, S. 150. »In Wolken und Nebeln erscheinen drei Kreuze, das mittlere trägt den Erlöser, sein Angesicht ist hell erleuchtet, die beiden anderen Kreuze tragen die beiden Schächer; ein Schriftgelehrter steht unter dem Kreuze im dicksten Nebel, in tiefster Dunkelheit.« (S. 199). In der Figur des Waisenhäusers, der den Glauben ganz äußerlich versteht und letztlich nur an seinen persönlichen Vorteil denkt (Halle I,2, S. 55, Jerusalem, 5. Szene, S. 224–225), wird zudem auch der Hallische Pietismus als depraviert präsentiert. Dessen Praxisorientierung erscheint hier als in eine Verengung des geistigen und geistlichen Horizonts umgeschlagen.

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– »Acre. Gang an einer der abgelegeneren Stadtmauern, auf welcher Wachen ausgestellt sind; der Mauer gegenüber sehen wir einen von Kugeln durchlöcherten prachtvollen Gartensaal; das Marmorbad in seiner Mitte haben die Engländer mit Punsch gefüllt; ein kleines Kind mit Flügeln fährt auf einem zierlichen Kahne darauf umher und schenkt ihnen ein; eine Abteilung sitzt an einem runden Tische und singt.« (6. Szene, S. 230) Acre (frz.), Akko (bibl.) oder Akka (arab.) ist nicht nur der traditionelle Hafen für Jerusalem-Pilger, sondern auch die Stadt, an deren Mauern der französische Angriff aus Ägypten scheiterte. Als Niederlage, die letztlich Napoleon erlitt, handelt es sich zum Erscheinungszeitpunkt des Dramas um ein nahezu zeitgenössisches Ereignis von erheblicher Signalwirkung und entsprechender Bekanntheit. Die zitierte Szenenanweisung lässt indes wenig Ehrgeiz in der Detaillierung des historischen Ereignisses erkennen. Wichtiger ist offensichtlich die Charakterisierung der englischen Soldaten, nämlich dass sie dem Ernst der Stunde nicht gerecht werden (die nächste ausführlichere Szenenanweisung ergänzt ihre Punschseligkeit durch Liebeleien mit einigen Haremsdamen, S. 231). Dass Acre nicht anders als der Hallische Markt oder der Giebichenstein ein in der Realität lokalisierbarer Schauplatz ist, besagt nicht viel: Es geht nicht um die Verankerung der Dramenhandlung in einem mehr oder weniger bekannten (Real-) Raum, sondern um die moralisierende Kommentierung eines historischen Ereignisses und dessen Einfügung in die Stationenfolge einer Pilgerfahrt, denn Lysander und Olympie treten in dieser Szene als pflichtbewusste Kämpfer auf, die zu jener Aufopferung bereit sind, die die englischen Soldaten versäumen. – »Nacht in der Kirche des Heil’gen Grabes.« (11. Szene, S. 271) »Die Kirche des Heiligen Grabes« (13. = letzter Auftritt, S. 281). Nach dem bisher zu den verschiedenen Raumtypen Gesagten dürfte klar sein, dass dieser Schauplatz besondere Darstellungsschwierigkeiten bereiten musste: Auf der einen Seite handelt es sich um einen realen, auch für die Leser oder Zuschauer erfahrbaren Raum, obschon kaum jemand diese Erfahrung tatsächlich machte. Auf der anderen Seite stellt das Hl. Grab den Zielort sowohl der pilgernden Figuren als auch der Sinnbewegung des gesamten Stücks dar; dieser Ort ist also extrem sinnbefrachtet. Wie lässt sich dies darstellen? Jerusalem als das unserem Heilsweg anempfohlene Ziel wird, bereits bevor der Schauplatz dahin wechselt, als leuchtendes, als weithin sichtbares Ziel beschrieben. »Bald seid ihr da, schon könnt ihr’s sehen«, heißt es in der »Die Aussicht nach Jerusalem« betitelten Szene (S. 252). Schon sein »Anblick stärkt die Müden [Pilger, D. F.]« (ebd.). Der Anblick der Heiligen Stadt wird von den Figuren extensiv bis ekstatisch geschildert; Zitat Cardenio: »Kaum glaub’ ich meinen Augen, im ernsten Tale schimmert eine Christenstadt, bezeichnet mit dem Kreuz auf weiten Trümmern, und […] jeden Gipfel krönen die Kapellen.« (S. 257, das Drama präsentiert Jerusalem mithin als christliche Stadt; als heilige Stadt der Juden oder gar Muslime wird Jerusalem ebensowenig anerkannt wie diese Religionen insgesamt). Ausgerechnet Ahasverus, der ewige Jude, bestätigt, und zwar in visionärer Vorwegnahme der tatsächlich erst fünf Szenen später geschafften Ankunft: »hier ist er gestorben, hier ist sein Grab, hier wird sich alles lösen, was noch geheimnisvoll dein Dasein

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hat umhüllet«.49 Cardenio und Celinde fordert er auf: »seht nach Jerusalem, die langersehnte Stadt, dort ziehen wir bald friedlich ein.« (ebd.) Imperative, auf Jerusalem zu schauen, folgen nun in hoher Dichte. Immer wieder heißt es »sieh« (S. 268f., viermal), »schau«, »zeig mir« (S. 293), »seh[e]t« (S. 297, sechsmal) usw. (»Blicke«, S. 287). Das Ziel der Pilger ist Christi Grab, weil nur hier ihre Seelen zur Ruhe kommen können. Auch dies bezeugt bereits die äußere Erscheinung der Grabeskirche; wie ein namenloser Reisender zu berichten weiß: »Ihr glaubt nicht, welch ein Anblick durch dies Dunkel dringet. Ernst rötlich schimmert durch die hohen Fenster der Grabeskirche Licht, rings schwanken all die Lichter der Menschen, die durch alle Straßen schweifen, die Sterne selbst, sie schimmern zweifelhaft daneben.« (S. 274) Sichtbarkeit wird vielfach beschworen und hat durchweg Bedeutung, im Fall Jerusalems und des Heiligen Grabes: höchste Bedeutung. Das Heil der Menschen hat einen Ort, und es tritt räumlich in Erscheinung.50 Allerdings gewinnt diese Sichtbarkeit für den in Arnims Drama eingeschriebenen Zuschauer kaum Materialität. Die detailreiche konkrete Sichtbarkeit, die die hallespezifischen Szenen des ersten Teils entwerfen, ist für die Heilsorte des zweiten Teils nicht vorgesehen. Die vielen »siehe«- und »seht«-Imperative muss der Zuschauer oder Leser in Raumimaginationen umsetzen. Und auch die Figuren müssen am Ende die Erfahrung machen, dass das mit Christi Tod und Auferstehung verbundene Heil den Bereich des Sichtbaren übersteigt. In den wichtigsten Raum des Doppeldramas, die Grabeskirche, treten sie zwar ein, jedoch um auf Unzugängliches zu stoßen: Sobald sie das Ziel erreichen, das sie vor Augen hatten (zunächst metaphorisch, dann konkret), gelangen sie zugleich an eine Grenze von Sichtbarkeit. Zu sehen ist schließlich nur noch »ein blendendes Licht« (S. 289). Das ist zwar ein Zeichen von höchster Leucht- und Strahlkraft – das jegliche Sichtbarkeit von Konkretem, von Körpern im Raum aber aufhebt. Zugleich öffnet sich ein neuer Raum – das Paradies (S. 292) –, der aber ebensowenig theatralisch darstellbar wie Lebenden zugänglich ist. Auf die Weite von »Gottes Barmherzigkeit« weist auf Erden (und auch das ist fast schon ein Paradox) allein »der Himmel über uns« (S. 247). Dessen Unendlichkeit kann

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Zur Ahasver-Figur und der damit verbundenen Adressierung des Doppeldramas an »die Juden« (so eine zunächst für den Titel vorgesehene Zueignung) vgl. Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹, S. 146, 167–180. Dem Befund Detlef Kremers, dass in Arnims Doppeldrama »eine Enträumlichung des historischen Ortes zugunsten eines entgrenzten Raumes zu beobachten« sei (Durch die Wüste, S. 155), kann ich mich daher nicht voll anschließen. Die Grabeskirche weist als Schauplatz keineswegs jene »Uferlosigkeit« auf, die Kremer zufolge in Jerusalem vorherrschend wird (ebenda): »Die Reise geht über das Meer und die Wüste, um sich am Himmel zu vollenden: allesamt unbegrenzte Orte par excellence« (S. 156). Den finalen Schauplatz Grabeskirche spart er in dieser Reihung bezeichnender Weise aus. Hier aber kommt die »unendliche Verschiebung« der Räume, die Kremer in den Schauplatzwechseln am Werk sieht, an ihr sinnstiftendes Ziel. Die Öffnung ins Unendliche wiederum, die tatsächlich dort stattfindet, wechselt die Dimension, indem sie den Himmel, das Unsichtbare, das ewige Leben, die Transzendenz mit einbezieht. Von der ›schlechten Unendlichkeit‹ des Meeres oder der Wüste unterscheidet sich die Unendlichkeit des Heils fundamental.

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gerade noch angesprochen, nicht aber räumlich erfahrbar gemacht werden, nicht einmal auf dem Theater. Dass die topographische Konkretion von Halle nach Jerusalem rapide abnimmt, hat demnach letztlich religiöse Gründe. »Was ist das Licht, das aus dem Grabe steiget, gegen jenes, das allen Gläubigen aus seinem Tod im Herzen flammet, dies alles, was Ihr seht, ist nur ein Bild des innern Lebens«, erläutert der Guardian der Grabeskirche und fügt hinzu: »selig sind, wie Christus spricht, die glauben und nicht sehen« (S. 284).51 Gemessen an dieser traditionell abendländisch-christlichen Abwertung des Sichtbaren gegenüber dem Geistigen, ist Arnims Drama freilich sehr bildreich und gar nicht auf optische Askese aus. Und es wäre ein Missverständnis, im Konkreten allein das defizitär Profane zu sehen. Das Konkrete, »was die Sinne reizt« mit seinen »wunderbarlichen Geschichten« (S. 285), stellt sich vielmehr als unausweichlicher Ausgangspunkt der – ebenso nötigen – Pilgerschaft in eine Weite jenseits aller Räume dar. Halle und Himmel sind zwar extrem gegensätzliche Räume, aber durch einen Weg verbunden, der über Jerusalem führt. In einem Chorwettstreit ganz am Schluss des Doppeldramas wird die prinzipielle Nicht-Identität, aber auch die mögliche Zusammengehörigkeit von Sehen und Glauben noch einmal inszeniert: »Ich will sehen / Und will glauben«, kontert der Gegenchor die Entbehrlichkeitserklärung des Schauens, wie der Guardian sie aus der Geschichte vom ungläubigen Thomas zitierte (S. 296). Poetologisch verstanden ist das die Position, auf der Arnims Drama insgesamt steht. Denn auch der HalleTeil ist als Bekenntnis zu verstehen, und zwar weniger als geistesgeschichtliches oder autobiographisches denn als ästhetisches.

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Vgl. Joh 20, 29.

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»Nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues«: Burgen, Schlösser und Paläste als poetologische Symbole in Klassik und Romantik

Charlie Chaplin, Winston Churchill, Gary Cooper, Joan Crawford, Clark Gable, Greta Garbo, Cary Grant, Buster Keaton, George Bernard Shaw, Barbara Stanwyck, Jack Warner und viele andere haben ein Schloss besucht, das für die Amerikaner der Inbegriff aller Schlösser ist: Hearst Castle, ein Schloss mit 41 Kaminen, 61 Badezimmern, mit dem sich William Randolph Hearst (1863–1951) seinen Jugendtraum erfüllt hat: Throughout his life, Hearst dreamed of building a dwelling similar to those he had seen on his European tour as a boy. Hearst Castle was to become the realization of this dream as he and architect Julia Morgan collaborated for 28 years to construct a castle worthy of those he saw in Europe. During construction Hearst used the Castle as his primary residence and it was here that he continually entertained the elite of Hollywood, politics and sports. Hearst left his San Simeon estate in 1947 to seek medical care unavailable in the remote location. While the Castle was never completely finished, it stands as the remarkable achievement of one man’s dream.1

Amerika ist in der Tat besser dran mit dem prächtigen 90,080 Square Feet großen Territorium des »The Enchanted Hill«, des »Cuesta Encantada«, das keinerlei Zeichen des Zerfalls zeigt, denn, so seufzt Goethe 1827: Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit. Benutzt die Gegenwart mit Glück! Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre sie ein gut Geschick Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten. 2

1 2

http://www.hearstcastle.org/history/william_r_hearst.asp – Zugriff: 19. Juli 2008, 22:06 Uhr. In einem Paralipomenon zur Geologie heißt es: »Nord Amerikaner glücklich keine Basalte zu haben. Keine Ahnen und keinen klassischen Boden.« Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. II, Bd. 13, S. 314.

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Die deutsche Literatur aber ist seit dem späten 18. Jahrhundert voller Burgen und Schlösser, Palästen und anderen adligen Wohnsitzen, intakten wie verfallenen. Schlösser und Burgen beherrschten nicht nur die deutschen Lande: Kunsthistoriker zählen acht- bis zehntausend Burgen im deutschen Sprachgebiet, rund vierzigtausend in Frankreich.3 Dabei ist heute unklar, inwiefern die Schlösser mitgerechnet sind, da die Burg als »befestigter Wohnsitz eines Fürsten, Grafen oder Dynasten, welcher mit verschiedenen Hoheitsrechten versehen ist« jetzt, also zum Ende des 18. Jahrhunderts, so heißt es bei Adelung »gemeiniglich Schlösser genannt werden«, »außer wenn von den Bürgen der mittlern Zeiten die Rede ist.«4 Auch Paläste gab es im Deutschen Reich, allerdings war der Begriff meist mit einem Stadtpalais oder aber mit den römischen und italienischen Palästen verbunden, entsprechend der Herkunft des Begriffs von den »römischen Kaiserbauten, die auf dem Palatin standen.«5 In den Burgen, Schlössern und Palästen waren Macht und militärische Herrschaft konzentriert, und sie wurden zum Ausdruck gebracht durch Architektur und Kunst. Insofern können diese Bauten wie keine anderen weltlichen Häuser symbolisch aufgeladen werden: Sie sind gleichzeitig Teil der Gegenwart und der Geschichte, und sie sind lesbar oder sie sprechen: »Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!«6 beginnen die Römischen Elegien. Burgen, Schlösser und Paläste werden zu Signaturen der Zeit, des Erinnerns und der Identitätsbildung. Für die Konstruktion kultureller und nationaler Identität spielen Orte und Landschaften eine entscheidende Rolle als räumliche Dimension im geschichtlichen Zusammenhang.7 Noch nach 1945 gilt in dem deutschsprachigen Teil Europas, der seine feudal-kulturelle Vergangenheit immer noch aufarbeitet, gilt in Österreich das Schloss als »Identitätszeichen der österreichischen Gegenwartsliteratur« und als einer der »sinnprägenden Topoi, die eine Denkweise über Österreich verschlüsseln«.8 Ich will im Folgenden an einigen ausgewählten Beispielen von Goethe, Arnim und Eichendorff zu zeigen versuchen, wie in der Darstellung von Burgen, Schlössern und Palästen kulturelle und individuelle, weniger aber subjektive Identität verbildlicht werden. Mir geht es dabei weniger um das Verhältnis des erzählten Baus und Raumes zur Psyche des Wahrnehmenden, weniger um die Phantasie oder die subjektive Wahrnehmung, die »zwischen beiden Welten als Vermittlerin«9 steht, als um die poetologische und kulturelle Symbolhaftigkeit. Mir scheint, dass die romantischen Schlösser und Paläste bei Arnim und später anderen auch als eine ästhetische Auseinandersetzung mit drei zentralen Schlössern in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96) gelesen werden können. 3 4 5 6 7

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Lexikon der Kunst, Bd. 1, S. 723: Burg. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 1260: Die Burg. Hans Koepf: Bildwörterbuch der, S. 342 (Palast). Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 1, S. 233. Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Das Haus, in dem ich hier wohne, ist eine Ruine«: Metaphern und Symbole des Raumes als Konstituenten von kultureller Identität. Stefan F. Kaszyski: Das Schloß als Identitätszeichen der österreichischen Gegenwartsliteratur, S. 1103. Arnim: Die Majoratsherren – Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 142.

Nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues

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1. Gebäude von einiger Bedeutung Das erste Schloss, dem Wilhelm Meister begegnet, ist das Schloss des Grafen, der ihn und seine Schauspieltruppe einlädt dort zu spielen. »Das Schloß des Grafen stand ihnen wie ein Feengebäude vor der Seele«10, und »der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen« glänzt den Ankommenden von einem Hügel entgegen.11 Doch die Gesellschaft muss »in das alte hintere Schloß« ziehen, » welches unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte.«12 Beide Schlösser sind eigentlich ohne relevante Funktion in der Gesellschaft: Das alte unbewohnte Schloss dient Schauspielern als Wohnung, im neuen huldigt man dem alten Feudalabsolutismus, und die Zuschauer und Zuschauerinnen sind im Grunde weniger an der Kunst der Schauspieler interessiert als an deren »Personen«.13 Wir erfahren auch nichts über das Innere des gräflichen Schlosses, außer dass es eine Bibliothek gibt, aus der körbeweise Bücher mit Abbildungen der Minerva geholt werden, nur um eine passende Vorlage für das Kostüm einer Minerva zu finden, die in einem Vorspiel zu Ehren des Grafen auftreten soll.14 Die Abschiebung ins unbewohnte alte Schloss ist auch Symbol dafür, dass Wilhelm und seine Truppe von der eigentlichen Repräsentation ausgeschlossen sind. Dem nur adliger Repräsentation und adligem Genusse dienenden gräflichen Schloss werden erst in den beiden letzten Büchern zwei Schlösser gegenübergestellt15, die gegensätzliche Funktionen in der Symbolik des Romans erfüllen: Lotharios Rittergut, dessen Kern »ein altes unregelmäßiges Schloß mit einigen Thürmen und Giebeln«16 ist, und das ideal gebaute und ideal eingerichtete Schloss des Oheims. Ersteres vereint Tradition und moderne Ökonomie, letzteres wird zum Symbol der autonomen Kunst. Trotz einiger adliger Lizenzen stellt Lothario mit seinem Interesse für den Staat und seinem Plädoyer für Steuern die Utopie des »guter Bürgers«17 und damit den besseren, weil politisch denkenden und reformerisch handelnden Staats-Bürger – im Gegensatz zu den Stadt-Bürgern Wilhelm und Werner – dar. Er gehört damit zum Kern der antirevolutionären Botschaft des Romans.18 Entsprechend repräsentiert Lotharios Rittergut die ökonomische Utopie als Umbau des Alten19, als Verbürgerlichung und Ökonomisierung des Adels; es ist »ein wunderliches Gebäude«, das Wilhelm »sogleich für Lotharios Wohnung hielt«: 10 11 12 13 14 15

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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 21, S. 252. Ebenda, S. 253. Ebenda. Ebenda, S. 285. Ebenda, S. 275f. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: »Was der Mensch sei und was er sein könne«: Aesthetics of Architecture, Interior, and Decoration in Goethe, besonders S. 130–133. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 23, S. 5f. (VII, 1). Ebenda, S. 147 (VIII, 2). Dazu vor allem Reed: Revolution und Rücknahme; und Fink: Die Bildung des Bürgers zum ›Bürger‹. Uwe Steiner spricht vom »Sieg der Ökonomie über die Tradition« in der Architektur von Lotharios Schloss – Steiner: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 129.

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Ein altes unregelmäßiges Schloß mit einigen Thürmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelmäßiger waren die neuen Angebäude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch Galerien und bedeckte Gänge zusammenhingen. Alle äußere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bedürfniß der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, eben so wenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan, und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen angelegt. Ein heiteres Dörfchen lag in einiger Entfernung, Gärten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.20

Bequemlichkeit und Nutzen sind nicht die traditionellen Attribute adligen Wohnens, und auch der Gemüse- und Baumgarten am Haus ersetzt die hergebrachten Schlossgartenanlagen. Künstlerisch, architektonisch oder im Interieur bietet die Anlage jedoch nichts (abgesehen vielleicht vom seltsamen kapellenartigen Saal, in dem die von der ›Turmgesellschaft‹ verliehenen Lehrbriefe aufbewahrt werden und den Wilhelm erst später kennenlernt). Lotharios Haus ist rein funktionell, ohne jeden ästhetischen Aspekt. Bereits im sechsten Buch, den »Bekenntnissen einer schönen Seele«, das Wilhelm ja der sterbenden Aurelie vorgelesen hat, verbildlicht das Schloss des Oheims die »wahre Kunst«21, die »von den Bedürfnissen der Einzelnen abstrahirt«.22 Gebaut vom italienischen Baumeister des Oheims erregt »der Eintritt in ein Haus Bewunderung«.23 Architektur, Einrichtung und Dekoration sind die lesbaren Zeichen der Bildung des Oheims; grundsätzlich müsse, so meint die Stiftsdame, aus der »ganzen Einrichtung« eines Hauses »uns die Gegenwart eines verständigen, vernünftigen Wesens fühlbar« werden. Doppelt angenehm jedoch sei es, »wenn aus einer menschlichen Wohnung uns der Geist einer höhern, obgleich auch nur sinnlichen Cultur entgegen spricht.«24 Das Schloss wird ja, als Wohnung Nathaliens, auch seine künftige Wohnung werden. Die Wahrnehmung des Hauses aber geschieht stufenweise, gleichsam wie in einer Initiation. Wilhelm kommt nachts an, nimmt lediglich das prächtige Portal wahr und »fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach, dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte«.25 Zunächst erkennt er einige »Marmorne Statuen und Büsten«, die seinem Großvater gehört hatte wieder: »Es war, als wenn er ein Mährchen erlebte.«26. Er findet hier vereint, was er zu Hause verloren (die vom Abbé für den Oheim erworbene Kunstsammlung des Großvaters) und was er vergeblich im Theater gesucht (›wahre Kunst‹ und ›Bildung‹). Abseits aller Reden und der wohlfeilen Sinnsprüche seines

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Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 23, S. 5f. (VII, 1). Ebenda, S. 161 (VIII, 3). Brief Schillers Nr. 84 vom 9. November 1795 an Wilhelm von Humboldt – Werke (Nationalausgabe, Bd. 28: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796. Hrsg. von Norbert Oellers. 1969, S. 101. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 22, S. 327. Ebenda, S. 330. Ebenda, Abt. I, Bd. 23, S. 154 (VIII, 2). Ebenda, S. 154.

Nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues

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Lehrbriefes finden im Haus des Oheims subjektive Erinnerung und objektivierte Idee von Kunst und Bildung zusammen. Doch erst als Wilhelm das Haus des Oheims, Baukunst und Einrichtung, am Morgen nach seiner Ankunft in Augenschein nimmt, wird er wie schon die schöne Seele »durch etwas Äußerliches auf [s]ich selbst zurückgeführt«.27 Noch für Hegel realisiert die Baukunst als »symbolische Kunstform« deren »Prinzip [...] als besondere Kunst am eigentümlichsten«28. Und auf eigentümliche Weise werden hier in der letzten Wohnung Wilhelms tatsächlich Öffentlichkeit als gute Gesellschaft, Ästhetik und Moral verschränkt:29 »Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar, und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne.«30 Erst das Gesamtkunstwerk des architektonisch gegliederten Raumes und seines Dekors wirkt auf den »ganzen Menschen«, und der Raum wirkt, wie Wilhelm fast schillerisch feststellt, als reine Form: »Was ist das?, rief er aus, das, unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Theile mich an, ohne daß ich jenes begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte!31

Mit dem Ausruf Wilhelms greift Goethe indirekt auf seine seit 1791 wiederaufgenommene Beschäftigung mit einer Nachgeburt der Italienischen Reise zurück. Dort hatte er angesichts der Bauten Palladios in Vicenza den Architekten und den Dichter ausdrücklich miteinander nebeneinander gestellt: »Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig wie die Force des großen Dichters, der aus Wahrheit und Lüge ein Drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert.«32 Seit der Italienreise bilden theoretische Überlegungen zur Baukunst und zur Ausstattung von Räumen einen konstanten Teil seines Schaffens.33 Schiller berichtet in einem Brief an Humboldt über die Gespräche mit Goethe über diese Materie und ist begeistert, dass seine Idee der Baukunst »so sehr mit unsern aesthetischen Begriffen zusammenstimmt«. Goethe könne deshalb auch Dichtkunst und Baukunst in Beziehung 27 28

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Ebenda, Abt. I, Bd. 22, S. 331 (VI). Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik / Erstes Kapitel: Die selbständige, symbolische Archtitektur – Werke in zwanzig Bänden, Bd. 14, S. 268. Versuche wie z. B. die Steiners, die Frage nach dem neuen Ort der Kunstsammlung des Großvaters »die Frage des Romans nach dem Schicksal der Kunst unter den Bedingungen der Moderne« zu lesen und von einem Rückzug der Kunst ins Private und von ihrer Historisierung zu sprechen, verkennen die gesellige und bildende Funktion, die der Kunst in Gestalt des Gesamtkunstwerkes von Baukunst, Einrichtung und spezieller Kunstsammlung hier zukommt. – Steiner: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 148 und 149. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre – Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 23, S. 198 (VIII, 5). Ebenda, S. 200. Goethe: Italienische Reise I– Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 30, S. 77 (19. September 1786). Vgl. dazu im Material erschöpfend: Rainer Ewald: Goethes Architektur.

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setzen: »Der schöne Architect arbeitet, wie der Dichter, für den IdealMenschen«34. Für den Wilhelm Meister heißt das, dass wir die dort jenseits des väterlichen Hauses und der väterlichen Einrichtung thematisierten Gebäude, Räume und Wohnungen als symbolische Versinnlichungen des »poetischen Theils der Baukunst«35 verstehen können.

2. »sehr wahrscheinlich jedem beim ersten Anblicke eingefallen« Arnim greift Goethes Raumsymbolik auf, die sich auch, jedoch nicht so systematisch, in den Wahlverwandtschaften, in den Wanderjahren (z. B. das von Nutzgärten umgebene Schloss eines Adligen) oder in der Novelle findet. Der Anfang von Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores ist zurecht als Verbildlichung von »Wesen, Gehalt, Absicht und Fügung des Romanganzen« bezeichnet worden.36 Dort werden zwei Schlossbauten einander gegenübergestellt und gegen Ende des Romans kommt ein weiteres Schloss hinzu, das »abenteuerliche Schloß« des Prinzen von Palagonien. Das erste Kapitel »Das fürstliche Schloß und der Palast des Grafen P ...« beginnt mit der Perspektive eines Reisenden, der so nicht wieder auftritt: Vor einer kleineren Residenzstadt des südlichen Deutschlands erscheinen dem Reisenden, der die große Heerstraße vom Gebürge herabfährt, zwei große hervorragende Gebäude von ganz verschiedener Bauart und Umgebung. Einem altertümlich getürmten und geschwärzten, von Wassergräben umzogenen Schlosse gegenüber, schimmert ein freier, leichter, heiterer, flachgedeckter italienischer Palast im schönsten Grün eines weiten Gartens, so auffallend vorleuchtend mit hellen Marmorfarben und großen glänzenden Fenstern als glücklicher Nebenbuhler, als eine neue fröhliche Zeit neben einer verschlossenen ängstlichen alten, daß diese Bemerkung sehr wahrscheinlich jedem beim ersten Anblicke eingefallen sein mag.

Doch ist das nur Schein; die Gebäude »erscheinen« nur »beim ersten Anblicke« so; bei Nähe betrachtet ist das »schwarze Schloß« völlig »wohlunterhalten und dauerhaft« und dies Ganze macht einem das wunderliche Gefühl, das die Leute romantisch zu nennen pflegen, es versetzt uns aus der sonnenklaren Deutlichkeit des guten täglichen Lebens in eine dämmernde Frühzeit, die auch uns erweckt hat und der wir heimlich noch immer mit erster Liebe

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Brief Schillers Nr. 84 vom 9. November 1795 an Wilhelm von Humboldt – Werke (Nationalausgabe (wie Anm. 28), Bd. 28: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796. Hrsg. von Norbert Oellers. 1969, S. 100–101. Über das Verhältnis von Architektur und Literatur/Sprache bei Goethe (ohne Erwähnung des Wilhelm Meister) vgl. jetzt auch Klaus Jeziorkowski: Die Grammatik der Architektur. Zum Rhythmus bei Goethe und Palladio.. Goethe: Baukunst (1795) – Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 47, S. 67–76, hier S. 69. Vgl. dazu Offermanns: Der universale romantsiche Gegenwartroman Achim von Arnims. Die »Gräfin Dolores«, S. 72; vgl. den Abschnitt »Die Schloßsymbolik im Eingangskapitel«, S. 72–83.

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anhangen und gedenken, ungeachtet es schon lange Mittag geworden und vielleicht bald wieder Nacht werden kann.37

Das Schloss verkörpert ein romantisches Programm: An dieser Stelle repräsentiert es das Alte; später jedoch wird es, wie wir noch sehen werden, im Sinne Arnims zur Verkörperung der Verbindung von Altem und Neuem, des Neu-Alten: »Das altertümliche fürstliche Schloß trat glänzend hervor im Morgenrot; der Wächter blies mit seinem Horn von der hohen Zinne den Tag an, es schien noch Jahrhunderte zu überschauen«.38 Demgegenüber steht der italienische »kunstreiche Palast auf seinen schlanken Marmorsäulen, mit seinen nackten Götterbildern, die bis zum Dache hinaufgestiegen in einem Reihentanze erstarrt zu sein scheinen, wie eine leere fremdartige Zauberei, die der Zauberer aufgegeben, nachdem sie Götter und Menschen betört hatte«.39 Der Palast ist, wie sich zeigen wird, eine Ruine, die nur vorübergehend wiederbelebt werden kann. Er und andere »fürstliche Schlösser, die bloß zum Sommeraufenthalte bestimmt« sind, gelten dem Erzähler bloss als »ungeheuere Anstalten zum Leben ohne Leben«.40 Auch scheint bei näherer Besichtigung alles an diesem Palaste den zerstörenden Elementen überlassen; der Wohlstand, der darin lange einheimisch gewesen sein mag, hat sich durch viele gewaltsame Auswege Luft gemacht, um zu verschwinden; die Fenster des untern Geschosses sind meist eingeschlagen, oder mit innern Fensterladen notdürftig geschlossen; das lückenvolle Dach hat große Stücken der Gesimse losweichen lassen; die Laden der Dachfenster schlagen im Winde nachlässig auf und zu; das zierliche eiserne Geländer, das den Vorhof schließt, ist des größten Teils seiner vergoldeten Blätter von mutwilliger Hand beraubt; die eisernen Türen liegen ausgehoben daneben, vom hohen Grase überwachsen; die Wände sind von Kindern mit Soldaten und von Soldaten mit den Namen ihres Regiments bezeichnet.41

Von diesem italienischen Palast heißt es ausdrücklich, dass sich sein Erbauer »mit vielem Kunstsinne einen der schönsten Pläne Palladios angeeignet und zugerichtet« habe42. Offensichtlich sind beide Schlösser Gegenbilder zum alten, aber nützlichen Schlossbau Lotharios und zum ebenfalls von Palladio inspirierten Schloss des Oheims bei Goethe. Aber anders als bei Goethe ist der Palast ein Affront gegen die Tradition und die angestammte Herrschaft. Er ist nicht nur Ergebnis »vieljähriger Anstrengungen eines leidenschaftlichen Bauverständigen«, sondern seine Größe kränkt auch »den Stolz der Fürstin«, aber »der Fürst, ihr sonst so ganz ergeben, war nicht zu einem ähnlichen Schloßbaue zu bewegen«. Die Wahrnehmung des italienischen Palastes ist keine ungetrübte; er ist eben nicht »wahre Kunst«, obwohl der Graf Karl beim Eintritt in den Palast von ähnlichen Gefühlen wie Wilhelm ergriffen wird: »Der Graf hatte nie etwas so Prächtiges gesehen; [...] jetzt aber dachte er sich’s als das höchste Glück in den schönen Verhältnissen dieser Zimmer sein 37 38 39 40 41 42

Arnim: Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 104. Ebenda, S. 515. Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 106.

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Leben zu führen«. Unmerklich jedoch vermischen sich bei ihm interesseloses Wohlgefallen und das Begehren nach der schönen Dolores, ist ihm doch bei ihrem Anblick, »als sei ihre Schönheit, die Wölbung ihrer Augenbraunen, das schöne Verhältnis ihrer Zähne, woran die edelste Säulenordnung zu erläutern, nur eine Wirkung von der Herrlichkeit dieses Baues, oder sie selbst sei die Baugöttin, so ganz erbaut war er von ihr, von ihrer Rede, von jeder ihrer Bewegungen.« Auch Nathalie (ihre Parallelfigur bei Arnim ist die edle Klelia) ist die ›Baugöttin‹ Wilhelms, doch der Kontrast der karitativen Amazone Goethes zur eitlen, müßigen und ehebrecherischen Dolores könnte nicht größer sein (»Klelia betete und Dolores blieb beinahe einen ganzen Tag im Bette liegen«). In Arnims Gräfin Dolores bricht die Gegenwart in das Schlösser-Verhältnis ein: Der Krieg zwingt jedoch gleich zu Beginn des Romans den »fürstlichen Hof für immer aus dem Schlosse seiner Vorfahren« zu verlassen43 – ganz ähnlich wie in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten »die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen« mussten44 –; Graf Karl lässt nach dem Ehe-Desaster das Schloss »unverändert, aber unbewohnt«45 zurück »als ein verschlossenes Denkmal seiner früheren Zeit, seines Glücks und Unglücks«46. Und als dann schließlich der alte Graf P..., der Erbauer des Palastes, zurückkehrt, fängt »das Schloß mit dem Glockenschlage zwölfe an vier Ecken« an zu brennen. Die Bürger, die sich beim Löschen nicht anstrengen, glauben, »das sei Gottes Finger, der vor dem Einzuge ihres Fürsten, noch das hochmütige Schloß des Grafen habe demütigen wollen, daß er eine reine Aussicht aus seinen Zimmern bekomme«.47 Rechzeitig zum »prächtigen Einzug« des »Fürsten [...] nach so vielen Jahren des Elendes« brennt das klassizistische Symbol der neuen Zeit und des Ehebruchs nieder: Das altertümliche fürstliche Schloß trat glänzend hervor im Morgenrot; der Wächter blies mit seinem Horn von der hohen Zinne den Tag an, es schien noch Jahrhunderte zu überschauen und des Grafen luftiges Gebäude, das so lange darauf zu spotten schien, lag da wie eine untergehende leichtsinnige Zeit reuig abbittend vor einer alten dauerhaften, wiederkehrenden, bescheidenern.48

Dass der alte Graf P... dann »Hand in Hand mit dem Fürsten zum Schlosse«, zum alten wohlgemerkt, geht, vollendet das Bild des Morgenrotes einer neuen Zeit, die auf der alten gründet. Auch in Arnims Kronenwächtern strukturiert eine Trias von Schlössern oder Burgen das Verhältnis von Alt und Neu, Gegenwart und Vergangenheit oder Vorzeit. Die »mächtigen Überbleibsel eines wunderbaren Gebäudes«, der »Palast des Barbarossa«, den der junge Berthold findet, spielen eine zwielichtige Rolle. Der Sarg mit den »drei hochehrwürdige Männer mit Kronen«, den Heiligen Drei 43 44

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Ebenda, S. 111. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 18, S. 98. Arnim: Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 462. Ebenda, S. 511. Ebenda, S. 514. Ebenda, S. 515.

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Königen, erweist sich als Miniaturabbild des Palastes, »schön neu und vollendet und [...] gewaltig groß«.49 Aber anstatt das Alte völlig zu rekonstruieren, macht Berthold aus dem getreu restaurierten Palast eine Tuchfabrik. Denn er sieht den Nutzen einer Rekonstruktion nicht ein, obwohl er »schon den ganzen Bauplan« im Kopf hat: »aber wozu soll ich alle die Zimmer erbauen, ehe wir wissen, wozu wir sie brauchen sollen und was ich darin unternehme.«50 Der Baumeister unterstützt ihn dabei und breitet »eine Fülle von Hoffnungen über das allmählige Steigen und Befreien der Städte von Fürsten und herrschenden Geschlechtern vor dem mutigen Herzen des Jünglings«51 aus. Die Tuchfabrik im Palast des Barbarossa, nicht die geheimbündlerischen Kronenwächter, sind die typisch Arnimsche Verbindung von Altem und Neuem, bei der man nicht entscheiden kann, »wo die Restaurazion anfängt und das Alte aufhört.«52 Sicher scheitert Berthold letztendlich, da, wie es in den Notizen zu den Kronenwächtern heißt, »die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen« werden könne.53 Doch sein Projekt der Umformung des Alten in etwas Neues und Nutzbringendes hat deutliche Vorzüge gegenüber dem gläsernen Luftschloss der Kronenburg, von der »kein Mensch« genau weiß, ob es sie wirklich gibt54, oder vor der grotesken Burg Schloss Hohenstock, deren Bau den Besuchern »gar seltsam verwirrt« erscheint.55 Das ganze Schloss ist »von geheimen Gängen durchzogen«, denen »alle Schönheit und Regelmäßigkeit aufgeopfert« sind56; zudem ist es »innerlich zu einem großen Vorratshause ausgehöhlt«57. Mit seinem verrückten Besitzer, dem Grafen Rappolt, der den Besuchern »wie ein ernstes Knochengerippe von einem Riesen der Vorzeit entgegen trat«58, den Räubern und dem »Mordweg«, der zur Burg hinaufführt, ist es ein typisch romantischer, jedoch funktionsloser Ort, ein Überbleibsel, das sich überlebt hat.

3. »von den ekelhaftesten, in Marmor gehauenen Schimären umgeben« An Brentano schreibt Arnim über Goethe und dessen Rezension des Wunderhorns: »die grellsten Verkettungen von Altem und Neuem sind ihm die liebsten, denn nur 49 50 51 52

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Arnim: Die Kronenwächter – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 36. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 61. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Bd. 3, S. 377–378. Vgl. zum Verhältnis alt – neu bei Arnim und in der Romantik auch Klaus Peter: Achim von Arnim: Gräfin Doores (1810), S. 251. Arnim: Die Kronenwächter – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 598. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Roswitha Burwick: Kunst und Geschichte in Achim von Arnims Die Kronenwächter, S. 139. Vgl. auch Ralf Simon: Konstruierte und destruierte Medien des Erinnerns in Achim von Arnims Romanfragment »Die Kronenwächter«, S. 133. Arnim: Die Kronenwächter – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 262. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 272. Ebenda, S. 263.

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in diesen bewährt sich ihm recht die Lebenskraft des Alten.«59 Deshalb ist sicher auch Bertholds Tuchfabrik im Palast des Barbarossa eine solche Bewährung der Lebenskraft des Alten. Eine rein am Klassizismus orientierte Gedächtniskultur, eine sentimentalische, um mit Schiller zu reden, Wiedergewinnung der Kultur der »alten Griechen«60 war für Arnim, wie die Paläste im italienischen antikisierenden Stil gezeigt haben, aber auch für Eichendorff und andere nicht das zu bewahrende ›Alte‹. So lehnt Eichendorff in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands eine »totale Rückwendung zum klassischen Altertum« ab, hebt »die sonnenklare altklassische Schönheit und ihren wohltätigen Einfluß, namentlich in formaler Hinsicht« hervor, wendet sich jedoch »eben so entschieden« gegen die »Abgötterei [...], die mit dem Griechenthum, als dem einzig würdigen, getrieben wurde«.61 Die romantische Abwehr des Klassizistischen kann bei Eichendorff zur Abwehr des heidnischen Zaubers, von des »Bösen Trug und Zaubermacht«, werden62. Denn der Tempel der Venus im Marmorbild macht den gleichen Eindruck wie das verfallende Schloss des Grafen P... in Arnims Gräfin Dolores. Dort gewährt nach dem Brande »das Lebendige, Frische in dem Zerstörten: Marmorsäulen, die halb zu Kalk verbrannt, bunte Wandmalerei, halb geschwärzt, einen eigentümlichen Eindruck von Vergänglichkeit«.63 Hier, im Marmorbild, stellt das Marmorschloss der Venus »Geschichten aus einer fröhlichen, lange versunkenen Welt« dar,64 die sich jedoch außerhalb der gottvergessenen sinnlichen Traumwelt bloß als »verfallenes Mauerwerk, an dem noch hin und wieder schöne Bildereien halb kenntlich waren«, entpuppt. »Welch ein Meister ist Arnim auch hier in der Darstellung der Zerstörnis!« ruft Heinrich Heine angesichts der Gräfin Dolores aus: »Ich meine es immer vor Augen zu sehen, das wüste Schloß der jungen Gräfin Dolores, das um so wüster aussieht, da es der alte Graf in einem heiter italienischen Geschmacke, aber nicht fertig gebaut hat.«65 Aber auch in der Verbildlichung von ›Unorten‹ ist er Meister. Ulfert Ricklefs hatte vor, in seinem Beitrag zum Kolloquium über »Raumphilosophie und Romanpoetik. Topologische Positionen und topographische Strukturen am Beispiel von Arnims ›Universalroman‹ Die Gräfin Dolores« auch über den »verzweifelten ›Unort‹ des Palagonienprinzen« zu sprechen, »wo jede architektonische und topologische Ordnung auf den Kopf gestellt ist«.66 Mit der Schilderung des Schlosses des »wunderlichen Prinzen« von Palagonien67 in Sizilien hat Arnim nach Ansicht 59

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An Clemens Brentano in Kassel, Heidelberg, 6. Februar 1808, Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 490. Schiller: Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, S. 430. Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands – Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 16. Eichendorff: Das Marmorbild – ebenda, Bd. 5,1, S. 74. Arnim: Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 519. Eichendorff: Marmorbild – Sämtliche Werke, Bd. 5,1, S. 67f. Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 459. So Ulfert Ricklefs in seinem ausführlichen Exposé. Arnim: Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 565; vgl. auch Aurnhammer: Das Ärgernis der Villa Palagonia., zu Arnim: S. 33–34; danach verkörpert für Eichendorff das palagonische Schloss das »Prinzip romantischer Phantasie«; ob das stimmt, ist mehr als fraglich, vergleicht doch Friedrich den »seltsamen Viktor« mit dem Prinzen und urteilt: »ein

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Detlef Kremers einen »allegorischen Selbstkommentar«68 verfasst, die Schilderung des grotesken Schlosses und damit die manieristische Ästhetik des Prinzen sei »in vielen Punkten poetisches Selbstporträt von Arnims Roman und seiner Literatur insgesamt.«69 Doch muss, vergegenwärtigt man sich die vielfältige Schlosssymbolik, die wir bisher ins Visier genommen haben, fraglich bleiben, ob Kremer mit seiner Argumentation nicht die bei aller ›Verwilderung‹ eine in der Tendenz konsistente Schloss-Symbolik überliest. Denn es nicht die Perspektive des Grafen, aus der das real existierende »Schloß dieses Prinzen« geschildert wird, sondern es ist die Perspektive des Romans. Und der Roman als Gattung ist, wie Arnim es in anderem Kontext einmal grundsätzlich formulierte, das »wichtigste, fast einzige nationale Erziehungsbuch des Deutschen«.70 Wenn auch die Gräfin Dolores, wie Lützeler formuliert, »als patriotische Tat« gedacht ist71, und wenn Eichendorff vom »tiefen, sittlichen Ernst«72 dieses Romans spricht, so fällt eine unvermittelte Lesart des palagonischen Chaos als Selbstporträt im Sinne Kremers und anderer schwer: Das Schloß dieses Prinzen ist allzu bekannt, um es weitläuftiger zu beschreiben, es hat unermeßliche Summen gekostet um alles hervorzubringen, was gegen den Geschmack, gegen die Bequemlichkeit, gegen jede Art Kunstsinn verstößt. Keine Mauer ist gerade oder in einer bestimmten Krümmung, kein Fenster dem andern gleich; die schiefe Türe, die von der Mitte des Hauses wenig absteht, ist von den ekelhaftesten in Marmor gehauenen Chimären umgeben; erst da bemerkt man, daß die ganze Mauer mit solchen Unwesen ordnungslos überzogen ist. Beim Eintritte erschrickt der Kunstliebende vor den schönen heiligen Bildern großer Meister, womit der Fußboden belegt ist, wogegen die Wände mit den Zerrbildern kleiner Kinder in kostbaren Rähmen prangen; alle Fensterscheiben sind aus zerbrochenen Stücken sehr beschwerlich zusammengelötet, und die Decke des Zimmers ist mit einem Gemische alter goldener Rahmen, Muscheln, Ordensbänder und Dokumente mit großen Wappen bedeckt; die prächtigen Stühle haben alle nur zwei Beine, und die Tische liegen alle umgekehrt.73

Das ist keine der zukunftsweisenden »grellsten Verkettungen von Altem und Neuem«; und wenn das palogonische Schloss als Allegorie des Arnimschen Erzählens verstanden werden kann, dann nur in dem Sinne, wie der Graf es erklärt: Das völlig Ungleichartige muss durch »geistige Zwischenglieder [...] ganz natürlich« verbunden und damit strukturiert werden. Denn »es ist nichts heiliger in der Welt als die Gedanken und nichts muß heiliger gehalten werden«.74 Und so kann Gerhart von Graevenitz schlussfolgern: »Ganz in Übereinstimmung mit der zentralen Thematik des Romans leisten ›Liebe und Verstehen‹ die Enthüllung eines ›Heiligen‹ aus dem Chaos der Phänomene.«75

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Mensch muß sehr kalt oder sehr unglücklich sein, um so zu phantasieren.« Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 88 und 92. Kremer: »Das Land der Kunst« – Italien als Spiegel einer klassizistischen und einer manieristischen Ästhetik (Goethe – Arnim – Hoffmann), S. 98. Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 138. Zit. nach Klaus Peter: Achim von Arnim: Gräfin Doores (1810), S. 254. Abschnitt »Struktur und Gehalt« in: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 758. Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur – Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 336. Arnim: Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 566. Ebenda, S.567. Graevenitz: Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske, S. 247.

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Goethe aber brandmarkt in der Italienischen Reise mit dem palagonischen Wahnsinn »Exzesse chaotischer Heterogenität«76: Denke man sich nun dergleichen Figuren schockweise verfertigt und ganz ohne Sinn und Verstand entsprungen, auch ohne Wahl und Absicht zusammengestellt, denke man sich diesen Sockel, diese Piedestale und Unformen in einer unabsehbaren Reihe, so wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch diese Spitzruten des Wahnsinns durchgejagt wird.77

Auch Eichendorff greift Garten und Schloss des »Prinzen in Sizilien« wieder auf, und er kann mit dem ganzen Schloss-Repertoire, das von den alten (»Friedrich glaubte jeden Augenblick, das Burgfräulein, den hohen Spitzenkragen um das schöne Gesicht, werde in einem der Gänge heraufkommen«78) und neuen Schlössern (»Endlich sah man ein schönes, neues Schloß sich aus einem großen Park luftig erheben. Es war das Schloß von Leontins Schwester.«79) bis zum donnernden Zusammensturz des überlebten Schlosses Dürande reicht, virtuos spielen. So greift Eichendorff im Marmorbild direkt auf Arnim zurück: Der schlossartige Tempel der Venus – »Das Schloß selbst war ganz von Marmor, und seltsam, fast wie ein heidnischer Tempel erbaut.«80 – ist bei Tage ein »altes verfallenes Gemäuer, [...] alles von einer üppig blühenden

Wildnis grünverschlungener Ranken, Hecken und hohen Unkrauts überdeckt.«81 Wie der italienische »kunstreiche Palast auf seinen schlanken Marmorsäulen, mit seinen nackten Götterbildern« in der Gräfin Dolores ist auch Eichendorffs Marmorschloss bei näherem Hinsehen bloß eine Ruine. Klassik und Romantik schaffen so ein vielschichtiges literarisches Raumsymbol, dem wie kaum einem anderen architektonischen Artefakt historische, gesellschaftliche und ästhetische Verweiskraft innewohnt. Vor allem bei Stifter82, über Fontanes Schloss Stechlin mit seinen am Schluss »verödeten Räumen«83 bis hin zu Musil und weiter zu Thomas Bernhard entwickelt sich das ›Schloss‹ zu einem vielschichtigen, nunmehr fast ausschließlich österreichischen Ausdruck individueller und kultureller Identität weiter.84 Denn für ›das Schloss‹ gilt in verstärktem Maße, was Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes zurecht feststellt: »Das Haus ist ein Verband von Bildern, die dem Menschen eine Stabilität beweisen oder vortäuschen.«85 Und Schlösser sind und bleiben schließlich wie bei Randolph William Hearst »one man’s dream« – oder nightmare.

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Ebenda, S. 246. Goethe: Italienische Reise II – Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 31, S. 113. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 19. Ebenda, S. 23. Eichendorff: Marmorbild – ebenda, Bd. 5,1, S. 67. Ebenda, S, 76. Kersten: Eichendorff und Stifter. Vom offenen zum geschlossenen Raum, S. 134 und 149. Fontane: Der Stechlin – Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, S. 386. Vgl. meinen Aufsatz: »Das Haus, in dem ich hier wohne, ist eine Ruine«. Gaston Bachelard: Poetik des, S. 59.

NATURRÄUME

Stefan Nienhaus

»Waldeinsamkeit«: Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus

Ein einfacher Zweig ist dem Vogel lieber als ein goldener Käfig. Chinesisches Sprichwort

Das Wort »Waldeinsamkeit« ist inzwischen wieder aus der Umgangssprache verschwunden. Es wurde – wenn man so sagen darf – Opfer seiner eigenen Erfolgsgeschichte, sowohl aufgrund eines inflationären Sprachgebrauchs, als auch im Sinne eines weitgehenden Verlusts seines Gegenstandes: Nicht nur sind generell im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung die Wälder geschrumpft, wo sie noch überlebt haben, sorgen Wanderparkplätze und unzählige, von fleißigen Tourismusvereinen markierte Wege dafür, dass es mit der Waldeinsamkeit nirgendwo mehr weit her ist. Die Sehnsucht der zu vielen nach dem unverfälschten, einsamen Naturerlebnis führt zu dessen Auslöschung, im gleichen Sinne wie die Ströme des Kulturtourismus, die sich ungeachtet seiner technischen Reproduzierbarkeit weiterhin auf die Suche nach der Aura des originalen Kunstwerks begeben, eben diese vernichten (versuchen Sie einmal heutzutage die Fresken der Sixtinischen Kapelle Buonarotti, Micheangelo in jener »ruhigen Einsamkeit«1 zu betrachten, die sich Tieck für seinen Sternbald noch vorstellen konnte…). Den Beginn der Verfallsgeschichte seiner glücklichen Wortschöpfung hat Tieck bekanntlich ja selbst noch erlebt und mit scharfsinniger Präzision in seiner späten Novelle, eben nur mehr ironisch Waldeinsamkeit betitelt, beschrieben: Im Abstand von etwa vierzig Jahren haben »Umgestaltungen, Gewöhnungen«2 das bei seiner Erfindung von den ersten Hörern des Blonden Eckberts3 noch im doppelten Sinne als ›unerhört‹ empfundene Wort bis in die Zeitungsanzeigen gelangen lassen, »wo ein Gut angeboten wird, nicht von großem Umfange, und indem der Verkäufer das Haus, den Garten und die Äcker beschreibt, fügt er hinzu, es finde der Liebhaber zugleich hinter dem Gemüsegarten eine sehr vortreffliche Waldeinsamkeit.«4 Als zentraler Begriff der romantischen Epoche lebt »Waldeinsamkeit« jedoch in der Fachliteratur fort, ja er findet sich sogar in den dem Stichwort »Einsamkeit« gewidmeten Spalten des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, dort allerdings wenig spezifisch angeführt als Bezeichnung einer »Stimmungslandschaft«: »Sie kann Verlassenheit wie Weltverbundenheit bewusst machen, deprimieren wie

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Tieck: Werke in einem Band, S. 287. Tieck: Schriften, Bd. 12, S. 860. Zitate aus Der blonde Eckbert nach: Tieck, Schriften Bd. 6, S. 126–146. Tieck: Schriften, Bd. 12, S. 858 (Hervorhebung im Text).

Stefan Nienhaus

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trösten, was übrigens in der Romantik für die Einsamkeit allgemein gilt.«5 Ich möchte hier die lapidare Auffassung von Waldeinsamkeit als Projektionsraum beliebiger Stimmungen nicht weiter kommentieren, allerdings wäre es sicher interessant, nicht etwa die unzähligen Deutungen des Blonden Eckbert insgesamt, sondern nur einmal allein die Lektüren des »Waldeinsamkeit«-Liedes zusammenzustellen. Einigkeit besteht in ihnen wohl nur im Bezug auf die zentrale Rolle der Formel, von August Wilhelm Schlegel bereits als Extrakt der Tieckschen Poesie, von Detlef Kremer jüngst gar als »einer der Quellcodes des romantischen Diskurses«6 bezeichnet. Im Übrigen ist die Distanz, die etwa Ricarda Huchs Lektüreimpressionen des Eckbert-Liedes von neueren Deutungen trennt, frappierend, denn ihre sich nahezu diametral widersprechenden Interpretationen lassen sich wohl kaum mit dem zeitlichen Abstand (oder gar mit den Erkenntnisfortschritten der Literaturkritik) begründen. Man mag zunächst nur irritiert stutzen, wenn man in Huchs herrlichem und immer noch zu empfehlendem ›Roman der Romantik‹ liest, »daß das Liedchen von der Waldeinsamkeit, das mit leichten Abwandlungen immer wiederkehrt, eine liebe Melodie, die einen nicht loslassen will, der Tropfen Rosenöl sei, von dem aus der weiche Duft sich gleichmäßig durch die kleine Dichtung verbreitet«7. In der poetischen Metapher klingt auch noch das überraschend positive Urteil Rudolf Hayms nach, der im Fall des Blonden Eckbert nicht umhin kann, diesem einen »wirklich poetische[n]« Charakter zu bescheinigen, »dergestalt, daß die dichterische Form den düsteren Inhalt bis auf einen gewissen Grad aufzehrt und verflüchtigt«8. Während die an drei für die Handlungsentwicklung signifikanten Stellen zyklisch eingestreuten Strophen sich für Ricarda Huch zu einer »lieben Melodie« verdichten, deren Variationen gegenüber dem gemeinsamen Grundton unbeachtet bleiben können, richtet unter den späteren Auslegern z. B. Carl Scheibe gerade auf diese seine Aufmerksamkeit. Scheibe erläutert, wie durch die Binnenstruktur der ersten Liedstrophe die »Außerweltlichkeit« der Landschaft, in die Bertha von der Alten geführt wurde, in ihrer »Außerzeitlichkeit« bezeichnet wird als »ewige Wiederkehr des Gleichen«, die aus dem Lied »in den Text und das märchenhafte Geschehen hineingetragen«9 werde. Hier die Verse der ersten Liedstrophe: Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit, O wie mich freut Waldeinsamkeit.10

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Ulrich Dierse: Einsamkeit. – In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 407–413, hier Sp. 409. Kremer: Einsamkeit und Schrecken. – In: Kremer (Hrsg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 61. Huch: Die Romantik, S. 291. Haym: Die romantische Schule, S. 86. Scheibe: Aspekte des Zeitproblems in Tiecks frühromantischer Dichtung, S. 54. Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 132.

»Waldeinsamkeit«

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In einer Kreisbewegung kehrt das Gedicht am Schluss über eine leichte Variation des zweiten im vorletzten Vers zum Ausgangswort »Waldeinsamkeit« zurück, während die beiden Mittelzeilen den Vorgang der Wiederholung selbst explizit thematisieren. In der zweiten Strophe, die vom Vogel nach der Flucht Berthas aus der zeitlosen Waldlandschaft zum Stadtleben gesungen wird, ist der paradoxe Ausdruck »ewge[.] Zeit« durch »Einst mit der Zeit«11 ersetzt, d. h. hier wird, wie Scheibe in seiner Interpretation deutlich macht, »die Zeitkategorie mit der Zukunft greifbar«, während sich »Waldeinsamkeit« nun mit der Vergangenheit verbindet: So wird von der zweiten Liedstrophe her die Bedeutung des Zeitbegriffs für die Unterscheidung der beiden Welten, in denen Bertha gelebt hat, offenkundig. […] So wird menschliches Unglück in diesem Märchen aus dem Verhaftetsein des Menschen in den Bedingungen diesseitiger Zeitlichkeit begriffen. Die Zeit ist eine den Menschen verstoßende Macht. Sie drängt ihn aus der unschuldigen Harmonie der Kindhaftigkeit.12

Dass bei dieser Interpretation Heideggerische Kategorien anklingen, dass in ihr der Tod Berthas und das tragische Ende Eckberts allein als Strafe für die Flucht aus der kindlich-zeitlosen Unschuld unter Verdrängung des heiklen Inzestmotivs gedeutet wird, scheint mir weniger interessant, als die Tatsache, dass die Interpretation insgesamt auf einer Isolierung des Liedtextes von seinem Erzählkontext beruht und sich hingegen einer akribischen Analyse des Worbestandes der Verse widmet, denen eine logisch-exakte Bedeutung abgelesen wird. Ohne den Verdienst der an der Textoberfläche orientierten Detailuntersuchung schmälern zu wollen, möchte ich doch Ricarda Huchs ›Duftextrakt‹ gleichfalls als legitime Lektüremöglichkeit erhalten wissen. Zu ihrer Unterstützung kann ich etwa auf die narrative Verdeutlichung der Formel von Novalis: »Poesie = Gemütherregungskunst«13 im Sternbald hinweisen: Im (ja nur zwei Jahre nach dem Eckbert veröffentlichten) Roman soll der Held die schöne Gräfin portraitieren, die sich jedoch »in Tränen aufgelöst«14 präsentiert. Um die Trauer um ihren verschollenen Geliebten zu erleichtern, verlangt die Gräfin von einem anonymen »jungen Mädchen«, dass sie ihr ein Lied singe: »Was dir zuerst einfällt, […] nur nichts Schweres, etwas Leichtes, Schwebendes, das nur in Tönen lebt.«15 Das »mit zarter Stimme« gesungene Lied spricht nun gerade von einer trostlosen »dicht[n] Einsamkeit«, in der »die ganze Welt […] leer«16 ist; in den letzten Versen wird der Verlust des Geliebten explizit als Grund für die Verlassenheit genannt: Tränen, Rufen, Klagen, Singen, Könnt ihn nicht zurück mir zwingen? Garten, Berge, Wälder weit Sind mir Grab und Einsamkeit.17 11 12 13 14 15 16 17

Ebenda, S. 139. Scheibe: Aspekte der Zeitprobleme in Tiecks frühromantischer Dichtung, S. 57. Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 801. Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen – Werke in einem Band, S. 181f. Ebenda, S. 180. Ebenda, S. 181. Ebenda.

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Analysierte man diese Verse allein auf der Wortbedeutungsebene, könnte man zu dem Verdacht kommen, dass jenes Mädchen auf perfide Art das Messer in der Seelenwunde der Gräfin herumdrehe, um diese in trostlose Verzweiflung zu treiben. Die Wirkung des Gesangs ist aber eine ganz andere: Während des Liedes schien es dem Maler, als wenn eine Verklärung mit süßem Glanz durch alle Adern des Angesichtes sich verbreite und wie ein Licht aus der schönen Stirn hervordringe; alle Züge wurden noch sanfter und sinniger, er fühlte sich von dieser ausströmenden Klarheit wie geblendet. Aber die Töne gaben ihm Ruhe und Heiterkeit, er konnte mit Sicherheit arbeiten, indem die Schöne das Lied noch einigemal wiederholen ließ.18

Für die Poesie wird hier postuliert, dass sie unter Ausschaltung von Realitätsreferenz – wie Haym sagte: den ›düsteren Inhalt aufzehrend‹ – als Musik direkt ins Gemüt dringe und eine von den Wörtern unabhängige, beruhigende, gleichsam therapeutische Wirkung provoziere (die ihrerseits wieder als Bedingung für die »Ruhe und Heiterkeit« verlangende Kreativität indiziert wird). Während hier der Erzählkontext die positive Wirkung einer »lieben Melodie« und deren tendenzielle Indifferenz gegenüber einem Realitätsbezug der Verse, eine Loskoppelung des Signifikanten vom Signifikat suggeriert, ist dies im Blonden Eckbert zunächst einmal keineswegs der Fall. Nicht nur werden die mittleren Verse eben nicht »leicht«, sondern – wie bereits referiert – entscheidend abgewandelt, die verschiedenen Strophen markieren zudem – wie jüngst Detlef Kremer noch einmal zusammengefasst hat – »zentrale Punkte« der Erzählung: die »Ankunft Berthas in der Hütte der Alten«, die »Tötung des Vogels« und »Eckberts Katastrophe«19. Wollte man sie nach ihrer topographischen Semantik benennen, so könnte man hier auch von der Hütte der Alten als der Waldeinsamkeit, von Berthas Ankunft in der Stadt als dem Verlust der Waldeinsamkeit und der Ankunft Eckberts in der Nähe der Hütte der Alten als der Rückkehr in die Waldeinsamkeit sprechen, womit dann zugleich an die exakte Wechselwirkung zwischen Erzählkontext und Variation der mittleren Strophenverse erinnert würde – natürlich ohne zu übersehen, dass die beiden ersten Strophen des Lieds zu Berthas Binnenerzählung gehören, während die letzte »mit wunderlichen Tönen« von Eckbert gehört wird und ihn »um das Bewusstsein«20 bringt, es sich also um eine Abfolge von nicht auf derselben Erzählebene situierten, sondern narrativ verschachtelten Räumen handelt. Demgegenüber zu berücksichtigen ist aber auch der deutliche Texthinweis, dass hier von Bertha und Eckbert nicht etwa verschiedene Strophen eines Lieds gehört werden, sondern jeweils ein anderes Lied bzw. ein jeweils »veränderte[s] Lied«,21 das allerdings von demselben Sänger: dem Vogel gesungen wird. Dies wird allerdings beim dritten Lied nicht mehr gesagt: Neben dem Bellen des laut Berthas Erzählung ja von ihr zum jämmerlichen Verenden verurteilten Hundes reicht für Eckbert allein der Gesang des Lieds hin, das doch 18 19 20 21

Ebenda, S. 181. Kremer: Einsamkeit und Schrecken. – In: Kremer (Hrsg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 60f. Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 145. Ebenda, S. 139.

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vorher vom durch sie ermordeten Vogels gesungen wurde, um ihn den Verstand verlieren zu lassen (und die an ihn darauf gerichteten Fragen: »Bringst du mir meinen Vogel? […] Meinen Hund?«22 bestätigen nun auf der realistischen Ebene deren Tod, während sie auf der übernatürlichen (Alb-)Traumebene ja nur einen Teil der als Schuld zu erkennenden Handlungen ansprechen und gleichsam als Vorstufe zu den in der Inzestanklage gipfelnden Enthüllungen der Alten gehören). Während also die dritte Strophe, oder das dritte Lied, in einer Traumwelt gesungen wird, die allerdings als die wiederhergestellte des Anfangs der Binnenerzählung gekennzeichnet ist: Waldeinsamkeit Mich wieder freut […] Von neuem mich freut Waldeinsamkeit23

sind die beiden vorangehenden präzise und noch ohne den vom Ende des Textes alles überschattenden Realitätszweifel lokalisiert.24 Die Topographie des narrativen Kontextes für das erste Lied weist eine komplexe Konstruktion von perspektivischer Verengung und verschachteltem Wechselspiel offener und geschlossener Räume auf. Die letzten Passagen auf dem Weg zur Hütte der Alten sind deutlich als Übergang gekennzeichnet. In den Schein der die Konturen verwischenden Abenddämmerung getaucht, enthält die unmittelbar vor der Ankunft situierte Landschaftsbeschreibung alle Ingredienzien des locus amoenus. In dieser »heitre[n] Stille« bekommt Berthas »junge Seele […] jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und ihren Begebenheiten«. Auf dieses noch ganz offene Landschaftsbild, worin »der reine Himmel […] wie ein aufgeschlossenes Paradies« erscheint, folgt eine rapide Engführung der Perspektive: »Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von oben sah man in ein grünes Tal voller Birken hinein, und unten mitten in den Bäumen lag eine kleine Hütte.«25 Die Tallandschaft setzt in konzentrierter Form diejenige des Wegs dorthin fort: Die Birke in der Symboltradition »auf Himmel und Himmelsgott bezogen« und als 22 23 24

25

Ebenda, S. 145. Ebenda. Selbstverständlich auf der Ebene der Textimmanenz, also wie sie von den Figuren wahrgenommen wird; auch wenn hier zunächst, vor der Zusammenführung der Erzählschichten am Schluss, Berthas Erzählung von vornherein mit deutlicheren Märchenmotiven versehen ist als die Rahmenerzählung, es bei dieser also z. B. – wie Achim Hölter meint – »absurd« (Hölter: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie Tiecks Blonder Eckbert den modernen Leser kreiert.– In: Kremer [Hrsg.]: Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 87) wäre, an der Angabe über die Lage von Eckberts Schloss im Harz zu zweifeln, so sind die Raumsituierungen des Märchens ja gleichfalls keineswegs von Deutungen suspendiert, d. h. von der Frage danach, was denn ihre Denotate seien, welche Bildphantasien sie im Leser hervorrufen und welche Interpretation(en) derselben sie provozieren können. Einfacher gesagt: ob Bertha oder der Held des »Runenbergs« in einem einsamen Waldflecken oder in einer Berghöhle ankommen, regt genauso verschiedene und an den Text gebundene Deutungen an, wie auch, ob sie dort einer hexenhaften Alten oder einer vor Schönheit blendenden Venusgestalt begegnen. Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 132.

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»Sinnbild des Frühlings und der Leben erweckenden Kraft«26 muss als einziges Deskriptionselement der statischen, paradiesischen Umgebung hinreichen, von der in der Folge nur noch negativ das Fehlen jeder Störung mitgeteilt wird (»dabei war alles so still umher, dass ich mich in der ganzen Zeit keines Sturmwindes, keines Gewitters erinnere«27). Denn von dieser zitierten knappen Einleitung an ist ausschließlich vom Innenraum der Hütte, bzw. von einem aus diesem nach Außen gerichtetem Blick die Rede. Nach dem Eintritt in die Hütte bestätigt sich nicht nur die Vermutung, dass der Gesang des Vogels aus dieser stamme, sondern der Blick richtet sich nun auf den noch engeren Raum, woher die Töne kommen: »in einem glänzenden Käfig hing ein Vogel am Fenster, und er war es wirklich, der die Worte sang«. Indem diese »beständig wiederholte[n]« »wenigen Worte« in Bertha das Gefühl erwecken, »als wenn Waldhorn und Schalmein ganz in der Ferne durcheinander spielen«28, also Bilder eines weiten und offenen Bewegungsraumes suggerieren, steht ihre im Text postulierte Wirkung29 hingegen in klarem Kontrast zu der Enge und Abgeschlossenheit von der Außenwelt ihres Sängers. Der in den späten Novellen Waldeinsamkeit und Des Lebens Überfluß30 festzustellende skeptische Vorbehalt gegenüber dem Absolutheitsanspruch romantischer Poesie findet sich bereits hier im Eckbert in den Attributen des allegorischen Bildes: Der am Fenster aufgehängte, in einem ›goldenen Käfig‹ eingeschlossene Sänger ist nicht nur ein mit in den verschiedensten Farben versehener, sondern auch ein sich der eigenen Pracht bewusster, der beim Gesang sich stolz aufbläht, »so daß sich seine Federn noch prächtiger zeigten«.31 Wie die Außenwelt in Des Lebens Überfluß nur an den Eisblumen des Fensters (und schließlich nur am eigenen Innern), in Lindens waldeinsamer Klause nur von den Gravuren in den Scheiben abgelesen wird, so singt schon der Vogel im Eckbert hinter dem Fenster, bzw. auf Berthas zweiter Wanderschaft nur, wenn sein Käfig still auf dem Boden ruht. Bereits hier haben wir also eine Situierung des »Fluchtpunkt[s] der romantischen Phantasien über das einsame narzisstische Subjekt« »in der Existenz des Schriftstellers«32, dargeboten in dem beinahe karikativen Bild des Vogels. Die sich selbst aus dem Wort generierende Bedeutung der Dichtung, deren Selbstreferenz nur auf Stimmungen bezogen ist, keine andere Kommunikation erlaubt und in sich selbst kreisend jede von Außen kommende als indifferent einstuft: der Vogel wiederholt nicht bloß immerfort nur ein- und dasselbe Lied, er tut dies vor allem, wenn die Alte mit ihm spricht, und er ihr dann »nur mit seinem gewöhnlichen Liede Antwort

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30

31 32

Lurker (Hrsg): Wörterbuch der Symbolik, S. 93. Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 134. Ebenda, S. 132. Bei Linden bedarf es zur Auslösung ähnlicher Assoziationen dann nur noch der einzigen Chiffre: »Und alles dies und was ich jemals von Sehnsucht nach Natur empfunden habe, wachte vorhin in meinem Busen wieder ganz lebendig auf, als das Wort Waldeinsamkeit nur genannt wurde.« Tieck: Schriften, Bd. 12, S. 861. Vgl. dazu Kremer: Einsamkeit und Schrecken. – In: Kremer (Hrsg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 60–63. Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 134. Kremer: Einsamkeit und Schrecken. – In: Kremer (Hrsg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 61.

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gab«33, oder, wie Bertha von ihrer Einsamkeit in der Hütte der Alten berichtet: »der Vogel antwortete mit seinem Liede auf alle meine Fragen«.34 Wird diese Grenzziehung zwischen der ›selig in sich selbst scheinenden‹ Poesie und der Außenwelt aufgehoben, so kommt es zum unversöhnlichen Konflikt. Allein die Wiederholung des ersten Liedes nach dem Aufbruch aus dem Idyll wird von Bertha als trauriges Erinnern an das Verlorene erlitten – die im nach Ankunft in der »angenehmen Stadt«35 gesungenen, zweiten Lied ausgesprochene, explizite Mahnung ist ihr unerträglich. Selbst der Anblick der Schönheit des Sängers ist nun »zuwider«36 und macht Angst. Mit der Ermordung des Vogels versucht Bertha die irritierende Erinnerung zu verdrängen, das von Verlust und Schuld sprechende Lied muss zum Schweigen gebracht werden. Dieser Tötungsakt wird keineswegs als eine unbewusste Handlung, wie etwa Eckberts Schuss auf Walther, sondern als klarer Entschluss dargestellt.37 Auch hier spielt der Käfig eine entscheidende Rolle. Das erste und einzige Mal, dass von dessen Öffnung die Rede ist, bedeutet diese den Tod des Vogels. Der Vorgang wird äußerst präzise und in seiner ganzen Brutalität beschrieben: »ich öffnete endlich den Käfig, streckte die Hand hinein und faßte seinen Hals, herzhaft drückte ich die Finger zusammen«. Die Penetration der Außenwelt in das abgeschlossene künstliche Terrain ist gleichbedeutend mit der Auslöschung des Gesangs: Die Trennung von (romantischer) Poesie und Leben ist unüberwindbar, jene existiert nur im von diesem distanzierten Kerker solipsistischnarzistischer Schönheit. Tiecks frühromantischen Texten ist die später expliziter entwickelte Kritik an einer nurmehr in sich selbst kreisenden Subjektivität seit dem Lovell eingeschrieben; im Eckbert wird deutlich, dass dieses Grundproblem moderner Individualisierung in der sich allein aus dem Wort generierenden und in sich selbst ruhenden Poesie ihren extremen Ausdruck findet. Hiermit soll nun keineswegs behauptet werden, den Generalschlüssel zur Deutung dieses vielfach verrätselten und für viele gleich gültige Interpretationen offenen Textes gefunden zu haben. Dass aber diese Lesart neben anderen gleichfalls möglich ist, sollte einmal mehr den vermeintlichen Bruch zwischen Tiecks Früh- und seinem Spätwerk in Frage stellen. Der produktivste frühromantische Dichter war von Anfang an ein skeptischer Romantiker. Die kritische Darstellung des Kerkers der reinen Poesie wird in der Novelle von 1840 zur herben Satire auf die »schiefrennenden Poeten«, die nolens volens entweder dem Wahnsinn verfallen oder sich doch zur »Galeere der Gewöhnlichkeit«

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Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 133. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 139. Ebenda. Die analogische Struktur der beiden Szenen – dazu: Hölter: Über Weichen geschickt und im Kreis gejagt. Wie Tiecks Blonder Eckbert den modernen Leser kreiert. – In: Kremer (Hrsg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, S. 85 – schafft eine inhaltliche Nähe nur hinsichtlich der Kreation einer spannungssteigernden Beschleunigung durch den mittels der Kommasetzung und Knappheit erzeugten Staccatoton; der Unterschied, dass der eine »wie im Traum«, die andere aber »herzhaft«-entschlossen handelt, wird davon nicht verwischt.

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herablassen, sprich: das »alltägliche Leben«38 als einen gleichfalls der Dichtung würdigen Gegenstand zulassen müssen. Doch schon im Sternbald nimmt Tieck das Motiv des Vogelkäfigs in genau diesem Sinne wieder auf: Dem einsiedlerisch in einer Waldhütte lebenden Maler »war ein Hänfling unvermerkt aus seinem Käfige entwischt«. Der Alte ist untröstlich über den Verlust des »schönen Gesang[s]«, der nun nicht mehr nur für ihn zu hören sein, sondern sich mit dem allgemeinen Singen des Waldes vermischen wird. Schließlich aber muss er erkennen, dass »die Freundschaft«, die ihm der Vogel immer bewiesen habe, doch nur eine künstlich erzwungene, imaginierte war: »er hat sein Futter nicht einmal verzehrt, so lieb ist es ihm gewesen, mich zu verlassen. Ich habe ihn so sorgfältig gepflegt, und doch ist ihm die Freiheit lieber.«39

38 39

Tieck: Schriften, Bd. 12, S. 867. Tieck: Werke in einem Band, S. 200f.

Eva-Maria Broomer und Judith Purver

»Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes«: Wasser-Räume und Poesie in der Romantik1 Die Wasser-Räume der Romantik sind vielfach Schauplatz philosophischer und mythologischer Turbulenzen und werden so zum Treffpunkt nicht nur zwischen verschiedenen Welten, sondern auch zwischen Gut und Böse, Vergangenheit und Zukunft, Ordnung und Chaos. Dies ist besonders offensichtlich im Bild des Strudels oder Wirbels, dessen Metaphorik sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie beständig wiederkehrt. Hier wird das Zusammenspiel unterschiedlichster Assoziationen und Dynamiken am Beispiel des Donaustrudels, wie er zu Beginn von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart beschrieben ist, untersucht. Dabei wird zunehmend deutlich, dass der Donaustrudel nicht nur ein evokatives literarisches Phänomen darstellt, sondern auch als Naturerscheinung über Jahrhunderte die Aufmerksamkeit Reisender und Wissenschaftler auf sich gezogen und bei ideologischen Auseinandersetzungen vor allem zwischen Aufklärung und Romantik eine wichtige Rolle gespielt hat. Somit veranschaulicht er in besonders eindringlicher Weise die Vermischung und Verschlungenheit literarischer, philosophischer, wissenschaftlicher, ideologischer und technischer Diskurse, die im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert einen Höhepunkt erreichten. In diesem Beitrag wird zunächst die wissenschaftliche und historische Bedeutung des Strudels zur Zeit Eichendorffs diskutiert, wobei besonderes Interesse dem Konflikt aufklärerischer und romantischer Weltbilder zuteil wird, der sich in zeitgenössischen und historischen Dokumenten über den Strudel niederschlägt. Der zweite Teil der Diskussion befasst sich mit anderen literarischen und philosophischen Beispielen von Strudeln, die beim Lesen von Eichendorffs Roman mitschwingen. Da es hier unmöglich ist, dieses weitreichende Thema auch nur annähernd zu erschöpfen, werden im Folgenden einige Beispiele aus der romantischen Literatur und Philosophie selektiv aufgegriffen und auf Eichendorffs Strudel bezogen. Dabei wird eine methodisch sehr fruchtbare Untersuchung von Charles D. Minahen hinzugezogen, die sich mit dem Bild des Wirbels in der Antike und in der angelsächsichen und französischen Literatur der Romantik und des neunzehnten Jahrhunderts befasst.

1

Unser Dank gebührt Dr. Franz Heiduk, Würzburg; dem Taylor Institute, Universität Oxford; Frau Renate Matt, Archiv der Stadt Linz; Herrn Christian Leitner, Musikverein St. Nikola; Herrn Harald Waldmüller, Stadtamt Grein; Dr. Karl Hohensinner, Stadtarchivar von Grein.

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1. Der Strudel und Wirbel Zu Beginn von Eichendorffs 1810 bis 1812 entstandenen, 1815 erschienenen Roman Ahnung und Gegenwart unternimmt der Protagonist, Graf Friedrich, eine Donaureise, während der er auf einen gefährlichen und unheimlich anmutenden Wirbel stößt: Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz Trost- und Friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes.2

Der Kontrast zwischen dem »Sturz und Streit der empörten Wogen« einerseits und der durch das Schweigen der Vögel suggerierten Stille andererseits, die an Goethes Gedicht »Ein Gleiches« erinnert, fällt hier besonders ins Auge. Dass der Wirbel, wie er hier dargestellt wird, mehr bedeutet als nur ein Naturphänomen, an dem über die Jahrhunderte einige Schiffe zugrunde gegangen sind, wird deutlich vor allem in der Behauptung, dass er »alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht«, also nicht nur für das Individuum, sondern auch für die gesamte Welt der Erscheinungen eine existentielle Bedrohung darstellt. Die philosophischen Implikationen dieses Bildes sind klar. Die uns bekannte Welt der Erscheinungen, das Leben, wird als fragiles Konstrukt entlarvt, das in Gefahr ist, eingefangen in einem »furchtbaren Kreis« in den Abgrund gezogen zu werden. Die Beziehung zwischen empirischer und transzendentaler Welt, die ein Leitmotiv der Romantik darstellt, ist hier nicht mehr nur Gedankenexperiment, sondern konkrete und beängstigende Wirklichkeit, die von jedem Donaureisenden, der diese Stelle passierte, aus erster Hand erfahren wurde.

Abb. 1: Gesamtübersicht Strudel und Wirbel, Stich aus Joseph Walcher: Nachrichten (1781), der Strudel (links) und Wirbel (rechts) 2

Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 4.

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Zeitgenössische Beschreibungen und Illustrationen lassen keinen Zweifel darüber, dass dieser Ort der Donaustrudel bei Grein im österreichischen Strudengau war.3 Wie eine Illustration Joseph Walchers (1781) zeigt (Abb. 1), bestand er aus zwei separaten Hindernissen im Fluss, die Eichendorff zu einem einzigen Phänomen verbindet. Schiffer passierten zunächst den so genannten Strudel oder Struden. Hier teilte das Flussbett sich in einen vor allem bei niedrigem Wasser nicht passierbaren Arm auf der rechten Seite und links in den eigentlichen Strudel. Zu Eingang des Strudels befand sich nach Walcher sowohl ein Kreuz als auch eine Ruine: »An der mitternächtigen Seite befinden sich ungeheure Steinklippen, ein fürchterliches Ufer, und auf einem hohen Felsen, bei den noch übrigen Mauern des zerfallenen Wörtherschloßes, steht ein steinernes Kreuz, welches den Herabfahrenden schon von Weiten in die Augen fällt, und sie der bevorstehenden Wassergefahr erinnert.«4 Eine Illustration von Mattheus Merian aus Martin Zeillers Topographia Provinciarum Austriacaru[m] (Abb. 2) bestätigt Walchers Aussage und gibt zu der Frage Anlass, ob Eichendorff sich nicht nur vom wirklichen Ort, sondern auch von dieser Illustration inspirieren ließ, denn auch hier sind Wirbel und Kreuz deutlich aufeinander bezogen, wobei das Kreuz alles andere überragt. Es handelt sich also sowohl bei Merian als auch bei Eichendorff um eine Interpretation des Strudens im christlichen Sinn.

Abb. 2. Mattheus Merian »Der Strudel an der Thomaw« aus Martin Zeillers Topographia Provinciarum Austriacarum

Die eigentliche Gefahr des Strudens bestand in mehreren dicht unter der Wasseroberfläche liegenden Felsen (Abb. 3). Erst nach Passieren des Strudens stießen Reisende auf den Wirbel. Hier befand sich ein Felsen nicht mit einem Kreuz,

3

4

Stutzer: Der Jochenstein in der Donau in »Ahnung und Gegenwart”, liefert keinen zwingenden Beweis für seine These, der Jochenstein in der heutigen Gemeinde Untergriesbach im Unteren Bayerischen Wald sei das Original des Wirbels in Eichendorffs Roman. Walcher: Nachrichten, S. 3.

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Abb. 3: Der Strudel oder Strum unterhalb Grein, Stich aus Joseph Walcher: Nachrichten (1781)

sondern mit einer Ruine (Abb. 4), die in Sagen oft mit dem Teufel in Zusammenhang gebracht wird. Hierzu Zeiller 1649: »so stehet nur ein kleiner steinen Thurn / ohne Holz / und Dach / auff einem auß der Thonau herauff / und ueber dieselbe gehendem Felsen/ allda; so der Teuffels Thurn genennet wird [...].«5 Wie diese Zitate zeigen, beschränkt sich der Eindruck des Unheimlichen und des Teuflischen keineswegs auf poetische Beschreibungen wie die Eichendorffs, sondern ist auch in scheinbar nüchterneren Äußerungen gegenwärtig.

Abb. 4: Hausstein und Wirbel, Stich aus Joseph Walcher: Nachrichten (1781)

5

Zeiller: Topographia Provinciarum Austriarcaru[m], S. 10.

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Über Jahrhunderte hat der Donaustrudel Menschen, die die Donau bereisten oder beschrieben, fasziniert. Zur Zeit Eichendorffs schien ihm allerdings ein baldiges Ende bevorzustehen, da die 1777 von der Kaiserin Maria Theresia angeordneten Arbeiten schon 1778 begonnen hatten, diese für die Donauschiffahrt gefährliche Stelle sicherer zu machen. Darüber schreibt Walcher: Im Jahre 1777, welches sich mit häufigen Verunglückungen der Schiffe besonders ausgezeichnet hatte, drangen die vervielfältigten Klagen der Schiffleute wider den Strudel nachdrücklicher als jemals bis zum höchsten Throne hinauf, und die gutthätigste Monarchinn geruhte allergnädigst der aufgestellten Navigationsdirektion an der Donau aufzutragen, sich mit wirksamer Eifer auf eine ernstliche Abhilfe dieses der Schiffahrt so nachtheiligen Anstoßes zu verwenden.6

Diese Arbeiten wurden jedoch durch die Napoleonischen Kriege unterbrochen; erst 1853 bis 1866 fanden die entscheidenden Felsensprengungen beim Wirbel statt.7 Was diese nicht zerstört hatten, wurde durch den in den 1950er Jahren unternommenen Bau eines Kraftwerkes und einer Aufstauung des Flusses endgültig beseitigt, wie Gottfried Hofmann 1966 berichtet und in einer Photographie veranschaulicht (Abb. 5). Hofmann bedauert, dass »[d]ie Beseitigung der gefahrdrohenden Felsen und Riffe allerdings mit dem Verlust der charakteristischen Uferlandschaft erkauft«8 wurde. Eine weitere, wiederum Hofmanns Buch entnommene Photographie (Abb. 6) zeigt den Blick die Donau hinunter, wie er sich nach den Flussarbeiten präsentiert. Im Hintergrund ist die Insel Wörth zu erkennen, an der sich die Donau ehemals in den gefährlichen Struden links und den versandeten Arm rechts teilte.

Abb. 5: Kraftwerk Ybbs-Persenbeug fertiggestellt. Fotografie von Gerhard Hofmann 1966

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Walcher: Nachrichten, S. 13. Jäger: Eichendorff in Oberösterreich, S. 2. Hofmann: Strudengau, S. 7.

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Abb. 6: Grein und die Greinburg, Blick in den Strudengau mit Wörth Fotografie von Gerhard Hofmann 1966

2. Ideologische Befrachtung Wie schon erwähnt, ist die »wissenschaftliche« Diskussion um den Donaustrudel vielfach ideologisch befrachtet. Walcher scheint alle Zweifel, die man gegenüber dem Projekt der Donausicherung hegen könnte, das der unwiederbringlichen Veränderung eines der pittoreskesten Abschnitte der Donau galt, vorab beseitigen zu wollen: »Die auf allerhöchste Verordnung zu Verbesserung der Schiffahrt unternommene Bearbeitung des berufenen Strudels wollte man durch öffentlichen Druck nur zu dem Ende bekannt machen, damit die Nachwelt von dieser wichtigen Unternehmung eine zuverläßige Nachricht habe.«9 Der sagenumwobene und – nach Eichendorff – »herrliche« Strudel wird hier zum »berufenen«, und die Versicherung, die Absicht des Bandes sei »nur«, zuverlässig von den Donauarbeiten zu berichten, also nicht, diese zu rechtfertigen oder zu verteidigen, ist wenig überzeugend. Walcher bemüht sich denn auch sichtlich, die landschaftliche Zerstörung herunterzuspielen, oder vielleicht sogar vorzuschlagen, dass das Sprengungsgeröll ein neuer landschaftlicher Blickpunkt werden könnte: Denn, weil die ganze Arbeit nur in Heraussprengung der schädlichen Felsen aus dem Grundbette des Strudelwassers bestehet, so kann hievon kein anders Merkmal, als die Abwesenheit der vormaligen Gefahr zurückbleiben; und Diejenigen, welche die Größe dieser Gefahr nicht gekannt, oder die wirkliche Arbeit nicht gesehen haben, werden bei der ungeheuren Menge der 9

Walcher: Nachrichten, S. 1.

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rauhen Felsen, die den Strom sowol, als beide Ufer noch anfüllen, und immer anfüllen werden, mittlerzeit kaum glauben können, daß da jemals eine Felsensprengung wirksam sey vorgenommen worden.10

Besonders Johann Popowitchs Bemerkungen, die Walcher um 27 Jahre voraus gehen, zeigen deutlich, wie in den Bemühungen, die Donau schiffbarer zu machen, aufklärerische Ideologie mitschwingt.11 Popowitch ist es nicht nur daran gelegen, den (Aber)Glauben, der Wirbel führe in einen unterirdischen und geheimnisvollen Tunnel,12 wissenschaftlich zu wiederlegen, sondern seine Ausführungen muten eindeutig aufklärerisch an, indem er den Zeitgeist des »heutige[n] Tages, da der gute Geschmack allgemach beginnet auch des gemeinen unstudirten Mannes natürliche Schlüsse zu leiten, und die Begierde des Wundersamen, durch eine glückliche Aufklärung des Verstandes, sich ziemlich mindert«13 anpreist. Seine bewundernde Beschreibung Karls VI macht deutlich, wie sich aufklärerische Gesinnung und Monarchismus, jedenfalls in seinen Augen, nicht unbedingt gegenseitig ausschließen: Da nun dieser grosse Kaiser die Kunst besessen, wie man die Natur bezwingen, unwegsame Orte wandelbar machen, Steinberge zersprengen, und mit derselben Ruinen die Thäler anschütten, Pfützen austrocknen, die geräumige Striche von Landschaften öde, und die Luft ungesund machten, wie auch den Flüssen neue Bettungen graben, und ihren Lauf darinnen einschränken soll, so würde dieser hocherleuchtete Monarch, wol auch beim Strudel und Wirbel, ja noch viel eher, und vielleicht mit leichterer Mühe, Rath geschafft haben.14

Im Gegensatz zu Walchers Behauptungen scheinen der Strudel und Wirbel weniger lebensgefährlich als einfach nur unbequem gewesen zu sein, wie es schon 1649 bei Zeiller (nach einer anonymen Zeugenaussage) heißt: Es hat ein vermeintlich gefährlich Ort im Strudel genant / da das Wasser der Thonau / wegen der darinn habenden Felsen / hoch über sich steiget / an einem Berg / darauff ein alt zerfallen Schloß stehet: Die erfahrne Schiffleut aber fahren so hart sie können / an dem Gestad / auffm Kiess / beseits hindurch / und ist sich allhie gar keiner Gefahr zu besorgen; und wann das Wasser groß / kan man neben hin / durch ein gar sichern Gang / schiffen. Auff ein paar hundert zwey Schritt komt man in den Würbel / in welchem das Wasser / weil es für einen Felsen etwas schnell fürüber laufft / sich etwas auffhält/ und einmal zwey herum llaufft / daß der / so es sihet / und man es ihme nit weiset / schwerlich warnimt / und also gar keine Gefahr zugewarten ist.15

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Ebenda. Folgende Bemerkung bestätigt, dass Walchers Gesinnung mit der Popowitchs übereinstimmt: »so hat man im vorigen Jahre 1780 aus der Abhandlung von dem Meere des Hrn. Popowitch jenen Theil, welcher die ganze Strudelgeschichte ausführlich enthält; in einer besonderen kleinen Ausgabe mit von Kurzbeckischen Schriften den Liebhabern vorgelegt«. Walcher: Nachrichten, S. 1–2. Vgl. Hofmann: Strudengau, S. 20: »So glaubte man lange Zeit, daß im Wirbel ein Teil des Donauwassers unterirdisch abfließe und erst wieder im Plattensee in Ungarn zutage komme.« Popowitch: Untersuchungen, S. 203. Ebenda, S. 210–211. Zeiller: Topographia Provinciarum Austriarcharu[m], S. 10.

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Der Meinung, dass der Donaustrudel eigentlich für moderne Schifffahrt ungefährlich war, schloss sich 1772 der englische Musikforscher Charles Burney an, der von diesem Abschnitt seiner kontinentalen Reise wenig beeindruckt scheint: […] it appeared to me less formidable than I expected. The shooting London Bridge is worse, though not attended with more noise. The company prayed and crossed themselves most devoutly; but though it may, especially in winter, be a very dangerous pass in a boat, this raft may dip into the water, but it covers such a surface, that it cannot possibly either sink or be overset.16

Wohl aus gekränktem Nationalstolz schreibt Nicolai: »Burney urtheilt […] sehr einfältig«, bekennt aber selbst, dass mit einem guten Schiffmeister »gar keine Gefahr«17 bestehe. Der immer wiederkehrende Verweis auf die Gefährlichkeit des Donaustrudels, sei es der Struden oder der Wirbel, könnte also einerseits vorgeschobener Grund für seine Entfernung gewesen sein, andererseits aber auch erheblich zu seiner Mythologisierung beitgetragen haben. Diesen Hang zur Mythologisierung, der paradoxerweise gerade den Befürwortern der Aufklärung anzuhaften scheint, findet man auch bei Popowitch, der bezeichnenderweise den Vergleich mit den griechischen Seemonstern Scylla und Charybdis zieht: »Indem nun der Strudel der italienischen Scylla, der Wirbel aber der Charybdis ziemlich gleichet, so ist es auch auf der Donau wahr, daß die Schiffleute auf diesem Strome allemal eines aus beiden, entweder die Scylla, oder die Charybdis zu befürchten haben.«18 Obwohl Nicolai sich auch diesem Vergleich gegenüber skeptisch verhält,19 lädt letzterer doch dazu ein, einen Zusammenhang zwischen diesen Monstern älteren mythologischen Ursprungs und den in der Romantik so beliebten Wassernixen, Sirenen, Donaunixen, und natürlich auch der Loreley zu ziehen. Wie schon erwähnt, ist der Donaustrudel ein Ort des Kontrastes. Dieser Kontrast ließe sich aber nicht nur auf den Konflikt zwischen Ruhe und Unruhe, oder empirischer und transzendentaler Realität beziehen. In den verschiedenen Beschreibungen tritt auch die neuere Welt des Christentums, symbolisiert durch das Kreuz auf dem Felsen, mit älteren Mythologien und Religionen in Widerstreit. An den Vergleich mit den griechischen Figuren der Scylla und Charybdis reihen sich Überbleibsel heidnischer Bräuche römischen und germanischen Ursprungs, auf die Neweklowsky verweist: Einen Beweis für eine bis ins Neolithikum reichende Schiffahrt bieten die prähistorischen Funde im Struden. Die Fachleute sind sich darüber einig [...], daß es sich [...] zum Teil um Opfer an eine Stromgottheit handeln muß, die mit dem Wunsche um eine sichere Durchfahrt oder als Dank für die glücklich vollbrachte gestiftet wurden. Die Stromgottheit scheint gerade an dieser Stelle ihren Sitz gehabt zu haben, worauf ja auch die außerordentliche Häufung von Sagen hindeutet. Der Stromgott scheint einerseits verchristlicht im heiligen Nikolaus, andererseits in jenem Nix fortzuleben, der im Liede »Als wir jüngst in Regensburg waren” gerade an 16 17 18 19

Burney: Continental Travels, S. 142. Nicolai: Beschreibung einer Reise, S. 538, 540. Popowitch: Untersuchungen, S. 209–210. Nicolai: Beschreibung einer Reise, S. 540.

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dieser Stelle mit dem adligen Fräulein Kunigund in des Strudels Grund fährt. [...] Die Römer haben den erzürnten Stromgott durch hineingeworfene Münzen zu versöhnen gesucht, deren zahlreiche gefunden wurden [...]. Bemerkt sei, daß von der oberen Donau zwei Weihaltäre an Danucius bekannt sind.20

Andererseits verweist aber Popowitchs Vergleich mit Scylla und Charybdis auch auf eine weibliche Befrachtung, die laut Minahen für Metaphern von Spiralen und Strudeln typisch ist. Während jedoch Minahen die Figur der Spirale mit dem Bild der Muschel vergleicht und darauf hinweist, dass letztere positive Lebenskräfte – »procreation, birth, and growth«21 – symbolisiert, assoziert Popowitch den Strudel mit tödlichen Kräften, mit alles verschlingenden Seemonstern, die ebenfalls weiblich konnotiert sind. Hier bietet sich ein Kontrast an zwischen dem weiblich assoziierten, alles verschlingenden Loch22 und dem phallisch anmutenden Felsen mit dem Teufelsturm, so dass an diesem Ort des Donaustrudels zwei Mächte des Bösen gewissermaßen den Reisenden in entgegengesetzte Richtungen reißen. In Ahnung und Gegenwart befindet sich aber auf dem »seltsamen Felsen« kein Teufelsturm, sondern ein Kreuz, das laut Walcher am Eingang des Strudens, nicht des Wirbels, angesiedelt war. Somit wird aus dem Widerstreit zwischen maskulinisierten und feminisierten bösen Mächten bei Eichendorff ein Kampf zwischen Gut und Böse. Dabei scheint die Geschlechtssymbolik zum Teil erhalten, zum Teil aber auch modifiziert zu sein. Erstens ist das Kreuz kein spezifisch phallisches Symbol; zweitens ist das Wasser zunächst weiblich konfiguriert, nicht aber mit dem Weiblichen gleichzusetzen. Obwohl Walcher and Popowitch sich so eingehend für die Zähmung und hiermit für die Zerstörung des Donaustrudels einsetzen, bleibt seine mythologische Befrachtung auch Ende des achtzehnten Jahrhunderts also erhalten. Beide Autoren liefern für spätere Leser und Forscher wichtiges Quellenmaterial und Illustrationen. Walchers Illustrationen werden so zu einem der wichtigsten Zeugnisse des Donaustrudels nach dessen Beseitigung und finden sich sowohl in Nicolais Reisebeschreibungen als auch in Neweklowskys umfangreichem Werk wieder. Besonders Popowitch scheint es daran gelegen, die Diskussion um die Bewandtnis des Wirbels möglichst vollständig wiederzugeben. Beide perpetuieren somit paradoxerweise den Mythos, den sie unterdrücken. Das gilt auch für Nicolai, der seine Eindrucke des Strudels mit Hilfe eines Zitats aus Miltons Beschreibung der Hölle zu veranschaulichen versucht: Von der andern Seite war es fürchterlich schön, diese wilde Gegend, wie Milton sagt, in sichtbarer Dunkelheit23 durchzufahren; denn in der That konnte man nicht mehr als die großen Massen von Felsen und Wellen sehen. Die hohen bewachsenen Berge auf beiden Seiten des 20

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23

Neweklowsky: Die Schiffahrt, Bd. 1, S. 17, 21. Danucius ist der römische Flussgott, dem die Donau ihren Namen verdankt. Minahen: Vortex(t), S. 6. Hofmann: Strudengau, S. 35, beschreibt einen in Markt Struden befindlichen Anker, dessen »Stange aus einem zähnebewehrten Schlangenkopf » wächst. Ein ähnlicher Anker befindet sich beim neuen Rathaus in Grein. Beide erinnern an die vagina dentata. Übersetzung der Worte »darkness visible«. Vgl. Milton: Paradise Lost, S. 10.

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Ufers, die im Strom hervorstehenden Felsenmassen, das Schäumen, das Zischen, das Rauschen des Wassers, die zunehmende Dunkelheit, alles dieß zusammen macht einen Eindruck, der nur empfunden werden kann, und den ich nie vergessen werde.24

Im Folgenden wird diskutiert, worin die Faszination bestand, der Eichendorff sowie andere Schriftsteller so offensichtlich erlegen sind. Dabei macht sich sowohl in Eichendorffs Beschreibung als auch in Nicolais Charakterisierung der Gegend als »fürchterlich schön« eine Ambivalenz bemerkbar, die für die Rolle des Wassers nicht nur in der Romantik bezeichnend ist. Bevor die Diskussion aber auf andere literarische und philosophische Beispiele eingeht, soll Eichendorffs Donaustrudel näher untersucht und an einigen Beispielen gezeigt werden, wo der Autor bewusst oder unbewusst Sagen- und Legendenmaterial in seiner Beschreibung aufgreift.

3. Sagen und Legenden In den vielen mit dem Donaustrudel verbundenen Sagen und Volkslegenden, auf die Newelkowsky verweist,25 werden vor allem der Wirbel und der Hausstein (der Felsen, auf dem die Ruine stand), mit dem Teufel in Verbindung gebracht. So sollen sie nach einer dieser Volkslegenden einem missglückten Versuch des Teufels, die Donau durch eine Mauer abzusperren, ihr Dasein verdanken. Als die Mauer nicht vor Morgengrauen fertig wurde, habe der Teufel von seinem Versuch ablassen müssen und habe noch den Hausstein als letzte Geste des Zornes in den Fluss geworfen, wodurch der Wirbel entstanden sei. Folgende von Jacob Grimm wiedergegebene Legende ist von besonderem Interesse, da sie weder in anderen zeitgenössischen Beschreibungen des Donaustrudels noch in der EichendorffLiteratur erwähnt wird: [...] in Östreich wird von des teufels franel […] erzählt, vor langer weile sei sie aus der hölle in das Oberland (ob der Ens) gekommen und habe sich von ihrem sohn unweit der Donau ein schloss bauen lassen, in der meinung, das volk werde sie auch wie die jungfrau Maria verehren; als aber niemand ihrer begehrte sondern die leute ihrer spotteten, sei sie erzürnt und habe einen mächtigen felsen mit einem theil ihres schlosses in die Donau geworfen, dahin wo es jetzt der wirbel und der strudel heisst, und die trümmer ihres hauses nennt man den teufelsthurm.26

Wie Eichendorffs Beschreibung kann sich diese Textstelle nur auf den Strudel bei Grein beziehen. Dies wird durch Nr. 482 der von den Grimms nacherzählten Deutschen Sagen, »Der Teufels-Thurn am Donaustrudel«, bestätigt: Es ist eine Stadt in Oesterreich, mit Namen Crain, ob der Stadt hat es einen gefährlichen Ort in der Donau, nennet man den Strudel bei Stockerau, da hört man das Wasser weit und breit rauschen; also hoch fällt es über den Felsen, macht einen großen Schaum, ist gar gefährlich dadurch zu fahren; kommen die Schiff in einen Wirbel, gehen gescheibweis herum, schlägt das Wasser in die Schiff, und werden alle, die auf dem Schiff sind, ganz und gar naß. Wenn ein 24 25 26

Nicolai: Beschreibung einer Reise, S. 538. Neweklowsky: Die Schiffahrt, Bd. 2, S. 196–211. Grimm: Deutsche Mythologie, Bd. 2, S. 960–961.

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Schiff nur ein wenig an den Felsen rührt, zerstößt es sich zu kleinen Trümmern. Da muß jedermann arbeiten, an den Rudern mit Gewalt ziehen, bis man herdurch kommt. [...] Kaiser Heinrich, der dritte dieses Namens, fuhr hinab durch den Strudel; auf einem andern Schiff war Bischof Bruno von Würzburg, des Kaisers Vetter; und als dieser auch durch den Strudel fahren wollte, saß auf einem Felsen, der über das Wasser herausging, ein schwarzer Mann, wie ein Mohr, ein gräulicher Anblick und erschrecklich. Der schreit und sagt zu dem Bischof Bruno: »Höre, höre, Bischof! Ich bin dein böser Geist, du bist mein eigen; fahr hin, wo du willt, so wirst du mein werden; jetzund will ich dir nichts tun, aber bald wirst du mich wieder sehen.« Alle Menschen, die das hörten, erschraken und fürchteten sich. Der Bischof machte ein Kreuz und gesegnete sich, sprach etlich Gebet, und der Geist verschwand vor ihnen allen. Dieser Stein wird noch auf diesen Tag gezeigt; ist darauf ein kleines Türnlein gebaut, allein von Steinen und kein Holz dabei, hat kein Dach, wird der Theufels-Thurn genannt. [...]27

Die Assoziation des Felsen mit dem Teufel ist wohl in Eichendorffs Satz »Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes« erhalten. Dabei wird vor allem auf den seelischen Tod angespielt.28 In Eichendorffs Roman dient der Donaustrudel außerdem zum Hintergrund für die Einführung Rosas, einer zentralen weiblichen Gestalt der Handlung, die Friedrich und seine Gefährten beim Durchfahren des Strudels erblicken: »Hier bog plötzlich ein anderes fremdes Schiff, das sie lange in weiter Entfernung verfolgt hatte, hinter ihnen um die Felsenecke. Eine hohe, junge, weibliche Gestalt stand ganz vorn auf dem Verdecke und sah unverwandt in den Wirbel hinab.«29 Diese Beschreibung erinnert an die vielen Sagen um Geisterschiffe, die laut Neweklowsky sich auf die Donau beziehen. Besonders auffällig ist aber ihre Ähnlichkeit mit einer Version der Donaunixen-Legende, die Neweklowsky nach Depinys Sagenbuch30 nacherzählt. Hier begegnet ein Schiffer der Nixe: »Bald verlor er die Herrschaft über sein Fahrzeug, die Kraft verließ ihn und er ließ das Ruder sinken. Plötzlich stand eine hohe Frauengestalt im Schiff, von der ein Leuchten ausging. […] Es war die Donaunixe gewesen«31 (Abb. 7).

Abb. 7: Die Donaunixe vom Strudengau. Entwurf: Adolf Tuma, Stich: Wilhelm Pfeiler, 1997

27 28 29 30 31

Grimm: Deutsche Sagen, S. 540–541. Vgl. Stopp: The Metaphor of Death, S. 74–75. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 4. Depiny (Hrsg.): Oberösterreichisches Sagenbuch S.47–48. Neweklowsky: Die Schiffahrt, Bd. 2, S. 207.

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Allerdings ist das Nixenmotiv nicht unbedingt weiblich – man denke zum Beispiel an Kühleborn in Fouqués Undine, an den Wassermann in Fabers Märchen im fünften Kapitel von Ahnung und Gegenwart, an die von Newelkowsky erwähnte Donausage des Wassernix, oder auch an die Deutschen Sagen; in mehreren von ihnen geht es um den Wassermann.32 Eine Version des Wassermann-Motivs, die auch Eichendorff hätte kennen können, findet sich ebenfalls im noch heute bekannten Volkslied Als wir jüngst in Regensburg waren: [...] Als sie auf die Mitt gekommen, Kam ein großer Nix geschwommen, Nahm das Fräulein Kunigund fuhr mit ihr in des Strudels Grund. Schwäbische, bayrische Dirndel juchhe Muß der Schiffmann fahren. Wem der Myrtenkranz geblieben, Landet froh und sicher drüben, Wer ihn hat verloren, ist dem Tod erkoren. Schwäbische, bayrische Dirndel juchhe Muß der Schiffmann fahren. [...]33

In der vorhergehenden Strophe des Liedes wird Kunigund als ein »[ä]dlig Fräulein«34 bezeichnet, was im Roman den Bezug sowohl auf Rosa als auch auf Ida in Fabers Märchen herstellt. Der Myrtenkranz symbolisiert Hochzeit, aber auch Jungfräulichkeit. Hier vermischen sich im Donaustrudelmotiv christliche moralische Elemente mit Aberglauben und Sagen und konstruieren so eine Ambivalenz des weiblichen Motives, das Rosa repräsentiert, indem sie einerseits als geheimnisvolle Ursacherin der Gefahr, andererseits als dem Sündenfall erlegene Figur fungiert. Man könnte dies offensichtlich auf andere weibliche Figuren in der Literatur ausdehnen, und von einer Spannung sprechen, die aus mythologischen Verweisen auf Eva- und Maria-Figuren ensteht.35 Spannungsgeladen und dadurch zweideutig ist daher auch die moralische Funktion der »neuen Welt«, die Friedrich in den Augen Rosas zu entdecken glaubt: »Da sah das Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegneten Friedrichs Blicken. Er fuhr innerlichst zusammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke plötzlich eine neue Welt von blühender Wunderpracht, uralten Erinnerungen und nie gekannten Wünschen in seinem Herzen auf.«36 Der Leser wird darüber nicht aufgeklärt, ob dies eine verführerische Halluzination oder eine himmlische Offenba-

32

33 34 35 36

Siehe Deutsche Sagen Nr. 49, 51, 52 und 53. Parallelen mit Fabers Märchen weist besonders Nr. 51, »Tanz mit dem Wassermann«, ebenda, Bd. 1, S. 84, auf. Neweklowsky: Die Schiffahrt, S. 359–360. Ebenda, S. 359. Siehe Sauter Bailliet: Die Frauen im Werk Eichendorffs. Hier wird Rosa aber nicht erwähnt. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 4.

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rung ist. Im Zusammenhang mit dem restlichen Roman scheint beides möglich. Rosas Rolle ist ambivalent, da sie beständig zwischen dem Weltlichen und dem Himmlischen oszilliert.

4. Der Strudel als Schwellenphänomen Schon seit Urzeiten verbindet sich das Bild des Strudels oder der Spirale mit der Verwandlung und dem Transzendenten. Dazu schreibt Minahen: »As a locus of mediation […] the vortex is thus a threshold between here and there, before and after, and any object crossing over is utterly transformed«.37 Es ist daher konsequent, dass in literarischen Werken das Bild des Wirbels häufig in Verbindung mit dem Motiv der Reise auftritt. Minahen verweist unter anderem auf den englischen Romantiker William Blake, der in seinem epischen Gedicht Milton den Begriff der Unendlichkeit an Hand dieses Bildes zu verdeutlichen versucht: The nature of infinity is this: That every thing has its Own Vortex, and when once a traveller thro’ Eternity Has pass’d that Vortex, he percieves [!] it roll backward behind His path, into a globe itself infolding like a sun, Or like a moon, or like a universe of starry majesty, While he keeps onwards in his wondrous journey on the earth, Or like a human form, a friend with whom he liv’d benevolent. […] Thus is the heaven a vortex pass’d already, and the earth A vortex not yet pass’d by the traveller thro’ Eternity.38

Hier ist also die ganze Welt ein Wirbel, den der Reisende im Laufe seines irdischen Lebens passieren muss. Wie der Wirbel sind auch die Welt und das Leben ambivalent. Der allgemeine Tenor der Handlung und der beschriebenen Ausflüge und Vergnügungen in Ahnung und Gegenwart suggeriert eine Leichtherzigkeit, die die hier und da durchbrechenden Einblicke in das Unheimliche und sogar die Hölle um so wirkungsvoller und schockierender erscheinen lassen. So erinnert das bunte Treiben eines Maskenballes, in das Friedrich sich in der Residenz stürzt, an ein Höllentreiben: Geblendet trat er aus der stillen Nacht in den plötzlichen Schwall von Tönen, Lichtern und Stimmen, der wie ein Zaubermeer mit rastlos beweglichen, klingenden Wogen über ihm zusammenschlug. […] Zu beiden Seiten toste der seltsame, lustige Markt, fröhliche, reizende und ernste Bilder des Lebens zogen wechselnd vorüber, Girlanden von Lampen schmückten die Wände, unzählige Spiegel dazwischen spielten das Leben ins Unendliche, so daß man die Gestalten mit ihrem Widerspiel verwechselte, und das Auge verwirrt in der grenzenlosen Ferne dieser Aussicht sich verlor. Ihn schauderte mitten unter diesen Larven.39

37 38 39

Minahen: Vortex(t), S. 148. Blake: The Complete Prose and Poetry, S. 392; dazu Minahen: Vortex(t), S. 90. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 122.

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Die positiven Eindrücke des »lustigen Marktes« und der »fröhlichen« und »reizenden Bilder« werden unterminiert durch die Verwirrung und Täuschung der Spiegel, die dem Menschen eine falsche Unendlichkeit vorspiegeln und die Szene so in die Bedrohlichkeit ziehen. Die Metaphern des »Zaubermeeres« und der »klingenden Wogen« erinnern außerdem an den Wasserwirbel am Anfang des Romans. Dass gerade Tanz und Festlichkeiten mit Wirbeln assoziiert werden, wird unter anderem in Wilhelm Hauffs Gedicht »Soldatenmut« (1824) deutlich: »Wenn sich der Tanz im Wirbel schwingt, / Und Aug in Auge blickt«.40 Dieses Bild taucht auch in Hauffs Roman Der Mann Im Mond (1825) auf, als Ida, »das Teufelskind, [...] immer rasender walzte, immer rascher im Wirbel tollte«.41 Dass hier wie in Fabers Märchen in Ahnung und Gegenwart der Name »Ida« vorkommt verweist intertextuell auf Eichendorffs Roman, wo der Wassermann mit Ida tänzt. Dabei drückt Hauff offen aus, was bei Eichendorff nur implizit bleibt, nämlich die Assoziation zwischen dem Bild des Wirbels und dem des rasenden Tanzes, der für Ida in Fabers Märchen zum Todestanz wird. Auch beim Maskenball in Ahnung und Gegenwart tanzen Tod und Teufel mit. Beim Anblick einer als »Tod von Basel«»42 maskierten Figur wird den anderen Gästen »unheimlich zu Muthe«.43 Friedrich spielt auf diese Figur an, als er die »kleine Marie« vor ihrem sexuell ausschweifenden Leben warnt:

Abb. 8: Mattheus Merian: »Todt zur Jungfrawen«, Kupferstich zum Basler Totentanz, 1649

»›Er ist so lustig aufgeschmückt und ein rüstiger Tänzer, aber seine Augen sind leer und hohl und seine Hände totenkalt, und du mußt sterben, wenn er dich in die Arme 40 41 42 43

Hauff: Sämtliche Werke. Bd. 3, S. 344. Ebenda, S. 667. Vgl. ebenda, S. 632. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart – Sämtliche Werke, Bd. 3, S.124. Ebenda, S. 123.

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nimmt, denn dein Buhle ist der Teufel‹«.44 Dabei schwebt Friedrich ein Bild wie Merians Illustration »Todt zur Jungfrawen« zum Basler Totentanz (1649) wohl vor Augen (Abb. 8). Den Lübecker Totentanz (Abb. 9) hatte Eichendorff selbst gesehen.45

Abb. 9: Der Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck. Lithographie von Carl Julius Milde, 1866

Die Bilder des Wassers und des wirbelartigen Getümmels in Zusammenhang mit Tod und Teufel kommen auch bei Dante vor. Im zweiten Gesang des Inferno wird Dante als einer dargestellt, der auf einer Flut vom Tod bedroht wird: »non vedi tu la morte che