Die Pflicht zum guten Gesetz [1 ed.] 9783428486694, 9783428086696

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Die Pflicht zum guten Gesetz [1 ed.]
 9783428486694, 9783428086696

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 34

Die Pflicht zum guten Gesetz Von

Axel Burghart

Duncker & Humblot · Berlin

AXEL BURGHART

Die Pflicht zum guten Gesetz

Beiträge zum Parlaments recht Herausgegeben von

Wemer Kaltetleiter, mrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 34

Die Pflicht zum guten Gesetz Von

Axel Burghart

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Burghart, Axel: Die Pflicht zum guten Gesetz I von Axel Burghart. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 34) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08669-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08669-4

e

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Für Dörte

Vorwort Diese Arbeit hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg im Sommersemester 1995 als Dissertation vorgelegen. Nach guter Sitte soll das Vorwort genutzt werden, um Dank zu sagen. Herrn Professor Dr. Ulrich Karpen danke ich für Ratschläge und Hinweise, die zugleich Hilfe boten und Freiheit ließen, sowie für die Erstattung des Erstgutachtens. Den Herausgebern und der Duncker & Humblot Verlagsbuchhandlung gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe "Beiträge zum Parlamentsrecht11 . Der Anteil, den die Eltern zu all dem beitragen, was ihr Kind vollbringt, läßt sich nicht ermessen oder aufwiegen. Hier danke ich für das Geschenk zu meinem 27. Geburtstag, die Beteiligung am Druckkostenzuschuß. Schließlich, aber nicht zuletzt danke ich Herrn Kurt Hölzer für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Buchholz Ld.N., im September 1995

Axel Burghart

Inhaltsverzeichnis Einleitung ......................................................................................................... .19

Erster Abschnitt A. Das notwendige Gesetz ..................................................................................... 22 I. Ursachen der Übernormierung ............................•......................................... 24

1. Das Gesetz als politische Maßnahme ......................................................... 25

2. Institutionelle und systemimmanente Gründe ..................... : ......................... 26 3. Rechtsstaatsbezogene Normierungsflul.. .................................................... 27 4. Gestiegene Erwartungshaltung gegenüber dem Gesetz ................................... 28 5. Ausufernde Regelungsaufgaben ............................................................... 29 11. Folgen ................................................................................................... 30 III. Abhilfe ...................................................................................................33 IV. Verfassungsrechtliche Schranken der Übernormierung ........................................ 36 1. Die Wesentlichkeitstheorie ..................................................................... 36 a) Abgrenzung zum Unwesentlichen ......................................................... 38 b) Regelungsgrenze im wesentlichen Bereich .............................................. 40 c) Zusammenfassung ............................................................................ 41 2. Das Übermaßverbol.. ........................................................................... 41 a) Gesetzgebung als Freiheitsbeschränkung ................................................ .41 b) Individuelle und gemeinschaftliche Freiheitsrechte .................................... 42 c) Das Subsidiaritätsprinzip .................................................................... 43 d) Staatliche Reglementierung unter Rechtfertigungszwang ............................. 44 e) Leistungsrecht ................................................................................. 47 f) Innere Übernormierung ...................................................................... 48

g) Änderungsnotwendigkeit. ................................................................... 48 h) Änderungsgebot. .............................................................................. 50 i) Zusammenfassung .................................................................... ......... 52

10

Inhaltsverzeichnis 3. Gewaltenteilung .................................................................................. 52 4. Bundesstaatsprinzip .............................................................................. 56 V. Zusammenfassung ..................................................................................... 60

Zweiter Abschnitt B. Das verständliche Gesetz ................................................................................... 61 I. Sprache .................................................................................................. 61 II. Sprachliche Gestaltung ............................................................................... .65 1. Rechts- und Gesetzessprache als Fachsprachen ............................................ 66

2. Keine Pflicht zum allgemeinverständlichen Gesetz ...... .................................. 67 3. Erkennbarkeit für den juristischen Generalisten ........................................... 69 4. Verständlichkeit bedeutet Vermittelbarkeit .................................................. 72

5. Verständlichkeit für selbst rechtsanwendende Angehörige anderer Fachkreise ...... 73 6. Klare und einheitliche Begriffsbildung ....................................................... 75 7. Verweisungen ..................................................................................... 78 III. Zusammenfassung ..................................................................................... 80 C. Das vollständige Gesetz .................................................................................... 81 I. Redaktionelle Gründlichkeit ......................................................................... 81 II. Regelungslücken ....................................................................................... 83 1. Begriffsbestimmung ..............................................................................83 a) Anfängliche unbeabsichtigte Regelungslücken .......................................... 83 b) Nachträglich entstandene Regelungslücken .............................................. 83 c) Anfängliche beabsichtigte Regelungslücken ............................................. 83 2. Abschieben der Lückenfüllung auf die Exekutive ......................................... 84 3. Abschieben der Lückenfüllung auf die Rechtsprechung .................................. 85 a) Richterliche Gesetzgebung .................................................................. 85 b) Die Bindung an Gesetz und Recht ......................................................... 88 aa) Keine bloße Normvollstreckung ..................................................... 88 bb) Keine richterliche Lückenfüllung auf der Grundlage der Rechtsbindung .... 89 ce) Gesetzesbindung und Beschränkung auf Einzelfallentscheidungen ........... 90

Inhaltsverzeichnis

11

dd) Das Rechtsschutzverweigerungsverbot. ............................................ 91 ee) Keine Lückenfüllung durch Schweigen ............................................. 92 c) Gewaltenteilung ............................................................................... 93 aa) Informationen als Entscheidungsgrundlage ........................................ 94 bb) Entscheidungsakzeptanz ............................................................... 95 4. Bindung an lückenlose Gesetze als Grundlage für Berechenbarkeit ................... 97 5. Kodifikation ....................................................................................... 99 6. Auslegung ........................................................................................ 101 7. Inhalt und Reichweite der Pflicht zum vollständigen Gesetz ........................... 103 a) Vollständigkeit als das richtige Maß zwischen Abstraktem und Konkretem ..... 103 b) Verbot anfiinglicher beabsichtigter Regelungsllicken ................................ 105 c) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht ............................................. 105

111. Zusammenfassung ................................................................................... .106 D. Das systemverträgliche Gesetz .......................................................................... 108 I. Dogmatische Klarheit und Übersichtlichkeit.. .................................................. 108 11. Inner- und zwischengesetzliche sachliche Verträglichkeit ................................... 110 111. Zusammenfassung ................................................................................... .115

E. Das funktionsgerechte, zielsichere Gesetz ............................................................. 116 I. Der Zweck des Gesetzes ............................................................................ 116 11. Gesetz und Naturgesetz ............................................................................. 117 111. Vollzugsgeeignetheit. ............................................................................... .119 IV. Zusammenfassung ................................................................................... .121

Dritter Abschnitt F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes .......................................................... 123 I. Verfahrensschritte zum guten Gesetz ............................................................. 123

1. Zwecksetzung, Tatsachenfeststellung und Prognose ..................................... 124

2. Mittelwahl. ....................................................................................... 127 3. Wirkungskontrolle .............................................................................. 130

11. Die beteiligten Organe .............................................................................. 131

12

Inhaltsverzeichnis 1. Die Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung .................................. 131

2. 3. 4. 5.

Der Bundestag und seine Gremien .......................................................... 135 Der Bundesrat.. ................................................................................. 144 Die an der Ausfertigung Beteiligten ......................................................... 145 Die Wirkungskontrolle ...................................... , ................................. .146

IH. Zusammenfassung .......... ................ ........................... .............................. .147

Vierter Abschnitt G. Die Normenkontrolle ...................................................................................... 149 1. Die Kontrollintensität ................................................................................ 151 1. Herkömmliche Bestimmungen ............................................................... 151

a) Bedeutung und Betroffenheit des Rechtsgutes ......................................... 151 b) Gegenstand der Kontrolle .................................................................. 151 c) Eigenarten des Sachbereiches ............................................................. 152 2. Die Vertretbarkeit als Maßstab der Kontrollintensität ................................... 152 3. Beschränkung der Kontrolle auf das Widerlegen ......................................... 155 4. Zwecksetzung ................................................................................... 157 5. Tatsachenfeststellung und Tatsacheneinschätzung ....................................... 158 6. Prognose ......................................................................................... .161 7. Tatsachen- und Prognosebewertung ........................................................ 165 8. Notwendigkeit eines Bundesgesetzes ....................................................... 174 9. Mittelwahl. ....................................................................................... 175 10. Weitere Gesichtspunkte der Gestaltung und der Gesetzgebungstechnik ............. 181 11. Zusammenfassung .............................................................................. 183 H. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle .............................. 184 1. Die Meinung des Bundesverfassungsgerichtes ............................................ 184 2. Meinungen im Schrifttum ..................................................................... 186 3. Eigene Meinung: Die Funktion der Normenkontrolle ................................... 189 a) Keine Leistungskontrolle ................................................................... 189 b) Rechtsschutz ..................................................................................190 c) Keine Nachbesserungspflicht bei ex-ante-Betrachtung ............................... 190 4. Anhörung von Gemeinden ............................................................·........ 192

Inhaltsverzeichnis

13

5. Grundrechte als Verfahrenspflichten ........................................................ 193 6. Das sogenannte äußere Verfahren ........................................................... 193 III. Der Ausspruch des Gerichtes: Voraussetzungen der Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit. .............................................................................. 194

1. Verfassungsgemäßheit. ........................................................................ 195 2. Verfassungswidrigkeit. ........................................................................ 196 IV. Die Verfahrenspflicht zum guten Gesetz ........................................................ 201 Zusammenfassung und These ................................................................................ 206 Anhang I. ........................................................................................................207 Anhang 11 •............•..................•.•......•.................................•...................•........ 209

Li teraturverzeichnis ......................................... . ................................................. . 210

Abkürzungsverzeichnis Datum und FundsteIle sind nur bei denjenigen Gesetzen angegeben, die nicht in den Sammlungen Schönfelder und Sartorius I enthalten sind. - (Z) = Zeitschrift. AbfG

Abfallgesetz

Abg. a.F.

Abgeordneter alte Fassung Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen

AGBG

(AGB-Gesetz) AktG Art.

Aktiengesetz

AtG

Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz ge-

Artikel gen ihre Gefahren (Atomgesetz)

BauGB

Baugesetzbuch

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BayVerf

Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 (GVBI., 333), geä. durch G v. 20. Juni 1984 (GVB!., 223)

BBG BFH BGB BGBI BGH BlmSchG

Bundesbeamtengesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Im-

BMJ BRAGO

BRRG

missionsschutzgesetz) Bundesminister der Justiz Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz)

BRS BSeuchenG

Fr. ThiellKonrad Geker, Baurechtssammlung (Z) Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengestz)

BSHG

Bundessozialhilfegesetz

BtG Buchst. BVerfGE BVerfGG

Betreuungsgesetz vom 12. Dezember 1990 (BGB!. I, 2002) Buchstabe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz)

Abkürzungsverzeichnis BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

BWG bzw.

Bundeswahlgesetz beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CSU

Christlich Soziale Union in Bayern e.V.

Diss.

Dissertation

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung (Z)

Dr. Drs

Doktor Drucksache

DVBI

Deutsches Verwaltungsblatt (Z)

ebd.

ebenda

EG

Europäische Gemeinschaften

EGOVG

Einflihrungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

EheG

Ehegesetz (Gesetz Nr. 16 des Kontrollrates) Einleitung

Ein!. EU

15

Europäische Union

e.V.

eingetragener Verein

EV

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demo-

f.

gungsvertrag - (BGB!. 1990 11, 889) und der/die/das folgende

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

kratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Eini-

ff.

und die folgenden

Fn.

Fußnote Gesetz

G

geä.

geändert

GO

Grundgesetz flir die Bundesrepublik Deutschland

00011

Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien - Besonderer Teil (GMB!. 1976, 550, 605; 1979, 539; 1980, 471, 652; 1984, 321; 1985, 51; 1989,696,697; 1991, 570).

GMBI GVBI

Gemeinsames Ministerialblatt Gesetz- und Verordnungsblatt

GVG GVOBI HaustürWG

Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften

HBauO hess.

Hamburgische Bauordnung vom 1. Juli 1986 (GVB!., 183), zu!. geä. durch G v. 15. April 1992 (GVB!., 83). hessisch

Hg.

Herausgeber

HGB Hs.

Handelsgesetzbuch

HVwVG

Halbsatz [HamburgischesJ Verwaltungsvollstreckungsgesetz vom 13. März 1961 (GVB!., 17, 136), zu!. geä. durch G v. 14. Apri11993 (GVB!., 83)

16 i.d.F.

Abkürzungsverzeichnis in der Fassung

iur.

iuris

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Z)

JR

Juristische Rundschau (Z)

JZ

Juristenzeitung (Z)

KO

Konkursordnung

LaborberichtsVO

Verordnung über die Berichtspflicht für positive HlV-Bestätigungstests (Laborberichtsverordnung)

m.w.N. NBauO

mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Bauordnung in der Fassung vom 6. Juni 1986 (Nds. OVBI., 157), zul. geä. durch 0 v. 22. März 1990 (Nds. OVBI., 101)

nc

numerus clausus

nds.

niedersächsisch

NdsVerf

Niedersächsische Verfassung vom 19. Mai 1993 (Nds. OVBI., 107), geä. durch 0 v. 6. Juni 1994 (Nds. OVBI., 229)

n.F. NOefAO

neue Folge Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz i.d.F. v. 13. April 1994 (Nds. OVBI.,173)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (Z)

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Z)

o

Ordnung

OVO

Oberverwaltungsgericht

ÖstVfOH

Österreichischer Verfassungs gerichtshof

PfiVO

Oesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter (Pflichtversiche-

PrALR

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794

rungsgesetz) PStG

Personenstandsgesetz

Rdnr.

Randnummer

ROBl

Reichsgesetzblatt

RhPf

Rheinland-Pfalz

RV

Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (BOBI., 64)

S.

Satz, Seite

SOBl

Sozialgesetzbuch - Erstes Buch

SOBX

Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StOB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StVO

Straßenverkehrsordnung

u.a.

und andere

UWO

Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

v. VerbrKrO

V erbra ucherkreditgesetz

vom

Abkürzungsverzeichnis

17

VerwArch

Verwaltungsarchiv (Z)

VfSlg

Erkenntnisse und Beschlüsse des [Österreichischenl Verfassungsgerichtshofes

VGH

Verwaltungsgerichtshof vergleiche

vg!.

WDStRL VwVfG

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Z)

WP

Wahlperiode

WV

Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (RGBl? 1383) (Wei-

z.B.

zum Beispiel

Verwaltungsverfahrensgesetz

marer Verfassung) ZG

Zeitschrift für Gesetzgebung (Z)

ZPari

Zeitschrift für Parlamentsfragen (Z)

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZRP ZStW zu!.

Zeitschrift für Rechtspolitik (Z)

2 Burghart

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Z) zuletzt

Einleitung Der kommunale Satzunggeber wird bei der Aufstellung von Bebauungsplänen (§ 10 BauGB) eingehend reglementiert. Das Baugesetzbuch enthält nicht nur Vorschriften für das äußere Verfahren der Beteiligung, Bekanntmachung und Anzeige bzw. Genehmigung sowie des Inkrafttretens (§§ 2 I, 3, 4, 11, 12 BauGB). Dem zuständigen Gemeindeorgan - nach allen Gemeindeordnungen ist dies die gewählte Vertretungskörperschaft - wird auch aufgetragen, eine Abwägung der öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander vorzunehmen (§ 1 VI BauGB). Eine Auswahl von zu berücksichtigenden Belangen gibt § 1 V BauGB vor. Die Gemeinde ist also nicht nur verpflichtet, einen Plan vorzulegen, der als das Ergebnis einer vernünftigen Abwägung erscheint. Eine solche Abwägung muß auch tatsächlich stattgefunden haben. Ein nur mehr oder minder zufällig richtig abgewogener Bebauungsplan besteht die Nachprüfung durch Aufsichtsbehörde und Gericht nicht. Die Anforderungen des Abwägungsgebots gelten in doppelter Weise: es wird zwischen dem Planen als Vorgang und dem Plan als Produkt, zwischen dem Abstimmen und dem Abgestimmtsein, dem Abwägen und dem Abgewogensein des Planes unterschieden 1 . Nicht nur das Abwägungsergebnis ist bestimmten Bindungen unterworfen, der Gesetzgeber fordert außerdem, daß die planende Instanz sich "Gedanken macht,,2. Ob und wie dies geschehen ist, soll anhand einer dem Bebauungsplan beizugebenden Begründung (§ 9 VIII BauGB) nachvollzogen werden können. Die Befugnis zur Planung schließt somit zwar einen Gestaltungsspielraum ein, ohne den von Planung keine Rede sein könnte. Welche privaten und öffentlichen Bedürfnisse und Interessen dabei zu berücksichtigen sind und ob zwischen ihnen schließlich eine gerechte Abwägung vorgenommen wurde, unterliegt aber uneingeschränkter Kontrolle3 • Das Urteil der Rechtswidrigkeit trifft also nicht nur den inhaltlich fehlerhaften Plan, sondern auch denjenigen,

1

BVerwGE 40, 323, 328 f. = DVBI 1973, 34, 36 f. = BRS 25 Nr. 14 (Krabbenkamp); BVerwGE 45, 309, 312 f. = DVBI 1974, 767, 769 = BRS 28 Nr. 4 (Floatglas); Bat/is, BauR, S. 112; Finkelnburg/Ortloff S. 137; [ampfer ZG 1988, 289, 291. 2 BVerwGE 45,309,313 = DVBI1974, 767, 769 = BRS 28 Nr. 4 (Floatglas). 3 BVerwGE 34,302,309. 2*

20

Einleitung

der auf einem mangelhaften Abwägungsvorgang beruht4 • Die Beachtlichkeit der Mängel im Abwägungsvorgang wird durch §§ 214, 215 BauGB allerdings inhaltlich und zeitlich beschränkt. Das Parlament als förmlicher Gesetzgeber unterliegt solchen Reglementierungen scheinbar nicht. Zwar enthält das Grundgesetz Regeln über den äußeren Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 76 bis 79, 82 GG), einen Katalog zu berücksichtigender Interessen oder ein ausdrückliches Gebot, sorgfältig abzuwägen, sucht man jedoch vergebens. Gerade weil dem Gesetzgeber mehr abverlangt wird als dem kommunalen Satzunggeber, der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums und die Festsetzung der baulichen Ordnung in einem eng umgrenzten Gebiet vornimmt, erscheinen fest umrissene Sorgfaltspflichten mindestens ebenso angezeigt wie gegenüber dem Rat der Gemeinde. Dennoch kann eine Pflicht zu optimaler Methodik der Gesetzgebung5 nicht durch einen schnellen Schluß a millore ad maius begründet werden. Und schon der Vergleich zwischen der Aufstellung von Bebauungsplänen und dem förmlichen Gesetzgebungsverfahren hinkt - wie jeder Vergleich: Der Bebauungsplan ist nur kraft § 10 BauGB seiner Form nach eine Satzung, seinem konkret-individuellen Inhalt nach jedoch gerade keine Rechtsnorm 6 . Die Satzunggebung ist zudem nicht der parlamentarisch-legislativen Staatstätigkeit zuzuordnen, sondern der exekutiv-verwaltenden. Es handelt sich somit um Gesetzesvollzug, dem der Gesetzgeber Schranken auferlegen kann, denen er selbst nicht unterliegt. Die Forderung nach optimaler Gesetzgebungsmethodik kann deshalb jedoch nicht vorschnell als bloße "Parole" abgetan werden 7 , was mit dem schlanken Hinweis untermauert wird, der Gesetzgeber schulde nichts anderes als das formell und materiell verfassungsmäßige Gesetz, ohne daß es auf Verfahren und Verhalten des Gesetzgebers ankomme8 ; alle weitergehenden Forderungen würden die auf offene Diskussion und öffentliche Kontrolle angewiesene parlamentarische Demokratie zugrunde richten9 . Dieser Argumentation kann der Boden entzogen werden, wenn der Verfassung Pflichten entnommen werden können, die über den herkömmlichen Standard hinausgehen. Formell und materiell verfassungsmäßig könnte mehr bedeuten als: unter Einhaltung der Art. 70 ff. GG zustandegekommen, die Grundrechte beachtend, im übrigen 4 Bat/is, BauR, S. 116.

5 Schwerdtfeger S. 173 ff.

6 BVerwGE 50, 114, 119; Battis, BauR, S. 98; FinkelnburglOrtioff S. 72 f.

7 So aber Schlaich Rdnr. 505. 8 Schlaich VVDStRL 39,99, 109 f.; Schia ich Rdnr. 505 f. 9 Schia ich VVDStRL 39,99, 111; Schia ich Rdnr. 506.

Einleitung

21

verhältnismäßig. Wenn schon nicht ausdrücklich, so könnten dem Grundgesetz doch durch Auslegung der Verfassungsprinzipien weitere Sorgfaltsanforderungen an den Gesetzgeber zu entnehmen sein. Diese Methode ist sicherer als der Versuch, aus einfachen Gesetzen abstrahierend Verfassungsprinzipien zu gewinnen, um diese dann konkretisierend auf die Gesetzgebung selbst anzuwenden lO • Ob auf einem solchen Wege das Hindernis umgangen werden kann, daß der Gesetzgeber nun einmal lediglich verfassungs-, nicht aber gesetzesgebunden ist (Art. 20 III GG), erscheint äußerst fraglich. Was in der Verfassungenthalten ist, muß auch aus ihr selbst entnommen werden können. Die Zeit eines mrstisch überhöhten Gesetzesverständnisses l l , einer naiven Gesetzesgläubigkeit 2 sind lange vorbei. Gesetzgebung ist Menschenwerk und wird auch so verstanden: fehleranfällig und selbst rechtsunterworfen 13 • Wie jedes staatliche Handeln wird sie nicht um ihrer selbst willen vorgenommen, sondern hat sich durch Zweckmäßigkeit und Ziel gerichtetheit zu legitimieren 14 • Die Kritik an der Gesetzgebung und den Gesetzen hat zugenommen; die Anforderungen steigen. Die Gesetzgebungstätigkeit wird ständiger Qualitätskontrolle unterworfen. Ob das gute Gesetz nicht nur eine Forderung von Gesetzgebungsästheten, sondern Inhalt einer verfassungskräftigen Verpflichtung des Gesetzgebers ist, soll untersucht werden. Dabei ist auch zu klären, ob bereits das gute Gesetz als ein Zufallsprodukt des Gesetzgebungsverfahrens etwaigen verfassungsrechtlichen Qualitätsanforderungen genügen kann oder ob die Anforderungen an das Gesetz Verfahrenspflichten - die Pflicht zu optimaler Methodik - voraussetzen oder bedingen. Die These, Gesetzgebungslehre könne nie normative Bedingungen für die Verfassungsmäßigkeit von Normen formulieren, sondern stets nur eine "politische Tugendlehre für den demokratischen Gesetzgeber" darstellen15 , kann dann bekräftigt oder verworfen werden.

10 So der Vorschlag von Kloepfer ZG 1988,289,297 ff. 11 SchwertItfeger S. 177. 12 Eichenberger VVDStRL 40,7, 11. 13 Schwerdtfeger S. 177. 14 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 12. 15 Gusy ZRP 1985, 291, 298 f.

Erster Abschnitt A. Das notwendige Gesetz Der Frage nach den Qualitätsmerkmalen des guten Gesetzes könnte die Bemerkung vorangestellt werden, der Rechtsordnung sei allzu oft nicht mit einem guten Gesetz am besten gedient, sondern mit Enthaltsamkeit des Gesetzgebers. Der Frage nach einer guten gesetzlichen Regelung könnte als Vorfrage vorangestellt werden, ob überhaupt eine gesetzliche Regelung angezeigt ist oder ob auf das erkannte Problem anders besser reagiert werden kann. Positiv gewendet und so auch direkt anwendbar auf das bereits verkündete, vorliegende Gesetz ließe sich als Qualitätsmerkmal formulieren: nur das notwendige Gesetz ist ein gutes Gesetz. Tatsächlich ist die Klage über die Normen-, Vorschriften- oder Gesetzesflut, die Fülle der Rechtsnormen, die Gesetzesinflation, die Übernormierung oder die Hochflut der Paragraphen der meisterhobene Vorwurf an den Gesetzgeber 1, so daß bereits von einem "bumlesrepublikanischen Gemeinplatz" gesprochen wurde2 . Er wird mit der Mahnung zur Qualitätssteigerung oft vereinigt, indem konstatiert wird, Qualität verliere sich in Quantität3 , und weniger und bessere Gesetze gefordert werden 4 . Zur Kennzeichnung der Produktivität der Gesetzgebungsmaschinerie verwendet Hili zwei Maßzahlen: die Zahl der verkündeten Gesetze und die der Seiten im Bundesgesetzblatt5 . Selbstverständlich kann so nur ein ungefährer Eindruck vermittelt werden. Die Zahl der Gesetze läßt unerkannt, ob es sich um kurze, präzise oder um lange, ausschweifende Werke handelt. Einem zurückhaltenden Parlament könnte eine normierungswütige verordnende Exekutive gegenüberstehen. Die Seitenzahl des Bundesgesetzblattes gibt darüber nur ungenaue Auskunft, da Verordnungen und erst 1 Stellvertretend für viele weitere: Hill DÖV 1981, 487; Leisner DVBl 1981, 849 (beide mit umfangreichen weiteren Nachweisen); Eichenberger VVDStRL 40, 7, 15, 19; Isensee ZRP 1985, 139; Hill, GgebL, S. 12, 44 ff.; Jahrreiß S. 6; Karpen, GgebL, S. 33; KJoepfer DÖV 1978, 225; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 68 ff.; Lange DVBI 1979, 533, 535; Novak VVDStRL 40,40,47; Sendler ZRP 1979, 227; Weiß DÖV 1978, 601 f. 2 Isensee ZRP 1985, 139. 3 Leisner DVBl1981, 849. 4 Karpen, GgebL, S. 13. 5 Hili, GgebL, S. 44 f.

A. Das notwendige Gesetz

23

recht Verwaltungsvorschriften auch in anderen Verkündungsblättern enthalten sind 6 • Zudem kann der Gesetzgeber bestehender Übernormierung nur durch neue Normen abhelfen. Da ein Gesetz nur durch Gesetz geändert, gekürzt, vereinfacht, aufgehoben werden kann, ließe eine umfassende Rechstsbereinigung mit großzügiger Ausdünnungdes Normendickichts beide Maßzahlen steigen, obwohl fortan weniger Gesetze gelten würden, weniger Seiten des Bundesgestzblattes zu beachten wären. Dennoch geben beideZahlen Aufschluß über die Anforderungen, die an denjenigen gestellt werden müßten, der die geltende Rechtsordnung überblicken und seine Kenntnisse stets auf neuestem Stande halten wollte. Auch Entwicklungstrends, ein Abebben oder Anschwellen der Normenflut lassen sich erkennen. Die Jahrgänge 1949 bis einschließlich 1994 des Teils 17 des Bundesgesetzblattes enthalten zusammen 89.539 SeitenS und 3.420 verkündete Oesetze9 ,1O. Die Produktivität des Gesetzgebers erreicht regelmäßig vor dem Ende einer Bundestagswahlperiode einen Höchststand, um Vorlagen vor dem durch die sachliche Diskontinuität bedingten Verfall zu bewahren und um die für besonders bedeutsam gehaltenen Vorhaben nicht einer durch die Wahlen veränderten Mehrheit überlassen zu müssen. Diese Spitzenwerte fallen zum Ende der achten (1980) und zehnten Wahlperiode (1986) deutlich niedriger aus als zuvor. Auf das abrupte Ende der neunten Wahlperiode konnte nicht reagiert werden. Auch das Jahr 1990 eignet sich schlecht zum Vergleich, weil es nicht nur wegen der Bundestagswahl eine Besonderheit darstellt. Ebenso gleichmäßig durchläuft die Kurve der Verkündungszahl zu Beginn der Wahlperioden ihre Talsohlen. Auffällig ist, daß diese Tiefstpunkte zu Beginn der sechsten (1970) und siebten Wahlperiode (1973) deutlich höher lagen als in den Vergleichsjahren. Die Reformgesetzgebung der zweiten Hälfte der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre schlägt sich in Spitzenwerten sowohl bei den Verkündungs- als auch bei den Seitenzahlen nieder. Von einem ständigen Wachsen der Gesetzesproduktion kann jedoch nicht gesprochen werden. Bei den Verkündungszahlen ist seit der Mitte der siebziger Jahre eher eine Beruhigung zu beobachten. Die Seitenzahl hält sich jedoch auf gleichmäßig hohem Niveau und liegt seit dem Jahrgang 1985 stets deutlich über 2.000. Das läßt - zu Recht, wie ein genauer Blick in das Bundesgesetzblatt zeigt - auf lange Gesetze

6 Vgl. für Verordnungen und Eisenbahntarife das Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen. 7 Die Jahrgänge 1949 und 1950 erschienen noch ohne Unterteilung.

8 Ohne Anlagenbände und Beilagen. 9 Ohne Neubekanntmachungen geänderter Gesetze und ohne veröffentlichte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 3111 BVerfGG). 10 Vgl. hierzu und zum Folgenden die tabellarische Aufstellung im Anhang I, S. 207 f., und die graphische Darstellung im Anhang 11, S. 209.

24

A. Das notwendige Gesetz

und zahlreiche Verordnungen schließen. Diese "innere Übernormierung"l1 die übermäßige Detailliertheit der Gesetze, die sich in ihrer Länge ausdrückt kann durch einige abschließende Vergleiche als Trend neuerer Zeit festgehalten werden: Ist der Jahrgang 1962 bei 23 verkündeten Gesetzen mit 776 Seiten ausgekommen, so enthält der Jahrgang 1983 bei etwa gleich vielen Verkündungen - 27 - 1.684 Seiten. Der Jahrgang 1961 enthält bei ungefähr gleicher Seitenzahl fast dreimal so viele verkündete Gesetze wie der Jahrgang 1982. Der Jahrgang 1977 weist eine vergleichsweise geringe Verkündungszahl auf 35 -, zählt jedoch zu den Spitzen bei der Seitenzahl: 3.188.

I. Ursachen der Übernormierung Die Ursachen der Normenflut sind vielfältig. Tatsächliche und rechtliche Gründe ergänzen sich. Das Aufgabenprofil des Gesetzes, die Anforderungen an seine Funktion und Nutzbarkeit haben sich immens erweitert. Die klassische Rechtsnorm als abstrakt-generelles Befehlsmittel und Ordnungsprogramm sollte die bedeutsamen und grundlegenden Sach- und Wertungsfragen beantworten12 . Durch Abstraktion des Typischen sollte eine breite Vielfalt künftiger Einzelfallentscheidungen determiniert werdenB . Die Dauerhaftigkeit gehörte zu den klassischen Wesensmerkmalen: der Tatbestand sollte durch Offenheit tatsächliche Veränderungen nicht nur überstehen, sondern auch bewältigen können 14 . Diese klassische Erscheinungsform des Gesetzes ist in den Hintergrund getreten. Das Gesetz regelt nicht mehr nur das grundlegend Wichtige und Wesentliche, sondern enthält bis ins Einzelne gehende Detailregelungen, die die Einzelfallentscheidung oftmals nicht mehr nur determinieren, sondern gewissermaßen selbst vornehmen und den Gesetzesanwender zum mechanischen Vollstrecker ohne weiteren Differenzierungsbedarf degradieren. Das Gesetz verfolgt nicht mehr den Anspruch, Rechtsinstitute oder Organisationsbestimmungen für eine unabsehbare Zeitdauer zu installieren; vielmehr tritt es uns als politisches Lenkungsmittel, als punktuell ansetzendes Handlungsinstrument, als bewegliches, kurzfristiges, hektisches Maßnahmegestz entgegen15 •

11 Kloepfer VVDStRL 40,63,68. 12 Hufen VVDStRL 47,142,150; Karpen, GBegriff, S. 138. 13 Hill, GgebL, S. 18. 14 Hill, GgebL, S. 19; Karpen, GBegriff, S. 138. 15 Ebsen DVBI 1988, 883, 884; Hili, GgebL, S. 45; Karpen NJW 1988, 2512, 2518; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 71.

I. Ursachen der Übernormierung

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Die Gründe für diesen Wandel des Stils der Gesetzgebung liegen im politisch-praktischen Bereich ebenso wie in einer gesteigerten Anspruchs- und Erwartungshaltung gegenüber dem Gesetz und einer Veränderung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Gesetz. 1. Das Gesetz als politische Maßnahme

Zu der auf Dauer ordnenden Funktion des Gesetzes ist die Aufgabe als politisches Lenkungs- und Kampfmittel hinzugetreten. Regierung und parlamentarische Mehrheitsfraktionen benutzen das Gesetz auch zum Durchsetzen kurzfristiger oder auch nur punktuell wirkender politischer Programme 16 . Auch die kurzfristig lenkenden, bereinigenden und berichtigenden Maßnahmen, deren Zahl die der Grundsatzentscheidungen naturgemäß überwiegt, werden in die Form des Gesetzes gegossen. Handlungsbedarf wird bedenkenlos mit Normierungsbedarf gleichgesetzt 17 . Die Publizität des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens und das darauf gerichtete Interesse der Medien steigern die Attraktivität des Gesetzes als politische Maßnahme. Auch den Forderungen aus Verbänden und der Öffentlichkeit läßt sich mit einem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren am wirksamsten nachkommen, nämlich mit der Möglichkeit der Einflußnahme durch Interessenvertreter und der größten Wahrscheinlichkeit auf öffentliche Aufmerksamkeit: so wird das Gesetz zum Werkzeug der Gefälligkeitsdemokratie18 . Auch die erschwerte Abänderbarkeit des Gesetzes, das nur durch ein erneutes Gesetzgebungsverfahren korrigiert oder beseitigt werden kann, lassen es als Teil politischer Erfolgsbilanzen geeignet erscheinen. Es dient zur Konservierung politischer Macht über das Ende einer Wahlperiode und den Verlust der parlamentarischen Mehrheit hinaus 19 • Dafür bietet das sprunghafte Ansteigen der Verkündungszahlen vor Parlamentswahlen einen anschaulichen Belelo. Der Regierung und ganz allgemein der Exekutive wird zudem geradezu ein Normenhunger nachgesagt, den sich der Gesetzgeber eifrig zu stillen bemüht 21 • Zum einen dient das Gesetz, also der das Verfahren erfolgreich durchlaufende Gesetzentwurf, als Leistungsnachweis der entwurfsverfassenden Mi16 Hili, GgebL, S. 45; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 71; Kloepfer DÖV 1978, 225; SchulzeFielilT. DÖV 1988, 758, 760. 17 Hufen VVDStRL 47, 142, 148; König S. 128.

18 Hili, GgebL, S. 45. 19 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 71. 20 Vgl. oben vor I, S. 23 f., und unten Anhänge I und II, S. 207 ff. 21 Novak VVDStRL 40, 40, 47.

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A. Das notwendige Gesetz

nisterialbürokratie22 • So wird es für den Beamten zum Instrument des Karrierefortschritts, für den Minister zum Denkmal, das über das Ende seiner Amtszeit hinaus an ihn erinnert 23 • Zum anderen meldet die gesetzesvollziehende Verwaltung einen Normierungsbedarf an, um sich für Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger sichere Deckung zu verschaffen. Dabei werden gesetzgeberische Regelungsprobleme auch dort vorgegeben, wo bereits ein exekutivischer Eingriff rechtens wäre oder Interpretation bestehender Gesetze zum Ziel führen würde24 . Dies ist nicht allein eine Tarnung von Entscheidungsschwäche25 , sondern eher eine Folge fehlender Verantwortungs- und Risikobereitschaft, weil eine gerichtliche Korrektur oder eine Beanstandung durch den Rechnungshof einer Niederlage gleichgestellt wird, an der sich die veröffentlichte Meinung zum Nachteil der Verwaltung weidet. 2. Institutionelle und systemimmanente Gründe

Der Gesetzgebungsapparat nährt sich selbst. Die gewaltigen Ressourcen in Verwaltung, Ministerialbürokratie, Parlamenten, Parteien und Interessenverbänden 26 lassen die Gesetzgebungsmaschinerie nicht nur nie zum Stillstand kommen, sondern stacheln sich auch gegenseitig zu neuen Leistungen an. Die verschiedenen Ebenen der gestuften Rechtsordnung regen sich gegenseitig zu steigender Normproduktion an27 • Die noch immer ansteigende Masse der EU-Vorschriften nötigt den nationalen Gesetzgeber zur Umsetzung und zu Aus- und Durchführungsvorschriften28 . In der bundesstaatlichen Ordnung wirkt die Bedürfnisklausel des Art. 72 11 GG eher als Impuls denn als Rechtfertigung und Begrenzung für die Bundesgesetzgebung, so daß das Schwergewicht der Gesetzgebung entgefen dem Regel-Ausnahme-Verhältnis in den Art. 70 I, 72 GG beim Bund Iiegr . Eine Fülle neuer und zum Teil äußerst kurzfristig beratener und beschlossener Vorschriften ist in den vergangenen Jahren auch eine Folge der Herstellung der Einheit Deutschlands. Rechtsangleichung und Überwindung von

22 Hili, GgebL, S. 46; Maassen NJW 1979,1473,1477. 23 Kloepfer VVDStRL 40,63,72. 24 Hufen VVDStRL 47, 142, 149; Kloepfer VVDStRL 40,63, 72; König S. 128. 25 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 72. 26

Kloepfer VVDStRL 40,63,73. 27 Hili, GgebL, S. 45. 28 Kloepfer VVDStRL 40,63,73; Ossenbühl DÖV 1972, 25, 31. 29 Hili, GgebL, S. 61; Stern § 19 III 3 b; siehe unten IV 4, S. 56 ff.

I. Ursachen der Übernormierung

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Übergangsschwierigkeiten haben naturgemäß die Normproduktion vermehrt und beschleunigt30 • Die Regelungsaufträge der Verfassung und die Rege1ungsgebote und Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden ebenfalls als Ursachen der Normenflut genannt31 . Die verhältnismäßig geringe Zahl solcher Gerichtsentscheidungen lassen sie jedoch zwar als Anstoß für gesetzgeberische Tätigkeit, nicht aber als Grundlage übermäßiger Normierungswut erscheinen. Eher wird der Gesetzgeber zur Entscheidung gedrängt32 und daran erninnert, daß er auch die schwierigen Fragen nicht einfach Rechtsprechung und Lehre zur Klärung überlassen darf. Auch die Regelungsaufträge der Verfassung können nicht als Quellen stetig sprudelnder Gesetzgebungstätigkeit bezeichnet werden. Die bindenden Befehle an den Gesetzgeber (Art. 6 V, 26 I 2 GG) sind befolgt worden, ohne eine Gesetzesflut hervorzubringen. Wo dem Gesetzgeber "das Nähere" zur Regelung überlassen wurde (z.B. Art. 4 III 2, 21 III, 23 VII, 26 11 2, 38 III 00) und bei den unter Vorbehalt des Gesetzes stehenden Grundrechten ist der Grund für etwa bestehende Überuormierung nicht in diesen Vorschriften zu finden. 3. Rechtsstaatsbezogene Normierungsflut

Als eine der beiden schwerwiegendsten Ursachen der Normenflut gilt die Rechtsstaatsbezogenheit der Gesetzgebung, der rechtsstaatliche Druck, dem der Gesetzgeber ausgesetzt ist33 . Insbesondere die Wesentlichkeitstheorie verbunden mit einer zunehmenden grund rechtlichen Empfindlichkeit des Bürgers - habe zu einer Fülle an Gesetzen und innerhalb der Gesetze zu einer Vorschriftenflut durch die intensive Bezogenheit auf Einzelfallgruppen geführt34 . Sicherlich hat die Erweiterung des Gesetzesvorbehalts, der früher nur auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum bezogen war und heute alle "wesentlichen" also insbesondere grundrechtsre1evanten - Bereiche erfaßt, zu einer immensen Steigerung des Normierungsbedürfnisses beigetragen35 . Den Einwänden, nicht die Erweiterung des Gesetzesvorbehalts sei entscheidend, die Überuormierung

30 So insbesondere für das Steuerrecht: Bundesminister der Finanzen Dr. Theo Waigel vor dem 16. Deutschen Steuerberatertag, Bulletin der Bundesregierung 1993, 1053. 31 Hill, GgebL, S. 45, 73; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 73. 32 Send/er ZRP 1979, 227, 228. 33 Eichenberger VVDStRL 40,7, 19,22; Hili, GgebL, S. 45. 34 Hill DÖV 1981, 487, 494, 496; Isensee ZRP 1985, 139, 140; Kloepfer VVDStRL 40, 63,68,74. 35 BVerfGE 47, 46, 79 (Sexualerziehung); Hill DÖV 1981, 487, 494, 496; Hili, GgebL, S. 45; Isensee ZRP 1985, 139, 140; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 74; Send/er ZRP 1979, 227, 228.

A. Das notwendige Gesetz

28

habe vielmehr vorwiegend politische Gründe 36 oder sei durch eine Erweiterung der Staats aufgaben hervorgerufen worden37 , ist zuzugeben, daß der erweiterte Gesetzesvorbehalt nur deshalb so große Wirkung entfalten konnte, weil der Gesetzgeber sich immer neuer Bereiche angenommen hat, die er dann stets eingehend, alles Wesentliche erfassend, regeln mußte. Die Wesentlichkeitstheorie hat mittels des Parlamentsvorbehalts auch die Grenze zur Verordnung zu Gunsten des Gesetzes verschoben. Aber auch wo der Exekutive die Regelung überlassen wird, stellt das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 I 2 GG an das Gesetz Anforderungen, die zu eingehender Detailliertheit herausfordern. Art. 80 GG entpuppt sich so weniger als Entlastungsmöglichkeit, sondern eher als ·Plage und eine der Quellen der - inneren - Übernormierunl8. Von einer Lockerung des Bestimmtheitsgebots des Art. 80 I GG wird jedoch keine Beruhigung, sondern ein Anwachsen der - untergesetzlichen - Normenßut erwartet, mit dem als zusätzlicher Nachteil ein Mangel an parlamentarischer Legitimation einhergehen würde39 . 4. Gestiegene Erwartungshaltung gegenüber dem Gesetz

Bei aller Kritik wird dem Gesetzgeber, insbesondere dem gewählten Parlament, immer noch allgemein großes Vertrauen und Zutrauen entgegengebracht40 . Die neu entdeckte Stimmungslage der "Politik(er)verdrossenheit" hat daran nicht viel geändert: So wird nach dem Bekanntwerden von politischen Skandalen noch immer schnell nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß und wirksameren Gesetzen gerufen. Das Gesetz genießt geradezu ein "demokratisches Urvertrauen,,41, es könne die Fragen der Gerechtigkeit letztgültig lösen. Auf zweifache Weise trägt dieser Rest einer überhöhten Gesetzesgläubigkeit zur Übernormierung bei. Mit dem Blick auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I 1 GG) wird der Gesetzgeber zur Erfüllung sozialer Forderungen in Anspruch genommen. Der Sozialstaat soll nicht mehr nur den Schutz des Schwächeren und die Chancengleichheit gewähren42. Eine Ausdehnung des Sozialstaatsverständnisses, eine Anspruchsinflation der Bürger führt dazu, den Gesetzgeber nun auch als GaVVDStRL 40,63,75. 1988, 2512, 2517. 38 Hili DÖV 1981, 487, 497; Karpen, GgebL, S. 32. 39 Leisner DVBl1981, 849, 854. 40 Eichenberger VVDStRL 40,7,13. 41 Hufen VVDStRL 47, 142, 143. 42 Hili, GgebL, S. 45; Hili DÖV 1981, 487, 497; Send/er ZRP 1979, 227, 228. 36 Kloepfer

37 Karpen NJW

I. Ursachen der Übernormierung

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ranten des individuellen Wohler~ehens und zur Erfüllung übersteigerten Egalisierungsstrebens heranzuziehen 4 . Diesem Druck versucht die Gesetzgebungsmaschinerie durch immer mehr und innerlich immer feiner und undurchschaubarer gegliederte, möglichst jeden Einzelfall berücksichtigende Gesetze nachzukommen44. Zum anderen ist das Vertrauen in das Gesetz als Vernunftschluß und verbindlicher Konfliktlöser umgeschlagen in das bedenkenlose Zutrauen, das Gesetz könne alle Probleme am besten lösen. Dadurch verfallen selbstregulierende Kräfte. Außerrechtliche Wertvorstellungen verlieren ihre orientierende Kraft, ihre konsensbildende, konfliktlösende Funktion45. Das Gesetz soll diesen Konsensverlust kompensieren und wird dadurch unentbehrlich46. Insbesondere bei schwierig und mühsam zu beurteilenden sozialen und ethischen Fragen erscheint die verbindlich-befehlende Lösung durch den staatlichen Gesetzgeber bequemer: Der Ruf nach Verrechtlichung ersetzt das sittlich bezogene verantwortungsvolle Verhalten 47. Dabei darf sicherlich nicht außer Acht gelassen werden, daß es gerade unter den neuen Regelungsproblemen und gesellschaftlichen Konflikten solche gibt, die der Staat den gesellschaftlichen Selbststeuerungskräften nicht mehr überlassen kann. In manchen Lagen ist die gesetzliche Lenkung nötig, ist der Befehl unentbehrlich und unvermeidbar, weil ein Appell an Vernunft und Verantwortung gegenüber menschlichen Schwächen nichts auszurichten vermag oder Anschauungskämpfe ohne Hoffnung auf Einigung anders nicht entschieden werden können48. S. Ausufernde Regelungsaufgaben

Dieser Hinweis führt schließlich zu dem wohl schwerwiegendsten Grund für die Normenfülle. Die stets komplexer werdenden Verhältnisse in allen Lebensbereichen verlangen einerseits nach gesetzlicher Regelung, zum anderen nimmt sich der Staat immer neuer Aufgaben an. Die staatlichen Aktivitäten expandie-

43 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 22; Hill, GgebL, S. 45; Hili DÖV 1981, 487, 496; Kloepfer VVDStRL 40,63, 70; Leisner DVBl1981, 849, 855. 44 Maassen NJW 1979, 1473, 1474. 45 Finkenzeller, FAZ v. 16. Februar 1994, S. 1, wendet sich z.B. gegen die gesetzliche Normierung bisher selbstverständlicher Gebote der Höflichkeit und Rücksichtnahme. 46 Hili, GgebL, S. 12; Leisner DVBl1981, 849, 853. 47 Weiß DÖV 1978, 601, 604 f. 48 Jahrreiß S. 19 f.; KloepferVVDStRL 40,63,71; Weiß DÖV 1978, 601, 605.

30

A. Das notwendige Gesetz

ren und mit ihnen der Normierungsbedart9 . Die zunehmende Komplexität und Verflechtung des Wirtschaftslebens, wachsende Begehrlichkeiten im Bereich der sozialen Sicherung und anhaltender technischer Fortschritt führen den staatlichen Gesetzgeber in immer neue Bereiche, in denen er planend, lenkend und kontrollierend tätig werden will 50 . Der Normierungsbedarf potenziert sich dabei geradezu selbst. Der schnelle Wandel der Verhältnisse führt zu beschleunigter Überalterung des gehenden Rechts und damit zu vermehrtem Änderungsbedarf51 • Änderungsgesetze wiederum verlangen Folgeänderungen, um in die übrige Rechtsordnung eingepaßt zu werden52 . Wenn der Gesetzgeber kurzatmig und konzeptionslos, mit zu wenig Distanz zur politischen Tagesaktualität, unter dem Druck politischer und gesellschaftlicher Forderungen, angetrieben durch Wissenschaft und Medien vorschnell reagiert, muß desto zeitiger erneut korrigiert und nachgebessert werden53 . Dabei wird die Komplexität eines Rechtsgebietes mitunter erst durch die Gesetze selbst bewirkr 4 • 11. Folgen In Folge der anwachsenden Normenfülle sei - so ist kurz und drastisch formuliert worden - die Rechtsordnung krank 55 . Dieser Befund läßt sich nach einzelnen Leiden aufschlüsseln. Die erhebliche Vermehrung der Normen, die ausufernde Normierung, die zunehmend mehr Regelungsgebiete erfaßt, hat zunächst zu einer enormen Erweiterung des Rechtsstoffes geführt. Immer neue Lebensbereiche werden intensiv verrechtlicht56 . 49 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 22; Hili, GgebL, S. 45; Jahrreiß S. 19 f.; Kloepfer VVDStRL 40,63,70; Kloepfer DÖV 1978, 225. 50 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 22; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 70; Ossenbühl DÖV 1972, 25, 31. 51 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 22; Jahrreiß S. 20; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 70; Kloepfer DÖV 1978, 225; Schneider, Ggeb, Rdnr. 427 f. 52 Hill, GgebL, S. 45; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 73; Schneider, Ggeb, Rdnr. 427 f., 433. So enthält das Betreuungsgesetz vom 12. Dezember 1990 (BGBI. I, 2002) in seinem Art. 1 56 Nummern mit Anweisungen zu Änderungen, Ergänzungen und Streichungen im BGB, um Entmündigung und Vormundschaft über Volljährige durch die Betreuung zu ersetzen. In Art. 2 bis 7 folgen dann 139 weitere Anweisungen für 50 weitere Bundesgesetze, die auf das BGB Bezug nehmen. 53 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 22; Degenhart DÖV 1981, 477, 483; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 72. 54 Leisner DVBl1981, 849, 853. 55 Weiß DÖV 1978, 601, 602. 56 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 15; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 68; Leisner DVBI 1981,849.

11. Folgen

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Außerrechtliche Maßstäbe werden durch die Vergeset:zlichung verdrängt. Die Wiederaufnahme dieses schon oben57 erwähnten Aspekts zeigt die Wechselwirkung zwischen Ursache und Folge. Die Flucht aus der Eigenverantwortlichkeit durch den Ruf nach dem Gesetz verbaut den sittlich bezogenen Verhaltensmaßstab und überfordert das Recht. Es ist nicht mehr nur Teilordnung und ethisches Minimum. Die Gesetzesgemäßheit wird zum Maß des Richtigen. Bequemer, unreflektierter Legalitätsglaube dient zur Gewissensberuhigung. Verrechtlichung verdrängt die Selbstregulierung. Das Recht als Totalordnung, als ethisches Maximum ist die Folge. Der ergänzende Rückhalt bei außerrechtliehen Maßstäben weicht einer blanken, her:zlosen Legalitäf8 . Die Normenflut zeigt sich nicht nur in einer Masse von Gesetzeswerken, auch die Regelungsdichte, die Detailliertheit und Kompliziertheit der Normen nimmt zu59. Sowohl die äußere als auch die innere Übernormierung tragen zur Unübersehbarkeit des geltenden Rechts bei. Die Normenfülle erschwert es, das Recht zu überblicken, zu befolgen und durchzusetzen60 • Der rechtsunterworfene Bürger ist überfordert, wenn ihm abverlangt wird, die ihn betreffenden Normen zu überblicken und zu befolgen. Er befindet sich in einer Informationskrise61 . Rechtsbrüche aus Unkenntnis sind die Folge. Legalität wird zum unerreichbaren Ideal. Rechtsverdrossenheit muß als verständliche Reaktion anerkannt werden. Der Staat kann an seinem Anspruch auf Rechtsbefolgung nicht mehr festhalten, wenn er selbst an den Voraussetzungen rüttelt. Unkenntnis infolge Übernormierung kann zur Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums und so zu sanktionsfreier oder -verminderter Übertretung führen62 . Betroffen ist ebenfalls die staatliche Rechtsanwendung. Die Dichte und DetaiIliertheit der Regelungen lähmt die Verwaltung und nimmt ihr die Motivation, die ein lewisses Maß an Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit voraussetzt6 . Die vornehmste Aufgabe der vollziehenden Gewalt, die Erfas-

57 S. 29.

58 Isensee ZRP 1985, 139; WeijJ DÖV 1978, 601, 604 f. 59 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 15; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 68; Maassen NJW 1979, 1473, 1474; Schneider, Ggeb, Rdnr. 431. 60 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 15; Maassen NJW 1979, 1473, 1474. 61 Hili, GgebL, S. 44. 62 Kloepfer VVDStRL 40,63,69,80. 63 Für die Schule bestritten durch BVerfGE 58, 257, 271 (Schulentlassung): nicht die durch Art. 20 I, III GG gebotene Vergesetzlichung schränke die pädagogische Freiheit und Flexibilität des Lehrers ein, sondern die zum Perfekionismus gesteigerte Bürokratisierung und Bevormundung durch die Kultusverwaltung.

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A. Das notwendige Gesetz

sung des Einzelfalls mit seinen Besonderheiten64 , wird der Verwaltung durch überdetaillierte Gesetze verbaut; verbleibende Ermessensspielräume werden zudem durch Verwaltungsvorschriften ausgefüllt, die verwaItungsintern nicht weniger binden als das Gesetz65 . Die Anpassung einer zu treffenden Entscheidun~ an den gesetzlich nicht berücksichtigten Einzelfall ist kaum mehr möglich 6. Die Verwaltung reagiert mit Vollzugsverweigerung67 , handelt bewußt gesetzwidrig, weil sie für ein als ungerecht empfundenes Anwendungsergebnis gegenüber dem Bürger und der Öffentlichkeit geradezustehen hat. Nicht nur die Effektivität, auch die Autorität des Gesetzes geht so verloren. Auch der Gesetzgeber selbst leidet unter seiner eigenen Überproduktion. Die ihm angekreideten Nachlässigkeiten sind auch eine Folge der hohen Zahl bestehender Vorschriften, weil die Gesetzgebung immer die bestehenden Normen berücksichtigen muß 68 . Unübersichtlichkeit führt zu mangelhafter Stimmigkeit der Gesamtordnung. Die Fülle des zu verarbeitenden Materials und der sachliche und zeitliche Erwartungsdruck führen zu nur oberflächlicher Beratunl9 • Die große Zahl der verabschiedeten und der zu verabschiedenden Gesetze mindert somit zwangsläufig die Qualität der Gesetzgebungo. Das Gesetz genießt hohe demokratische Legitimation, weil es vom direkt volksgewählten Parlament hervorgebracht wird. Die - auch in Teilbereichen unüberschaubare und dadurch unbegreifbare Menge der Gesetze entfremdet die Adressaten dem Gesetz, erschwert ihnen die Identifikation mit dem Staat. Da sie gleichzeitig Legitimationsspender sind, büßen die Gesetze an demokratischem Legitimationswert ein71. Das berührt die Wurzeln der Demokratie, die auf das Einverstandensein der Bürger mit dem Staat und seinem Handeln, auf eine Chance zur Identifikation angewiesen istn . Der Hang zur Maßnahmegesetzgebung verändert das Verhältnis der Legislative zur Exekutive, sowohl in ihrer vollziehenden als auch in ihrer rechtsetzenden Funtion. Die Aufgabenteilung zwischen dem Parlament, das mit dem An64 Karpen NJW 1988, 2512, 2513.

65 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 69; Lange DVBI 1979, 533, 535; Maassen NJW 1979, 1473,1476. 66 Noli S. 57. 67 Kloepfer VVDStRL 40,63,69. 68 Noli S. 76. 69 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 69; Schneider, Niedergang, S. 421 ff. 70 Hili, GgebL, S. 47; Leisner DVBl1981, 849; Weiß DÖV 1978, 601. 71 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 69; Leisner DVBI 1981, 849, 852; Schneider, Niedergang, S. 421; Weiß DÖV 1978, 601. 72 BVerfGE 40,237, 251 (Verwaltungsbeschwerde).

III. Abhilfe

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spruch auf Dauerhaftigkeit und Beständigkeit entscheidet, und der wendig, flexibel und schnell agierenden Exekutive verschwimmt. So erhält nicht nur die Gewaltenabgrenzung eine weitere - von der Verfassung nicht vorgesehene Schnittstelle. Das Parlament wird zudem in die Rolle eines von der Regierung benutzten Ausführungsorgans benötigter Maßnahmen gerückt 73. Soweit der Gesetzeseifer sogar allein ministeriellem Prestigebedürfnis entspringt, wertet sich die Exekutive auch selbst ab74 , indem sie ihrem Anspruch als sachkundige Entwurfsverfasserin nicht mehr gerecht wird. Schließlich beeinträchtigt die Gesetzesflut die Vorzüge des gesetzten Rechts. Daß die niedergeschriebene und öffentlich verkündete Rechtsregel auffindbar und eindeutig sei 75, stimmt nur, wenn die Gesamtheit des gcschrichcllcll Rechts noch überschaubar und der Inhalt der Gebote und Verbote aus ihr zu begreifen ist. Gleiches gilt für die Rechtssicherheit, die Berechenbarkeit und die Rationalisierung von Verhaltenserwartungen, also für die Gütesiegel der Kodifikation 76. Sie gehen durch die Übernormierung gerade verloren. Wenn der gründlich durchnormierten Rechtsordnung der Vorzug zugesprochen wird, sie beschränke Richtermacht und allmächtige Verwaltung, indem sie die Herrschaftsbastion der unbestimmten Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume zurückdränge77 , so kann dem gegenübergestellt werden, daß die Verwaltung am ehesten einen annähernden Überblick über die Normenfülle behält, daß sie nun also - wenn überhaupt - durch ihren Kenntnisvorsprung zur Allmacht gelangt. Die Gerichte werden durch die Übernormierung nicht weniger zur Ergänzung der Legislative aufgerufen als durch unbestimmte Rechtsbegriffe: sie haben aus der Normenvielfalt den jeweils geltenden und relevanten Ausschnitt herauszuheben und zu verdeutlichen 78 und übernehmen damit eine Aufgabe, die sich bei überschaubarer Rechtsetzung erübrigen könnte. Über- und Unternormierung spielen dem Verwaltungs- und Justizstaat gleichermaßen in die Hände. 111. Abhilfe Zur Eindämmung oder gar zum Zurückdrängen der Normenflut wird zunächst der plausibelste und einleuchtendste Weg der Ursachenbeseitigung gewiesen: Der staatliche Gesetzgeber soll von seiner Allzuständigkeit, von ~ei­ nem Recht des ersten Zugriffs abrücken79 . Vorfrage der Rechtsetzung soll 73 Weiß DÖV 1978, 601, 603. 74 Leisner DVBl1981, 849, 852. 75 Noll S. 57.

76 Hill, GgebL, S. 28. 77 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 70. 78 Weiß DÖV 1978, 601, 602. 79 Karpen, GgebL, S. 31. 3 Burghart

34

A. Das notwendige Gesetz

sein, ob das Regelungsbegehren durch Rechtsnormen überhaupt erfüllt werden kann80 , so daß der Gesetzgeber sich auf das wirklich Normierbare besinnt81 . Das Gesetz soll sich als notwendig verantworten, so daß nicht nur die Notwendigkeit eines Gesetzesvorhabens, sondern auch die Noch-Erforderlichkeit eines Gesetzes zu prüfen sind82 . Die Forderung, die universelle staatliche Regelungskompetenz solle sich als subsidiär zurückziehen, wird mit der Erkenntnis untermauert, in den vom Gesetzgeber nicht besetzten Räumen herrschten nicht Willkür und Rechtlosigkeit83 • Eine Rückkehr zu gesellschaftlichen Selbststeuerungskräften 84 könne deshalb ebenso Abhilfe bringen wie der verstärkte Einsatz des nachgiebigen Zivilrechts statt öffentlich-rechtlicher Normen85 . Zum einen ist dafür Voraussetzung, daß ein Vertrauen in die Privatautonomie zurückgewonnen wird, das sich zur Zeit allein noch auf das Tarifwesen beschränkt86 . Dies ist nur möglich, wenn das Aus- und Angleichen als Regelungsziel zurückgestellt wird 87 , da die Privatautonomie sich eher am freien Spiel der Kräfte und Möglichkeiten orientiert. Zum anderen muß festgehalten werden, daß auch das öffentliche Recht nicht nur das Instrument starrer gesetzlicher Regelungen kennt. Hier stehen ebenfalls andere Varianten staatlichen HandeIns zur Verfügung. Der öffentlich-rechtliche Vertrag88 ersetzt wohl eher den Verwaltungsakt als das Gesetz. Verordnung und Satzung lassen zwar befürchten, daß die Normenflut nur auf eine andere Ebene verlagert wird. Eine Verlagerung der Detailregelung und der Regelungen, die kurzfristig wechselnden Verhältnissen anzupassen sind, auf die exekutive Normsetzung können jedoch zu einer merklichen Entlastung des parlamentarischen Gesetzgebungsbetriebes führen. Für die Satzung spricht zudem eine Stärkung der Selbstverwaltungskräfte89 , so daß die Entscheidung näher beim Adressaten getroffen wird 90 . Ob hingegen eine Herrschaft durch geistigen Einfluß, ob Aufklärung statt Gesetz91 der Übernormierung Schranken setzen können, muß angesichts der enormen Informations- und Reizüberflutung bezweifelt werden. Andere

80 Eichenberger VVDStRL 40,7,24; lahrreiß S. 51. 81 Kloepfer VVDStRL 40,63,76. 82 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 24 f.; lsensee ZRP 1985, 139, 144; lahrreiß S. 51, 53; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 75 f.; Pestalozza NJW 1981, 2081, 2083; Stern § 37 IV 5 c. 83 Pestalozza NJW 1981, 2081, 2083.

84 Hili, GgebL, S. 72; Karpen NJW 1988, 2512, 2517, 2518; Kloepfer VVDStRL 40, 63,

76; Pestalozza NJW 1981, 2081, 2083.

85 Eichenberger VVDStRL 40,7,24; Hili, GgebL, S. 46, 72. 86lsensee ZRP 1985, 139, 143. 87 Leisner DVBI 1981, 849, 855. Eichenberger VVDStRL 40,7,24; Kloepfer VVDStRL 40,63,75. 89 Karpen, GgebL, S. 33.

88

90 BVerfGE 33, 125, 156 f. (FacharztO). 91 Hili, GgebL, S. 46.

111. Abhilfe

35

den Gesetzesbefehl ersetzende staatliche Steuerungsmittel erscheinen eher geeignet. Neben den wirtschaftsbeeinflussenden Maßnahmen werden allerdings auch die steuerlichen Anreize genannt92 , obwohl das Steuerrecht doch geradezu als ein Hort der Übernormierung gilt. Der Vorschlag, das Einzelfallhandeln der Verwaltung stärker zur Geltung zu bringen93 , richtet sich gegen die innere Übernormierung und setzt für die Gesetzgebung die Forderung nach einer Renaissance des Ermessens und der Generalklausel 94 voraus. Die Rechtsordnung müsse entfeinert, ausgedünnt, vereinfacht, verallgemeinert werden95 , Perfektionismus und Kasuistik müßten geschmeidigen und beständigen Vorschriften weichen 96 , um die einzelfall bezogene Detailregelung aus dem Gesetz herauszuhalten. Ein Fortschritt auch zu Gunsten des norm betroffenen Bürgers würde jedoch nur erreicht, wenn die gesetzliche Bindung nicht durch exekutivische Selbstbindung mittels Erlassen und Verwaltungsvorschriften ersetzt wird, die gewonnene Flexibilität sofort wieder beseitigte97 • Die Bundesregierung hat sich der Eindämmung der Überreglementierung durch die Prüffragen für Rechtsvorschriften des Bundes98 und durch den von den Bundesministern des Innern und der Justiz erstellten Katalog der Prüffragen zur Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit von Rechtsetzungsvorhaben des Bundes99 angenommen. Diese Blauen Prüffragen (so genannt wegen des Abdrucks auf blauem Papier) richten sich an die mit der Entwurfsverfassung betrauten Beschäftigten in den Bundesministerien. Die Fragen 1 bis 5 mit ihren 19 Konkretisierungen im Fragenkatalog richten sich auf die Notwendigkeit eines beabsichtigten Gesetzgebungsvorhabens. Dabei wird die zu prüfende Normierungsabsicht auch durch den Verweis auf oben bereits genannte andere Lösungsmöglichkeiten in Frage gestellt: Selbstregulierung durch gesellschaftliche Kräfte ohne staatlichen Zwang (Nr. 1.7), wirksamere Anwendung bestehender Vorschriften, Information, wirtschaftliche Anreize, Unterstützung der Selbsthilfe der Betroffenen (Nr. 2.2), Landes- statt Bundesgesetz (Nr. 3.2), Vermeiden eines Gesetzes zu Gunsten einer Verordnung oder Satzung (Nr. 4.3). Den Blauen Prüffragen werden erste Erfolge bescheinigt lOO , 92 Hili, GgebL, S. 46. 93 Hili, GgebL, S. 46; lahrreiß S. 52. 94 KLzrpen, GgebL, S. 31; Weiß DÖV 1978, 601, 608. 95 Karpen, GgebL, S. 31; Kloepfer VVDStRL 40,63,75. 96 Karpen, GgebL, S. 31. 97 Leisner DVBl1981, 849, 854. 98 Beschluß der Bundesregierung vom 11. Dezember 1984, GMB11990, 42. 99 GMB11990, 43. 100 Fliedner ZG 1991, 40 ff. 3'

36

A. Das notwendige Gesetz

auch wenn sie einzelnen Normierungsimpulsen wie den politischen Vorgaben und der überhasteten und daher nicht mehr kritisch zu beleuchtenden Gesetzgebungstätigkeit machtlos gegenüberstehen 101 • Die Blauen Prüffragen schöpfen ihre Verbindlichkeit jedoch aus sich selbst. Sie wollen mehr sein als ein bloßer Appell, verstehen sich aber als nur intern bindendes reines Innenrecht der Bundesregierung. Eine echte Beschränkung der Übernormierung wollen sie weder darstellen noch aufzeigen. Ein bewußtes Nichtbeherzigen der Blauen Prüffragen führt nicht zur Nichtigkeit der nicht notwendigen Vorschrift. Niemand kann ein Gesetz unter Berufung auf die Blauen Prüffragen angreifen. Sie sollen den angeblichen Mangel an rechtlich verbindlichen Schranken gegenüber nicht notwendiger, überflüssiger Normierung durch interne Bindung kompensieren 102 • Gefragt wird deshalb: "Muß der Bund handeln?" "Muß ein Gesetz gemacht werden?" Bestünde eine Pflicht zum notwendigen Gesetz, so könnte gefragt werden: Darf er handeln? Darf ein Gesetz gemacht werden? IV. Verfassungsrechtliche Schranken der Übernormierung Interessant - und deshalb Gegenstand dieser Untersuchung - ist somit erst die Frage, ob es über die Abhilfevorschläge hinausgehende Schranken der Übernormierung gibt. Erst wenn der Gesetzgeber über einen Besserungsappell hinausgehend gebunden wird, läßt sich eine Pflicht zum notwendigen, ein Verbot des unnötigen, überflüssigen Gesetzes feststeHen. Eine Bindung des Gesetzgebers kann sich allein aus der Verfassung ergeben (Art. 1 III, 20 III GG), die allerdings direkte Aussagen über das zulässige Höchstmaß der Normierung nicht enthält 103 . Neben den Grundrechten können die Staatsstrukturprinzipien - also das Bundesstaatsprinzip und aus dem Rechtsstaatsprinzip die Gewaltenteilung und das Übermaßverbot - herangezogen werden. 1. Die WesentIichkeitstheorie

Die Wesentlichkeitstheorie scheint zunächst eher ein Normierungsgebot zu enthalten als ein Übernormierungsverbot. Wenn das Parlament alle grundlegenden, richtungweisenden, wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß und sie nicht der Exekutive überlassen darf, dann drängt das zum Gesetzeserlaß, anstalt davon abzuhalten 104 . Die Wesentlichkeitstheorie dient ja gerade dazu, Umfang und Reichweite des Gesetzesvorbehalts neu - nämlich erwei101 Fliedner ZG 1991, 40, 51. 102 Fliedner ZG 1991, 40, 43 f. 103 Kloepfer VVDStRL 40,63,79. 104 Hili DÖV 1981, 487, 494, 496 f.; Isensee ZRP 1985, 139, 140.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

37

temd - zu bestimmen, indem die Bindung an den Eingriff in Freiheit und Eigentum aufgegeben wird 105. Das Wesentlichkeitskriterium markiert somit eine Unter-, nicht eine Obergrenze der Vergesetzlichungl06. Die Forderung an den parlamentarischen Gesetzgeber, sich auf das Wesentliche zu beschränken107 , läßt sich nicht durch einen Umkehrschluß auf verfassungskräftige Füße stellen. Das Gebot, alles Wesentliche zu regeln, enthält nicht denknotwendig das Verbot, sich auch dem Unwesentlichen zu widmen l08 . Die Grundlagen der Wesentlichkeitstheorie geben einen solchen Schluß nicht her. Wenn das Demokratieprinzip fordert, daß die wirklich wichtigen Dinge durch das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament beraten und entschieden werden müssen l09 , dann kommen dieses Prinzip desto besser zur Geltung, je mehr auch weniger wichtige Entscheidungen mit bester demokratischer Legitimation getroffen werden. Wenn die Einschaltung des Parlaments dem Schutz der Grundrechte besonders dienlich ist llO , dann ist die Verwirklichung der Grundrechte desto besser gesichert, je eingehender das Parlament die damit zusammenhängenden Fragen klärt. Ein Verbot der Übernormierung ist der Wesentlichkeitstheorie also nicht zu entnehmen. Dennoch lohnt es sich, ihre Anforderungen genau zu kennen. So könnte wenigstens vermieden werden, daß unter Berufung auf eine vermeintlich aus der Wesentlichkeitstheorie folgende Pflicht noch dort gesetzlich normiert wird, wo das Normierungsgebot gar nicht mehr gilt lll . Das Bundesverfassungsgericht selbst hat vor dieser Gefahr einer fälschlichen Überdehnung des Wesentlichkeitskriteriums gewarnt: Bei der Abgrenzung des Wesentlichen vom Unwesentlichen solle mit großer Behutsamkeit vorgegangen werden, um mißliche Folgen einer zu weitgehenden Vergesetzlichung zu vermeiden 1l2 Zudem unterliege das Parlament der Pflicht, selbst zu entscheiden, auch im wesentlichen Bereich der Grundrechtsausübung nur, "soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist,,1l3, also nur in der "der staatlichen Gestaltung offen-

105 BVerfGE 40, 237, 249 (Verwaltungsbeschwerde); 47, 46, 78 f. (Sexualerziehung); 49, 89, 126 (Schneller Brüter); Isensee ZRP 1985, 139, 140. 106 Isensee ZRP 1985, 139, 140; König S. 130. 107 Hili, GgebL, S. 46; Stern § 37 IV 5 f. 1081sensee ZRP 1985, 139, 140; Kloepfer VVDStRL 40,63,79. 109 BVerfGE 33, 125, 158 (FacharztO); 33, 303, 346 (ne/Medizin); 41, 251, 260 (SpeyerKolleg); 47, 46, 79 (Sexualerziehung). 110 BVerfGE 20, 150, 157 f. (SammlungsG); 33, 125, 158 (FacharztO); 33, 303, 346 (nc/ Medizin); 47, 46, 79 (Sexualerziehung); 49, 89,126 f. (Schneller Brüter). 111 Vgl. BVerfGE 58, 257, 276 (Schulentlassung);Maassen NJW 1979, 1473, 1476. 112 BVerfGE 47,46,79 (Sexualerziehung). 113 BVerfGE 49, 89, 126 (Schneller Brüter).

38

A. Das notwendige Gesetz

liegenden Rechtssphäre,,114. Damit sind zwei Grenzen gezogen, jenseits derer eine Berufung auf die Wesentlichkeitstheorie einen Normierungsbedarf nicht zu rechtfertigen vermag: zum einen die Grenze zwischen den wesentlichen, im einzelnen durch Gesetz zu regelnden Materien und den unwesentlichen Bereichen, die exekutiver Regelung überlassen werden können oder in denen der Exekutive auf Grund allgemeinerer Vorgaben ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum bei der Einzelfallbehandlung verbleiben kann; zum anderen die Grenze innerhalb des wesentlichen Bereiches zwischen den Fragen, die durch Gesetz geregelt werden können und denjenigen, auf die besser durch die eben genannten Handlungsalternativen reagiert werden kann oder die sich der staatlichen Gestaltung ganz entziehen. a) Abgrellzullg zum Unwesentlichen

Für die Bestimmung des wesentlichen Bereiches und die Abgrenzung zum unwesentlichen hat sich das Bundesverfassungsgericht vor allem auf das Merkmal der Grundrechtsrelevanz bezogen. Der parlamentarische Gesetzgeber soll die Fragen klären, die die abstrakt und allgemein gehaltene Verfassung unbeantwortet lassen muß. Der parlamentarische Gesetzgeber hat die Bereiche der Grundrechtsausübung, in denen der Staat eingreifend, regelnd, gestaltend tätig werden will, von denen abzugrenzen, die staatsfrei bleiben sollen 115 . Er hat die Abwägung zwischen der Inanspruchnahme der grundrechtlichen Freiheit und den Belangen der Allgemeinheit vorzunehmen und die Entscheidung zu treffen, ob und wie weit Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber Gemeinschaftsinteressen zurücktreten müssen 116. Bei der Beteiligung entgegenstehender Grundrechte hat die Markierung der Grenzen der einzelnen geschützten Sphären durch förmliches Gesetz zu erfolgen. Wesentlich ist dabei allerdings nur eine Leitentscheidung, durch die der Auftrag an die Exekutive zum Tun und Unterlassen in den berührten Schutzbereichen umschrieben wird, nicht jedoch die Festlegung aller Modalitäten des Regelungsbereiches 117 . Wenn bei einer Änderung der Lebensverhältnisse, insbesondere durch technischen Fortschritt, grundrechtlich geschützte Bereiche berührt werden, obliegt die Grundsatzentscheidung über die Grenzziehung zwischen rechtlich Zulässigem und

114 BVerfGE 20, 150, 158 (SammlungsG); 34, 165, 192 f. (hess. Förderstufe); 45, 400, Oberstufe). 115 BVerfGE 20, 150, 158 (SammlungsG); 34, 165, 192 f. (hess. Förderstufe); 52, 1, 41 (Kleingarten) . 116 BVerfGE 33. 125, 159 (FacharztO); 41, 251, 264 (Speyer-Kolleg). 117 BVerfGE 47,46,80,82 f. (Sexualerziehung); 58, 257, 268 f. (Schulentlassung).

418 (hess.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

39

Unzulässigem dem Gesetzgeber118 . Eine exakte Grenzziehung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem und somit zwischen dem Bereich, in dem normiert werden muß, und dem, in dem Normierung zweckmäßig sein kann, aber nicht geboten ist, ist damit nicht erreicht. Die Nahtstelle zwischen Müssen und bloßem Können und Dürfen bleibt unbestimmt. Weiterhelfen soll das Merkmal der Eingriffsintensität: je intensiver grundrechtlieh geschützte Bereiche betroffen sind, desto eher und desto detaillierter hat der parlamentarische Gesetzgeber selbst zu regeln und sich einer Delegation zu enthalten 119. Die Intensität ist aber gerade ein wenig abstraktes und auch im Einzelfall nur schwer zu bestimmendes, fließendes Kriterium, so daß zwar zur Begriffsbildung des Wesentlichen einiges beigetragen sein mag, das Bundesverfassungsgericht jedoch stets zugegeben hat, daß die Grenzziehung ungeklärt und umstritten geblieben ist 120 . Das Merkmal der Eingriffsintensität hat jedenfalls dazu geführt, daß keineswegs nur Grundsatz- oder Leitentscheidungen für wesentlich erachtet wurden. Bei einschneidenden staatlichen Beschränkungen sind Detailregelungen gefordert: Voraussetzungen für die Erteilung und Gründe für das Versagen einer Genehmigung bei präventivem Verbot 121 ; Voraussetzungen der Facharztanerkennung, zugelassene Facharztrichtungen, Mindestdauer der Ausbildung, Verfahren der Anerkennung und Gründe für die Zurücknahme 122 ; Art und Rangverhältnis der bei der Hochschulzulassung anzuwendenden Kriterien 123 ; tatbestandliehe Voraussetzungen, Dauer, Rechtsfol gen , Zuständigkeit und Verfahren beim Schulausschluß im zweiten Bildungsweg124 und bei Ausschluß von einer janzen Schulart, nicht jedoch bei bloßer Nichtversetzung in die nächste Klasse 25; nicht nur die Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie, sondern auch die zulässigen Reaktortypen und das behördliche Genehmigungsverfahren 126. Andererseits ist nur die Entscheidung, ob überhaupt eine Vorschaltbeschwerde stattzufinden habe (§ 24 11 EGGVG), für wesentlich befunden worden, nicht 118 BVerfGE 49, 89, 127 (Schneller Brüter); 53, 30, 56 (Mülheim-Kärlich); HessVGH JZ 1990, 88, 89 (Gentechnik) mit insoweit zustimmender Anmerkung von Rupp, S. 91, 92; NdsOVG NVwZ 1994, 390 (nichtthermische Funkwellen) hält es nicht für sachgerecht, den parlamentarischen Gesetzgeber zur Regelung zu verpflichten, wenn das Gefahrenpotential der neuen Technologie noch nicht abzuschätzen ist (siehe dazu unten G I 9, S. 176 f.). 119 BVerfGE 33, 125, 160 (FacharztO); 41, 251, 260 (Speyer-Kolleg); 58, 257, 274 (Schul entlassung) . 120 BVerfGE 45, 400, 418 (hess. Oberstufe); 51, 268, 288 (Grundschulschließung); 58, 257, 268 (Schulentlassung) . 121 BVerfGE 20, 150, 158 (SammlungsG); 52, 1, 41 (Kleingarten). 122 BVerfGE 33, 125, 163 (FacharztO). 123 BVerfGE 33, 303, 345 f. (ne/Medizin). 124 BVerfGE 41,251,260 (Speyer-Kolleg). 125 BVerfGE 58,257,275 (Schulentlassung). 126 BVerfGE 49,89, 127 f. (Schneller Brüter).

40

A. Das notwendige Gesetz

jedoch Bestimmungen über Fristen, Formen, zuständige Behörden127 ; nur die Bildungs- und Erziehungsziele der Schule sind wesentlich, nicht auch die Feinlernziele und die Unterrichtsgestaltung im einzelnen l28 ; wesentliche Merkmale einer Schulform sind nur ihre Funktion und ihr Standort in der Gliederung der Schuleinrichtungen und Bildungsstufen129 b) Regelungsgrellze im weselItlichen Bereich

Auch im wesentlichen Bereich hält das Bundesverfassungsgericht nicht alles für staatlich regelbar130 • Wo im Reibungsbereich aneinanderstoßender grundrechtlicher Schutzbereiche durch die Exekutive Entscheidungen getroffen werden müssen, die Wertungen und Beurteilungen des Einzelfalles voraussetzen, die abstrakt-generell nicht vorzuzeichnen sind, ist die Grenze des Regelbaren erreicht. So setzt die pädagogische Verantwortung des Lehrers einen Bereich pädagogischer Freiheit, einen Spielraum der Unterrichtsgestaltung voraus, der von Einengungen durch Zielbestimmungen und Anleitungen frei bleiben muß 131 . Für die Grenzziehung zum nicht mehr staatlich Regelbaren, zum staatsfrei zu haltenden Bereich gibt das Wesentlichkeitskriterium nichts her. Der Ausschluß des Staates aus einem Bereich privater oder gesellschaftlicher Freiheit wird durch die Grundrechte in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte verbürgt. Die Grundrechte dienen nicht nur als Grundlage der Normi.erung gebietenden Wesentlichkeitstheorie l32 , sondern auch als taugliches Mittel, um Übernormierung zu beschränken (dazu sogleich unter 2). Ist ein grundrechtssensibler Lebenssachverhalt vielgestaltig und vielschichtig, unterliegt er raschen und unvorhersehbaren tatsächlichen Entwicklungen und Veränderungen, so daß Flexibilität nötig ist, um wirksam ordnen, regeln und reagieren zu können, so erscheint eine abstrakte Vorzeichnung der Grenzen des Zulässigen nicht möglich. Auch im wesentlichen Bereich würde dann eine bestimmte und klare Regelung für die praktische Anwendung den Gesetzgeber überfordern; er muß sich einer Regelung im einzelnen enthalten und unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden dürfen oder die Normierung im Wege der Verordnungsermächtigung der wendigeren Exekutive überlassen 133. Hier 127 BVerfGE 40, 237, 251 (Verwaltungsbeschwerde). 128 BVerfGE 47,46, 82 (Sexualerziehung). 129 BVerfGE 34, 165, 193 (hess. Förderstufe). 130 BVerfGE 20, 150, 158 (SammlungsG); 34, 165, 192 f. (hess. Förderstufe); 45, 400, 418 (hess. Oberstufe); 49, 89, 126 (Schneller Brüter); siehe bereits oben vor a, S. 37 f. 131 BVerfGE 47,46,83 (Sexualerziehung). 132 Oben S. 36 f. 133 BVerfGE 49,89,133 (Schneller Brüter); 58, 257, 275 f. (Schulentlassung).

IV. Verfassungsrechtliche Schranken der Übernormierung

41

geht es somit nicht um einen vollkommenen Ausschluß des regelnden Staates, sondern um die Frage, ob wirklich der parlamentarische Gesetzgeber stets das geeignetste Organ für die Ordnung auch des wesentlichen Bereiches ist. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Demokratieprinzip keinen absoluten Vorrang vor anderen Staatsstrukturprinzi~ien ein, sondern spricht von rechtsstaatlicher, gewaltenteilender Demokratie 34. Die Normierung gebietende und rechtfertigende Wesentlichkeitstheorie muß in ihre Grenzen gewiesen werden und den Wirkungsbereich anderer Verfassungsgebote achten. Wie das Prinzip der Gewaltenteilung der Tätigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers Schranken setzen kann, ist deshalb zu untersuchen (unten IV 3, S. 43 ff.). c) Zusammellfassung Wenn der Gesetzgeber die Grenze zum Unwesentlichen überschreitet, vermag die auf Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip gestützte Wesentlichkeitstheorie also keine verfassungskräftigen Bedenken zu tragen. Sie fragt nur, ob der Gesetzgeber im wesentlichen Bereich seine Pflicht erfüllt hat, einem Übereifer im unwesentlichen steht sie gelassen gegenüber. Auch als Grundlage für einen Appell, unwesentliche und daher unnötige Normierung zu unterlassen, taugt sie wenig, da die Grenzziehung zwischen Gebot und bloßer Möglichkeit nur vage vorgenommen werden kann. Die Tätigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers könnte aber sowohl im wesentlichen als auch im unwesentlichen Bereich an andere verfassungsrechtliche Schranken stoßen.

2. Das Übermaßverbot

a) Gesetzgebullg als Freiheitsbeschrällkung Gesetzgebung bedeutet Einschränkung der Freiheit des Normadressaten. Die Freiheit, beliebig tun und lassen zu können, wird beschränkt, wenn Gesetze zur Kenntnis genommen, begriffen und beachtet werden müssen. Auch wenn das Gebot dem Willen des Adressaten entspricht, legt ihn das Gesetz doch aufs Gehorchen fest, und es nimmt ihm die Befugnis, anders zu verfahren. Diese Fremdbestimmung ist ein Freiheitsdefizit. Der freie Willensentschluß ist dem Gesetz egal, solange ihm Gehorsam entgegengebracht wird. Nicht nur individuelle Freiheit wird beschränkt. Das staatliche Gesetz erklärt auch die über den Regelungsgegenstand getroffenen Vereinbarungen und 134 BVerfGE 49,89, 124 f. (Schneller Brüter); 68, 1, 86 f. (Atomwaffenstationierung).

42

A. Das notwendige Gesetz

selbstgesetzten Regeln nichtstaatlicher Gemeinschaften zur Makulatur. Erst recht beseitigt es die Entscheidungen, auf Regelungen zu verzichten. Der regelnde und sanktionierende Staat dringt in die Bereiche der Nicht- oder Selbstregelung ein. Die menschliche Gemeinschaft - nicht nur die staatlich verfaßte - ist jedoch auf das Befolgen von Regeln angewiesen. Normgehorsam beschränkt nicht nur Freiheit, er sichert auch den eigenen Freiheitsraum, indem er den des Nachbarn begrenzt. In diesem Spannungsfeld steht der Gesetzgeber. Er ist einerseits gefordert, Freiheit zu sichern, und kann dies nur bewältigen, indem er andererseits Freiheit beschneidet. Vom Grundgesetz kann erwartet werden, daß es dieses Dilemma klärt, zumindest indem es Leitlinien und Grundsätze zur Verfügung stellt, aus denen Näheres entnommen werden kann. b) Individuelle und gemei1lschaftliche Freiheitsrechte

Die Abwehr von Reglementierungen und anderen staatlichen Beschränkungen von den menschlichen Lebensbereichen ist das Grundanliegen der Frciheitsrechte135 . Sie sind Ausprägungen "der individuellen Freiheit, die ... den vom Staatsgebot freien Zustand des Individuums bezeichnet,,136. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt der Gesamtauffassuu des Grundgesetzes die freie menschliche Persönlichkeit als obersten Wert 13 . Es sieht es als einen Bestandteil der Menschenwürdegarantie (Art. 1 I GG) an, daß ein unantastbarer, autonomer Bereich privater Lebens~estaltung der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen bleibt L 8. Nach der grundsätzlichen Freiheitsvermutung des Art. 2 I GO soll den Dingen ein un~eregelter, zumindest nicht gesetzesförmlich geregelter Lauf gelassen werden1 9. Der Einzelne ist vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt - und somit auch des Gesetzgebers zu bewahren 140 . Die Grundrechte schützen somit die Freiheit vom Recht; sie grenzen einen staatsfreien und rechtsfreien Raum ab 141 und sichern den Anspruch, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden.

r

135 von Münch/Kunig, vor Art. 136 Jellinek S. 420.

1 Rdnr. 16.

137 BVerfGE 7, 377, 405 (Apothekerurteil). 138 BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes); 6, 389, 433 (§§ 175 f. StGB); 27, 1, 6 (Mikrozensus); 35, 202,220 (Lebach). 139 Pestaloua NJW 1981, 2081, 2083. 140 BVerfGE 7, 377, 405 (Apothekerurteil); 17, 306, 314 (Mitfahrerzentralen); 30, 250, 263 (Sonderumsatzsteuer); 38, 281, 298 (Arbeitnehmerkammern); 55. 159. 165 (F:olkncrjagdschein). 141 Degenhart DÖV 1981, 477, 478; Weiß DÖV 1978, 601, 604.

IV. Verfassungsrechtliche Schranken der Übernormierung

43

Das Grundgesetz schützt jedoch nicht nur die individuelle Freiheit des Einzelnen. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; es sieht den Menschen vielmehr als gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene, auf Gemeinschaft anAewiesene Persönlichkeit an, ohne dabei deren Eigenwert in Frage zu stellen 1 . Der gemeinschaftsbezogene Mensch wird nicht allein als Untertan des Staates, sondern als Glied zwischenstaatlicher Ordnungen angesehen143 . Ohne staatliches Zutun gebildete, von ihm unabhängige Gemeinschaften werden vom Grundgesetz anerkannt und gewährleistet (Art. 6 I, 9 I, I1I, 21 I, 140 GG, 137 f. WV) und wie das Individuum mit Freiheitsrechten gegenüber dem Staat ausgestattet (Art. 19 III GG)144. Diese Gewährung rechtlicher Eigenständigkeit schließt die Anerkennung vom Staat unabhängiger Handlungsfähigkeit und damit die selbständige Erledigung von Gemeinschaftsaufgaben mit ein. c) Das Subsidiaritätsprillzip Das Grundgesetz hält also den Staat nicht für den einzigen, der zu vernünftiger Regelung und Ordnung befähigt ist. Die Grundrechte erkennen eine vom Staat unabhängige Selbstregulierung durch frei gebildete Gemeinschaften ebenso an wie einen gänzlich regelungsfreien Raum der Selbstentfaltung des Einzelnen. Diese Fähigkeit und dieses Bedürfnis zur regelungsfreien Entfaltung und zur Selbstregulierung hat der normierende Staat vorgefunden. Sie liegen in der menschlichen Natur und beruhen nicht auf staatlicher Anordnung. Die Staatsverfassung kann sie zu unterdrücken versuchen oder anerkennen oder sogar fördern, indem sie sie mit Abwehrrechten versieht. Den letzten Weg hat der Grundgesetzgeber eingeschlagen, indem er vor- und überstaatliche, unabdingbare und unverfügbare Rechte voraussetzt, die er nicht gewähren, sondern nur gewährleisten kann145 . Er sieht den Staat als Letzten in der Reihe: Selbstentfaltung, Selbstregulierung, staatliche Normierung. Nirgendwo in der Verfassung deutlich ausgesprochen, aber doch erkennbar liegt dem der Gedanke der Subsidiarität zu Grunde 146 , der auf der Forderung nach größtmöglicher Selbstbestimmung des Menschen beruht und nach dem übergeordnete Gemein-

142 BVerfGE 4, 7, 15 f. (Investitionshilfe); 45, 187, 227 (lebenslange Freiheitsstrafe); 50, 290,353 (Mitbestimmung); Dürig JR 1952, 259; Maunz/Dürig-Hen:og Art. 8 Rdnr. 15. 143 Maunz/Dürig Art. 1 Rdnr. 53; Dürig JR 1952, 259; vgl. zum System der "freien Verwaltungskörper": Stein S. 27 ff.; Scheuner, RStaat, S. 240. 144 Maunz/Dürig Art. 1 Rdnr. 53; Dürig JR 1952, 259, 260. 145 Von Doemming/Füßlein/Matz JöR n.F. 1 (1951), 42, 52. 146 Maunz/Dürig Art. 1 Rdnr. 54; Dürig JZ 1953, 193, 198; 1955, 521, 525 Fn. 16; Hufen VVDStRL 47, 142, 156; Maunz/Zippelius § 10 111 5.

44

A. Das notwendige Gesetz

schaften nicht in Anspruch nehmen sollen, was unter~eordnete, kleinere Gemeinwesen ebenso gut oder sogar besser leisten können 47. Somit bedarf die regelnde Staatstätigkeit der Rechtfertigung gegenüber der nichtstaatlichen Erledigung durch nichtstaatliche Gemeinschaften oder den Einzelnen. Freiheitsvermutung und Subsidiaritätsprinzip schließen den Staat als Selbstzweck aus. Die Suche nach der Rechtfertigung für das politische Gemeinwesen Staat hat den Staat stets als Mittel zum Zweck gesehen, ihn selbst als Zweck ausgeschlossen148 : die Rechtfertigung wurde in der geselligen Natur des Menschen gesehen (Aristoteles, Thomas von Aquin) und in der Funktion des Staates als Hüter und Bewahrer inneren und äußeren Friedens, der die Sehnsucht des Menschen nach Ordnung und Frieden, nach Schutz vor den Mitmenschen zu befriedigen habe (Platon, Hobbes). Die deshalb unvermeidliche Gemeinschaftsordnung sei freiheitlich zu gestalten, indem ein Maximum an Selbstbestimmung zu gewährleisten und ein Minimum an heteronomem Zwang zuzulassen sei (Rousseau). Die Formulierung des Herren-Chiemsee-Entwurfes hätte sich hier nahtlos eingereiht: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. ,,149 Jedoch ist auch mit der verkündeteten Fassung des Grundgesetzes, das die freiheitsverbürgenden Grundrechte an die Spitze stellt, die Verwirklichung von Bedingungen für das auf der Freiheit des Einzelnen beruhende Zusammenleben der Menschen als Zweck des Staates festgeschrieben worden, so daß die Legitimität jeder Machtausübung hieran zu messen ist150 d) Staatliche RegLementierulIg unter Recht[ertigullgszwallg

Die Forderung, jedes Gesetz habe sich als notwendig zu verantworten151 , läßt sich also auf das freiheitssichernde Subsidiaritätsprinzip stützen. Die Grundrechte fragen nicht erst nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des gesetzgeberischen Mittels. Bereits die Frage, ob über147 Pius XI. S. 63 f., insoweit wiederholt in Mater et Magistra von 1961 (Johannes XXIII.) und bestätigt in Centesimus annus von 1991 (Johannes Pa/li 11.); vgl. schon Leo XIII. S. 49; vgl. MaunäZippelius § 10 111 5; Zippelius, AStL, § 17 I 2. In einem Leserbrief in der FAZ vom 28. Dezember 1992 führt Winfried Stolz den Ursprung des Subsidiaritätsprinzips allerdings auf die von der ersten Nationalsynode der späteren reformierten Kirche der Niederlande vom 4. bis 13. Oktober 1571 in Emden beschlossene Kirchenverfassung und Ordnung des kirchlichen Lebens für die jungen evangelisch-reformierten Kirchengemeinden und Synoden zurück. 148 Zippelius, AStL, § 17 I - 111. 149 Von Doemming/FüßleinlMalZ JöR n.F. 1 (1951), 48. 150 Abg. Carlo Schmid in der 9. Sitzung des' Plenums des Parlamentarischen Rates nach von Doemming/Füßlein/MalZ JöR n.F. 1 (1951), 47. 151 Pestaloua NJW 1981, 2081, 2083.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

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haupt ein Bedürfnis nach einer irgendwie gearteten staatlichen Tätigkeit besteht, ist im Interesse der staatsfreien individuellen und gemeinschaftlichen Entfaltung des Menschen relevant. Ihre Verneinung muß das Gesetz ebenso wie die Verordnung oder eine sonstige staatliche Handlung an den grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen scheitern lassen. Vorfrage des herkömmlichen Übermaßverbotes ist also, ob das Auftreten des Staates im Regelungsbereich schon an sich übermäßig ist, ob es mithin einen tatsächlichen Anlaß zur Staatstätigkeit gibt 152 und ob gerade von einem Gesetz Abhilfe zu erwarten ist. Diese Vorfrage stellt auch das Bundesverfassungsgericht. Die Prüfung des gesetzgeberischen Mittels im einzelnen trennt es von der Frage, ob der Gesetzgeber überhaupt tätig werden durfte 153 . Es stellt fest, die Rechtsstaatlichkeit und das Grundrecht aus Art. 2 I GG verlangten, daß der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibe 154 • Durch überflüssige Reglementierung mißbrauche der Gesetzgeber seine Befugnisse155 • Das Tätigwerden des Gesetzgebers überhaupt müsse zu rechtferti~en sein und dürfe der Wertordnung des Grundgesetzes nicht widersprechen 15 . Bei den Anforderungen an die Rechtfertigung des gesetzgeberischen Tätigwerdens im bürgerlichen Freiheitsbereich schwankt das Bundesverfassungsgericht allerdings. In einigen Entscheidungen läßt es einen sachlichen Grund für die gesetzliche Regelung genügen, um dem Einwand der Überflüssigkeit und damit dem Vorwurf des Gesetzgebungsmißbrauchs zu begegnen 157. Diese Entscheidungen behandeln zwar das Grundrecht aus Art. 12 I GG, trennen aber zwischen der Frage, ob überhaupt ein gesetzgeberisches Tätigwerden zu rechtfertigen ist, und der Prüfung anhand der Drei-Stufen-Theorie. Das Kriterium des sachlichen Grundes wird also sowohl bei der Vorfrage als auch in der Stufe der Berufsausübungsregelungen verwandt. Im Apothekerurteil, mit dem die Drei-Stufen-Theorie in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 12 I GG eingeführt wurde, und in einigen Entscheidungen zu Art. 2 I GG legt das Bundesverfassungsgericht einen strengeren Maßstab an. Dort wird - ebenfalls vor Prüfung des Übermaßverbotes 152 Lerche S. 346.

153 BVerfGE 10, 89, 103 f. (Großer Erftverband). Diese Entscheidung nennt allerdings keine Kriterien, die die gesetzgeberische Tätigkeit rechtfertigen: wenn aus staatspolitischer Verantwortung ein Gesetz für notwendig gehalten werde, sei dies nicht zu beanstanden. 154 BVerfGE 17, 306, 314 (Mitfahrerzentralen); 38, 281, 298 (Arbeitnehmerkammern); 55, 159, 165 (Falknerjagdschein). 155 . BVerfGE 13, 230, 234 (LadenschlußG). 156 BVerfGE 30, 292, 316 (Erdölbevorratung); 39, 210, 225 (MühlenstrukturG). 157 BVerfGE 13, 230, 234 (LadenschlußG); 19, 330, 340 (Einzelhandel); 30, 292, 316 (Erdölbevorratung); 37, 1, 20 (Stabilisierungsfond für Wein); 39, 210, 225 (MühlenstrukturG).

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A. Das notwendige Gesetz

verlangt, der gesetzgeberische Eingriff müsse unerläßlich sein. Allein ein zwingendes, durchdringendes Bedürfnis, nicht nur ein sachlicher Grund könnten die Tätigkeit des Gesetzgebers rechtfertigen 158 Die Frage, ob eine Freiheitseinschränkung durch staatliche Regelung zulässig ist, ist unabhängig vom jeweils betroffenen Grundrecht. Der Freiheitsanspruch gegenüber dem Zwang, Regeln kennen und beachten zu müssen, läßt sich nicht nach verschiedenen grundrechtlichen Schutzbereichen differenzieren. Im Bereich der Wirtschaftslenkung oder Berufsausübung kann der Gesetzgeber also keinem geringeren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sein, als in anderen Lebensbereichen. Sein Eindringen in die ungeregelte oder selbst geregelte Freiheitssphäre unterliegt stets den strengen Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips. Danach kann ein sachlicher Grund allein nicht ausreichen. Daß die gesetzgeberische Tätigkeit von vernünftigen Erwägungen geleitet wird und Anforderungen der Plausibilität genügt, muß als so selbstverständlich gelten, daß eine rechtfertigende Wirkung darin nicht liegen kann. Der auf subsidiäre Zurückhaltung verpflichtete Staat darf vielmehr erst regelnd einspringen, wenn die gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Selbstregelungoder das ungeregelte Treibenlassen des betreffenden Lebensbereichs versagen. Als übergeordnete Gemeinschaft darf der Staat erst tätig werden, wenn die untergeordneten Gemeinwesen die jeweiligen Aufgaben nicht mehr zu bewältigen vermögen. Die freiheitsfundierte Subsidiarität verlangt also nach einem strengen Maßstab. Das Gesetz muß unerläßlich sein. Nur wenn dargelegt werden kann, daß das menschliche Zusammenleben ohne das Gesetz Nachteile erleiden müßte, deren Behebung die Existenz des Staates rechtfertigen, kann das Gesetz vor dem Freiheitsanspruch der Bürger bestehen. Wo die Sicherung der Freiheit und Selbstentfaltung der Bürger159 der Staatstätigkeit nicht bedürfen, ist der Staat im Interesse eben dieser Zwecke von jeder Tätigkeit ausgeschlossen. Dieses Gebot der Zurückhaltung gilt für alle Staatsgewalten und somit auch für den Gesetzgeber 160. Positivrechtliche Grundlagen sind Art. 1 III, 20 III GG, die die Gesetzgebung an die Verfassung und insbesondere an die Grundrechte binden, aus denen das Subsidiaritätsprinzip herzuleiten ist. So grenzt das Grundgesetz den Handlungsraum des Gesetzgebers ein auf die Sicherung der physischen und psychischen Existenz des Menschen und seiner individuellen und gemeinschaftlichen Entfaltung. Recht sichert Freiheit: dies bezeichnet nicht nur den Auftrag, sondern auch die Grenze der Gesetzgebungstätigkeit. Grundsätzlich zwei Mittel stehen dazu zur 158 BVerfGE 7, 377, 405 (Apothekerurteil); 17, 306, 310 (Mitfahrerzentralen); 38, 281, 298 (Arbeitnehmerkammern); 55, 159, 165 (Falknerjagdschein). 159 Vgl. Böckenförde S. 66 f. 160 SchmiJt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 87.

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Verfügung: die Gefahrenabwehr durch Begrenzung, Gebot, Verbot und Eingriffslegitimation gegenüber dem Gefahrverursacher und die Wohlfahrtsförderung durch Leistungslegitimation. Das Gebot subsidiärer Zurückhaltung des Staates wirkt sich so als umfassendes Übernormierungsverbot aus. Bei Anerkennung der Voraussetzung, daß jedes Gesetz ein Freiheitsdefizit bewirkt, läßt sich eine Einschränkung auf bestimmte Bereiche der Gesetzgebung nicht mehr vornehmen. e) Leislullgsrecht

Insbesondere versagt das freiheitsrechtIich begründete Übernormierungsverbot nicht im Leistungsrecht l61 . Wenn als Inhalt des Übermaßverbotes formuliert wird, es verbiete, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, erlaube jedoch, Spatzen mit Kaviar zu füttern l62 , so ist dem entgegenzuhalten, daß es hier einerseits um die tatsächliche Vorfrage 163 geht, ob überhaupt ein Spatz dasitzt. Wenn nicht, dann darf überhaupt keine Waffe aufgefahren werden, weder die Kanone, noch ein leichteres Geschütz. Andererseits ist im Interesse der Subsidiarität zu fragen, ob Spatzen überhaupt der Fütterung bedürfen und wenn ja, mit welchem Futter. Um auch die Leistung als Freiheitsbeschränkung zu begreifen, bedarf es nicht einmal des Blickes auf den zu kurz kommenden Konkurrenten oder ebenfalls Bedürftigen. Das grundrechtlich fundierte Menschenbild der Freiheit umfaßt auch die Selbstverantwortung, Selbsthilfe und Selbstvorsorge, abermals sowohl in individueller als auch in gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht l64 . Das rechte Maß der Staatsleistungen ist deshalb nicht nur eine politische Frage l65 , sondern sehr wohl auch eine rechtliche. Nicht nur beim Eingriff, sondern gerade auch bei der Leistung ist die Entscheidung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung Grundfrage der Freiheit l66 • Die aufgedrängte und unnötige gewährende Regelung ist freiheitsverletzend und daher grundrechts- und also verfassungswidrig.

161 So aber Kloepfer VVDStRL 40,63,80; Mußgnug VVDStRL 47,113,126. 162 Mußgnug VVDStRL 47, 113, 126. 163 Lerche S. 346 Fn. 102. 164 Dürig JZ 1953, 193, 198; Hufen VVDStRL 47, 142, 156; zum Streit um die Pflegeversicherung: Grabau ZRP 1993, 142. 165 So aber Mußgnug VVDStRL 47,113,128. 166 Dürig JZ 1953, 193, 198; 1955, 521, 525 Fn. 16; Hufen VVDStRL 47, 142, 155; Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 87.

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A. Das notwendige Gesetz

f) Illnere Übemormierullg

Das freiheitsrechtlieh fundierte Übernormierungsverbot wendet. sich beinahe selbstverständlich nicht nur gegen die äußere, sondern auch gegen die innere Übernormierung. Gerade die innere Kompliziertheit und Detailliertheit der Regelungen erschwert das Abstecken des bürgerlichen Freiheitsraumes. Nicht mehr erkennen zu können, was erlaubt und was verboten ist, verwehrt demjenigen, der zu Normgehorsam bereit ist, das Auffinden und Ausnutzen verbleibender Freiheitsräume. Auch und gerade die Details können ein unnötiges und damit freiheitsverletzendes Zuviel an Regelung sein. g) ÄJ,derulIgsllotwelldigkeit

Das Übernormierungsverbot richtet sich schließlich sowohl gegen neue als auch gegen ändernde Gesetze. Die Freiheit vom Recht und der Anspruch, vom reglementierenden Staat in Ruhe gelassen zu werden, kommt auch dem Normunterworfenen zu Gute, der sich in seine Lage gefügt hat. Er ist davor zu schützen, hektischen Novellierungen und Kehrtwendungen durch Umdisposition folgen zu müssen, um sich der neuen Lage anzupassen. Die Erhaltung der Flexibilität der Rechtsordnung, die Abwehr legaler Erstarrung, das Verhindern von politischem Immobilismus 167 und die Realisierung demokratischer Alternativen sind nicht gering zu achtende Positionen, die allerdings nicht um den Preis bürgerlicher Freiheit durchgesetzt werden dürfen l68 . Es geht dabei nicht nur um das Vertrauen auf den künftigen Fortbestand der geltenden Regelung - dessen Schutzwürdigkeit bezweifelt wird 169 -, sondern um die Freiheit, sich mit dem geltenden Gesetz abzufinden, keine neuerliche Veränderung der bestehenden Lage nachvollziehen zu müssen. Die Gesetzesänderung ist somit in zweifacher Hinsicht an den Maßstab der Erforderlichkeit gebunden. Zum einen kann die Änderung an sich, also der abermalige Zwang, sich auf eine neue Rechtslage einstellen zu müssen, sie kennenlernen und das Verhalten entsprechend ändern zu müssen, an der Hürde er Erforderlichkeit als Vorfrage einer gesetzlichen (Änderungs-)Maßnahme scheitern, wenn keine zwingenden Gründe für ein Umschwenken bestehen 170. Zum anderen kann das beabsichtigte neue Regelungssystem am Übermaßverbot scheitern, wenn es im Vergleich

167 Ossenbühl DÖV 1972, 25, 31 f. 168 Kloepfer VVDStRL 40,63,82. 169 Vgl. BVerfGE 13, 39, 46 (Kapitalentschädigung); 13, 274, 278 (Körperschaftsteuer); 14, 76, 104 (Vergnügungssteuer); 18, 196,203; 27, 375, 386; 28, 66, 88; BVerfG NVwZ 1993, 882 (FeinschnittrolIen). 170 Kloepfer VVDStRL 40,63,86.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

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zum bestehenden ohne Grund zu einer größeren Beeinträchtigung der jeweiligen Rechtsposition führt l71 Hektische Kurskorrekturen, hastiges Auswechseln der Regelungsziele und planloses Lavieren zwischen gegensätzlichen Lösungsmöglichkeiten werden dabei regelmäßig an Begründungsnot scheitern. Beim Umschwenken auf eine neue Tendenz, bei der Ausrichtung des Regelungsprogramms an neu definierten Zielen und dem konsequenten Verfolgen der dazu notwendigen Einzelmaßnahmen ist im Rahmen der zweifachen Erforderlichkeitsprüfung hingegen auch der bereits angesprochene Aspekt des Demokratieprinzips zu berücksichtigen, der den Gesetzgeber zur Realisierung alternativer Ziele und Lösungswege legitimiert 172 • Die Freiheit des Bürgers, vor staatlichem Änderungsgebot bewahrt zu werden, muß sich die Einschränkung durch einen Richtungswechsel gefallen lassen, der durch die Entscheidung der Verfassung zur Demokratie bedingt ist 173 • Da diese Entscheidung jedoch kein Selbstzweck ist, sondern wie jedes staatliche Handeln um des Menschen willen geschieht, hat der demokratisch sich neu orientierende Gesetzgeber die mit dem Umschwenken einhergehenden und hinzunehmenden Freiheitseinbußen auszugleichen oder zumindest abzumildern. Dazu kommen Übergangsregelungen und Optionsmöglichkeiten für die Betroffenen in Betracht174 Nochmals soll klargestellt werden: Das Demokratieprinzip kann zur Rechtfertigung eines generellen und konsequent verfolgten Kurswechsels in einem Regelungsgebiet beitragen, nicht jedoch zum konzeptlosen Versuch, mehrere Regelungsprogramme gleichzeitig nebeneinander oder in kurzem Abstand einander abwechselnd, ausspielend und aufhebend zu verwirklichen. Demokratie ist kein Grund zum unsteten Hin- und Herprobieren zu Lasten der Bürger. Schließlich drängt sich eine Differenzierung zwischen belastenden und begünstigenden Änderungen auf175 • Der Freiheitsanspruch wird durch eine Änderung eher geschont, die auf einen Abbau staatlichen Zwanges oder auf die Einführung staatlicher Gewährungen hinwirkt. Aber auch hier können Unüber-

171 Lange Die Verwaltung 4 (1971), 259, 269. 172 Lerche DÖV 1961, 486, 488. 173 BVerfGE 30, 392, 404, 406 (BerlinhilfeG) zieht die Grenze zum für den Bürger nicht mehr Hinnehmbaren erst bei der Existenzbedrohung. Das ist zu weitgehend. Kloepfer ist zuzustimmen, wenn er Änderungshärten nur für hinnehmbar hält, wenn sie unvermeidbar sind (DÖV 1978,225, 229 f.). 174 BVerfGE 51, 356, 368 f.;. BendalKatzenstein, Abweichende Meinung zu BVerfGE 58, 81, dort S. 129, 132 ff.; Lerche DÖV 1961, 486, 489. 175 Kloepfer VVDStRL 40,63,87. 4 Burghart

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A. Das notwendige Gesetz

sichtlichkeit und Unabgestimmtheit aufeinanderfolgender Änderungen eine übermäßige Freiheitseinbuße bedeuten176 So ist gezeigt worden, daß der unter dem Stichwort "Systemgerechtigkeit" bzw. "Systemwidrigkeit" behandelte Komplex ebenfalls ein Übermaß- und Erforderlichkeits- und somit ein Freiheitsproblem ist 177. Es gibt somit einen verfassungsrechtlichen Maßstab, so daß man es nicht bei dem Appell bewenden lassen muß, der Staat solle sich in seinem Verhalten den ehrbaren Kaufmann zum Vorbild nehmen 178 • WiIIkürverbot und Gleichheitssatz, die zur Begründung der Systemgerechtigkeit gemeinhin angeführt werden 179, sind hingegen keine tauglichen Kriterien zur Beurteilung einer Änderung der Rechtslage für ein und denselben Betroffenen, da jedes Gesetz Gleiches im Gegensatz zur Zeit vor dem Inkrafttreten ungleich behandelt l80 • Sie eignen sich deshalb nicht zur Abwehr eines System bruchs durch Rechtsänderung, sondern allenfalls zur Abwehr von Ungleichbehandlung verschiedener Personenkreise, die sich im Hinblick auf· das anstehende Regelungsproblem sachlich nicht voneinander unterscheiden181 h) Änderullgsgebot

Dem Kriterium der Änderungsnotwendigkeit, das vor weiteren Freiheitseinbrüchen schützt, steht das Änderungsgebot gegenüber, das auf die Beseitigung der nicht mehr notwendigen Regelung zielt. Die Subsidiarität verweist den Staat nicht nur auf anfängliche Zurückhaltung, sondern gebietet auch den Rückzug, wenn die Aufgabenerledigung und Problemlösung seiner nicht mehr bedürfen l82 . Die staatliche Maßnahme behält ihren subsidiären Charakter; sie bedarf fortdauernder Legitimation durch hinreichende Rechtfertigungsgrün-

176 Kloepfer DÖV 1978, 225, 232; Lerche DÖV 1961, 486, 489. 177 So auch Lange Die Verwaltung 4 (1971), 259, 269; Kloepfer neigt in DÖV 1978, 225, 227, 232 noch eher dem Übermaßverbot als dem entscheidenden Kriterium zu, sieht dann in VVDStRL 40, 63, 86 aber sowohl einen Freiheits- als auch einen Gleichheitseingriff. 178 Von Schlabrendorff, Abweichende Meinung zu BVerfGE 37, 363, dort S. 414, 418; zustimmend BendalKattenstein, Abweichende Meinung zu BVerfGE 58,81, dort S. 129, 133. 179 BVerfGE 13, 31, 38; 13, 331, 340; BVerfG NVwZ 1994, 473, 475 (Abwahlbeamte); Hili, GgebL, S. 102; Stüer S. 153 f.; ablehnend: Battis, Systemgerechtigkeit, S. 29 f.; zusammenfassende Darstellung verschiedener Argumentationswege bei HoppelRengeling S. 116 ff. 180 Kloepfer DÖV 1978, 225, 227; MaunzlDürig Art. 3 I Rdnr. 201 ff. 181 Lange Die Verwaltung 4 (1971),259,262; MaunzlDürig Art. 3 I Rdnr. 305. 182 Dürig JZ 1953, 193, 198.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

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de183 . Freiheitsbeschränkungen sind nur hinzunehmen, wenn und solange sie unerläßlich sind. Mit dem Gebot der Erforderlichkeit des Gesetzes geht also die Noch-Erforderlichkeit einher. Die Grundrechte binden den Gesetzgeber nicht nur bei Erlaß des Gesetzes. Da er - abgesehen von korrigierenden Eingriffen der Verfassungsgerichtsbarkeit - der einzige ist, der über das weitere Schicksal des Gesetzes verfügen kann, hat er sicherzustellen, daß auch nach Erlaß des Gesetzes die Verfassungsgemäßheit geWährleistet bleibt l84 . Für den Grundrechtsberechtigten besteht kein Unterschied zwischen dem unnötig neu zupackenden Gesetzgeber und dem unnötig anhaltenden Würgegriff. Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse, erledigt sich etwa die Gefahr, die die Gesetzgebungserforderlichkeit begründet hat, oder kann die zu bewältigende Aufgabe (wieder) ohne staatliches Zutun gemeistert werden, so hat der reglementierende Staat auf diese tatsächliche Änderung zu reagieren l85 . Die Freiheitsbeschränkung ist auf das erforderliche Maß zu beschränken oder ganz aufzuheben, indem die Regelungsdichte vermindert oder die Regelung ganz aufgegeben wird. Eine solche Nachbesserungspflicht besteht auch, wenn bei unveränderten tatsächlichen Verhältnissen die staatliche Regelung zunächst für das probate und zulässige Mittel gehalten werden mußte, sich diese Annahme aber nachträglich als unzutreffend erweist, oder wenn die Entwicklung einen anderen als den erwarteten Verlauf nimmt, wenn also eine Fehlprognose zu korrigieren ist186 • Diese Zweiteilung der Voraussetzungen des Änderungsgebotes - Reaktion auf tatsächliche Veränderungen, Korrektur von Fehlprognosen - entspricht dem gängigen Sprachgebrauch, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als unnötig. Verändern sich die tatsächlichen Umstände, so daß das Gesetz den Anforderungen nicht mehr gerecht wird, so liegt dem Gesetz eine unvollständige oder falsche Prognose zu Grunde. Sie hätte die Veränderung enthalten müssen, die dann bei Normerlaß bereits hätte berücksichtigt werden können - etwa durch eine befristete Geltungsdauer. Auch mit einer Anpassung an veränderte Umstände wird somit eine Fehlprognose korrigierr 87 .

183 Dies gilt allgemein und nicht nur bei Gebrauch von Ausnahmeinstrumenten, wie BVerfGE 55,274,308 (Berufsausbildungsabgabe) annimmt. 184 BVerfGE 88, 203, 310 (§§ 218 ff. StGB); dort wird der Gesetzgeber allerdings nicht an die Beachtung des Übermaß-, sondern des Untermaßverbotes erinnert. 185 BVerfGE 25, 1, 13 (MühlenG); 49, 89, 130 (Schneller Brüter); 55, 274, 308, 317 (Berufsausbildungsabgabe); 56, 54, 78 f. (Fluglärm); 65, 1, 56 (Volkszählung); 82, 159, 181 (Absatzfonds); 83, 1, 16 (BRAGO); 86, 148, 236 (Finanzausgleich); 88, 203, 309 f. (§§ 218 ff. SIGB); Gusy ZRP 1985, 291, 294. 186 BVerfGE 49, 89, 132 (Schneller Brüter); 50, 290, 335 (Mitbestimmung); 65, 1, 55 (Volkszählung); 73, 40, 94 (Parteienfinanzierung); 88, 203, 309 f. (§§ 218 ff. StGB). 187 Stettner DVBl 1982, 1123, 1124, Fn. 22. 4*

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A. Das notwendige Gesetz

i) Zusammenfassung

Somit kann nun festgehalten werden, daß das Vermeiden überflüssiger Regeln nicht nur politisches Ziel, sondern verfassungsrechtliches Gebot ist 188 Das auf den Grundrechten beruhende Subsidiaritätsprinzip statuiert einen individuellen Freiheitsvorbehalt und einen Gesellschaftsvorbehalt, die dem staatlichen Handeln Grenzen setzen und insbesondere ein Übernormierungsverbot enthalten189 . Nicht eine Neuordnung der Wesentlichkeitstheorie führt also zum Ziel 190, sondern die Erkenntnis, daß der Parlamentsvorbehalt kein allumfassendes Parlamentszugriffsrecht bedeutet. Die Erforderlichkeit der Gesetzgebung ist als Vorfrage ernst zu nehmen. Es besteht eine Pflicht zum notwendigen Gesetz. 3. Gewaltenteilung Die Grundrechte regeln das Verhältnis des Bürgers zum Staat im weitesten Sinne. Alle staatlichen Handlungsformen, auch das materielle Gesetz, werden erfaßt 191 . Das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 11 2 GG) hingegen betrifft das Verhältnis der Staatsorgane zueinander. Dies kommt zwar auch dem Schutze des Bürgers zu Gute. Das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung bewirkt eine Verteilung politischer Macht, ein Ineinandergreifen der Gewalten, so daß sich die verschiedenen Organe gegenseitig kontrollieren und begrenzen. Daraus resultiert im Verhältnis zum Bürger eine Hemmung und Mäßigung der Staatsherrschaft und somit ein Schutz der persönlichen und politischen bürgerlichen Freiheit192 . Der Adressat der ihm nachteiligen Norm ist aber mit Erwägungen der Gewaltenteilung in seinem Unmut nicht zu beschwichtigen. Ihm ist es egal, ob ihn ein Gesetz, eine Verordnung oder eine Satzung belastet193 Die neuere Lehre hat neben dem Freiheitsschutz durch Machtmäßigung jedoch eine weitere Funktion des gewaltenteilerischen Prinzips erkannt: Es gebietet, die staatlichen Kompetenzen entsprechend der verfassungsrechtlich festgelegten Organstruktur und dem Verfahren von Legislative, Exekutive und Ju-

188 Entgegen Fliedner ZG 1991, 40, 44. 189 Entgegen Kloepfer VVDStRL 40,63, 80; ZG 1988, 289, 302. 190 So aber der Vorschlag von Karpen, GgebL, S. 31 f., der allerdings eine Korrektur anhand gewaltenteilerischer Erwägungen anregt, auf die hier sogleich eingegangen werden wird. 191 Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 87. 192 BVerfGE 33, 125, 158 (FacharztO); 68, 1, 86 (Atomwaffenstationierung); Degenhart DÖV 1981, 477, 479; Scheuner, Regierung, S. 267; RStaal, S. 249 f.; Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 49; Stern § 36 14 b, III 1, IV 4 c. 193/sensee ZRP 1985, 139, 140.

IV. VerfassungsrechtIiche Schranken der Übernormierung

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dikative ZU verteilen und dabei auf den Zusammenhang zwischen Funktion, Kompetenz und Legitimation zu achten 194 . Die staatlichen Entscheidungen sollen möglichst von den Organen getroffen werden, die dafür nach Organisation, Zusammensetzung und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfü en, um so eine möglichst sachgerechte, richtige Entscheidung zu erlangen19 . Deutlich tritt der Gegensatz zur Wesentlichkeitstheorie hervor, die eine höchstmögliche demokratische Legitimation der normsetzenden Entscheidung im wesentlichen Bereich anstrebt und für den unwesentlichen Bereich nicht ausschIießt 196 . Dem Grundgesetz ist jedoch kein Vorrang des Demokratieprinzips vor anderen Verfassungsprinzipien zu entnehmen. Einen allumfassenden Entscheidungsvorrang des Parlaments, einen Gewaltenmonismus in Form eines allgemeinen Parlamentsvorbehalts gibt es deshalb nicht197 • Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine gewaltenteilende Demokratie, die eine wirkungsvolle demokratische Herrschaft gewährleisten will und der höchstmöglich demokratisch legitimierten - also der parlamentarischen - Entscheidung keinen unbedingten Vorrang einräumt, wenn nach der Entscheidungsstruktur und dem Verfahren ein anderes Organ als geeigneter erscheinen muß 198 • Das Demokratieprinzip überspielt die gewaltenteilerische Kompetenzordnung nicht; vielmehr setzt die Gewaltenteilung den Befugnissen der einzelnen Organe, auch denen des Parlaments, verbindliche Grenzen199 . Das demokratische Prinzip kommt dabei durchaus zur Geltung. Zum einen ist nicht nur das Parlament demokratisch legitimiert. Die Organe der anderen Staatsgewalten sind ebenfalls als verfassungsunmittelbare Institutionen und Funktionen geschaffen (Art. 20 11, III GG) und durch eine bei der Volkswahl (Art. 38 I 1 GG) beginnende Legitimationskette mittelbar demokratisch legitimiert200 • Zum anderen bringt das Parlament seine unmittelbare demokratische Legitimation auch bei exekutiver Normsetzung durch die parlamentarische Kontrolle zur Geltung. Die Regierung ist sowohl in ihrem Bestand (Art. 63, 67 I GG) als auch vermittels der ~arlamentarischen Haushaltshoheit in ihrer Tätigkeit vom Parlament abhängig 01. Auch wenn zuzugeben ist, daß das Mißtrauensvotum nicht als Quittung für einzelne Regierungsrnaßnahmen gedacht ist 202 , so

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194 Janssen S. 173.

195 BVerfGE 68, 1, 86 (Atomwaffenstationierung); Karpen, GgebL, S. 32; Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 49; vgl. schon zuvor: Degenhart növ 1981, 477, 482. 196 Vgl. oben 1, S. 36 ff. 197 BVerfGE 49, 89, 124 (Schneller Brüter); 68, 1, 87 (Atomwaffenstationierung). 198 BVerfGE 68,1,87 (Atomwaffenstationierung);Janssen S. 173; Karpen, GgebL, S. 32. 199 BVerfGE 49,89,124 (Schneller Brüter);Janssen S. 173. 200 BVerfGE 49,89, 125; von Münch-Schnapp Art. 20 Rdnr. 30. 201 BVerfGE 68,1,109 f. (Atomwaffenstationierung); JanssenS. 173. 202 Mahrenholz, Abweichende Meinung zu BVerfGE 68, 1 (Atomwaffenstationierung), dort S. 111, 131.

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A. Das notwendige Gesetz

ist seine Funktion als Ausdruck der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament und als schärfstes Kontroll- und Sanktionsmittel dennoch unbestritten203 ; seine Existenz übt disziplinierende Wirkung aus. Wenn das gewaltenteilerische Gebot, die staatliche Entscheidung möglichst richtig, also vom bestgeeigneten Organ treffen zu lassen, das Parlament bei der Ausübung seiner demokratischen Legitimation auf die Kontrolle verweist, so verstößt eine andere parlamentarische Handlungsform - auch und gerade die selbst getroffene Entscheidung - gegen Art. 20 II 2 GG und ist somit verfassungswid. 204 ng Das parlamentarische Normsetzungsverfahren ist schwerfällig. Schon seine Dauer läßt das erkennen. Allein vom Einbringen des Gesetzentwurfes beim Bundestag bis zur Verkündung sind in der elften Wahlperiode des Bundestages durchschnittlich 212 Tage vergangen. Das längste Verfahren dauerte 1.292 Tage, das kürzeste acht Tage205 ,206. Die normsetzende Regierung agiert schneller. Am Verordnungsgebungsverfahren wirken weniger Beteiligte mit als am parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Sie sind nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ausgesucht (Art. 33 II GG, §§ 4 I Nr. 3, III, 7 BRRG, 7 I Nr. 3, 8 I 2 BBG), während die Wählbarkeit an keine ähnlichen Voraussetzungen geknüpft ist (Art. 38 11 GG, § 15 BWG). Innerhalb der Regierung und ihrer Ministerialbürokratie gibt es keinen institutionalisierten Widerstand in Fonn einer Opposition. Vielmehr besteht auch im exekutivischen Nonnsetzungsverfahren die Weisungsbefugnis der jeweiligen Behördenspitze. Die Ministerialbürokratie kann den -in ihr versammelten Sachverstand direkt zur Entscheidungsfindung nutzen, ohne sich um eine mitunter aufwendige Vermittlung in die parlamentarischen Gremien bemühen zu müssen. Das Parlament hingegen verhandelt unter weitgehender Beobachtung durch die Öffentlichkeit. Die Beteiligung der Opposition sichert eine öffentlich geführte Debatte um Lösungsvarianten. Auch die Interessen, die bei der Entscheidung zurückgestellt werden, werden erörtert. Das Entscheidungsverfahren ist somit

203 Von Münch-Liesegang Art. 65 Rdnr. 20, Art. 67 Rdnr. 1. 204 Janssen S. 173. 205 Dieses eilige Verfahren entsprang dem vom Bundesverfassungsgericht hervorgerufenen Handlungsdruck vor der 12. Bundestagswahl am 3. Dezember 1990. Mit dem am 2. Oktober 1990 beim Bundestag von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten, am 5. Oktober 1990 in dritter Lesung verabschiedeten, am 8. Oktober 1990 mit der Zustimmung des Bundesrates versehenen, am selben Tage ausgefertigten und am 10. Oktober 1990 verkündeten Zehnten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes sowie zur Änderung des Parteiengesetzes mußte das Wahlrecht an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. September 1990 (BVerfGE 82, 332) angepaßt und die Sperrklausel auf die getrennten Wahlgebiete bezogen werden. 206 Deutscher Bundestag/Bundesrat, S. XXX, 140 f.

IV. Verfassungs rechtliche Schranken der Übernormierung

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nicht nur auf Entscheidungsfindung, sondern auch auf Integration der unterliegenden Minderheit und somit auf Konfliktschlichtung gerichtet. Das Parlament erscheint danach zur politischen Zielfindung und Richtungsentscheidung mit der Chance auf Akzeptanz auch beim politisch Unterlegenen eher geeignet als die Regierung. Die Ministerialbürokratie kann technischen Sachverstand schneller wirksam umsetzen, insbesondere bei der Anpassung von Normen an die technische Entwicklung, wenn eine Fülle von Details zu berücksichtigen und eine zügige Reaktion geboten ist 207 • Sie erscheint weniger geeignet zur Entscheidung über Grundsatz und Richtung, sondern eher für den Vollzug dieser Entscheidungen. Damit ist die klassische Unterscheidung zwischen den Grundfunktionen aufgezeigt: Gesetzesgestaltung einerseits, Gesetzesanwendung - auch durch weiteren Normerlaß - andererseits208 • Das Parlament ist kraft der Gewaltenteilung nicht nur von der Gesetzesanwendung auf den Einzelfall ausgeschlossen 209 sondern auch von den Bereichen der generell-abstrakten Rechtsetzung, die die Ministerialbürokratie besser zu bewältigen vermal lO • Überschreitet das Parlament durch die Regelung von Einzelheiten und Feinheiten die Grenze seiner Fähigkeiten, so handelt es verfassungswidrig. Dabei ist insbesondere auch danach zu fragen, ob das Parlament die einmal erlassene Regelung auch in gegebenenfalls gebotener Eile veränderten Umständen anpassen könnte211 . Sollte diese Frage wegen der Masse der zu berücksichtigenden Daten, wegen der Komplexität des Sachbereichs oder wegen der Detailliertheit der Regelung zu verneinen sein, so ist die Regelung dieser Einzelfragen der wendigen und schnellen Exekutive zu überlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, der Gesetzgeber könne mit der Regelung von Einzelheiten "überfordert" sein, wenn die notwendige Bestimmtheit und Klarheit für die praktische Anwendung nicht zu erreichen sei 212 . Das Interesse an einer wirksamen, funktionierenden Staatstätigkeit verbietet den Staatsorganen die Wahrnehmung von Tätigkeiten, mit denen sie überfordert werden, die sie mithin nicht bewältigen können. Der Gesetzgeber hat sich auf das zu beschränken, was er kann: Grundsatzentscheidungen, Regelungsprogramme, deren Wirksamkeit und Geltung Veränderungen und kurzlebige Entwicklungen im betroffenen Sachbe207 Karpen NJW 1988, 2512, 2514. 208 Karpen NJW 1988, 2512, 2513. 209 Ob auch Art. 19 I 1 GG als Grundlage für diese Aussage dienen kann, ist umstritten: vgl. einerseits BK-Menger Art. 19 I Rdnr. 37 m.w.N., andererseits Maunz/Dürig-Herzog Art. 19 I Rdnr. 47. 210 Vgl. Janssen S. 174; Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 57. 211 Vgl. Janssen S. 174. 212 BVerfGE 58,257, 275 f. (Schulentlassung).

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A. Das notwendige Gesetz

reich überdauern können. Die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ist nicht Sache des Gesetzes. Es hat hierfür lediglich die Richtung vorzugeben und der Verwaltung die Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzesvollzug kann zum einen weiterer abstrakter Detailregelungen bedürfen: dann ist eine Verordnungsermächtigung in das Gesetz aufzunehmen. Wenn die Gesetzesanwendung wegen der unüberschaubaren Vielgestaltigkeit der zu erfassenden Lebenssachverhalte durch weitere generelle Regelungen nicht zu determinieren ist, dann ist die Einräumung von Ermessen der richtige Weg. In beiden Fällen ist das Parlament von ei~ener Tätigkeit ausgeschlossen und auf die Kontrolle der Exekutive beschränkt 13. Die Forderungen nach Entfeinerung der Gesetze, nach Verordnungsermächtigungen statt Vollregelungen, nach einer Renaissance der Generalklausel und des Ermessens 214 finden somit im Grundsatz der Gewaltenteilung ihre verfassungskräftige Stütze. Der Gesetzesvorbehalt und das Demokratieprinzip verpflichten, die Gewaltenteilung beschränkt das Parlament auf das Wesentliche215 • Die Pflicht zum notwendigen Gesetz wird somit auch durch Art. 20 II 2 GG begründet. 4. Bundesstaatsprinzip

Wenn in einem Einzelfall feststeht, daß der Staat überhaupt rechtsetzend tätig werden darf, und nach gewaltenteilerischen Erwägungen ermittelt worden ist, ob Legislative oder Exekutive zum Normerlaß berufen sind, stellt sich in einem Bundesstaat noch die Frage, ob die Organe des Bundes oder der Länder zu handeln haben. Diese Entscheidung über die Verteilung der staatlichen Aufgaben und Kompetenzen ist die wichtigste für jeden Bundesstaat216 . Da den Ländern Staatscharakter zukommt, muß ihnen auch ein nennenswerter Anteil der Gesetzgebung zustehen, weil sie einen zentralen Bestandteil staatlicher Souveränität darstellt. Auf den ersten Blick scheint das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 I GG) als Grundlage für die Pflicht zum notwendigen Gesetz nicht zu taugen, da es doch 213 Das Verhältnis des Parlaments zur Rechtsprechung wird unten C 11 3, S. 85 ff., erörtert. 214 Hili, GgebL, S. 46; Karpen, GgebL, S. 31; Karpen NJW 1988, 2512, 2517, 2518; Kloepfer VVDStRL 40,63, 75; Weiß DÖV 1978, 601, 608. 215 Den Forderungen von Hili, GgebL, S. 46, und Karpen, GgebL, S. 31 f., NJW 1988, 2512, 2513 f., entsprechend. Die begrenzende Aufgabe will Schmidt-Aßmann, HdbStR I, § 24 Rdnr. 35, ebenfalls der Wesentlichkeitstheorie aufbürden; sie ist jedoch bei der Gewaltenteilung besser aufgehoben. 216 Stern § 19 III 3.

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um eine Verteilung, nicht um eine Beschränkung der Normsetzungsbefugnisse geht. Eher erscheint das Bundesstaatsprinzip als eine Übernormierungsquelle: Es beschert uns statt einer 16 Bauordnungen zuzüglich eines Baugesetzbuches, 17 Normenkomplexe zur Staats- und Verwaltungsorganisation statt eines einzigen. Zumindest für den Bund kann sich aber ein (Über-)Normierungsverbot ergeben, und die daraus resultierende Entlastung des Bundesgesetzgebers könnte wiederum der Qualität der Gesetzgebungsarbeit im übrigen zu Gute kommen. Die Verlagerung gesetzgeberischer Arbeiten auf die Länder stieße dort auf freie Kapazitäten. Die Belastung der Landesparlamente ist weitaus geringer 81s die des Bundestages. Der Deutschen Bundestag hat im Jahre 1993 129 Gesetzesbeschlüsse gefaßt. Dazu sind 615 Ausschuß_ 217 , 141 Unterausschuß- und 71 Planarsitzungen abgehalten worden. Als Beispiel für die Landesparlamente soll der Niedersächsische Landtag dienen: 31 Gesetzesbeschlüsse, 470 Ausschuß_ 218 und 29 Plenarsitzungen. Die Aufteilung der Gesetzgebungsarbeit zwischen Bund und Ländern regeln Art. 70 bis 75 GG. Art. 70 I GG legt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zu Gunsten der Länder fest. Art. 71, 73, 105 I GG weisen dem Bund ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse zu; die Länder bedürfen hier zu eigener Tätigkeit einer ausdrücklichen Ermächtigung. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74, 74 a, 105 11 GG) und der Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG) soll Art. 72 GG die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes beschränken. Die Bundeskompetenz hängt nach Art. 72 11 GG von der Erforderlichkeit im gesamtstaatlichen Interesse zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit ab. Der Begriff der Erforderlichkeit ist aus dem Übermaßverbot bekannt, das die Freiheitsrechte wie einen Schutzw811 umgibt. Erforderlich ist dort nur das geringsteinschneidende 81ler geeigneten Mitte1 219 . Übertrüge man diesen Gedanken auf das Bund-Länder-Verhältnis und sähe man die Gesetzgebungskompetenz der Länder als das vor einem Zugriff zu schützende Gut an - was die Grundsatznorm des Art. 30 GG und die Regel-Ausnahme-Norm des Art. 70 I GG nahelegen -, so müßte man zu dem Ergebnis kommen, daß der Bund nur dann zur Gesetzgebung befugt ist, wenn die beiden durch Art. 72 11 GG gesteckten Ziele durch Landesgesetze nicht (mehr) zu verwirklichen sind. Gerade eine Formulierung, die diese Definition der Erforderlichkcit ausdrücklich enthält - "wenn und soweit ... die für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die Wirtschaftsein217 Ohne Ältestenrat (26 Sitzungen), Untersuchungsausschüsse (97 Sitzungen), EnqueteKommissionen (119 Sitzungen), Vermittlungsausschuß (12 Sitzungen), Richterwahlausschuß (eine Sitzung) und Gemeinsame Verfassungskommission (13 Sitzungen). 218 Ohne Ältenstenrat (10 Sitzungen) und Präsidium (12 Sitzungen). 219 Lerche S. 21.

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A. Das notwendige Gesetz

heil oder die soziale Einheit nur durch eine bundesgeset7Jiche Re§elung zu erreichen ist" -, ist jedoch vom Bundesrat vorgeschlagen worden 22 , um die Bedingungen für eine bundesgesetzliche Regelung zu verschärfen, zu präzisieren und zu konzentrieren und den Bund so auf das jeweils Erforderliche zu beschränken221 . Dieser Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen. Die Hürde für den Bund sei zu hoch; er werde durch Entzug fast jeder Gesetzgebnngskompetenz schlichtweg entmachtet222 . Dies sollte vermieden werden durch die nun geltende Fassung. Dabei herrschte Einigkeit zwischen Vertretern des Bundesrates und des Bundestages, daß die herkömmlich geltende Bedürfnisklausel abzulösen sei durch eine Fassung des Art. 72 11 GG, die dessen Prinzip tatsächlich zur Geltung bringe, um die Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu stärken. Die Leerformel des alten Art. 72 11 GG, die die Entscheidung über ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung dem politischen Ermessen überweise und keinen begrenzenden oder disziplinierenden Wert für die Bundesgesetzgebung mehr habe, sollte ersetzt werden 223 . Dabei sollten die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz konzentriert, verschärft und präzisiert werden mit dem Ziel, die als unzureichend empfundene lustitiabilität der Bedürfnisklausel durch das Bundesverfassungsgericht zu verbessern224 . Ob dieses Ziel zu erreichen ist, hängt jedoch nicht allein von der Formulierungskunst des verfassungsändernden Gesetzgebers ab. Auch die alte Fassung des Art. 72 11 Nr. 3 GG enthielt in ihrem letzten Wort die Schranke der Erforderlichkeit. Daß sich die Vorschrift dennoch als "eines der Haupteinfallstore für die Auszehrung der Länderkompetenzen,,225 erweisen konnte, hat das Bundesverfassungsgericht zu verantworten. Es hat das "Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung ... , weil die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wah-

220 Bundesrat, Bericht und Beschlußempfehlung des Arbeitsausschusses 1 der Kummission Verfassungsreform, Kommissions-Drs. 11 = Arbeitsunterlage Nr. 9 der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 3 f. 221 Bundesrat, Bericht und Beschlußempfehlung des Arbeitsausschusses 1 der Kommission Verfassungsreform, Kommissions-Drs. 11 = Arbeitsunterlage Nr. 9 der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 5; Staatsministerin Dr. Hohmann-Dennhardt (Hessen), Gemeinsame Verfassungskommission, Stenographischer Bericht, 4. Sitzung, S. 5. 222 Gemeinsame Arbeitsgruppe Verfassungskommission der CDU/CSU - Föderalismus I, Arbeitsunterlage Nr. 7 der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 3; Abg. Dr. Freiherr von Stetten, Gemeinsame Verfassungskommission, Stenographischer Bericht, 4. Sitzung, S. 13. 223 Vorsitzender Dr. Schah. und Abg. Dr. Vogel, Gemeinsame Verfassungskommission, Stenographischer Bericht, 4. Sitzung, S. 20, 24, 25. 224 Deutscher Bundestag, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommisssion, S. 66. 225 Bundesrat, Bericht und Beschlußempfehlung des Arbeitsausschusses 1 der Kommission Verfassungsreform, Kommissions-Drs. 11 = Arbeitsunterlage Nr. 9 der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 4; Staatsministerin Dr. Ilohmann-Dennhardt (Hessen), Gemeinsame Verfassungskommission, Stenographischer Bericht. 4. Sitzung, S. 6; Deutscher Bundestag, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 65.

IV. Verfassungsrechtliche Schranken der Übernormierung

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rung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert" zur Ermessensfrage erklärt 226 oder überhaupt nicht erwähnt 227 • Bereits die alte Fassung enthielt jedoch keinen Ermessensbegriff: Eine Wahlmöglichkeit zwischen mehreren möglichen A1ternativen - hier: die Wahl des Bundesgesetzgebers, tätig zu werden oder nicht - war dem Wortlaut nicht zu entnehmen; die Vorschrift war nicht mehrdeutig und gab nicht keiner der Arten der Gesetzgebung den Vorzug vor der anderen 228 • Art. 30, 70 I GG geboten (und gebieten) vielmehr, der Landesgesetzgebung den Vorzug zu gewähren und den Bund auf das Erforderliche zu beschränken. Mit der das Bedürfnis begründenden Erforderlichkeit hatte das Bundesverfassungsgericht einen unbestimmten Rechtsbegriff auszulegen und von der gerichtlichen Auffassung abweichende Ansichten des Bundesgesetzgebers für verfassungswidrig und die darauf beruhenden Gesetze für nichtig zu erklären. Unter Geltllng dei alten Fassung hat das Gericht dies, seine Kompetenzen und Pflichten mißachtend, in ständiger Rechtsprechung unterlassen. Die Bemühungen des verfassungsändemden Gesetzgebers bei der Neuformulierung des Art. 72 11 GG sollten das Gericht veranlassen, der Verfassungsnorm nun zur Durchsetzung zu verhelfen. Dies gilt auch für die Einschränkung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, soweit es um die gleichwertigen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet geht. Während nach der alten Fassung des Art. 72 11 Nr. 3 GG dem Bund ein Gesetzgebungsrecht zukam, soweit ein Bedürfnis bestand, weil "die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus" es erfordert, ist der Bund nun nur noch gesetzgebungsbefugt, "wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ... eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht" (Art. 72 11 GG). Hergestellt werden kann nur, was noch nicht besteht. Voraussetzung ist also das Fehlen gleichwertiger Lebensverhältnisse, eine vorliegende Störung der Gleichwertigkeit. Nicht mehr zulässig ist ein Einschreiten durch Bundesgesetz bereits zur Wahrung der Einheitlichkeit, also zum Schutz der bestehenden Gleichwertigkeit, zum Vorbeugen gegen erwartete Störungen. Prävention erlaubt Art. 72 11 GG zu Gunsten gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht mehr. Das Bundesstaatsprinzip enthält somit für den Bund eine Übernormierungsschranke. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen verpflichtet den Bund auf das notwendige Gesetz. Insbesondere im Bereich der konkurrieren-

226 Seit BVerfGE 2, 213, 224 (StraffreiheitsG) ständige Rechtsprechung. 227 So wird zuletzt in BVerfGE 87, 1, 33 Cf. (Trümmerfrauen); 88. 366, 378 f. (Sir X) Art. 72 GG bei der Prüfung einer konkurrierenden Bundeskompetenz mit keinem Wort erwähnt. 228 Engisch S. 113 ff.

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den und der Rahmengesetzgebung bindet Art. 72 II GG die Bundesgesetzgebung an die Erforderlichkeit zur Verwirklichung der dort genannten Ziele. V. Zusammenfassung Die Frage nach einer Pflicht zum notwendigen Gesetz, mit der Übernormierungsschranken umschrieben worden sind, hat umfangreiche Erörterungen erfordert. Die Pflicht besteht und kann in drei Stufen zusammenfassend dargestellt werden. Die Freiheitsrechte schützen vor staatlicher Normierung jeder Art und beschränken den Staat auf subsidiäre Regelungstätigkeit. Das Prinzip der Gewaltenteilung weist- sowohl dem Parlament als auch der Exekutive Normierungsaufgaben zu, die das jeweilige Organ besser zu erledigen vermag als das andere. Das Bundesstaatsprinzip und die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern enthält eine Normierungsschranke für den Bund. Er muß seine Regelungstätigkeit im Verhältnis zu den Ländern besonders rechtfertigen.

Zweiter Abschnitt B. Das verständliche Gesetz Wenn Gesetze befolgt werden sollen, wenn sie als Handlungsanweisung dienen sollen, wenn das Verhalten an ihren Geboten, Verboten und Leitbildern ausgerichtet werden soll, muß der Normadressat sie verstehen können. Auch das Gesetz, das als gewährende Regelung auftritt, um Not zu mildern und Freiräume zu schaffen, muß sein Ziel verfehlen, wenn der Anspruchsinhaber sein Recht nicht geltend machen kann, weil er es nicht erkennt oder seinen Inhalt nicht begreift. Dies alles erscheint so selbstverständlich und offenkundig, daß eine Pflicht zum verständlichen Gesetz den Gesetzgeber ohne weiteres treffen muß. Es dürfte nicht einmal verwundern, wenn die Verfassung dazu nichts aussagt, sondern die Pflicht, nur verständliche Gesetze zu erlassen, als notwendig voraussetzt. Dennoch sollen hier einige Erörterungen folgen - zunächst zur Sprache, in der Gesetze abzufassen sind, dann zur sprachlichen Gestaltung der Gesetze. I. Sprache Die Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Länder verhandeln in deutscher Sprache. Die Verkündungsblätter enthalten die in Deutschland beschlossenen Gesetze in deutscher Sprache. Auf ausdrücklicher Regelung beruht dieses Vorgehen nicht. Der Gesetzgeber verpflichtet zwar die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung zum Gebrauch der deutschen Sprache (z.B. §§ 23 VwVfG, 19 SGB X, 184 GVG), wird aber selbst nicht durch eine entsprechende Norm des Grundgesetzes gebunden. Dennoch richtet er seine Gebote ausschließlich in deutscher Sprache an die Normadressaten, verlangt jedoch nicht nur von Deutschen oder auch nur der deutschen Sprache Kundigen Gehorsam. Ebensowenig läßt er seine Gewährungen nur Deutsch Verstehenden zu Gute kommen. 7,1 Prozent der in Deutschland wohnenden Bevölkerung sind Ausländer1 , von denen nicht ohne weiteres zu erwarten ist, daß sie Deutsch spre1 Statistisches Bundesamt, S. 72. 186.900 Österreicher sind dabei bereits unberücksichtigt geblieben.

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B. Das verständliche Gesetz

chen oder verstehen. Dabei sind Ausländer, die sich vorübergehend in Deutschland aufhalten, nicht berücksichtigt. Den Sprachunkundigen fällt die Teilhabe an der Rechtsgemeinschaft besonders schwer. Sowohl dem Erkennen und dem Erfüllen ihrer Pflichten als auch dem Wahrnehmen ihrer Rechte steht die Sprachbarriere entgegen. Da sie ihre Rechte nicht kennen, können sie sich auch gegen Verletzungen nicht wehren. Sie sind Beeinträchtigungen eher ausgesetzt als Deutsche und können gerichtlichen Rechtsschutz weniger effektiv wahrnehmen2 • Dennoch ist fraglich, ob das Grundgesetz den Gesetzgeber beim Normerlaß zur Rücksicht auf fremdsprachliche Normadressaten verpflichtet. Zwar enthält das Grundgesetz keine Fixierungen auf einen Nationalstaat Deutschland: es bekennt sich schon in der Präambel zur verantwortlichen Einbindung in die Staaten- und Völkergemeinschaft, verpflichtet auf das Ziel der Einigung Europas (Art. 23 I GG), öffnet sich gegenüber dem Völkerrecht (Art. 24, 25 GG) und gewährt die meisten Grundrechte ohne Ansehen der Nationalität. Seinen Geltungsbereich beschränkt es jedoch auf den Nationalstaat Deutschland. Die Ausdehnung des Geltungsbereichs ließ Art. 23 a.F. GG nur auf andere Teile Deutschlands zu. Die Aufhebung dieser Bestimmung durch Art. 4 Nr. 2 EV und die Feststellungen in der neugefaßten Präambel, die Einheit Deutschlands sei nun vollendet, das Grundgesetz gelte nun für das gesamte Deutsche Volk, zeigen, daß das Grundgesetz die deutsche Staatsgewalt auf Deutschland erstrecken aber auch beschränken wollte und will. Die in diesen Grenzen ansässigen Menschen, die den hier bereits beheimateten vorangegangenen Generationen nachfolgen, zeichnen sich jedoch im wesentlichen durch deutsche Sprachgemeinschaft aus. Auf die nationalen Minderheiten wird gleich eingegangen werden. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit ein auf Einsprachigkeit beruhender Nationalstaat3. Das läßt zwei Schlüsse zu. Zum einen ist bei der Ausübung staatlicher Gewalt - somit auch beim Abfassen von Gesetzen - jedenfalls Deutsch zu sprechen und zu schreiben. Eine Norm, die in einer anderen als der deutschen Sprache verfaßt wird, kann von der Mehrzahl der in ihrem Anwendungsbereich lebenden Menschen nicht verstanden werden und ist deshalb von vornherein nichtig. Selbst wenn sich ihr sachlicher und personeller Anwendungsbereich auf Adressaten fremder Sprache beschränken sollte, muß es den Staatsangehörigen, von denen wegen der Eigenart Deutschlands als Nationalstaat erwartet werden muß, daß sie zumindest Deutsch verstehen, möglich sein zu erfahren, welche Regeln in ihrem Staat gelten.

2 Geiger S. 140. 3 Kirchhof, HdbStR I, § 18 Rdnr. 30.

I. Sprache

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Zum anderen läßt die Eigenart Deutschlands als Staat, dessen Grenzen nur eine Sprachgemeinschaft umfassen, eine Typisierung beim staatlichen Sprachgebrauch zu". Der Staat muß sich einerseits der Sprache bedienen, in der ihn seine Staatsangehörigen und damit die große Mehrzahl der seiner Staatsgewalt Unterliegenden verstehen, und er darf sich andererseits grundsätzlich und von vornherein auf den Gebrauch dieser Sprache beschränken. Von Fremdsprachigen, die sich auf Dauer im deutschen Sprachraum aufhalten wollen, kann und muß erwartet werden, daß sie sich bemühen, Kenntnisse der deutschen Sprache zu erwerben, um .nicht nur in ihrem neuen sozialen Umfeld zurechtzukommen, sondern auch am Rechtsleben teilnehmen zu können. Nicht die seit jeher deutschsprachige Umgebung hat sich auf die Fremdsprachigkeit des Neuankömmlings einzustellen, sondern dieser muß sich der bestimmenden Sprache des gewählten Aufenthaltsortes unterwerfen5. Der von der Gemeinsamen Verfassungskommission empfohlene Art. 20 b GG hätte an dieser Lage nichts geändert. Die Vorschrift sollte lauten: "Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten.,,6 Das Achten kultureller und sprachlicher Minderheiten bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das ungehinderte Lebenlassen in privater Kultur- und Sprechumgebung. Dieses strikte Verbot innerstaatlichen Kultur- und Sprachimperialismus findet seine Grundlagen in den Grundrechten der Art. 5 I, 6 11, 2 I, 3 III GG7 • Ein "Ausschluß jeglichen Assimilationsdrucks" , ein "Verbot von Bestrebungen nach Integration,,8 und damit eine Abkehr vom einsprachigen deutschen Nationalstaat, den das Grundgesetz bisher voraussetzte, hätte mit der vorgeschlagenen Formulierung des Art. 20 b GG nicht erreicht werden können. Art. 20 b GG hätte der alten Rechtslage nichts hinzugefügt. Er wäre unverbindliche Verfassungslyrik geworden. Gleiches gilt für die drei Landesverfassungen, die sich ihren nationalen Minderheiten widmen. Die Verfassungen der Länder Brandenburg9 (Art. 25) und Schleswig-Holstein10 (Art. 5 11) und des Freistaates Sachsenll (Art. 5 11) gewährleisten kulturelle Eigenständigkeit und politische Mitwirkung, Schutz, Erhaltung und Pflege der nationalen Identität, der Sprache, Religion und Über-

4 Kirchhof, HdbStR I, § 18 Rdnr. 55. 5 Kirchhof, HdbStR I, § 18 Rdnr. 64 f. 6 Deutscher Bundestag, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 140. 7 Kirchhof, HdbStR I, § 18 Rdnr. 54. 8 So die Befürchtung von Kriele, FAZ v. 21. Dezember 1993, S. 7; der "Ausschluß jeglichen Assimilationsdruckes' ist mit der Regelung bezweckt worden: Deutscher Bundestag, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 145. 9 GVBl1992 I, 298. 10 GVOB11990, 391. 11 GVBl1992, 243.

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B. Das verständliche Gesetz

lieferung der jeweiligen nationalen Minderheit. Sie gehen damit nicht über das hinaus, was gemäß Art. 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 12 schon bisher galt: die Angehörigen der Minderheit dürfen sich ihrer eigenen Sprache bedienen. Die Verwaltungsverfahrensgesetze für das Land Brandenburg13 (§ 23 V) und für den Freistaat Sachsen14 (§ 3) gestehen den Sorben (Wenden) den Gebrauch ihrer Sprache ausdrücklich auch im Verkehr mit den Landesbehörden mit denselben Wirkungen wie bei Eingaben in deutscher Sprache zu. Das Allgemeine Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein15 enthält in § 82 a hingegen im wesentlichen die gleiche Regelung wie § 23 VwVfG, bürdet den Angehörigen der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe also die Übersetzungslast auf. Keine der genannten Regelungen verpflichtet jedoch den Staat, sich in einer anderen als der deutschen Sprache an die Adressaten von Normen, Verwaltungsakten oder Urteilen zu wenden. Die Befugnis zur Typisierung beim staatlichen Sprachgebrauch besteht auch gegenüber den Angehörigen der nationalen Minderheiten. Der Staat darf sich in deutscher Sprache an sie wenden, und er muß es auch, um eine Überprüfung der Rechtsakte durch die in deutscher Sprache verhandelnden Organe der Rechtspflege zu ermöglichen. Die Befugnis und Pflicht des Gesetzgebers, Normen in deutscher Sprache zu erlassen, wirft schließlich die Frage auf, an welche Regeln sich der Gesetzgeber beim Gebrauch der Sprache zu halten hat. Die Regeln der Rechtschreibung und Grammatik müssen in ganz Deutschland einheitlich gelten, damit Staat und Bürger in allen Teilen des Landes auf einen Standard zurückgreifen können, der gegenseitiges Verstehen sicherstellt. Dennoch enthält das Grundgesetz keine Bundeskompetenz, und die Normierung wird gemeinhin der Kulturhoheit der Länder zugerechnet. Die Kultusministerkonferenz hat durch Beschluß vom 24. Juni 1955 16 die Regeln der Rechtschreibreform von 1901 und der späteren Verfügungen für verbindlich erklärt. In Zweifelsfällen sollten die im "Duden" gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich sein. Ob die Landesgesetzgeber Befugnis und Pflicht zum Normerlaß auf diese Weise einer privaten Verlagsredaktion überlassen dürfen, soll hier nicht vertieft werden. Festgehalten werden kann, daß auch der Bundesgesetzgeber diese Regeln beachten muß, weil er sich der deutschen Sprache zu bedienen hat. Er hat die geltenden Regeln der Grammatik und Rechtschreibung einzuhalten. Würden die Länder die Rechtschreibung uneinheitlich regeln, so müßte der Bund dem folgen und verschiedene Fassungen der Normen beschließen und verkünden. Weicht er 12 BGB11973 H, 1534. 13 GVBl 1993 I, 26. 14 GVBl 1993, 74. 15 GVOB11992, 243, 534, geändert durch Gesetz vom 11. März 1993 (GVOB1, 128). 16 GMBl, 492.

11. Sprachliche Gestaltung

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von den geltenden Regeln ab, so begeht er nicht nur einen Rechtschreib- oder Grammatikfehler , sondern handelt auch rechtswidrig, indem er gegen seine Pflicht zum Gebrauch der deutschen Sprache verstößt. Die Erwägung, der Bundesgesetzgeber könne durch das Abweichen von orthographischen Regeln diese implizit mit dem Gesetz ändern wollen 17 , geht schon deshalb fehl, weil dazu die Gesetzgebungskompetenz fehlt. 11. Sprachliche Gestaltung Allenthalben wird die Kompliziertheit und Unverständlichkeit der Gesetzessprache beklagt. Dabei wird zum einen zur Kenntnis genommen, daß auch die Gesetzgebung an den allgemeinen Sprachkrankheiten unserer Zeit teilhabe, so z.B. am übermäßigen Gebrauch von Hauptworten 18, der Substantivierung der Sprache. Auch die Gesetze litten unter der Verwilderung der Sprache: es herrsche Schwund an ~räziser Begriffiichkeit; Klarheit, Einfachheit und Verständlichkeit verliefen 1 . Zum anderen sei die Gesetzessprache aber auch für besondere Mängel anfällig. So seien unverständliche Bandwurmsätze die Folge des Strebens nach automationsgeeigneten Rechtsnormen, die darauf ausgerichtet würden, Rechnerprogramme fortzuschreiben 20 . Zur Unverständlichkeit von Normtexten trügen jedoch nicht nur mangelhafter Sprachstil bei, sondern auch unzureichende Systematik und verwirrende Begriffsverwendung. Mangelnde Systematik führe zu Unübersichtlichkeit, so daß sowohl das Befolgen von Normen erschwert werde als auch Defizite in der Wahrnehmung von Ansprüchen verzeichnet werden müßtelP. Solche Nachlässigkeiten werden gar als Strukturmängel der Gesetze der heutigen Zeit angesehen 22 . Selbst die Mittel der Gesetzgebungstechnik gerieten außer Kontrolle: Verweisungen, Wiederholungen und Auslassungen führten wegen Unabgestimmtheit zu Komplikationen23 . Ohne systematische Verwendung seien sie nicht mehr geeignet, die mit ihnen eigentlich bezweckte Entlastung des Gesetzgebers zu bewirken24 .

17 Vgl. Brandner ZG 1990, 46, 49, Fn. 22; Kim ZRP 1973, 49, 51; Schiffer S. 50; Schom S. 49. 18 Schneider, Ggeb, Rdnr. 439. 19 Eichenberger VVDStRL 40,7,17. 20 Schneider, Ggeb, Rdnr. 442. 21 Ebsen DVB11988, 883, 884. 22 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 16. 23 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 17. 24 Hili, GgebL, S. 114. 5 Burghart

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B. Das verständliche Gesetz 1. Rechts- und Gesetzessprache als Fachsprachen

Die Rechtssprache und die Gesetzessprache als eine ihrer Unterarten sind Fachsprachen, und sie leiden unter den allgemeinen. Schwierigkeiten einer Fachsprache25 • Die Fachsprache dient dem Gebrauch durch fachlich kompetente Schreiber und Sprecher zur Verständigung untereinander. Sie trägt zwischen den Fachleuten zur Klarheit, Kürze und Eindeutigkeit des Gesagten und Geschriebenen bei, indem sie Ausdrücke formalisiert und normiert. Der Gebrauch von Fachsprachen hat mit dem Wissenszuwachs und der hochspezialisierten Arbeitsteilung der Gesellschaft zugenommen. Dadurch kommt nahezu jeder Bürger mit einer oder mehreren Fachsprachen in Berührung, die er als Laie nur unvollkommen beherrscht. Dabei treten ernste Verständigungsschwierigkeiten vor allem dann auf, wenn ein Laie einen Begriff der Fachsprache zu kennen glaubt und ihn falsch verwendet. Diese Gefahr ist besonders groß, weil dem Laien selbst bei Kenntnis der alltagssprachlichen Definition des fachsprachlichen Begriffs die Einzelheiten, Hintergründe und Zusammenhänge verschlossen bleiben können. Die Gesetzessprache verschärft dieses Problem, indem sie gleichen Begriffen verschiedene Bedeutungen zumißt. Schon in ein und demselben Gesetz (z.B. §§ 90, 90 a und 119 11 BGB) und erst recht in verschiedenen Rechtsgebieten werden Begriffe unabhängig voneinander verwendet26 . Deshalb nützen Begriffskenntnisse in einem Rechtsgebiet in einem anderen mitunter nichts, ja sie können bei ungeprüfter Übernahme sogar zu grundlegend falschen Auffassungen von der Rechtslage führen. Unter dem Gesichtspunkt einer Pflicht zum verständlichen Gesetz ist nun zu erörtern, ob das Grundgesetz allgemeinverständliche Gesetze fordert und ob ihm ein Gebot der Einheit der Rechtsordnung zu entnehmen ist, in der jedem Begriff nur eine rechtliche Bedeutung zugemessen wird. Als verfassungsrechtlicher Maßstab kommen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III, 28 I 1 GG) und Art. 103 11 GG in Betracht. Die Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit der Konkretisierung für das Strafrecht in Art. 103 11 GG verlangen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß der Rechtsunterworfene klar erkennen kann, was Rechtens

25 Zur Rechts- und Gesetzessprache als Fachsprache: Oksaar ZG 1989, 210 ff.; Strouhal ZG 1986,117 ff. 26 Engisch, S. 78, 161, nennt als Beispiele: Beamter, Besitz, Eigentum, Öffentlichkeit, Fahrlässigkeit, Sache, Irrtum, Einrede.

11. Sprachliche Gestaltung

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sein soll, um sich auf zu erwartende Beschränkungen einstellen und Gewährungen beanspruchen zu können27 . 2. Keine Pflicht zum allgemeinverständlichen Gesetz

Bei der weiteren Konkretisierung der Pflicht zum verständlichen Gesetz sind idealistische Maßstäbe zu verwerfen. Die Vorstellung, Gesetze müßten in einer allgemein verständlichen, einfachen Sprache formuliert sein, wird den Aufgaben, die die Gesetzgebung heute zu bewältigen hat, nicht gerecht. Komplizierte Regelungsgegenstände können nicht mit simplen Formulierungen zufriedensteIlend normiert werden 28 • Die Aufgabe des Traums vom einfachen Gesetz29 fällt jedoch nicht schwer. Leitbild der Rechtssicherheit und Gesetzesbestimmtheit ist ohnehin nicht der Gesetze lesende Jedermann. Die Vorstellung vom Bürger, der sich Rechtskenntnisse mit dem Gesetzblatt in der Hand verschaffen will, beruht auf einer Illusion3o , der nachzujagen das Grundgesetz keine Verpflichtung enthält. Selbst der redaktionell bearbeitete Gesetzestext, der das Lesen der für sich allein unverständlichen Änderungsgesetze erspart, ist für den rechtsuchenden Bürger keine Erkenntnisquelle. Dies ist nicht erst eine Folge unübersichtlicher Gesetzgebung. Die Norm selbst ist für den unkundigen Laien schlechthin ungeeignet, ihn über die Rechtslage aufzuklären. Kaum ein rechtliches Problem ist so eng begrenzt und von der übrigen Rechtsordnung isoliert, daß die Kenntnisnahme einiger weniger schnell überschaubarer und ohne Anstrengung verständlicher Normen Aufklärung über die maßgeblichen rechtlichen Gebote verschaffen kann. Wollte man jedes rechtliche Alltagsproblem isoliert mit ein paar leicht zu begreifenden Normen lösen, so würde die Verständlichkeit einer solchen Gesetzgebung schnell an einer anderen Hürde scheitern. Die fehlende Vernetzung, der Verzicht auf Systematik und Verweisungen, eine das Einzelne beschreibende, Abstraktionen und Generalklauseln vermeindende Sprache würde zu einer Überlänge der Gesetze führen, die wiederum das Auffinden der maßgeblichen Stelle bis zur Unmöglichkeit erschwert31 . So besteht das wegen seiner Volkstümlichkeit gerühmte, in farbiger und bildhafter Sprache abgefaßte Allgemeine Landrecht für die Preußischen 27 BVerfGE 5, 25, 31 (Apothekenstopp); 17, 306, 314 (Mitfahrzentralen); 21, 73, 79 (Grundstücksverkehr), 37, 132, 142; 52, 1, 41 (Kleingarten); 59, 104, 114 (Leitende Angestellte); Brandner ZG 1990, 46, 58 f.; Hili, GgebL, S. 15, 106, 130; Karpen, GgebL, S. 46 f.; Schmidt-Aßmann, HdBStR I, § 24 Rdnr. 81; Nr. 8.4 der Blauen Prüffragen, GMBI. 1990, 42, 45. 28 Isensee ZRP 1985, 139, 142, 144. 29 Karpen, GgebL, S. 49. 30 Kindermann in Schäfferrrriffterer (Hg.), S. 75; Schneider, Ggeb, Rdnr. 326; Stern § 37 IV 5 d. 31 Klug in Schäfferrrriffterer (Hg.), S. 40. 5*

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B. Das verständliche Gesetz

Staaten, das sich nach dem Willen der Verfasser auch an Nichtjuristen wenden sollte32 , bereits aus so vielen Vorschriften, daß es sich als Handbuch für das schnelle Lösen alltäglicher Rechtsprobleme durch jeden Bürger nicht eignet. Das Gebot des § 12 Einl. PrALR, jeder Einwohner sei gehalten, sich über die Gesetze, die ihn betreffen, genau zu erkundigen, war schon zur Zeit seiner Geltung und ist heute erst recht unerfüllbar33 und verfehlt zudem seinen Zweck: Gesetzeskenntnis allein verschafft keine Rechtskenntnis. Eine Einzelfälle beschreibende Gesetzessprache führt mit ihrer Normenflut aber nicht nur zu noch größerer Unübersichtlichkeit, sie überfordert zugleich den Gesetzgeber. Er hätte die konkreten, eine Vielzahl einzelner Lebenssachverhalte beschreibenden Tatbestände ständig den sich wandelnden Verhältnissen anzupassen, wenn nicht die Norm binnen kurzer Zeit ins Leere greifen soll. Die Bewertung eines Verhaltens als sittenwidrig (§§ 138 I, 826 BGB) oder arglistig (§§ 123 I, 463 S. 2 BGB) unterliegt den sich wandelnden Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft. Wollte der Gesetzgeber an die Stelle dieser unbestimmten Rechtsbegriffe eine Reihe von Verhaltensbeschreibungen setzen, die auch den Laien verstehen lassen, wen die Rechtsfolge treffen soll und wen nicht34 , so bestünde ständig die Gefahr, daß ein bisher unbekanntes Verhalten, das den beschriebenen nur ähnelt aber qualitativ entspricht, sanktionslos bliebe. Noch atemloser als schon jetzt müßte der Gesetzgeber der tatsächlichen Entwicklung folgen, um Regelungslücken zu vermeiden. Bei grundsätzlichen Wertvorstellungen in der Gesellschaft bestehen dabei eher die geringeren Schwierigkeiten. Der rasanten technischen Entwicklung könnte die Gesetzgebungsmaschinerie jedoch nur hoffnungslos hinterherhinken35 . Der Feststellung, daß mit dem Verwenden unbestimmter Rechtsbegriffe die Schwierigkeiten des Umganges mit dem Einzelfall auf Behörden und Gerichte verlagert werden 36 , ist hinzuzufügen, daß dies unter dem Gesichtspunkt der funktionsorientierten Gewaltenteilung zu begrüßen ist: vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sind wegen ihrer Struktur und Verfahrensweise besser geeignet, auf rasche Entwicklungen zu reagieren, als der Gesetzgeber37 . An der Gewaltenteilung hat aber andererseits auch eine Flucht des Parlaments in die Generalklausei zu scheitern. Zwar sind Verwaltung und Gerichte zur Einzelfallentscheidung besser geeignet und daher von Verfassungs wegen (Art. 20 11 2 GG) berufen. GeneralklauseIn und unbestimmte Rechtsbegriffe ermächtigen insbe32 Hattenhauer S. 29, 35. 33 Ebsen DVB11988, 883, 884. 34 Das Beifügen bloßer Regelbeispiele zu einem unbestimmten Rechtsbegriff vermittelt diese Kenntnis nicht. 35 BVerfGE 49,89, 134 f. (Schneller Brüter). 36 BVerfGE 49, 89, 135 f. (Schneller Brüter). 37 Vgl. oben A IV 3, S. 52 ff.

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sondere die Gerichte aber weiterhin lediglich zur Entscheidung in dem Einzelfall des von den Parteien vorgetragenen Rechtsstreits, nicht jedoch zur Verewigung von Maßstäben und allgemeinen - für alle und alle Zeit geltenden Grundsätzen, die dann für die zeitlich nachfolgenden Entscheidungen, insbesondere der Gerichte unterer Instanzen gesetzes gleiche Bindungswirkung entfalten sollen38 • Der Wunsch nach einer Gesetzessprache, die so bestimmt, konkret und bildhaft wie nur möglich sein solle, orientiert sich somit zum einen am unzutreffenden Leitbild des Gesetze lesenden Laien und wird zudem den Anforderungen an eine funktionstüchtige Gesetzgebung nicht gerecht. 3. Erkennbarkeit für den juristischen Generalisten

Die Rechtssicherheit mit ihrem Element der Erkennbarkeit des Rechts hat sich an anderen Maßstäben zu orientieren. Das Gebot, es solle erkennbar sein, was in einem bestimmten Verkehrskreis Rechtens sein soll, nützt nicht jedem einzelnen Rechtsunterworfenen, sondern zuerst und vor allem den Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises. Das Bundesverfassungsgericht verlangt Erkennbarkeit der Rechtslage für den Rechtsunterworfenen oder Betroffenen 39 • Aber auch diese Forderung geht zu weit. Von zahlreichen gesetzlichen Regelungen ist schlichtweg jeder betroffen. Der Kreis derjenigen, die tagtäglich Verträge schließen, auf dieser Grundlage Leistungen beanspruchen und zu erbringen haben und denen bei einer Störung des Vertragsverhältnisses Schadensersatzansprüche erwachsen, ist nicht einzugrenzen; er umfaßt die gesamte Bevölkerung. Nur ein weiteres Beispiel ist das Strafrecht, das sich mit seinen Geboten und Sanktionen an jeden richtet. Daraus ist jedoch nicht zu folgern, daß die betreffenden Vorschriften allgemeinverständlich sein müssen. AIIgemeinverständlichkeit würde verlangen, daß die Normen, die einen Anspruch oder die Strafbarkeit begründen, beieinander stehen, damit man nach dem Auffinden der entscheidenden Stelle im Gesetz - die erste, nur schwerlich zu beseitigende Schwierigkeit - Tatbestand und Rechtsfolge einfach erkennen kann. Eine systematische Gliederung in einen allgemeinen und besonderen Teil würde sich verbieten, da das Verstehen der Bezüge zwischen heiden Teilen entweder besondere Kenntnisse oder die Lektüre des gesamten Gesetzeswerkes verlangt. Das verständliche wäre zugleich das umständliche Gesetz. Der Preis für die Verständlichkeit für jeden wäre der Verlust der Handhabbarkeit für die aus38 Vgl. im Einzelnen unten bei den Erörterungen zum Abschieben der Lilckenfüllung vom Gesetzgeber auf die Rechtsprechung (C 11 3, S. 85 ff.). 39 BVerfGE 5, 25, 31, 33 (Apothekenstopp); 17, 306. 314 (Mitfahrerzentralen); 21, 73, 79 (Grundstücksverkehr); 52, 1, 41 (Kleingarten); 59, 104, 114 (Leitende Angestellte).

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B. Das verständliche Gesetz

gebildeten Spezialisten, die das Gesetz anzuwenden haben. Daß allgemeine Materien jedermann zugänflich sein müssen, ist auch nicht aus dem demokratischen Prinzip zu folgern o. Nach dem demokratischen Prinzip müßte sogar jedes Gesetz jedem verständlich sein, damit jeder Bürger das Produkt der von ihm ausgeübten oder zumindest von ihm ausgehenden, in Gang gesetzten Staatsgewalt erkennen, selbst kontrollieren und prüfen kann 41 • Das Demokratieprinzip findet jedoch seine Grenzen, wo es das Funktionieren der Staatsorgane lahmlegen würde. Die Verfassungsordnung eines Staates ist auf seinen Bestand gerichtet, nicht auf die unbedingte Durchsetzung eines einzelnen Prinzips. Es ist zudem gar nicht nötig, daß jeder die Gesetze versteht, die allgemeine Materien regeln. Die strafrechtlichen Sanktionen und der ihnen innewohnende Appell, strafbewehrtes Handeln zu vermeiden, rücken nicht durch eine Lektüre des Strafgesetzbuches ins Bewußtsein der Bevölkerung. Strafrecht entfaltet Wirkung allein durch seine praktische Anwendung. Wenn sich herumspricht, daß bestimmtes Handeln tatsächlich bestraft wurde, dann hat dies abschreckende und disziplinierende Wirkung, die auch durch den Befehl, ein einfach verständliches Strafgesetz zu lesen, nicht erreicht werden könnte. Selbst wenn das Ermitteln zivilrechtlicher Ansprüche für jedermann erleichtert werden könnte, würde der Laie deren Durchsetzung um des angestrebten Erfolges willen dennoch einem spezialisierten und erfahrenen Rechtsanwender überlassen, dem der Umgang mit der staatlichen Rechtspflege durch seine Routine leichter fällt. Geborgenheit und Vertrauen zu bieten, ist nicht Aufgabe des Gesetzes 42 , sondern der Rechtsanwender. Nicht das Lesen von für Laien verständlichen Gesetzen verschafft Vertrauen in die Rechtsordnung, sondern die Kenntnis und Gewißheit, daß sie korrekt und wirksam angewandt werden, daß Polizisten Straftaten verhindern und verfolgen, daß Gerichte, Anwälte und Vollstrekkungsorgane dem Anspruchsinhaber zu seinem Geld verhelfen. Dies weist den Weg zum richtig verstandenen Verständlichkeitsmaßstab. Der als Generalist ausgebildete Jurist muß die Gesetze verstehen können 43. Er beherrscht die Methodik der Auslegung und kennt die Mittel der Gesetzgebungstechnik, so daß diese ihm keine Verständnisbarriere, sondern eine Verständnishilfe bieten. Ihm muß damit jedoch auch die gesamte geschriebene Rechtsord40 So jedoch Karpen, GgebL, S. 47. 41 Kindermann in Schäfferrrriffterer (Hg.), S. 75.

42 So Helmrich in Strempel (Hg.), S. 32. 43 Vgl. Klug in Schäfferffriffterer (Hg.), S. 40 f., der dann wieder zum dem Rcchl~stab angehörenden Laien zurückkehrt, worunter er auch Verwaltungsbeamte, Sozialarbeiter und Ver· bandsfunktionäre versteht, die nach der hier vertretenen Auffassung als selbst rechtsanwendende Angehörige anderer Fachkreise anzusehen sind und sogleich erörtert werden.

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nung offenstehen. Auf Spezialkenntnisse für einzelne Rechtsgebiete darf er nicht angewiesen sein. Sonst kann er seine Mittlerfunktion zwischen dem Gesetz und dem betroffenen Laien 44 nicht mehr warhnehmen. Der Verweis auf den spezialisierten Juristen geht dabei fehl. Sicherlich kann der in einem bestimmten Rechtsgebiet besonders kundige Spezialist dem rechtsuchenden Laien besonders nützlich sein. Es müssen sich jedoch alle Rechtsgebiete auch für den Generalisten und den Spezialisten eines anderen Bereiches mit den allgemeinen juristischen Kenntnissen erschließen lassen, damit der rechtsuchende ebenso wie der unfreiwillig mit dem Rechtsanwender konfrontierte Laie eine vollständige und richtige Behandlung erfährt. Es ist keineswegs abwegig, sondern geradezu alltäglich, daß der nicht spezialisierte Rechtsanwalt Beratung und Beistand auf sämtlichen Rechtsgebieten zu leisten hat, daß der Staatsanwalt oder Strafrichter zivil- oder steuerrechtliehe oder andere spezielle Rechtsfragen im Rahmen strafrechtlicher Prüfungen zu berücksichtigen hat. Dazu muß für den Juristen die Rechtslage aus dem Gesetz zu erschließen sein. Dies bedeutet nicht, daß bei einer in diesem Sinne verständlichen Gesetzgebung auf die Kommentarliteratur verzichtet werden könnte. Der rechtsanwendende Jurist muß jedoch schon allein durch das Gesetz zu einer Beurteilung des ihm vorliegenden Falles in die Lage versetzt werden. Die Behandlung des Falles durch Rechtsprechung und Lehre, die verschiedenen, voneinander abweichenden Ansichten können sich selbstverständlich nur aus begleitender Literatur ergeben. Aber auch zu ihrem Verständnis bedarf es zunächst eines Verstehens des Gesetzes. Wer nicht weiß, auf welche Norm es ankommt, steht hilflos vor der weiterführenden Literatur. Nach diesem richtig verstandenen Maßstab des rechtsanwendenden juristischen Generalisten ist eine Norm dann wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsgebot verfassungswidrig, wenn ihr Regelungsgehalt mit den Mitteln der juristischen Methodik ohne spezielle Kenntnisse ihrer Entstehung nicht mehr zu ermitteln ist45 • Diese Vorstellung des rechtsanwendenden Generalisten, für den sich das gesamte geschriebene Recht erschließen lassen muß, liegt bereits den Prozeßordnungen zu Grunde. Die umfassende Rechtskenntnis des Richters wird vorausgesetzt (iura novit curia). § 293 ZPO erwähnt lediglich für ausländisches, ungeschriebenes und Statutenrecht die Möglichkeit einer Beweiserhebung.

44 Klug in Schäfferrrriffterer (Hg.), S. 41 f.

45 Vgl. ÖstVfGH VfSlg 12420/1990, 773, 776.

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B. Das verständliche Gesetz 4. Verständlichkeit bedeutet Vermittelbarkeit

Richtiger Maßstab der Verständlichkeit ist somit die Vermittelbarkeit durch den ausgebildeten Juristen an den Laien. Der Jurist muß aus dem Gesetz Tatbestand und Rechtsfolge finden und erkennen können. Nur dann ist er auch in der Lage, sich weiterführende Kenntnisse aus begleitender Literatur anzueignen. Nur dann ist er in der Lage, seine Mittlerfunktion zwischen Gesetz und Gesetzesbetroffenem wahrzunehmen, indem er dem Rechtsunkundigen in Auskunft, Bescheid oder Urteil nicht nur die Rechtsfolge präsentiert, sondern aus dem Gesetz und dem Sinn der Regelung heraus erläutert. Der Extremzustand, daß Gesetze von niemandem, nicht einmal von Juristen, ohne besondere Erläuterung verstanden werden können, ist nicht nur ein schlimmer Zustand46 , sondern ein verfassungswidriger, weil so auch dem betroffenen Laien eine richtige Rechtsanwendung versagt bleiben muß. Daß darüberhinaus dem Bürger zwar Gehorsam gegenüber der Rechtsfolge abverlangt, ihm ein Verständnis über ihre Herkunft und erst recht ihren Sinn aber verwehrt wird und daß dadurch eine Versöhnung mit der auftretenden Staatsgewalt - direkt die Verwaltung oder Rechtsprechung, mittelbar die Gesetzgebung - verhindert wird, führt den Staat in eine Existenzkrise. Gänzlich ungeeigneter Maßstab für die Fassung verständlicher Gesetze ist somit auch der Computer. Daß Rechnerprogramme fortgeschrieben werden sollen 47 , befreit den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, für den Juristen verständliche Gesetze zu erlassen. Die' automations gerechte Umformulierung in ein Rechnerprogramm ist wiederum Aufgabe hierfür ausgebildeter Spezialisten. Die verkündete Fassung des Gesetzes hat jedoch für den Menschen, nicht für eine Maschine verständlich zu sein. Das Abstellen auf den Verständnishorizont des juristischen Generalisten ermöglicht zudem den Zugang für den interessierten Laien und den selbst rechtsanwendenden Angehörigen anderer Fachkreise. Der Gesetze lesende Laie wird dem Text schon von sich aus Interesse entgegenbringen, sonst würde er sich nicht auf diesem Wege über die Rechtslage informieren wollen. Gesetzesverständnis setzt für ihn nicht nur ein gewisses Niveau der Aufnahmekapazität und guten Willen voraus48 , er muß sich auch bewußt sein, mit dem Gesetz das Handwerkszeug des rechts anwend enden Fachkreises zu gebrauchen, so daß das Verschaffen weiterer Kenntnisse aus dem jeweiligen Rechtsgebiet oder über rechtliche Grundlagen erforderlich sein kann.

46 So Stern § 37 IV 5 d. 47 Schneider, Ggeb, Rdnr. 442. 48 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 17.

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Die Verständlichkeit für den nicht spezialisierten Juristen eröffnet auch die Möglichkeit der Vermittlung der gesetzlichen Regelungen in den Erkenntnisquellen, aus denen der Bürger Regelungskenntnisse bezieht, ohne selbst konkret betroffen zu sein. Dies sind Berichte in den Massenmedien und in Verbandszeitschriften und die Informationsbroschüren der Parlamente, Ministerien und anderen Behörden. Die Verfasser solcher allgemeinverständlichen Erläuterungen über neue gesetzliche Regelungen oder über Tendenzen oder Trendwendungen in der Rechtsanwendung sind zumeist selbst Juristen oder Spezialisten des jeweils behandelten Sachgebietes49 . Sie greifen aus einem umfänglichen Gesetz die ihren Adressatenkreis interessierenden Regelungen heraus und erläutern sie in einer dem jeweiligen Verständnishorizont entsprechenden Form. Die Existenz solcher Broschüren, Fibeln und erläuternden Berichte ist kein Beleg für ein unverständliches Gesetz. Die Erläuterung wichtiger Neuregelungen, von denen weite Kreise der Bevölkerung betroffen werden, ist vielmehr eine Aufgabe der Behörden, Interessenverbände und Journalisten, die ein für sie verständliches Gesetz als Grundlage voraussetzt. Verständlichkeit bedeutet Vermittelbarkeit. 5. Verstä.ndlichkeit für selbst rechtsanwendende Angehörige anderer Fachkreise

Angehörige anderer Fachkreise können darauf angewiesen sein, rechtliche Regeln zu beachten und anzuwenden, ohne daß zuvor stets eine fachkundige Rechtsberatung eingeholt werden kann. Sie kennen die Spezialitäten ihres Faches und bedienen sich einer eigenen Fachsprache. Wenn ihr Fachgehiet einer intensiven gesetzlichen Normierung bedarf, trifft das Gesetz auf für die Rechtsanwendung in ihrem Sachgebiet besonders ausgebildete, aufnahmebereite und um Verständnis bemühte Betroffene und Anwender. Hier braucht der Gesetzgeber nicht auf die Mittel der Gesetzgebungstechnik zu verzichten und muß das Gesetz nicht übermäßig umständlich gestalten, um es für den Anwender verständlich zu fassen. Der Verständnishorizont des Betroffenen und Anwenders in einem anderen Fachkreis kommt dem des Juristen nahe, übersteigt ihn sogar, soweit es die Spezialitäten des Faches betrifft. Der betroffene Spezialist eines anderen Fachgebietes ist somit geeigneter Maßstab für die Verständlichkeit. Das Gesetz hat für ihn aus sich selbst heraus verständlich zu sein, ohne daß für die Routineanwendung eine Erläuterung durch begleitende Handbücher oder Fibeln nötig sein darf. Wie Bücher zu führen sind und wie zu bilanzieren ist, interessiert die Kaufleute und die Angehörigen der steuerberatenden Berufe. Die betreffenden Re49 Klug in Schäfferrrriffterer (Hg.), S. 41 f.

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B. Das verständliche Gesetz

gelungen sind für sie erkennbar zu gestalten, an ihrem Verständnishorizont auszurichten. Diesem Grundsatz folgend, hat der Gesetzgeber des dritten Buches des Handelsgesetzbuches, mit dem europäische Richtlinien in deutsches Recht umzusetzen waren, auf die Verständlichkeit für Steuerfachgehilfen Rücksicht genommen50 . Die Konzeption des dritten Buches wurde - im Gegensatz zum Regierungsentwurf51 - vom Einfachen ansteigend zum Komplizierten so aufgebaut, daß die für alle Kaufleute geltenden Vorschriften in einem ersten Abschnitt weitestgehend verweisungsfrei zusammengefaßt sind52 • Kaufleute mit kleinem Geschäftsumfang, die ihre Bücher ohne vertiefte Rechtskenntnisse selbst führen, brauchen nur diese Vorschriften zu kennen. Die folgenden, ergänzenden Regelungen für Kapitalgesellschaften, eingetragene Genossenschaften und Kreditinstitute werden von Spezialisten angewandt, denen der Umgang mit der Verweisung auf einen allgemeinen Teil - die für alle Kaufleute geltenden Vorschriften - weniger schwer fällt. Mit der Bemerkung, Wirtschaft, steuerberatende Berufe und Verwaltung könnten mit dem Gesetz hervorragend umgehen53 , konnte das Parlament seinen Verfassungsauftrag, ein verständliches Gesetz zu erlassen, als erfüllt betrachten. Eine darüber hinausgehende Feststellung, jeder könne das Gesetz verstehen, wäre niemandem zu Gute gekommen. Das Gebot der Verständlichkeit für die selbst rechtsanwendenden Angehörigen des von den Regelungen betroffenen Verkehrskreises kann auch dadurch erfüllt werden, daß das Gesetz sich der Fachsprache der Regelungsanwender bedient. Es fördert die Verständlichkeit für den Anwender, wenn sich die Bauordnungen der Fachsprache der Verfasser von Bauplänen bedienen und das Bundes-Seuchengesetz medizinische Fachbegriffe enthält (§ 3), um den Arzt über seine Meldepflichten zu informieren. Freilich wird das Dilemma der Unverständlichkeit verschärft und nicht gelindert, wenn die beiden Fachsprachen (Gesetzes- und weitere beteiligte Fachsprache) aufeinanderprallen, statt aufeinander abgestimmt zu sein54 . Verweist der Gesetzgeber durch die Verwendung eines Fachbegriffes eines anderen Fachkreises auf die Begriffsbildung dieses Fachkreises, so ergeben sich daraus zweierlei Vorteile. Die Verständlichkeit für den selbst rechtsanwendenden Angehörigen des anderen Fachkreises wird enorm erleichtert. Enthielte § 3 BSeuchenG statt der medizinischen Fachbegriffe jeweils allgemeinverständliche oder auch nur einem Arzt verständliche Beschreibungen der 50 Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, Plenarprotokolll0/181, S. 13734 B. 51 Deutscher Bundestag, Drs. 10/317. 52 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, Deutscher Bundestag, Drs. 10/4268, S. 88; Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, PlenarprotokoIl10/181, S. 13734 B, D f. 53 Abg. Dr. Schroeder, Deutscher Bundestag, PlenarprotokoIllO/181, S. 13747 C. 54 Strouhal ZG 1986,117,121.

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Krankheiten, ihrer Ursachen und Symptome, so wäre die Vorschrift nicht nur sehr viel länger, sondern auch unübersichtlich und schwer verständlich. Ein medizinisch Fachkundiger müßte nicht nur aus der Beschreibung zunächst erkennen, welche Krankheit gemeint ist, er müßte die Beschreibung des Gesetzes auch sorgfältig mit der ihm aus der medizinischen Forschung und Lehre vertrauten Beschreibung vergleichen, um sicherzustellen, ob der Gesetzgeber die medizinisch anerkannte und verwendete Definition gebraucht. Dies führt zum zweiten Vorteil der Verwendung fachsprachlicher definierter Begriffe. Verweist der Gesetzgeber auf die Begriffsbildung und Definition des anderen Fachkreises, so folgt der gesetzliche Begriff den Veränderungen der Definition in dem Fachkreis. Das Gesetz bleibt aktuell, ohne daß es einer Änderung bedarf, die den Begriff an neue Erkenntnisse in Forschung und Technik anpassen müßte. Regelungslücken als Folge verspäteter Änderungen bleiben aus. Dies zeigt jedoch auch die Schattenseite solcher dynamischen Verweisungen auf Begriffsbildungen außerhalb des Gesetzes. Ist oder wird die Definition des Begriffes innerhalb des jeweiligen Fachkreises umstritten, so bleibt dem Rechtsanwender verborgen, welcher Meinung sich das Gesetz anschließt, oder ob es mit seinem Begriff alle vertretenen Ansichten erfassen will. In einem solchen Fall hat der Gesetzgeber durch eine eigene Defintion Klarheit zu schaffen. 6. Klare und einheitliche Begriffsbildung

Das Ziel der leichteren Handhabbarkeit durch den norm anwendenden Spezialisten eines anderen Faches muß verfehlt werden, wenn der Gesetzgeber die Fachbegriffe der anderen beteiligten Fachsprache umdefiniert. Das Gesetz verfehlt seinen Zweck, wenn es ohne Bedarf neue Begriffe schafft; es soll mit den vorhandenen Begriffen Tatbestand und Rechtsfolge beschreiben, so daß der Anwender mit der bei ihm eingeprägten Begriffswelt und damit ohne zusätzlichen Aufwand und ohne die Gefahr der Verwechslung den Regelungsinhalt erkennen und verstehen kann. Bedient sich der Gesetzgeber einer anderen Fachsprache, so ist diese das Maß für seine Begriffsbildung. Verwendet er allein die Gesetzes- und Rechtssprache, so ist der Maßstab die Alltagssprache, wenn neue Begriffe in die Gesetzessprache zu übernehmen sind. Mit dem Bedeutungsgehalt der Alltagssprache nimmt der Normanwender den ersten Zugriff auf den neuen Gesetzesbegriff vor. Ohne Schwierigkeiten sind dabei Präzisierungen und Eingrenzungen zu verarbeiten, die der Gesetzgeber vornehmen muß, um mit hinreichender Genauigkeit zu regeln, wenn sie den Bedeutungsgehalt des alltagssprachlichen Begriffs zwar genauer fassen aber nicht verlassen. So befindet sich die Definition der Nachtzeit (§§ 188 I 2 ZPO, 104 III StPO) durchaus im Rahmen dessen, was auch ohne Normenkenntnis unter Nachtzeit verstanden werden kann. Zwar sind die zeitlichen Grenzen präzise gefaßt, während der alltagssprachliche Begriff eher unbestimmt bleibt. Der

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B. Das verständliche Gesetz

Rechtsanwender, der auf die Definition stößt, wird dennoch nicht überrascht, weil die gesetzlich definierte Nachtzeit innerhalb der alltagssprachlichen Nacht liegt. Nimmt sich der Gesetzgeber hingegen eines alltagssprachlichen Begriffes an, um ihn abseits des Alltagsverständnisses neu zu definieren, so folgen daraus wie selbstverständlich Anwendungsschwierigkeiten. Die Regelung des Abfallbegriffes durch § 1 AbfG unterlag daher nicht nur literarischer Kritik55 , sondern bedurfte auch der gerichtlichen Klärung56 . Der definierte Begriff muß in der Begriffsbestimmung wiederzuerkennen sein. Die Legaldefinitionen müssen die Begriffsbildung zunächst überhaupt voranbringen. Vermittelt die Definition nicht mehr Verständnis von der Regelung, die den definierten Begriff enthält, als dieser selbst, so ist sie überflüssig. Da die Definition den Begriff ersetzen soll, muß sie seinen Sinngehalt aber auch vollständig wiedergeben und darf nicht durch Weglassen von vermeintlich Selbstverständlichem einen Sinn ergeben, der an den definierten Begriff nicht erinnern läßt. Der Gesetzesanwender darf nicht vor das Rätsel gestellt werden, ob er den Gesetzeswortlaut der Begriffsbestimmung ernst nehmen soll oder ob er soviel hinzudenken soll, daß etwas Sinnvolles entsteht. Gegen dieses Gebot wird verstoßen, wenn unmittelbarer Zwang als Einwirken auf Personen oder Sachen durch Gewalt definiert wird (§ 69 I NGefAG57), Gewalt wiederum als jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen (§ 69 11 NGefAG). Unmittelbarer Zwang ist demnach das Einwirken auf Personen oder Sachen durch unmittelbares Einwirken auf Personen oder Sachen. Mit dem, was alltagssprachlich unter Zwang verstanden wird, nämlich das Durchsetzen von Geboten wider den Willen des Adressaten, ohne daß ihm Widersetzlichkeit möglich bleibt, hat die Definition nichts mehr zu tun; sie umfaßt auch das Zücken eines Kugelschreibers58 • Daß alle seit Jahrzehnten wissen, was gemeint sein soll, ist nicht einmal ein schwacher Trost. Dann nämlich bedarf es keiner Begriffsklärung durch eine Definition; sie könnte ersatzlos entfallen. Das Begriffsverständnis und mit ihm das Regelungsverständnis werden zudem erschwert, wenn einem Wort verschiedene Bedeutungen beigelegt werden. Kaum ein Normanwender kann sich auf die Rechtskenntnis in nur einem begrenzten Teil der Rechtsordnung beschränken. Muß er in jedem Sachgebiet einen anderen Begriffsinhalt für dasselbe Wort berücksichtigen, so bringt dies die Gefahr von Verwechslungen und Anwendungsfehlern mit sich, und zwar erst recht dann, wenn in verwandten Sachgebieten, die von einem Anwender55 Helmrich ZG 1986, 53 ff.

56 Z.B.: BVerwG NVwZ 1993, 988; 1993, 990; OVG RhPf DÖV 1993, 1045 ff.; HessVGH DÖV 1993, 1047 f.; BayObLG NVwZ 1993, 1023. 57 Dies ist durchaus kein niedersächsisches Gebrechen. Der Paragraphenhinweis dient nur als Beispiel. Gleiches ist auch in anderen Ländern und im Musterentwurf zu finden. 58 Schwabe DVB11991, 257 f.

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kreis bearbeitet werden, die Gesetze uneinheitliche Begriffsbildung vornehmen, oder sogar in einem Gesetz gleiche Begriffe verschiedenen Definitionen folgen. So wird in nahezu jedem Leistungsgesetz des Sozialrechts ein eigener Einkommensbegriff gebildet. Eine Fülle komplizierter Hinzurechnungsvorschriften ohne einheitliche Systmatik kommt hinzu 59. Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert zwar in seinen §§ 90, 90 a den Sachbegriff, weicht aber schon in § 119 11 BGB nach einhelliger Meinung von dieser Definition ab, indem dort jeder, auch der unkörperliche Geschäftsgegenstand erraßt wird 60 . Da die uneinheitliche Begriffsbildung ebenso wie die dem Fach- oder Alltagssprachgebrauch widerstrebende Begriffsbildung der Verständlichkeit im Wege stehen und den Anwender einer ihm neuen Norm sogar irreführen kann, sind sie auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ein solches Gebot, die begriffliche Klarheit und Einheit der Rechtsordnung soweit wie möglich zu verwirklichen, mag auch dem Laienverständnis der Gesetze entgegenkommen, es nützt aber gerade auch dem juristisch ausgebildeten Anwender und dem normanwendenden Angehörigen anderer Fachkreise, da sie bei der Übertragung bekannter Begriffe auf für sie neu zu erschließende Rechtsgebiete vor Interpretationsfehlern bewahrt werden. Da der Gesetzgeber verständliche Gesetze zu erlassen hat, muß er Abstriche rechtfertigen können. Nur wenn die Frage nach der Notwendigkeit einer neuen Begriffsbildung positiv zu beantworten ist, darf sie vorgenommen werden61 . Dabei ist zu prüfen, ob das RegcIungsziel nicht ebenso gut mit vorhandenen Begriffen oder durch Verzicht auf das Einfügen des fraglichen Begriffes erreicht werden kann. Auf diese Weise ist den Anwendern der Vorschriften des dritten Buches des Handelsgesetzbuches über Buchführung und Bilanzierung die Einführung des Unternehmensbegriffes erspart geblieben. Die Bundesregierung wollte ihn als Oberbegriff verwenden. Aus einer für notwendig gehaltenen Untergliederung wären 13 Unternehmensbegriffe entstanden. Die beschlossene und verkündete Fassung ver7ichtet auf den Ullternehmensbegrifr>2.

59 Vgl. Helmrich in Strempel (Hg.), S. 30. 60 Palandt-Heinrichs § 119 Rdnr. 27. 61 Hili, GgebL, S. 123. Entgegen Kindermann, ZG 1987. 43, 44 ff., der die unbeschränkte "Definierfreiheit" mit der Souveränität des Gesetzgebers begründet. Gesetze werden jedoch zum Nutzen ihrer Adressaten erlassen. Die Souveränität von Parlament und Verorduungsgeber findet an diesem Zweck ihre Grenzen. Bei der Frage der einheitlichen Begriffsbildung kehrt Kindermann (S. 51 f.) dann zur Begründungspflicht für Abweichungen und zum Verbot der Mehrfachdefinition innerhalb eines Gesetzes zurück. 62 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses. Deutscher Bundestag, Drs. 10/2468, S. 95; Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, Plenarprotoko1l10/181, S. 13734 A.

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B. Das verständliche Gesetz

7. Verweisungen

Verweisungen können ein wirksames Mittel zur Gestaltung verständlicher Gesetze sein. Sie vermeiden Wiederholungen und verdeutlichen die Systematik des Gesetzes63 . Die Verweisungen der §§ 327 S. 1, 367 S. 1 BGB auf die Vorschriften der §§ 346 ff. BGB ersparen ein Wiederholen der Rücktrittsregeln und zeigen, daß für die verschiedenen Mängel des Schuldverhältnisses jeweils die gleiche Folge, nämlich eine Rückabwicklung, gewollt ist. Die entlastende Funktion der Verweisung wird noch deutlicher, wenn auf unbestimmt viele Bestimmungen verwiesen wird, bei denen selbst die genaue Bezeichnung der einzelnen Vorschriften ständigen Änderungs- und Ergänzungsbedarf hervorrufen würde oder wegen ihrer großen Anzahl an die Grenzen des Möglichen stößt. Für die Voraussetzung für den Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung verweist § 75 I NBauO auf die Einhaltung des öffentlichen Baurechts, § 69 I 1 HBauO sogar auf das Nicht-Entgegenstehen öffentlich-rechtlicher Vorschriften. Die Alternative zu dieser Verweisung auf das gesamte öffentliche (Bau-)Recht, nämlich die Aufzählung aller Vorschriften, die zu beachten sind, würde die Verständlichkeit eher beseitigen als fördern. Daß aus §§ 75 I NBauO, 69 I 1 HBauO nicht zu ersehen ist, was der Bauherr zu beachten hat, schadet dem Verständlichkeitsgebot nicht. Der Jurist und ebenso der kundige Architekt kennen die Vorschriften, auf die verwiesen wird, oder wissen zumindest, wo sie zu suchen haben. Bei Anlegen des richtigen Maßstabes erweisen sich die als Beispiel genannten Verweisungen also als verständlich. Als Verweisungen können auch die geset71ichen Begriffsbestimmungen (Legaldefinitonen) angesehen werden. Mit der Verwendung des legal definierten Begriffes wird auf die Definition verwiesen und ihre Wiederholung vermieden. Verwiesen wird dabei entweder auf eine Vorschrift im seI ben Gesetz, die die definierten Begriffe zusammenfaßt (z.B. §§ 11, 12 StGB, 2 BSeuchenG, 3 BImSehG), auf Vorschriften, die nur einzelne Definitionen enthalten (z.B. §§ 276 I 2 BGB, 257 11 HGB, 142 IV StGB) oder auf Klammerzusätze, die den definierten Begriff im Anschluß an die Definition (z.B. §§ 122 11, 166 11 1, 183 I 1, 184 I, 194 I, 1922 I, 11 BGB, 257 I Nr. 4 HGB) oder die Definition im Anschluß an den definierten Begriff (z.B. §§ 238 11 HGB, 14 Buchst. a HVwVG) im Zusammenhang mit einer den Begriff verwendenden Regelung enthalten. Insbesondere bei den versteckten Legaldefinitionen, die nicht in einer Vorschrift - zumeist eines allgemeinen oder einleitenden Teils - zusammengefaßt sind, würde ein Verweis auf die Definition bei dem später verwendeten definierten Begriff ihr Auffinden erleichtern64 . Wird der definierte Begriff nur 63

11 ff.

Göbel in Schäfferffriffterer (Hg.), S. 64; Hili, GgebL. S. 114; Karpen, Verweisung, S.

64 Bund in Schäfferffriffterer (Hg.), S. 62 f.

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11. Sprachliche Gestaltung

in einem Teil des Gesetzes verwandt, dessen Vorschriften zum Erfassen des Regelungsgehalts sämtlich zur Kenntnis genommen werden müssen, so sollte die Definition jedenfalls bei der erstmaligen Verwendung erfolgen (anders §§ 238 11, 257 II HGB). Wenn die Definition für mehrere, voneinander unabhängige Regelungsbereiche oder sogar für das gesamte Gesetz von Bedeutung ist, so ist der versteckten Defintion eine vorangestellte Definitionszusammenfassung vorzuziehen, damit die Voraussetzungen für das Regelungsverständnis schon zu Beginn klargestellt werden 65 . Auf die gesetzlichen Verweisungen auf außerrechtliche Begriffsbildungen durch Verwendung von Fachbegriffen anderer Fachkreise ist bereits oben eingegangen worden. Verweisungen verfehlen ihren Sinn, den Gesetzestext zu entlasten und systematische Strukturen zu veranschaulichen, wenn sie den Regelungsgehalt verbergen. Was in der die Verweisung enthaltenden Norm angeordnet wird, muß erkennbar bleiben, um dem Maßstab zu wahren, den das Rechtsstaatsgebot vorgibt. Die Norm, auf die verwiesen wird, muß ebenso leicht zugänglich sein wie die verweisende Norm. Bei Verweisungen innerhalb desselben Gesetzes ergibt sich daraus keine Schwierigkeit. Auch bei Verweisungen auf andere Gesetze desselben Rechtsgebietes fällt der Zugriff auf die maßgeblichen Bestimmungen nicht schwer. Die Verweisung auf Gesetze einer anderen gesetzgebenden Körperschaft wirft Legitimationsprobleme auf, denen hier nicht nachgegangen werden soll. Verweist eine Norm jedoch ins Unergründliche, so beseitigt sie ihre Erkennbarkeit. Verweist die. Norm auf abgelegene Rechtsgebiete, deren Veröffentlichung nur schwer zu beobachten ist, bezieht sie sich gar auch auf unveröffentlichte Bestimmungen ministerieller Erlasse, so ist nicht mehr ohne weiteres zu erkennen, was Rechtens sein so1l66. Nicht mehr der juristische Generalist, der sich auf redaktionelle Bearbeitungen, Hinweise in der Fachliteratur und allenfalls die Lektüre der Gesetzblätter verläßt, ~()lIdcm lediglich die Kenner der Entstehung der Verweisung und diejenigen, die nötigen archivarischen Fleiß aufbringen, können den Sinn der verweisenden Vorschrift eher ermitteln und erforschen als erkennen. Eine solche Verweisung wird dem rechtsstaatlichen Gebot der Erkennbarkeit für den ausgebildeten Anwender und der Vermittelbarkeit an den betroffenen Laien nicht mehr gerecht. Sie ist verfassungswidrig67 .

65 Kindermann ZG

1987, 43, 46 ff.

66 Vgl. Karpen, Verweisung, S. 162 ff. 67 BVerfGE 5,25,31 ff. (Apothekenstopp); ÖstVfGH VfSlg

3130/1956, 581

f.

80

B. Das verständliche Gesetz

111. Zusammenfassung Aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit (Art. 20 III, 28 I 1, 103 11 GG) folgt eine Pflicht zum verständlichen Gesetz. Gesetze müssen jedoch nicht für jeden zu verstehen, aber an jeden zu vermitteln sein. Maßstab für die Erkennbarkeit und Verständlichkeit einer Norm ist der als Generalist ausgebildete Jurist und der selbst rechtsanwendende Angehörige anderer Fachkreise. Die Gesetze sind jedenfalls in deutscher und können zusätzlich auch in anderer Sprache verfaßt werden. Die Begriffsbildung hat auch in verschiedenen Rechtsgebieten soweit wie möglich einheitlich und nur soweit wie nötig unterschiedlich zu erfolgen. Der Gebrauch der juristischen Fachsprache, von Mitteln der Gesetzestechnik und von Fachbegriffen anderer rechtsanwendender Fachkreise fördert die Verständlichkeit ebenso wie Verweisungen, soweit sie nicht ins Unergründliche führen.

C. Das vollständige Gesetz Eine Pflicht zum vollständigen Gesetz läßt sich unter zweierlei Aspekten erörtern, nämlich einem Gebot redaktioneller Gründlichkeit und einer Pflicht, Regelungslücken zu vermeiden und zu beheben. I. Redaktionelle Gründlichkeit Zum einen geht es um redaktionelle Gründlichkeit. Der Gesetzestext hat die gewollten Regelungen lückenlos zu enthalten. Die Auslassung von Selbstverständlichem kann nur hingenommen werden, wenn es sich dabei um aus dem engeren Normzusammenhang folgende Denknotwendigkeiten handelt. Kenntnisse über die Entstehung der Norm scheiden als Mittel der Lückenfüllung aus. Die Regelung hat aus sich selbst heraus verständlich zu sein. Daß nur die Entwurfsverfasser, die an den Beratungen Beteiligten und diejenigen das Gesetz verstehen, die die entsprechenden parlamentarischen Drucksachen und Protokolle zur Kenntnis genommen haben, reicht nicht aus. Als Grundlage für ein solches redaktionelles Vollständigkeitsgebot sind zunächst Art. 77 I 1, 82 I 1 GG zu erörtern. Daß der Bundestagsbeschluß, der dem weiteren Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegt, sich auf eine bestimmte zur Zeit der Beschlußfassung vorliegende Textfassung richten muß, ist allein Art. 77 I 1 GG nicht zu entnehmen. Über diesen Text hinausgehende, ihn ergänzende oder seine Lückenhaftigkeit behebende Vorstellungen der im Bundestagsplenum Abstimmenden könnten von der gemeinsamen Willensbildung erfaßt werden. Daß sie gänzlich verborgen bleiben, ist auszuschließen. Die Abgeordneten müssen auch die im Gesetzestext nicht enthaltenen Regelungsvorstellungen zuvor erörtert haben, bevor sie gemeinsam beschließen können. Da der Bundestag jedoch grundsätzlich öffentlich verhandelt (Art. 42 I GG) und über seine Verhandlungen Protokolle fertigt, könnte auch der nicht im Gesetz niedergeschriebene Regelungswille zur Kenntnis genommen werden. Das Ergebnis der nichtöffentlichen Ausschußberatungen wird üblicherweise in einem Bericht zusammengefaßt, der als Drucksache öffentlich zugänglich ist. So könnten die weiteren an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorgane und die Rechtsanwender auch die Regelungen berücksichtigen, die zwar bei der Beschlußfassung im Bundestag gewollt, aber nicht in den geschriebenen Text aufgenommen werden. 6 Burghart

82

c.

Das vollständige Gesetz

Eine solche Vorstellung vom lückenhaften Gesetzestext und ungeschriebenen Gesetz scheitert jedoch an Art. 82 I 1 GG, der den Gesetzgeber zur Veröffentlichung in schriftlicher Form zwingt. Die Pflicht zur Verkündung im Bundesgesetzblatt garantiert dem Rechtsanwender, das Gesetz lesen zu können. Da das Gesetz so, wie es zustandegekommen ist (Art. 78 GG), zu verkünden ist, hat sich schon die Beschlußfassung des Bundestages und das weitere Gesetzgebungsverfahren auf einen geschriebenen Text zu bezjehen. Darüber hinausgehende, zwar willensgetragene aber ungeschriebene Vorstellungen können nicht verkündet werden. Sie können deshalb kein Teil des Gesetzes sein. Art. 82 I 1 GG steht dem Erlaß ungeschriebener Gesetze entgegen. Was der Gesetzgeber will, muß er aufschreiben. Die bewußt gelassene Lücke im Text ist kein Teil des Gesetzes; sie steht außerhalb des Gesetzes. Da der Rechtsanwender, der den Gesetzestext liest, ohne vertiefte Kenntnisse über die Entstehungsgeschichte nicht erkennen kann, was neben den niedergeschriebenen Regelungen gelten soll, beruht die Pflicht zur redaktionellen Vollständigkeit auch auf der Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 I1I, 28 I 1, 103 11 GG). Die Pflicht zur vollständigen Wiedergabe der gewollten Regelung im geschriebenen und verkündeten Text ist eine Konkretisierung des Verständlichkeitsgebotes. Daß ein lückenhafter Text schwer zu verstehen oder gar unverständlich ist, leuchtet unmittelbar ein. Ebenso dringend wie bei der Neufassung von Gesetzen ist das Vollständigkeitsgebot aber bei Änderungsgesetzen zu beachten. Führt eine Änderung in ein bestehendes Gesetz neue Begriffe ein oder wechselt sie Begriffe aus, so sind diese Begriffs(um)bildungen gleichzeitig in allen Vorschriften zu vorzunehmen, die sich auf das geänderte Gesetz beziehen l . Bleibt das Änderungsgesetz in dieser Beziehung unvollständig, so wird die nicht angepaßte Vorschrift unverständlich oder zumindest mißverständlich. So ist in §§ 11 11, 14 11 EheG vom Familienbuch zu lesen, obwohl nicht (mehr) das Familienbuch (§§ 12 ff. PStG), sondern das Heiratsbuch (§§ 9 ff. PStG) gemeint ist. Die Anpassung des Begriffs "Familienbuch" im Ehegesetz ist bei der Reform des Personenstandsgesetzes im Jahre 1957 vergessen wordeJ. Aus dem Text der §§ 11 11, 14 11 EheG ist nicht mehr zu erkennen, was die Vorschriften anordnen wollen.

1 Vgl. z.B. Art. 2 bis 7 BIO. 2 Palandl-Diederichsen § 14 EheO Rdnr. 2.

11. Regelungslücken

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11. Regelungslücken 1. Begriffsbestimmung

Auslassungen im Gesetzestext müssen nicht auf mangelnder redaktioneller Sorgfalt beruhen. Als Ursachen für lückenhafte Regelung kommen auch in Betracht, daß der Gesetzgeber den Regelungsbedarf übersehen hat (anfängliche unbeabsichtigte Regelungslücke), daß der Regelungsbedarf erst nach Erlaß des Gesetzes entsteht (nachträglich enstandene Regelungslücke ) oder daß der Gesetzgeber bewußt auf eine Regelung verzichtet hat (anfängliche beabsichtigte Regelungslücke ). a) Altfällgliche ullbeabsichtigte Regelungslücken

Die anfängliche unbeabsichtigte Regelungslücke entsteht nicht durch mangelnde redaktionelle Sorgfalt, durch die eine gewollte Regelung nicht im Gesetzestext erscheint. Vielmehr wird in einem umfassenderen Normierungszusammenhang eine einzelne Regelung versäumt. Im Tatbestand oder in der Rechtsfolge wird ein von der Regelungsabsicht umfaßter Teil weggelassen, etwa in der irrigen Auffassung, er werde von den formulierten Tatbestandsbzw. Rechtsfolgebestandteilen oder -varianten erfaßt. Der Fehler geschieht nicht beim Abfassen der beabsichtigten Normen, sondern zuvor bei der Überlegung, wie die beabsichtigte Regelung in Tatbestand und Rechtsfolge zu gießen ist. b) Nachträglich entstandelle Regelullgslückell

Die nachträglich entstandene Regelungslücke war für den Gesetzgeber bei Normerlaß nicht behebbar. Auch bei Berücksichtigung aller verfügbaren Erkenntnisse und bei sorgfältigster Prognose war nicht vorherzusehen, daß ein zukünftiger Lebenssachverhalt nicht von den formulierten Tatbeständen erfaßt würde oder die formulierte Rechtsfolge eine zukünftig angestrebte Reaktion nicht zulassen würde, obwohl dies dem verfolgten Regelungsziel entspräche. c) Allfängliche beabsichtigte Regelullgslückell

Die anfängliche beabsichtigte Regelungslücke entsteht entweder durch das bewußte Absehen von einer zwar zulässigen aber nicht gebotenen Regelung. Die Regelung ist zwar notwendig im oben erörterten Sinne; sie müßte nicht an 6*

84

C. Das vollständige Gesetz

Übernormierungsschranken scheitern. Andererseits ist sie nicht geboten, etwa zur Freiheitssicherung oder zur Gleichheitsgewährleistung. Die Lücke ist hier kein zu behebender Mißstand, sondern Teil des nicht gesetzlich normierten Bereiches, der entweder ungeregelt bleibt oder nichtstaatlicher Regelung offensteht. Dieser Fall kann deshalb bei den folgenden Erörterungen unberücksichtigt bleiben, die eine Sorgfaltspflicht des Gesetzgebers zum Erlaß vollständiger, lückenloser Gesetze behandeln sollen. Eine anfängliche beabsichtigte Regelungslücke kann auch entstehen, wenn der Gesetzgeber eine notwendige und gebotene oder für zweckmäßig gehaltene Regelung unterläßt. Obwohl der Gesetzgeber eigentlich regeln will, unterläßt er es. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Beim Verfassen des Entwurfes und während der parlamentarischen Beratungen herrscht Ungewißheit über die Verfassungsmäßigkeit eines Teils der Regelungen oder einer in Betracht kommenden Regelungsvariante; statt sich zu einer Ansicht durchzuringen und diese gegebenenfalls später zu korrigieren, wird der umstrittene Bereich ausgelassen. Über einen Teil der Regelungen ist innerhalb der Parlamentsmehrheit ein politischer Konsens nicht herzustellen; statt ganz von der Regelung abzusehen, wird sie lückenhaft erlassen. Der Gesetzgeber kennt die tatsächlichen Voraussetzungen der Regelung nicht, oder er kann die zu erwartenden Folgen einer Regelung nicht abschätzen; statt die Erkenntnisse zu verschaffen oder zu vervollständigen oder die Prognose zu sichern, wird der zweifelhafte Bereich ausgespart. 2. Abschieben der Lückenfüllung auf die Exekutive

Eine entstandene Lücke ist zu schließen, wenn den Gesetzgeber ein Normierungsgebot trifft. Als Grundlagen kommen die Wesentlichkeitslehre, das Gleichbehandlungsgebot und die Pflicht zur Gewährleistung grundrechtlicher Freiheiten in Betracht. Hier soll nun zunächst erörtert werden, ob der parlamentarische Gesetzgeber sich der Lückenfüllung dadurch entziehen kann, daß er diese Bürde anderen überläßt. Die Exekutive erscheint eher ungeeignet, hier einzuspringen. Zur eigenen Normsetzung bedarf sie der Verordnungsermächtigung, die den besonderen Anforderungen des Art. 80 GG genügen muß. Läßt das Parlament jedoch eine Lücke oder entsteht diese nachträglich, so wird es auch an einer Verordnungsermächtigung fehlen, auf deren Grundlage eine Lückenfüllung möglich wäre. Auch ein Einzelfallhandeln im Bereich der Regelungslücke muß am Vorrang (Art. 20 III GG) und am Vorbehalt des Gesetzes scheitern, da eine gesetzliche Grundlage ja gerade fehlt.

11. Regelungslücken

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3. Abschieben der Lückenfüllung auf die Rechtsprechung

Vielmehr wälzt das Parlament die Aufgabe der Lückenfüllung gern auf die Rechtsprechung ab, die sie offensichtlich dankbar annimmt. Die betreffenden Teile unserer Rechtsordnung firmieren unter den Bezeichnungen analoge oder entsprechende Anwendung, richterliche Rechtsfortbildung oder schlicht: Richterrecht. Wesentliche und brisante Bereiche wie etwa das kollektive Arbeitsrecht sind diesem Bereich zuzurechnen. Aber auch Rechtsinstitute des juristischen Alltagsgebrauches entstammen der richterlichen Gesetzgebung.

a) Richterliche Gesetzgebung Das Reichsgericht hat schon wenige Jahre nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches festgestellt, daß neben den Vorschriften der §§ 325, 326 BGB, die die Rechtsfolgen der Unmöglichkeit und des Verzuges regeln, eine entsprechende positive Bestimmung für eine Vertragsverletzung durch Tun, die nicht zugleich zur Unmöglichkeit führe, fehle 3 • Es erkennt die Regelungslücke für die tätige Gefährdung des Vertragszweckes, entdeckt dann aber einen allgemeinen Regelungsgedanken in § 326 BGB4 , obwohl die Vorschrift gerade nicht allgemein gefaßt ist, sondern konkret ein vertragswidriges Unterlassen voraussetzt und damit das Tun ungeregelt läßt. Per Analogieschluß wird das Reichsgericht zum Schöpfer des Tatbestandes der den Vertragszweck gefährdenden positiven Vertragsverletzung, an den es die Rechtsfolgen des § 326 BGB knüpft 5 . Später schließt es die Regelungslücke einer Schadensersatzanordnung für die positive Forderungsverletzung zunächst unter Hinweis auf § 276 BGB6 , der bei unbefangenem Lesen weder diese noch irgendeine andere Rechtsfolge anordnet 7 • Dann sieht es die gesetzliche Grundlage in Gesetzesbestimmungen, die die Schadensersatzpflicht auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt erkennen ließen8 . Art. 2 S. 2 RV, 70 WV verpflichteten das Parlament jedoch wie heute Art. 82 I 1 GG, das als Gesetz Gewollte niederzuschreiben. Somit kann das Reichsgericht nicht einen ungeschriebenen Willen des Gesetzgebers befolgt haben. Es hat mit dem Anspruch der Geltung nicht nur für den zu entscheidenden, sondern auch für zukünftige Fälle eine Regel formuliert und damit selbst Gesetzgebung betrieben. Auch der Bundesgerichtshof hat bei der Übernahme der positiven Forderungsverletzung 3 RGZ 54, 98, 100. 4 RGZ 54, 98, 102.

5 RGZ 54, 98, 102 f.

6 RGZ 106, 22, 25. 7 BGHZ 11, 80, 83. 8 RGZ 106, 22, 26.

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C. Das vollständige Gesetz

in seine Rechtsprechung zunächst Tatbestände und Rechtsfolgen formuliert, um sodann nicht mit dem lückenhaften Gesetz, sondern mit den selbst geschaffenen Regeln nicht nur den vorliegenden Fall zu lösen, soudern auch Vorgabeu für künftige Rechtsanwendung zu liefern9. Im Jahre 1918 stellte das Reichsgericht fest, es fehlten allgemeine Vorschriften, nach denen ein Vertragsteil für Verschulden beim Vertragsschluß einzustehen habe. Dem Vorhandensein spezieller Bestimmungen (§§ 179,307,309, 463 S. 2 BGB) könne man jedoch entnehmen, daß die Haftung für cu/pa ;11 contrahelldo dem Bürgerlichen Gesetzbuch nicht unbekannt sei. Über die Auslassung des Gesetzgebers setzt sich das Reichsgericht sodann hinweg, weil es die Haftung für unentbehrlich hält und auch kein stichhaltiger Grund erkennbar sei, weshalb die Parteien beim Vertragsschluß einander zu geringerer Sorgfalt verpflichtet sein sollten als nach dem Vertragsschluß lO • UlIhc.:31l1WOCtet bleibt, warum diese Erwägungen nicht das Parlament zur Nachbesserung veranIaßt haben. Später konnte das Reichsgericht die allgemeine Bestimmung, daß schon bloße Vertragsverhandlungen ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis erzeugen, trotz des Fehlens einer gesetzlichen Bestimmung als in der Rechtsprechung anerkannt ansehen. Es erweiterte und präzisierte nun den Tatbestand für die Schadensersatzpflichtl l . Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes beruht die Haftung aus cu/pa in cOIllrahelldo auf einem Schuldverhältnis, das "in Ergänzung des geschriebenen Rechtes" geschaffen sei 12 . Zu prüfen bleibt, ob die lückenfüllende Ergänzung nicht Aufgabe des Parlaments ist, das das unvollständige Gesetz erlassen hat. Einen Schmerzensgeldanspruch für Verletzungen des Persönlichkeitsrechts ist § 847 I BGB entnommen worden, obwohl der Wortlaut dies eindeutig ausschließt. Zunächst hat der Bundesgerichtshof die Behauptung, eine Herabwürdigung sei eine Freiheitsberaubung "im Geistigen", als Analogieschluß bezejchnet 13 , der allerdings an § 253 BGB hätte scheitern müssen. Dann hat er den Wortlaut der §§ 253, 847 I BGB unter Hinweis auf Art. 2 I, II GG gänzlich für unverbindlich erklärt, indem er feststellt, das Zivilrecht lasse die Wertentscheidung des Grundgesetzes unbeachtet, wenn es keinen Schmerzensgeldanspruch enthaIte l4 . Abermals bleibt fraglich, ob die Anpassung einfacher Gesetze an eine sich verändernde Verfassungslage nicht Sache des Parlaments ist. 9 BGHZ 11, 80, 83 f. 10 RGZ 95, 58, 60. 11 RGZ 120, 249, 252; 162, 129, 156. 12 BGHZ 66, 51. 54 (Gemüseblatt); so auch BMJ (Hg.). S. 17. 13 BGHZ 26, 349, 356 (Herrenreiter). 14 BGHZ 35, 365, 367 f. (Ginsengwurzel).

11. Regelungslücken

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Allen drei Beispielen ist gemeinsam, daß die letztinstanzlichen Gerichte nicht nur bemüht waren, den ihnen vorliegenden Rechtsstreit zu lösen und zu diesem Zweck im Einzelfalle einen Analogieschluß vorzunehmen oder wegen der tatsächlichen Absonderheiten den Wortlaut einschlägiger Normen ausnahmsweise zu verlassen. Vielmehr wurde der Einzelfall jeweils zum Anlaß genommen, die Lückenhaftigkeit des Gesetzes festzustellen und sodann nicht nur einen Obers atz für den zu beurteilenden Fall, sondern allgemein und losgelöst von dem zu beurteilenden Rechtsstreit Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen zu formulieren. Der Fassung der Urteilsgründe ist zu entnehmen, daß die Gerichte in der Absicht und in dem Bewußtsein handelten, unbestimmt viele Fälle gleicher Art im voraus zu lösen. Die Instanzgerichte erfüllten diese Erwartung und wendeten die Urteilsgründe wie Rechtssätze an. So entstand kein case law, in dem die zu beurteilenden Fälle mit den bereits abgeschlossenen verglichen werden, um sie bei gleichartigen Voraussetzungen gleichartig zu lösen. Vielmehr wurden die zur Urteilsfindung herangezogenen Rechtsgrundlagen vermehrt und erweitert: es galten fortan nicht nur die Gesetze, sondern auch die betreffenden Urteilsgründe der obersten Gerichte. Das Parlament bleib hingegen untätig. Es bemühte sich nicht um Lückenfüllung, sondern begnügte sich, auch nachdem der Bedarf an lückenfüllenden Regelungen durch die entsprechenden Gerichtsentscheidungen sichtbar wurde, damit, das Einspringen der Gerichte schweigend ZU billigen oder doch jedenfalls hinzunehmen. Eine Billigung geschah mitunter auch dadurch, daß in Gesetze Verweisungen auf die von der Rechtsprechung geschaffenen Rechtsinstitute aufgenommen wurden l5 . Auf diesem Wege werden aber nicht nur neue Normen geschaffen. Die aus Urteilsgründen sich ergebenden Regeln unterliegen auch der Änderung und Aufhebung. Die Modifizierung aus Anlaß neuer, bisher nicht erfaßter Fälle ist bei den eben angeführten Beispielen schon erwähnt worden. Bei der dem Gesetzestext unbekannten und vom Gesetzgeber bewußt gemiedenen strafrechtlichen Figur der fortgesetzten Handlung hat der Bundesgerichtshof nun auch die "Frage nach der weiteren Beibehaltung dieses Rechtsinstituts,,16 gestellt und beantwortet. Da es sich um "ergänzendes - nicht zum Gewohnheitsrecht erstarktes - 'Richterrecht ,,,17 handele, fühlte der Bundesgerichtshof sich auch zur Aufhebung - hier genauer: zu einer der Aufhebung gleichkommenden Formulierung einschränkender Bedingungen - berufen.

15 Vgl. z.B. § 11 Nr. 7 AGBG und Regierungsbegründung zu dem entsprechenden Entwurf (Deutscher Bundestag, Drs. 7/3919, S. 32). 16 BGH NJW 1994, 1663, 1664. 17 BGH NJW 1994, 1663, 1670.

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c. Das vollständige Gesetz b) Die Bindullg Oll Gesetz und Recht

Ist bereits zweifelhaft, ob die Gerichte bei ihrem Bestreben, den an sie herantretenden streitenden Parteien ein gerechtes Urteil zu geben, mit dem Anspruch auf Allgemeingeltung Regeln aufstellen dürfen, so ist vollends fraglich, ob der Gesetzgeber sich darauf verlassen darf, daß die Rechtsprechung die von ihm gelassenen Lücken schon schließen werde, oder ob er zum vollständigen Gesetz verpflichtet ist. Die Beschränkung der Rechtsprechung einerseits und die Verpflichtung des Parlaments andererseits könnten sich aus Art. 20 11 2, m, 97 I GG ergeben. aa) Keine bloße Normvollstreckung Der Richter befindet sich in dem Dilemma, in Gehorsam gegenüber der ihm auferlegten Gesetzesbindung dem an ihn herangetragenen Anspruch gerecht zu werden. Die Gewährleistung einer sachlich und persönlich unabhängigen Richterschaft, der allein die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist (Art. 13 11, 19 IV, 20 11 2, III, 92, 97, 104 11 GG 18), erhält ihren Sinn durch den Anspruch des Bürgers auf Justizgewährung. Es steht nicht nur den Weg zu den Gerichten offen. Es kann auch eine richterliche Entscheidung verlangt werden. Dabei hat der Richter nicht nur als bloßer Vollstrecker der in den Verkündungsblättern niedergeschriebenen Anordnungen zu wirken. Das Grundgesetz erweitert in Art. 20 III GG die Gesetzesbindung ausdrücklich um die Bindung an das Recht, und auch bei der Formulierung der Gesetzesunterworfenheit (Art. 97 I GG) haben der Rechtspflege- und der Allgemeine Redaktionsausschuß, denen der Hauptausschuß und das Plenum des Parlamentarischen Rates gefolgt sind, vorausgesetzt, daß unter Gesetz nicht nur alle geschriebenen Normen, sondern auch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht zu verstehen sei 19. Einen engen Gesetzespositivismus ablehnend 20 , verlangt die Verfassung von der Rechtsprechung nicht nur eine gesetzesgemäße, sondern auch eine den Interessen der Parteien entsprechende, gerechte Lösung. Da Gesetz und Recht jedoch keine einander entgegenstehende Positionen sind, sondern sich im allgemeinen dekken, so daß das Begriffspaar zur Tautologie neigt 21 , bricht der Richter bei der Berufung auf die Rechtsbindung nicht notwendig mit der Gesetzesbindung.

18 Die Richtervorbehalte der Art. 18 S. 2. 21 11 2, 61, 98 11, 100. 126 GG enthalten Zuweisungen an das Bundesverfassungsgericht und sollen deshalb hier nur am Rande erwähnt werden. 19 Von DoemminglFüßlein/Matz JöR n.F. 1 (1951), 1, 717. 20 BVerfGE 34, 269, 286 (Soraya). 21 BVerfGE 34, 269, 286 f. (Soraya); Maunz/Dürig-/lerzog Art. 20 Rdnr. VI 53; von Münch/Kunig-Schnapp Art. 20 Rdnr. 36.

11. Regelungslücken

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Von den Fällen abgesehen, in denen er bei unerträglichem Widerspruch zwischen Gesetz und Gerechtigkeit anstelle des geset7Jichen Unrechts seinem Urteil übergesetzliches Recht zu Grunde legen muß 22 - dann liegt unter der Geltung des Grundgesetzes wohl ohnehin stets ein Fall der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des Gesetzes vor, so daß eine Bindullgswirkullg ausschcidet 23 -, müßte er die Gesetzesbindung nur dort verlassen, wo sie keinen Maßstab für den zu entscheidenden Fall hergibt. Dies ist jedoch auszuschließen, wenn die Lösung des zu entscheidenden Einzelfalles zunächst durch eine Lükke im oben definierten Sinne gehindert wird. Wenn in einem positiv normierten Regelungszusammenhang ein Ausschnitt fehlt, so wird das Gesetz in vielen Fällen durch die die Lücke umgebenden Normen Maßstäbe bereitstellen. Widerspricht ihre Anwendung nicht dem erkennbaren Regelungsziel des Gesamtwerkes und läßt sich durch ihre Anwendung eine Lösung des Falles finden, so kann auf diesem Wege entschieden werden. Maßstab einer solchen Entscheidung mittels eines Analogieschlusses bleibt das positive Gesetz; die Entscheidung wird seinen Wertungen entnommen 24 . Der Richter entwindet sich der Gesetzesbindung nicht. Er wendet das Gesetz an, wenn auch diese Gesetzesanwendung über eine bloße Subsumtion hinausreicht und eher- mit dem Bundesverfassungsgericht - als ein "Akt bewertenden Erkennens,,25 zu beschreiben ist. bb) Keine richterliche Lückenfüllung auf der Grundlage der Rechtsbindung Positivrechtliche Maßstäbe fehlen jedoch, wenn das Gesetz keine ähnlichen Fälle regelt, wenn aus dem Regelungsziel keine Entscheidung gerade des nun fraglichen Einzelfalles zu entnehmen ist, weil mehrere entgegengesetzte Liisungsmöglichkeiten denkbar sind. Die Bindung an das Gesetz ist nun ungeeignet, die richterliche Entscheidung zu bestimmen und zu begrenzen. Aber auch eine Berufung auf die Rechtsbindung muß scheitern. Wenn schon die umgebenden niedergeschriebenen Normen, die denselben Regelungsbereich betreffen, keine Richtschnur bieten, so wird sich die Entscheidung im Einzelfalle erst recht nicht aus Prinzipien höherer Gerechtigkeit oder dem Naturrecht herleiten lassen. Die Rechtsbindung hilft dem Richter bei der Lückenfüllung also nicht weiter, wenn verfassungsgemäße Gesetze keine Lösungsmaßstäbe bereithalten. 22 BVerfGE 3,225,233; Radbruch S. 353. 23 BVerfGE 3, 225, 233; Maunz/Dürig-Ilenog Art. 20 Rdnr. VI 54. 24 So auch BVerfGE 82, 6, 13, nachdem zuvor (S. 12) ausgeführt wurde, es gehe darum zu erkennen, "was ... 'Recht' im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist". 25 BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya).

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C. Das vollständige Gesetz

Die Berufung auf die Rechtsbindung des Richters kann also auch den Gesetzgeber nicht rechtfertigen, wenn er unvollständige Gesetze erläßt oder erkannte Lücken offenläßt. ce) Gesetzesbindung und Beschränkung auf Einzelfallentscheidungen Aber auch die Gesetzesbindung des Richters entlastet den Gesetzgeber nicht. Durch einen Analogieschluß wird das Gesetz angewandt und seine Bindung beachtet. Eine Rechtsschöpfunl 6 im Sinne von Normsetzung wird von Art. 20 I1I, 97 I GG nicht gedeckt. Sämtliche oben schon erwähnte Richtervorbehalte des Grundgesetzes weisen der Rechtsprechung EinzelfaJlenlscheidungen zu. Dies liegt in der Tradition des hiesigen Verständnisses von Rechtsprechung27 • Durch das Urteil wird (nur) der an den Richter herangetragene Fall entschieden; es wirkt grundät7Jich nur zwischen den streitenden Parteien. Die Fälle eines über die Parteien hinausreichenden, aber eingeschränkten Wirkungskreises (§§ 248 I, 252 AktG, 147 KO, 3 Nr. 8 PflVG) und diejenigen allgemeinverbindlicher Gerichtsentscheidungen (Art. 94 II 1 GG, § 31 II BVerfGG, §§ 636 a, 638, 640 h ZPO, 47 VI 2 Hs. 2 VwGO) sind durch die Besonderheiten dieser Verfahren begründet und beruhen jeweils auf besonderer gesetzlicher Anordnung. Grundsätzlich wird mehr als die Lösung des Einzelfalles vom Richter nicht gefordert; zu mehr ist er nach der Verfassung aber auch nicht berufen. Er ist Normanwender, nicht Normsetzer28 . Behebt das Gericht eine Regelungslücke im Wege des Analogieschlusses, so erstreckt es den Anwendungsbereich einer positiven Norm oder einen aus dem Jlositiven Gesetz zu erkennenden Regelungsgedanken auf einen einzigen vom Gesetzeswortlaut nicht erfaßten Fall, nämlich den hier und jetzt zu entscheidenden29 . Dadurch wird das Gesetz angewandt; es wird ein neuer Obersatz für den zu entscheidenden Einzelfall, jedoch keine neue Regel gebildet. Der Analogieschluß enthält keine abstrakt-generelle Festlegung für die Zukunft, sondern eine Einzelfallentscheidung, bei der lediglich die Interessen der jetzt an diesem Rechtsstreit beteiligten Parteien berücksichtigt werden. Auch wenn das im Einzelfall zu lösende Problem verallgemeinerungsfähig erscheint und gleichartige Fälle wiederholt auftreten, kann es nicht Aufgabe des Gerichts sein, anband des ihm vorliegenden Rechtsstreites eine für alle und alle Zeit geltende Norm zu schaf-

26 BVerfGE 34, 269, 288 (Soraya); 59, 330, 334. 27 Söllner ZG 1995, 1 f. 28 BVerfGE 87, 273, 280 (Erörterungsgebühr); SöllnerZG 1995,1,10. 29 BVerfGE 82, 6, 12, kann hier nur dann als Beleg dienen, wenn in der Wendung "auf einen Fall" ein Zahlwort und nicht ein unbestimmter Artikel gebraucht wurde, was zweifelhaft erscheint, da der Analogieschluß als Rechtsfortbildung bezeichnet wird. obwohl doch das Gesetz nicht (fort)gebildet, sondern angewandt wird.

11. Regelungslücken

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fen. Es wird durch Art. 20 III, 97 I GG an Regeln gebunden. Eine durch den Gebundenen selbst geschaffene Bindung ist jedoch nicht fähig, begrenzende Funktion auszuüben, da er sie aufheben oder lockern wird, wenn sie lästig erscheint. Das Gesetz erfüllt die Funktion, Erwartungen, die sich auf eine gerichtliche Entscheidung beziehen, auf diejenige Entscheidung zu verengen, die als Ergebnis der Subsumtion, als Ergebnis des gesetzlichen Programmes erscheinen, dessen Variablen durch die erheblichen Tatsachen des Einzelfalles ersetzt wurden. Könnte das Gesetz in dem Prozeß, den es bestimmen und strukturieren soll, erst erlassen, erweitert, eingeschränkt oder sonstwie geändert werden, so ginge die Funktion des Gesetzes, als Voraussetzung und Anhaltspunkt der Erwartungen zu dienen, die sich auf die möglichen Ergebnisse richten, unweigerlich verloren. Das Gesetz als Entscheidungsmaßstab muß für den Richter invariant sein30 . Es ist seiner Gestaltung entzogen. Wenn der Anlaß zur Anwendung des Analogieschlusses einen Regelungsbedarf - einen Bedarf nach abstrakten Festlegungen für alle zukünftigen, ähnlichen Fälle - verdeutlicht, so ist der Gesetzgeber gefragt, dem Gericht Entscheidungs richtlinien in der Form einer lückenfüllenden Norm an die Hand zu geben. dd) Das Rechtsschutzverweigerungsverbot Der Gesetzgeber kann sich nicht darauf verlassen, der Richter werde eine Lücke füllen müssen, um den zur Beurteilung anstehenden Fall entscheiden zu können. Mit einem "Entscheidungszwang" des Richters wird die richterliche Rechtsschöpfung mitunter zu rechtfertigen versucht: Das Grundgesetz setze das Gebot an den Richter als selbstverständlich voraus, jeden in zulässiger Weise vor ihn gebrachten Rechtsstreit zu entscheiden, ohne Rücksicht darauf, ob positivrechtliche Normen einen Maßstab böten, an dem sich die Entscheidung ausrichten lasse. Dieses Rechtsschutzverweigerungsverbot mit Verfassungsrang erlaube dem Richter, sich die Normen, nach denen er judiziere, notfalls selbst zu schaffen, damit er den zu entscheidenden Rechtsstreit nicht unentschieden lassen müsse31 • Dieses Argument vermag jedoch nicht zu überzeugen. Die streitenden Parteien haben Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung, die über das Begehren des Klägers oder Antragstellers befindet. Dieser Anspruch wird durch jede gerichtliche Entscheidung erfüllt, gleichviel, ob sie dem Begehren ganz oder teilweise entspricht oder es abweist. Wendet sich der Kläger an das Gericht, weil er meint, von dem Beklagten ein Tun oder Unterlassen verlangen zu können, so hat das Gericht eine Anspruchsgrundlage im 30

Luhmann S. 143, 146. 31 Söllner ZG 1995, 1,7 f.

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c.

Das vollständige Gesetz

gesetzten Recht zu suchen. Ist sie nicht ersichtlich, so hat es die Klage abzuweisen. Dem Herrenreiter wäre keine Rechtsschutzverweigerung widerfahren, wenn seine Klage auf Schadensersatz mit Hinweis auf § 253 BGB abgewiesen worden wäre. Auch die Straf- und die Verwaltungsgerichte müssen nicht zwischen Rechtsschutzverweigerung und eigener Rechtsschöpfung wählen, wenn sie auf eine Lücke stoßen. Der Angeklagte ist zu bestrafen, wenn ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt ist; andernfalls ist er freizusprechen. Der beklagte Träger öffentlicher Verwaltung ist zur Leistung zu verurteilen, wenn sich eine Anspruchsgrundlage findet, sein Verwaltungsakt ist aufzuheben, wenn sich keine Rechtsgrundlage findet; anderfalls ist die Klage abzuweisen. Mag ein unangenehmes Gefühl zurückbleiben, weil die so gefundene Entscheidung der Gerechtigkeit widerspricht oder die Interessenlage nicht nach allen Seiten zutreffend erfaßt, so muß bedacht werden, daß das Werten und Wägen, Vorziehen und Zurücksetzen, das Ausgleichen verschiedener Interessen und Begehrlichkeiten gerade Aufgabe der Politik ist, die sie durch das Setzen allgemeingültiger Regeln zu erfüllen hat, und nicht diejenige des Richters, der einen Einzelfall entscheiden muß. ee) Keine Lückenfüllung durch Schweigen Durch bloße Untätigkeit kann der Gesetzgeber sich dem Gebot, Regelungslücken zu füllen, nicht entziehen. Schweigen bindet den Richter nicht. Er unterliegt der Bindung durch das Gesetz, also durch die verkündete Norm. Das zuständige Gesetzgebungsorgan mag auch in anderen Formen Willensäußerungen von sich geben, eventuell auch durch Nichtbefassen oder Schweigen. Dieser nicht Gesetz gewordene Wille ist aber nicht geeignet, den Richter nach Art. 20 III, 97 I GG zu binden32 • Der Gesetzgeber kann weder durch untätiges Hinnehmen wiederholt angewandter Analogieschlüsse deren Inhalt zum Gesetz erheben33 . Auch eine Äußerung im Gesetzgebungsverfahren, insoweit bedürfe es keiner Regelung, da die Rechtsprechungspraxis nicht zu beanstanden sei, entfaltet keine bindende Wirkung nach Art. 20 III, 97 I GO und entlastet den Gesetzgeber nicht. Schließlich entsteht auch durch das bewußte Nichtbefassen oder Nichtbeschließen eines Gesetzentwurfes kein Gesetz und keine Gesetzesbindung, die eine Analogie in diesem Bereich ausschließen könnte. Ob das Gericht das bewußte und erkennbare Absehen von einer Regelung im Wege der analogen Anwendung anderer Vorschriften korrigieren darf, ist keine Frage

32 Vgl. BVerfGE 11, 126, 131. 33 BVerfGE 78, 20, 25 (Witwenversorgung).

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der Gesetzesbindung34 , sondern danach, ob es das geeignete Organ für solche Korrekturen ist. Der Maßstab ist also in gewaltenteilerischen Erörterungen zu suchen, die sogleich folgen. Ein Fall einer Regelungslücke liegt - schon nach den oben vorgenommenen Definitionen - nicht vor, wenn ein Gesetz besteht, das abschließend unter erkennbarem Ausschluß anderer, nicht enthaltener Tatbestände und Rechtsfol:ßen regelt. Hier bindet ein lückenloses Gesetz den Richter uneingeschränkt . Art. 20 III, 97 I GG legen den Richter also auf das Anwenden der Gesetze fest. Unter Berufung auf diese Verfassungsbestimmungen kann der Gesetzgeber die Lückenfüllung nicht der Rechtsprechung zuweisen, um sich selbst von dieser Aufgabe zu entlasten. c) Gewalte1lteilullg Die Gewaltenteilung könnte zudem dem Gesetzgeber - dem Parlament und den Verordnungsgebern - die Gesetzgebung zuweisen und den Gerichten diesen Bereich der staatlichen Aufgabenerledigung verwehren. Daß dem Grundsatz der Gewaltenteilung kein Gebot schematischer Gewalten- und Organtrennung zu entnehmen ist, ist oben bereits erwähnt worden, als eine Aufgabentrennung zwischen Parlament und Exekutive vorzunehmen war36 . Eine an wirksamer Aufgabenerledigung orientierte Funktionenabgrenzung mit Durchlässigkeiten zwischen den Organen hat das Bild dreier verbindungslos nebeneinanderstehender Säulen verdrängt. Eine strenge Zuweisung einer Aufgabe an bestimmte Organe ist dem Grundgesetz nur im Bereich der Rechtsprechung zu entnehmen: sie ist allein den Richtern anvertraut (Art. 92 Hs. 1 GG). Für die Normsetzung fehlt eine derart kategorische und ausschließliche Zuweisung. Man könnte einwenden, das Grundgesetz kenne nur zwei Arten von Normen: die Gesetze, die vom Bundestage und Mitwirkung des Bundesrates beschlossen werden (Art. 77 GG), und die Verordnungen, für deren Erlaß das Grundgesetz einen beschränkten Kreis von Exekutivorganen nennt (Art. 80 I 1 GG). Dabei bleibt jedoch mangels konkreter Anhaltspunkte im Verfassungswortlaut die Frage offen, ob allgemeinverbindliche Regeln außer im Gewande des Gesetzes und der Verordnung nicht auch in den Sprüchen der Gerichte auftreten kön-

34 So aber BVerfGE 57, 220, 248 (Orthopädische Anstalten); BVerfG NJW 1993, 2600 (Video). BVerwGE 59, 242, 247 (Studentenbeiträge) erwähnt neben der richterlichen Gesetzesbindung das - hier allein maßgebliche - Gewaltenteilungsprinzip. 35 BVerfGE 49, 304, 320 (Sachverständigenhaftung); 65, 182, 192 (Rangstelle 0); BVerfG NJW 1993, 2600 (Video). 36 Oben A IV 3, S. 52 ff.

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nen 37 • Entschieden gegen diese Annahme spricht bereits die traditionelle, vom Grundgesetz in seinen Richtervorbehalten übernommene grundsätzliche Festlegung der Gerichte auf Einzelfallentscheidungen38 . Ob die Gerichte in den vom Gesetzgeber gelassenen Lücken Normen setzen dürfen, ist nach den Richtigkeitsgewähr anstrebenden Grundsätzen der funktionsorientierten Gewaltenabgrenzung danach zu beurteilen, ob sie nach Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über mindestens ebenso gute Voraussetzungen verfügen wie Parlament und Regierung39 • aa) Informationen als Entscheidungsgrundlage Das Gericht ist in seinen Möglichkeiten, sich Kenntnisse als Entscheidungsgrundlage zu verschaffen, beschränkt. Soweit ihm ungefragt Informationen zugetragen werden, kommen hierfür nur die Parteien des Rechtsstreits in Frage. Soweit es diese Angahen überhaupt nachprüfen darf und soweit es aus eigenem Antrieb Informationen sammeln darf, ist es auf den jeweils vorgesehenen Beweismittelkanon beschränkt. Die Beweismittel der Prozeßordnungcn sind vornehmlich auf Sachverhaltsaufklärung ausgerichtet. Auch soweit das Gericht sich fremden Sachverstandes bedienen darf und so fremde Wertungen und Meinungen in den Prozeß eingeführt werden, sind diese am zu beurteilenden Einzelfall orientiert. Da sich das Gerichtsverfahren vornehmlich im Verborgenen, zumindest abseits breiten öffentlichen Interesses abspielt, sind auch die Versuche Unbeteiligter, ihre Interessen in das Verfahren einzubringen, begrenzt. Zwar stehen auch einzelne Gerichtsverfahren im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, aber die Fälle, in denen gesetzgeberische Lücken fiir die Entscheidung maßgeblich sind, sind nicht auf solche Verfahren beschränkt. Dem Gesetzgeber hingegen steht eine unbegrenzte Informationsmöglichkeitzur Verfügung. Das Verfahren findet nicht nur in der Öffentlichkeit und unter Beobachtung vor allem der Massenmedien statt, die Verfahrensbeteiligten suchen auch öffentliche Unterstützung, um der von ihnen vertretenen Ansicht mehr Gewicht zu verleihen und ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Die Organisation der Verfahrensbeteiligten und die Verfahrensregeln sind auf bestmöglichen Informationsgewinn sowohl tatsächlicher als auch wertender Art gleich aus welcher Quelle ausgerichtet. Das Verfahren steht Interessenvertretern aller Art nicht nur offen, sie werden sogar zur Darlegung ihrer Argumente und Meinungen eingeladen und aufgefordert. Während das Gerichtsverfahren auf die Reduzierung des Tatsachenstoffes auf das fiir die Entscheidung Wesentliche aus37 Art. 70 I. III, 72 I BayVerf, 41. 42 I NdsVerf beantworten diese Frage ausddicklich negativ. 38 Siehe bereits oben b ce, S. 90 f. 39 BVerfGE 68, 1, 86 (Atomwaffenstationierung).

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gerichtet ist, steht das Gesetzgebungsverfahren einer größtmöglichen Informationssammlung offen, ohne daß Regeln den Ausschluß einzelnen Vorbringens vorsehen (Beschränkung der zum Vortrag Berechtigten, Beibringungsgrundsatz, Ausschluß wegen Verspätung)40. Die Art der Informationsbeschaffung ist bei den Gerichten also auf die Entscheidung eines einzelnen Falles ausgerichtet, während bei Parlament und Regierung die allumfassende Kenntnisnahme und Berücksichtigung von Tatsachen, Meinungen, Wertungen und Interessen sichergestellt ist, um eine für alle geltende Regel aufzustellen. bb) Entscheidungsakzeptanz Die Gerichtsentscheidung überzeugt durch ihre Gründe. Wenn die Entscheidungsfindung über bloße Anwendungstechnik hinausgeht und gerade wenn die Normanwendung über die Subsumtion hinausreicht oder nicht auf der Hand liegende Auslegungsfragen zu beantworten sind, verschafft sich das Urteil durch eine überzeugende Begründung Akzeptanz im Sinne einer Annahme als richtige Entscheidung, oder es verfehlt sie, wenn es der Begründung an Überzeugungskraft mangelt. Dies gilt zum einen für die Parteien. Wenn die unterliegende überhaupt bereit ist, die Entscheidung nicht nur als geltend und vollstreckbar, sondern auch als richtig und nicht mehr angreifbar anzunehmen, dann schöpft sie diese Akzeptanz aus den dem Tenor beigegebenen Gründen. Den gleichen Maßstab legen auch die Unbeteiligten an, die die Entscheidung zur Kenntnis nehmen und der (fach)öffentlichen Kritik unterziehen. Einen anderen Anknüpfungspunkt für die Richtigkeitsakzeptanz bietet das Urteil allerdings auch nicht. Eine dem Gericht eigene oder ihm vom Gesetz verliehene Autorität vermag - wenn man sie annehmen möchte - der Entscheidung zwar GeItungskraft und Unangreifbarkeit zu vermitteln, nicht jedoch Richtigkeitsüberzeugung. Schließlich kann die einheitliche Richtigkeitsüberzeugung der Entscheidenden selbst kein Grund für die öffentliche Akzeptanz des Urteils sein. Ob ein Spruchkörper mit großer Mehrheit oder einstimmig das Urteil trägt, wird wegen des Beratungsgeheimnisses nicht bekannt. Wenn von diesem Grundsatz Ausnahmen geIten - in der Verfassungsgerichtsbarkeit -, so ist das Stimmenverhältnis vielleicht eine Anmerkung wert, die Diskussion und Kritik des Urteils orientiert sich aber dennoch an der Begründung und dem Inhalt einer beigegebenen abweichenden Meinung. Um für sein Urteil Richtigkeitsüberzeugung zu erlangen, ist der Richter also gehalten, nachvollziehbar darzulegen, warum gerade diese Entscheidung aus der Anwendung des Gesetzes zu folgen hat oder weshalb sie trotz scheinbaren Widerspruchs zum Gesetz oder trotz fehlender gesetzlicher Regelung am ehesten geeignet ist, als richtige und 40 Mit Luhmann, S. 52, ist hier von der "bestimmten Komplexität" im rechtsanwendenden Entscheidungsbereich und der "unbestimmten Komplexität" in der Gesetzgebung zu sprechen.

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gerechte Lösung zu gelten. Die wissenschaftliche Methode der Entscheidungsfindung - die Ableitung einer Einzelfallösung aus allgemein geltenden Regeln und Grundsätzen - prägt die Beurteilungsmaßstäbe bei der Richtigkeitsüberprüfung: rationale Argumentation, einsichtige Darlegung, Anwendung praktischer Vernunft41 • Das Gesetzgebungsverfahren kann und soll nicht als der Gegensatz dessen hingestellt werden. Sowohl im parlamentarischen Verfahren als auch im Verfahren der Verordnungsgebung kommen rationale Argumente bei der Erörterung des Für und Wider zum Zuge. Diese Arbeit soll ja gerade zeigen, daß der Gesetzesbeschluß kein freier, sondern ein rechtlich gebundener ist. Die fertige und verkündete Norm unterliegt der Kritik an rationalen Maßstäben. Dennoch liegt der Grund für ihre Anerkennung als nicht nur gültig, wirksam und vollstreckbar, sondern als eine Norm, die auch ohne Drohung staatlichen Zwanges als geltend entgegengenommen und befolgt werden kann, nicht in überzeugenden gesetzgeberischen Motiven, sondern in dem Umstand, daß ein Mehrheitsbeschluß zu Grunde liegt. Für diejenigen, die sich allgemein oder in dem einen fraglichen Gesetzgebungsprojekt mit der Parlamentsmehrheit oder der von ihr getragenen verordnenden Regierung identifizieren, fällt die Akzeptanz der Norm ohnehin leicht. Wer sich zur unterliegenden Minderheit zählt, nimmt zumindest an dem übergeordneten Konsens teil, daß die Mehrheitsentscheidung gelten soll. Er kann sich zudem mit dem ihm nicht genehmen Abstimmungsergebnis abfinden, weil die Vertreter seiner Richtung oder Ansicht immerhin alles unternommen haben, um sie zu verhindern. Sie konnten im Verfahren auf Änderungen hin wirken, öffentliche Angriffe gegen die Mehrheit richten oder wenigstens Neinstimmen abgeben. Schließlich trägt zur Hinnehmbarkeit der Norm das Bewußtsein bei, alsbald eine Korrektur bewirken zu können, wenn die Minderheit von heute zur Mehrheit aufgestiegen ist. Das Beruhen der Norm auf einem Mehrheitsbeschluß erleichtert die Akzeptanz, weil der Angehörige der Minderheit am Verfahren tätig teilnehmen konnte und es selbst in der Hand hat, demnächst aus der Rolle auszubrechen, in der er sich bloßmit dem nicht Gewollten abfinden muß. Hier hat jede Stimme gezählt; niemandes Ansicht war von vornherein dazu verdammt, auf das Ergebnis der Entscheidung keinerlei Einfluß nehmen zu können 42. Diese Ansatzpunkte für eine Akzeptanz fehlen der gerichtlichen Entscheidung. Zwar fehlt ihr die demokratische Legitimation nicht, aber dennoch be-

41 BVerfGE 34, 269, 284 (Soraya). Als Indizen für die Richtigkeit richterlicher Rechtsanwendung nennt das Bundesverfassungsgericht die weitgehende Zustimmung der Rechtswissenschaft und das Übereinstimmen mit der allgemeinen Rechtsüberzeugung: BVerfGE 49, 304, 321 (Sachverständigenhaftung); 65, 182, 195 (Rangstelle 0). 42 Luhmann, vor allem S. 187 bis 198.

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ruht sie nicht auf einer Mehrheit, sondern auf rationaler Begründung. In ihrer Entscheidung vermitteln die Richter nicht mit sichtbarer Deutlichkeit die mit der demokratischen Wahl getroffene Richtungs- und Grundsatzbestimmung. Sie sind legitimiert, aber nicht abrufbar. Ihr Verfahren und ihre Methodik der Entscheidungsfindung ist der öffentlichen Meinungsbildung und Kritik entzogen. Das Ergebnis kann mit den jedermann offenstehenden Mitteln weder beeinflußt noch angegriffen werden. Allein die Parteien des Prozesses haben die Möglichkeit, die Entscheidungsfindung zu steuern. Nur sie können das Ergebnis als Produkt auch der eigenen Geschicklichkeit oder des eigenen Unvermögens hinnehmen, wodurch ihnen die Ausflucht abgeschnitten wird, Schuld seien stets die anderen. Das erschwert die Identifikation für alle Unbeteiligten, die sich am Prozeß zwar nicht beteiligen durften, sein Ergebnis aber als verbindlich hinnehmen sollen43 . Da die für alle und für alle Zeit gültige Regel darauf angewiesen ist, daß auch diejenigen sie akzeptieren und sich mit ihr identifizieren können, die ihren Inhalt ablehnen, ist für ihre Schöpfung ein Gericht ungeeignet, während der Gesetzgeber die Akzeptanzvoraussetzungen zu schaffen in der Lage ist. Dies gilt vor allem, aber nicht nur für die Normen, die zwischen mehreren möglichen Regelungskonzepten zu wählen haben 44 , die allgemeine Interessen abzuwägen und bei Konflikten für die eine oder andere Seite den Ausschlag zu geben haben45 . . Die Gerichte sind somit zur Normsetzung ungeeignet46 . Das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 11 2 GG), das das Ziel funktions gerechter Aufgabenzuweisung verfolgt, weist also dem Gesetzgeber das Setzen allgemeingültiger Regeln zu, auch soweit Lücken zu schließen sind, während die Rechtsprechung auf die Einzelfallentscheidung verwiesen wird. Auch soweit im Einzelfall mit den Methoden der richterlichen Entscheidungsfindung Regelungslükken zu überbrücken sind, dürfen zwar für diesen Fall nötige Obersätze, nicht jedoch für künftige Fälle gültige Regeln geschaffen werden. 4. Bindung an lückenlose Gesetze als Grundlage für Berechenbarkeit

Nun kann also festgestellt werden, daß es dem Grundgesetz widerspricht, wenn der Gesetzgeber die Rechtsetzung den Richtern überlassen will. Der Zuweisung der Rechtsetzung an Parlament und Exekutive durch Art. 20 11 2 GG 43 Söllner, ZG 1995, 1, 13, zieht den Schluß, den Unbeteiligten werde das rechtliche Gehör vorenthalten. 44 Vgl. BVerfGE 69, 315, 372 (Brokdorf). 45 Vgl. BVerfGE 49, 304, 320 (Sachverständigenhaftung); 57, 220, 248 (Orthopädische Anstalten); 82, 6, 12 C.; BVerwGE 59, 242, 247 (Studentenbeiträge). 46 Söllner ZG 1995, 1, 10 Cf. Vgl. Hesse S. 270. 7 Burghart

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kann aber kein Gebot entnommen werden, nur lückenlose, vollständige Regeln zu erlassen. Dem Verweis des Richters auf die Einzelfallentscheidung ist genügt, wenn er in jedem anstehenden Einzelfall die Lücke durch Analogieschluß überbrückt, solange dabei nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit Regeln aufgestellt werden, an die sich die Gerichte später gebunden halten. Der für einen Fall gebildete und verallgemeinerungsfähig erscheinende Obers atz ist vor jeder weiteren Anwendunf erneut auf seine Tauglichkeit für den jetzt zu entscheidenden Fall zu prüfen 7. Auch der Bindung des Richters an das Gesetz kann nicht im Umkehrschluß entnommen werden, daß der Gesetzgeber eine solche Bindung bereitzustellen habe. Dennoch können neben den speziellen Gesetzgebungsgeboten aus Freiheitsrechten, dem Gleichheitssatz oder in der Verfassung enthaltenen ausdrücklichen Normsetzungsgeboten auch die hier angestellten allgemeinen Erwägungen als Sitz eines Gebots der lückenlosen Vollständigkeit dienen. Die Gesetzesbindung beschränkt den Richter zwar nicht auf die Rolle eines bloßen Normvollstreckers oder Anwendungstechnikers, legt aber eine Bindung, eine Stufenverhältnis vom Allgemeinen ins Konkrete fest. Aus der allgemeingültigen, abstrakt-generellen Regel soll der Richter für den Einzelnen die konkret-individuelle Rechtsfolge ableiten und verbindlich feststellen. Die Kenntnis des die Bindung bewirkenden Gesetzes vermittelt die Berechenbarkeit der gerichtlichen Entscheidung. Zwar ist auch bei lückenloser gesetzlicher Bindung der Inhalt der Gerichtsentscheidung nur in seltenen Fällen exakt im voraus bestimmbar, oftmals hapert die Vorausschaubarkeit aber vor allem an der Unsicherheit, welche tatsächlichen Voraussetzungen das Gericht zu Grunde legen wird, während die reine Rechtsanwendung recht deutlich auf der Hand liegt. Weist das Gesetz jedoch an der relevanten Stelle eine Lücke auf, so wird die Prognose zusätzlich erschwert. Die Erwägung, einen Analogieschluß vorzunehmen, erfordert Wertungen, deren Ergebnis aus dem Gesetzestext nur schwer vorauszusagen sind. Ein lückenloses Gesetz, dem die vom Gericht zu treffende Entscheidung bzw. die von tatsächlichen Variablen abhängigen Entscheidungsvarianten mit einiger Sicherheit zu entnehmen sind, gewährleistet somit Rechtssicherheit. Als Element der Rechtsstaatlichkeit soll sie dem Bürger ermöglichen, sein Verhalten auf den Inhalt der Rechtsordnung einzustellen, um entsprechend disponieren zu können. Im Rahmen der Gesetzesbindung des Richters verbietet dieses Prinzip somit nicht nur dem Richter, eine vom Gesetzgeber getroffene eindeutige Entscheidung auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen zu verändern und durch eine eigene Lösung zu ersetzen 48 , es richtet zudem an den Gesetzgeber das prinzipielle Postulat der Lückenlosigkeit der positiven

47 Söllner ZG 1995, 1, 16. 48 BVerfGE 82, 6, 12.

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staatlichen Rechtsordnung49 , um die Ableitungen aus dem Abstrakten ins Konkrete möglichst berechenbar und vorausschaubar zu gestalten. Man mag diesem Postulat bescheinigen, seine umfassende Verwirklichung sei praktisch unerreichbar50 • Das rechtfertigt aber nicht, es dort zu vernachlässigen, wo Befolgen möglich ist. Wird ein neues Regelungswerk erlassen, so verbietet das Rechtsstaatsprinzip im Interesse der Rechtssicherheit, bewußt Lücken zu lassen und die Entscheidung insoweit der Rechtsprechung zu überbürden, weil dem Gesetzgeber Mut, Entschlußkraft oder die Disziplin zu sorgfältiger Vorbereitung des Regelungserlasses fehlen. Hier fordert die Verfassung vom Gesetzgeber eine Entscheidung. Die behelfsmäßige Flickschusterei der Rechtsprechung per Analogieschluß muß sie nur hinnehmen, um nicht den rechtsuchenden Bürger unter dem Versagen des Gesetzgebers leiden zu lassen. Geht die tatsächliche - soziale oder technische - Entwicklung über das einstmals so vollständig wie möglich erlassene Gesetz hinweg, so daß eine nachträgliche Lücke entsteht, so ist nicht zuallererst zu konstatieren, es wachse die schöpferische Freiheit des Richters51 , vor allem entsteht die Pflicht des Gesetzgebers zur Nachbesserung. Er hat die Anwendung des erlassenen Gesetzes zu beobachten und erkannte nachträgliche Lücken zu füllen (z.B. §§ 248 c, 263 c StGB). Die analoge Anwendung anderer Normen durch die Gerichte füllt die Lücke nicht, sondern überbrückt sie nur behelfsmäßig und für den Einzelfall, soweit sie nicht ohnehin verboten ist (Art. 103 11 GG, § 253 BGB). Auch die wiederholte analoge Anwendung vermittelt keine Rechtssicherheit, weil auch eine gleichförmige Entscheidungspraxis keine Bindung der Gerichte auslöst und somit keine Grundlage für die Berechenbarkeit künftiger Entscheidungen bietet. Die Rechtssicherheit verlangt eine Entscheidung des Gesetzgebers, damit auch für die nun aufgetretenen vom Gesetz ungelösten Fälle die Rechtsanwendung anhand des nachgebesserten Gesetzes vorausschaubar wird. 5. Kodifikation

Mit dem nun erkannten Gebot, eine Materie, soweit sie gesetzlicher Regelung unterworfen werden darf und soll, in lückenloser Vollständigkeit zu regeln, rückt der Kodifikationsgedanke ins Blickfeld. Die Kodifikation als ein das gesamte betroffene Rechtsgebiet umfassendes, in sich stimmiges und vollständiges Gesetzeswerk scheint dem Verlangen der Verfassung nach einem verständlichen und vollständigen Gesetz zu entsprechen. Die Zusammenfas49 BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya). 50 BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya). 51 So aber BVerfGE 34, 269, 288 (Soraya); 82, 6, 12. 7*

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sung der betreffenden Regeln eines Bereiches erleichtert die Auffindbarkeit der einschlägigen Normen und das Erkennen von Verknüpfungen und Bezügen. Die Lückenlosigkeit gewährleistet berechenbare Gesetzesanwendung. Der Behauptung, die Kodifikation habe weitgehend abgedankt 52 , kann nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Die Feststellung, das Zeitalter großer, spektakulärer Kodifikationen sei abgeschlossen53 , trägt sie nicht. Diese großen Kodifikationen sind diejenigen des materiellen Zivilrechts und des Straf- und Zivilprozeßrechts. Da in diesen Rechtsgebieten mit den Gesetzeswerken des ausgehenden 19. Jahrhunderts der große Wurf gelungen ist, brauchte einednrcltgrcifende Neuordnung bislang nicht zu erfolgen, so daß die fehlende Notwendigkeit der Neukodifikation als Gütezeichen zu werten ist. Daß der Kodifikationsgedanke kein abgeschlossenes Kapitel der Rechtsgeschichte ist, zeigt das Bestreben, die Normen bisher gesetzlich nicht geregelter Rechtsgebiete oder auf Einzelgesetze versprengte Regeln in Kodifikationen zusammenzufassen54. Die Bemühungen um ein Arbeitsgesetzbuch, ein Umweltgesetzbuch, eine Verwaltungsproußordnung, die Vollendung des Sozialgesetzbuches zeigen den Willen zur umfassenden, lückenlosen Positivierung der Regeln in den betreffenden Rechtsgebieten. Daß keines der soeben genannten Projekte der Vollendung nahesteht, kann nicht nur fehlender politischer Entschlußkraft angelastet werden. Die Kodifikation scheitert in einer schnellebigen Zeit rascher sozialer und technischer Entwicklungen und Veränderungen auch und vor allem daran, daß der Gesetzgeber die zu regelnde Materie nicht im Griff hat: er überschaut die hochkomplexen tatsächlichen Gegebenheiten, Zusammenhänge, Verknüpfungen, Strömungen, sich abzeichnenden und ablaufenden Wandlungen nur unzureichend. Es fehlt eine hinreichende Tatsachengrundlage und eine zuverlässige Prognose. Befindet sich eine Entwicklung noch in vollem Lauf, so befürchtet der Gesetzgeber, nur eine Momentaufnahme zu erfassen und eine Regelung zu erlassen, die schon nach kurzer Zeit als lückenhaft oder überholt gelten muß. Aber allein an der fehlenden Möglichkeit, das Werk ein Jahrhundert lang reifen zu lassen55 und lange erworbene Wertvorstellungen aufzunehmen56 , darf der Kodifikationsversuch nicht scheitern. Damit soll nicht ein unüberlegtes. vorschnelles Experiment befürwortet werden. Aber sobald ausreichende Tatsachengrundlagen und Prognosen vorliegen, die eine Entscheidung nach dem besten Wissen der Zeit über den derzeitigen Regelungsumfang und -inhalt zulassen, kann und soll der Gesetzgeber soweit wie möglich kodifizieren. Aus der verbleibenden Unsicherheit über die Zukunftsfähigkeit der Normen erwächst nicht die POicht zum Unterlassen, sondern das Gebot, die tatsächliche Ent52 So Karpen, GgebL, S. 33. 53 Hili, GgebL, S. 28; Hili DÖV 1981. 487, 490; Karpen, GgebL, S. 48. 54 Hili DÖV 1981, 487, 490.

55 Isensee ZRP 1985, 139, 142. 56 Karpen, GgebL, S. 33.

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wicklung und die Wirkungsweise der Norm von Anfang an gründlich zu beobachten und gegebenenfalls früh, schnell und zunächst häufig nachzubessern. Das erscheint zwar auf den ersten Blick unbefriedigend, aber so wird die Verfassungsforderung erfüllt, der Gesetzgeber und nicht der Richter oder eine allgemeine Rechtsüberzeugung habe der Rechtsanwcndung Berechenbarkeit vermittelnde Vorgaben zu liefern. Wenn dem Kodifikationsbegriff das Merkmal der Dauerhaftigkeit beigegeben wird 57 , dann mag dies für das Regclungskonzept im großen und ganzen gelten. nicht aber für den Normenbestand zur Zeit des Erlasses, der von notwendigen Änderungen freigehalten werden sollte. Auch die großen Beispielskodifikationen mögen zwar in ihren Grundsätzen auf Dauer angelegt gewesen sein, waren jedoch schon seit ihrer Verkündung der Änderungsgesetzgebung ausgesetzt. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat sich schon zur Zeit seiner Verkündung als an entscheidender Stelle lückenhaft erwiesen58 und wurde erstmals im Jahre 1908 und in den nun 95 Jahren seiner Wirksamkeit bislang 122 Änderungsgesetzen preisgegeben, die Tausende von Änderungen vornahmen. Auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten - die Verkörperung der modernen Kodifikationsanstrengungcn schlechthin - wurde bereits unmittelbar nach seinem Inkrafttrcten zahlreichen Änderungen ausgesetzt. Bereits 32 Jahre nach der Verkündung des Ewigkeitswerkes erging ein - letztlich unausgeführt gebliebener - Befehl zu einer umfassenden Rechtsreform 59 • Die Erwartung, auf Grund der Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht alsbald einer Änderungsnotwendigkeit nachgcben zu müssen, schmälert eine Kodifikationsleistung nicht. Sie ist ein Schritt auf dem Weg zum lückenlos vollständigen Gesetzeswerk und daher dem Zustand fehlender positivierter Entscheidungen des Gesetzgebers vorzuziehen. 6. Auslegung

Nur um sie sogleich wieder aus den Erörterungen auszuschließen, soll hier noch die Auslegung erwähnt werden. Sie hat mit dem Problemkreis der Regelungslücke und des sogenannten Richterrechts nichts zu tun. Die Auslegung kann zwar eine Regelungslücke aufdecken, wenn sie ergibt, daß der zu entscheidende Fall von den zunächst in Betracht gezogenen Normen nicht gelöst wird, sie ist aber kein Mittel der Lückenfüllung und keine Methode der Rechtsschöpfung. Hat der Gesetzgeber einen offenen, unbestimmten Rechtsbegriff verwandt, so ist dies gerade zu dem Zweck geschehen, ihn der Veränderung eines sich wandelnden Begriffsverständnisses auszusetzen. Verändern sich die tatsächlichen Umstände oder die sozialen Anschauungen und Wertvor57 Karpen, GgebL, S. 33. 58 RGZ 54, 98, 100 ff. 59 Hattenhauer S. 38.

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stellungen, so daß sie mit dem Begriffsinhalt, der zur Zeit des Normerlasses als richtig angesehen wurde, nicht mehr übereinstimmen, so entsteht keine Regelungslücke, weil der Rechtsbegriff wegen seiner Offenheit und Unbestimmtheit dem veränderten Begriffsverständnis folgt. Welche Gründe so "wichtig" sind, daß sie einen Rücktritt vom Verlöbnis rechtfertigen (§§ 1298 III, 1299 BGB), unterlag im ausgehenden 19. Jahrhundert einer anderen Bewertung als hundert Jahre später. Dieser Wandel im Werteverständnis kann so weit reichen, daß der betreffende Rechtsbegriff unzeitgemäß und damit bedeutungslos wird, wie dies für die "Unbescholtenheit" des § 1300 BGB vertreten wird 60 . Der Gesetzgeber gibt hier einen abstrakten Begriff vor, weil ihm eine auch nur annähernde Erfassung konkreterer Kategorien dieses Begriffes unmöglich ist. Was jetzt und in Zukunft als wichtig, arglistig, sittenwidrig oder verkehrsüblich zu bewerten ist und sein wird, ist wegen der unüberschaubaren Fülle tatsächlicher Möglichkeiten nicht näher im voraus zu bestimmen. Wenn der Richter angesichts eines tatsächlichen Geschehens eine solche Bewertung vornimmt, so wendet er das Gesetz an, indem er dem Begriff einen mit den jetzigen Vorstellungen übereinstimmenden Inhalt gibt und eine Subsumtion vornimmt. Diese Auslegung oder Begriffsbestimmung ist reine Gesetzesanwendung, deren Besonderheit darin liegt, daß die Vorgabe des Gesetzgebers - notgedrungen - allgemein und unbestimmt gehalten werden mußte. Mit der jetzt zeitgemäßen inhaltlichen Präzisierung schafft der Richter keine neue oder andere Norm. Er verändert den vorgefundenen Begriff nicht, sondern stellt einen gegebenenfalls veränderten Begriffsinhalt fest. Es handelt sich somit nicht um Rechtsschöpfung oder Rechts(fort)bHdung61 . Die Gesetzesbindung wird nicht verlassen, sondern beachtet. Ein Verstoß gegen Art. 20 III, 97 I GG kommt erst in Betracht, wenn der Richter einem Rechtsbegriff durch vermeintliche Auslegung einen Inhalt geben will, der mit dem Sinn des verwandten Wortes auch nach zeitgemäßen, eventuell gewandelten Auffassungen nicht übereinstimmt62 . Anlaß einer solchen Mißachtung des Gesetzes kann die Erkenntnis sein, daß die vorgefundenen Begriffe zur Problemlösung nichts beitragen. Dann liegt eine Regelungslücke vor, die nicht mit einer außerhalb des Gesetzes stehenden eigenen Begriffsbildung durch den Richter - richterliche Gesetzgebung - behoben werden kann. Sie ist - wenn möglich - kurch Analogie zu überbrücken oder hinzunehmen. Der Richter mißachtet mit einer dem aktuellen Wortverständnis entgegengesetzten Begriffsbestimmung nicht nur die Bindung durch das Gesetz, er hintertreibt zugleich das Bemühen des Gesetzgebers, seine Pflicht zum verständlichen Gesetz zu erfüllen, in dem die Begriffe eine Erkennbarkeit der angeordneten Regelung und damit eine Berechenbarkeit der Rechtsanwendung ermöglichen. 60 Palandt-Diederichsen § 1300 Rdnr. 4.

61 BVerfGE 34,269,288 (Soraya); 59, 330, 334 vernachlässigen diese Differenzierung. 62 BVerfGE 59, 330, 334.

II. Regelungslücken

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7. Inhalt und Reichweite der Pflicht zum vollständigen Gesetz

Schließlich soll der Inhalt und die Reichweite der Pflicht zum vollständigen Gesetz näher umrissen werden. a) Vollstä1ldigkeit als das richtige Maß zwischen Abstraktem u1Id Konkretem

Nicht gefordert sind detaillierte Handlungsanweisungen, die die Gerichte wie Automaten funktionieren lassen. Solche Normen wären unflexibel, durch Einzelheiten aufgebläht und unfähig, Neuerungen zu erfassen. Ein auf diese Weise bei Normerlaß zunächst scheinbar vollständiges Gesetz ist bei sich verändernder tatsächlicher Lage für das nachträgliche Entstehen von Regelungslücken besonders anfällig und führt dadurch zu vermehrtem Änderungsbedarf. Das vollständige Gesetz soll zwar Berechenbarkeit der Rechtsanwendung ermöglichen, nicht jedoch im Sinne einer formelhaften Vorausbestimmbarkeit, sondern zum Zweck einer Erkennbarkeit der Regelungstendenz und eines Schutzes vor Überraschungen in der Rechtsanwendung. Wer das Gesetz zur Kenntnis nimmt, dem darf die auf seiner Grundlage gefällte Entscheidung nicht als das Ergebnis eines Lotteriespiels vorkommen, das er nur mit barem Erstaunen entgegennehmen kann. Gefordert wird ein Regelungsprogramm, dessen Normgefüge so dicht ist, daß es Entscheidungen vorgibt, aber nicht fällt. Es ist so abstrakt, daß wirksames Reagieren möglich bleibt, und so konkret, daß Überraschungen vermieden werden. Mit dieser Richtschnur ist auch die Spannung zwischen der Vollständigkeit und der inneren Übernormierung zu beheben. Das Ideal liegt - wie häufig - irgendwo in der Mitte, ohne daß das richtige Maß allgemein näher bezeichnet werden könnte. Übermäßige DetaIlierung führt zu Unübersichtlichkeit, Lükkenanfälligkeit und vermehrtem Änderungsbedarf und nützt somit weder dem Bestreben nach einem Eindämmen der Normenflut, noch nach Vollständigkeit. Der großzügige Gebrauch von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln wird hingegen ebenfalls erweisen, daß hier gerade fraglich sein kann, ob einzelne Fälle von der Regelung erfaßt werden sollen, so daß Lükkenhaftigkeit festzustellen und unberechenbare Rechtsanwendung zu befürchten ist. Beispiele für die begrenzte Möglichkeit des Gesetzgebers zur Konkretisierung von Normen bietet die Überarbeitung des Schuldrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch. Wenn die Kommission für eine Normierung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Störung der Geschäftsgrundlage eine Positivierung von Leitlinien in allgemeiner Form vorschlägt und eine weitere Konkretisierung

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C. Das vollständige Gesetz

nicht für möglich hält 63 , dann kann dennoch festgestellt werden, daß die Pflicht zum vollständigen Gesetz - endlich - erfüllt wäre. Die Regelung muß so allgemein bleiben, daß sie alle vorstellbaren Einzelfälle erfassen kann. Dabei kann sich die abstrakte Generalklausel als unvollständige Regelung erweisen, wenn die Auslegung ergibt, daß ein zu entscheidender Einzelfall von ihr nicht erfaßt wird. Ist sie hingegen konkreter und damit ausschließend, versagt sie bei Einzelfallanwendungen auf nicht erfaßte Fälle und wird damit bei zunehmender Konkretheit nicht lückenloser, sondern neigt zur Gefahr der Lükkenhaftigkeit. Das Gesetz ist vollständig, wenn es auf dem Weg vom Abstrakten zum Konkreten so weit gegangen ist, wie es nur konnte, ohne zum Einzelfallversagen zu neigen. Auf der weiteren Strecke hin zum konkreten Einzelfall hat die Rechtsetzung nichts mehr zu suchen; hier ist die Rechtsanwendung gefordert. Die Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts irrt deshalb, wenn sie meint, die weitere Konkretisierung einer Norm müsse der Rechtsprechung überlassen bleiben64 oder eine Regelung solle für eine Weiterentwicklung durch die Judikatur offen bleiben65 . Die Judikatur regelt nicht, sie wendet Regeln an. Der Gesetzgeber hat seine Pflicht und Schuldigkeit vorerst getan, wenn er so abstrakt geblieben ist, daß alle denkbaren Fälle erfaßt werden, und wenn es unterhalb der Regelung nur noch Einzelfälle gibt, die nicht mehr abstrahierend systematisch gegliedert werden können. Es bleibt abzuwarten, ob sich Lücken ergeben, die durch weitere, nachbessernde Abstrahierung oder Konkretisierung geschlossen werden müssen. Ist dieses richtige Maß gefunden, so ist die Pflicht zum vollständigen Gesetz erfüllt und der Gesetzgeber kann und muß - wegen der Pflicht zum notwendigen Gesetz - weitere Änderungen unterlassen. Um Verbesserungen zu erreichen, wo sich Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb in der Praxis ergeben haben 66 , das neben einer Generalklausel (§ 1 UWG: Verstoß gegen die guten Sitten) schon einige konkretisierende Regelungen enthielt (§§ 3 ff. UWG), sind unter anderem §§ 6 d, 6 e UWG eingefügt worden. Dort werden Unterlassungsansprüche bei BlickfangWerbung geregelt. Dieser weitere, zur Lückenfüllung gegangene Schritt auf dem Weg vom Abstrakten zum Konkreten kann nun der letzte bleiben, nachdem festgestellt wurde, das Vorliegen eines Blickfanges sei Frage des Einzelfalles 67 . Nun noch einzelne Arten der Gestaltung und Hervorhebung zu nennen, durch die der Blick auch und gerade des flüchtigen Betrachters festgehal63 BMJ (Hg.), S. 31, 291. 64

BMJ (Hg.), S. 31. BMJ (Hg.), S. 32. 66 Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wirtschafts- und verbraucherrechtlicher Vorschriften, Deutscher Bundestag, Drs. 10/4741, S. 11. 67 Piper im UWG-Großkommentar, § 6 e Rdnr. 31. 65

11. Regelungslücken

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ten wird, erscheint von vornherein zur Unvollständigkeit verurteilt und ist auch nicht nötig. Der Begriff ist zugleich ausreichend abstrakt und hinreichend bestimmt, um eine berechenbare Rechtsanwendung zu gewährleisten. Niemand wird überrascht sein, wenn ein Gericht reißerische Werbung für Kinderprodukte in Kinderaugenhöhe als Blickfang-Werbung ansieht. Die Regelung weist für diesen Fall keine Lücke auf und bedarf deshalb keiner weiteren Konkretisierung durch das Nennen gerade dieser Variante.

b) Verbot anfänglicher beabsichtigter Regelullgslücken Die Pflicht zum vollständigen Gesetz verbietet anfängliche beabsichtigte Regelungslücken. Entwirft der Gesetzgeber ein Regelungskonzept, so hat er in zureichender Dichte positive Normen zu schaffen. Es ist auf der Höhe der Zeit zu legiferieren, also auf der Grundlage des besten Wissens der Zeit und der sichersten Prognose der Zeit. Erkennbare Erkenntnis- oder Prognoselücken hat der Gesetzgeber zu beheben oder vom Normerlaß abzusehen. Die Pflicht zum vollständigen Gesetz verbietet, in einem Regelungskonzept Ausschnitte offenzulassen mit der Begründung, die Tatsachengrundlage sei unübersichtlich und nur schwer zu ermitteln; dieser Mühe hat sich der Gesetzgeber zu unterziehen. Die Pflicht zur Lückenlosigkeit verbietet auch, in einem Gesetzeswerk nur so weit zu normieren, wie der Konsens reicht. Der Normadressat und ebenso der Gesetzesanwender dürfen nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner abgefunden und über dasjenige, was in den Lücken gelten soll, im Ungewissen gelassen werden. Reicht die Einigkeit, die Entschlußkraft oder der politische Mut nicht zum Erlaß einer geschlossenen und lückenlosen Regelung, so hat sie ganz zu unterbleiben. Die eigene Verzagtheit darf der Gesetzgeber nicht zum Anlaß nehmen, die Gerichte dort einspringen zu lassen, wo er es selbst nicht gewagt oder nicht geschafft hat. Die Entscheidung ist dem Gesetzgeber abzuverlangen. Er hat sich zu ihr durchzuringen oder von einer Regelung abzusehen. c) Beobachtullgs- u1Id Nachbesserullgspflicht Zeigt sich nach Erlaß eines Gesetzes eine anfängliche unbeabsichtigte oder eine nachträgliche Regelungslücke, so hat der Gesetzgeber nachzubessern. Er muß also die Rechtsanwendung durch die Exekutive und die Rechtsprechung beobachten, um ungeregelte Fälle zu erkennen. Dabei ist es nicht seine Aufgabe, nachträglich Normen für jeden aufgetretenen Fall oder für jede von der Rechtsprechung herausgearbeitete Fallgruppe zu schaffen. Solange die Rechtsanwendung aus der Norm erkannt werden kann, ist das Gesetz lückenlos vollstäildig. Ein Nachbesserungsbedarf ist erst gegeben, wenn die Rechtsprechung einen zu entscheidenden Fall mit den gegebenen Tatbeständen und Rechtsfol-

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C. Das vollständige Gesetz

gen nicht mehr für lösbar hält und zum Analogieschluß greift oder die Anwendung des Gesetzes wegen der Lücke verneint, obwohl sie nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers gewollt wäre. Dann ist nachzubessern, um die Berechenbarkeit wiederherzustellen. Der Gesetzgeber darf sich nicht auf fortwährender analoger Anwendung ausruhen, auch wenn sie ihm genehm erscheint. Er hat aus wiederholten Analogieschlüssen allgemeine Regeln zu entwickeln und diese zu positivieren. Eine Lückenfüllung beispielsweise im Bürgerlichen Gesetzbuch bei der positiven Forderungsverletzung, dem Verschulden bei der Vertragsanbahnung und dem Werall der Geschäftsgrundlage ist also schon seit vielen Jahrzehnten überfällig6 . Der Hinweis, es entstehe bei wiederholter, unwidersprochener Rechtsprechungspraxis Gewohnheitsrecht, verfängt gegen die Positivierungspflicht nicht. Die Materie wird überschaubarer, wenn die entscheidenden Rechtsinstitute - auch und gerade die des Alltagsgehrauchs nachzulesen sind. Der Gesetzgeber hat die Leistung der Positivierung zu erbringen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Er kann sich ihr nicht entziehen, indem er die Bildung einer allgemeinen Rechtsüberzeugung abwartet. Die Nachbesserungspflicht ist zu erfüllen, bevor Gewohnheitsrecht entsteht. 111. Zusammenfassung Es besteht eine Pflicht zum vollständigen Gesetz. Der Gesetzgeber schuldet redaktionelle Gründlichkeit und Vollständigkeit, damit der Rechtsanwender , der den Gesetzestext liest, erkennen kann, was gelten soll. Das gebietet die Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstatsprinzips (Art. 20 III, 28 I 1, 103 11 00). Dem Erlaß ungeschriebener Gesetze steht auch Art. 82 I 1 GG entgegen. Die Rechtssicherheit mit ihrem Element der Erkennbarkeit und Vorausschaubarkeit der Rechtsanwendung gebietet zudem, Regelungslücken zu vermeiden und zu beheben. Die Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 III, 97 I GG) und der Exekutive (Art. 20 III GG) gewähren dem Rechtsunterworfenen Schutz vor überraschender Rechtsanwendung, die als Konkretisierung der abstrakten Normbefehle im Einzelfall nicht zu erwarten war. Zur Lückenfiillung ist allein der Gesetzgeber selbst berufen und verpflichtet. Er kann diese Aufgabe insbesondere nicht der Rechtsprechung überbürden. Eine richterliche Gesetzgebung scheitert an seiner Gesetzesbindung (Art. 20 III, 97 I GG), die ihren Sinn verliert, wenn sie zur Disposition des Gebundenen steht. Die Schaffung abstrakter, für alle geltender Normen wird durch die funktionsorientierte Gewaltenteilung (Art. 20 11 2 GG) zudem Parlament und Regierung zugewie68 Vgl. BMJ (Hg.), S. 17 f., 289 ff.

III. Zusammenfassung

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sen, während die Rechtsprechung auf die Einzelfallentscheidung verwiesen bleibt.

D. Das system verträgliche Gesetz Bei der Frage nach einer Pflicht zum system verträglichen Gesetz ist der Begriff der System verträglichkeit nicht als Synonym zur System gerechtigkeit zu verstehen. Am Maßstab der Systemgerechtigkeit wird gemeinhin erörtert, ob der Gesetzgeber von einem gewählten Regelungsprogramm abweichen darf oder ob er durch die einll!al gewählte Regelungstendenz bei der Änderungsgesetzgebung gebunden wird. Während diese Frage bisher überwiegend als Gleichheits- und WillkürprobIem behandelt wurde, ist oben unter dem Aspekt der Änderungsnotwendigkeit bereits gezeigt worden, daß das Übermaßverbot und somit die Freiheitsrechte den Maßstab setzen l . I. Dogmatische Klarheit und Übersichtlichkeit Das systemverträgliche Gesetz trägt zunächst zur dogmatischen Klarheit, Übersichtlichkeit und Einfachheit dcr Rechtsordnung bei. Dic positivicrt(; Rechtsordnung ist gcgliedert in eine Anzahl von Rechtsinstituten, die für sich allein oder in Verbindung miteinander angewandt die vollständige rechtliche Regelung ergeben. Zeigt sich bei der Anwendung der Gesetze der Bedarf einer lückenfüllenden Ergänzung, so kann eine Komplizierung bei der Ergänzung dadurch vermieden werden, daß die einzufügende Regelung sich der vorhandenen Rechtsinstitute bedient, anstalt ein neues zu schaffen. Wenn vor der Änderung von Gesetzen geprüft wird, ob mit den vorhandencn Begriffen und Regelungsstrukturen auszukommen ist, kann die Rcchtsordnung vor einer Zerfaserung bewahrt werden. Die Möglichkeiten, nachträglich vom gcltcnden Vertrag loszukommen, beschränken sich auf einen neuen Vertragsschluß, die Vernichtung dcr eigencn Willenserklärung und den Rücktritt, soweit er vertraglich vereinbart odcr wegen Mängeln des Vertragsvcrhältnisscs gesetzlich ermöglicht wird. In den bis dahin geltenden Grundsatz, daß von unbeschränkt Geschäftsfähigen geschlossene Verträge gelten und einzuhalten sind (pacta SUllt servallcla) und nur einvernehmlich oder ausnahmsweise einseitig die Vcrpflichtungen nachträglich beseitigt werden können, haben §§ 1 I HaustürWG, 7 I VerbrKrG eine von Gesetzes wegen aufschiebend bedingte Wirksamkeit und die Möglichkeit des lOben A IV 2 g, S. 48 ff.

I. Dogmatische Klarheit und Übersichtlichkeit

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Lösens vom geltenden Vertrage hinzugefügt. Der Grundsatzpacla sul/t servallda wird durchbrochen. Es ist nicht ersichtlich, daß der Verbraucherschutz nicht auch mit einer Ergänzung der bestehenden Rechtsinstitute des Bürgerlichen Gesetzbuches - insbesondere des Rücktritts - hätte bewältigt werden können. Damit hätte zum einen ein Herausnehmen eines Teils des Vertragsrecht aus der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches lind zum anderen die Einführung eines neuen Rechtsinstituts vermieden werden können. Die Systemverträglichkeit ist zum einen zu beachten, wenn ändernd in bestehende Regelungen eingegriffen wird, zum anderen, wenn Regelungsbereiche durch Gesetz neu erschlossen werden. In beiden Fällen lohnt der Blick auf die bestehende Rechtsordnung und die Prüfung, ob mit ihren Instrumenten die nun beabsichtigten Regelungen zu bewerkstelligen sind. Die Modifizierung, Erweiterung oder Einschränkung bestehender Rechtsinstitute ist dem Schaffen neuer vorzuziehen. Der neue Regelungskomplex ist in die bestehenden Strukturen einzufügen 2 , nicht schlicht anzuhängen oder danebenzustellen 3 . Ergebnis einer solchen gesetzgeberischen Sorgfalt ist die Reduzierung der Zahl der Rechtsinstitute auf das notwendige Minimum, eine dogmatisch klare, stimmige und übersichtliche Rechtsordnung4, die so einfach wie möglich gestaltet ist. Diese Qualitätsanforderung an das Gesetz kommt nicht nur einem wissenschaftlichen, hermeneutischen und auch praktischen Ideal nahe und leistet zudem gute Dienste bei der Auslegung5 , es ist auch verfassungsrechtlich geboten. Die Anforderungen der Klarheit und Übersichtlichkeit weisen den Weg zur verfassungsrechtlichen Grundlage. Eine überschaubare Systematik, ein Verzicht auf überflüssige Rechtsinstitute, das Verwenden bekannter Strukturen bei Neure1elungen dient der Verständlichkeit und ist schon oben bei der Begriffsbildung in gleicher Weise erörtert worden. Die Pflicht zum dogmatisch klaren und übersichtlichen Gesetz ist somit ein Bestandteil der Pflicht zum verständlichen Gesetz, die gebietet, Normen für die Anwender erkennbar zu gestalten7 .

2 Hili, GgebL, S. 77. 3 Brandner ZG 1990, 46, 58.

4 Brandner ZG 1990. 46, 58 f.; Ebsen DVBI 1988, 883, 884; Kloepfer VVDStRL 40, 63,84; Schlllze-Fielil"l, DÖV 1988, 758, 763. 5 Battis, Systemgerechtigkeit, S. 29 f. 6 B II 6, S. 75 ff. 7 Brandner ZG 1990, 46, 58 f.

110

D. Das systemverträgliche Gesetz

11. Inner- und zwischengesetzliche sachliche Verträglichkeit Neben der dogmatischen Systemverträglichkeit des Gesetzes soll auch die sachliche Systemverträglichkeit erörtert werden: die Verträglichkeit des Regelungsinhalts mit anderen geltenden Regelungen. Hier ist ebenso wie bei der Forderung nach dogmatischer Klarheit und Einfachheit vorauszusetzen, daß Gesetzgebung heute immer eine Rechtsänderung bedeutet. Bei einer dermaßen dichten Normierung, wie wir sie heute vorfinden, nimmt der Gesetzgeber nie einen Neubeginn vor8 , auch dann nicht, wenn er bisher ungeregelte Bereiche gesetzgeberisch erschließt, weil die gesetzlichen Regelungen der Nachbargebiete Auswirkungen zeigen oder beeinflußt werden oder das neu zu regelnde Gebiet bislang von allgemeinen Regeln erfaßt wurde, die nun durch spezielle, die Gegebenheiten besser berücksichtigende ersetzt werden. ('.rcsetzgchung bedeutet stets, Regeln zur geltenden Rechtsordnung hinzuzufügen oder sie aus ihr herauszuschneiden. Beim Hinzufügen neuer zu den geltenden Normen ist in zweierlei Hinsicht Rücksicht zu nehmen. Das neue Gesetz begegnet den geltenden auf gleicher Stufe. Keines von beiden kann die Wirkung des anderen schon aus hierarchischen Gründen beseitigen. Widersprüche sind möglich und zu vermeiden 9 . Rücksicht ist zum einen auf die bestehenden Gesetze zu nehmen. Das neue Gesetz könnte ihre Wirkung beseitigen. Zum anderen ist zu beachten, ob das neue Gesetz die von ihm erwartete Wirkung überhaupt entfalten kann oder ob die geltenden Normen das Erreichen des gesetzgeberischen Ziels verhindern. Regeln zwei Normen denselben Tatbestand, so ist ihre Wirkungsweise nach methodischen Prinzipien zu ermitteln. Das speziellere Gesetz, das durch Verwenden weiterer Tatbestandsmerkmale eine Sonderregelung trifft, geht dem allgemeineren vor (lex specialis derogat leg; generali). Dabei wird nicht in jedem Falle der Problemkreis der sachlichen Systemverträglichkeit berührt. Die speziellere Norm kann gerade zu dem Zweck erlassen werden, einige der auch von der allgemeineren Norm erfaßten Fälle einer besonderen Regelung zu unterwerfen, die durch das Hinzutreten der weiteren Tatbestandsmerkmale gerechtfertigt wird (z.B. §§ 223 I, 223 a und 242 I, 243 StGB). Ebenso kann die allgemeinere Norm der spezielleren nachträglich angefügt werden, um die Fälle im Umfeld der speziellen Norm, die einige der Tatbestandsmerkmale nicht erfüllen, nun einer Regelung zu unterwerfen. Diese Konstellationen führen nicht zur Widersprüchlichkeit in dem Sinne, daß die Normen nicht nebeneinander wirken können. Ihr Anwendungsbereich überschneidet sich nur teilwei-

Brandner ZG 1990. 46, 58; Noll S. 76. 9 Noll S. 104.

8

11. Inner- und zwischengesetzliche sachliche Verträglichkeit

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se, und nur insoweit entsteht ein Konkurrenzverhältnis, das methodisch zu Gunsten der einen oder anderen Norm zu lösen ist. Wenn die neu erlassene Norm der bestehenden im Tatbestand exakt gleicht, so daß keine von beiden einen Vorrang wegen der Spezialität genießen kann, müßte nach methodischen Prinzipien jüngeres Recht dem widersprechenden älteren vorgehen (lex posterior derogat legi priori). Ein Normerlaß, der diesen Grundsatz ausnutzen wollte, ist jedoch nach den bereits erörterten Bindungen des Gesetzgebers verfassungswidrig. Will der Gesetzgeber eine Rechtsfolgenanordnung durch eine andere ersetzen, so hat er entweder die Norm zu ändern oder die alte Norm aufzuheben und eine neue in Kraft zu setzen. Gelten zwei Normen gleichzeitig, von denen die eine der anderen nach methodischen Prinzipien vollkommen die Wirkung nimmt, so ist die Rechtsordnung unnötig kompliziert. Das die Verständlichkeit fördernde Gebot der Einfachheit der Rechtsordnung, das in der Rechtssicherheit und somit im Rechtsstaatsprinzip seine Grundlage findet, verlangt, Gesetze, die nicht mehr gelten sollen, aus der Rechtsordnung zu entfernen. Ein Änderungsgesetz, da.. den Normbestand vermehrt, obwohl dies durch die Beseitigung derjenigen Gesetze, die nicht mehr gelten sollen, vermieden werden könnte, kompliziert die RechtsorduullJ!, unnötig und ist deshalb verfassungswidrig. Wenn sich nicht die Tatbestände, sondern die Rechtsfolgen decken, überschneiden oder entgegenstehen, helfen die methodischen Prinzipien nicht, Widersprüche zu vermeiden. Es geht dabei nicht mehr um ein Problem der Normgeltung und des einfachsten Mittels, mit dem diese herbeizuführen ist, sondern um die Frage der sachlichen Verträglichkeit mehrerer geltender Normen. Verengt man die Betrachtung auf jeweils eine einzelne Norm, so ist festzustellen, daß sie die von ihr angeordnete Wirkung entfaltet. Erst die Berücksichtigung der Wirkungen der anderen Normen und das Ergebnis ihrer gemeinsamen Geltung zeigt eine sachliche Unverträglichkeit, weil keines der beteiligten Gesetze seinen Zweck erfüllen kann oder das Zusammenwirken ein Ergebnis hervorbringt, daß von keinem Gesetz gewollt oder sogar ausdrücklich nicht gewollt ist. Auf diese Weise kann bereits ein Gesetz in sich unstimmig sein, wenn die in ihm vereinigten Normen sachlich unverträglich zusammenwirken (innergesetzliche Unverträglichkeit lO). Werden in einer Prozeßordnung zur Verfahrensbe-

10 Kloepfer hat diesen Problembereich mit der Frage nach einer etwaigen Pflicht zur intranormativen Konsequenz und zur internormativen Konsequenz zwischen Gesetzen zur Diskussion gestellt (VVDStRL 40, 63, 84). Da dort ebenso wie hier das Gesetz als die Vereinigung IIIchrerel Normen, als das im Verkündungsblatt erscheinende Gesamtwerk betrachtet wird, erscheint die gewählte Begriffsbildung passender.

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D. Das systemverlrägliche Gesetz

schleunigung rigide Ausschlußfristen angeordnet, bei deren Versäumen das eigene Vorbringen nicht mehr berücksichtigt oder sogar das gegnerische Vorbringen der Entscheidung ungeprüft zu Grunde gelegt wird, so führten großzügige Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Staud zu innergesetzlicher Unverträglichkeit. Beide Bestimmungen gelten und ergeben je für sich allein betrachtet einen Sinn. Erst ihr Zusammenwirken beseitigt das angestrebte Ziel, Prozeßverschleppung zu vermeiden. Sachliche Unverträglichkeit kann sich auch durch das Zusammenwirken von Normen verschiedener Gesetze ergeben, auch über die Grenzen der Rechtsgebiete hinaus (zwischengesetzliche Unverträglichkeit). Liegt der Betrag, mit dem § 850 c ZPO die Pfändungsfreigrenze festlegt, unterhalb des Betrages, durch den das Merkmal der Hilfebedürftigkeit im § 54 III NI. 2 SGB I ausgelegt wird 11 , so regt das einen arbeitenden Schuldner an, entweder Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundess07ülhilfegesetz in Anspruch zu nehmen, um zumindest die Differenz zwischen dem Existen7. mininmm und der Pfändungsfreigrenze auszugleichen, so daß die Sozialhilfe indirekt den Gläubigern zu Gute kommt, oder die Mühen der Arbeit aufzugeben, um sich ganz auf die Sozialhilfe zu verlassen, so daß die Gläubiger leer ausgehen. Beide Varianten liegen außerhalb des von den genannten Normen jeweils verfolgten Zweckes. Keine von beiden führt allein zu dem mißliebigen Ergebnis, sondern erst ihr Zusammenwirken, ihre sachliche Unverträglichkeit. Das Sechste Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen 12 hat das Gefälle vorerst ausgeglichen, indem es z.B. die Pfändungsfreigrenze für einen Schuldner ohne Unterhaltsverpflichtungen auf DM 1.209 erhöht hat, während der Regelsatz nach § 22 BSHG am 1. Juli 1992 für Alleinstehende DM 50913 betrug und der dil~ IIilfcbedürftigkeit beschreibende Betraf mit dem Doppelten bis Zweieinhalbfachen des Regelsatzes veranschlagt wird 4. Die Regelsätze sollen allerdings halbjährlich der Entwicklung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten angepaßt werden (§ 22 III 3 BSHG); für die Jahre 1992 bis 1996 enthält § 22 IV BSHG die öffentlichen Kassen schonende Sonderregelungen. Die Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO wurden hingegen in der Vergangenheit nur alle sechs bis acht

11 Vgl. BFH NJW 1992, 855, 856; Kohle N.lW 1992. 393, 395. 12 Vom 1. April 1992 (BGBI. I, 745). 13 Als Beispiel dient der niedersächsische Regelsatz; vgl. Knopp/Fi,·hlner/lVienandS. 656. 14 Kohle NJW 1992, 393, 395.

11. Inner- und zwischengesetzliche sachliche Verträglichkeit

113

Jahre verändert 15 . Erst wenn die Beträge dauerhaft aufeinander abgestimmt oder gleichzeitig und gleichmäßig erhöht werden, kann hier zwischengesetzliche sachliche Unverträglichkeit vermieden werden. Die soziale Wirklichkeit im Inland wird nicht nur durch die innerstaatliche Rechtsordnung, sondern auch durch ausländische Normen beeinflußt. Wird bei Erlaß eines innerstaatlichen Gesetzes dessen Unverträglichkeit mit ausländischen Regeln in Kauf genommen, so kann dies zu Wirkungen führen, die mit dem Gesetz nicht beabsichtigt waren. Ein Gesetz, das im Inland die Mineralölsteuer dermaßen erhöht, daß sich für Kraftfahrer ein Umweg zu ausländischen Tankstellen lohnt, bei denen der Treibstoff wesentlich billiger angeboten wird, entzieht den inländischen grenznahen Tankstellen die Wettbewerbsfähigkeit und liefert ihre Betreiber dem Ruin aus. Das Interesse, den mit einem Gesetz verfolgten Zweck möglichst uneingeschränkt zu erreichen und zugleich unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden, die den Nutzen der Zweckerreichung mindestens schmälern, legt es jedenfalls nahe, die inner- und zwischengesetzliche sachliche Verträglichkeit zu beachten und das zu erlassende Gesetz und die bestehenden berührten Regelungen einander anzupassen. Ein allgemeinens Zweckmäßigkeitsgebot ist dem Grundgesetz jedoch nicht zu entnehmen. Nur für krasse Fälle ist eine allgemeine verfassungsrechtliche Schranke ersichtlich. Die sachliche Unverträglichkeit nebeneinander geltender Gesetze kann so weit gehen, daß sie sich in ihren Wirkungen gegenseitig aufheben. Ordnet das eine Gesetz als Rechtsfolge A an und führt das andere zur Wirkung minus A, so ist das Ergebnis ihres Zusammenwirkens null. Die Gesetze haben die Wirkung zweier Kräfte, die auf einen Punkt - den Lebenssachverhalt - mit gleichem Betrag in entgegengesetzte Richtungen einwirken: Stillstand trotz Ressourcenverschleißes ist die Folge. Belasten diese Gesetze den öffentlichen Haushalt, so steht der Ausgabe keinerlei Ertrag gegenüber. Wer durch eines dieser Gesetze in Anspruch genommen wird, müßte sich Einschränkungen für nichts gefallen lassen. Die I~cgd\ll1gen wären ihr Selbstzweck 16 . Da der Staat bei seiner Tätigkeit aber stets zweckgebunden ist - nämlich auf Rechtsgütergarantie und -schutz zu Gunsten seiner Bürger verpflichtet -, würden die Regelungen wegen ihrer Sinnlosigkeit am Freiheitsanspruch der Rechtsu/lterworfenen scheitern. Auch das Gebot der Rechtsklarheit und Einfachheit der Rechtsordnung steht entgegen. Das einfach-

15 Nach dem Einfügen des § 850 c ZPO durch Gesetz vorn 20. August 1958 (BGBI. I, 952) wurden die Pfändungsfreigrenzen durch die Gesetze vorn 26. Februar 1959 (BGBI. I, 49), 9. August 1965 (BGBI. I. 729). 1. März 1972 (BGBI. I. 221). 28. Februar 1978 (BGBI. I, 333), 8. März 1984 (BGBI. I. 364) und vorn 1. Aprilt992 (EGBI. I. 745) geändert. 16 Noll, S. t05, spricht von einer unwahren Norm. ohne die Rechtsfolge dieser Feststellung, nämlich die Verfassungswidrigkeit. zu benennen. 8 Burghart

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D. Das systemverträgliche Gesetz

ste und verständlichste Mittel, um nichts zu bewirken, sind nicht zwei Gesetze, sondern kein Gesetz. WeIches der Gesetze beseitigt werden müßte, um den verfassungswidrigen Zustand zu beheben, läßt sich am Maßstab der Verfassung oder anband methodischer Grundsätze nicht entscheiden. Zwar ist die Wirkungsneutralität erst bei Hinzutreten des jüngeren Gesetzes entstanden, da jedoch eine sachliche Unverträglichkeit besteht, ohne daß dieselben Sachverhalte geregelt werden, genießt das jüngere Gesetz keinen methodischen Vorrang. Ebensowenig kann man es als die alleinige Ursache des Zustandes der Wirkungslosigkeit bezeichnen. Dazu führt erst das Zusammenwirken bei der Gesetze. Zwar trat das jüngere Gesetz später hinzu, mit seinem Inkrafttreten steht es jedoch gleichrangig neben dem älteren. Eine Lösung des Widerspruches kann durch das Verschwinden des einen oder des anderen oder beider Gesetze erfolgen. Da die Entscheidung für eine der entgegenstehenden Rechtsfolgen oder für das Beibehalten der Wirkungsneutralität der Gesetzgeber zu treffen hat, verfallen beide Regelungen der Verfassungswidrigkeit, soweit sie einander gegenseitig die Wirkung nehmen. Wenn die Unverträglichkeit keine vollkommene Neutralisierung herbeiführt - so bei den aufgeführten Beispielen -, kann von einer Sinnlosigkeit der beteiligten Normen nicht gesprochen werden. Zwar erfüllen sie ihren Zweck nur unvollkommen oder bewirken unerwünschte Nebenfolgen, das staatliche Gebieten bleibt jedoch - wenn auch eingeschränkt - zweckhaft und sinnvoll. Allgemein kann ein Scheitern am Freiheitsanspruch der Rechtsunterworfenen deshalb nicht festgestellt werden17 . Erst die Prüfung jedes Einzelfalles kann ergeben, daß die Regelungen an berührten Grundrechten scheitern, weil die Einschränkungen mit dem minimalen Ertrag nicht zu rechtfertigen sind, oder daß gerade erst das Zusammenwirken der unverträglichen Gesetze in grundrechtliche Schutzbereiche eingreift, ohne eine Rechtfertigung zu bieten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungswidrigkeit einer Norm festgestellt, die nicht allein, sondern erst im Zusammenwirken mit Regelungen eines anderen Rechtsgebiets ein zu beanstandendes Regelungsdefizit in bezug auf eine Schutzpflicht ergab 18 . Die sachliche System widrigkeit kann schließlich die Rechtslage so unübersichtlich und verworren erscheinen lassen, daß sich die Verfassungswidrigkeit wegen der Unverständlichkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, weil nicht mehr erkennbar ist, was angeordnet werden so1l19. Auch hier müssen alle beteiligten Normen der Verfassungswidrigkeit verfal17 Degenhart, DÖV 1981, 477, 484, verneint zwar ebenfalls ein allgemeines Gebot der Einheit der Rechtsordnung, das Wertungswidersprüchen zwischen den Rechtsgebieten entgegenstünde, erkennt aber ein Abschwächen rechtsstaatlicher Gehalte. 18 BVerfGE 82,60, 83 f. (Kindergeldkürzung). 19 BVerfGE 19, 187, 197; 30, 367, 388 hegen für diesen Fall "ernsthafte Zweifel an der Verfassungsgemäßheit". Vgl. oben B 11, S. 65 ff.

III. Zusammenfassung

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len, wenn nicht die Unverträglichkeit gerade durch eine Regelung hervorgerufen wird, während die anderen in anderen Rechtsbenehungen nicht zu beanstandende Wirkungen herbeiführen20 . III. Zusammenfassung Die Pflicht zu dogmatisch klaren, stimmigen und übersichtlichen Gesetzen, in denen die Zahl der Rechtsinstitute auf ein notwendiges Minimum redunert bleibt, ist ein Bestandteil der Pflicht zum verständlichen Gesetz, die gebietet, Normen für die Anwender erkennbar zu gestalten. Sachliche inner- oder zwischengesetzliche Unverträglichkeit führt zur Verfassungswidrigkeit von Normen, deren Rechtsfolgeanordnungen sich gegenseitig aufheben, so daß die Normen zum Selbstzweck werden. Behindern sich die Normen lediglich gegenseitig beim Erreichen ihrer jeweiligen Zwecke oder führt ihr Zusammenwirken zu unerwünschten Nebenfolgen, so kann diese Wirkung gegen das Grundgesetz verstoßen. Auch hier kann die Pficht zum verständlichen Gesetz entgegenstehen. Einen allgemeinen Maßstab für eine Pflicht zum sachlich system verträglichen Gesetz enthält das Grundgesetz nicht.

20 Vgl. BVerfGE 82,60,84 f. (Kindergeldkürzung); 87, 114, 136 (Kleingarten). 8*

E. Das funktionsgerechte, zielsichere Gesetz Mit dem Gesetz soll durch Ge- und Verbote gestaltend auf die soziale Wirklichkeit eingewirkt werden. Um den verfolgten Zweck zu erreichen, schränkt der Gesetzgeber die ursprüngliche Freiheit der Normadressaten ein, nimmt sie für den verfolgten Zweck in Anspruch und bedient sich des Apparates der zweiten und dritten Gewalt. Die Frage nach der Funktionsgerechtigkeit und Zielsicherheit des Gesetzes will klären, ob die angeordneten Regelungen als Instrumente zur Gestaltung der Wirklichkeit tatsächlich tauglich sind und ob sie das anvisierte Ziel erreichen und ihren Zweck erfüllen können.

I. Der Zweck des Gesetzes Der Zweck des Gesetzes ist somit Maßstab der Beurteilung der Eignung der eingesetzten Mittel zur Zweckerfüllung. Aber dies ist nicht der eigentliche Grund dafür, daß das Gesetz zunächst überhaupt ein Ziel verfolgen muß. Der Staat des Grundgesetzes besteht nicht um seiner selbst willen, sondern um die Freiheit seiner Bürger zu garantieren und zu schützen. Sein Handeln darf deshalb nicht zum Selbstzweck verkommen, die Freiheit der Bürger sinnlos beschränken oder die eigenen Ressourcen ohne Ziel verbrauchen. Die Frage, welche Ziele der Staat mit dem Gesetz als allgemeinverbindlichem Regelungsund Zwangsinstrument verfolgen darf, ist somit am Maßstab des Freiheitsanspruches der Bürger zu beantworten. Die Erörterungen, ob überhaupt ein Gesetz erlassen werden darf, sind oben bei der Pflicht zum notwendigen Gesetz angestellt worden l . Die Vorfrage nach einem tatsächlichen Anlaß zur Staatstätigkeit ist also zum einen für den Rechtfertigungszwang von Interesse, dem die staatliche Reglementierung unterworfen ist, und zum anderen als Maßstab der Funktionstüchtigkeit der eingesetzten Mittel. Besteht ein Bedürfnis nach staatlicher Regelung, das eine Rechtfertigung bietet, so müssen die eingesetzten Regelungen der Befriedigung dieses Bedürfnisses dienen. Zumeist sind mehrere Mittel und Wege denkbar, um zum gesetzgeberischen Ziel zu gelangen. Daß nur diejenigen Mittel vor der Verfassung Bestand haben können, die den zu regelnden Zustand dem Regelungsziel überhaupt näher bringen, so daß die völlig ungeeigneten Regelungsinstrumente 1 Siehe insbesondere A IV 2 c, d, S. 43 ff.

11. Gesetz und Naturgesetz

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verfassungswidrig sein müssen, ergibt sich schon aus der Pflicht zum notwendigen Gesetz. Wenn der Freiheitsanspruch nur solche Gesetze zuläßt, die zur Behebung eines erkannten Mißstandes unerläßlich sind, weil nichtstaatliche Selbstregulierung oder ungeregeltes Treibenlassen versagen, so müssen auch alle Mittel scheitern, die keinen Bezug zum Regelungsziel haben und somit von der von ihm vermittelten Rechtfertigung nicht erfaßt werden können. An der Pflicht zum zielgerichteten Gesetz scheitern also die gänzlich untauglichen Mittel 2 • Diese Erkenntnis stimmt mit dem herkömmlichen Kriterium der Geeignetheit als Bestandteil des Übermaßverbotes überein, nach dem das Gesetz den gesetzten Zweck wenn schon nicht erreichen, so doch zumindest fördern muß.

Zwei Aspekte mangelnder Funktionsgerechtigkeit sollen kurz beleuchtet werden. 11. Gesetz und Naturgesetz Das Gesetz kann sich nur an Menschen wenden. Nur sie sind durch ihre Sprachbegabung zu begrifflicher Abstraktion befähigt, so daß sie Befehle (Gebote und Verbote) begreifen und befolgen können, indem sie sie als Maßstab ihrer Verhaltenssteuerung verwenden, ohne daß es eines nachzuahmenden Vorbildes oder einer physischen Einwirkung auf den Adressaten bedarf. Aber auch gegenüber Menschen ist der Befehl als Mittel der Verhaltenssteuerung nur soweit tauglich, wie die Möglichkeiten seines Handeins reichen. Diese werden zum einen durch die Naturgesetze begrenzt. Naturgesetze sind für Menschen unverrückbar. Sie sind selbst Objekte physikalischer, chemischer und biologischer Gesetzmäßigkeiten, können sie aber nicht beeinflussen. Gesetzesbefehle, die diese Unverrückbarkeit ignorieren, verlangen Unmögliches; sie sind als gesetzgeberisches Mittel völlig untauglich zur Zweckverfolgung und somit verfassungswidrig. Verbietet ein Gesetz, das das Vermeiden von Unfällen im Straßenverkehr bezweckt, daß Fahrzeuge beim Druchfahren enger Kurven mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abkommen, so steht dieser Befehl physikalischen Notwendigkeiten entgegen und ist deshalb zur Zweckverfolgung untauglich. Das Gesetz kann nicht die Wirkungen naturgesetzlicher Zusammenhänge verbieten, es hat die Ursachen anzugreifen, also

2 BVerfGE 2, 266, 280 (Notaufnahme); 30, 250, 265 (Sonderumsatzsteuer); 39. 210, 230 f. (MühlenstrukturG). Auch Leisner, S. 25 L, der das Grundgesetz für "im ganzen effizienz· neutral" hält, kann ihm immerhin ein Gebot der "Gerade-noch-Wirksamkeit" entnehmen.

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E. Das funktionsgerechle, zielsichere Gesetz

hier etwa Geschwindigkeitsbegrenzungen zu verordnen. Die Untauglichkeit ist hier so frappant, daß ein solcher Fall kaum je vorkommen wird. Der Gesetzesbefehl stößt auch bei der Verhaltensmotivation auf natürliche Grenzen. Auch das menschliche Verhalten wird durch naturgesetzliche Notwendigkeiten bestimmt. Der Mensch ist durch seine biologische Ausstattung, durch genetische Informationen für bestimmte Verhaltensweisen programmiert oder prädisponiert3 • Das menschliche Verhalten steht motivierenden Einwirkungen durch gesetzliche Gebote und Verbote deshalb nicht unbeschränkt zur Verfügung. Ein gesetzgeberisches Mittel, das über diese biologischen Prädispositionen verfügen wollte, ist untauglich, das gesteckte Ziel zu erreichen. Ein schöpferischer Freiraum des Gesetzgebers besteht lediglich in den Grenzen der norm prägenden Vor gegebenheiten4• Zum einen versagt das Gesetz in seiner Funktion, verhaltensmotivierend und -steuernd zu wirken, wenn das angeordnete Verhalten naturgesetzlich programmiert ist, wenn der Mensch für dieses Verhalten prädisponiert ist. Dann geht die Anordnung ins leere. Sie trägt zur Zweckverfolgung nichts bei und ist deshalb völlig untauglich. Es handelt sich nicht um ein Gebot, sondern um eine Beschreibung des naturgesetzlich vorgegebenen Verlaufs. Am deutlichsten wird dies, wenn das gesetzlich Befohlene selbst menschlicher Überlegung unzugänglich ist, wenn das entsprechende Verhalten steuerungslos, ohne daß eine Alternative in Betracht gezogen werden kann, abläuft. Ein Gesetz,· das zur Vermeidung von Unfällen im Haushalt vermeintlich gebietet, die Hand nach dem versehentliehen Berühren einer heißen Herdplatte sofort zurückzuziehen, enthält kein Gebot, sondern eine Beschreibung. Es liefert kein Mittel zur Zweckverfolgung, sondern teilt lediglich mit, was auch ohne Gesetz zur Förderung des Zwecks geschieht. Andererseits muß auch ein solcher Gesetzesbefehl versagen, der Unmögliches abverlangt, indem er gebietet, die biologischen Prädispositionen zu ignorieren oder zu mißachten. Das Gesetz kann Verhaltensncigungen durch seinen Befehl unterstützen und ihnen so zum Durchbruch verhelfen, es scheitert jedoch als Mittel der Wirklichkeits gestaltung, wenn es den Normadressaten ein Verhalten abverlangt, das den Verhaltensweisen entgegengesetzt ist, die durch genetische Prädispositionen, Entwicklungsereignisse, Lernerlebnisse und Umwelteinflüsse festgelegt und einer Veränderung nicht zugänglich sind 5 . Das Gesetz kann menschliches Verhalten nur soweit beeinflussen, wie dieses überhaupt formbar ist. Die Grenzen dieser Formbarkeit hat der Gesetzgeber als un3 Gruter S. 27. 33 und passim. 4 Eichenberger VVDStRL 40, 7. 13. 5 Gruter S. 34, 36, 88 und passim.

IlI. Vollzugsgeeignetheit

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verrückbare tatsächliche Voraussetzungen zu berücksichtigen, damit ein funktionsgerechtes Gesetz entstehen kann.

111. Vollzugsgeeignetheit Ein gesetzliches Gebot kann nur dann zur Zweckverfolgung beitragen, wenn es angewandt und vollzogen werden kann. Die Vollzugseignung fragt nicht nach der Befolgungsfähigkeit für den Bürger, sondern nach der Handhabbarkeit für den staatlichen Rechtsstab in Verwaltung und Rechtsprechung. Jede gesetzliche Regelung bedarf des Vollzuges durch Organe der zweiten oder dritten Gewalt oder durch ihr gemeinsames Wirken. Viele Gesetze sind von vornherein darauf angelegt, daß es zur Entfaltung der von ihnen beabsichtigten Rechtswirkung einer vollziehenden Tätigkeit bedarf. Viele Steuergesetze sehen vor, daß der gesetzlich festgelegte Geldbetrag erst dann zu zahlen ist, wenn ein entsprechender Bescheid ergangen ist. Sieht ein Gesetz eine Subvention vor, so kann der Begünstigte erst dann in den Genuß der staatlichen Förderung kommen, wenn an ihn gezahlt wird. Aber auch die Normen, die scheinbar vollzugslos gelten - wer verkauft, muß Eigentum und Besitz verschaffen (§ 433 I 1 BGB); während der Fahrt sind Sicherheitsgurte anzulegen (§ 21 a I StVO) -, bedürfen der Möglichkeit des Vollzuges. Es ist die Eigenart des Gesetzesbefehls, daß es zu seiner Befolgung die Alternative des Widersetzens gibt. Gibt es diese Alternative nicht, weil eine Nichtbeachtung des Gesetzes gar nicht denkbar ist, so handelt es sich nicht um einen Befehl, sondern um eine Beschreibung dessen, was notwendig geschehen muß. Ein solches Gesetz ist - wie soeben gezeigt - kein Mittel zur Zweckverfolgung und deshalb nicht funktionsgerecht und verfassungswidrig. Hat der Adressat jedoch die Wahl, das Gesetz zu befolgen oder es zu mißachten, so hat der Staat sicherzustellen, daß diese Wahl zu Gunsten des Befolgens ausfällt oder in diesem Sinne korrigiert wird. Es darf ihm nicht gleichgültig sein, ob Gesetze beachtet werden oder nicht. Wenn es ihm nicht darauf ankommt, daß die Adressaten ihr Verhalten der Anordnung gemäß einrichten, so fehlt für ein Gesetz der Anlaß. Dann braucht der Rechtsstoff nicht vermehrt zu werden, dem Bürger nicht vorgespiegelt zu werden, er habe eine Norm zu beachten, und sein Freiheitsanspruch, vom reglementierenden Staat in Ruhe gelassen zu werden, braucht durch die Pflicht zur Kenntnisnahme und Beachtung einer Norm, deren Einhaltung der Staat gleichgültig gegenübersteht, nicht geschmälert zu werden. Hier darf der Staat nicht mit einem Gesetz zunächst Beachtung verlangen und damit Freiheit einschränken, obwohl das Gesetz nichts enthält, was der Beachtung bedarf. Empfehlung, Ratschlag, Appell, Hinweis und unverbindliches Programm sind für diese Fälle die richtige staatliche

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E. Das funktionsgerechte, zielsichere Gesetz

Handlungsform, wei1 dem Bürger so von vornherein ersicht1ich ist, daß er sich darum nicht zu kümmern braucht. Die Verordnung über eine aHgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähn1ichen Straßen6 ist somit verfassungswidrig. Daß es ihr an jeg1ichem Anspruch auf Verbind1ichkeit mangelt, ist bereits dem Wortlaut zu entnehmen. We1che Vollzugsmittel der Gesetzgeber vorzusehen hat, ist einer allgemeinen Vorgabe nicht zugänglich. Ob die VoHzugsorgane nur auf Anforderung desjenigen tätig werden sollen, der eine Rechtsverletzung geltend macht, oder ob von Amts wegen präventive oder repressive Kontrollen durchzuführen oder Sanktionen anzudrohen und durchzusetzen sind, ist eine Frage der Wahl des gesetzgeberischen Mittels. Das eingesetzte Vollzugsmittel muß jedenfalls geeignet sein; es muß zur Durchsetzung der Beachtung des Gesetzesbefehls beitragen können. Die Grundlage g1eicht der oben beim Gesetzeszweck erörterten: Eignet sich das Vollzugsmittel nicht, so scheitert es am Verfehlen des eigenen Zweckes; zum anderen läßt es den Befehl, dem es zugeordnet ist, unvollzogen und gibt damit die gesamte Regelung der Verfassungswidrigkeit preis. Die vollzugsbedürftige Norm selbst muß vollziehbar sein. Die mitdem Vollzug betrauten Behörden und Gerichte müssen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten den Vollzug bewerkstelligen können. Die Handhabbarkeit der anzuwendenden Norm muß -der Organisation entsprechen, die sie anwenden soll7. Der Gesetzgeber hat materielles Recht einerseits und Verfahrens-, Organisations- und Prozeßrecht andererseits funktionsgerecht aufeinander abzustimmen. Dabei zählen Konstellationen zu Seltenheiten, in denen materielles Recht und Vollzugsvoraussetzungen g1eichzeitig geschaffen und von anderen Einflüssen unberührt aufeinander abgestimmt werden können. Zumeist wird die neue oder veränderte Norm bestehenden Vollzugsorganen anvertraut, so daß entweder das materielle Recht der Vollzugsorganisation und dem bestehenden Vollzugsrecht anzupassen ist oder das Vollzugsrecht dem neuen materiellen Recht, um Funktionsgerechtigkeit zu erreichen. Entweder hat das neue Strafgesetz Tatbestände zu enthalten, deren Erfüllung mit den Mitteln des herkömm1ichen prozessualen Beweisrechts nachzuweisen ist, oder das Beweisrecht ist dem neuen Tatbestand anzupassen. Bei der Überweisung des Vollzugs einer neuen Norm in die Zuständigkeit einer bestehenden Behörde hat der Gesetzgeber zu beachten, daß diese die nötige Sachkunde und die sonstigen tatsächlichen Voraussetzugen für den Vollzug aufweist - nötige Personalstärke, Ausstattung mit technischen Geräten -, oder er muß die Vor6 Vom 21. November 1978 (BGB!. I, 1824). 7 Amelung ZStW 92 (1980), 19, 27 ff.

IV. Zusammenfassung

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aussetzungen schaffen, damit die Behörde die Vollzugsfähigkeit vor Inkrafttreten der Norm erlangen kann. Auch die Formulierung und die Struktur der Tatbestände und Rechtsfolgen ist für die Vollzugseignung von Bedeutung. Daß der Gesetzgeber den Verständlichkeitsmaßstab am Kreis der Gesetzesanwender zu orientieren hat, ist oben bereits erörtert worden 8 . Soll die Gesetzesanwendung in einem Verfahren ohne Eile und mit der Möglichkeit eingehender Prüfung und gründlicher Berücksichtigung aller beteiligten Interessen erfolgen, so kann detaillierter geregelt werden als etwa in einem Polizeigesetz, das sich gerade dann bewähren soll, wenn die Brisanz der Situation eine schnelle, wirksame und dennoch rechtmäßige Entscheidung verlangt, ohne daß langwierige Prüfungen durchführbar wären oder auch nur ein Blick in den Gesetzestext geworfen werden könnte. Gleichgültig, ob gemächlich oder eilig zu vollziehen ist, die Gebote der Verständlichkeit, Bestimmtheit und Vollständigkeit sind bezogen auf den professionellen Anwender - zu beachten, um für die Beurteilung der zu lösenden Fälle Maßstäbe vorzugeben9 , anstatt durch vollzugsungeeignete Floskeln zu offenbaren, daß die Problemlösung auf die zweite und dritte Gewalt abgewälzt werden sollte.

IV. Zusammenfassung Da der Staat des Grundgesetzes nicht um seiner selbst willen besteht, sondern um die Freiheit seiner Bürger zu garantieren und zu schützen, darf sein Handeln nicht zum Selbstzweck verkommen, die Freiheit der Bürger sinnlos beschränken oder die eigenen Ressourcen ohne Ziel verbrauchen. Der Zweck des Gesetzes ist zugleich Maßstab der Beurteilung der Eignung der eingesetzen Mittel zur Zweckerfüllung. Völlig ungeeignete Regelungsinstrumente sind verfassungswidrig. Wenn der Freiheitsanspruch nur solche Gesetze zuläßt, die zur Behebung eines erkannten Mißstandes unerläßlich sind, so müssen auch alle Mittel scheitern, die keinen Bezug zum Regelungsziel haben und somit von der von ihm vermittelten Rechtfertigung nicht erfaßt werden können. Der Gesetzesbefehl ist als Mittel der Verhaltenssteuerung nur soweit tauglich, wie die Möglichkeiten menschlichen HandeIns reichen. Er hat Naturgesetze als unverrückbar hinzunehmen und stößt auch bei der Verhaltensmotivation auf natürliche Grenzen. Ein gesetzgeberisches Mittel kann über biologische Prädispositionen nicht verfügen. Das Gesetz kann naturgesetzlich programmiertes Verhalten nicht befehlen, sondern nur beschreiben und deshalb zur Zweckverfolgung nichts beitragen. Es muß andererseits auch versagen,

8 Siehe oben B II 2 ff., S. 67 ff. 9 BVerfGE 52, 1,42 (Kleingarten).

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E. Das funktionsgerechte, zielsichere Gesetz

wenn es Unmögliches abverlangt, indem es gebietet, die biologischen Prädispositionen zu ignorieren oder zu mißachten. Das Gesetz muß sich zum Vollzug eignen. Stünde der Staat der Gesetzesmißachtung gleichgültig gegenüber, so bedürfte es der Freiheitsbeschränkung durch den vermeintlichen Befehl nicht. Der Staat darf dem Bürger nicht vorspiegeln, er habe einen Befehl zur Kenntnis zu nehmen und zu beachten, obwohl das Gesetz nichts enthält, was der Beachtung bedarf. Die eingesetzten Vollzugsmittel müssen zur Durchsetzung der Beachtung des Gesetzesbefehls beitragen können. Die vollzugsbedürftige Norm selbst muß vollziehbar sein. Entweder ist das materielle Recht der Vollzugsorganisation und dem bestehenden Vollzugsrecht anzupassen oder das Vollzugsrecht dem neuen materiel1en Recht, um Funktionsgerechtigkeit zu erreichen.

3. Abschnitt F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes Nachdem festgestellt ist, daß der Gesetzgeber zum guten Gesetz verpflichtet ist, wodurch sich ein gutes Gesetz auszeichnet und worauf die Pflicht beruht, soll in diesem Abschnitt gezeigt werden, durch welche Verfahrenshandlungen das Ergebnis eines guten Gesetzes zu fördern ist. Danach sollen die Adressaten der Pflicht zum guten Gesetz benannt werden, um schließlich zur verfassungsgerichtlichen Prüfung der Pflichterfüllung zu kommen. Dort wird dann auch zu klären sein, ob die Pflicht zum guten Gesetz allein eine Ergebniskontrolle zuläßt oder ob auch ein mangelndes Bemühen um ein gutes Gesetz von Verfassungs wegen beanstandet werden kann. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf diesem letzten Abschnitt. Einige Einzelheiten, die auch schon zuvor untergebracht werden könnten, finden sich erst dort bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, um Wiederholungen zu vermeiden. I. VerfahrensschriUe zum guten Gesetz Die Frage, auf welche Weise ein gutes Gesetz hervorgebracht werden kann, hat bereits vielfach Antworten gefunden. Diese sollen hier nicht in allen Einzelheiten zusammengetragen und wiederholt werden. Bei der Darstellung der Qualitätsanforderungen an das gute Gesetz ist jedoch an einigen Stellen auf Anforderungen an die Methodik der Gesetzgebung verwiesen worden. Auf diese Hinweise des Verfahrensergebnisses, auf das zu ihm führende Verfahren soll hier eingegangen werden. Der Gesetzgeber, der gestaltend auf die soziale Wirklichkeit einwirken will, um Veränderungen herbeizuführen oder zu verhindern, muß wissen, 1. welche ungeregelte Wirklichkeit er vorfindet, 2. was er erreichen will, 3. ob und wie dieses Ziel erreicht werden kann, 4. welche Wirkungen die erlassene Regelung zeigt und ob die erwünschten darunter sind, 5. wie gegebenenfalls korrigierend eingegriffen werden kann. Für vier dieser fünf Stationen ist genaue Tatsachenkenntnis die Voraussetzung für eine taugliche gesetzgeberische Entscheidung. Ohne auf Einzelheiten vorzugreifen, kann deshalb schon beim Überblick festgestellt werden, daß ein Verfahren, das zum guten Gesetz führt, ganz we-

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F. Das Zustande kommen eines guten Gesetzes

sentlich von solchen Anforderungen beherrscht wird, die nicht zu denjenigen gehören, die im allgemeinen an die politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozesse gestellt werden. 1. Zwecksetzung, Tatsachenfeststellung und Prognose

Ursprung des Gesetzgebungsverfahrens ist die Festlegung des gesetzgeberischen Zweckes. Er rechtfertigt das staatliche Gebieten oder entlarvt es als unnötig, überflüssig und somit verfassungswidrig. Die Zieldefinition ist die grundlegende politische Leistung, die der Entscheidung, ob ein Gesetz erlassen werden darf, vorausgeheIl muß. Mit der Vorgabe eines Ziels wird aber nur dann auch eine Richtung angegeben, wenn der momentane Standpunkt bekannt ist. Am Maßstab dessen, was sein soll, kann nur dann beurteilt werden, ob ein Anlaß zum Gesetzeserlaß besteht, wenn man weiß, was ist. Erst die Kenntnis der Gegebenheiten läßt auch mehr als nur ganz allgemeine Festlegungen der Handlungszwecke zu. Die Zielbestimmung, alle Menschen sollten gesund und munter sein, ist zu allgemein, um ermessen zu können, ob das Aufstellen von Regelungen zur Zweckverfolgung notwendig ist. Nur wenn bekannt ist, welche Krankheiten vielen Menschen drohen, kann ihre Bekämpfung oder Eindämmung als Weg zum Ziel formuliert werden, um sodann zu prüfen, ob dazu Regelungen - etwa ein Impfgebot - nötig sind. Tatsachenkenntnis kann auch die Formulierung neuer Soll zustände nahelegen oder die Konkretisierung allgemeiner Handlungszwecke ermöglichen. Erst die Erkenntnis, daß sich familiäre und andere soziale Verbände auflösen und Pflegebedürftige vermehrt entgeltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen haben, ermöglicht die Zieldefinition, niemand solle wegen mangelnder eigener Finanzkraft von Pflege und Betreuung ausgeschlossen sein. Die weitere Kenntnis, daß benötigte Leistungen für viele unbezahlbar sind, zeigt den Anlaß zu reglementierendem Eingriff und eröffnet die Wahl zwischen der Inanspruchnahme der allgemeinen Sozialhilfe, dem Bilden einer speziell auf die Pflegebedürftigkeit ausgerichteten Zwangssolidargemeinschaft oder der Verpflichtung zum Anschluß an eine Risikogemeinschaft. Die Frage nach dem Anlaß zur Gesetzgebung, nach dem zwingenden, unabweisbaren Grund zur Freiheitsbeschränkung ist zunächst die Frage nach den tatsächlichen Gegebenheiten. Gesetzgebung verlangt die genaue Kenntnis des zu regelnden Gebietes. Der Gesetzgeber muß sich, um seine Tätigkeit rechtfertigen zu könen, Erkenntnisse über den vermeintlich regelungsbedürftigen Zustand verschaffen. Gesetzgebung setzt somit eine ständige und vollständige Beobachtung der sozialen Wirklichkeit voraus 1 • So weit der Beobachtungsgegen1 Gusy ZRP 1985,291,292; Schwerdtfeger S. 179 f.

I. Verfahrensschrilte zum guten Gesetz

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stand ist, so allgemein sind die Erkenntnisquellen2 : Datensammlung aus wissenschaftlicher Literatur, aus Rechtsprechung, Verwaltung und Medien, Kontakte mit Verbänden, Vereinen und Parteien, Beobachtung der Petitionen, Datensammlung durch statistische Erhebungen oder deren Fortschreibung. Die dazu notwendigen Fertigkeiten weisen die Teilnehmer am politischen Prozeß nur zum geringsten Teil auf. Sicherlich verfügen auch Abgeordnete, Minister und Ministerialbeamte über die Kenntnisse ihres persönlichen Lebensumfeldes und über die gerade an sie in ihrer Funktion herangetragenen Informationen. Tatsachenbeobachtung und -ermittlung erfordert jedoch systematisches Vorgehen nach entsprechenden wissenschaftlichen Methoden 3 . Dies gilt erst recht, soweit nicht äußere, sondern innere Tatsachen zu erforschen sind: die Bewertungen und Erwartungen der Menschen. Die empirische Erfassung der Gesellschaft mit den Methoden der Soziologie, der Meinungsforschung und der analytischen Statistik hat dem Gesetzgeber die Tatsachenkenntnis zu verschaffen, die es ihm ermöglichen, den Regelungsbereich zu beherrschen. Sind die Erkenntnisquellen nicht allgemein zugänglich, hat der Gesetzgeber selbst die Voraussetzung für die Datenerhebung zu schaffen. Die Auskunfts- und Mitteilungspflichten der Statistikgesetze dienen dem Verschaffen der notwendigen Tatsachenkenntnis und tragen dadurch dazu bei, Zie1definitionen der politischen Planung zu ermöglichen. Die Freiheitsbeschränkung durch die Statistikgesetze schützt die Freiheit, indem sie die Grundlage liefert, um den tatsächlichen Anlaß für Reglementierungen zu prüfen. Erst bei Auftreten eines speziellen Problems verengen sich die Heranziehungs- und Ermittlungsbemühungen der Sache nach auf den konkreten - potentiellen - Regelungsgegenstand4 ; zugleich werden die Ermittlungsmethoden von den allgemeinen auf die speziell sachbezogenen erweitert: Anhörung Betroffener, gezielte systematische Erforschung des betreffenden Bereichs. Dabei gewinnt die subjektive Tatsachenseite an Gewicht; auch die Wünsche, Abneigungen und die Leistungsbereitschaft der Betroffenen sind wesentliche Daten für die Zwecksetzung sowie für die Beurteilung der Notwendigkeit und damit der Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung. Die Ermittlungen haben stets umfassend und schrankenlos zu sein: alle zugänglichen Quellen sind auszuschöpfen. Während die Tatsachenerhebung eine Angelegenheit wissenschaftlicher Methode ist, die die am politischen Prozeß Beteiligten selbst nicht leisten können, ist die Zieldefinition, die Zweckbestimmung staatlichen Handeins die ureigenste Aufgabe der Politik5 . Hier kann die Wissenschaft beratend und unterstüt2 Hili, GgebL, S. 67. 3 Noll S. 59. 4 Hili, GgebL, S. 68. 5 König S. 122.

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F. Das Zustande kommen eines guten Gesetzes

zend tätig werden. Die Entscheidung selbst, das Werten und Wägen, verschließt sich jedoch wissenschaftlicher Methode, kann andererseits jedoch auf ihre Anregungen nicht verzichten6 . Eine deutliche Zieldefinition, .die eine klare, notfalls auch eine mutige politische Entscheidung voraussetzt, ist für das Gesetzgebungsverfahren schlechthin unverziehtbar. Ohne eine gen aue Vorstellung vom angestrebten Ziel ist weder der einzuschlagende Weg festzulegen, noch kann im nachhinein beurteilt werden, ob der eingeschlagene Kurs der richtige ist. Dem unter Kompromißdruck vorgenommenen Verwässern der Ziel vorgabe zu diffuser Vieldeutigkeit ist deshalb ein Verzicht auf das gesamte Vorhaben vorzuziehen. Um zu beurteilen, ob zum Erreichen des gesteckten Ziels ein Gesetz notwendig ist und welche Regelungsinstrumente es gegebenenfalls enthalten soH, sind sodann Prognosen zu ersteHen. Die Prognose setzt zunächst eine Aufbereitung des Tatsachenmaterials voraus7 • Für ein Erkennen der gegenwärtigen Situation als Grundlage für einen Schluß auf die zukünftigen Entwicklungen und Verhältnisse ist ein lückenlos voHständiges und richtiges Heranziehen aller ermittelten Daten nötig. Die Prognose als eine Vorhersage des Kommenden hat sodann alle Aspekte des Regelungsproblems zu berücksichtigen: den Fortgang der Entwicklung und das davon abweichende Regelungsziel, Abschätzen der Wirkungen aller denkbaren Mittel der Zielerreichung (private Initiative, Selbstregulierung, außerrechtliche Maßnahmen, Vereinbarung statt Befehl oder Leistung, Regelungsinstrumente von der Richtlinie bis zum Gesetz, in Bereichen der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung: Belassen in der Länderkompetenz und Bundesgesetzgebung), Vergleich der jeweils abzuschätzenden Wirkungen. Die Zuverlässigkeit der Prognose hängt nicht nur von einem lückenlosen EinsteHen aller bekannten Fakten ab. Die Prognose hat sich auch an der Sachgerechtigkeit zu orientieren. Sachfremde Erwägungen und Vorgaben können als Prognosesperre wirken und den Blick auf denkbare Lösungsmöglichkeiten verbauen8 . Die Mittel der PrognoseersteHung sind allein durch die Kriterien der bestmöglichen Sachbezogenheit, Eignung und Zuverlässigkeit beschränkt. Manche Fragen mögen auf Grund wissenschaftlich fundierter Erfahrungssätze zu beantworten sein. Wo diese fehlen, ist auf andere Methoden zurückzugreifen: Praxistests, ModeHversuche, Planspiele, Vergleich mit anderen Rechtsgebieten, Befragung Betroffener über Zukunftserwartungen und -absichten können nicht erst bei der Mittelwahl nutzbar gemacht werden, sondern schon bei der Vorfrage, ob überhaupt gesetzlich geregelt werden muß und darf. Letztes Mittel 6

Noll S. 60.

7 Hili, GgebL, S. 19; Schwerdtfeger S. 180.

S Stern § 37 IV 5 g.

I. Verfahrensschritle zum guten Gesetz

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für das Erstellen von Zukunfts aussichten ist schließlich die Intuition, das bloße Schätzen und Erwarten, das sich rational nicht mehr begründen läßt und dessen Tauglichkeit als Grundlage für einen gesetzgeberischen Eingriff zu erörtern sein wird. Schon ist ersichtlich, daß mit der Prognose der heikle Punkt erreicht ist. Zum einen ist sie wegen ihrer Zukunftsbezogenheit naturgemäß unsicher, wozu die Kompliziertheit und der fortwährende Wandel der modernen Lebensverhältnisse noch erschwerend beitragen9 • Zum anderen kann auch hier der Stab der politisch Entscheidenden nur äußerst begrenzt selbst tätig werden. Er hat sich wissenschaftlichen Sachverstandes zu bedienen. Schon bei der Tatsachenermittlung und Datenerhebung, aber erst recht beim Erstellen einer Prognose können verschiedene Ansichten über das zutreffende Ergebnis einander gegenüberstehen. Die Auswahl, welche von ihnen der Gesetzgebung zu Grunde zu legen ist, ist nach sachlichen Gesichtspunkten zu treffen, soweit rationale Kriterien der Verläßlichkeit und Sicherheit der Methoden die verschiedenen Ergebnisse voneinander unterscheiden; sie wird jedoch Sache der politischen Entscheidung, soweit sie sich der Rationalität entzieht. Gerade hier bei der Tatsachen- und Prognosebewertung sind aber auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Der gegebene oder erwartete Ist-Zustand muß als ein Defizit erkannt werden, zu dessen Behebung der Staat berufen ist. Das reglementierende Einschreiten ist nur gerechtfertigt, wenn das von der erwarteten Entwicklung abweichende Regelungsziel dem Freiheitsinteresse der Bürger eher entspricht als der ungeregelt gelassene Zustand. Der Vergleich verschiedener Lösungsmöglichkeiten muß ergeben, daß gerade und nur durch Erlaß eines Gesetzes Besserung zu erwarten ist. Dabei ist nicht nur abzuschätzen, was ohne jegliches staatliches Tätigwerden geschehen würde. Auch die Möglichkeiten und Folgewirkungen aller anderen erdenklichen staatlichen Handlungsformen sind zu berücksichtigen. Obliegt dem Gesetzgeber nicht das Erfüllen einer Schutzpflicht, so bedarf es schließlich der Entscheidung, ob eine verfassungsrechtlich zulässige Regelung vorgenommen werden soll: im Rahmen des Dürfens hat der Gesetzgeber über sein Wollen zu entscheiden. 2. Mittelwahl

Die Mittelwahl wird nicht allein von der Prognose beherrscht. Die bestmögliche Tauglichkeit ist nicht das einzige Kriterium der Auswahl des Regelungsinstruments. Das Einwirken der in Betracht kommenden Regelungen auf andere Regelungsgebiete, die möglichen oder wahrscheinlichen Nebenwirkungen der Zweckverfolgung erfordern ein Werten, Gewichten und Abwägen, das die 9

Breuer Der Staat 16 (1977) , 21 f.; Stettner DVB11982, 1123.

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F. Das Zustande kommen eines guten Gesetzes

wissenschaftliche Prognose nicht leisten kann. Eventuell ist sogar das Ziel aufzugeben oder zu korrigieren, wenn die Prognose ergibt, daß das bisher gesetzte nicht oder nur unter Inkaufnahme solcher Nebenwirkungen zu erreichen ist, die nicht hingenommen werden dürfen oder sollen. Die Entscheidung, welchem Interesse im Konfliktfalle der Vorzug zu geben ist und wie weit es andere Interessen zurückdrängen darf, ist nicht das Ergebnis einer Prognose, sondern eines politischen Bewertungs- und Abwägungsvorganges der der Tatsachenkenntnis und der Prognose als Grundlage bedarf. Zwecksetzung und Mittelwahl in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ergeben gemeinsam das politische Planen. Die Verbindung zwischen politisch-gestalterischem Wollen und der Berücksichtigung ermittelter Tatsachen und gestellter Prognosen macht die Gesetzgebung zum umstrittenen Geschäft. Da die Auswahl zwischen voneinander abweichenden Tatsachendarstellungen und Prognosen die Zielsetzung, die Mittelwahl und die Erfolgschancen des gesetzgeberischen Handelns bestimmen, besteht die Gefahr, daß diese Auswahl nicht allein nach sachgerechten Maßstäben getroffen wird. Setzt sich die politische Planung über ihre Tatsachen- und Prognosegrundlagen hinweg, so muß dies zu untauglichen Ergebnissen führen, da politischer Wunsch und Wille nicht geeignet sind, die Gegebenheiten zu verschieben. Andererseits führt auch das bloße Übernehmen der von außerhalb des politischen Entscheidungsprozesses gelieferten Erkenntnisse nicht zum Ziel. Die politische Planung erschöpft sich nicht im schlüssigen Zusammenfügen verschiedener Gutachten. Die Sachgerechtigkeit kann als Auswahlkriterium auch ganz ausfallen, wenn nichts für den Vorzug der einen oder anderen Variante spricht. Der Prozeß der politischen Planung, der Vorgang des Wertens und Wägens setzt deshalb die Expertenmeinung zwar voraus, kann durch sie aber nicht ersetzt werden. Die sogenannten "Sachzwänge", die gern als Begründung angegeben werden, um die Verantwortlichkeit für mißliebige Entscheidungen von sich zu weisen, gibt es nicht. Bei jeder Entscheidung gibt es Handlungsvarianten. Zumindest bestehen die Alternativen, tätig zu werden oder untätig zu bleiben. Fraglich ist lediglich, ob man bereit ist, die erwarteten Folgen der jeweiligen Entscheidung hinzunehmen. Ergeben Tatsachenfeststellung und Prognose, daß die zur Zweckverfolgung allein geboten erscheinende Maßnahme zu unangenehmen Nebenfolgen führen wird, dann erwächst daraus kein "Sachzwang", sondern die Notwendigkeit zu entscheiden, ob diese Nebenfolgen hingenommen werden sollen oder ob der Zweck aufgegeben werden soll. Die politische Planung ist der Ausschnitt der Gesetzgebung, der unter allgemeiner öffentlicher Beobachtung und Kritik steht. Der öffentliche Meinungskampf entbrennt an der Frage, worin ein regelungsbedürftiges Problem zu erblicken ist und wie es gelöst werden soll. Fragen der Gesetzgebungstechnik spielen dabei keine Rolle. Wie die gefundene Lösung in die Form eines Geset-

I. Verfahrensschritte zum guten Gesetz

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zes gegossen wird und ob das dabei gefundene Ergebnis als tauglich zu bewerten ist, wird allein in der juristischen oder sonst beteiligten Fachöffentlichkeit diskutiert. Die Übersetzung des gesetzten Zweckes und der ausgewählten Mittel in Tatbestände und Rechtsfolgen, die Formulierung eines verständlichen, dogmatisch stimmigen, sachlich systemverträglichen und anwendungssicheren Gesetzes lO erfordert umfassende und vertiefte Kenntnis des geltenden Rechts. Da Gesetzgebung heute stets bedeutet, neue Normen zu den bestehenden hinzuzufügen, können nur durch Rechtskenntnis Begriffsverwirrung innerhalb eines Gesetzes oder zwischen Gesetzen und Rechtsgebieten sowie dogmatische und sachliche Unstimmigkeiten vermieden werden. Wer die geltenden Gesetze und die Rechtsanwendung kennt, kennt den Aufnahme- und Verarbeitungshorizont der Anwender und kann die neuen Regelungen so formulieren, daß sie sich in den bestehenden Zusammenhang einfügen. Gesetzgebung setzt deshalb auch das Verstehen der geltenden Gesetze voraus. Bei der Eindämmung der Normenflut und dem Formulieren verständlicher Gesetze ist der Gesetzgeber somit auch sein eigener Adressat. Hinsichtlich des Tatsachenstoffes und des Rechtsstoffes gilt das gleiche: nur wer das Bestehende kennt und beherrscht, kann sinn- und wirkungsvoll gestaltend und ändernd eingreifen. Ein Gesetz darf deshalb kein Produkt eines kleinen Expertenzirkels sein. Je enger das Betrachtungsfeld der Verfasser ist, desto größer ist die Gefahr, das Auswirkungen, die den eigenen Bereich verlassen, außer Betracht bleiben und daß das Normverständnis an Voraussetzungen geknüpft wird, die nur den Kennern der Motive und der Entstehungsgeschichte zugänglich sind, so daß die erforderliche Verständlichkeit für den juristischen Generalisten fehlt. Ein Gesetzesvorhaben sollten möglichst alle anstehenden Normierungendes betreffenden Regelungsbereichs zusammenfassen. Die dabei vorzunehmenden Abstimmungen vermeiden auch allzu frühzeitigen Änderungsbedarf. Bei der Mittelwahl und der Formulierung der Regelungen sind, gerade wenn es sich um umfangreiche (Neu-)Regelung von Rechtsgebieten handelt, Praxistests, Modellversuche und Planspiele mit gutem Ertrag einzusetzen, um das geplante Gesetz schon vor dem Erlaß auf seine Wirksamkeit zur Zielerreichung und insbesondere seine Anwendungssicherheit und Vollzugsgeeignetheit zu überprüfen 11 .

10 Amelung ZStW 92 (1980), 19, 26 f. 11 Hellstem/Wal/mann ZParl 1980, 547, 550; Karpen, GgebL, S. 45; König S. 131; Scharmer ZG 1987, 174, 175 ff. 9 Burghart

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F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes

3. Wirkungskontrolle

Die Wirkungskontrolle vereinigt die eben erörterten Schritte in der Anwendung auf die bestehende Norm, um zu prüfen, ob das Gesetz den Qualitätsanforderungen der Verfassung noch entspricht. Die Auswirkungen der erlassenen Regel sind tatsächlich zu erforschen, um die nun bekannte Wirklichkeit mit der vor Normerlaß gestellten Prognose zu vergleichen. Dabei sind die Auswirkungen vollständig zu erfassen, um einerseits zu erfahren, ob die bezweckten Wirkungen ganz oder zum Teil eingetreten sind, und um andererseits festzustellen, welche unerwünschten Nebenwirkungen eingetreten sind l2 . Dabei ist zu prüfen, ob das Gesetz die Erwartungen erfüllt. Bestätigungen lassen sich jedoch fast immer finden. Interessanter ist es zu ermitteln, ob das Gesetz der Kritik, die den Entwurf begleitet hat, standhält und ob es die Fälle bewältigt, an die beim Erlaß nicht gedacht wurde oder die noch gar nicht bekannt waren oder sein konnten. Unabdingbare Voraussetzung auch für den Vergleich zwischen Sull- und Ist-Zustand ist abermals eine klare Zwecksetzung durch die politische Planungl3 . Für die weitere Zukunft ist die Prognose fortzuschreiben und gegebenenfalls zu ändern. Abzuschätzen ist der Fortgang der Entwicklung bei Festhalten an der Norm, bei Änderung oder Aufhebung und Ersetzen durch andere staatliche Handlungsformen oder Rückzug des Staates aus dem Regelungsbereich. Es ist zu klären, ob das angestrebte Ergebnis den gesetzgeberischen Aufwand noch lohnt und ob dieser Aufwand noch ausreicht. Erkannte Prognosefehlersind unverzüglich zu berichtigenl4 . Die Pflicht zur Wirkungskontrolle und zur Nachbesserung folgt ganz unvermeidlich aus der anfänglichen Prognosepflicht. Wenn die Pflicht zum notwendigen Gesetz und das Übermaßverbot gebieten, nur auf der Grundlage sorgfältiger Prognose Normen zu setzen, dann kann es nicht gleichgültig sein, wenn die eintretenden Tatsachen die Erwartungen enttäuschen und die zu schützenden Rechtsgüter nun doch beeinträchtigen. Entgegen dem Sprachgebrauch darf das Gesetz durch den Beschluß nicht verabschiedet werden und sich selbst überlassen bleiben. Es muß vielmehr begleitet und beobachtet werden, um gebotene Korrekturen vornehmen zu können.

12 Amelung ZStW 92 (1980), 19, 30 ff.; HellsternlWollmann ZParl 1980, 547, 548 f., 551. 13 HellsternlWollmann ZPar11980, 547, 551. 14 Pestaloua NJW 1981, 2081, 2085.

11. Die beteiligten Organe

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11. Die beteiligten Organe Der Weg zum guten Gesetz kann genauer beschrieben werden, wenn die einzelnen Verfahrenshandlungen den beteiligten Organen zugeordnet werden können. Die Einsicht, daß es "den Gesetzgeber" nicht gibt, zwingt dazu, die Organe ZU benennen, die am Verfahren beteiligt sind und dabei ihr Handeln auf das Ergebnis eines guten Gesetzes auszurichten haben. Nur das Parlament - Bundestag und Bundesrat - in die Pflicht zu nehmen, käme einer Fehlbewertung der Gewichtsverteilung im Gesetzgebungsverfahren gleich. Ohnehin ist schon diese Bezeichnung zu pauschal, wenn nicht zugleich angegeben wird, wie und durch welche Gremien das Parlament die Qualitätsanforderungen an das Gesetz sicherzustellen hat. Zudem üben Bundestag und Bundesrat zwar den letzten Einfluß auf den Gesetzentwurf aus, indem sie den Gesetzesbeschluß und - falls erforderlich - die Erteilung der Zustimmung vornehmen oder verweigem 15 . Die Gestaltung der zum Beschluß gestellten Vorlage nehmen sie jedoch nicht allein vor. Mehrere Gesichtspunkte sprechen zwingend dafür, daß auch die Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung für das gute Gesetz in Anspruch zu nehmen ist. 1. Die Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung

Die Bundesregierung zählt zu den Initiativberechigten (Art. 76 I GG) und somit zu den Beteiligten am Gesetzgebungsverfahren im engeren Sinne - dem gestaltenden Teil im Gegensatz zu den abschließenden Akten der Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung, mit denen allenfalls noch eine Kontrolle, jedoch keine inhaltliche Einflußnahme vorgenommen werden kann. In einem System, an dem mehrere zur Beteiligung berechtigt und verpflichtet sind, ist derjenige zu einzelnen Verrichtungen berechtigt und verpflichtet, der sie am besten zu leisten vermag. Dieser Grundsatz gilt für alle mehrgliedrigen Systeme, die eingerichtet sind, um zu funktionieren. Für sie gilt er geradezu selbstverständlich, damit der Funktionszweck erfüllt und ein optimales Ergebnis erzielt werden kann 16 . So hat er auch in das Grundgesetz keine ausdrückliche Aufnahme gefunden. Für das Staatssystem als Ganzes und das Rechte- und Pflichtenverhältnis der Gewalten untereinander ist er dem Grundsatz der Gewaltenteilung entnommen worden17 • Er gilt ebenso in den Teilsy15 Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung können hier vorerst außer Betracht bleiben. Auf sie wird später noch eingegangen werden . 16 Vgl. Hesse S. 265 f . 17 BVerfGE 68, 1,86 (Atomwaffenstationierung). 9'

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F. Das Zustande kommen eines guten Gesetzes

stemen, an denen mehrere Organe beteiligt sind, und somit auch im Gesetzgebungsverfahren. Nimmt die Bundesregierung am Gesetzgebungsverfahren teil, indem sie eine Initiative einbringt oder sich zu Initiativen anderer Berechtigter äußert, so hat sie dazu alle Kenntnisse und Fertigkeiten einzusetzen, die sie wegen ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise auszeichnen. Da die Bundesregierung sich zur Erledigung ihrer Aufgaben wesentlich auf die Verwaltungen ihrer Ministerien stützt, sind auch und gerade diese in die Betrachtung einzubeziehen. Rein tatsächlich kommt der Bundesregierung mit ihrer Ministerialbürokratie eine Dominanz im Gesetzgebungsverfahren zu durch ihre Funktion als Entwurfsverfasserin l8 . Die meisten Gesetzentwürfe stammen aus der Ministerialverwaltung. Sie erstellt nicht nur die Initiativen der Bundesregierung, sondern leistet Unterstützung auch für die Mehrheitsfraktionen des Bundestages, so daß auch deren Entwürfe zum Teil der Ministerialverwaltung zuzurechnen sind 19. Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung werden - ebenso wenig wie diejenigen der anderen Initiativberechtigten - nicht als bloße Diskussionsgrundlage eingereicht. Vielmehr werden die Initiativen mit dem Anspruch auf den Weg gebracht, das Verfahren möglichst unverändert als Gesetz zu verlassen 20 • Mit diesem Erfolg muß auch gerechnet werden, da die Regierung von der gleichen Mehrheit getragen wird, die die Gesetze beschließt. Die weitgehende faktische Herrschaft der Ministerialbürokratie über die Gesetzgebung hat den gleichen Grund wie ihre Verpflichtung zur Beachtung eines qualitätssichernden Verfahrens: sie ist von allen beteiligten Organen am besten geeignet, sich die nötigen umfassenden Kenntnisse zu verschaffen, zu ordnen, zu analysieren und für die Gesetzgebung zu berücksichtigen21 . Sie rekrutiert ihr Personal nach den Gesichtspunkten der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung und ist somit zu hochgradiger Spezialisierung in der Lage. Die Kontinuität der Arbeit der Ministerien ist weitgehend unabhängig vom politischen Tagesgeschäft und den Ergebnissen der Wahlen22 : der Personalbestand bleibt im wesentlichen unverändert; die angesammelten Daten und ihre Auswertung bleiben unangetastet. Der Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung obliegen deshalb die Aufgaben der Gesetzgebung, die fachlicher Spezialisierung bedürfen. und die die politische Wegweisung noch nicht vornehmen, sondern ihr als Grundlage

18 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 18, 29 f.; Fliedner ZG 1991, 40, 54; Hili DÖV 1981, 487,491; König S. 122. 19 Fliedner ZG 1991, 40, 54. 20 Eichenberger VVDStRL 40,7,29; KJoepfer ZG 1988, 289, 290. 21 Bücker ZG 1989, 97, 98; Eichenberger VVDStRL 40, 7, 30 f.; Hili DÖV 1981, 487, 491; Maassen NJW 1979,1473, 1477; Pestaloua NJW 1981,2081,2084; Schu/ze-Fielitl. DÖV 1988, 758, 759. 22 Pestaloua NJW 1981, 2081, 2084.

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dienen. Sie beobachtet, sammelt die Erkenntnisse, wertet sie aus und erstellt die Prognosen. Um gerade bei der Bewertung und der Erstellung der Prognosen denkbare Varianten und divergierende Ansichten berücksichtigen zu können, darf sie sich nicht nur auf das eigene Personal verlassen. Die jeweiligen Lebensbereiche werden von den dort Tätigen am besten überschaut. Zur Datensammlung im Gesetzgebungsverfahren gehört deshalb auch die Anhörung von Verbänden, die so ihre Interessen einbringen können. Zur Beobachtung und Bewertung der verschiedenen Sachbereiche gehört die Beteiligung externer Experten, um ihren Sachverstand und ihre Sachnähe nutzen zu können. Die Bundesregierung kommt diesen Pflichten nach. Bei ihr sind 260 Beiräte, Kommissionen und Fachausschüsse mit 6.000 Beratern23 gebildet, die unabhängig von bestimmten Gesetzgebungsvorhaben Beratungsgrundlagen liefern. Im Stadium des Entwurfsverfassens ist bereits zu Beginn die Beteiligung der Interessenvertretungen vorgesehen (§§ 24, 25 GGO 11). Die hochgradige Spezialisierung der Minsterialbürokratie sichert dem Gesetzgebungsverfahren nicht nur den nötigen Sachverstand und die professionelle Aufgabenerledigung, sie birgt zugleich Gefahren der Eigenbrötelei· und der Revierverteidigung. Ein Gesetzentwurf eignet sich nicht als Leistungsnachweis für einzelne Referenten, Organsiationseinheiten und auch nicht für einzelne Ministerien24 . Je mehr der Entwurf auf nur einen kleinen Ausschnitt eines Sachbereichs verengt wird, desto eher gerät er zum Ergebnis einer Geheimwissenschaft, deren Grundlagen nur einer geringen Zahl Eingeweihter vertraut sind 25 • Wird ein Gesetzgebungsverfahren in Gang gebracht, so hat der Entwurf im Interesse der Übersichtlichkeit, der Klarheit und der Vollständigkeit alle anstehenden Probleme des weiteren, durch sachliche oder rechtliche Verknüpfungen gekennzeichneten Zusammenhangs zu lösen. So können auch dogmatische und sachliche Unverträglichkeiten und parallel laufende oder in kurzem Abstand einander folgende Vorhaben, die den gleichen Bereich betreffen, vermieden werden. Dazu ist es notwendig, daß ein Entwurf von den Verfassern gegen Einflußnahme anderer nicht verteidigt, sondern diesem Einfluß gerade preisgegeben wird 26 . Der Entwurf ist zur Erweiterung, Vervollständigung und Abrundung anzubieten, auch wenn dabei die Note oder die Handschrift eines einzelnen Referenten verschwimmen kann. Die Ministerialbürokratie ist für die ordentliche Erledigung ihrer Aufgaben bei der Entwurfsverfassung und deren Vorbereitung allerdings auf hinreichend deutliche Vorgaben der politischen Planung angewiesen. Es ist die Eigenart 23 Bücker ZG 1989, 97, 98. 24 Leisner DVBl1981, 849, 852; Schuh.e-Fielit7. DÖV 1988, 758, 763. 25 Fliedner ZG 1991, 40, 48. 26 König S. 134.

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der Gesetzgebung, daß mit ihr nicht nur bloße Notwendigkeiten vollstreckt werden, sondern daß mit Befehl und Zwang gestaltet werden soll und daß zu den weitaus meisten Gesetzesvorhaben ebenfalls zulässige Varianten zur Auswahl stehen. Die planenden Entscheidungen, welche Vorhaben mit welcher Priorität angegangen werden sollen, welche Ziele anzustreben sind, welche Mittel einzusetzen sind und welche Interessen dabei hinter anderen zurückstehen sollen, trifft die Ministerialverwaltung zumeist nicht selbst. Sie richtet ihre Tätigkeit aus an Regierungserklärungen, allgemeinen oder auf spezielle Sachgebiete bezogenen Koalitionsvereibarungen und den Anweisungen der jeweiligen Behördenleitung, der politischen Spitze des Ministeriums. Die Notwendigkeit, zwischen den Parteien, die die parlamentarische Mehrheit stellen, gegensätzliche Standpunkte auszugleichen und Kompromisse zu schließen, verlagert schon im ersten Abschnitt des Gesetzgebungsverfahrens - vom Erstellen des Entwurfes bis zum Beschluß der Vorlage - die Sachentscheidungen aus den staatlichen Institutionen hinaus. Koalitionsrunden setzen die Arbeitsziele der Legislaturperiode fest und nehmen auch der Bundesregierung die Beratungen über die Gesetzesvorlage ab. Nicht das Kollegium aus Bundeskanzler und Bundesministern oder einzelne Bundesminister legen die Handlungsrahmen für die Ministerialverwaltung fest und entscheiden über deren Arbeitsergebnis, sondern die Vorsitzenden oder - in Spezialgebieten - andere Vertreter der beteiligten Parteien. Sind diese planend-bestimmenden Vorgaben von Unentschlossenheit, Verzagtheit und ausweichenden Kompromissen geprägt, so kann nicht von der Ministerialverwaltung der Entwurf zu einem zielsicheren, geradlinigen Gesetz erwartet werden. Dem Ergebnis eines guten Gesetzes ebenso abträglich wie das anfängliche Fehlen brauchbarer Zwecksetzungen ist der nachträgliche ins einzelne gehende Eingriff der politischen Planung in den fertigen Entwurf ohne Berücksichtigung der tatsächlichen und prognostischen Entwurfsgrundlagen. Werden die Regelungsvorschläge, die unter Berücksichtigung des gesetzten Zweckes auf der Kenntnis und Bewertung der ermittelten Tatsachen und der Abschätzung der zukünftigen Entwicklung beruhen, bei fehlender Mehrheitsfähigkeit durch Koalitionsrunden oder im Vermittlungsausschuß verändert, so können dabei entstehende Unzulänglichkeiten nicht der Ministerialverwaltung angelastet werden. Wird zu Gunsten des engsten Kompromisses, der jeder Seite nur die allernötigsten Zugeständnisse zumutet, nur an einzelnen Komponenten des Entwurfes gedreht, ohne die Wirkung auf die anderen zu beachten und ohne eventuell nötige weitere Daten zu beachten und Prognosen zu berücksichtigen, so kann der Ministerialverwaltung, die zumeist nur noch für sogenannte Formulierungshilfen - die Übersetzung der getroffenen Vereinbarungen in die Gesetzessprache - herangezogen wird, eine Sorgfaltswidrigkeit nicht angelastet werden. Dieser Vorwurf trifft, wenn er berechtigt ist, diejenigen, die die Kompromißfähigkeit der Vorgabe klarer Ziele und der sachlich und progno-

11. Die beteiligten Organe

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stisch fundierten Entwurfserstellung vorgezogen haben, um das Vorhaben vor dem Scheitern oder der Zurückstellung zu bewahren. 2. Der Bundestag und seine Gremien

Auch die Frage, wie der Bundestag zu einem guten Gesetz beizutragen hat, bedarf einer differenzierenden Betrachtung. Unter dem Bundestag als Gesetzgebungsorgan darf nicht allein die Gesamtheit seiner Mitglieder verstanden werden. Zwar wird der Gesetzesbeschluß im Plenum gefaßt (Art. 77 I 1 GG). Dies bedeutet jedoch weder, daß die Gestaltung der Vorlage, über die schließlich beschlossen wird, allein durch das Plenum vorgenommen wird, noch, daß dies so sein müßte27 . Schon wegen seiner Größe ist es ungeeignet, Einzelheiten eines Gesetzesvorhabens zu beraten28 . Die Plenardebatte dient zudem einem anderen Zweck. Das öffentliche Austragen der für und wider eine Vorlage und abweichende Lösungskonzepte sprechenden Argumente ermöglicht deren Kenntnisnahme durch eine breite Öffentlichkeit mittels der Verbreitung durch die Massenmedien. So können die politischen Vorstellungen allgemeiner Art und hinsichtlich spezieller Regelungsvorhaben von jedem geprüft und zum Gegenstand eigener Überzeugungsbildung gemacht werden, um sich dann für die Unterstützung bzw. Ablehnung einer bestimmten politischen Richtung und deren Vertretern zu entscheiden. Das öffentliche Verhandeln des Plenums (Art. 42 I GG) nützt somit nicht nur den Wählern als Grundlage ihrer Entscheidung, sondern auch den wahlwerbenden Parteien, insbesondere der Minderheit, die so ihre Chance wahrnehmen kann, sich als Mehrheit zu empfehlen 29 • Berücksichtigt man die Ungeeignetheit des Plenums zur Detailarbeit und seine Funktion im Verfahren der parlamentarischen Willensbildung, so muß der Umstand, daß dort förmlich bestätigt wird, was schon vorher festgelegt worden ist, keinen fatalen Eindruck vermitteIn30 , sondern kann als für die Gesetzgebung in einer hochkomplexen Gesellschaft notwendig und normal angesehen werden. Zur Behandlung verschiedener Regelungs- und Politikhercichc hedarf es jeweils besonderer Spezialkenntnisse. Die Abgeordneten werden ohnehin nicht nach ihrer Sachkunde und Eignung für die Gesetzgebung ausgewählt. Erst recht nicht kann man erwarten, daß alle Abgeordneten zur sachlichen Beratung

27 Schwerdtfeger S. 183. 28 BVerfGE 44, 308, 317. 29 Mahrenhoh., Abweichende Meinung zu BVerfGE 70, 324 (Geheimdienstkontrolle), dort S. 366, 369. 30 Schneider, Niedergang, S. 433.

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jeder Vorlage etwas beitragen können31 • Der Beschluß des Plenums bedarf der Vorbereitung durch die aus dem Plenum gebildeten Untergliederungen des Bundestages. Auf eine Vorbereitung kann nicht verzichtet werden, um dem Plenarbeschluß auch für die unkundigen Abgeordneten eine Entscheidungsgrundlage zu bieten, nach der sie ihr Abstimmungsverhalten richten können. Die Vorbereitung ermöglicht auch das Beachten der Sorgfaltspflichten, die sicherstellen sollen, daß der Beschluß des Plenums ein gutes Gesetz hervorbringt. Der Bundestag hat - durch seine Gremien - selbst sicherzustellen, daß die gesetzgeberische Sorgfalt beachtet wird. Der Bundestag beschließt über die Gesetze (Art. 77 I 1 GG). An ihm geht die Frage der Normgeltung nicht vorbei. Er versieht das Gesetz mit der durch die Wahl vermittelten demokratischen Legitimation. Sein offenes Entscheidungsverfahren, das alle Auffassungen berücksichtigt, wenn auch nicht zur im Ergebnis erheblichen Bedeutung kommen läßt, verleiht den Grund zur Akzeptanz durch die unterliegende Minderheit und ihre Anhänger. Da die Aufgabe des Bundestages somit deutlich über eine den Entwurf bloß absegnende, bestätigende oder beurkundende Funktion hinausgeht, ist zu verlangen, daß der Bundestag, also seine Mitglieder wissen, worüber und was sie beschließen32 , daß sie die Vorlage und ihre Auswirkungen kennt. Dies verbietet eine Beschränkung auf eine bloße Plausibilitätskontrolle der vorgelegten Initiative. Der Bundestag als das zentrale Gesetzgebungsorgan muß seIbst entscheiden. Dazu muß nicht das gesamte Stadium der Entwurfsvorbereitung wiederholt werden. Dazu eignen sich schon die persönlichen Voraussetzungen seines eigentlichen Personals - der gewählten Mitglieder - nicht. Die wesentlichen Elemente der gesetzgeberischen Methodik sind jedoch im einzelnen nachzuvollziehen 33 . Die Zielsetzung hat der Bundestag am Maßstab des zu Grunde liegenden politischen Programms zu kontrollieren. Es ist zu prüfen, ob der Entwurf auf ausreichender Tatsachengrundlage und Prognose beruht und ob die eingesetzten Regelungsinstrumente danach gerechtfertigt erscheinen. Dabei ist eine Beschränkung auf die Prüfung der vom Entwurfsverfasser erbrachten Leistungen anhand der von ihm zur Begründung vorgelegten Materialien möglich, wenn diese hinreichend aufschlußreich sind. Vollständige eigene Bemühungen sind im Bundestag anzustellen, wenn dies bisher unterlassen wurde, wenn also der Entwurf auf politischem Wünschen, nicht jedoch auf sorgfältiger Tatsachenerhebung, Prognose und Abwägung beruht. Die im Bundestag zu erbrin31 Eichenberger VVDStRL 40, 7, 17; Karpen, GgebL, S. 43; Kloepfer VVDStRL 40, 63, 89. 32 BVerfGE 70, 324, 355 (Geheimdienstkontrolle). 33 Kloepfer VVDStRL 40,63,89.

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genden Leistungen sind abhängig von der nachprüfbaren Vorarbeit des Initiators 34 . Darüberhinaus ist es die originäre Aufgabe der parlamentarischen Beratungen, die politische Durchsetzbarkeit der Vorlage zu erforschen. Im Bundestag, in dem Mehrheit und Minderheit die Beratung gemeinsam vornehmen, ist der Ort, bisher nicht berücksichtigte Konsensbedürfnisse zu ermitteln und zu befriedigen 35 und Lösungsvarianten zu bedenken. Vom Entwurfsverfasser kann nicht erwartet werden, daß er seine eigenen Vorstellungen vollkommen in Frage stellt, indem er Gegenlösungen mit vorlegt16 . Das ist die Aufgabe des anderen politischen Lagers 37 , wenn über das Gesetzgebungsvorhaben gegenteili~e Ansichten bestehen, und der außerparlamentarischen Interessenvertreter3 , wenn sie ihre Bedürfnisse als unzureichend berücksichtigt betrachten. Die Ausstattung des Bundestages steht zu diesen an ihn zu stellenden Anforderungen im Mißverhältnis. Die Auswahl der Abgeordneten erfolgt nicht nach fachlichen Gesichtspunkten oder mit Rücksicht auf gesetzgeberische Aufgaben39 . Die allgemeine demokratische Wahl ist kein geeignetes Mittel, um eine Auslese der Besten vorzunehmen 40 . Mag auch die parlamentarische Arbeit zu fachlicher Spe:zjalisierung anregen oder gar zwingen, so erstrecken sich die fachlich ungebundenen Fertigkeiten der Abgeordneten eher auf das Suchen und Sichern von Mehrheiten, auf das Aushandeln von Kompromissen zwischen einander widerstrebenden Lösungsvarianten. Da der Gesetzesbeschluß einer Mehrheit bedarf, haben solche Fähigkeiten durchaus einen hohen Wert41 . Voraussetzung für die Gesetzgebung ist eine von einer Mehrheit getragene und verfochtene politische Planungs- und Richtungsentscheidung. Die Fraktionen sind geeignet, solche Entscheidungen hervorzubringen. Hier kommen jeweils Abgeordnete mit im wesentlichen übereinstimmenden politischen Überzeugungen zusammen. Zugleich sind die Vertreter verschiedener Fachrichtungen und Interessen aus allen Teilen des Landes vereint. Zum einen sind also die groben Züge der politischen Gestaltung und damit der geplanten Gesetzgebungsvorhaben in den Fraktionen festzulegen. Zum anderen kann hier 34 Schwerdtfeger S. 182. 35 Eichenberger VVDStRL 40,7,29. 36 Karpen, GgebL, S. 44; Schwerdtfeger S. 180. 37 Stern § 37 IV 5 g. 38 Sie meint Karpen, GgebL, S. 44, wohl, wenn er fordert, Entwurfskritik und Alternativen müßten "aus der Gesellschaft" kommen. 39 Karpen, GgebL, S. 43; Pestalozza NJW 1981, 2081, 2084. 40 Luhmann S. 13 f., 172 f. 41 Karpen, GgebL, S. 43.

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bei der Behandlung der einzelnen Vorlagen geprüft werden, ob die Auswirkungen auf andere Regelungsgebiete und Politikbereiche ausreichend berücksichtigt wurden. Hier ist auch der einzige Ort, der Gelegenheit bietet, die Kollegen der eigenen politischen Richtung mit fachlichen Spezialitäten vertraut zu machen, die nicht zu ihrem Bereich gehören. In den Fraktionsberatungen hat der Abgeordnete zu ermitteln, ob er in Fragen, von denen er nichts versteht, seinen Kollegen vertrauen kann und will, um im Plenum deren Sachentscheidung zu unterstiitzen42 . Die politischen Planungs- und Richtungsentscheidungen setzen ebenso wie sachliche Detailfragen eine Folgenabschätzung voraus. Eine übergreifende, die einzelnen Sachgebiete überspannende Beurteilung der zukünftigen Lage hat in den Fraktionen zu erfolgen. Die Kontrolle der Regierungsvorlagen fällt dabei insbesondere, aber nicht nur den Minderheitsfraktionen zu. Die Mehrheitsfraktionen haben zu prüfen, ob die Initiativen der Bundesregierung zur Verwirklichung des Programms taugen, mit dem sie angetreten sind. Daß nicht nur die Kritikbereitschaft, sondern auch die Kritikfähigkeit der Mehrheitsfraktionen gegenüber den Regierungsinitiativen eingeschränkt ist, wird durch das System der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament bedingt. Da die Regierung von den Mehrheitsfraktionen ins Amt gebracht wird, kann sie anschließend erwarten, daß ihr die Gesetze zur Verfügung gestellt werden, die sie für notwendig hält, um die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen zu können. Das Gegenbeispiel der USA, wo der Präsident mit seiner Administration weder bei der Amtsübernahme, noch beim Verbleiben im Amt vom Parlament abhängig ist, zeigt, daß auch die Mehrheitsfraktionen, die die Parteizugehörigkeit des Präsidenten teilen, dessen Vorlagen mit größerer Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit begegnen. Das Entwerfen alternativer Handlungskonzepte kommt jedoch vor allem den Minderheitsfraktionen zu. Sie haben dabei Doppeltes zu leisten. Sie müssen die Programme und Prognosen der Mehrheit in Frage stellen und ihnen gleichzeitig eigene Entwürfe gegenüberstellen, die ebenfalls auf einer Folgenabschätzung beruhen müssen, um zu zeigen, daß der eigene Weg in eine rosigere Zukunft führt. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung sind die Fraktionen somit auf Sachverstand angewiesen, der bei den Mitgliedern nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Sie haben sich einen Stab von Mitarbeitern zu halten, der nach fachlichen Gesichtspunkten auszuwählen ist. Die Fraktionsfinanzierung findet ihre Rechtfertigung somit auch darin, den Fraktionen die Fähigkeit zu verleihen, ihren Beitrag im Gesetzgebungsverfahren zu leisten. Die tatsächlich vorzufindende Ausstattung der Bundestagsfraktionen zeigt jedoch, daß sie auch auf dem Gebiet der groben Richtungsbestimmung nicht annähernd geeignet sind, ein Gegengewicht zur 42 BVerfGE 44, 308, 318; Mahrenhoh, Abweichende Meinung zu BVerfGE 70, 324 (Geheimdienstkontrolle), dort S. 366, 376.

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Bundesregierung mit ihrer Ministerialbürokratie zu bilden. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sind mit der hochsgezialisierten und personalstarken Ministerialverwaltung nicht zu vergleichen4 • Gleiches gilt für die Ausschüsse und Fraktionsarbeitsgruppen, denen die Erledigung der sachlichen Detailarbeit im parlamentarischen Abschnitt des Gesetzgebungsverfahrens obliegt. Wegen der geringeren Größe und der Spezialisierung ihrer Mitglieder sind die Ausschüsse zu einer die Einzelheiten berührenden Beratung fähig. Zur Vorbereitung der Beratung und Entscheidung haben die Fraktionen Arbeitsgruppen eingerichtet. Die Ausschüsse leisten die eigentliche parlamentarische Beratung der Gesetzesvorlagen. Hierwird die Sachentscheidung getroffen 44. Eine Präjudizierung durch die Fraktionen geschieht lediglich bei den Vorhaben von allgemeinem politischem Interesse; sonst behandeln die Fraktionen die Vorlage erst in Kenntnis der Ausschußempfehlung, um die Plenarentscheidung vorzubereiten. Den Ausschüssen obliegt somit auch die Pflicht, die Vorlagen auf das Einhalten der verfassungs rechtlichen Qualitätsanforderungen zu überprüfen45. Durch die Befassung mehrerer Ausschüsse mit einer Initiative können die Auswirkungen auf verschiedene Sach- und Rechtsgebiete berücksichtigt werden, um Systemverträglichkeit sicherzustellen. Während der Ausschußberatungen kann die Gelegenheit wahrgenommen werden, durch Anhörung von am Verfahren nicht beteiligten Sachkundigen und Interessenvertretern nicht nur Akzeptanz zu ermöglichen, sondern auch Ansichten zur Prognose zu sammeln, um die Notwendigkeit, Geeignetheit, Vollzugstauglichkeit und Verständlichkeit der Vorlage zu beurteilen, wenn dies anhand der mit dem Entwurf vorgelegten Materialien nicht möglich erscheint. Die Durchführung solcher Anhörungen bleibt jedoch die Ausnahme. Die weitaus meisten Vorlagen werden ohne dieses Hilfsmittel beraten. Als Beratungsgrundlage bleiben dann die Angaben des Initiators und jedenfalls - auch bei Vorlagen anderer Initiativberechtigter - die Stellungnahmen der Regierungsvertreter . In den Ausschußsitzungen ist stets ein Vertreter des federführenden Ministeriums anwesend, das nicht nur die eigenen Vorlagen verteidigt und sein Sachgebiet vor unliebsamer Einflußnahme durch andere Initiativberechtigte schützt, sondern bei Änderungswünschen des Ausschusses auch die Bitte um "Formulierungshilfe" entgegennimmt46 . Bei den meisten Beratungen kann der Ausschuß mehr als eine allenfalls oberflächliche Überprüfung der von der Bundesreferung zu Grunde gelegten Gesetzgebungsvoraussetzungen nicht vornehmen4 • Schon allein die Personalstärke läßt mehr nicht zu. Die 43 Hili DÖV 1981, 487, 492.

44 BVerfGE 44, 308, 318; 70, 324, 363 (Geheimdienstkontrolle). 45 Schwerdtfeger S. 183. 46 Fliedner ZG 1991, 40, 54. 47 Karpen, GgebL, S. 39; Schll/ze-Fielitz DÖV 1988, 758, 759.

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Ausschußmitglieder werden vom Sekretariat und den Mitarbeitern der jeweiligen Arbeitsgruppen unterstützt. Ein Vergleich zeigt auch hier die Dominanz der Regierung. So werden im Sekretariat des Rechtssausschusses und den entsprechenden Arbeitsgruppen der Fraktionen rund ein Dutzend Volljuristen beschäftigt, ein geringer Bruchteil der Kapazität des Justizministeriums. Hinzu kommt eine heillose Überlastung der Beteiligten. Das zu bewältigende Pensum erlaubt bei den wenigsten Vorlagen eine gründliche, aufwendige Befassung'8. Zur Abhilfe kann nicht empfohlen werden, den Bundestag - seine Ausschüsse und Fraktionen - mit aufwendig ausgestalten Hilfsdiensten zu versehen. Dies würde bei konsequenter Durchführung zu einem Abbild der personaIstarken, fachlich hochdiffereazierten Ministerialverwaltung führen. Ein Zuwachs an Kenntnissen und Überblick über die Zusammenhänge bei denjenigen, denen die Entscheidung abverlangt wird - den Abgeordneten - ginge damit nicht einher. Die Klagen über die Angewiesenheit und Abhängigkeit der Parlamentarier von der allwissenden und daher allmächtigen Ministerialbürokratie49 würden ersetzt durch solche über die Abhängigkeit von der eigenen, der Parlamcl1tsbiirokratie. Vielmehr ist zwischen Ministerialbürokratie und Bundestag das oben schon angedeutete rechte Maß der Aufgabenverteilung zu finden: die Ministerialbürokratie liefert ihren unvef7ichtbaren Beitrag des Entwurfsverfassens auf Grund umfassender Tatsachenkenntnis und mit besten Spezialkenntnissen und legt die Grundlagen des Entwurfes mit diesem vor; der Bundestag beschränkt sich auf die Kontrolle des EinhaItens der gewünschten politischen Richtung und das Nachvollziehen der wesentlichen Elemente der Gesetzgebungsmethodik und kümmert sich um die parlamentarische Durchsetzbarkeit der Vorlage 50 . Die Vorlagenflut, die auch den Erfolg einer solchen Aufgabenverteilung zum Scheitern bringen muß, ist einzudämmen durch das Beherzigen dessen, was schon zu Beginn unter dem Stichwort des notwendigen Gesetzes zum Eindämmen der Normenflut ausgeführt worden ist, und durch ein besseres Bemühen, statt vieler neben- und nacheinander eingebrachter Einzel- oder Ausschnittvorlagen solche Entwürfe zu präsentieren, die durch Zusammenfassungen die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Regelungen und Regelungsbereichen verdeutlichen. Eine weiter ausholende Beratung einer sol-

48 Eichenberger VVOStRL

852.

40, 7, 18;

Hill, GgebL, S.

47, 73;

Leisner DVBI

1981, 849,

49 Degenhart OÖV 1981, 477, 482 f.; Leisner OVBI 1981, 849, 852; Pestalou.a NJW 1981,2081,2084; Weiß OÖV 1978, 601, 603. 50 Karpen, NJW 1988, 2512, 2518, beschreibt so die Funktion des Gesetzgebungsverfahrens: es gehe um den Ausgleich zwischen Sachverstand (Exekutive) und Konsensfähigkeit (Legislative). Im gleichen Sinne sieht Schulze-Fielitz, OÖV 1988, 758. 760, die doppelte Aufgabe des Verfahrens in der politischen Gestaltung einerseits und der gesetzestechnischen Optimierung andererseits .

11. Die beteiligten Organe

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ehen umfassenden Vorlage ist zeitlich und sachlich effi7ienter als zahlreiche Einzelberatungen. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Bundestag und seine Ausschüsse heute in allen Fällen lediglich in der Lage seien, die Regierungsvorlagen abzusegnen, ohne auf das Einhalten der Qualitätsanforderungen Einfluß nehmen zu können. Mag auch bei vielen Vorlagen mehr als eine oberflächliche Überprüfung der Regierungsleistung nicht möglich sein, so stechen desto deutlicher die Beispiele echter Parlamentsgesetze - im besten Sinne des Wortes - hervor. Das Bilanzrichtlinien-Gesetz'l ist bereits oben bei der Verständlichkeit als Beispiel verwandt worden. Bei der ersten Lesung des Regierungsentwurfs ist ausdrücklich mißbilligt worden, daß die Bundesregierung, die selbst drei Jahre für die Umsetzung einer EG-Richtlinie gebraucht habe, die ihrerseits zehn Jahre lang beraten worden sei, nun einen schnellen und reibungslosen Ablauf des parlamentarischen Verfahrens erwarte, der allein durch weitgehend ungeprüfte Zustimmung hätte erreicht werden können und in dem der Bundestag lediglich "als Abstimmungsmaschinerie" hätte tätig werden können52 . Der Rechtsausschuß und ein eigens eingesetzter Unterausschuß haben sodann in zweijähriger Arbeit die Konzeption des Entwurfs grundlegend geändert53 und durch eine Neustrukturierung, die das Allgemeine dem Besonderen vorausgehen läßt, insbesondere der Verständlichkeit des Dritten Buches des Handelsgesetzbuches gedient54 . Der Unterausschuß führte dazu Anhörungen durch und stand in engem Kontakt zu den Verbänden und Wissenschaftlern, die die Interessen der späteren Anwender vertraten. Die Entwurfsverfasser im lustizministerium nahmen ebenfalls an der vollkommenen Umgestaltung ihrer Vorlage teil, hatten jedoch die deutliche Dominanz der Abgeordneten und des von ihnen herangezogenen Sachverstandes zu respektieren55 . Das Ergebnis ist ein echtes Parlamentsgesetz, das mit der Regierungsvorlage kaum mehr vergleichbar .ist. Insbesondere der Erste Abschnitt des Dritten Buches des Handelsgesetzbuches der Allgemeine Teil - fällt durch kurze, straff formulierte Vorschriften auf, in dem eine weitgehend unveränderte umständliche Regierungsformulierung schon als Fremdkörper auffällt (§ 255 11 HGB). 51 Gesetz zur Durchführung der Vierten, Siebenten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (Bilanzrichtlinien-Gesetz - BiRiLiG) vom 19. Dezember 1985 (BGBI. 1,2355). 52 Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/25, S. 1740 B. 53 Das Verfahren ist nachzuvollziehen an hand der Materialsammlung Herbert Helmrich, Bilanzrichtlinien-Gesetz, München, 1986. 54 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, Deutscher Bundestag, Drs. 10/4268, S. 88 f.; Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, Plenarprotkoll 10/181, S. 13734 A, 13735 A ff. 55 Abg. Helmrich, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/181, S. 13735 C; Abg. Stiegler, ebd., S. 13737 A.

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Die parlamentarische Beratung der Gesetzesvorlagen wird nicht nur von der Ministerialverwaltung dominiert; die Gestaltung der Gesetze und damit auch die Verwirklichung der Qualitätsanforderungen wird dem Bundestag und insbesondere seinen zur Detailarbeit berufenen Ausschüssen durch eine weitere Entwicklung entzogen. Fehlt einem Gesetzesvorhaben die Aussicht auf die erforderlichen Mehrheiten, so werden die Sachentscheidungen außerhalb des Bundestages getroffen. Besteht Uneinigkeit zwischen den die Mehrheit stellenden Parteien bzw. Fraktionen, so treten Koalitionsrundcn zusammen. Zwar sind auch hier zumeist einige Spezialisten der beteiligten Fraktionen beteiligt. Kern der Bemühungen bildet nun aber nicht mehr eine saubere Gesetzgebungstechnik und das sorgfältige Hinwirken auf ein Gesetz, das den Qualitätsanforderungen entspricht, sondern das Zustandebringen eines mehrheitsfähigen Kompromisses. Probates Mittel dazu ist insbesondere das Streichen strittiger Passagen. So entsteht ein unvollständiges Gesetz, wenn nicht gar der Zweck der Regelung dem verbleibenden Torso nur noch mit Mühe zu entnehmen ist. Zu gesetzgeberischen Unzulänglichkeiten führt auch der Weg über das Einfügen von Regelungsinstrumenten, die einer der am Komprorniß Beteiligten erst während der Verhandlungen als Handelsware präsentiert, ohne umfassende Tatsachenkenntnis und ohne gründliche prognostische Bewertung. Ist nicht einmal geklärt, ob in dieser Weise eingefügte Gebote und Verbote vollstreckbar sind, so wird nicht nur der jeweilige Verfechter mit wertlosen Symbolen abgespeist, es kommt zudem eine nicht zielsichere, weil vollzugsuntaugliche und damit verfassungswidrige Regelung zustande. Ein solcher unhaltbarer Anspruch, der als Ergebnis eines politischen Kompromisses in ein umstrittenes Gesetz eingefügt worden ist, ist der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz (Art. 5 Schwangeren- und FamilienhilfeG56 ). Schon während der Beratungen ist bezweifelt worden, ob ein solcher Anspruch überhaupt zu erfüllen sei, und sollte dies gelingen, ob die ausgehandelte Frist einzuhalten sei. Nach dem Inkrafttreten wurde dann verschiedentlich die Unmöglichkeit einer solchen Leistung festgestellt 57 . Eine gründliche Bestandsaufnabme um] sorgfältige Prognose hätte davor bewahren können, daß die Form des Gesetzes mißbraucht wurde, um einem politischen Wunsch Ausdruck zu verleihen. Das Eingeständnis, die Initiative könne mangels der nötigen Mehrheit nicht beschlossen werden, wird als politische Niederlage empfunden, die die Koali-

56 Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens. zur Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 27. Juli 1992 (BGB!. I, 1398). 57 Statt vieler: FAZ v. 17. Juli 1993. S. 5: "Hamburg kann Verpflichtung für Kindergartenplätze nicht erfüllen. ( ... ) Wie die Hamburger Schul- und Jugendsenatorin Raab (SPD) mitteilte, sei die Stadt schon aus organisatorischen Gründen nicht in der Lage, bis 1996 die erforderlichen 9500 neuen Plätze bereitzustellen."

11. Die beteiligten Organe

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tion ins Wanken bringen könnte. Für den politischen Erfolg wird gesetzgeberisches Versagen in Kauf genommen. Gleiches gilt, wenn bei drohendem Scheitern der Vorlage im Bundesrat der Vermittlungsausschuß tätig wird 58 . Hier sind zumeist nicht Länderinteressen mit Bundesinteressen in Einklang zu bringen. Der Vermittlungsbedarf besteht zwischen den verschiedenen politischen Lagern, die in Bundestag und Bundesrat die Mehrheit stellen. Ist das strittige Vorhaben von einiger politischer Brisanz, so wird der politische Handel nicht einmal mehr im Vermittlungsausschuß, sondern zwischen den Parteiführungen vorgenommen. Wie bereits oben beim Verfassen der Vorlage, so muß auch hier festgestellt werden, daß die Sachentscheidungen den staatlichen Organen entzogen werden, um in informellen Kreisen zwischen den Parteien vereinbart zu werden. Fällt dem Bundestag wegen seiner mangelhaften Ausstattung die Beachtung der gesetzgeberischen Sorgfaltspflichten bereits schwer, so fühlen sich die Partei- und Koalitionszirkel an sie nicht einmal mehr gebunden, weil ihr Leitbild vom Durchsetzen möglichst vieler eigener Positionen und vom öffentlich darzustellenden politischen Erfolg bestimmt wird. Parteien und Koalitionsrunden sind zudem ebenso wie andere Interessenvertreter, die Einfluß auf das Gesetzgebungsverfahren zu nehmen versuchen, keine Adressaten der Verfassungspflichten, die sorgfältige Gesetzgebungsmethodik gebieten59. Soweit aus den materiellen Anforderungen an das Gesetz Verfahrenspflichten abzuleiten sind, kann das Grundgesetz nur diejenigen Organe binden, die es selbst als Teilnehmer am Gesetzgebungsverfahren vorgesehen hat. Die grundgesetzliche Bindung reicht somit zwar in das Stadium des Entwurfsverfassens durch die Initiativberechtigten (Art. 76 I GG) hinein60 , erfaßt Außenstehende jedoch nicht. Die ungeprüfte Übernahme der Ergebnisse aus Koalitionsvereinbarungen und anderen Verhandlungen zwischen Parteien und anderen Interessenvertretern befreit die Verfassungsorgane und ihre Untergliederungen nicht von ihrer Verantwortung, für die Erfüllung der Pflicht zum guten Gesetz einzustehen. Der Bundestag steht mit seinen Gliederungen wegen der unvermittelten demokratischen Legitimation und seinem unverzichtbaren Beitrag des Gesetzesbeschlusses im Zentrum des Gesetzgebungsverfahrens. Er hat mit seinen Gremien die Pflicht zum guten Gesetz zu erfüllen. Die Fraktionen sind insbesondere zur politischen Willensbildung und damit zur Planungs- und Lenkungsentscheidung und zur Koordination und Abstimmung verschiedener Einzelvorhaben geeignet, während den Ausschüssen und Arbeitsgruppen die Detailarbeit 58 Hili, GgebL, S. 50 f. 59 Kloepfer VVDStRL 40, 63, 89 f.

60 Also doch weiter als Kloepfer, VVDStRL 40, 63, 89 f., befürchtet, der die gesamte "vorparlamentarische Phase" für ungeregelt hält.

144

F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes

obliegt. Dennoch mußte festgestellt werden, daß die dem Bundestag deshalb abzuverlangenden Bemühungen um das Erfüllen der Qualitätsanforderungen an das Gesetz in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt werden. Der hochspezialisierten Ministerialverwaltung hat der Bundestag nichts gleichwertiges entgegenzusetzen. Je politisch brisanter und je weniger konsensfähig eine Vorlage ist, desto eher wird die Beratung und Entscheidung nicht mehr in den Gremien des Bundestages vorgenommen, sondern außerhalb seiner Institutionen; die dort getroffene Entscheidung wird dann nur noch vollzogen. Die große Mehrheit der Gesetzesinitiativen passiert den Bundestag jedoch abseits des öffentlichen Interesses. Die Beratungen beschränken sich dann oftmals wegen des immensen Arbeitsanfalls und der im Verhähltnis zu den Anforderungen unzureichenden personellen Ausstattung auf ein Überprüfen der Erwägungen der vorlegenden Bundesregierung, so daß kaum Gelegenheit zur Korrektur besteht. 3. Der Bundesrat

Der Bundesrat steht dem Bundestag an Bedeutung für das Entstehen eines Gesetzes kaum nach. Die meisten Gesetze können ohne seine ausdrückliche Zustimmung nicht zustandekommen. Bei Regierungsvorlagen und ohnehin bei eigenen Vorlagen ist der Bundesrat der Erste (Art. 76 11, III GG), bei allen vom Bundestag beschlossenen Vorlagen jedoch der Letzte (Art. 77 I 2 GG), der über den Entwurf berät. Noch eher als der Bundestag kann sich der Bundesrat deshalb auf die Kontrolle des bisher Geleisteten beschränken. Er kennt das bisherige Verfahren und die Erörterungen über den ihm zugeleiteten beschlossenen Entwurf im einzelnen. Er ist nicht auf die als Drucksachen veröffentlichten Beratungsergebnisse angewiesen. Seine Mitglieder und deren Beauftragte sind zur Teilnahme an den Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse berechtigt (Art. 43 11 GG). Tatsächlich finden die Ausschußberatungen im Bundestag unter ständiger Anwesenheit und Beobachtung von Mitarbeitern der Landesvertretungen statt. Der Bundesrat selbst unterhält noch weniger Personal als der Bundestag. Das Erarbeiten der eigenen Entwürfe und die Prüfung der zugeleiteten Vorlagen geschieht nicht beim Bundesrat, sondern in den Ministerialverwaltungen der Länder. Die Sachentscheidungen über das Verhalten des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren fallen dementsprechend auch hier nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen oder außerhalb des Bundesrates in den Fachministerkonferenzen der Länder oder den Vorbesprechungen der Länder mit parteipolitisch gleichgerichteten Regierungen, den SPD-geführten A- und den CDU- bzw. CSU-geführten B-Ländern. Kommt es zum Konflikt zwischen Bundestag und Bundesrat und kann die Bundestagsmehrheit einen Einspruch nicht schlicht zurückweisen (Art. 77 IV GG), so fällt die Suche nach einem Komprorniß ohnehin dem Vermittlungsausschuß zu, dessen Ergebnis, da es sich um ein Verhandlungsergebnis handelt, sowohl

11. Die beteiligten Organe

145

Bundesrat als auch Bundestag nur annehmen oder ablehnen, nicht jedoch modifizieren können. Im Vermittlungs ausschuß steht jedoch der Ausgleich parteipolitischer Gegensätze, nicht jedoch das Durchsetzen von Qualitätsanforderungen im Vordergrund. Die Sicherung der Qualitätsanforderungen an die Gesetze obliegt im Bundesrat somit vor allem seinen Ausschüssen und seinen Mitgliedern, die mit ihren Ministerialverwaltungen die entsprechenden Leistungen erbringen können. Die sachliche Einflußnahme des Bundesrates auf die Vorlagen ist ohnehin beschränkt. Durch den Bundesrat soll der Einfluß der Länder auf die Bundesgesetzgebung gesichert werden (Art. 50 GG). Danach müßte der Bundesrat insbesondere diejenigen Qualitätsanforderungen in den Beratungen durchzusetzen versuchen, die die Interessen der Länder als Glieder des Bundesstaates berühren, also das Vermeiden überflüssiger Bundesgesetze, die sachliche Systemverträglichkeit mit dem Recht der Länder und, da grundsätzlich die Länder zur Ausführung der Bundesgesetze berufen sind (Art. 83 bis 85 GG), die Voll zugs geeignetheit. Greift der Bundesrat durch Anrufung des Vermittlungs ausschusses in das Gesetzgebungsverfahren ein, so wird allzu oft deutlich, daß er nicht zur Sicherung der Qualitätsanforderungen tätig wird, sondern sich für die Durchsetzung partei politischer Interessen korrumpieren läßt. Wird die Mehrheit in Bundestag und Bundesrat von den gleichen Parteien gestellt, so wird den Bundesratsberatungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt; der Vermittlungsausschuß wird selten oder nie tätig. Stellt jedoch eine Oppositionspartei im Bundestag die Mehrheit im Bundesrat, so nutzt sie dies als Gegengewicht, um die Regierungsmehrheit zu stören und eigenen Einfluß zu gewinnen, wobei die Parteikollegen im Bundesrat mitunter mehr Eigensinnigkeit zeigen, als es dem Oppositionsführer im Bundestag lieb sein kann. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß der verhindernde und korrigierende Einfluß des Bundesrates weniger von Qualitätssicherung als von parteipolitischen Interessen bestimmt ist. 4. Die an der Ausfertigung Beteiligten

Die gegenzeichnenden Mitglieder der Bundesregierung und der Bundespräsident, der das zustandegekommene Gesetz ausfertigt (Art. 82 I 1, 58 S. 1 GG), haben in diesem Abschnitt des Verfahrens keinen gestaltenden Einfluß auf das Gesetz. Inwieweit sie verpflichtet sind, ihre Mitwirkung zu versagen, wenn ein Gesetz den Qualitätsanforderung der Verfassung an ein gutes Gesetz nicht entspricht, hängt davon ab, ob den Mitgliedern der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten eine Befugnis zur Prüfung der materiellen Verfassungs geJO Burghan

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F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes

mäßheit des auszufertigenden Gesetzes zugebilligt wird. Die dazu bestehenden Meinungsverschiedenheiten sollen hier weder dargestellt noch erörtert werden. S. Die Wirkungskontrolle

Die Erkenntnis des selbstverständlichen Fehlerrisikos der Prognosen, auf denen ein Gesetz beruht, muß den Gesetzgeber veranlassen, das Erforschen der Wirkungen der erlassenen Regelungen gezielt vorzunehmen61 . Die Pflicht zur Wirkungskontrolle trifft zunächst diejenigen Stellen, die die Gesetze anwenden und vollstrecken. Die Exekutive in Bund und Ländern hat durch Beobachtung und Sammlung des Tatsachenstoffes sicherzustellen, daß ein Vergleich mit der dem Gesetz zu Grunde gelegten Prognose und den gesteckten Zielen vorgenommen werden kann 62 • Dazu eignen sich innerhalb der Verwaltung insbesondere Berichtspflichten über die relevanten Daten. Gegebenenfalls hat der Gesetzgeber selbst die Rechtsgrundlagen zur Verfügung zu stellen, um statistische Erhebungen zur Wirkungskontrolle zu ermöglichen. Im übrigen überschneidet sich die Tatsachensammlung zur Wirkungskontrolle mit der ohnehin gebotenen - und oben angesprochenen - umfassenden Beobachtung der sozialen Wirklichkeit. Die Veränderungen durch in Kraft getretene Gesetze oder ihr unerwünschtes Ausbleiben können dabei zur Kenntnis genommen werden. Die Entscheidung, ob durch ein Änderungsgesetz korrigierend eingegriffen werden muß oder ob das Gesetz gar aufzuheben ist, weil es nicht mehr erforderlich ist, bedarf nicht nur eines Vergleiches des angestrebten mit dem eingetretenen Zustand, sondern auch einer neuen, gegenüber der früheren sichereren Prognose, auf deren Grundlage zu ermitteln ist, ob nun andere, besser geeignete gesetzgeberische Mittel ersichtlich sind. Diese Aufgabe nimmt - wie oben beschrieben - vor allem die Ministerialverwaltung wahr. Gesetze, die Politikbereiche von gesteigertem Interesse regeln, die zu den Aufgabenschwerpunkten der jeweiligen Parlamentsmehrheit gehören, sehen aber auch Berichtspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag vor. Hier soll bereits die Bewertung der Wirksamkeit gesetzgeberischer Maßnahmen unter Beachtung der Öffentlichkeit stattfinden, um Erfolge nicht unerkannt bleiben zu lassen.

61 Noll, S. 146 f., und Hellstem/Wol/mann, ZParl 1980, 547, 557, 559 ff., fordern geradezu eine Evaluierungsbürokratie; ob dies mehr Nutzen bringt, als eine (selbst)kritische Wirkungskontrolle durch diejenigen, die ohnehin mit dem betreffenden Sachgebiet befaßt sind, muß bezweifelt werden. 62 Hili, GgebL, S. 67.

111. Zusammenfassung

147

111. Zusammenfassung Die erkannten Qualitätsanforderungen weisen den Weg zum guten Gesetz. Er führt über die klare und deutliche Festlegung des Zweckes, das Verschaffen umfassender Tatsachenkenntnis, das Erstellen von Prognosen über die Entwicklung des potentiellen Regelungsbereichs unter Berücksichtigung al1er denkbaren Handlungsvarianten, die Mittelwahl unter Berücksichtigung der erwarteten Wirkungen und Nebenwirkungen der gesetzgeberischen Maßnahme und unter Gewichtung und Abwägung der berührten Interessen und Rechtsgüter bis zur Wirkungskontrol1e und gegebenenfal1s dem korrigierenden Eingreifen in die beobachtete Entwicklung. Die notwendigen Fertigkeiten, um diese Leistungen zu erbringen, wt:isen die Teilnehmer am politischen Entscheidungsprozeß nur zum geringsten Teil auf. Sie sind insbesondere bei der Tatsachenermittlung und dem Erstellen der Prognosen auf die Inanspruchnahme wissenschaftlichen Sachverstandes angewiesen. Zwecksetzung und Mittelwahl in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ergeben gemeinsam das politische Planen. Die wissenschaftlichen Vorleistungen können lediglich Entscheidungsgrundlagen bieten, ohne die Entscheidung selbst vorwegzunehmen oder die Entscheidung als Ergebnis zwingender Notwendigkeiten erscheinen zu lassen. Eine Aneinanderreihung von Gutachten ersetzt die politische Entscheidung nicht. "Sachzwänge", mit deren Vorschieben der Verantwortung entgangen werden sol1, gibt es nicht; es besteht stets zumindest eine Handlungsvariante. Setzt sich die politische Planung al1erdings über ihre Tatsachen- und Prognosegrundlagen hinweg, so muß dies zu untauglichen Ergebnissen führen, da politischer Wunsch und Wille nicht geeignet sind, die Gegebenheiten zu verschieben. Im Gesetzgebungsverfahren kommt der Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung die Dominanz zu. Sie ist von a11en beteiligten Organen am besten geeignet, sich die nötigen umfassenden Kenntnisse zu verschaffen, zu ordnen, zu analysieren und für die Gesetzgebung zu berücksichtigen. Sie rekrutiert ihr Personal nach den Gesichtspunkten der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung und ist somit zu hochgradiger Spezialisierung in der Lage. Am Bundestag, der über die Gesetze beschließt (Art. 77 I 1 GG) geht die Frage der Normgeltung nicht vorbei. Er versieht das Gesetz mit der durch die Wahl vermittelten demokratischen Legitimation und hat deshalb - durchseine Gremien selbst sicherzustel1en, daß die gesetzgeberische Sorgfalt beachtet wird. Das Plenum ist dazu wegen seiner Größe jedoch ungeeignet. Die Entscheidungen fallen der Sache nach in den Ausschüssen, Fraktionsarbeitsgruppen und Fraktionen. Wie weit im Bundestag das Verfahren der Entwurfsvorbereitung wiederholt werden muß, hängt von den Vorleistungen des Initiators ab. Legt er die Entwurfsgrundlagen vor, so genügt eine Prüfung der erbrachten Leistun10*

148

F. Das Zustandekommen eines guten Gesetzes

gen. Die wesentlichen Elemente der gesetzgeberischen Methodik sind im einzelnen nachzuvollziehen. Mehr können der Bundestag und seine Gremien nicht leisten. Schon die personelle Ausstattung erlaubt nicht mehr. Der Aufbau umfänglicher parlamentarischer Hilfsdienste würde nicht zu einem Zuwachs an Kenntnissen und Überblick über die Zusammenhänge bei denjenigen, denen die Entscheidung abverlangt wird - den Abgeordneten - führen. Die Klagen über die Angewiesenheit und Abhängigkeit der Parlamentarier von der allwissenden und daher allmächtigen Ministerialbürokratie würden ersetzt durch solche über die Abhängigkeit von der eigenen, der Parlamentsbürokratie. Abhilfe verschaffen kann ein rechtes Maß der Aufgabenverteilung zwischen Ministerialbürokratie und Parlament: die Ministerialbürokratie liefert die Feinarbeit des Vorbereitens und Verfassens des Entwurfs; der Bundestag beschränkt sich auf die Kontrolle des Einhaltens der gewünschten politischen Richtung und das Nachvollziehen der wesentlichen Elemente der Gesetzgebungsmethodik und kümmert sich um die parlamentarische Durchsetzbarkeit der Vorlage. Die parlamentarische Beratung der Gesetzesvorlagen wird nicht nur von der Ministerialverwaltung dominiert; die Gestaltung der Gesetze wird den beteiligten Organen auch von Koalitionsrunden und Absprachen zwischen den Parteiführungen entzogen. Das Einhalten von Qualitätsanforderungen tritt hier endgültig hinter dem Sicherstellen politischer Durchsetzbarkeit zurück. Der Bundesrat kann sich noch eher als der Bundestag auf eine Prüfung des im bisherigen Verfahren Geleisteten beschränken. Seine Vorbehalte gegen die Gesetzesbeschlüsse des Bundestages beruhen allzu oft nicht auf Zweifeln, das Gesetz werde den gerade im Länderinteresse bestehenden Qualitätsanforderungen nicht gerecht, sondern auf den verschiedenen politischen Richtungen der Mehrheiten in bei den Häusern.

4. Abschnitt G. Die Normenkontrolle Nun ist geklärt, daß das Grundgesetz bestimmte Qualitätsanforderungen an das Gesetz stellt. Der Gesetzgeber unterliegt der Pflicht zum guten Gesetz. Die Qualitätsanforderungen, denen das Grundgesetz das Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses unterwirft, weisen auch auf bestimmte Sorgfaltsanforderungen hin, deren Beachtung im Gesetzgebungsverfahren Gewähr dafür bietet, ein gutes Gesetz hervorzubringen. Auch konnte näher beleuchtet werden, welche Organe und Organteile für einzelne Verfahrenshandlungen heranzuziehen sind, weil ihre Stellung im Organgefüge, ihre Ausstattung und ihre Funktionsweise sie dafür besonders befähigt und daher geeignet erscheinen läßt. Unbeantwortet geblieben ist bislang jedoch die Frage, ob eine Pflicht zur Sorgfalt besteht. Der Gesetzgeber schuldet das gute, das verfassungsgemäße Gesetz. Diese Binsenweisheit konnte nicht mehr erfunden, wohl aber noch etwas konkretisiert, inhaltlich verfeinert werden. Aber schuldet er wirklich nur und gar nichts anderes als das - gute - Gesetz1, oder schuldet er auch ein sorgfältiges Bemühen um das gute Gesetz, um die Chance auf ein solches allein zufriedensteIlendes Ergebnis zu erhöhen? Die Folge wäre unausweichlich die Verfassungswidrigkeit des unzureichend beratenen Gesetzes, mag es am Maßstab der Qualitätsanforderungen auch noch so sehr beeindrucken. Diese Rechlsfolge ist ihrer Art nach - wie einleitend gezeigt - aus dem Bauplanungsrecht hinlänglich bekannt. Die richtige Stelle zur Klärung dieser Frage ist erst jetzt erreicht, nachdem festgesetellt ist, welches Ergenbis die Verfassung verlangt und wie dieses Ergebnis zu erreichen ist. Nun kann erörtert werden, ob und wie weit die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich auf das sorgfältige Bemühen um ein gutes Gesetz erstreckt. Muß ein scblecht beratenes gutes Gesetz in der Normenkontrolle scheitern, so besteht neben der Verpflichtung auf das Ergebnis auch eine Verfahrenspflicht zum guten Gesetz. Diese Methode ist zulässig. Sie zäumt das Pferd nicht von hinten auf. Die Freiheit der an der Gesetzgebung beteiligten Organe zur Gestaltung ihres Ver1 Geiger S. 141; Gusy ZRP 1985, 291, 298; Schia ich VVDStRL 39, 99, 109; Schlaich Rdnr.506.

150

G. Die Normenkontrolle

fahrens wird durch den Maßstab und die Intensität der gerichtlichen Nachprüfung bei der Normenkontrolle bedingt. Erstreckt sich die verfassungsgerichtliche Nachprüfung auf das Einhalten eines sorgfältigen Verfahrens, so daß bei Mängeln ohne Rücksicht auf das Verfahrensergebnis die Verfassungswidrigkeit auszusprechen ist, so enthält das Grundgesetz Verfahrenspflichten. Sie ließen sich aus den materiellen Anforderungen an das Gesetz und den auf das Verfahren bezogenen Kontrollpflichten des Bundesverfassungsgerichts herleiten. Bleibt das Vorgehen bei der Gesetzesgestaltung der Prüfung verschlossen, so daß allein das Zurückbleiben des Gesetzes hinter den materiellen Anforderungen zum Ausspruch der Verfassungswidrigkeit führen kann, so geben diese Anforderungen zwar Hinweise auf ein erfolgversprechendes Verfahren, begründen aber keine entsprechende Pflicht. Daß die Verfassung dem Gesetzgeber Verfahrenspflichten sanktionslos aufgibt, kann ausgeschlossen werden. Sie unterwirft das Gesetz der Kontrolle und der Verwerfmigskolllpetenz des Bundesverfassungsgerichts, um ihren höheren Rang zu sichern und um Rechtsschutz vor einer Mißachtung ihrer Wertordnung zu gewähren. Dies widerspricht der Vorstellung, Gesetze könnten folgenlos unter Mißachtung verfassungsrechtlicher Gebote gelten. Es wird nun zunächst untersucht, wie intensiv das Einhalten der einzelnen Qualitätsanforderungen der Normenkontrolle unterliegt, ob und weIche kontrollfreien Räume es gibt (I). Bei dieser Untersuchung der Kontrollintensität und des Kontrollmaßstabes zur Prüfung der Zwecksetzung, der Tatsachenerhebung, der Prognose, der Beurteilung der Notwendigkeiten auf Grund von Tatsachen und Prognosen, der Mittelwahl und des Formttlierens der Regelungen ist eine Unterscheidung zwischen den Anforderungen an den Vorgang und an das Ergebnis, z.B. zwischen dem vollständigen Ermitteln der Tatsachen (Vorgang) und dem Beruhen des Gesetzes auf vollständiger Tatsachengrundlage (Ergebnis), noch ohne Belang. Die Intensität der Prüfung und - auf der anderen Seite der jeweils zu ermittelnden Nahtstelle - die Reichweite des prüfungsfreien Handlungs- und Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers muß von dieser Unterscheidung unabhängig sein. Fesseln im Verfahren wären sinnlos, wenn dem Ergebnis Gleichgültigkeit begegnet. Ein ungebundenes Verfahren gewährt andererseits keinen wirklichen Freiraum, wenn das Ergebnis strenger Kontrolle unterliegt. Ist die Kontrollintensität bekannt, ist zu untersuchen, ob die erkannten Maßstäbe allein an das Verfahrensergebnis - das Gesetz - anzulegen sind oder ob auch die Bemühungen des Gesetzgebers zu überprüfen sind. Für die Ergebniskontrolle ist zugleich zu klären, ob als Bezugspunkt der Prüfung der historische Zeitpunkt des Gesetzeserlasses maßgeblich ist, so daß die Leistung des Gesetzgebers gewürdigt würde, oder der Zeitpunkt der Kontrolle (11). Bei der Erörterung der Voraussetzungen der Verfassungsgemäßheit und der Verfas-

I. Die Kontrollintensität

151

sungswidrigkeit von Gesetzen wird sich ergeben, daß eine P11icht zum Einhalten eines sorgfältigen Verfahrens besteht, um die Gesetze vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren (III, IV).

I. Die Kontrollintensität Die Kontrollintensität oder Kontrolldichte ist das Spiegelbild der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit2 • Das Maß der Kontrollintensität wird herkömmlich nach drei Kriterien bestimmt, die einander nicht ausschließen, sondern sich überschneiden und ergänzen. 1. Herkömmliche Bestimmungen

a) Bedeutullg ulld Betroffellheit des Rechtsgutes

Zum einen wird eine Abhängigkeit zwischen der Kontrollintensität und der Bedeutung und dem Maß der Betroffenheit des durch die geprüfte Regelung berührten Rechtsgutes gesehen. Je gewichtiger die berührten Grundrechte 3 und je einschneidender und existentiell bedeutsamer ihre Bedrohung durch die gesetzgeberische Maßnahme4 , desto intensiver dürfe das Bundesverfassungsgericht kontrollieren und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beschränken. b) Gegellstand der Kontrolle

Differenziert wird auch nach dem Gegenstand der Kontrolle. Während die Richtigkeit und Vollständi~eit des vorausgesetzten Sach~erhalts uneingeschränkt zu kontrollieren sei , habe sich die Prüfung beim Ubergang von der Tatsachenfeststellung zur Tatsachenwertung auf eine Evidenzkontrolle zu beschränken6 . Die Intensität der Prognosekontrolle schließlich hänge von dem

2 BVerfGE 88, 87, 96 f. (Transsexuelle). 3 BVerfGE 50, 290, 333 (Mitbestimmung); 57, 139, 159 (SchwerbehindertenG); 76, 1, 51; 77, 170, 215 (C-Waffen); 88,87,97 (Transsexuelle); 88, 203, 262 (§§ 218 ff. StGB); Ossenbühl S. 506 f. 4 Ossebühl S. 488 f.; Schneider NJW 1980, 2103, 2105. 5 Ossenbiihl S. 484. 60ssenbühl S. 485.

152

G. Die Normenkontrolle

vor- und dem nachgenannten Kriterium ab und reiche von einer strengen Inhalts- über eine Vertretbarkeits- bis zur bloßen Evidenzkontrolle7• c) EigenarteIl des Sachbereiches

Ein weiterer Anhaltspunkt für die Festlegung des richtigen Maßes an Kontrollintensität soll die Eigenart des Sachbereiches sein8 . Je komplexer und unübersichtlicher der zu behandelnde Sachverhalt und die Möglichkeiten einer Regelung seien9 , je weniger die gesetzgeberischen Verfahrenshandlungen der Rationalität zugänglich seien lO , desto eher sei eine Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung geboten. 2. Die Vertretbarkeit als Maßstab der Kontrollintensität

Als Grund für die zu bejrenzende Kontrollintensität wird zu Recht auf die Gewaltenteilung verwiesen 1. Zwar wird das Bundesverfassungsgericht mit der Prüfung und gegebenenfalls mit der Verwerfung von Gesetzen betraut (Art. 93 I Nr. 2, 4 a, 4 b, 100 I GG), und seine Entscheidungen können die gleiche Verbindlichkeit haben wie Gesetze (Art. 9411 1 GG). Dennoch übt es keine gesetzgeberische Funktion aus. Art. 92 GG weist ihm ausdrücklich das Ausüben rechtsprechender Gewalt zu. Das Bundesverfassungsgericht gestaltet die gesetzgeberischen Entscheidungen nicht, sondern es kontrolliert sie am Maßstab der Verfassung und stellt bei einem Verstoß ihre Fehlerhaftigkeit und Unverbindlichkeit fest. Auch wenn sich die Wirkungskreise des Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts somit notwendig nicht nur berühren, sondern überschneiden, hat das Gericht die Reservate des Gesetzgebers von seinen Einwirkungen zu verschonen. Den Schutz dieser Reservate bewirkt das Prinzip der Gewaltenteilung. Die Kontrolle wird durch sie begrenzt. Eine Differenzierung der Kontrollintensität nach der Bedeutung und dem Maß der Bedrohung des von der Regelung betroffenen Rechtsgutes ist unge7 BVerfGE 50, 290, 333 (Mitbestimmung); 57, 139, 159 (SchwerbehindertenG); 88, 87, 97 (Transsexuelle); BVerfG NJW 1981, 2107, 2108 (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe); Ossenbühl S. 488 f., 500 ff.; Schneider NJW 1980, 2103, 2105. 8 BVerfGE 50, 290, 333 (Mitbestimmung); 57, 139, 159 (SchwerbehindertenG); 76, 1, 51; 77,170,215 (C-Waffen); 88, 203, 262 (§§ 218 ff. StGB). 9 BVerfGE 50, 290, 333 (Mitbestimmung); 56, 54, 81 (Fluglärm); 57, 139, 159 (SchwerbehindertenG); 88, 203, 262 (§§ 218 ff. StGB); BVerfG NJW 1983, 2931, 2932 (Luftverschmutzung); Schneider NJW 1980, 2103, 2105. 10 Ossenbühl S. 501. 11 Schneider NJW 1980, 2103, 2104.

I. Die Kontrollintensität

153

eignet, den Funktionsbereich des Gesetzgebers vor Übergriffen der gerichtlichen Nachprüfung abzuschirmen. Wenn Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde gewährt werden soll, wenn Gesetze auf ihre Verfassungsgemäßheit geprüft werden sollen, dann ist nichts ersichtlich, das dem Bundesverfassungsgericht die Kontrollverweigerung bei bestimmten Verfassungsverletzungen erlauben könnte. Das Bundesverfassungsgericht darf nicht einzelnen Grundrechtsträgern den Schutz verweigern, indem es die Intensität seiner Kontrolle begrenzt. Wenn auch das Reiten im Walde Grundrechtsschutz genießen soll12, dann muß das Bundesverfassungsgericht zur Verteidigung dieser von der Verfassung garantierten Freiheit zur Verfügung stehen. Ebenso ist nicht einzusehen, warum eine Verfassungswidrigkeit eher hingenommen werden sollte, wenn einem grundrechtlichen Schutzgut nicht existentielle Gefahr oder Vernichtung droht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung zu kontrollieren und sicherzustellen, gleichviel, ob ein Verfassungsverstoß als leicht oder schwerwiegend zu bewerten ist. Die Differenzierung bei Grundrechtsbeschränkungen nach der Bedeutung und der Schwere des Eingriffs hat bei den Voraussetzungen des Eingriffs zu erfolgen. Will der Gesetzgeber zur Zweckverfolgung ein hOl:hwcrligcs, für seinen Träger existentiell bedeutsames Grundrecht beschränken oder ein grundrechtliches Schutzgut unwiederbringlich vernichten, so hat dem ein entsprechend bedeutungsvoller Zweck als Handlungsziel, eine sichere Prognose über die Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs gegenüberzustehen, um sicherzustellen, daß der Rechtsverlust zumindest durch den Erfolg der Maßnahme aufgewogen wird. Ist ein hochwertiges Rechtsgut zu schützen, so müssen die gewählten Mittel auf Grund einer sicheren Prognose als tauglich bewertet werden können, damit der Schutzpflicht genügt wird 13. Wird ein Grundrecht eher am Rande berührt oder vorübergehend oder reparabel entzogen oder ist ein geringwertiges Rechtsgut zu schützen, so ist auch eine geringe Wahrscheinlichkeit der Eignung hinzunehmen, weil bei späterer Erischtlichkeit eines Fehlgriffs bei der Wahl der Maßnahme die eingetretenen Verluste als geringer oder sogar ersetzbar anzusehen sind. Ob diese leichteren Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff vorliegen, ist jedoch mit gleicher Gründlichkeit und gleicher Intensität nachzuprüfen wie die Bedingungen für einen schwerwiegenden Eingriff. Der Gesetzgeber hat keinen Spielraum, der ihn zur Verletzung von Grundrechten oder anderer 12 BVerCGE 80, 137, 152 Cf. (Reiten im Walde); Grimm, Abweichende Meinung, dort S. 164 f. 13 BVerfGE 39, 1,59 f. (§§ 218 ff. StGB); 88, 203, 262 (§§ 218 ff. StUß).

154

G. Die Normenkontrolle

Verfassungsbestimmungen befugt. Sollen zur Gefahrenabwehr Grundrechte beschränkt werden, so ist das Vorliegen einer hohen Wahrscheinlichkeit, die einen schweren Eingriff rechtfertigt, ebenso intensiv zu prüfen, wie das Vorliegen einer geringen Wahrscheinlichkeit, die eine nur leichtere Beschränkung erlaubt. Auch die geringe Wahrscheinlichkeit muß gegeben sein. Der Gesetzgeber hat keinen Spielraum, der ihn von dieser Bedingung befreien könnte. Wenn die Begrenzung der Kontrollintensität der Abgrenzung der Funktionsbereiche dienen soll, dann ist zu fragen, welche Bereiche es sind, die dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben sollen, so daß das Gericht hier auf eine geringe Kontrollintensität beschränkt bleiben muß. Dies sind die Entscheidungen im Gesetzgebungsverfahren, die nur der Gesetzgeber treffen kann, weil er nach seiner Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise dafür über die besten Voraussetzungen verfügt 14 , jedenfalls über bessere als das prüfende Bundesverfassungsgericht. Die Besonderheit, die das Parlament gegenüber dem Gericht und anderen Organen hervorhebt, ist seine unmittelbare demokratische Legitimation durch die Wahlen. Auch die verordnungsgebende Regierung zeichnet sich durch die Art ihrer Legitimation gegenüber dem Gericht aus. Beide sind zwar mittelbar legitimiert, aber die Bestellung der Regierung ist jederzeit widerrufbar. Sie ist wie das Parlament auf Zeit legitimiert. Beide vereint die Angewiesenheit auf die Wahl entscheidung und damit die Zugehörigkeit zum engeren Bereich des Politischen. Die Entscheidungen von Parlament und Regierung orientieren sich an der Konsensbildung oder -erhaltung. Sie sind auf Annehmbarkeit als gültig auch für die Minderheit gerichtet, während das unabsetzbare Gericht an vorgegebenen Maßstäben eine richtige Entscheidung hervorbringen soll, die vom Kräftespiel zwischen Minderheit und Mehrheit gerade nicht abhängen soll. Soweit solche Richtigkeitsmaßstäbe vorliegen, braucht das Gericht sich bei der Kontrolle nicht zurückzuhalten. Ihre Anwendung fällt sogar gerade in seinen Bereich. Entscheidungen aber, die gerade auf der Suche nach einer Mehrheit beruhen, die sich nicht auf bloßes Feststellen beschränken, sondern wägen und werten und dabei Entscheidungsvarianten ausschließen, die vor Richtigkeitsmaßstäben ebenso Bestand hätten und nur an der fehlenden Mehrheit gescheitert sind, können nur durch die am politischen Kräftespiel beteiligten Organe hervorgebracht werden, deren Handeln auf das Verschaffen einer Mehrheit bei gleichzeitigem Verdrängen der zulässigen Varianten in die Minderheit gerichtet ist. Dieses Wägen, Werten, Planen und Gewichten hängt in seinem Verlauf und seinem Ergebnis gerade von der Konstellation und den Bedingungen ab, unter denen es vorgenommen wird; das Entscheidungsergebnis bedarf zur Annehmbarkeit oder zumindest Hinnehmbarkeit der Beteiligung der Minderheit und der demokratischen, wi-

14 BVerfGE 68, 1,86 (Atomwaffenstationierung).

I. Die Kontrollintensität

155

derrutlichen Legitimation15 • Diese Verfahrenshandlungen des Gesetzgebers sind unvertretbar. Das Gericht kann sie nicht auf die gleiche Weise und mit dem gleichen Ergebnis vornehmen und darf es deshalb auch nicht 16 . Die vertretbaren, an Maßstäben orientierten Entscheidungen sind hingegen allen Organen gleichermaßen zugänglich. In dem Maße, in dem eine Entscheidung im Gesetzgebungsprozeß unvertretbar nur unter den Bedingungen der politischen Mehrheitsbeschaffung und Konsensbildung zustandekommen kann, ist sie der Kontrolle der Gerichte - des Bundesverfassungsgerichts ebenso wie der die Verordnungen prüfenden Gerichte - entzogen. 3. Beschränkung der Kontrolle auf das Widerlegen

Vor der Prüfung der Vertretbarkeit der einzelnen Verfahrenshandlungen des Gesetzgebungsverfahrens ist auf einen weiteren, die Prüfung des Gerichts beschränkenden Gesichtspunkt hinzuweisen. Er ergibt sich aus der Funktion der Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht verfaßt keine Entscheidungsvariante, die es neben den Prüfungsgegenstand stellt, um dann der einen Möglichkeit den Vorzug zu geben und die andere zu verwerfen. Das Gericht wird nicht tätig, um ein vollständiges Gesetzgebungsverfahren zu wiederholen oder nachzuholen. Es ist zur Prüfung berufen, ob das vorgelegte Gesetz die Grenzen zum Freiheitsanspruch des Bürgers einhält, und auf diese Prüfung ist es auch beschränkt. Es prüft das vorgelegte Gesetz allein auf Fehlerhaftigkeit. Der das Gesetz bestätigende Ausspruch ist keiue zusätzliche Bedingung für die Gültigkeit und Verbindlichkeit des Gesetzes, die es allein aus der Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens und dem Übereinstimmen mit dem höherrangigen Recht bezieht17 . Das Gericht darf das Gesetz nur verwerfen, wenn es die Fehlerhaftigkeit belegt. Dazu muß die im Gesetz ausgedrückte Auffassung über die Richtigkeit dieser Entscheidung widerlegt werden. Es genügt nicht darzulegen, daß andere Lösungen dem Prüfungsmaßstab ebenfalls oder auch besser entsprechen, wenn nur das geprüfte Gesetz dem Prüfungsmaßstab standhält. Die einzelnen Bereiche der Pflicht zum guten Gesetz enthalten keinen Qualitäts-Fixpunkt, der erreicht werden muß, sondern Grenzen, die nicht unterschritten werden dürfen, damit das Gesetz den Anforderungen (noch 18 ) entspricht. Das Gesetz ist verständlich, wenn es nicht unverständlich ist, vollzugsgeeignet, wenn nicht ein Vollzug undurchführbar ist. Sollte nicht das Einhalten eines Mindeststandards, sondern das Erreichen eines Qualitäts-Fixpunk15 BVerfGE 33, 125, 159 (Facharztordnung); 40, 237, 249 (Vorschaltbeschwerde); 41, 251,260 (Speyer-Kolleg). 16 BVerwGE 59,242,247 f. (Studentenbeiträge). 17 Vgl. Pestalou.a § 20 Rdnr. 108. 18 Das tolerante Noch: vgl. Pestalou.a § 20 Rdnr. 109.

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G. Die Normenkontrolle

tes kontrolliert werden, so müßte für das jeweilige Regelungsvorhaben zunächst eine Regelungsvariante entworfen werden, die diesen Fixpunkt erreicht, um dann das zu prüfende Gesetz daran zu messen. Entwurfsverfasser ist das Gericht jedoch gerade nicht. Dies ist nicht eine Vermutung der Richtigkeit der Auffassung des Gesetzgebers 19 ; für eine solche VermulIlUg spricht nichts. Es ist vielmehr die Eigenart der Kontrolle, daß sie fremde Konzepte beanstandet, nicht eigene Vorstellungen durchsetzr o. Das Bundesverfassungsgericht beachtet diese Beschränkung der Kontrollintensität auf das Widerlegen der geprüften Lösung, indem es feststellt, es komme allein darauf an, daß keine unzureichende Regelung erlassen worden sei 21 , und indem es die Widerl6gbarkeit der zu prüfenden gesetzgeberischen Annahmen fordert 22 und eine Beanstandung erst dann für zulässig erklärt, wenn von Beschwerdeführern oder Vorlagegerichten vorgeschlagene Varianten nicht nur gewisse Vorteile bieten, sondern eindeutig belegen, daß das beanstandete Gesetz hinter den Anforderungen zurückbleibt 23 , oder wenn - nach eine mehrfach gebrauchten Formel - die dem Gesetz zu Grunde liegenden Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für die gesetzgeberische Maßnahme abgeben können24 • Dies entspricht im Grundsatz der Kontrollbeschränkung auf das Widerlegen, auch wenn die Richtigkeit des Kontrollmaßstabes im einzelnen noch der Erörterung bedarf. Die offensichtliche Fehlsamkeit und das Zurückbleiben hinter äußersten Vernunft grenzen wird sich als allzu milder, nicht zu verallgemeinernder Maßstab herausstellen. Gemeinsam mit der zuvor erörterten Beschränkung der Kontrolle auf die vertretbaren Verfahrenshandlungen ergibt sich nun eine doppelte Beschränkung der Normenkontrolle. Im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, also durch das Nachholen der vertretbaren Verfahrenshandlungen, ist zu belegen, daß das Gesetz hinter den zu stellenden Anforderungen zurückbleibt. Die im Gesetz ausgedrückte Auffassung kann dabei nicht allein dadurch widerlegt werden, daß eine ebenfalls verfassungsgemäße Variante präsentiert wird. Wenn die Normenkontrolle in enger zeitlicher Nähe zum Gesetzgebungsverfahren stattfindet, die Umstände unverändert geblieben sind und der Gesetzgeber die ent19 So aber BVerfGE 7, 377, 412 (Apothekerurteil). 20 Hesse S. 270; Schlaich Rdnr. 475, 480 ff.

21 BVerfGE 2, 266, 280 (Notaufnahme). 22 BVerfGE 45, 187, 238 (Lebenslange Freiheitsstrafe); 73, 40, 94 (Parteienfinanzierung); 76, 107, 121 (Wilhelrnshaven). 23 BVerfGE 25, 1, 20 (MühlenG); 39, 210, 231 (MühlenstrukturG); 40, 196, 223 (Güterfernverkehr); 77, 84, 109 (Arbeitnehmerüberlassung). 24 BVerfGE 30, 292, 317 (Erdölbevorratung); 37, 1, 20 (Stabilisierungsfond fiir Wein); 50,50,53 (Laatzen); 56, 54, 81 (Fluglärm); 76, 107, 121 (Wilhelmshaven); 77, 84, 106(Arbeitnehmerüberlassung) .

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scheidenden Verfahrenshandlungen vorgenommen und dokumentiert hat, braucht dies bloß nachvollzogen und auf Korrektheit geprüft zu werden. Sonst sind die einzelnen - vertretbaren - Verfahrenshandlungen nachzuholen. 4. Zwecksetzung

Die Zwecksetzung erfolgt durch das Formulieren eines wünschenswerten Zustandes. Erst im weiteren Verlauf der Überlegungen ist zu fragen, ob dieser Zustand schon besteht oder angestrebt werden muß und ob dies durch ein Gesetz zu geschehen hat. Der Zweck ist also ein Zustand, das Ziel - nicht der Weg dorthin. Die einigen Gesetzen vorangestellten Vorsl:hriften über den "Zweck des Gesetzes" verkennen dies zumeist. Sie beschreiben nicht den wünschenswerten Zustand, sondern bieten eine allgemeine Umschreibung der eingesetzten Mittel und setzen damit die Notwendigkeit des Gesetzes bereits voraus. Zweck der Verordnung über die Berichtspflicht für positive HIV-Bestätigungstests ist die Gesundheit der Menschen. Die Erfassung von Infektionen zur Beurteilung der epidemischen Lage (§ 1 LaborberichtsVO) beschreibt bereits Schutzmittel und setzt eine allgemeine Gefährdung durch AIDS voraus. Zweck des Atomgesetzes ist unter anderem die friedliche Nutzung der Kernenergie. Daß dazu Erforschung und Entwicklung zu fördern sind (§ 1 Nr. 1 AtG), setzt bereits voraus, daß ein Mißstand wegen mangelnder Kenntnisse besteht oder zu befürchten ist. Als Voraussetzung für die Normenkontrolle ist der Zweck des Gesetzes zu ermitteln. Dazu stehen die Methoden der Auslegung zur Verfügung, mit denen zu ermitteln ist, welcher Zustand mit den eingesetzten Regelungen erhalten oder angestrebt werden soll. Die Intensität der Kontrolle der Zwecksetzung kann aus zwei Gründen nur äußerst gering sein. Zum einen gehört die Zwecksetzung zu den unvertretbaren Handlungen des Gesetzgebers. Die Bestimmung des Zustandes, der als erhaltens- oder erstrebenswert gilt und das Ziel staatlichen Handeins bilden soll, setzt eine politische Entscheidung voraus25 , die zum innersten Kern des politischen Bereiches gehört. Sie enthält eine Beschreibung des Zustandes der Gesellschaft und des Staates und damit der Situation und der Lebensumstände der Menschen, dem diese ihre Fähigkeiten und Kräfte nutzbar machen sollen. Diese Entscheidung ist daher bestmöglich demokratisch zu legitimieren und durch umfassende Beteiligung aller zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen antretenden Kräfte als annehmbar auch für die unterliegende Minderheit zu sichern. Das Gerichtsverfahren eignet sich deshalb nicht zur Zwecksetzung. 25 BVerfGE 30, 250, 263 (Sonderumsatzsteuer).

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G. Die Normenkontrolle

Zum anderen bietet die Verfassung kaum bestimmte Prüfungsmaßstäbe. Das Grundgesetz enthält zwar eine nicht nur vage und beliebige Wertordnung, die durch die Grundrechte und Staats7jelbestimmungen beschrieben wird, legt jedoch einen bestimmten Zustand der Gesellschaftsordnung nicht fest. Es gewährt innerhalb dieses weiten Rahmens Gestaltungsspielraum und erlaubt somit nur eine äußerst zurückhaltende Kontrolle, die sich darauf beschränken muß zu prüfen, ob der Zweck des Gesetzes außerhalb des weiten Rahmens der verfassungsrechtlichen Wertordnung liegt. Das Bundesverfassungsgericht betont den Beurteilungsspielraum vor allem bei der Bestimmung wirtschaftspolitischer Ziele26 , ohne eine Begründung näher auszuführen. Sie liegt nicht in der bloßen Benennung dieses Sachgebiets, sondern in dem Umstand, daß das Grundgesetz durch weitgehende wirtschaftspolitische Offenheit und Neutralität gekennzeichnet ist 27 • Eine intensivere Kontrolle ist möglich und geboten, wenn ausnahmsweise Zwecke genauer umschrieben sind. Eine verfassungs rechtliche Zweckbestimmung von einiger Deutlichkeit ist den Schutzp11ichten zu entnehmen 28 . IIier kann eingehender geprüft werden, ob der dem Gesetz zu entnehmende wünschenswerte Zustand mit dem von der Verfassung gewollten, nämlich der Unversehrtheit des betreffenden Rechtsgutes, übereinstimmt. 5. Tatsachenfeststellung und Tatsacheneinschätzung

Den tatsächlichen Gegebenheiten, dem Sachverhalt, anf den das Gesetz regelnd Einfluß nehmen soll, stehen alle Staatsorgane gleichermaßen einflußlos gegenüber. Das Geschehene ist unverrückbar. Auch der Gesetzgeber ist kein Herr über die Tatsachen. Die Beobachtung der Wirklichkeit, die Sachverhaltsermittlung ist eine vertretbare Verfahrenshandlung. Dem Gericht stehen mindestens gleichermaßen geeignete Mittel zur Verfügung wie den am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, um äußere und innere Tatsachen, objektive Gegebenheiten, Wertungen und Meinungen von Betroffenen und den Lauf von Entwicklungen bis zur Gegenwart zu beobachten. Mit dem herkömmlichen Beweismittelkanon ist eine gründliche, systematische und vollständige Sachverhaltsaufklärung möglich. Den schwierig zu durchdringenden, komplexen Sachlagen, den verschiedenen, voneinander abweichenden Wertungen stehen ebenfalls alle Organe gleichermaßen machtlos gegenüber.

26 BVerfGE 39, 210, 225 (MühlenstrukturG). 27 Von Münch/Kunig-Bryde Art. 14 Rdnr. 2, 2 a, 44. 28 BVerfGE 88. 203, 254 (§§ 218 ff. StGB)

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Bei der Feststellung der Tatsachen, die dem geprüften Gesetz zu Grunde liegen, kann es somit keinen Handlungs- oder Beurteilungsspielraum geben. Schon der Wortsinn steht dem entgegen. Es geht hier nicht um eine Beurteilung, eine Entscheidung zwischen voneinander abweichenden Auffassungen. Es geht um die Feststellung dessen, was war und was ist. Die Kontrollintensität erreicht hier ihr höchstes Maß. Das Gericht hat im einzelnen zu prüfen, ob die Annahme über die tatsächlichen Verhältnisse, auf denen das Gesetz beruht, zutrifft. Dem weiteren Verfahren der Regelungsgestaltun müssen die erheblichen Tatsachen richtig und vollständig zu Grunde liege; .

r

Eine bloße Beobachtung oder Feststellung von Tatsachen kann nur in seltenen Fällen zur Aufklärung über die Grundlagen des weiteren Verfahrens führen. Haben sich der Gesetzgeber und das nachprüfende Gericht fremden Sachverstandes zu bedienen, um tatsächliche Verhältnisse aufzuklären, so wird es eher die Regel als die Ausnahme sein, daß nicht erst über den zukünftigen Verlauf, sondern bereits über Geschehnisse und Zustände der Vergangenheit und der Gegenwart unterschiedliche Auffassungen zwischen verschiedenen Beobachtern herrschen. Die maßgeblichen Erkenntnisse sind zumeist nicht allein durch eine unmittelbare Beobachtung oder Datenerhebung zu erlangen, sondern erst durch Berechnungen, die aus dem beschränkten Kreis der beobachtbaren Daten verallgemeinernd den umfassenden Überblick ermitteln. Je komplexer, vielschichtiger und schwerer überschaubarer der zur Regelung anstehende Sachverhalt sich darstellt, desto eher stellt sich dieses Problem . Gleiches gilt, wenn für die weiteren Verfahrensschritte der Regelungsgestaltung - insbesondere für die Beurteilung der Notwendigkeit und der Erfolgsaussil:hten der Regelungsinstrumente - Kenntnisse über innere Zustände (psychisches Befinden, Erwartungen, Hoffnungen, Absichten) maßgeblich sind . Die Tatsachenfeststellung kann in beiden Konstellationen unvermeidbar lediglich als Tatsacheneinschätzung vorgenommen werden. Die Ausichten der hinzugezogenen Sachverständigen werden je nach angewandter Methode, nach dem Umfang und der Art der berücksichtigten Datenmenge und auch nach dem Einfluß bestimmter wissenschaftlicher oder politischer Meinungen voneinander abweichen. Im Wege der Tatsacheneinschätzung ist entweder eine der vertretenen Ausichten unter Ausschluß der anderen als die zu berücksichtigende auszuwählen, oder es ist dem weiteren Verfahren statt einer präzisen Erkenntnis ein Rahmen zu Grunde zu legen, innerhalb dessen die Wirklichkeit zu vermuten ist. Die Tatsacheneinschätzung ist ebenso wie die Tatsachenfeststellung keine gestaltende Handlung, sondern erst die Voraussetzung der Gestaltung. Die Eigenarten des Gesetzgebers lassen ihm keine bessere Befähigung zukommen, Tatsachen festzustellen oder einzuschätzen. Eher scheint auch die Tatsacheneinschätzung beim Gericht in den geeigneteren Händen zu liegen. Da bekannt 29 Ossenbühl S. 473, 483.

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ist, daß seine Entscheidungsfindung vom politischen Meinungskampf und von den politischen Prägungen der Entscheidenden weitgehend unbceinllußI bleibt und daß das Verfahren gerade darauf gerichtet ist, solche Einflüsse auszuschalten und statt eines Annehmbarkeits- einen Richtigkeitsmaßstab anzulegen, sind auch die Gutachter und Auskunftspersonen weniger bestrebt, ihre Stellungnahmen von sachfremden Erwägungen beeinflussen oder leiten zu lassen. Das Gericht hat auch die Tatsacheneinschätzung vollen Umfanges nachzuvollziehen oder selbst vorzunehmen. Sind dem Gericht Aufzeichnungen über die Ermittlungsbemühungen der beteiligten Organe zugänglich, so kann es sich darauf beschränken zu prüfen, ob taugliche Methoden korrekt angewandt worden sind und ob bei der Tatsacheneinschätzung allein mit sachgerechten Kriterien eine Auswahl zwischen divergierenden Ansichten getroffen wurde. Ist dies nicht der Fall oder kann dies nicht geprüft werden, so hat das Gericht selbst zu ermitteln. Wäre es an die Feststellungen anderer Organe gebunden, so könnten ihm die Voraussetzungen der Wertungs-, Prognose- und Mittelwahlkontrolle diktiert werden. Wären dem Gericht eigene Ermittlungen verschlossen und stünden zudem keine fremden Feststellungen zur Verfügung, so fehlte die Grundlage weiterer Prüfung vollkommen. Die Normenkontrolle wäre gegenstandslos30 . Die Gestaltungsfreiheit oder die schöpferische Kraft des Gesetzgebers werden durch eingehende eigene Tatsachenermittlung und -einschätzung des Gerichts in keiner Hinsicht beschränkt oder gelähmt. Der Einfluß des Gesetzgebers kann sich gar nicht auf das schon Geschehene erstrecken. Ein noch im einzelnen zu umgrenzendes Maß schöpferischer Freiheit besteht nur auf der Grundlage der normprägenden Vorgegebenheiten31 . Die Verfahrensweise des Bundesverfassungsgerichts entspricht dieser Auffassung. Es hat verschiedentlich nicht nur einfache Ermittlungen vorgenommen, sondern auch umfassende Sachverhalts aufklärungen selbst vorgenommen. War die Bestandsaufnahme - insbesondere bei vielschichtigen Sachverhalten oder subjektiven Befindlichkeiten der Regelungsbetroffenen - schwierig oder zwischen sachkundigen Beobachtern umstritten, so hat es ohne Rücksicht auf etwaige Vorleistungen des Gesetzgebers umfängliche Anhörun~en von sachverständigen Gutachtern und Auskunftspersonen vorgenommen 3 . Das Gericht hat auch wiederholt Tatsachen als unverrückbare, einem Gestaltungs- und 30 Ossenbühl S. 468 f.

31 Eichenberger VVDStRL 40,7, 13. 32 BVerfGE 6, 389, 398 f., 400 ff. (§§ 175, 175 a StGB); 7, 377, 412 (Apothekerurteil); 11,30,46 (Kassenarztzulassung); 17.269. 277 (Tierarzneimittelverkehr); 45, 187,206 ff. (Lebenslange Freiheitsstrafe); 87, 363, 386 (Nachtbackverbot).

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Handlungsspielraum nicht zugängliche Grundlage der Bewertung und Prognose betrachtet. Auch und gerade in Entscheidungen, die dem Gesetzgeber dann einen Prognosefreiraum oder ein Ermessen bei der Wahl der einzusetzenden Mittel zubilligen, werden die beim Regelungserlaß vorgefundenen Tatsachen als von diesem Spielraum ausgenommen, ihm vorausgesetzt betrachtet 33 , oder es wird betont, ein Gestaltungsspielraum setze eine sorgfältige und gründliche Tatsachenermiulung voraus, die eine Einschätzungsprärogative erst kllnstituiere34 . 6. Prognose

Der Gesetzgeber wird zur Gefahrvermeidung und Störungsbeseitigung tätig. Maßstab sowohl für den Gefahr- als auch für den Störungsbegriff ist entweder der vom Gesetzgeber selbst festgelegte erstrebens- bzw. erhaltenswerte Zustand (Zweck) oder eine Vorgabe der Verfassung seIbst, die nicht nur einen ausfüllungsbedürftigen Rahmen absteckt, sondern einen weiterer Konkretisierung nicht mehr zugänglichen Zweck setzt. Weicht der jetzt vorhandene oder für die Zukunft erwartete Zustand der Wirklichkeit vom Soll zustand ab, so greift der Gesetzgeber ein. Das Gesetz soll diese Abweichung schmälern oder ganz beseitigen. Dazu entzieht es Rechtspositionen, oder es schränkt sie ein, oder es gewährt staatliche Leistungen, oder es kombiniert solche Maßnahmen. Auch bloße Organisations- oder Verfahrensgesetze und das Haushaltsgesetz dienen, auch wenn sie die Rechtssphäre der Bürger unberührt lassen, der Gefahrvermeidung und Störungsbeseitigung, indem sie für die darauf gerichtete Staatstätigkeit die Handlungsvoraussetzungen normieren. Eine Störung des gesetzten oder auferlegten Zweckes liegt vor, wenn bereits der jetzt vorhandene Zustand vom Sollzustand abweicht. Oh und wie eingegriffen werden soll, kann nur beurteilt werden, wenn abzusehen ist, wie sich die Geschehnisse weiter entwickeln und wie einzelne gesetzgeberische Maßnahmen wirken werden. Eine Gefahr für den vorhandenen wünschenswert eu Zustand ist gegeben, wenn eine Veränderung zum Schlechteren zu erwarten ist. Hier beruht schon die Annahme des Anlasses zur Gesetzgebung selbst auf einer Zukunftserwar33 BVerfGE 25, 1, 12 (MühlenG); 39, 1, 59 (§§ 218 ff. StGB); 50, 50, 53 (Laatzen); 77, 84, 106 (Arbeitnehmerüberlassung). 34 BVerfGE 39, 210, 226, 230 (MühlenstrukturG): 50, 290. 332, 334 (Mitbestimmung); 57. 139, 159 f. (SchwerbehindertenG): 86. 90. 108 f.. 112 (kommunale Rückgliederung); 88, 203, 254, 263 (§§ 218 ff. StGB): BVerfG NJW 1981, 2107, 2108 (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe). Ob es wirklich auf die Tätigkeit des Gesetzgebers ankommt. wird unten (11) verneinend - geklärt werden. 11 Burghart

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tung. Die Entscheidung über den gesetzgeberischen Eingriff und seine Art und Weise setzen sodann die gleiche Beurteilung voraus, wie sie bei der Störung genannt worden sind. Gesetzgebung beruht somit zwangsläufig und in jedem Falle auf einer Prognose der zukünftigen Entwicklung. Sie ist eine vorausschauende Leistung und wegen ihrer Zukunftsorientierung mit nicht zu behebender Unsicherheit behaftet. Ein Akt politischen Wertens und Gestaltens wird mit dem Erstellen der Prognose jedoch nicht erbracht. Die Prognose muß erstellt werden, um überhaupt ermessen zu können, was zu veranlassen ist. Um entscheiden zu können, ob einzugreifen ist, um ein Mittel auswählen zu können, muß bekannt sein, welchen Lauf die Dinge nehmen werden, wenn der Staat ganz ulltiilig hleibt, wenn er anders als durch gesetzliches Gebot Einfluß nimmt, wenn er dieses oder jenes Regelunskonzept wählt und dieses oder ein anderes Gebot oder Verbot im einzelnen erläßt. Die Prognosekontrolle prüft also noch immer die Voraussetzungen der politischen Gestaltung. Dies weist abermals auf eine hohe Kontrollintensität hin, um zu verhindern, daß der Gesetzgeber sich die Voraussetzungen so zurechtlegen kann, daß seine gestalterischen Entscheidungen durch sie gerechtfertigt erscheinen. Auch die Prognose ist eine Vorgabe, ein Maßstab der Gestaltung. Ob sie zutrifft, darf dem Gericht deshalb nicht diktiert werden. Die Prognose ist zudem grundsätzlich eine vertretbare Verfahrenshandlung35 . Sie beruht auf nachprüfbaren wissenschaftlichen Methoden, und auch wenn solche Methoden fehlen, wird sie vorgenommen durch rationale Erwägungen, die aus dem bisherigen Verlauf des Geschehens Schlüsse auf die Zukunft ziehen. Dazu stehen den an der Gesetzgebung beteiligten Organen keine besseren Mittel zur Verfiigung als dem prüfenden Gericht. Soweit fremder Sachverstand heranzuziehen ist, steht er allen Organen gleichermaßen zur Verfügung. Allein die Art der Prognose im einzelnen legt eine Differenzierung der Kontrollintensität nahe. Je rationaler die Prognose vorgenommen werden kann, desto intensiver ist sie nachprüfbar. Bcruht sie auf wisscnschaftlicher Mclhode, nach der eine große Menge Daten berücksichtigt wurden, so kann die Tauglichkeit der Methode, ihre ordentliche Anwendung und die Korrektheit der zu Grunde gelegten Daten geprüft werden. Beschränkt sich die Prognose mangels geeigneter Methoden oder wegen fehlender Voraussetzungen ihrer Anwendung auf bloßes intuitives Annehmen und Schätzen, so kann lediglich geprüft werden, ob eine geeignete sicherere Methode nicht doch zur Verfiigung steht und 35 Entgegen Maassen NJW 1979, 1473, 1477; Menger VerwArch 66 (1975), 397, 400 f.; Ossenbühl S. 513.

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sollte dies nicht der Fall sein - ob bei der intuitiven Zukunftsschätzung jedenfalls das verfügbare Maß an Rationalität zum Zuge gekommen ist, das Kenntnisse und Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart ermöglichen. Je mehr die Prognose von bloßer Intuition abhängt, desto eher kommt es für ihr Ergebnis auf denjenigen an, der seine Intuition spielen läßt, desto eher wird die Vornahme der Prognose also zur unvertretbaren Handlung und entzieht sich dadurch der Kontrolle. Davon zu scheiden ist die sogleich unter 7 zu behandelnde Frage, ob eine unsichere und weniger intensiv nachprüfbare Prognose für bestimmte gesetzgeberische Maßnahmen ausreicht. Das Gericht darf und muß somit die dem geprüften Gesetz zu Grunde liegende Prognose beanstanden, wenn es ein anderes Prognoseergebnis entgegenhalten kann, das auf rationalerer Methode oder auf einer - im Gegensatz zur vom Gesetzgeber durchgeführten - korrekten Anwendung beruht. Ist die Prognose nur in geringem Maße rationalisierbar - führt sie also zu unsicheren Ergebnissen -, so darf das Bundesverfassungsgericht nicht dem unsicheren Ergebnis des Gesetzgebers ein anderes, auf ebenso unsicherer Grundlage beruhendes Ergebnis entgegenhalten. Die Prognose beruht dann nämlich zu einem erheblichen Anteil auf dem Meinen und Hoffen desjenigen, der sie erstellt, und das Bundesverfassungsgericht ist allein zur Kontrolle berufen und nicht dazu, seine Auffassung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Ossenbühl ist somit zuzustimmen, wenn er die Auffassun~ vertritt, die Prognosekontrolle hänge ab vom Maß des Rationalitätsdefizits3 . Ebenso, wie danach festzustellen ist, die Prognose entziehe sich der rechtlichen Kontrolle in dem Maße des Rationalitätsdefi7its 37 , muß auch betont werden, daß die Prognose in dem Maße ihres Rationalitätsgehalts der Kontrolle unterliegt. Da das Gericht nachprüft, ob das mögliche Maß an Rationalität aufgewandt worden ist, zwingt die Kontrolle zur Rationalität, steuert damit der Unsicherheit der Prognose entgegen und optimiert damit die Qualität der politischen Entscheidung38 , indem sie ihr bestmögliche Grundlagen verschafft. Die Gratwanderung zwischen Recht und Politik ist mit der Kontrolle der Prognose hingegen noch nicht erreicht 39 . Das Erstellen der Prognose ist keine politische Entscheidung, sondern ihre Voraussetzung. Die Prognose beruht auf der Anwendung zuverlässiger Methoden, nicht auf demokratischer Legitimation, und braucht deshalb auch nicht dem Gesetzgeber vorbehalten zu bleiben40. Abzulehnen ist schließlich erneut die Auffassung, die Strenge der Prognosekontrolle müsse 36

Ossenbühl S. 502.

37 Ossenbühl S. 501.

S. 501. Entgegen Ossenbiihl S. 503. 40 So Menger VerwArch 66 (1975), 397. 400 f.

38 Ossenbiihl 39

11*

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abhängen vom Gewicht der berührten Grundrechte41 • Diese Abhängigkeit besteht nicht zur Intensität der Kontrolle, sondern zur Sicherheit der Prognose42 • Das Bundesverfassungsgericht hat vielfach eigene Prognosen angestellt, um die dem Gesetz zu Grunde liegenden zu überprüfen. Es hat die Beurteilung hypothetischer Kausalverläufe auf ihre größere oder geringere Wahrscheinlichkeit hin für eine Aufgabe gehalten, die auch der Richter erfüllen kann, und hat es deshalb im Interesse seiner Pflicht zum Grundrechtsschutz abgelehnt, die Auffassungen des Gesetzgebers ohne weiteres zu akzeptieren43. Das Gericht hat mit Hilfe von Sachverständigen Zukunftsaussichten auf möglichst rationaler tatsächlicher und methodischer Grundlage zu erstellen versucht. Dies betraf neben den Fällen, die bloß durch die der Prognose ohnehin innewohnende Unsicherheit gekennzeichnet waren44 , auch besonders schwierig zu durchdringende Bereiche, in denen innere psychisch-seelische Verhältnisse maßgeblich waren 45 oder die Undurchschaubarkeit schnellebiger wirtschaftlicher und fesellschaftlicher Entwicklungen einer sicheren Voraussage im Wege stand 4 • Die verfassungsgerichtliche Prognosekontrolle betraf zumeist die Voraussetzungen des gesetzgeberischen Eingreifens, insbesondere das Vorliegen einer Gefahr47 , bezog sich jedoch auch auf die der Mittelwahl vorauszusetzende Prognose über die Tauglichkeit verschiedener Varianten48 • Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht formelhaft, ohne weitere Begründung dem Gesetzgeber bei der Gefahren- und Eignungsprognose einen Beurteilungsspielraum zugebilligt, der nur bei offensichtlicher Fehlsamkeit der angestellten Erwägungen und Mißachtung äußerster Vernunftgrenzen überschritten sei 49 • Eine solche Zurückhaltung 41 So aber Ossenbühl S. 506 f. 42 Dazu sogleich unter 7. 43 BVerfGE 7, 377, 412 (Apothekerurteil). 44 BVerfGE 7, 377, 412, 415 ff. (Apothekerurteil); 9, 39, 51, 57 (Mindestmilchmengen);

11,30,45 Cf. (Kassenarztzulassung); 17, 269, 276 ff. (Tierarzneimittelverkehr). 45 BVerfGE 6,389,398 Cf. (§§ 175, 175 a StGB); 39, 1, 55 Cf. (§§ 218 Cf. StGB).

46 BVerfGE 40, 196,218 ff. (Güterfernverkehr); 71, 230, 250 (Kappungsgrenze). 47 BVerfGE 6, 389, 398 f. (§§ 175, 175 a StGB); 7, 377, 415 Cf. (Apothekerurteil); 9, 39, 51, 57 (Mindestmilchmengen); 11, 30, 45 ff. (Kassenarztzulassung); 17, 269, 276 ff. (Tierarzneimittelverkehr); 40, 196, 218 ff. (Güterfernverkehr); 71, 230, 250 (Kappungsgrenze) (hier ist die Gefahr geprüft und verneint worden, das Gesetz könne bei den Betroffenen Verluste eintreten lassen, die zu einer Verletzung von Art. 14 I GG fUhren); 78, 249, 267 f., 277 (Fehlbelegungsabgabe); 87, 363, 386 (Nachtbackverbot). 48 BVerfGE 9, 39, 57 (Mindestmilchmengen) (hier war die Prüfung der Geeignetheit des eingesetzten Mittels zur Gefahrenabwehr allerdings überflüssig, nachdem bereits das Bestehen einer Gefahr verneint worden war); 17,306,315 (Mitfahrerzentralen); 25, 1, 20 (MühlenG); 39, 1,55 ff., 59 f. (§§ 218 ff. StGB); 40, 196,223 (Güterfernverkehr); 61,291,315 f. (Tierpräparation); 87, 363, 386 (Nachtbackverbot). 49 BVerfGE 25, 1, 17 (MühlenG); 30, 292, 317 (Erdölbevorratung); 77, 84, 106 (Arbeitnehmerüberlassung) .

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bei der Prognosekontrolle ist nur zu billigen, wenn rationale, nachprüfbare Methoden nicht ersichtlich sind und die Prognose deshalb in höchstem Maße auf Intuition beruhen muß. Ob dies ausreicht, um staatliche Tätigkeit überhaupt und Eingriffe im Besonderen zu rechtfertigen oder um Schutzpflichten zu erfüllen, ist eine Frage der richtigen Prognosebewertung, die im folgenden zu erörtern ist. 7. Tatsachen- und

Progno~ebewertung

Die Tatsachenfeststellung bzw. -einschätzung und die Prognose haben eine mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit für die Erwartung ergeben, daß die Störung des Sollzustandes - des Zweckes - bei Verzicht auf einen regelnden Eingriff bestehen bleibt (fortdauernde Störung) oder eintreten wird (Gefahr). Von den beiden Komponenten, von denen Störung und Gefahr abhängen, nämlich dem Zweck einerseits und den Tatsachen und Prognosen andererseits, ist bereits die eine der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung weitgehend entzogen. Die Zwecksetzung ist eine politische Entscheidung (oben 4), und der Gesetzgeber kann seinen Spielraum innerhalb der Wertordnung der Verfassung auch dazu nutzen, den Zweck so zu formulieren oder zu ändern, daß das Vorliegen einer Störung oder Gefahr dadurch hervorgerufen oder beseitigt wird. Die verfassungsgerichtliche Nachprüfung hat jedoch das erlassene Gesetz zum Gegenstand. Der mit ihm verfolgte Zweck steht also fest, auch wenn er eventuell schwierig zu ermitteln ist, und das Hinzutreten der Tatsachen und Prognosen ergibt das Vorliegen oder das Verneinen einer Störung oder Gefahr. Auf dieser Grundlage hat die Bewertung zu erfolgen, ob mit gesetzlichem Gebot in den Lauf der Dinge eingegriffen werden darf, und wenn eingegriffen werden darf, ob dieses Dürfen genutzt werden soll, oder ob sogar eingegriffen werden muß, um eine Schutzpflicht zu erfüllen. Die Intensität der Kontrolle dieser Bewertung hängt wiederum davon ab, inwieweit die Verfassung Kontrollrnaßstäbe zur Verfügung stellt und ob die einzelnen Aspekte dieser Bewertung auch dem Bundesverfassungsgericht zugänglich sind- ob sie vertretbar sind. Eine Beanstandung der im Gesetz ausgedrückten Bewertung setzt voraus, daß diese Bewertung mit der so gefundenen Kontrollintensität zu widerlegen ist. Die Tatsachen- und Prognosebewertung hat zu erbringen, ob ein gesetzgeberisches Gebieten und Verbieten und die damit verbundene Freiheitseinschrän-

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kung unerläßlich sind, um die Störung zu beseitigen oder zu vermeiden50 . Die Notwendigkeit des Gesetzes kann durch zwei Erwägungen widerlegt werden: Das Gesetz ist zur Störungsbeseitigung oder -vermeidung nicht unerläßlich und somit überflüssig und verfassungswidrig, wenn man sich darauf verlassen kann, die Störung werde auch ohne staatliches Zutun nicht fortbestehen oder nicht eintreten. Das Gesetz ist auch überflüssig, wenn man zwar auf das Ausbleiben der Störung nicht vertrauen kann, jedoch zu erwarten ist, daß auch eine andere als die gesetzgeberische Staatstätigkeit zum erwünschten Ergebnis führen werden. Auf das Ausbleiben der Gefahr kann man sich verlassen, wenn die Prognose eine nur geringe Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts ergeben hat. Dann muß und darf nicht eingegriffen werden. Gesetzgebung erweist sich somit als ein Umgang mit Risiken. Kann dem eingreifenden Gesetz entgegengehalten werden, das Risiko, die Gefahr werde sich ohne den Eingriff in den Lauf der Entwicklung realisieren, sei hinzunehmen, so ist es überflüssig. Wie gering die Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts sein muß, damit das Risiko hinzunehmen ist, kann nicht für alle Fälle allgemein beziffert werden, sondern ist durch eine Wertung unter Berücksichtigung der beteiligten Rechts- und Schutzgüter zu ermitteln. Das Gesetz entfaltet Wirkungen in zwei Richtungen. Es schützt die Rechts- und Gemeinschaftsgüter , deren Unversehrtheit als Zweck gesetzt ist, und es greift in andere Rechtsgüter ein, um diesen Schutz zu bewirken. Das Risiko des Störungseintritts ist desto eher hinzunehmen, so daß die Prognose eine hohe Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts erbringen muß, um das Gesetz vor der Beanstandung zu bewahren, je hochwertiger die Rechtsgüter zu bewerten sind, in die eingegriffen werden soll, und je weniger Bedeutung dem zu schützenden Gut zukommt. Dies ist die Sicht des kontrollierenden Gerichts, und aus der Blickrichtung des Gesetzgebers ergibt sich der Satz: Je gewichtiger das Gemeinschafts- oder Rechtsgut zu bewerten ist, das der Gesetzgeber schützen will, und je weniger Bedeutung dem durch die Regelung vorgenommenen Eingriff zukommt, desto weniger muß der Gesetzgeber sich auf das Ausbleiben der Störung verlassen, desto geringer kann also die Wahrscheinlichkeit sein, die für den Störungseintritt oder -fortbestand spricht. Der danach als rechtfertigender Anlaß zur Gesetzgebung zu fordernde Grad der Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts wird durch die Prognose auf zweierlei Art bestimmt. Je geringer die Wahrscheinlichkeit sein darf, desto eher reichen unsichere Prognosen, bloßes Schätzen und intuitives Erwarten aus oder eine nur geringe Wahrscheinlichkeit, die durch eine sichere, auf verläßIi50 Dies folgt aus der Verpflichtung zur subsidiären Zurückhaltung: oben A IV 2 c, d, S. 43 ff.

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eher tatsächlicher und rationaler methodischer Grundlage erstellte Prognose belegt wird. Ob die dem Gesetz zu Grunde liegende Prognose des Störungseintritts ausreicht, hängt also zum einen von dem Gewicht des zu schützenden Gutes ab. Wie dieses Gewicht bemessen wird, entzieht sich weitgehend der gerichtlichen Nachprüfung. Die Verfassung enthält insofern nur vereinzelte Festlegungen. Geht es um den Schutz von Grundrechten, die vorbehaltlos garantiert werden oder denen für das menschliche Zusammenleben besondere Bedeutung zukommt, so kommt bereits eine grundrechtlieh fundierte Schutzpflicht in Betracht; dieser Aspekt soll nicht hier behandelt, sondern gleich unten erörtert werden. WeIches Gewicht einzelnen Interessen und Rechtsgütern zukommt, wie vordringlich einzelne Zwecke verfolgt und vor Störungen bewahrt werden sollen, ist eine politische Entscheidung. Innerhalb verschiedener politischer Gesamtkonzepte werden die Prioritäten des staatlichen HandeIns unterschiedlich gesetzt und können die zu erhaltenden oder anzustrebenden Zustände der gesellschaftlichen Ordnung grundlegend unterschiedlich beschrieben und mit deutlich voneinander abweichender Bedeutung versehen werden. Zudem bestehen zwischen den Gewichtungen einzelner Zwecke und Schutzgüter gegenseitige Abhängigkeiten, die abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen sind. Das Wägen und Werten, das Einstellen und Berücksichtigen aller erdenklichen Interessen, die Suche nach Kompromissen und Mehrheiten, auf die sich das Bevorzugen und Zurückstellen einzelner Interessen stützen kann, ist gerade der Inhalt der politischen Entscheidungsfindung. Das Gerichtsverfahren, auch das verfassungsgerichtliche, besitzt diese Offenheit für alle an der Entscheidung Interessierten nicht. Mehrheitsfähigkeit und Akzeptanz gehören nicht zu den gerichtlichen Entscheidungsmaßstäben. Die Gewichtung der Schutzgüter und Handlungszwecke ist eine unvertretbare Entscheidung des Gesetzgebers. Zum Wägen, Werten und Ausgleichen fehlt dem gerichtlichen Verfahren die Eignung. Dieser Bereich bleibt dem Gericht deshalb kraft der Gewaltenteilung verschlossen; es darf auch im Wege der Kontrolle die unvertretbare Entscheidung des Gesetzgebers nicht ersetzen51 . Nachprüfbar ist lediglich, ob die vorgenommene Gewichtung mit der Wertordnung der Verfassung, insbesondere der den Grundrechten beigelegten Bedeutung vereinbar ist 52 . Grundsätzlich Gleiches gilt bei der Gewichtung des durch die gesetzliche Regelung beeinträchtigten Interesses oder beschränkten oder entzogenen Rechtsgutes. Die Entscheidung, einzelne Interessen zurückzustellen, um andere dadurch zu schützen, fällt in den politischen Bereich. Auch hier bieten vor 51 BVerfGE 56, 54, 81 (Fluglärm); 57, 220, 248 (Orthopädische Anstalten); BVerfG NJW 1983.2931,2932; BVerwGE 59,242.247 (Studentenbeiträge). 52 BVerfGE 39.210.225 (MühlenslrukturG).

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allem die Grundrechte überhaupt taugliche Maßstäbe für eine verfassungsgerichtliche Nachprüfung. Die Beeinträchtigung gewichtiger Grundrechte treibt die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Störung des zu schützenden Gutes in die Höhe. Gleiches gilt für die Intensität des Eingriffs. Soll ein Grundrecht zur Zweckverfolgung unwiederbringlich entzogen werden, so ist das Schadensrisiko eher hinzunehmen, als wenn eine weniger einschneidende Beschränkung vorgenommen wird, die ausgeglichen werden kann, wenn sich die Prognose als Fehleinschätzung erweist. Von Bedeutung ist schließlich auch die Wirkungsbreite des vorgenommenen Eingriffs. Soll eine allgemeine Grundrechtsbeschränkung zum Schutz der Interessen eines kleinen Kreises erfolgen, so weist dies auf das Erfordernis einer hohen Störungswahrscheinlichkeit für ein existenzielles Schutzgut hin, wenn nicht eine vertretbare Wertung zu Grunde liegt, die den Allgemeininteressen die Gewichtigkeit abspricht. Ebenso werden die Interessen einer kleinen Gruppe von Betroffenen zum Schutz von Allgemeininteressen schon bei geringem Störungsrisiko in Anspruch genommen werden dürfen, wenn nicht Gewichtung und Abwägung ergeben, daß die beschränkten Interessen für das Wohl der Allgemeinheit nicht einstehen sollen. Die Kontrollintensität bei der Prüfung all dieser Gewichtungen, Wertungen und Abwägungen ist ebenfalls eher gering, wächst jedoch bei der Verfügbarkeit grund rechtlicher Prüfungsmaßstäbe, wobei zuzugestehen ist, daß das Erstellen einer Rangordnung von Grundrechten Zweifeln begegnen muß und eine Beanstandung erst bei der Mißachtung von Grundpositionen erfolgen kann53 . Wenn die der Prüfung weitgehend entzogene Interessen- und Rechtsgütergewichtung einen gewissen zu fordernden Grad an Wahrscheinlichkeit für den Störungseintritt ergeben haben, so ist die Frage, ob die Prognosesicherheit diesen Grad an Wahrscheinlichkeit stützen kann, allerdings intensiv nachprüfbar. Gleiches gilt, wenn die Prüfung bei der Feststellung der Prognosesicherheit und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts beginnt, um dann zu ermessen, ob die Wertung der beteiligten Interessen dem Ergebnis dieser Prüfung entspricht. Dies ist die oben beschriebene Tatsachen- und Prognosekontrolle. Auch wenn ein nur geringer Grad an Wahrscheinlichkeit ausreicht, weil das zu schützende Interesse hochwertig und das beeinträchtigte geringwertig zu veranschlagen ist, unterliegt das Vorliegen dieses Grades an Wahrscheinlichkeit der intensiven gerichtlichen Kontrolle. Die Intensität nimmt wie oben erörtert - erst mit der Rationalität der Prognosemethode ab. Auch die Entscheidung zwischen gleich sicheren, aber einander widersprechenden Prognosen ist nicht vertretbar. Stützt die eine den nötigen Grad an Wahrscheinlichkeit, kann das Gericht nicht entgegensetzen, es wolle die andere wählen. Eine Prognose, die der rationalen Grundlage vollkommen entbehrt und auf rei53 Ossenbühl S. 507.

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nem intuitiven Schätzen, Meinen und Hoffen beruht, wird nach dem nun Gezeigten kaum jemals als Grundlage eines Eingriffs in das ungeregelte Treiben der Entwicklung ausreichen. Das Risiko, daß die auf einer so unsicheren Grundlage vorausgesagte Störung tatsächlich eintritt, ist äußerst gering, so daß es grundsätzlich ausgehalten werden kann. Erst ein höchstwertiges Schutzgut und ein geradezu zu vernachlässigendes beeinträchtigtes Interesse könnten einen Eingriff auf dieser Grundlage recbtfertigen. Scbon wenn auf der Seite der beeinträchtigten Interessen Grundrecbte ins Gewicbt fallen, wird die Recbtfertigung scbeitern müssen. Bereits an dieser Stelle der Prüfung und nicbt erst bei der Erforderlicbkeit des eingesetzten Mittels im Rahmen des Übermaßverbotes hätte der vom Bundesverfassungsgericbt - im Ergebnis zutreffend - beanstandete Sacbkundenachweis für den allgemeinen Einzelhandel scheitern müssen 54 . Das Bundesverfassungsgericht hatte zunächst das gesundheitliche und wirtschaftliche Wohlergehen der Kunden der Einzelhändler als Gesetzeszweck erkannt und dessen Bewertung als ein wichtiges Gemeinschaftsinteresse für zulässig erachtet. Auch dem beeinträchtigten Rechtsgut erkannte es hohen Wert zu .. Die vorgenommene Beschränkung befand sich nach den Vorgaben des Apothekerurteils auf mittlerer Stufe. Es hielt sodann eine gesundheitliche Gefährdung der Kunden im Einzelhandel für nahezu ausgeschlossen und sprach dem geprüften Gesetz die Eignung ab, wirtschaftliche Gefährdungen, deren Realisierungswahrscheinlichkeit einen Eingriff rechtfertigen könnte, abzuwenden. Als einen weiteren denkbaren Zweck der Regelung sah das Gericht dann die Leistungsfähigkeit und die Integrität des Berufsstandes der Einzelhändler an. Das Verfolgen dieses Zweckes liege allerdings vor allem im Interesse des Einzelhändlers selbst. Er sichere durch seine Sachkunde seinen Wirtschaftserfolg und vermindere sein Berufsrisiko. Der Einzelhändler sei deshalb von sich aus bestrebt, sich notwendige Kenntnisse anzueignen, und dies gelinge in der Regel auch durch die Weiterbildungsmaßnahmen der Standes- und Berufsorganisalionen. Hier erweist sich also, daß eine geringe Wahrscheinlichkeit für eine Störung des Schutzgutes vorliegt, es vielmehr sehr wahrscheinlich ist, daß die Betroffenen auch ohne staatliches Gebot hinreichende Schutzmaßnahmen treffen werden. Nicht erst das eingesetzte Mittel war nicht erforderlich, der Staat hätte im Regelungsbereich überhaupt nicht - auch nicht durch ein milderes Mittel - tätig werden dürfen. Das Gesetz war nicht notwendig und somit verfassungswidrig. Hat die Gewichtung der Interessen und die Prüfung der danach erforderlichen Prognosesicherheit ergeben, daß das Risiko der Gefahr-Realisierung nicht hingenommen zu werden braucht, so ist der gleiche Grad an Wahrscheinlichkeit, der für den Störungseintritt spricht, auch für die Beurteilung zu fordern, 54 BVerfGE 19, 330. 338 ff. (Einzelhandel).

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ob gerade ein Gesetz zur Bekämpfung der Gefahr nötig ist. Erweist die Prognose des Laufs der Entwicklung bei nicht reglementierender Staatstätigkeit einerseits und gesetzgeberischem Eingreifen andererseits, daß auch die erstgenannte Variante die Gefahr beseitigen wird, deren Realisierungsrisiko nach der Gewichtung der beteiligten Interssen nicht hingenommen zu werden braucht, so muß abermals die Hochwertigkeit des Schutzgutes und die Geringwertigkeit des beeinträchtigten Gutes ergeben, daß gerade der sichere aber die Freiheit der Normadressaten am ehesten berührende Weg staatlichen Zwanges gewählt werden darf. Ergibt die verfassungsgerichtliche - intensive - Prognosekontrolle, daß eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die Gefahr, der entgegengetreten werden darf, auch ohne ein Gesetz durch staatliche Aufklärung oder Information oder dUfch Anregen und Fördern selbst veranlaßten Schutzes der Betroffenen zu beseitigen ist, so ist die Notwendigkeit eines Gesetzes widerlegt; es ist verfassungswidrig, weil es unnötig verbietet und gebietet. Diese Wahrscheinlichkeit muß desto höher sein, je gewichtiger das Schutzgut und je geringwertiger das beeinträchtigte Gut zu beurteilen sind. Die vorstehenden Überlegungen kommen auch zum Zuge, wenn es sich nicht um ein klassisches Eingriffsgesetz handelt. Die grundsätzlich intensive Tatsachen- und Prognosekontrolle sowie die mildere Tatsachenbewertungsund Prognosebewertungskontrolle erfassen auch Organisationsgesetze und gewährende, umverteileilde Gesetze55 . Sie dienen ebenfalls der Gefahrenabwehr, indem sie dem Staat Handlungsvoraussetzungen schaffen bzw. durch Gewähren von Begünstigungen den gesetzten Zweck vor Störungen schützen. Als notwendig haben sie sich ebenso zu verantworten wie die klassischen Eingriffsgesetze56 . Bei den Organisationsgesetzen wird die Prognosebewertung allerdings in aller Regel zu ihren Gunsten ausfallen. Sie dienen dem Schutz einer ganzen Reihe von Zwecken, darunter auch hochwertigen, und das Gewicht der beeinträchtigten Rechtsgüter und die Intensität der Beeinträchtigung wird eher gering zu bewerten sein. Eventuell bleibt hier allein die reine Erschwernis für den der staatlichen Organisation gegenüberstehenden Bürger durch die Kenntnisnahme der betreffenden Normen; denkbar ist aber auch eine verfahrensrechtliche Berührung seiner durch das eigentlich eingreifende Gesetz beeinträchtigten Grundrechte 57 . Den Organisationsgesetzen Entsprechendes gilt für die sogenannten Ausgestaltungsgesetze, die den Bereich grundrechtlicher Freiheiten näher bestimmen und deshalb keinen Eingriff enthalten können sollen58 . Bei gewährenden Gesetzen hat die Prognose sich auch und gerade darauf zu richten, ob gesellschaftliche oder individuelle Selbsthilfe den Zweck ebenso 55 Entgegen Ossenbühl S. 509. 56 Siehe oben A IV 2 a, e, S. 41 f., 47 f. 57 Vgl. BVerfGE 63, 131, 143 (Türken in Bingen); 69, 315, 355 (Brokdorf). 58 BVerfGE 73, 118, 166 (Nds. LandesrundfunkG); vgI.Ho/fmann-Riem S. 66 f.

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gut schützen kann wie staatlich verordnete Begünstigung; in die Rechtsgütergewichtung ist die Freiheitsbeeinträchtigung durch das Abschneiden eigenverantwortlicher Hilfe einzustellen59 . Das Bundesverfassungsgericht erwähnt einerseits, die Gründe, mit denen der Gesetzgeber einen Eingriff rechtfertige, unterlägen der verfassungsgerichtlichen Würdigung60 , und billigt dem Gesetzgeber gleichzeitig einen weiten Regelungsspielraum bei der Entscheidung zu, ob eine bestimmte Aufgabe in Angriff genommen werden so1l61. Zwar ist die allzu grundsätzliche Betonung eines großen Beurteilungsspielraums bei der Einschätzung drohender Gefahren62 abzulehnen, weil die Prognose möglichst intensiv zu kontrollieren ist und die Kontrolldichte erst bei mangelnder Rationalität der Prognose abnimmt. Jedoch schimmert aus den Entscheidungen, die die Frage erörtern, ob überhaupt ein Gesetz erlassen werden durfte, das hier gewählte Konzept hervor. Das Bundesverfassungsgericht setzt bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Gesetzes eine der drei Komponenten des Dreiecks aus Prognosesicherheit bzw. Grad der Störungswahrscheinlichkeit, Gewicht des zu schützenden und Gewicht des beeinträchtigten Interesses voraus, um dann zu ermitteln, ob die anderen heiden den Anforderungen genügen. Im Apothekerurteil hat das Bundesverfassungsgericht das in Anpruch genommene Rechtsgut einem qualitativ stärksten Eingriff ausgesetzt gesehen und daraufhin eine ins einzelne gehende Analyse der zu Grunde liegenden Tatsachen und Prognosen für geboten gehalten63 . In gleichem Sinne hat es in der Einzelhandelsentscheidung die strenge Berufszulassungsvoraussetzung als eine gewichtige Beeinträchtigung bewertet und hat, da es dem erkannten Zweck keinen hohen Wert beimessen wollte, hohe Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit und die Sicherheit der Prognose gestellt, die für einen Schadenseintritt bei Unterlassen des gesetzgeberischen Eingriffs sprechen müssen64 . Es hat dann allerdings eine eigene Vornahme der Gefahrenprognose verweigert und Darlegungen des Gesetzgebers gefordert. In der Entscheidung zum Mühlengesetz hat das Gericht die unsichere Prognose über den Geschehensverlauf vorausgesetzt, bei der es wegen der Undurchschaubarkeit der tatsächlichen Verhältnisse die Einschätzungen des Gesetzgebers nicht durch eigene ersetzen dürfe, und ein angemessenes Verhältnis zum Gewicht des zu schützenden Interesses gefordert65 . Ein Widerspruch zwischen

47 f. 25,1,12 (MühlenG); 39, 210, 225 (MühlenstrukturG). 37,1,20 (Stabilisierungsfond für Wein). 62 BVerfGE 25, 1, 12 (MühlenG); 39, 210, 226,230 (MühlenstrukturG). 63 BVerfGE 7, 377, 411 f. (Apothekerurteil). 64 BVerfGE 19, 330, 340 (Einzelhandel). 65 BVerfGE 25,1,17 (MühlenG). 59 Vgl. oben A IV 2 e, S.

60 BVerfGE 61 BVerfGE

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G. Die Normenkontrolle

Apothekerurteil und Mühlenbeschluß, den Ossenbühl bemängelt66 , ergibt sich daraus nicht. Im Apothekerurteil hat das Bundesverfassungsgericht den Grad der Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts nicht Hir ausreichend gehalten, um einen gewichtigen Eingriff vorzunehmen. Im Mühlenbeschluß hat es das geschützte Gut für hochwertig genug gehalten, um einen Eingriff auf unsicherer Prognosegrundlage vornehmen zu dürfen. Beide Entscheidungen lassen sich in das Dreieck aus Interessen und Störungswahrscheinlichkeit einfügen. Ossenbühl selbst hat ein ähnliches System entwickelt, in das er Wertigkeit und Stärke der betroffenen Grundrechte, das Regelun~ziel,sowie die Gefahrenbreite, -intensität und -wahrscheinlichkeit einstellt 7. Ebenso wie Seetzen, der den Wert des Schutzgutes und des durch den Eingriff betroffenen Rechtsgutes, die Schwere der drohenden Gefahr sowie die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gefahr berücksichtigt68 , stellt er jedoch eine Abhängigkeit zur Intensität der Prognosekontrolle her, die hier abgelehnt wurde. Ob das Maß an Prognosesicherheit und Wahrscheinlichkeit gegeben ist, das nach dem Ausbalancieren der beteiligten Interessen und Rechtsgüter zu fordern ist, muß das Bundesverfassungsgericht ausführlich prüfen können. Hat der Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht zu erfüllen, so wendet sich die verfassungsgerichtliche Prüfung gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers. Die Normenkontrolle prüft, ob das Gesetz eine unzulässige Lücke in der Normierung läßt und den gebotenen Schutz dadurch vernachlässigt; auf die Eignung der Mittel wird unten unter 9 eingegangen. Die Prüfungsmaßstäbe sind jedoch die gleichen, wobei die Umkehrung der Rechtfertigung zu beachten ist, die sich ja nun auf das Unterlassen bezieht. Der Gesetzgeber braucht nicht einzugreifen, wenn das Risiko der Realisierung der Gefahr für das zu schützende Rechtsgut hingenommen werden kann, wenn also die Wahrscheinlichkeit eines Störungseintritts gering ist. Er hat einzugreifen, so daß sein Unterlassen zu beanstanden ist, wenn das Risiko nicht hingenommenwerden darf, wenn also eine hohe Wahrscheinlichkeit der Gefahr-Realisierung bei ungeregeltem Fortgang der Entwicklung festzusteHen ist. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist auch hier nach der Gewichtigkeit der beiteiligten Interessen und Rechtsgüter zu bemessen. Beim zu schützendes Gut ist dem Gesetzgeber eine gestaltende Bewertung der Gewichtigkeit weitgehend entzogen und das Gericht zu intensiver Kontrolle verpflichtet: die Verfassung verlangt Schutz und legt damit selbst die Hochwertigkeit des Schutzgutes fest. Die Störungswahrscheinlichkeit, die den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlassen muß, wird schon allein deshalb gering zu bemessen sein. Eine Pflicht zum gesetzgeberischen Ein66 Ossenbühl S. 508 f. Auch Breuer, Der Staat 16 (1977), 21, 43 f., meint, mit dem Apothekerurteil werde in den Bereich des Gesetzgebers übergegriffen. 67 Ossenbühl S. 506 ff. 68 Seetzen NJW 1975, 429, 430 ff.

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greifen pauschal erst bei evidenter Gefährdung des Schutzgutes anzunehmen 69 , kann deshalb nicht hingenommen werden. Unter evidenter Gefährdung muß eine hohe Schadenswahrscheinlichkeit verstanden werden. Bei einem hochwertigen Schutzgut entsteht eine Handlungspflicht aber bereits bei einem eher geringen Maß an Wahrscheinlichkeit oder einer eher unsicheren Prognose. Ein Hinnehmen des Risikos ist nur vertretbar, wenn zur Erfüllung der Schutzpflicht hochwertige Rechtsgüter unwiederbringlich entzogen werden müssen. Eine intensive verfassungsgerichtJiche Kontrolle erstreckt sich hier somit nicht nur auf die Tatsachenfeststellung und die Prognose, sondern auch - da deutliche verfassungsrechtliche Maßstäbe zur Vefügung stehen - auf die Wertung und Gewichtung des Schutzgutes und seiner Beziehung zum zu scinen Gunsten beeinträchtigten Rechtsgut. Der der Nachprüfung entzogene Spielraum des Gesetzgebers ist wesentlich kleiner. Setzt er selbst die Zwecke und mißt ihrem Schutz vor Störungen selbst mehr oder minder große Bedeutung zu, .so wird nur die Notwendigkeit des Gesetzes geprüft. Darf der Gesetzgeber handeln, so obliegt es seinem eigenen Gestaltungsfreiraum zu entscheiden, ob eingeschritten wird. Ergibt sich bei der Schutzpflicht ein Grad an Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts oder -fortbestands, der angesichts des Schutzgutes nicht hingenommen werden darf und angesichts des in Anspruch genommenen Rechtsgutes dessen Beeinträchtigung rechtfertigt, so darf der Gesetzgeber dieses notwendige Gesetz nicht unterlassen. Auch hier ist die Normenkontrolle jedoch auf das Widerlegen der Auffassung des Gesetzgebers beschränkt. Mußte das Gericht oben, um beanstanden zu dürfen, belegen, daß auch ohne staatlichen Zugriff die Störung ausbleiben werde, so muß hier belegt werden, daß nur bei einem gesetzgeberischen Eingriff die Störung ausbleiben werde, um die Auffassung des Gesetzgebers zu widerlegen, auch ohne sein Tätigwerden werde dem Schutzgut kein Nachteil widerfahren. Das Bundesverwaltungsgericht konnte diesen Nachweis nicht führen, als es das Begehren zu bescheiden hatte, zum Schutze der Nichtraucher in der Bundeswehr solle eine Verordnung erlassen werden, die das Rauchen verbiete. Es stellte fest, daß die untergeordneten Dienststellen den Nichtraucherschutz entsprechend dem Erlaß des Bundesministers der Verteidigung zum Schutz der Nichtraucher70 regelten und daß diese Maßnahmen ausreichten, um der Fürsorgepflicht entsprechend vor Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch zu bewahren. Auf den Erlaß einer Rechtsnorm bestehe deshalb kein Anspruch71. Auch die Schutzpflicht erfaßt Organisationsgesetze. Besteht die - regelmäßig gering zu veranschlagende - Wahrscheinlichkeit, das Schutzgut werde einer Störung ausgesetzt, wenn der Staat nicht bewahrend tätig wird, so müssen So BVerfGE 75.40,67 (Privatschulen). 70 VMB11989, 330.

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71 BVerwG NVwZ 1993, 692 f. (Nichtraucherschutz in der Bundeswehr).

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auch Organisationsformen und Verfahrensrege1n gesetzlich normiert werden, um Handlungsvoraussetzungen für die Erfüllung der Schutzpflicht zu schaffenn. 8. Notwendigkeit eines Bundesgesetzes

Die Erörterung der Bundeskompetenz gehört systematisch eigentlich zwischen die Zwecksetzung und die Tatsachenfeststellung. Wenn der wünschenswerte Zustand formuliert ist, ist zu fragen, ob ein gesetzgeberisches Mittel wenn es denn überhaupt nötig sein sollte - gerade vom Bund eingesetzt werden darf. Um oben den Zusammenhang zwischen Zwecksetzung, TatsachenfeststeIlung und Prognose nicht zu zerreißen, folgen die Ausführungen zur Notwendigkeit eines Bundesgesetzes nun erst hier. Daß das Bundesverfassungsgericht sich bei der Prüfung, ob ein Bundesgesetz im Bereich der konkurrierenden oder der Rahmengesetzgebung erforderlich ist, nicht zurückhalten darf, ist bereits oben bei der Pflicht zum notwendigcn Gesetz (A IV 4, S. 59) gezeigt worden. Ergeben Tatsachenfeststellung bzw. Prognose, daß auch bei einem Verbleib in der Landeskompetenz die Störung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder die Gefahr für die Rechts- und Wirtschaftseinheit beseitigt werden können, so ist ein Bundesgesetz nicht erforderlich und scheitert an Art. 72 11 GG. Der Grad der Wahrscheinlichkeit bzw. die Sicherheit der Prognose, durch die die Erforderlichkeit bestimmt werden, ist auch hier von den Gewichten der beteiligten Interessen abhängig. Schutzgut der Bundesgesetzgebung im Rahmen der Beurteilung nach Art. 72 11 GG ist das gesamtstaatliche Interesse, das durch gleichwertige Lebensverhältnisse und die Rechts- und Wirtschaftseinheit näher bestimmt wird. Der Bund wird nicht darauf verwiesen, schon bei der geringsten Möglichkeit einer Bewahrung dieses Schutzgutes durch die Länderkompetenz von einer eigenen Regelung absehen zu müssen. Je gewichtiger das Erfodernis Einheitlichkeit zu bewerten ist, desto höher muß der Grad der Wahrscheinlichkeit zu bemessen sein, der für eine Wahrung der Einheitlichkeit bei Belassen der Länderkompetenz spricht, um eine bundesgesetzliche Regelung an Art. 72 11 GG scheitern zu lassen. Das durch die Wahrnehmung der Bundeskompetenz beeinträchtigte Rechtsgut ist die Kompetenz der Länder. Mit dem Gewicht ihrer Bedeutung sinkt der Grad der Wahrscheinlichkeit, der für Einheitlichkeit trotz Länderkompetenz sprechen muß. Das Prinzip der Abhängigkeiten zwischen den Gewichten des Schutzgutes und des beeinträchtigten Gutes, aus denen der zu fordernde Grad der Wahrscheinlichkeit und der Prognosesicherheit zu ermitteln ist, gleicht dem oben bei der Tatsachen- und Prognosebewertung gezeigten. 72 Vgl. BVerfGE 56, 216, 236; 63, 131, 143 (Türken in Bingen); 65, 1. 44 (Volkszählung); 65, 76, 94.

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Welche Bedeutung den gleichwertigen Lebensverhältnissen und der Rechtsund Wirtschaftseinheit sowie dem Interesse der Länder, die betreffende Frage selbst regeln zu können, zuzumessen ist, kann nur mit Rücksicht auf den jeweiligen Zweck des Gesetzes beurteilt werden. Zu fragen ist, warum das jeweilige Regelungsanliegen gerade nach gleichwertigen Lebensverhältnissen und nach einheitlicher Regelung verlangt, und welches Interesse die Länder haben, gerade dieses Anliegen selbst zu regeln. Ohne Bedeutung müssen dabei allerdings die Hochwertigkeit des Regelunszweckes und des beeinträchtigten Interessen oder Rechtsgutes bleiben, die die Notwendigkeit des Gesetzes im Verhältnis zum Normadressaten bestimmt haben. Es spricht nichts dafür, daß der Bund hochwertige Zwecke besser bewahren kann oder daß durch für die Zweckverfolgung in Anspruch genommene Rechtsgüter durch bundesgesetzliche Regelungen eher vor Beeinträchtigungen geschützt sind. Bei der Bewertung der Gewichte ist die Kontrollintensität aus den oben schon erörterten Gründen geringer als bei der Prüfung der Prognose. Es ergibt sich, daß das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Erfoderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung sehr wohl befugt und damit auch verpflichtet ist. Zwar ist die Intensität der Kontrolle durch den Einfluß von unvertretbaren Wertungen und Gewichtungen, die allein der politischen Entscheidungsfindung obliegen, beschränkt. Es besteht - und bestand auch unter der alten Fassung des Art. 72 11 GG - jedoch keinesfalls ein weitgehend kontrollfreies Ermessen des Bundesgesetzgebers 73. Die Wertungen des Gesetzgebers sind anhand des grundsätzlichen Vorzuges der Länderkompetenz (Art. 30, 70 I GG) auf ihr Übereinstimmen mit diesem Leitbild zu überprüfen. Die Prognose über eine Eignung landesrechtlicher Regelungen zur Bewahrung der Schutzgüterdes Art. 70 11 GG unterliegt wie andere Prognosen auch strenger, durch ihre Rationalität bedingter Kontrolle. 9. Mittelwahl

Mit der Wahl der Regelungsmittel wird die inhaltliche Ausgestaltung des Gesetzes vorgenommen. Auch hier ist zunächst die Beschränkung auf das notwendige Gesetz zu beachten und zu kontrollieren. Der parlamentarische Gesetzgeber hat die von der Verfassung gebotene Verteilung zwischen eigener Regelung und Ermächtigung der Exekutive zur Verordnungsgebung zu beachten. Maßstäbe bieten die Wesentlichkeitstheorie und das Prinzip der Gewaltenteilung74 • 73 So die seit BVerfGE 2, 213, 224 (StraffreiheitsG) ständige Rechtsprechung. 74 Siehe oben A IV 1 a, 3, S. 38 Cf., 52 Cf.

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G. Die Normenkontrolle

Die Verpflichtung auf das Wesentliche wird durch die Grundrechtsrelevanz der Regelung bestimmt. Der parlamentarische Gesetzgeber hat die Bereiche der Grundrechtsausübung, in denen der Staat eingreifend, regelnd und gestaltend tätig werden will, von denen abzugrenzen, die staatsfrei bleiben sollen75. Er hat die Abwägung zwischen der Inanspruchnahme der grundrechtlichen Freiheit und den Belangen der Allgemeinheit vorzunehmen und die Entscheidung zu treffen, ob und wie weit Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber Gemeinschaftsinteressen zurücktreten müssen 76. Bei der Beteiligung entgegstehender Grundrechte hat die Markierung der Grenzen der einzelnen geschützten Sphären durch förmliches Gesetz zu erfolgen. Wesentlich ist dabei jeweils nur die Leitentscheidung, durch die der Auftrag an die Exekutive zum Tun und Unterlassen in den berührten Schutzbereichen umschrieben wird, nicht jedoch die Festlegung aller Modalitäten des Regelungsbereiches77 . Die Beurteilung der Betroffenheit von Grundrechten, die Abgrenzung grund rechtlicher Schutzbereiche obliegt gerade nicht dem Gesetzgeber allein. Die Gerichte sind zum Rechtsschutz zu Gunsten der Grundrechtsträger berufen. Die Bestimmung des nach den genannten Kriterien wesentlichen Bereichs einer Regelung ist durch eine Auslegung und Anwendung der die Grundrechte enthaltenden Verfassungsbestimmungen vorzunehmen. Ob das Parlament das Wesentliche selbst geregelt und nicht dem Gesetzesvorbehalt und dem Demokratieprinzip zuwider der exekutiven Normsetzung überlassen hat, unterliegt deshalb der strengen Prüfung durch die Rechtsprechung. Ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum steht dem Gesetzgeber nicht zu. Auch für die Abgrenzung des wesentlichen Bereichs, den der parlamentarische Gesetzgeber selbst regeln muß, kann es auf eine Prognose ankommen, wenn die Regelung der Veränderung unterliegende Sachbereiche erfassen soll oder auf neue, insbesondere technische Entwicklungen reagieren soll, deren Fortgang noch in hohem Maße unsicher ist. Ob das Wesentlichkeitserfordernis bereits jetzt nach einer parlamentarischen Leitentscheidung verlangt, hängt davon ab, ob vorauszusehen ist, daß grundrechtliche Schutzbereiche gefährdet oder untereinander auszugleichen sein werden. Die Prognose selbst unterliegt der an ihrer Rationalität ausgerichteten strengen Kontrolle, und auch das Maß der zu fordernden Wahrscheinlichkeit ist intensiv nachprüfbar, da es lediglich auf die Bedeutung und den Grad der Gefährdung der beteiligten Grundrechte ankommt. Überzogene Gewißheitsanforderungen dürfen an das Berühren grundrechtlicher Schutzbereiche nicht gestellt werden, um nicht den Grundrechtsträgern das Risiko einer Fehlprognose, das die Unsicherheit der Ent75 BVerfGE 20, 150, 158 (SammlungsG); 34, 165, 192 f. (hess. Förderstufe); 52, I, 41 (Kleingarten) . 76 BVerfGE 33, 125, 159 (FacharztO); 41, 251, 264 (Speyer-Kolleg). 77 BVerfGE 47,46,80,82 f. (Sexualerziehung); 58, 257, 268 f. (Schulentlassung).

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wicklung gerade neuer technischer Möglichkeiten mit sich bringt, aufzubürden. Je gewichtiger die betroffenen Grundrechtspositionen zu bewerten sind, desto geringer muß die Wahrscheinlichkeit sein, um dem Parlament eine Entscheidung zur Regelung des Konfliktbereichs abzuverlangen. Ist das Gefahrenpotential der neuen Entwicklung jedoch noch gar nicht zuverlässig abzuschätzen, so kann dem Gesetzgeber eine Entscheidung noch nicht abverlangt werden, da er zur Ordnung des Lebensbcreiches zumindest einigermaßen fundierte Kenntnisse über die Verhältnisse benötigt 78. Die Beschränkung auf das Wesentliche, die der Grundsatz der Gewaltenteilung gebietet, orientiert sich an der Möglichkeit und Fähigkeit, eine wirksame und funktionierende Regelung zu erlassen. Ist das Parlament mit einer Regelung überfordert, weil die notwendige Bestimmtheit und Klarheit nicht zu erreichen ist 79, so ist es von dieser Regelung kraft der Verfassung ausgeschlossen. Es hat sich auf Grundsatzentscheidungen, Regelungsprogramme, Vorgaben an die Gesetzesvollziehung zu beschränken, deren Wirksamkeit und Geltung Veränderungen und kruzlebige Entwicklungen im betroffenen Sachbereich überdauern können. Komplexität und Schnellebigkeit des Sachbereichs, die in kurzer Abfolge die Verarbeitung einer Masse zu berücksichtigender Daten verlangen, um zu ermessen, ob eine Regelung unverändert bleiben kann oder angepaßt werden muß, weisen die Regelung der flexiblen Exekutive zu. Das Parlament muß dann von Detailregelungen absehen; das von der Verfassung gebotene Mittel ist die Verordnungsermächtigung. Das Bestimmtheitserfordernis (Art. 80 I 2 GG) steht einer Ermächtigung auch bei der Regelung vielgestaltiger Sachverhalte, bei denen schnelle Veränderungen zu erwarten sind, nicht entgegen. Das zu fordernde Maß an Bestimmtheit ist nach der Eigenart des Regelungsbereiches festzulegen. Erlaubt er nur grundsätzliche Vorgaben, so reichen diese auch aus 80 . Die Kriterien, nach denen der parlamentarische Gesetzgeber sich auf das Wesentliche zu beschränken hat, stehen dem politischen Ermessen ebenfalls nicht zur Verfügung. Welche Regelungen durch ein förmliches Gesetz mit der Möglichkeit wirksamer, auf Dauer angelegter Geltung erlassen werden können, ohne daß ein rascher Änderungsbedarf nach einer Neuordnung verlangt, die der parlamentarische Gesetzgebungsbetrieb nicht leisten kann, hängt nich vom Zutrauen der Beiteiligten ab, das diese in ihr eigenes Vermögen setzen. Die Fähigkeiten des Gesetzgebers, einen Regelungsbereich detailliert und stets auf der Höhe der Zeit zu erfassen, unterliegen der intensiven gerichtlichen Nachprüfung. Bei der Prüfung der Funktionsgerechtigkeit und Zielsicherheit der eingesetzten Mittel sind zwei Stufen zu unterscheiden. Zum eincn ist in der Normen78 NdsOVG NVwZ 1994, 390 (nichtthermische Funkwellen).

79 BVerfGE 58, 257, 275 f. (Schulentlassung). 80 BVerfGE 58, 257. 277 f. (Schlllentlassllng). 12 Burghart

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kontrolle zu untersuchen, ob das Regelungsinstrument von der Rechtfertigung, die dem gesetzgeberischen Vorgehen durch den Regelungszweck vermittelt wird, umfaßt wird. Es muß den Lebenssachverhalt, auf den es trifft, dem gesetzten Sollzustand zumindest näher bringen, wenn es ihn schon nicht erreicht 81 . Ist die gesetzgeberische Staatstätigkeit überhaupt nur erlaubt, wenn andere Wege der Zweckerreichung nicht zur Verfügung stehen, so müssen eingesetzte Mittel scheitern, die zur Zweckerreichung nichts beitragen können. Anhand einer Prognose ist also zu prüfen, ob der durch die eingesetzten Regelungsinstrumente bewirkte Zustand dem gesetzten Zweck näher kommt als der ungeregelt gelassene Zustand. Wird das Gesetz bereits vollzogen, so ist zu prüfen, ob der nun zu beobachtende Zustand denjenigen am Maß der Zweckverfolgung übertrifft, der festzustellen wäre, wenn die Regelung unterlassen worden wäre. Geprüft wird lediglich, ob dem gesetzgeberischen Mittel die Eignung nicht schlechthin abzusprechen ist. Die Beanstandung auf dieser ersten Stufe setzt die eindeutige Untauglichkeit voraus 82 . Der Grad der Tauglichkeit unterliegt hier noch keiner Kontrolle. Ob die Schwelle der Untauglichkeit überwunden wird, ist allerdings keine Frage irgendeines Ermessens oder einer Jlolitisch wertenden Einschätzung; es hat eine strenge Kontrolle stattzufinden 83 . Die Prüfung wird durch einen Vergleich verschiedener Prognoseergebnisse oder festgestellter tatsächlicher Umstände vorgenommen. Sie ist somit eine vertretbare Verfahrenshandlung. Ihre KontroIlintensität kann nach den oben erörterten Grundsätzen nur durch einen Mangel an Rationalität bei der Tatsachenerebung und Prognoseerstellung gemindert werden. Die Prüfung bildet trotz ihrer strengen KontroIlintensität dennoch keine nennenswerte Hürde für das Gesetz, da lediglich festgestellt werden muß, daß sich die eingesetzten Mittel irgendwo im Bereich der Tauglichkeit bewegen, um von einer Beanstandung absehen zu müssen. In den weitaus meisten zur Regelung anstehenden Fällen sind mehrere Varianten denkbar, dem Ziel näherzukommen. Verschiedene Wege können zum Ziel führen. Auszuwählen ist auch zwischen verschiedenen Regelungsmitteln, die dem Ziel unterschiedlich nahe kommen. Die zweite Stufe der Prüfung umfaßt diese Auswahl unter den überhaupt irgendwie geeigneten Mitteln. Da der Gesetzgeber darauf beschränkt ist, nur einzuschreiten, wenn dies für das gesteckte Ziel notwendig erscheint, um die Freiheitssphäre der Bürger möglichst zu schonen, kann auch das Maß der Eignung des eingesetzten Mittels von der Kontrolle nicht gänzlich freigestellt werden. War wegen der Hochwertigkeit

81 Siehe oben E I, III, S. 116 f., 119 ff. 82 BVerfGE 2, 266, 280 (Notaufnahme); 17. 306, 315 (Mitfahrerzentralen); 39, 210, 230 (MühlenstrukturG). 83 BVerfGE 7,377,412 (Apothekerurteil).

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des in Anspruch genommenen Rechtsgutes und dem eher niedrig zu veranschlagenden Gewicht des Schutzgutes bereits ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts erforderlich, um das gesetzgeberische Tätigwerden überhaupt rechtfertigen zu können, so würde der Ertrag der Notwendigkeitsprüfung aufgehoben, wenn der Gesetzgeber sich zum Einsatz eines Mittels entschließen dürfte, daß die Zweckerreichung nur minimal fördert, jedoch einschneidende und unwiederbringliche Beeinträchtigungen bewirkt. Hat der Gesetzgeber einzuschreiten, um eine Schutzpflicht zu erfüllen, und besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung des Schutzgutes, so kann er sich nicht damit begnügen dürfen, Mittel einzusetzen, deren Tauglichkeit nur äußerst gering bewertet werden kann. Die hohe Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung eines hochwertigen Rechlsgutes stellt stets hohe Anforderungen an die Tauglichkeit des eingesetzten Mittels. Bedeutende Rechtsgiiter stehen dem Gesetzgeber nicht zum Experimentieren zur Verfügung84 . Das Maß an Tauglichkeit, für das sich der Gesetzgeber mit dem Einsatz des Mittels entscheidet, muß also im angemessenen Verhältnis zu der Gewichtigkeit des beeinträchtigten und des geschützten Interesses und dem Grad der Wahrscheinlichkeit stehen, die für eine Störung des gesetzten Zweckes spricht. Da der Kontrollmaßstab von den Wertungen und Gewichtungen abhängt, die - wie oben gezeigt - in den Bereich der politischen Entscheidungen fallen, die der gerichtlichen Prüfung weitestgehend entzogen bleiben, kann auch hier nur mit äußerst geringer Intensität geprüft werden. Daß die ,wertungen des Gesetzgebers nahezu vollkommen kontrollfrei bleiben müssen, und nur das Einhalten äußerster Grenzen der Vertretbarkeit zu prüfen ist, belegen auch die folgenden Erwägungen. Die Festlegung der im einzelnen einzusetzenden Regelungsmittel steht gerade wegen der bis an die Grenzen der Untauglichkeit und der Unvertretbarkeit heranreichenden Auswahl der politischen Gestaltung offen. Die Frage, wie weIche Regelungsvariante sich auf die Entwicklung der Geschehnisse und ihr Verhältnis zum Soll zustand auswirken wird, ist ohnehin nur schwierig zu beantworten, weil die Prognosen geringfügige Abweichungen nur schwer erfassen können. Bei der Ausgestaltung des Gesetzesinhaltes werden zudem nicht nur Gesichtspunkte des jeweiligen Regelungsbereiches berücksichtigt. WeIches Mittel eingesetzt werden soll, wie verläßlich die Regelung sein soll, weIche Anforderungen an die Eignung gestellt werden sollen, unterliegt vielfacher Einflußnahme. Der Gesetzgeber hat auch andere als die von der Regelung berührten Belange zu berücksichtigen. Gerade wenn er auf eigene Ressourcen zugreift - etwa Haushaltsmittel oder VerwaItungskraft -, hat auf die Funktionsfähigkeit und das Gleichgewicht des Ganzen zu achten85 . Die 84 BVerfGE 39, 1, 59 (§§ 218 ff. StGB); 45. 187, 238 (Lebenslange Freiheitsstrafe); 88, 203, 262 (§§ 218 ff. StGB). 85 BVerfGE 87, 1,35 f. (Trümmerfrauen). 12'

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G. Die Normenkontrolle

Feinheiten des Gesetzesinhaltes eignen sich wegen der vielfach möglichen Verschiebungen in hohem Maße zum Handel um Einflußnahme und politische Kompromisse. So kann etwa das Zugeständnis zum bislang abgelehnten Regelungsziel im allgemeinen dadurch erkauft werden, daß nun nur halbwegs geeignete Regelungsinstrumente eingesetzt werden, um ihm nicht allzu nahe zu kommen. Die Kontrolle muß diesen Handel mit den Regelungsvarianten hinnehmen, weil sie zu berücksichtigen hat, daß das Gesetz zu seinem Entstehen einer Mehrheit bedarf. Ihr Zustandebringen durch das Kalkulieren verschiedenster politischer Einflüsse und das Aushandeln von Kompromissen gehört in den parlamentarisch-politischen Bereich und bleibt der gerichtlichen, an Richtigkeitsmaßstäben orientierten Kontrolle verschlossen86 . Dem Gesetzgeber ist bei der Auswahl unter den geeigneten Regelungsmitteln ein weiter Spielraum zuzugestehen, gleichviel ob es sich um eine Auswahl zwischen Eingriffs- oder Differenzierungsvarianten handelt87 • Eine Weitere Konkretisierung des freiheitsbegründeten Gebotes, nur notwendige Gesetze zu erlassen, stellt die Schranke der Erforderlichkeit des Mittels dar. Wenn der Staat schon nur regelnd tätig werden darf, wenn auf andere Weise der Zweck nicht zu erreichen ist, dann muß er sich auch auf das schonendste Mittel beschränken. Dabei ist der Gesetzgeber an dem Maß der Eignung festzuhalten, das er selbst mit der Auswahl des Mittels gesetzt hat. Gelingt in der Normenkontrolle der Nachweis, daß der gesetzte Zweck mit mindestens gleich wirksamen Mitteln, die die beteiligten Grundrechte aber in weniger einschneidender Weise beeinträchtigen, zu fördern ist, so muß die getroffene Regelung am Freiheitsanspruch der Betroffenen scheitern88 . Die Kontrolle hat anhand einer Prognose denkbarer Regelungsvarianten zu erfolgen. Der Maßstab ist streng: einen Gestaltungsspielraum beim Finden des erforderlichen Mittels kann es nicht geben, da es stets nur ein geringsteinschneidendes Mittel unter den gleich oder besser geeigneten gibt89 . Das Gebot des schonendsten Eingriffes kann dem Gesetzgeber auch bei Bestätigung des Regelungsinstruments verwehren, dieses von vornherein auf Dauer zu installieren. Zwar besteht ohnehin die Pflicht zur Wirksamkeitskontrolle und, wenn dies nötig erscheint, zur Korrektur. Ais milderes Mittel bei unübersichtlichen Sachlagen und unsicheren Prognosen über die Eignung des Mittels zur Zweckverfolgung kann sich jedoch die Beschränkung des gesetzgeberischen Eingriffes auf einen engen Zeitraum und vorerst kleinen Ausschnitt des eigentlich gesetz86 BVerfGE 56, 54, 81 (Fluglärm); BVerfG NJW 1983, 2931. 2932 (Luftverschmutzung); Eichenberger VVDStRL 40, 7, 18. 87 BVerfGE 30, 250, 263 (Sonderumsatzsteuer); 37. 1. 20 (Stabilisierungsfond für Wein); 39,1,51 (§§ 218 ff. StGB); 77. 84. 106 (Arbeitnehmerüherlassung); BVerfG NVwZ 1993, 88!. 88 BVerfGE 40. 196.223 (Güterfernverkehr); 77. 84. 109 (Arheitnehmeriiberlassung). 89 Lerche S. 21.

I. Die Kontrollintensität

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ten Zweckes darstellen: das Maßnahmegesetz als Gebot der Erforderlichkeit90 . Wird das Gesetz schon bei seinem Erlaß mit einem Zeitpunkt des Außerkrafttretens versehen, so liegt auch in diesem Bekenntnis zum Experiment, das ein Tätigwerden zur Fortgeltung der auferlegten Beschränkung verlangt, eine mildere Maßnahme als in der Geltung auf unbefristete Zeit, die ein Einschreiten zur Beseitung des Gesetzes erfordert91 . 10. Weitere Gesichtspunkte der Gestaltung und der Gesetzgebungstechnik

Die verbleibenden Gesichtspunkte der Pflicht zum guten Gesetz - die Vollständigkeit, Systemverträglichkeit und Vollständigkeit - sollen hier in einem Abschnitt zusammengefaßt werden, auch wenn sie teilweise noch zur inhaltlichen Gestaltung und teilweise eher zur Gesetzgebungstechnik, dem Übersetzen der gewollten Regelung in die Gesetzessprache, gehören. Auch soweit die Pflicht zum vollständigen und systemverträglichen Gesetz noch Anforderungen an den Inhalt der Regelungen stellen, ist doch der Bereich des politischen Gestaltens, des Wertens und Wägens der beteiligten und der bloß berührten Interessen verlassen. Dieser Bereich war von der Dominanz des Politischen, des Kräftespiels zwischen den aus den Wahlen hervorgegangenen Mehrheiten und Minderheiten und ihrer Teile gekennzeichnet und entzog sich wcgcu der Unvertretbarkeit dieser Art des Entscheidens weitestgehend der gerichtlichen Kontrolle. Hat der Gesetzgeber sich auf die einzusetzenden Mittel festgelegt und damit insbesondere entschieden, welches Maß der Eignung er ins Werk setzen will, ob also sogleich die vollkommene Zweckerreichung versucht werden soll oder zunächst vorbereitende erste Schritte genügen können, so ist er an dieser Entscheidung festzuhalten. Zu prüfen ist, ob der so festgelegte Gehalt der Regelungsmittel in einer Weise in Tatbestände und Rechtsfolgen gegossen wurde, der den verbleibenden Qualitätsanforderungen entspricht. Am Maßstab der Vollständigkeit ist zu prüfen, ob die Regelungen das Maß zwischen Abstraktem und Konkretem so getroffen haben, daß eine berechenbare Rechtsanwendung möglich erscheint. Weist das den Gesetzesanwendern gegebene Entscheidungsprogramm Lücken auf, die den Rechtsunterworfenen keine annähernd sichere Voraussage des Entscheidungsergebnisses oder der von den tatsächlichen Unsicherheiten abhängigen Varianten erlauben, so wird es der rechtsstaatlichen Forderung nach Berechenbarkeit nicht mehr gerecht und muß als verfassungswidrig beanstandet werden. Ebenso wie die näheren Einzelheiten der Vollständigkeit ist oben92 bereits gezeigt worden, daß politi90 Lerche S. 206. 91 Hoffmann-Riem S. 64 f.

92 C 11 4,7, S. 97 ff., 103 Cf.

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G. Die Normenkontrolle

sche Zwangslagen von den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht befreien können. Der Gesetzgeber eine Regelung nicht als unberechenbares Stückwerk erlassen, weil die Mehrheit für die Lückenfüllung fehlte, um dann der Rechtsanwendung - insbesondere die Rechtsprechung - die verbleibende Normierung zu überlassen, zu der sie jedoch nicht berufen ist. Die Beurteilung der Tauglichkeit des gesetzgeberischen Regelungsprogramms, gleichmäßige Entscheidungserwartungen zu begründen, entneht sich der politischen Planung. Ihre Besonderheiten sollen die Lückenhaftigkeit gerade nicht rechtfertigen können. Es kann deshalb eine intensive gerichtliche Kontrolle erfolgen. Sie hat das Gesetz zu beanstanden, sobald ersichtlich wird, daß es die Rechtsanwendung nicht mehr im Sinne seines Zweckes steuern kann, ohne fehlende Maßstäbe durch Analogie und Herannehen allgemeiner Grundsätze zu ersetzen. Soweit zu prüfen ist, ob sich die Regelungsinstrumente in die bestehende Rechtsordnung einfügen, ohne unerwünschten Nebenwirkungen ausgesetzt zu sein oder sie selbst hervorzurufen, erfolgt eine strenge Prüfung nach allgemeinen Grundsätzen. Wenn gerade das Zusammenwirken der neuen mit schon bestehenden Normen Grundrechtsverletzungen bewirken, so verstoßen alle diese Regelung bewirkenden Normen gegen die Verfassung. Hier wird noch einmal planerisches Gestalten kontrolliert. Eine Minderung der Kontrollintensität zu Gunsten des Gesetzgebers kann jedoch nicht erfolgen, um dem Grundrechtsschutz zu genügen. Die bloßen Widersprüchlichkeiten und Unabgestimmtheiten, die nicht die krassen Folgen einer gegenseitigen Aufhebung der Rechtsfolgeanordnungen oder einer Grundreehtsverletzung hervorrufen, können mangels eines allgemeinen Zweckmäßigkeitsmaßstabes im Grundgesetz allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Klarheit und Einfachheit der Rechtsordnung geprüft werden. Schließlich bleibt die Verständlichkeit zu prüfen. Die Kontrolle erstreckt sich auf die Strukturierung und Begriffsbildung des Gesetzes. Begriffe müssen möglichst klar, einfach und einheitlich gebildet werden; neue Begriffsbildungen sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Die sprachliche Formulierung ist von der inhaltlichen Gestaltung nicht streng zu trennen. Änderungen des Regelungsinhalts können durch feines Variieren des Wortlautes vorgenommen werden. Die sprachliche Formulierung ist nicht stets reine Übersetzung des Gewollten in die Gesetzessprache, die jeder dieser Sprache Kundige in gleicher Weise vornehmen könnte. Mit der Wortwahl und der Struktur des Gesetzes können auch Wertungen ausgedrückt werden, die nicht den Regelungsinhalt selbst betreffen, etwa über die Bedeutung, die einzelnen Vorschriften zugemessen wird. Dem Gericht ist es deshalb verwehrt, den Regelungsinhalt zur Kenntnis zu nehmen, eine sprachliche Formulierung selbst vorzunehmen, um dann zu vergleichen, weIche den Geboten sprachlicher Einfachheit besser entspricht. Die Kontrolle der Verständlichkeit darf nicht auf diesem Wege zu ei-

I. Die Kontrollintensität

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nem Formulierungswettbewerb entarten, bei dem das Gericht wegen seiner Verwerfungskompetenz stets den Vorteil nutzen kann, eigene Vorstellungen gegen diejenigen des Gesetzgebers durchzusetzen. Da das Gericht auf Kontrolle beschränkt und nicht berufen ist, einen Alternativentwurf des Gesetzes unter Berücksichtigung des Regelungsinhalts zu erstellen, hat sich die Prüfung an den Maßstäben der Verständlichkeit auszurichten. Die Verständlichkeit des Gesetzes ist an der Erkennbarkeit der Anordnung für den Rechtsanwender zu orientieren. Die Kontrolle hat nicht zu zeigen, daß es noch einfacher und klarer gegangen wäre, sie hat zu beanstanden, wenn die Anforderungen der Verständlichkeit in einem Maße mißachtet sind, daß der Geltungsgrund gefährdet wird. Um ein Gesetz beanstanden zu können, muß das Gericht darlegen, daß unnötige Begriffsvielfalt, verworrene Definitionen und Verweisungen, ßegriffsschöpfungen wider den Sprachgebrauch die Verständlichkeit beeinträchtigen. Da der juristische Generalist und der selbst rechts anwendende Spezialist anderer Fachbereiche als Maßstab der Verständlichkeit dienen, können die Anforderungen nicht allzu streng gewählt werden. Schwierige Regelungen können nicht in einfachste Worte gekleidet werden und einige Bemühungen und die Anwendung juristischer Methode können dem kundigen Adressaten zugemutet werden. Die Kontrollintensität ist somit beschränkt auf das Überprüfen der Mißverständlichkeit und Unverständlichkeit. Nur wenn belegt werden kann, daß aus dem Gesetz selbst nicht herauszuermitteln ist, was gelten soll, darf es beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese differenzierende Kontrolle der Verständlichkeit vorgenommen. Es hat Unklarheiten und Zweifel über den Re~e­ lungsinhalt an der Schwierigkeit gemessen, das Gewollte in Worte zu fassen 3, und erst an extreme Fälle der Unklarheit, Unbestimmtheit und Verworrenheit die Folge der Verfassungswidrigkeit geknüpff 4 . 11. Zusammenfassung

Die Kontrollintensität wird durch die Vertretbarkeit der jeweiligen Verfahrenshandlung bestimmt. Die Bereiche der Rege1ungsgestaltung, die als Ullvcrtretbare, wägende, wertende und gewichtende Entscheidungen einer Überprüfung an objektiven Richtigkeitsmaßstäben nicht zugänglich sind, sind von der Kontrolle auszunehmen oder doch nur auf das Überschreiten äußerster Grenzen verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu überprüfen. Die gerichtliche Normenkontrolle hat so kraft der funktionsorientierten Gewaltenteilung die demokratisch-parlamentarische Entscheidungsfindung unangetastet zu las93 BVerfGE 1,14,45 (Südweststaat); 17,306,314 (Mitfahrerzentralen). 94 BVerfGE 1, 14,45 (Südweststaat); 5, 25. 31 ff. (Apothekenstopp); 30, 367, 388.

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sen. Die Kontrollintensität des Bundesverfassungsgerichts wird somit durch die ihm von der Verfassung zugewiesene Funktion beschränkt; eine richterliche Selbstbeschränkung braucht nicht vorgenommen zu werden 95 . 11. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle Um zu erfahren, welchen Einfluß das Verfahren des Gesetzgebers beim Erfüllen der Qualitätsanforderungen auf die Beurteilung der Verfassungsgemäßheit bzw. Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hat, ist zu prüfen, was Gegenstand der Normenkontrolle ist - das Verfahren oder das Ergebnis - und weIchen Bezugspunkt die Kontrolle verwendet - den historischen des Gesetzeserlasses oder den jetzigen der Prüfung. Das Bundesverfassungsgericht kann dabei für alle und damit für keine der denkbaren Auffassungen in Anspruch genommen werden. 1. Die Meinung des Bundesverfassungsgerichtes

Einige Entscheidungen legen sich auf eine reine Ergebniskontrolle fest, ohne daß das Einhalten oder Mißachten irgendeiner Sorgfalt durch den Gesetzgeber von Bedeutung sein soll. Willensmängel wie Täuschung oder Irrtum, aber auch ein Versehen des Gesetzgebers seien irrelevant. Zur Begründung wird zum einen angeführt, die förmliche' Gestaltung des Gesetz~ebungsverfahrens lasse das Berücksichtigen solcher Gesichtspunkte nicht zu 6. Zum anderen wird aber betont, Gegenstand der Normenkontrolle könne nicht ein unvollständig zum Ausdruck gekommener, sondern nur der objektivierte Wille des Gesetzgebers sein 97 - mithin also das Gesetz, nicht die Gesetzgebung. Auch große Eile begründe keinen Verfassungsverstoß, wenn nur eine freie und unabhängige Entscheidung möglich gewesen sei 98 . Neben dem Ausschluß der gesetzgeberischen Motivation und ihrer Mängel aus der Normenkontrolle enthält auch die mehrfach verwandte Formel, nicht subjektive Willkür führe zur Verfassungswidrigkeit, sondern objektive tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden so1l99, eine eindeutige festlegung auf die Ergeb95 Vgl. Hesse S. 261 Cf., insbesondere S. 264 f.: Schlaich Rdnr. 469 ff., insbesondere Rd· nr. 491; Schuppert DVBI 1988, 1191. 96 BVerCGE 16, 82, 88 (HackfleischVO). 97 BVerfGE 18, 38, 45 (Angestellte zur See). 98 BVerfGE 29, 221, 233 f. (Verdienstgrenze); 30. 250. 261 (Sonderumsatzsteuer). 99 BVerfGE 2, 266, 281 (Notaufnahme); 42. 64. 73; 48. 227, 236 (Vollohnumlage); 51, 1, 26 (Auslandsrenten); 75, 246, 268 (Rechtsbeistände).

H. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle

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niskontrolle. Das Bundesverfassungsgericht hat die Absichten und Ziele der beteiligten Organe, von ihnen angestellte Tatsachenerhebungen und Prognosen sowie schließlich den Umstand, ob sie überhau»t Kenntnis von den zu regelnden Umständen und den möglichen Auswirkungen der Regelung hatten oder haben konnten, für gän7Jich bedeutungslos erklärt. Bei der Prüfung des Notaufnahmegesetzes sollte es nicht darauf ankommen, daß der Gesetzgeber bei Gesetzeserlaß die Massenflucht zur Zeit des gerichtlichen Verfahrens noch nicht einmal erwartet hatte; das eingesetzte Mittel erweise sich bei der Bewältigung der nun aufgetretenen Lage jedenfalls als nicht unangemessen lOO • Nach eingehender eigener Prüfung denkbarer Differenzierungsgründe hat das Gericht eine Regelung an Art. 3 I GG scheitern lassen, nachdem es einen Grund für die vorgenommene Differenzierung aus den Gesetzesmaterialien nicht ersehen konnte und nicht ausschließen wollte, daß der Gesetzgeber die Auswirkungen der Regelung gar nicht erkannt hatte; es sei dennoch möglich, daß es vernünftige und sachliche Gründe für die Regelung gebe 101 . An Art. 12 I GG scheiterte eine Regelung, für die sich in den Gesetzesmaterialien keine Gründe finden ließen; auch hier suchte, erwog und verwarf das Bundesverfassungsgericht mehrere GrÜnde102 . In der Auslandsrenten-Entscheidung, die ebenfalls zur Verwerfung der geprüften Regelung führte, sind ebenso die Zielvorstellungen und Motivationen des Gesetzgebers als zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung untauglich erklärt worden; andere Gründe könnten jedoch rechtfertigend wirken 103 . Bestätigt hat das Bundesverfassungsgericht eine Regelung, bei der es ein Beruhen auf einer "Gedankenlosigkeit" des Gesetzgebers für möglich hielt; ob die maßgeblichen Gründe für die Regelungsgestaltung erörtert worden seien, sei jedoch nicht ausschlaggebend 104. Schließlich ist im Transsexuellen-Beschluß ausdrücklich eine zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes etwa bestehende Einschätzungprärogative ebenso wie das Beruhen der geprüften Regelung auf dem damaligen Erkenntnisstand für bedeutungslos erklärt worden, da Jedenfalls feststehe, daß das eingesetzte Mittel heute nicht mehr geboten sei 1 5. Dem stehen Entscheidungen gegenüber, mit denen das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber Tätigkeiten bestimmter Art und Güte abverlangt, also eine Verhaltenskontrolle durchführt. Bei der Prüfung des Nachnahmeversandverbotes im Tierschutzgesetz hat es das Bundesverfassungsgericht dahinstehen lassen, ob die Regelung schon allein deshalb verfassungswidrig sei, weil die 100 BVerfGE 2, 266, 280 f. (Notaufnahme). 101 BVerfGE 48,227,236 (Vollohnumlage). 102 BVerfGE 48, 376, 380, 390 (Tierversuche). 103 BVerfGE 51, 1,26 (Auslandsrenten). 104 BVerfGE 75,246,268 (Rechtsbeistände). 105 BVerfGE 88, 87, 99 f. (Transsexuelle).

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Feststellungen über den zu regelnden Sachverhalt nicht zuträfen106 . In der EinzelhandcIsentscheidllng hat es das Gericht für die Notwendigkeit strenger Zulassungsvoraussetzungen im Rahmen des Art. 12 I GG uicht ausreichen lassen, daß eine ausreichende Wahrscheinlichkeit sonst drohender Gefahren vorliege; diese müßten durch den Gesetzgeber auch "im einzelnen dargelegt und wahrscheinlich gemacht werden" 107. Bei besonders undurchschaubarer tatsächlicher Lage und besonders schwierig zu erstellender Prognose seien "eher Anforderungen des Verfahrens" zu stellen; auf diese Weise will das Bundesverfassungsgericht eine Einschätzungsprärogative oder einen· HandlungsspicIraum begründen 108 . Es verlangt dazu ein Ausschöpfen aller Erkenntnismöglichkeiten, um auf dieser Grundlage die Auswirkungen der Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können109 Soweit das Bundesverfassungsgericht für die Beurteilung der Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes die Vorstellungen oder die Sicht des Gesetzgebers über die gefahrbringende Entwicklung im Falle seiner Untätigkeit oder über die Eignungsprognose für bedeutsam hält, stellt es für die Frage, ob diese Sichtweise zutrifft oder nicht, auf die zur Zeit des Gesetzeserlasses bestehenden Verhältnisse ab llO . Nimmt das Gericht hingegen eine Ergebniskontrolle vor, so mißt es die geprüfte Regelung an der Situation, "deren sie Herr werden soll", nimmt also eineex-post-Kontrolle vor ll1 . 2. Meinungen im Schrifttum

Im Schrifttum haben beide vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Auffassungen über die Vornahme der Normenkontrolle Anklang gefunden. Geiger spricht sich für eine reine Ergebniskontrolle aus. Das Verfassungsgericht habe das Gesetz auf Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, nicht die Motive, Erwägungen, Prognosen, Wertungen, Akzentuierungen, Präferenzen und Abwägungen des Gesetzgebers. Bei der Prüfung komme es auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers - oder kurz: auf das Gesetz - an, nicht auf irgendei106 BVerfGE 36,47,60 ff. (TierschutzG). 107 BVerfGE 19, 330, 340 (Einzelhandel). 108 BVerfGE 50,290,334 (Mitbestimmung); 57, 139, 160 (SchwerbehindertenG). 109 BVerfGE 39, 210, 226, 230 (MühlenstrukturG); 50, 290, 334 (Mitbestimmung); 57, 139, 160 (SchwerbehindertenG); 65, 1, 55 (Volkszählung); 88, 203, 254, 262 f. (§§ 218 ff. StGB). 110 BVerfGE 25, 1, 12, 17 (MühlenG); 30, 250, 263 (Sonderumsatzsteuer); 71, 230, 250 (Kappungsgrenze); 77, 84, 109 (Arbeitnehmerüberlassung). 111 BVerfGE 2, 266, 281 (Notaufnahme); 42, 64, 73; 48, 227, 236 (Vollohnumlage); 88, 87, 99 f. (Transsexuelle).

11. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle

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nen Willen des Gesetzgebers, der Abgeordneten oder der Fraktionen. Das Gesetz sei unabhängig von den bei seiner Entstehung wirksamen Einflüssen der verschiedensten Art Objekt der Prüfung und gemäß seinem objektiven Inhalt verfassungsmäßig, wenn es mit den Vorschriften der Verfassung vereinbar sei. Zu beanstanden sei es erst, wenn sich überhaupt kein vernünftiger, vertretbarer und sachlich einleuchtender Grund finden lasse, gleichgültifi' ob dieser Grund im Gesetzgebungsverfahren bekannt gewesen sei oder nicht 12. Nach Benda scheitert ein gleichheitswidriges oder unverhältnismäßiges Gesetz, zu dem die Bundesregierung lediglich nichtssagende Floskeln mitteile, der Bundestag hingegen ganz darauf verzichte, Argumente vorzubringen, erst dann, wenn "auch das angestrengteste Nachdenken im Richterkreis" keinen Grund aufspüre, der dennoch die Lösung einleuchtend machen könne 113 . Ob solche Gründe schon im Gesetzgebungsverfahren bekannt waren, soll also unerheblich bleiben. Meessen hält auch bei Außerachtlassen des vorliegenden Tatsachenmaterials durch den Gesetzgeber dessen Entscheidung nur dann für unvertretbar, wenn sie auch sachlich nicht haltbar sei. Die dazu vorzunehmende Prüfung müsse auch für den Gesetzgeber noch unerreichbares, inzwischen aber vorliegendes Material berücksichtigen114 Janssen unterwirft den Gesetzgeber einer reinen Begründbarkeitskontrolle und spricht sich damit ebenfalls für eine Ergebniskontrolle aus. Die Verfassung gebe für die Gesetzesentwicklung keine Lösung vor. Gesetzgeberische Motive seien deshalb nicht nachprüfba~15. Nach Schlaich kommt es bei der Normenkontrolle allein auf das Gesetz als Ergebnis des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens an, nicht auf die Argumentation oder auf sonstiges, im Grundgesetz nicht vorgeschriebenes Verfahren und Verhalten des Gesetzgebers bzw. einzelner am Gesetzgebungsverfahren Beteiligter. Gegenstand der Normenkontrolle sei das Gesetz, nicht der Prozeß seiner Entstehung116 Auch die Gegenposition hat mehrere Anhänger gefunden. König hält das Übermaßverbot zwar zunächst für einen Maßstab für den Gesetzesinhalt, nicht für den Gesetzgebungsprozeß. Zu seiner Beachtung seien jedoch Tatsachener112 Geiger S.

142.

113 Benda DÖV 1979. 465. 467. 114 Meessen NJW 1979. 833. 836. ils Janssen S. 192. 195. 116 Schlaich VVDStRL 39,99,109 f.; Schia ich Rdnr.

505, 507.

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G. Die Normenkontrolle

hebungen und Prognosen nötig. Den Anforderungen des Übermaß- ebenso wie des Willkürverbotes genüge das Gesetz nur daun, wenn im Gesetzgebungsverfahren Tatsachen erhobcn, Prognosen erstellt und Abwägungen vorgenommen worden seien. Da der Handlungszeitpunkt des Gesetzgebcrs und der Kontrollzeitpunkt des Gerichts auseinanderfielen und das Gericht über bessere Möglichkeiten verfüge, Auswirkungen sowie Vor- und Nachteile der Regelung abzuschätzen, habe sich die Normenkontrolle auf die Prüfung zu beschränken, ob der Gesetzgeber bei Erlaß des Gesetzes aus seiner Sicht voraussetzen dürfe, daß die Maßnahmen zum Erreichen des gesetzten Ziels geeiret seien. Die erstellten Prognosen müßten sachgerecht uud vertretbar sein11 • Gusy meint, das Bundesverfassungsgericht müsse seine Prüfungsperspektive auf den Zeitpunkt des Gesetzeserlasses zurückverlegen, da es sonst von der Legislative Unmögliches verlange. Zum Zeitpunkt der Normenkontrolle verfüge das Gericht notwendig über verbesserte Möglichkeiten, Auswirkungen, Vorund Nachteile eines Gesetzes abzuschätzen. Es könne die bisherige Anwendungspraxis, die tatsächliche Bewährung und spätere Auslegung berücksichtigen, was dem Gesetzgeber zur Zeit des NormerIasses noch nicht möglich gewesen sei 118. Lerche unterscheidet zwischen dem Bereich innerer gesetzgeberischer Motivation, der richterlicher Kontrolle nicht zugänglich sei, und den Fragen, ob der Gestzgeber sich um das Verschaffen ausreichenden Tatsachenmaterials bemüht habe und ob dieses Material überhaupt ein richtiges Bild vermitteln könne. Dies gehöre nicht mehr zum kontroll freien Bereich. Die Bewertung des gewonnenen Bildes sei nur bei rein rechnerischer Natur kontrollierbar. Andere gesetzgeberischen Entscheidungen müßten kontroIIfrei bleiben119 . Schwerdtfeger will zwischen Verfahrens- und reiner Ergebniskontrolle nach der Dauer der nach dem Gesetzeserlaß verstrichenen Zeit differenzieren. In Anlehnung an § 93 11 BVerfGG solle binnen Jahresfrist auch ein Verfahrensfehler gerügt werden können und das Gesetz an einer Mißachtung optimaler Methodik durch den Gesetzgeber scheitern. Danach löse sich das Gesetz von der historischen Situation und politischen Konstellation, in der es entstanden sei 120

117 König S. 124. 118 Gusy ZRP 1985, 291, 295 f. 119 Lerche S. 343. 120 Schwerdtfeger S. 187.

11. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle

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3. Eigene Meinung: Die Funktion der Normenkontrolle

Für die Entscheidung zwischen der Verfahrens- und der Ergebnis- und zwischen der ex-al/te- und ex-post-Kontrolle soll ein Blick auf die Funktion der Normenkontrolle geworfen werden. a) Keille Leistlillgskolltrolle

In den Verfahren der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2, 100 I GG) soll die Vereinbarkeit des geprüften Gesetzes mit höherrangigem Recht geklärt werden. Das antragsberechtigte Bundes- oder Landesorgan bzw. das vorlegende Gericht begehren eine Feststellung über die Gültigkeit eines Gesetzes. Das vorlegende Gericht muß erfahren, ob es dem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit die zweifelhafte Norm zu Grunde legen darf. Von Interesse kann also lediglich die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit der Verfassung zu dem Zeitpunkt sein, der für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts maßgeblich ist. Dies ist jedenfalls nicht der Zeitpunkt des Gesetzeserlasses: Ist ein :dvil- oder verwaltungsrechtlicher Anspruch zu prüfen, so kommt es auf die letzte mündliche Tatsachenverhandlung an. Für die Rechtmäßigkeit eines eingreifenden Verwaltungshandelns ist die Rechtslage zur Zeit dieses Eingriffs entscheidend. Die Strafbarkeit eines Verhaltens ist nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht zu beurteilen. Das Bundes- oder Landesorgan oder die Mitglieder des Bundestages sind ebenfalls an einer verbindlichen Klärung ihrer heute bestehenden Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel interessiert. Sie wollen wissen, ob das Gesetz (noch) gültiger Bestandteil der Rechtsordnung ist. Das Verfahren dient insbesondere nicht dem Rechtsschutz vor bestimmten Handlungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe; dazu ist ein Organstreit zu führen (Art. 93 I Nr. 4 GG). Gegenstand der Prüfung ist nach der Funktion der abstrakten und anch der konkreten Normenkontrolle also das Gesetz, so wie es zur Zeit der Prüfung oder zu einem anderen Zeitpunkt nach seinem Erlaß im Gefüge der Rechtsordnung und der tatsächlichen Verhältnisse und Anforderungen steht. Das geprüfte Gesetz ist keine Willenserklärung des Gesetzgebers. Es gewinnt mit seinem Inkrafttreten einen objektiven Gehalt, eine von den Erwägungen, die zu seinem Entstehen geführt haben, unabhängige, verselbständigte Geltung. Es gilt für eine unbestimmte Zukunft und für eine unbestimmte Zahl von Fällen und soll damit gerade mehr leisten als das, was bei Gesetzeserlaß vorstellbar gewe-

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G. Oie Normenkontrolle

sen ist. Mit diesem objektiven, durch die Veränderung der begleitenden Umstände seinerseits veränderbaren Gehalt wird das Gesetz Gegenstand der Normenkontrolle. Mit der Prüfung der Verfassungsgemäßheit wird keine Beurteilung der historischen Leistungen des Gesetzgebers vorgenommen, sondern die Frage beantwortet, ob die Norm jetzt - zur Zeit ihrer Prüfung - mit der Verfassung in Einklang steht. Daß dies früher einmal der Fall gewesen ist, gibt für den Inhalt der heute zu gebenden Antwort keinen Aufschluß. b) Rechtsschutz

Führt eine Verfassungsbeschwerde zur Normentwntrolle, so dient das Verfahren dem Rechtsschutz des Beschwerdeführers. Diesem ist nicht geholfen, wenn das Bundesverfassungsgericht ihm bescheinigt, der Gesetzgeber habe aus seiner Sicht davon ausgehen fürfen, daß eine Maßnahme den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspreche l21 . Dem Bürger muß gleichgültig sein, was der Gesetzgeber vor langer Zeit richtig gemacht hat, wenn das Gesetz ihn heute.in einer Art belastet, die von der Verfassung nicht gebilligt wird. c) Keille Naclrbesserullgspflicht bei ex-allle-Beirachtullg

Hinzuweisen ist schließlich auf den Widerspruch, der zwischen dem historischen Bezugspunkt der Normenkontrolle und der Auffassung besteht, ein Gesetz könne verfassungswidrig werden, so daß eine Nachbesserungspflicht entstehe. Wird ein ursprünglich verfassungsgemäßes Gesetz verfassungswidrig, weil es den veränderten, so nicht absehbaren tatsächlichen Anforderungen nicht mehr genügt, so konkretisiert sich die Pflicht, nur verfassungsgemäße Gesetze zu erlassen, zu der Pflicht, die Verfassungswidrigkeit durch Anpassung, sonstige Änderung oder Aufhebung zu beseitigen 122. Hat der Gesetzgeber bei Entstehen des Gesetzes nach besten Kräften sorgfältig prognostiziert, so führt eine Beurteilung nach der damaligen Sicht zur Verfassungsgemäßheit der Regelung; der Feststellung einer Rechtsverletzung soll entgegenstehen, daß eine bessere Prognose nicht möglich war 123 . Verfassungswidrig werden kann die Regelung danach nicht, denn die spätere Erkenntnis, die Prognose sei 121 BVerfGE 30, 250, 263 (SonderumsalZsteuer). 122 BVerfGE 25, I, 13 (MühlenG); 49, 89, 130. 132 (Schneller Brüter); 50, 290, 335 (Mitbestimmung); 56, 54, 78 ff. (Fluglärm); 59, 336. 357 (LadenschlullG); 65, I, 55 f. (Volkszählung); 73, 40, 94 (Parteienfinanzierung); 77, 84, 109 (Arbeitnehmerüberlassung); 88, 203, 269, 309 f. (§§ 218 ff. StGB); BVerfG NJW 2107,2109 (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe); Karpen, GgebL, S. 36; Ossenbiihl S. 517; Peslalozza § 20 Rdnr. 109, 125. 123 BVerfGE 73. 40, 94 (Parteienfinanzierung); 77, 84, 109 (Arbeitnehmerüberlassung); König S. 130; Ossenbilhl S. 517.

11. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle

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nicht erfüllt, ändert nichts daran, daß der Gesetzgeber sich bestmöglich bemüht hat. Es ist widersprüchlich festzustellen, die Regelung sei nicht verfassungswidrig, es entstehe aber eine Pflicht zur Nachbesserung124 . Warum sollte die Regelung geändert werden müssen, wenn sie doch verfassungsgemäß ist? Das Bundesverfassungsgericht scheint diesen Widerspruch zu erkennen, wenn es formuliert, "ungeachtet" der Nachbesserungspflicht sei für die Beurteilunf der Verfassungsgemäßheit der Zeitpunkt des Gesetzeserlasses maßgeblich 12 , und die Nachbesserungspflicht entstehe "dennoch", nachdem der geprüften Regelung bescheinigt wurde, eine Rechtsverletzung sei nicht ersichtlich, weil für einen Mißerfolg bei ihrem Erlaß kein Anhalt bestanden habe 126 . Solche Formulierung tragen allerdings nichts zur Lösung bei, die allein durch eine Änderung des Bezugspunktes der Kontrolle zu erreichen wäre. Hinter dem Beharren auf einer Nachbesserungspflicht trotz Verfassungsgemäßheit ist das Bemühen erkennbar, den sorgfältig prognosti7Jerenden Gesetzgeber vor dem Vorwurf zu bewahren, er habe ein - nun - verfassungswidriges Gesetz erlassen, wobei dieser Vorwurf nur deshalb erhoben werden kann, weil die Erkenntnismöglichkeiten nun besser sind. Das Bundesverfassungsgericht meint, eine Maßnahme auf Grund einer Fehlprognose sei nicht schon deshalb verfassungswidrig127 . König will ausschließen, daß Irrtümer über den Verlauf der Entwicklung die Regelung verfassungswidrig werden lassen 128 . Diese Bemühungen sind unnötig. Ihnen liegt eine doppelte Fehlvorstellung zu Grunde. Nicht der Irrtum des historischen Gesetzgebers läßt das Gesetz verfassungswidrig werden, sondern die veränderten Umstände, die Anforderungen an das Gesetz stellen, die es nicht mehr zu erfüllen vermag. Deshalb ist zum anderen wiederholend darauf hinzuweisen, daß das Urteil der Verfassungswidrigkeit keine Beurteilung der damaligen Bemühungen des Gesetzgebers und auch keinen Vorwurf nachlässigen Handeins enthält. Es kann unumwunden zugestanden werden, daß der Gesetzgeber damals nach bester Sorgfalt prognostiziert habe. Daß die Prognose sich dennoch als falsch erweist, steht dem überhaupt nicht entgegen. Normenkontrolle ist keine Leistungskontrolle für den historischen Gesetzgeber.

124 So BVerfGE 25,1,13 (MühlenG); Ossenbiihl S. 517. 125 BVerfGE 77, 84, 109 (Arbeitnehmerüberlassung). 126 BVerfGE 73.40, 94 (Parteienfinanzierung). 127 BVerfGE 25, 1, 13 (MühlenG). 128 König S. 130.

192

G. Die Normenkontrolle

4. Anhörung von Gemeinden

Drei weitere Gesichtspunkte sprechen nicht für einen historischen Bezugspunkt der Nonnenkontrolle. Sie sollen hier erwähnt werden, um zu zeigen, daß kein Zusammenhang mit einer denkbaren Relevanz des gesetzgeberischen Verfahrens für die Normenkontrolle besteht. Zum einen geht es dabei um die Anhörung der Gemeinden. Bei Eingriffen in die kommunale Selbstverwaltung hat das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Sachverhaltsermittlung mit der Pflicht zur Anhörung der Gemeinden verbunden und dies als einen Ausfluß der Selbstverwaltungsgarantie und des Rechtsstaatsgebotes angesehen. Diese Anforderungen sind bei Gebietsänderungen 129 , bei Beeinträchtigungen der Raumplanungshoheit130 und bei anderen Eingriffen in das Selbstverwaltungsrecht einzelner Gemeinden 131 genannt worden. Dies sind Gesetze, die nicht für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gelten sollen. Sie regeln nicht generell mit abstrakten Tatbeständen, die nicht übersehen lassen, auf wie viele und welche Fälle das Gesetz angewandt werden soll. In bezug auf die Gemeinde ist das Gesetz ein Einzelfallgesetz, das gerade ulid nur die Individualität einer Gemeinde berührt 132 . Der Verfassung ist nicht zu entnehmen, daß solche Gesetze schlechthin unzulässig sind; lediglich Art. 19 I 1 GG verbietet sie bei der Einschränkung von Grundrechten 133 • Die Verengung der Geltung auf den einzelnen Fall gebietet allerdings auch, die Besonderheiten dieses Falles aufzuklären und zu berücksichtigen. Wenn der Staat gegen einen einzelnen Rechtsunterworfenen ein Zwangsmittel einsetzt und Gehorsam abverlangt und dabei dessen einmalige, einzigartige Interessen berührt, dann folgt aus der Möglichkeit, durch Anhörung einen unvermittelten Einfluß auf die Entscheidungsfindung zu nehmen, das Gebot, diese Möglichkeit zu gewähren. Dem einseitig im Einzelfall verordneten Zwang hat ein faires Verfahren vorauszugehen, daß die Chance der Rechts- und Interessenwahrung bietet. Das Bundesverfassungsgericht greift hier sogar zu der vom Menschenwürdegrundsatz bekannten Objektfonnel und entnimmt Art. 28 II GG und dem Rechtsstaatsprinzip das Verbot, die Gemeinden zum "stummen Objekt staatlichen HandeIns zu machen" 134 Die Anhörung der Gemeinden dient somit einem weitergehenden Zweck als die Tatsachenaufklärung. Sie soll nicht nur die Beherrschung des RegeIungsbe129 BVerfGE 50, 195, 202 (Rheda-Wiedenbrück); 86, 90, 107, 109, 112 (Rückgliederung). 130 BVerfGE 76, 107, 121 f. (Wilhelmshaven). 131 BVerfGE 56, 298, 319 f. (Lärmschutzbereich); 59, 216, 227 (Gemeindename). 132 BVerfGE 59,216,228 (Gemeindename); 76, 107, 121 (Wilhelmshaven). 133 BVerfGE 25,371,398 (Montanmitbestimmung). 134 BVerfGE 59. 216, 228 (Gemeindename); schon zuvor: BVerfGE 50, 195, 202 (RhedaWiedenbrück) .

11. Gegenstand und zeitlicher Bezugspunkt der Normenkontrolle

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reichs sichern, sondern Rechts- und Interessenwahrung bei einem Eingriff im Einzelfall garantieren. Ein Verfassungsrechtssatz, nach dem abstrakt-generelle Normen, die wegen ihrer unübersehbaren Vielzahl möglicher Anwendungsfälle auf Typisierungen und Pauschalierungen angewiesen sind, nicht ohne vorherige Anhörung der - möglichen - Betroffenen erlassen werden dürfen, besteht hingegen nicht 135 . Daß die ordnungsgemäße Anhörung vor dem Erlaß eines Einzelfallgesetzes als Voraussetzung seiner Verfassungsgemäßheit bzw. ihr Fehlen als Voraussetzung einer Beanstandung zu prüfen ist, läßt somit keine Schlüsse auf eine generelle Beachtlichkeit der vor dem Gesetzeserlaß erbrachten Verfahrensleistungen zu. 5. Grundrechte als Verfahrenspflichten

Zum gleichen Ergebnis führt ein Blick auf die Grundrechte, soweit sie Verfahrenspflichten bewirken. Grundrechte gebieten, für den Umgang zwischen Staat und Bürger ein Verfahren bereitzustellen und zu beachten, das der Gefahr der Grundrechtsverletzung entgegenwirkt und den Grundrechtsschutz sicherstellt 136 • Auch hier wird dem Bürger selbsttätige Rechts- und Interessenwahrung für den Fall garantiert, daß der Staat gerade dem einzelnen entgegentritt, um seine persönlichen, grundrechtlich geschützten Belange zur Geltung zu bringen. Für das Verfahren der Gesetzgebung ist daraus aus den soeben beim Anhörungsrecht der Gemeinden angestellten Erwägungen nichts abzuleiten. 6. Das sogenannte äußere Verfahren

Von der Frage, ob der Gesetzgeber zu sorgfältigem Verfahren verpflichtet ist, muß schließlich das sogenannte äußere Gesetzgebungsverfahren getrennt werden. Art. 76, 77 GG betreffen allein die Art und Weise, mit der dem Gesetz demokratische Legitimation verschafft werden soll, und sie regeln die Beteiligung der verschiedenen Organe am Zustandekommen des Gesetzes. Gemeinsam mit den Vorschriften, die die Entscheidungsfindung betreffen (Art. 42, 52 III GG) und die die Beteiligten dem Einfluß aller Interessierten preisgeben (Art. 5 I, 8, 9, 17, 21, 28 I, 38 I GG), bieten sie die Voraussetzung für Annehmbarkeit und Geltung der Gesetze für jeden, auch für den Un-

135 WandlNiebler, Abweichende Meinung zu BVerfGE 56, 298 (Lärmschutzbereich), dort S. 324, 338. 136 BVerfGE 52, 391, 408; 53, 30, 65 f. (Mülheim-Kärlich); 56, 216, 236; 63, 131, 143 (Türken in Bingen); 65, 1,44 (Volkszählung); 65, 76, 94; 69, 315, 355 (Brokdorf). 13 Burghart

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G. Die Normenkontrolle

zufriedenen. Sie sind die Grundlage, die eine Legitimation durch Verfahren ermÖglicht 137 . Selbstverständlich kann und muß das Bundesverfassungsgericht das Einhalten der Regelungen über das äußere Verfahren streng kontrollieren, da ausdrückliche Normen zur Verfügung stehen und die Beurteilung ihres Beoder Mißachtens auf der Feststellung vergangener, unverrückbarer Geschehnisse und auf Rechtsanwendung beruht. Der Kontrolle ist hier zwingend der historische Bezugspunkt zu Grunde zu legen. Das Verschaffen der demokratischen Legitimation ist eine Angelegenheit des Augenblicks und wird durch eine spätere Entwicklung nicht berührt. Für die hier untersuchten Verfahrenspflichten enthalten die eben genannten Verfassungsbestimmungen nichts. Sie regeln nicht das Festlegen des Gesetzesinhalts und die Regelungsgestaltung. Wenn es auf dieses sogenannte innere Verfahren bezogene Sorgfaltspflichten gibt, so sind sie - wie geschehen - aus den inhaltlichen Anforderungen an das Gesetz zu ermitteln138 . Sie betreffen die materielle, nicht die formelle verfassungsrechtliche Legitimation des Gesetzes. Genügt das Gesetz den an seinen Regelungsinhalt gestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen schon ursprünglich oder erst später nicht, so bewahrt das Einhalten des Verfahrens nach Art. 76, 77 GO nicht vor der Verfassungswidrigkeil, ebenso wie ein inhaltlich ordnungsgemäßes Gesetz scheitert, wenn es nicht nach Art. 76, 77 zustandegekommen ist. Für die Frage des Bezugspunktes der Kontrolle der inhaltlichen Anforderungen und auch für die Erörterung Kontrollintensität bzw. der Gestaltungsfreiheil ist die Kontrolle des äußeren Verfahrens daher ohne Bedeutung139 Die nun gewonnene Erkenntnis, daß die Normenkontrolle eine Ergebniskontrolle ist und daß sich der historische Bezugspunkt des Gesetzgebungsverfahrens zu ihrer Durchführung nicht eignet, führt noch nicht zu einer Ablehnung von auf ein sorgfältiges Vorgehen gerichteten Verfahrenspflichten. Das zeigen die in mit der Normenkontrolle zu prüfenden Voraussetzungen der Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes. III. Der Ausspruch des Gerichtes: Voraussetzungen der Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit Die Normenkontrolle führt nicht nur zum Ausspruch der Verfassungswidrigkeit oder dessen Unterbleiben. Zumindest die abstrakte und die konkrete Nor137 Luhmann passim. 138 Kloepfer VVDStRL 40,63,90.

139 Ein Vergleich - wie ihn Schneider, NJW 1980, 2103, 2106 f., vornimmt - muß wegen der völlig unterschiedlichen Kontrollgegenstände von vornherein ohne Ertrag bleiben.

IlI. Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit

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menkontrolle richten sich jedenfalls auf einen positiven Ausspruch der Verfassungsgemäßheit oder Verfassungswidrigkeit . Die Zweifel der Antragsteller bzw. des vorlegenden Gerichts sind auszuräumen. Die auf eine Verfassungsbeschwerde vorzunehmende Normenkontrolle zwingt nicht zu einem positiven Ausspruch der Verfassungsgemäßheit. § 31 11 2 BVerfGG hält ihn jedoch für zulässig140 • Je für sich sollen deshalb nun die Voraussetzungen der Verfassungsgmäßheit und der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes erörtert werden, um zu untersuchen, ob hier Aufschluß tiber das Bestehen einer Verfahrensund Sorgfaltspflicht zum guten Gesetz gewonnen werden kann. 1. Verfassungsgemäßheit

Die Normenkontrolle ist - wie gezeigt - eine Ergebniskontrolle. Sie ermittelt, ob das Gesetz heute, nach seiner Verselbständigung von den Erwägungen, Hoffnungen und Meinungen seiner Urheber den verfassungsrechtlichen Anforderungen gentigt, ob es auf die heute gegebenen Tatsachen und die heute zu stellenden Prognosen in einer für die beteiligten Rechtsgiiter und Interessen angemessenen Weise reagiert. Genügt das Gesetz den tatsächlichen Anforderungen, schränkt es Rechte nicht unnötig ein und gewährt es den gebotenen Schutz, so ist es - materiell 141 - verfassungsgemäß. Für den Rechtsschutz suchenden Beschwerdeführer und für diejenigen, die ihre Zweifel an der Gültigkeit des Gesetzes verbindlich geklärt wissen wollen, ist nichts gewonnen, wenn Zllsät7Jich bescheinigt würde, der Gesetzgeber sei bei der Gestaltung der Regelungen ordentlich und sorgfältig verfahren. Ebenso ist unerheblich, ob der Gesetzgeber nachlässig verfahren ist oder einzelne Verfahrensschritte gar ganz ausgelassen hat. Das Gesetz verletzt niemandes Rechte und erfüllt seine Schntzfunktion. Auch das gute Gesetz als Zufallsergebnis eines nachlässigen und Hickenhaften Verfahrens verletzt keine Rechte. Wenn der Schuß ins Dunkle ins Schwarze trifft, besteht kein Anlaß zur Beanstandung. Selbst wenn der Gesetzgeber eine Rechtsverletzung beabsichtigt, sich dann aber im Mittel vergreift, so daß schließlich eine geeignete und erforderliche Regelung in Kraft tritt, wird niemandem mehr abverlangt, als die Verfassung zuläßt. Der Anffassung, Grundrechtseingriffe könnten nur legitimiert werden, wenn das innere Gesetzgebungsverfahren rational und methodisch einwandfrei abgelaufen sei 142 , muß entgegengehalten werden, daß nicht das Verfahren das Datensammeln, Prognostizieren, Werten und Abwägen - Grundrechte ver140 Pestalozza § 20 Rdnr. 108. 141 Die hiervon zu trennende. völlig unabhängige Frage der formellen Verfassllngsgemäll· heit ist für die hier angestellten Erörterungen ohne Belang (vgl. soeben II 6. S. 193 C.). 142 Schwerdtfeger S. 176, 178: mit gleicher Tendenz: Brandner ZG 1990. 46. 59. 13*

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G. Die Normenkontrolle

letzt, sondern das Gesetz, wenn es in Kraft getreten ist und selbständig und unabhängig vom vorausgegangenen Verfahren Wirkungen entfaltet. Es ist zwar richtig, daß Verfahrensbindungen den Gesetzgeber dis7jplinieren und so einen Schutz vor Rechtsverletzungen bieten 143 , weil sie die Aussichten auf ein gutes, verfassungsgemäßes Gesetz erhöhen, entscheidend bleibt jedoch allein, daß nun keine verfassungswidrige Beeinträchtigung festzustellen ist. Die Chance des Normunterworfenen, nach einem anderen, besseren Verfahren weniger oder gar nicht belastet zu werden, ist kein von der Verfassung geschütztes Gut und kann nicht Gegenstand der Normenkontrolle sein, zumal vollkommen ungewiß ist, ob sie sich nach einem guten Verfahren realisiert hätte 144 Entspricht ein Gesetz der Verfassung, so ist für diese Feststellung auch unerheblich, ob schon abzusehen ist, daß die Verhältnisse sich alsbald so ändern werden, daß das Gesetz den Anforderungen nicht mehr entsprechen kann und verfassungswidrig wird. Die Normenkontrolle klärt nicht, wie die Lage vor dem für die Kontrolle maßgeblichen Zeitpunkt zu beurteilen war, und sie dient auch nicht dazu, das zukünftige Schicksal des Gesetzes weiszusagen. Zwar entsteht die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, der die verfassungswidrige Lage zu verhindern hat. Dies hat aber keinen Einfluß auf die jetzt, zum maßgeblichen Zeitpunkt vorzunehmende Beurteilung. Der Ausspruch, das geprüfte Gesetz sei noch verfassungsgemäß145 ist ein wohlmeinender, aber unverbindlicher Service des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzgeber. Ob eine spätere Normenkontrolle des gleichen Gesetzes unter den dann vorliegenden tatsächlichen Voraussetzungen zum gleichen oder zu einem anderen Ergebnis führen wird 146, ist nicht abzusehen und kann deshalb nicht Gegenstand des jetzt geführten Verfahrens sein. Führt also die Ergebniskontrolle zu einem .für das Gesetz positiven Ergebnis, so kann ohne weiteres - die formelle Verfassungsgemäßheit wie stets unterstellt - die Verfassungsgemäßheit ausgesprochen werden. 2. Verfassungswidrigkeit Wird das Gesetz den gestellten Anforderungen nicht gerecht, so kann es nicht jedenfalls für verfassungswidrig erklärt werden. Zwar würde der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit besten Rechtsschutz für die von der Rege143 Schwerdtfeger S. 178. 144 Schwerdtfeger, S. 187. begründet so die Unbeachtlichkeit eines Verfahrensfehlers nach Ablauf einer Jahresfrist. 145 Das "dynamische Noch": Pesla[ozza § 20 Rdnr. 109. 146 Vgl. G/lsy ZRP 1985. 291. 294; Pesla[ozza § 20 Rdnr. 110.

III. Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit

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lung rechtswidrig Betroffenen gewähren. Die ungerechtfertigte Belastungmüßte keinen Augenblick länger hingenommen werden. Dies würde aber vernachlässigen, daß der Bürger auch kraft der Verfassung nur beanspruchen kann, was zu erfüllen ist. Folgte aus dem objektiven Zurückbleiben des Gesetzes hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen sofort die Verfassungswidrigkeit, so setzte dies voraus, daß der betreffende Mangel jederzeit vermieden oder behoben werden könnte. Die Verfassung und die sie voll7jehende Normenkontrolle haben zu berücksichtigen, daß Gesetzgebung Menschenwerk ist. Deshalb ist sie schon ohnehin fehleranfällig, weil Menschen fehlsam sind. Sie begegnen den an sie gestellten Anforderungen mitunter mit Unvermögen, obwohl die Erfüllung der Erwartungen möglich war. Die Gesetzgebung ist in besonderem Maße fehleranfällig, weil der Mensch mit ihr an die Grenzen seiner Fähigkeiten stößt. Sie ist zukunftsbezogen. Es ist zu berücksichtigen, was zukünftig geschehen wird und welche Normen die Entwicklung im gewünschten Sinne beeinflussen können. Die Sicht in die Zukunft ist dem Menschen jedoch verschlossen. Er kann zwar Voraussagen treffen. Aber gerade in den durch Gesetze geordneten Bereichen spielen das menschliche Verhalten und die Ansichten einer unüberschaubaren Anzahl von Normunterworfenen und -betroffenen eine Rolle. Dies sind Umstände, an denen die herkömmlich als zuverlässig bekannten Voraussagemethoden, vor allem Berechnungen auf der Grundlage von Naturgesetzen, scheitern. Die Prognoseunsicherheit führt zu einer nicht behebbaren beträchtlichen Fehleranfälligkeit der Gesetzgebung. Der Anspruch des Bürgers richtet sich darauf, soweit wie möglich von Regelungen ganz verschont zu bleiben und von den unerläßlichen Regelungen so schonend wie möglich beeinträchtigt zu werden. Dieser Anspruch richtet sich gegen den normsetzenden Staat, von dem keine Perfektion erwartet werden kann, weil er von Menschen betrieben wird. Die Nomlenkontrolle hat deshalb zu berücksichtigen, ob ein Fehler zu vermeiden war, ob dem Gesetzgeber also der Erlaß eines guten Gesetzes möglich war. Nur dann kann das als fehlerhaft beanstandete Gesetz der Verfassungswidrigkeit verfallen. Das Einbeziehen eines subjektiven Elements in die Normenkontrolle ist dem Bundesverfassungsgericht nicht unbekannt. Es hat die unterlassene Berichtigung einer Fehlprognose nicht beanstandet, weil dem Gesetzgeber keine ausreichende Zeit zur Verfiigun§ stand, um sich Gewißheit über die tatsächliche Entwicklung zu verschaffen 1 7. Die Beanstandung einer auf nicht weiter aufklärbaren, sich später als unzutreffend herausstellenden Tatsachengrundlage 147 BVerfGE 16, 147, 182 f. (Werkfernverkehr); BVerfG NJW 1981, 2107, 2109 (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe) .

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G. Die Normenkontrolle

beruhenden Regelung könne erst erfolgen, wenn der Gesetzgeber später erreichbares Material unberücksichtigt lasse und eine Anpassung nicht vornehme 148 . Eine Beanstandung müsse unterbleiben, wenn die Gefahr für ein Rechtsgut, dessen Verletzun~ das Gesetz an einem Grundrecht scheitern lasse, nicht erkennbar gewesen sei 49. Ob der Gesetzgeber das Erforderliche getan habe, um den gebotenen Schutz vor drohenden Gefahren zu gewähren, sei nach den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu beurteilen 150. Der Kontrolle von Abwägungen hat das Bundesverfassungsgericht die Beurteilung der Verhältnisse vorau~esetzt, die dem Gesetzgeber bei der Vorbereitung des Gesetzes möglich war l 1. Schließlich läßt es die Weite eines Prognose- oder Gestaltunrsspielraumes von der Möglichkeit abhängen, sich ein sicheres Urteil zu bilden 52. Die Abgrenzung erfolgte somit stets zu zwei Seiten: Es sollte nicht entscheidend sein, wac; der Gesetzgeber tatsächlich unternommen hat; er bestimmt nicht das Maß des Gebotenen, sondern hat es zu befolgen. Es sollte ihm aber auch nicht abverlangt werden, was er nicht leisten konnte, auch wenn dies dem Rechtsgüterschutz besser gedient hätte. Die Bedeutsamkeit dessen, was dem Gesetzgeber möglich ist, scheint auch der Sorge gerecht zu werden, mit der ex--post-Kontrolle, bei der Handlungsund Kontrollzeitpunkt auseinanderfallen. könne dem Gesetzgeber Unrecht widerfahren, da ihm das Bundesverfassungsgericht, das auch erst heute über besseres Wissen verfüge, vorwerfe, etwas unterlassen zu haben, wozu er gar nicht in der Lage war 153 Der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Berücksichtigung eines subjektiven Elements zur Beurteilung der Verfassungswidrigkeit einer Regelung kann jedoch nicht gefolgt werden, soweit stets auf die Möglichkeiten des Gesetzgebers beim Normerlaß und seiner Vorbereitung abgestellt wird. Die Normenkontrolle hat zu berücksichtigen, ob die Fehlerhaftigkeit des Gesetzes zu vermeiden war. Hätte vermieden werden können, daß das Gesetz den Anforderungen nicht entspricht, so ist es verfassungswidrig. Dazu ist der Blick auf das zu richten, was der Gesetzgeber unternommen hat, um die Regelung vor einem Zurückbleiben hinter den Anforderungen zu bewahren. Auch die Verhaltenskontrolle, die prüft, ob der Gesetzgeber das ihm Mögliche getan

148 BVerfGE 33,171,189 f. (Kassenarzthonorare). 149 BVerfGE 71,230,250 (Kappungsgrenze). 150 BVerfGE 39. 1. 51 (§§ 218 ff. StGB). 151 BVerfGE 25. 1. 12 (MühlenG): 71. 230. 250 (Kappung~grenze). 152 BVerfGE 50. 290. 2:n (Mitbestimmung): 76. 1. 51: 77. 170. 214 (e-Waffen): 88, 87. 97 (Transsexuelle): 88, 203. 262 (§§ 218 ff. StGB). 153 G/lSY ZRP 1985. 291. 296; König S. 124.

111. Verfassungsgemäßheit und Verfassungswidrigkeit

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hat, um eine verfassungsgemäße Gesetzeslage zu erhalten, ist auf den Zeitpunkt der Kontrolle bezogen. Wird das Gesetz nur kurze Zeit nach dem Abschluß des Gesetzgehungsverfahrens der Normenkontrolle unterzogen und führt die Ergebniskontrolle zur Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit, so ist das Gesetzgebungsverfahren darauf zu überprüfen, ob der Fehler durch Beachtung eines sorgfältigen Verfahrens hälle vermieden werden können. Es ist jedoch kaum denkbar, daß sich die Unvermeidbarkeit des Fehlers ergeben könnte. Das Bundesverfassungsgericht prüft in der Ergebniskontrolle die Grundlagen der Normgestaltung und der rechllichen Beurteilung der Regelung nur soweit intensiv nach, wie sie auf vertretbaren Verfahrenshandlungen beruhen. Da diese Verfahrenshandlungen allen Verfassungsorganen gleichermaßen offenstehen, führt eine Beanstandung nach Verstreichen einer kurzen Zeit seit dem Gesetzgebungsverfahren, in der sich der Kenntnisstand und die Methodensicherheit nicht verändert haben, zugleich zu der Erkenntnis, daß auch der Gesetzgeber es hälle besser machen können. Wird die Normenkontrolle längere Zeit nach dem Normerlaß durchgeführt, so ist die Ergebniskontrolle - wie dargelegt - nach den Verhältnissen zur Zeit der Kontrolle vorzunehmen, um zu ermilleln, ob das Gesetz heute den Anforderungen entspricht. Ist dies nicht der Fall, so ist zu fragen, ob der Gesetzgeber das Nötige und ihm Mögliche unternommen hat, um den Fehler zu vermeiden oder zu beheben. Dafür ist zunächst nicht das Verfahren entscheidend, das zur Entstehung der Regelung geführt hat. Gleichviel, ob der Gesetzgeber damals die Verfahrenshandlungen bestmöglich durchgeführt hat und erst ein besserer Kenntnisstand zur Beanstandung führen mußte oder ob die Fehlerhaftigkeit bereits auf einem nachlässigen Vorgehen des historischen Gesetzgebers beruht, das Zurückbleiben der Norm hinter den Anforderungen hälle bei einer Beobachtung der Verhältnisse auffallen und behoben werden müssen. Wäre dem Gesetzgeber eine Beobachtung und Nachbesserung möglich gewesen, so führt die Fehlerhaftigkeit zur Verfa'isungswidrigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat somit zunächst zu prüfen, ob eine Beobachtung der tatsächlichen Entwicklung und der Wirkungen des Gesetzes dessen Fehlerhaftigkeit hällen erbringen können. Daß das Bundesverfassungsgericht anläßlich der Normenkontrolle die Fehlerhaftigkeit nach eigener Tatsachenerhebung, Wirkungskontrolle und Prognose ermittelt hat, bietet keinen sicheren Beleg für ein Versagen des Gesetzgebers. Die Wirkungskontrolle und Fortschreibung der Prognose, die vorrangig der Bundesregierung mit ihrer Ministerialverwaltung obliegen 154 ,kann nicht durch ein ständiges Beobachten des jeweiligen Regelungsbereiches vollzogen werden. Vielmehr werden die rele154 Siehe oben F II 5. S. 146.

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G. Die Normenkontrolle

vanten Daten über einen gewissen Zeitraum gesammclt, um sie dann auszuwerten. Die Länge der Prüfungsintcrvalle hat sich dabei nach der Eigcnart des Prüfungsgegenstandes zu richtcn. War die zuletzt erstellte Prognose wegen fehlenden Tatsachenmaterials oder mangels rationalcr Mcthoden mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet, so ist früher nachzuprüfen, als wenn mit sicherer Methode auf vollständiger Datengrundlage vorgegangen werden konnte. Dies gilt auch dann, wenn das Verhältnis dcr hcteiligten Rechtsgiiter und Interessen ergeben hat, daß eine geringe Wahrscheinlichkeit oder eher unsichere Prognose ausreichte, um eingreifen zu dürfen. Auch wenn das becinträchtigte Rechtsgut das Risiko eines Fehlgriffs hinzunehmen hattc, so muß doch korrigierend eingeschritten werden, wenn sich herausstellt, daß sich dieses Risiko der übermäßigen Inanspruchnahme tatsächlich realisiert hat. Auch die Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter beeinflußt die Länge des Prüfungsintcrvalls. Sind hochwertige Rechtsgüter beteiligt, so ist schon nach kurzer Zeit und danach in kurzen Intervallen zu prüfen, ob ihre Beeinträchtigung noch erforderlich ist oder ob die eingesetzten Mittel den gewünschten oder gebotenen Schutz (noch) gewährleisten. Schließlich ist auch die Art des überprüften Regelungsmittels zu berücksichtigen. Ist ein neues Regelungsinstrument eingesetzt worden, so sind Anfangsschwierigkeiten zu erwarten. Eine Überprüfung nach kurzer Zeit der Wirksamkeit kann über die Eignung zur Zweckerreichung noch keine verläßliche Aussage treffen155 Hat der Gesetzgeber die gebotene Beobachtung und Prüfung der Regelungswirkungen unterlassen, so führt die Fehlerhaftigkeit zur Verfassungswidrigkeit. Hat er sich ausreichend um die Wirkungskontrolle bemüht und konnte die Fehlerhaftigkeit der Regelung dennoch nicht hemerken, so muß das Gesetz unbeanstandet bleiben. Der Fehler ist erst jetzt, in der Normenkontrolle ersichtlich geworden. Ihn sogleich zur Verfassungswidrigkeit führen zu lassen, hieße, einen Anspruch auf Korrektur eines trotz pflichtgemäßer Beobachtung unerkannten Fehlers auszusprechen. Einen solchen Anspruch kann es nicht geben, weil er sich auf Unmögliches richtet. Die erkannte Fehlerhaftigkeit eincr Regelung löst die Nachbesserungspflicht aus. War es dem Gesetzgeber möglich, dic Fehlerhaftigkeit zu beheben und hat er es dennoch unterlassen, so kann die Regelung keinen weiteren Bestand haben. Konnte eine Nachbesserung hingegen noch nicht erwartet werden, so darf sie nicht für verfassungswidrig erklärt werden, da dem Gesetzgeber so die Möglichkeit abgeschnitten würde, das Regelungssystem vollständig und funktionsfähig zu erhalten. Der Anspruch des becinträchtigten Bürgers kann sich nicht darauf richten, daß eine nicht zu bewerkstelligende Behebung der ungerechtfertigten Belastung vorgenommen wird. Die Nachbesserung kann der Er155 BVerfGE 16, 147, 183 (Werkfernverkehr).

IV. Die Verfahrenspflicht zum guten Gesetz

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kenntnis der Fehlerhaftigkeit nicht auf dem Fuße folgen. Es würde den Geboten der Änderungsnotwendigkeit und des vollständigen Gesetzes sogar widersprechen, auf einen erkannten Fehler allzu schnell zu reagieren. Die Änderungsgesetzgebung setzt mehr voraus, als das Bekanntscin des Fehlers: die Zwecksetzung ist darauf zu überprüfen, ob sie dem heutigen gestalterischen Wollen noch entspricht; die relevanten Tatsachen sind so vollständig zu ermitteln, daß eine neue Prognose erstellt werden kann; die beteiligten Rechtsgüter und Interessen sind zu gewichten, um durch Abwägung zu ermitteln, ob an einer gesetzlichen RegehlUg festgehalten werden darf und weIche Regelungsmittel nun einzusetzen sind. Dem Interesse an einer verfassungsgemäßen, beständigen Regelung ist am besten gedient, wenn die gebotene Nachbesserung zum Anlaß genommen wird, zumindest auch den engeren Umkreis der Norm den Erkenntnissen der Zeit anzupassen. Dazu muß dem Gesetzgeber Gelegenheit gewährt werden, sich Gewißheit über die Entwicklung und über die Richtigkeit seiner Prognose zu verschaffen 156 . Auch ist die Inanspruchnahme der an der Gesetzgebung beteiligten Organe zu berücksichtigen. Die Wertigkeit des durch den Fehler beeinträchtigten Rechtsgutes wird nicht stets so hoch zu beurteilen sein, daß die Änderung mit erster Dringlichkeit behandelt werden muß und alle anderen Vorhaben demgegenüber zurückstehen müssen. Die Frist, innerhalb derer eine Nachbesserung zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes verlangt werden kann, ist somit auch abhängig von der Belastung der beteiligten Organe, von der Kompliziertheit der zu regelnden Materie und dem davon abhängigen Aufwand, der zu betreiben ist, um eine verläßliche Regelung erlassen zu können157 Der erkannte Fehler ist somit immer dann vermeidbar und muß deshalb zur Verfassungswidrigkeit führen, wenn die letzte gebotene Verfahrenshandlung zu seiner Behebung hätte führen können. Vor der ersten gebotenen Wirkungskontrolle sind diese relevanten und zu überprüfenden Verfahrenshandlungen · · · des Gesetzgeb ungsver f ah rens158 . dleJeDlgen

IV. Die Verfahrenspßicht zum guten Gesetz Das Unterlassen oder unsorgfältige Durchführen von Verfahrenshandlungen, die dem Hervorbringen eines guten Gesetzes dienen, erweist sich somit als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung. Entspricht der Regelungsillhalt nicht den verfas156 BVerfG NJW 1981, 2107. 2109 (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe). 157 BVerfGE 25, 167, 186 (Nichtehelichenrecht). 158 Entgegen Stettner, DVBI 1982, 1123. 1125. der stets auf das Gesetzgebungsverfahren abstellt.

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G. Die Normenkontrolle

sungsrechtlichen Anforderungen, so ist die Regelung dann und nur dann verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber durch ein mangelhaftes Verfahren das ihm Mögliche ungenutzt gelassen hat, um ein inhaltlich einwandfreies Gesetz zu erlassen. Hätte auch die zeitlich letzte gebotene Verfahrenshandlung keine fehlerfreie Regelung hervorbringen können, so ist das Gesetz verfassungsgemäß. Die Beurteilung führt in diesem Falle also erst dann zur Verfassungswidrigkeit, wenn der Gesetzgeber die nun gebotene Nachbesserung innerhalb der ihm zu gewährenden Frist unterläßt159 . Der Gesetzgeber ist jedoch verpflichtet, eine Rechtsordnung zu schaffen und zu erhalten, die vor der Verfassung Bestand haben kann. Er darf keine Regelungen erlassen oder bestehen lassen, von deren verfassungswidrig belastender Wirkung erst das Bundesverfassungsgericht den beeinträchtigten Normunterworfenen befreit. Die Gesetzgebung wird durch Art. 20 III GG selbst auf die Verfassung verpflichtet und darf deshalb mit den durch die Verfassung geschützten Rechtsgütern keine Experimente betreiben in der Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht werde notfalls eingreifen. Der Gesetzgeber hat also die Gesetze vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren. Er ist deshalb zum Einhalten eines sorgfältigen Verfahrens vor und nach dem Erlaß des Gesetzes verpflichtet, um den Verfahrensmangel als Bedingung der Verfassungswidrigkeit auszuschließen. Der Gesetzgeber schuldet zwar gar nichts anderes als das Gesetzl60 . Da er aber ein verfassungsgemäßes Gesetz schuldet 161 , schuldet er auch ein sorgfältiges Verfahren. Eigenständige Bedeutung162 haben die Verfahrenspflichten allerdings nicht. Ihre Beachtung oder Mißachtung wird nur dann für das Ergebnis der Normenkontrolle relevant, wenn ein Inhaltsfehler auf Grund der Ergebniskontrolle bereits festgestellt ist. Das inhaltlich einwandfreie Gesetz verletzt niemandes Rechte. Wie es entstanden ist, bleibt deshalb ohne Belang. In die Erörterungen zu den Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Normen 163 soll hier nicht eingegriffen werden. Deutlich geworden ist jedoch jedefalls eines: die Annahme der a-tllllc-Nichtigkeit, nach der die verfassungswidrige Norm nie gültig gewesen sein soll, ist sicherlich nicht haltbar. Sie widerspricht schon der inzwischen verbreiteten Auffassung, ein Gesetz könne verfassungswidrig werden, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse wandeln, so daß die Regelung ihnen nicht mehr gerecht wird. Hinzuzusetzen 159 Pestalozza NJW 1981. 2081. 2085 f.: Seetzen NJW 1975.429.434. 160 Schlaich VVDStRL 39.99.109: Schlaich Rdnr. 506. 161 Schlaich Rdnr. 506. 162 Schwerdtfeger S. 173. 174 ff.

163 V gl. vor allem Ipsen. passim. insbesondere S. 72 ff.

IV. Die Verfahrensptlicht zum guten Gesetz

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ist nun, daß das Gesetz auch dann nur dadurch verfassungswidrig werden kann, daß der Gesetzgeber die gebotene Nachbesserung unterläßt. Beide Konstellationen stehen jedoch der Möglichkeit nicht entgegen, daß das Gesetz zu einem früheren Zeitpunkt inhaltlich allen Anforderungen entsprach und somit verfassungsgemäß war. Das Grundgesetz läßt eine ex-tulIe-Nichtigkeit alienfans seit dem Zeitpunkt zu, zu dem die Voraussetzungen der Verfassungswidrigkeit festgestellt werden konnten. Schließlich sollen die nun erkannten Verfahrenspflichten gegen zweierlei Bedenken in Schutz genommen werden, die ihnen angeblich im Wege stehen. Zum einen wird den auf Sorgfalt und Rationalität gerichteten Verfahrenspflichten entgegengehalten, die parlamentarische Entscheidung werde durch politische Akzeptanz gerechtfertigt, nicht durch sachliche Richtigkeit; die demokratische Mehrheitsentscheidung bedeute deshalb die Herrschaft des Kompromißfähigen, nicht des sachlich Richtigen l64 . Es wird sogar befürchtet, mit der Verpflichtung des Gesetzgebers zur Sor~falt scheitere das beschwerliche Wagnis der parlamentarischen Demokratie l6 .. Das freie Parlament, die offene und widersprüchliche Diskussion, die oft enthüllende Transfarenz, die Rückund Anbindung an die Öffentlichkeit würden abgeschafft 16 . Dem ist entgegenzuhalten, daß all dies einzusetzen ist, um unter mehreren verfassungsrechtlich zulässigen Lösungen eine auszuwählen, nicht jedoch, um die Grenzen des Erlaubten zu überschreiten 167 . Von den möglichen materiell verfassungsgemäßen Lösungsvarianten ist diejenige, die gelten soll, im Luhmannschen Sinne durch Verfahren zu legitimieren. Über die materielle Verfassungswidrigkeit, zu der das Mißachten von Sorgfaltspflichten eine Bedingung setzt, hilft jedoch auch das beste demokratische Verfahren nicht hinweg. Sorgfaltspflichten und demokratisch-parlamentarische Entscheidungsfindung stehen sich nicht als Gegensätze gegenüber. Die Bereiche der Regelungsgestaltung, die als unvertretbare, wägende, wertende und gewichtende Entscheidungen einer Überprüfung an objektiven Richtigkeitsmaßstäben nicht zugänglich sind, sind von der Kontrolle auszunehmen oder doch nur auf das Überschreiten äußerster Grenzen verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu überprüfen. Zum anderen wird eingewandt, das Grundgesetz lasse Sorgfalts- und Verfahrenspflichten nicht zu, weil es die betreffenden Organe nicht mit den nötigen Mitteln ausstatte, um sorgfältig zu verfahren. Die Verfassung habe das Parla164 GIlSY ZRP 1985, 291, 298; Karpen, GgebL, S. 43: Meessen NJW 1979. 833, 836; Menger VerwArch 66 (1975).397, 40l. 165 Schlaich VVDStRL 39.99.111. 166 Schlaich VVDStRL 39.99. 111; Schlaich Rdnr. 506. 167 Breller Der Staat 16 (1977). 21, 23.

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G. Die Normenkontrolle

ment nicht mit eigenen Mitteln zur Erhebung und Verarbeitung von Informationen ausgestattet; dazu sei allein die sachlich spezialisierte, orftanisatorisch und personell differenzierte Ministerialverwaltung in der Lage 68. Für die Bundesregierung sieht das Grundgesetz allerdings auch keine besondere Ausstattung vor. Die Haushaltshoheit des Parlaments legt eher den Schluß nahe, daß es selbst entscheidet, ob die sachlichen und personellen Mittel zur Vorbereitung der Gesetzesgestaltung und Wirkungskontrolle bei ihm selbst oder bei der Ministerialverwaltung angesiedelt werden sollen. Eincm sorgfältigen Verfahren soll auch entgegenstchen, daß das Grundgcsetz keine rechtlichen Voraussetzungen für Sachvcrhaltsfcststellungen, Heran7jehung unabhängi);en Sachverstandes und andere Elemente eines Erkenntnisverfahrens bereithalttf 69 . Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß ein solches Vorgehen verboten ist. Das Fehlen von Regelungen kann auch bedeutcn, daß das Parlament nicht an ein bestimmtes Vorgehen gebunden ist. Auch verlange das Grundgesetz denjenigen, die zur Gesetzgebung berufen seien, keine spezielle Qualifikation ab. Art. 38 11 GG setze den Erwerb spezieller Kenntnisse nicht voraus. Dann könne auch nicht verlangt werden, daß sich ihre Entscheidungen am Einsatz von Sachkenntnis zu orientieren hätten 170. Dem ist zu entgegnen, daß sich in den Parlamenten durch die Beschäftigung mit den anstehenden Angelegenheiten sehr wohl Spezialwissen bildet. Das Parlament und die Fraktionen sind durch die Ausschüsse und Arbeitsgruppen differenziert organisiert. Die ebenfalls am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Ministerialverwaltung ist von Verfassungs wegen (Art. 33 11 GG) sachverständig zu besetzen. Dem Grundgesetz kann somit eher entnommen werden, daß jeder seine Aufgaben so gut wahrnehmen soll, wie es ihm möglich ist. Ob die staatlichen Aufgaben effizient und richtig wahrgenommen werden, kann dem Grundgesetz nicht gleichgültig sein. Dann nähme es auch hin, daß der Staat zusammenbricht. Das Grundgesetz setzt nicht voraus, das Parlament sei das am wenigsten informierte und sachkundige Staatsorgan171, sondern verlangt von den Abgeordneten eher, sich die notwendigen Kenntnisse anzueignen, damit ein gutes Gesetz entstehen kann, oder es vertraut darauf, daß dies bei der Beschäftigung mit der Gesetzgebung schon geschehen werde. Nicht hinnehmbar ist auch die Auffassung, eine sachlich-optimale Problemlösung könne nicht erwartet werden, wcil dcmokratische Herrschaft die Herrschaft von Personen sei, die über keine spe7jfischen Sachkenntnisse verfügten, organisiert in einem Organ, das keine Sachkenntnisse vermittele172 . Demokratie steht einer sachkundigcn Entscheidung nicht entgegen und verbietet die Pflicht zur Sorgfalt schon gar nicht. Viclmehr fördert sie 168 GIISY 169 GIISY

ZRP 1985,291,297. ZRP 1985, 291, 298.

ZRP 1985, 291, 297: Karpen, GgebL, S. 43. 171 So aber GIISY ZRP 1985. 291. 298. 172 GIISY ZRP 1985, 291, 298. 170 GIISY

IV. Die Verfahrenspflicht zum guten Gesetz

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durch den allgemeinen Zugang zu den öffentlichen Aufgaben die Aneignung von Sachkunde. Demokratie erlaubt die Herrschaft der Dummen. verlangt sie aber nicht.

Zusammenfassung und These Es besteht eine Pflicht zum guten Gesetz. Diese Pflicht richtet sich zunächst auf inhaltliche Anforderungen. Aus diesen inhaltlichen Anforderungen sind Anforderungen an ein sorgfältiges Verfahren zu entwickeln, das die beste Gewähr bietet, ein gutes Gesetz hervorzubringen. Das Mißachten der Anforderungen an ein sorgfältiges Verfahren ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes. Der Gesetzgeber ist deshalb verpflichtet, diese Sorgfaltsanforderungen zu beachten, um das Gesetz vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren.

Anhang I Jahrgafllg BGBI r 8 1949 a ) 1950 a ) 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 d ) 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979

Zahl der verkUndeten Gesetze b) 5 88 130 104 140 54 79 89 107 34 56 75 103 23 61 64 132 32 64 85 134 68 102 68 54 99 79 107 35 50 58

Seiten )im BGBI r C 38 825 1010 856 1602 532 896 1082 1910 992 836 1092 2152 776 1044 1112 2176 776 1378 1478 2436 1880 2172 2558 2000 3744 3186 3884 3188 2100 2392

1. WP

2. WP 3. WP 4. WP

5. WP 6. WP 7. WP 8. WP

:) 1949 und 1950 noch ohne Unterteilung in Band I und H. ) Ohne Neubekanntmachungen geänderter Gesetze und ohne BVerfG-Entscheidungen mit Gesetzeskraft (§ 31 II BVerfGG). c) Ohne Anlagebände und Beilagen. d) Erstmals Veröffentlichungen den Bundeshaushalt betreffend im Teil 1.

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Jahrgang BGBI I 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994

Anhang I

Zahl der verkUndeten Gesetze

Seiten im BGBI I

81 34 37 27 51 80 87 37 45 71 121 49 86 85 132

2356 1728 2100 1684 1732 2560 2764 2868 2660 2564 3016 2404 2500 2500 4000

Suume 3402 Durchschnitt 74

89539 1947

9. WP

10. WP 11. WP

12. WP

s

O