Paideia bei Aristoteles: Erziehung als Motivation zum Guten 9783495996614, 9783495492697

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Paideia bei Aristoteles: Erziehung als Motivation zum Guten
 9783495996614, 9783495492697

Table of contents :
Cover
1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Der Textbefund
1.2.1 Paideia als Thema der praktischen Philosophie
1.2.2 Paideia im Kontext des Idealstaatsentwurfs der Politik und erste Definition
1.2.3 Paideia im Kontext der Ethik
1.2.4 Sinn und Möglichkeit der Rekonstruktion eines Curriculums
1.3 Definition der paideia durch ihr Ziel
1.4 Kurzer Überblick über den Forschungsstand
1.5 Aufbau und Hauptergebnisse der vorliegenden Untersuchung
2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)
2.1 Wesentliche Elemente der aristotelischen physis-Konzeption
2.2 Das Artprinzip und die Teleologie in der Natur
2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia
2.3.1 Paideia als Mittel zur Vollendung
2.3.2 Prozessualität, Veränderung, erste und zweite Entelechie
2.3.3 Die spezifisch menschliche Genese und die scala naturae
2.4 Die Opposition von zeitlicher und ontologischer Priorität
2.5 Gründe für das Nicht-Erreichen der vollendeten Natur (Privation)
2.6 Vernunft – von Natur aus?
2.7 Die inhaltliche Nähe von Bestform und Ziel
2.8 Zusammenfassung
3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos) und seine Rolle im Tugenderwerbsprozess: Habituation
3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?
3.1.1 Ausgangspunkt: Die Einteilung der Seele und die dichotomische Struktur der Tugend
3.1.2 Der Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten
3.1.3 Lernen durch Handeln und die technē-Analogie
3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur
3.2.1 Die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Gewohnheit
3.2.2 Der bleibende Unterschied
3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur
3.3.1 Die normative Aufladung des Naturbegriffs bei Aristoteles
3.3.2 Das Verhältnis von erster und zweiter Natur beim Erreichen der Tugend
3.3.3 Die Kontinuität in der menschlichen Entwicklung
3.3.4 Abschließende Bemerkungen zum Begriff der natürlichen Normativität
3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses: Zwei Lösungen
3.4.1 Die kinetische Lösung
3.4.2 Die ontologische Lösung
3.5 Das Problem des Anfangs
3.6 Das Problem der Qualitätssteigerung
3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess
4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion
4.1 Die Doppelbedeutung von Prinzipien
4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum
4.3 Das Lernziel der Habituation
4.4 Die kognitive Kraft der Gewöhnung und die Bedeutung der interpersonalen Beziehung zwischen Lernendem und erziehender Bezugsperson
4.5 Der Erwerb von Zielen
4.6 Habituation und Instruktion - eine Phasentheorie?
5. Das Kind
5.1 Textgrundlage
5.2 Das Kind – der vorvernünftige Mensch
5.3 Kindheit als Grenzbegriff und die Abschnitte der Entwicklung
5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive (ethische und politische Schriften)
5.4.1 Der unvollkommene rationale Teil der Seele
5.4.2 Die Unfähigkeit zu entscheiden und zu handeln
5.4.3 Die unangemessene Lustempfindung: fehlende Urteilskraft
5.4.4 Die Unfähigkeit ein gutes und gelingendes Leben zu führen: Warum das Kindesalter überwunden werden muss
5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht
5.5.1 Das Fließen bzw. die Bewegung in der Seele des Kindes
5.5.2 Zwergenhaftigkeit
5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive: Die Teilhabe des Kindes am logos
5.6.1 Die menschliche Logosfähigkeit
5.6.2 Passive Teilhabe an der Vernunft der Erwachsenen: Die Empfänglichkeit des Kindes für den logos
5.6.3 Auf-den-logos-hören-Können: Der körperliche Aspekt
5.6.4 Auf-den-logos-hören-Können: Der seelische Aspekt
6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind
6.1 Das Verhältnis von Eltern und Kindern
6.2 Wer erzieht?
7. Moralische Motivation
7.1 Metaethische Vorüberlegungen zur moralischen Motivation bei Aristoteles: Aristoteles zwischen Platon und Hume
7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon
7.2.1 Akrasia in den Memorabilien
7.2.2 Niemand tut freiwillig etwas Schlechtes – motivationaler Monismus im Protagoras
7.2.2.1 Synchronie und Diachronie
7.2.3 Synchrone Willensschwäche im mittleren Platon: Der Fall Leontios
7.2.4 Akrasia beim späten Platon
7.2.5 Die Überwindung der akrasia: Kur und Heilung bei Sokrates und dem frühen Platon
7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position und Aristoteles’ alternative Lösungsvorschläge
7.3.1 Definition und textlicher Befund
7.3.2 Besondere Aspekte der Analyse akratischen Handelns in EN VII
7.3.3 Das revisionistische Verständnis von akrasia
7.3.3.1 Akrasia als Konflikt zwischen Seelenteilen
7.3.3.2 Ausdifferenzierung des Wissensbegriffs
7.3.3.3 Die Verbindung von Klugheit und Charakter
7.3.3.4 Beherrschtheit und Mäßigung
7.3.4 Freiwilligkeit und die Verantwortung für den eigenen Werdegang
7.3.5 Zwischenfazit: akrasia und moralische Motivation bei Aristoteles
7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens
7.4.1 Die Definition des Begriffs des Strebens (orexis)
7.4.2 Die Arten der Strebung
7.4.3 Die normative Bewertung von Strebungen
7.4.4 Die motivationale Rolle des vernünftigen Strebens
7.4.5 Die Möglichkeit des Strebens nach dem Guten aufgrund von Einsicht – Aristoteles’ (schwacher) Internalismus
7.4.6 Flexibilität und Innovation: Die Möglichkeit der Reflexion von Zielen
7.4.7 Der nicht-beliebige Ausgang der Erziehung
7.4.8 Die Verknüpfung von rationalen Gehalten mit Lust/Leid-Empfindungen
7.4.8.1 Das hedonistische Kalkül
7.4.8.2 Affektkontrolle
7.5 Abschließende metaethische Einordnung
8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation
8.1 Die Ausrichtung des Strebens des Kindes auf das Gute
8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen
8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung
8.4 Die Ausbildung einer mittleren Haltung zu den eigenen Emotionen
8.5 Lernen durch Nachahmung (mimēsis)
8.6 Lernen am Vorbild
8.7 Scham als Tugend des Lernenden
8.8 Die Harmonie der Seelenteile
9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung
10. Literaturverzeichnis
Primärtexte
Aristoteles
Platon
Hilfsmittel und Einführungen
Sekundärliteratur
11. Glossar
Register

Citation preview

Laura Summa

Paideia bei Aristoteles Erziehung als Motivation zum Guten

ALBER SYMPOSION

https://doi.org/10.5771/9783495996614

.

https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Symposion Herausgegeben von Christoph Halbig Jörn Müller Band 141

https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Laura Summa

Paideia bei Aristoteles Erziehung als Motivation zum Guten

ALBER SYMPOSION https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2019 u.d.T.: Paideia bei Aristoteles – Motivation zum Guten ISBN 978-3-495-49269-7 (Print) ISBN 978-3-495-99661-4 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Vorwort

Dieses Buch präsentiert die grundständig überarbeitete Fassung mei­ ner Dissertation, die ich im Herbst 2018 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität eingereicht und im Frühjahr 2019 verteidigt habe. Mein großer Dank gilt Christoph Horn und Jörn Müller, die mich in meiner Promotionszeit engagiert, interessiert und professionell betreut haben. Durch die tiefgehende Diskussion einzelner Kapitel dieser Arbeit, sowohl im Forschungskolloquium in Bonn als auch im Einzelgespräch, haben meine Ideen Form angenommen, sodass ich sie am Ende in diesen Guss gießen konnte. Ein Großteil dieses Buches entstand im Cusanushaus in Mehlem, in das ich mich oft zum Schreiben zurückgezogen habe. Mein herzli­ cher Dank gilt dem Cusanuswerk, durch dessen ideelle und finanzielle Förderung dieses Buch entstehen durfte. Mein großer Dank gilt außerdem Klaus Corcilius, der mich im Herbst 2014 in Berkeley als visiting scholar aufgenommen hat. Die Gespräche mit ihm sowie die Diskussionskultur der Ancient Philoso­ phy Reading Group und anderen akademischen Veranstaltungen an der University of California haben mich wachsen lassen und meinen Umgang mit antiken philosophischen Texten nachhaltig geprägt. Ich bin außerdem sehr dankbar für das Feedback derjenigen, die einzelne Kapitel im Detail gelesen und mir Rückmeldung dazu gegeben haben. Das waren neben meinen Betreuern und Klaus Cor­ cilius, Dorothea Frede und Martha Nussbaum, Christoph Halbig sowie Andreas Lammer und Anna Schriefl, der ich auch für ihre konstante Ermutigung an verschiedenen Weggabelungen danken möchte. Des Weiteren hat meine akademische Entwicklung sehr von den Workshops der ›Women in Ancient Philosophy‹ profitiert, hier möchte ich insbesondere Ana Laura Edelhoff und Bettina Bohle für ihre inspirierende Kollegialität danken. Anregende Gespräche, in denen ich wertvolle Impulse bekom­ men habe, führte ich mit meinen geschätzten Kolleg:innen Eduardo

5 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Vorwort

Charpenel, Michael Arsenault, Aurélie Halsband und Roman Wag­ ner. Für die sprachliche und inhaltliche Verbesserung des Textes gilt mein großer Dank Johanna Werner, die die Arbeit sorgfältig durchge­ sehen und mich bei der Erstellung des Sachregisters unterstützt hat. Nun muss ich der Person danken, ohne die dieses Buch niemals fertig geworden wäre: meinem Ehemann Andreas Longva. Nicht nur hat er mich, seit wir uns in Berkeley kennen gelernt haben, durchgängig in der Auffassung unterstützt, dass meine Interpreta­ tion der aristotelischen paideia am Ende ein lesenswertes Buch sein wird. Er hat mir auch in entscheidenden Momenten den Rücken frei gehalten, damit dieses Buch in dieser Fassung überhaupt zustande kommen konnte. Ich danke außerdem der Familie Widmayer, die mich in Studium und Promotionszeit großzügig unterstützt und es mir so ermöglicht hat, mutige Entscheidungen für die Forschung zu treffen. Zuletzt aber auch zuerst gilt mein Dank meiner Mutter Eva Summa († 2019), die immer an mich geglaubt hat, die immer etwas über Aristoteles lernen wollte, und die mich schon immer als Philoso­ phin betrachtet hat. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Nicht zuletzt möchte ich dem Verlag Karl Alber und den Heraus­ gebern der Reihe Symposion für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe ›Symposion‹ meinen Dank zum Ausdruck bringen. Besonders Jörn Müller hat mir nach meiner Verteidigung durch eine Reihe sehr hilfreicher Anmerkungen und Hinweise für die Überarbeitung wichtige Weichenstellungen für die letztliche Gestaltung des Buches gegeben. Er wurde bis heute nicht müde, meine Schritte mit Aristote­ les als mein akademischer Mentor zu begleiten. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Bonn, Januar 2023

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1.1 Problemstellung

13

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2 Der Textbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Paideia als Thema der praktischen Philosophie . 1.2.2 Paideia im Kontext des Idealstaatsentwurfs der Politik und erste Definition . . . . . . . . . . . 1.2.3 Paideia im Kontext der Ethik . . . . . . . . . . 1.2.4 Sinn und Möglichkeit der Rekonstruktion eines Curriculums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Definition der paideia durch ihr Ziel

. .

21 21

. .

24 31

.

34

. . . . . . . . . .

35

1.4 Kurzer Überblick über den Forschungsstand

. . . . . .

39

1.5 Aufbau und Hauptergebnisse der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

2.1 Wesentliche Elemente der aristotelischen physisKonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

2.2 Das Artprinzip und die Teleologie in der Natur . . . . .

48

2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia . . . 2.3.1 Paideia als Mittel zur Vollendung . . . . . . . 2.3.2 Prozessualität, Veränderung, erste und zweite Entelechie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die spezifisch menschliche Genese und die scala naturae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

52 52

.

54

.

57

2.4 Die Opposition von zeitlicher und ontologischer Priorität

61

2.5 Gründe für das Nicht-Erreichen der vollendeten Natur (Privation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

7 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Inhaltsverzeichnis

2.6 Vernunft – von Natur aus? . . . . . . . . . . . . . . .

65

2.7 Die inhaltliche Nähe von Bestform und Ziel

. . . . . .

69

2.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos) und seine Rolle im Tugenderwerbsprozess: Habituation . . . . . .

73

3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)? 3.1.1 Ausgangspunkt: Die Einteilung der Seele und die dichotomische Struktur der Tugend . . . . . . . 3.1.2 Der Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Lernen durch Handeln und die technē-Analogie .

74 74 77 82

3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur 3.2.1 Die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der bleibende Unterschied . . . . . . . . . . . .

85

3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur . . . . . 3.3.1 Die normative Aufladung des Naturbegriffs bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Das Verhältnis von erster und zweiter Natur beim Erreichen der Tugend . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die Kontinuität in der menschlichen Entwicklung 3.3.4 Abschließende Bemerkungen zum Begriff der natürlichen Normativität . . . . . . . . . . . . .

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86 94

98 100 101 103

3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses: Zwei Lösungen . . . . . . . . 3.4.1 Die kinetische Lösung . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Die ontologische Lösung . . . . . . . . . . . . .

105 107 110

3.5 Das Problem des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . .

113

3.6 Das Problem der Qualitätssteigerung . . . . . . . . . .

114

3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess . . . . . . . . .

116

4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

4.1 Die Doppelbedeutung von Prinzipien . . . . . . . . . .

124

8 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Inhaltsverzeichnis

4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum . . . . . . .

126

4.3 Das Lernziel der Habituation . . . . . . . . . . . . . .

132

4.4 Die kognitive Kraft der Gewöhnung und die Bedeutung der interpersonalen Beziehung zwischen Lernendem und erziehender Bezugsperson . . . . . . . . . . . . . . .

134

4.5 Der Erwerb von Zielen . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

4.6 Habituation und Instruktion - eine Phasentheorie? . . .

143

5. Das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

5.1 Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

5.2 Das Kind – der vorvernünftige Mensch . . . . . . . . .

149

5.3 Kindheit als Grenzbegriff und die Abschnitte der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive (ethische und politische Schriften) . . . . . . . . . . . 5.4.1 Der unvollkommene rationale Teil der Seele . . . 5.4.2 Die Unfähigkeit zu entscheiden und zu handeln 5.4.3 Die unangemessene Lustempfindung: fehlende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Die Unfähigkeit ein gutes und gelingendes Leben zu führen: Warum das Kindesalter überwunden werden muss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht . 5.5.1 Das Fließen bzw. die Bewegung in der Seele des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Zwergenhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive: Die Teilhabe des Kindes am logos . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Die menschliche Logosfähigkeit . . . . . . . . . 5.6.2 Passive Teilhabe an der Vernunft der Erwachsenen: Die Empfänglichkeit des Kindes für den logos . . 5.6.3 Auf-den-logos-hören-Können: Der körperliche Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4 Auf-den-logos-hören-Können: Der seelische Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153 153 155 156 158 161 161 162 166 166 169 171 172

9 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Inhaltsverzeichnis

6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

6.1 Das Verhältnis von Eltern und Kindern . . . . . . . . .

179

6.2 Wer erzieht?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

7. Moralische Motivation . . . . . . . . . . . . . . . .

187

7.1 Metaethische Vorüberlegungen zur moralischen Motivation bei Aristoteles: Aristoteles zwischen Platon und Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Akrasia in den Memorabilien . . . . . . . . . . . 7.2.2 Niemand tut freiwillig etwas Schlechtes – motivationaler Monismus im Protagoras . . . . . 7.2.2.1 Synchronie und Diachronie . . . . . . . 7.2.3 Synchrone Willensschwäche im mittleren Platon: Der Fall Leontios . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Akrasia beim späten Platon . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Die Überwindung der akrasia: Kur und Heilung bei Sokrates und dem frühen Platon . . . . . . . . . 7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position und Aristoteles’ alternative Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Definition und textlicher Befund . . . . . . . . . 7.3.2 Besondere Aspekte der Analyse akratischen Handelns in EN VII . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Das revisionistische Verständnis von akrasia . . . 7.3.3.1 Akrasia als Konflikt zwischen Seelenteilen 7.3.3.2 Ausdifferenzierung des Wissensbegriffs 7.3.3.3 Die Verbindung von Klugheit und Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3.4 Beherrschtheit und Mäßigung . . . . . . 7.3.4 Freiwilligkeit und die Verantwortung für den eigenen Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Zwischenfazit: akrasia und moralische Motivation bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

191 192 194 195 198 200 202

203 204 206 210 211 215 217 219 222 228

Inhaltsverzeichnis

7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Die Definition des Begriffs des Strebens (orexis) 7.4.2 Die Arten der Strebung . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Die normative Bewertung von Strebungen . . . . 7.4.4 Die motivationale Rolle des vernünftigen Strebens 7.4.5 Die Möglichkeit des Strebens nach dem Guten aufgrund von Einsicht – Aristoteles’ (schwacher) Internalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.6 Flexibilität und Innovation: Die Möglichkeit der Reflexion von Zielen . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.7 Der nicht-beliebige Ausgang der Erziehung . . . 7.4.8 Die Verknüpfung von rationalen Gehalten mit Lust/Leid-Empfindungen . . . . . . . . . . . . 7.4.8.1 Das hedonistische Kalkül . . . . . . . . 7.4.8.2 Affektkontrolle . . . . . . . . . . . . .

231 232 234 235 235 236 240 243 243 244 246

7.5 Abschließende metaethische Einordnung . . . . . . . .

249

8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation . . . . . . . . .

253

8.1 Die Ausrichtung des Strebens des Kindes auf das Gute

253

8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256

8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung . . . . .

262

8.4 Die Ausbildung einer mittleren Haltung zu den eigenen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

8.5 Lernen durch Nachahmung (mimēsis) . . . . . . . . . .

272

8.6 Lernen am Vorbild

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

8.7 Scham als Tugend des Lernenden . . . . . . . . . . . .

280

8.8 Die Harmonie der Seelenteile . . . . . . . . . . . . . .

281

9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

285

10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292 292

11 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Inhaltsverzeichnis

Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294

Hilfsmittel und Einführungen . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

11. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

1. Einleitung

1.1 Problemstellung Die Ethik des Aristoteles präsentiert sich als Tugendethik, d. h., dass nicht Handlungsregeln oder Maximen im Vordergrund stehen, son­ dern die individuelle Exzellenz des Individuums. Dieses Individuum ist derjenige Mensch, der die vollkommene Tugend (aretē) verwirk­ licht.1 Er zeichnet sich durch einen guten Charakter und eine sowohl moralisch als auch intellektuell ausgezeichnete Urteilskraft aus, die ihn in allen Situationen des praktischen Handelns zuverlässig und regelmäßig befähigt, die richtige Mitte (mesotēs) zu treffen. Er wird in der Nikomachischen Ethik als ›phronimos‹, ›spoudaios‹ oder ›epieikes‹ bezeichnet und kann als moralische Normfigur verstanden werden,2 da er selbst Regel und Maß (kanōn kai metron) in ethischen Fragen ist.3 Da diese Normfigur selbst den moralischen Standard der aristo­ telischen Ethik verkörpert,4 ist es eine legitime, wenn nicht grundle­ gende Frage, wie dieser phronimos entsteht, d. h. wie ein menschliches

Vgl. Cat. VIII, 10b7–8: »tō gar aretēn echein spoudaios legetai«. Während im Deut­ schen die Begriffe ›Tugend‹ und ›tugendhaft‹ von derselben Wortwurzel stammen, gibt es im »Griechischen kein Eigenschaftswort […], das so von Tugend, aretē, abge­ leitet wäre, wie das deutsche Adjektiv tugendhaft. Der Grieche drückt diesen Begriff durch spoudaios oder epieikēs aus.« Rolfes 1925, S. 85. Ähnlich sieht das auch Rudolf Schottlaender 1980, S. 385. Im Folgenden werde ich die Begriffe ›phronimos‹, ›spou­ daios‹ oder ›epieikes‹, wenn sie sich auf den Menschen beziehen, Ursula Wolf folgend, mit ›der Gute‹ oder ›der gute Mensch‹ übersetzen. Vgl. Wolf 2011. 2 Zur Einheit der Begriffe siehe Magdalena Hoffmanns schlüssige Argumentation. Hoffmann 2012, S. 62–64. 3 Vgl. Busche 2005, S. 535 sowie EN III 6, 1113a25–34. 4 Die These, dass der Gute (phronimos) den moralischen Standard der aristotelischen Ethik verkörpert, wurde von Magdalena Hoffmann auf überzeugende Weise nachge­ wiesen. Hoffmann, M. 2010, S. 174. Weitere Überlegungen inwiefern der gute Mensch als Norm gelten kann, finden sich bei Gavin Lawrence. Vgl. Lawrence 2001, S. 239. 1

13 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

1. Einleitung

Kind zum aristotelischen phronimos wird.5 Die vorliegende Studie macht es sich zum Ziel, diese Frage systematisch in den Blick zu neh­ men. Obwohl Aristoteles eine essentialistische Auffassung von der menschlichen Natur hat, ist es nicht die Natur (physis) allein, die den Menschen zum guten Menschen macht, sondern der gute Mensch entsteht erst durch Erziehung (paideia). Den Begriff der Erziehung verbindet Aristoteles mit drei Schlüsselbegriffen: Natur (physis), Gewöhnung (ethos) und Belehrung (logos).6 Im Zentrum der Untersuchung wird deshalb das Zusammenspiel von natürlichen Entwicklungsprozessen einerseits und gesteuerten Erwerbsprozessen andererseits stehen. Aristoteles versteht Erziehung (paideia) als zweiteiligen Pro­ zess, der aus Gewöhnung bzw. Habituation (ethos/ethismos) und Instruktion (didachē/didaskalia) besteht.7 Die Zweiteilung ist der Dichotomie der Seele geschuldet, die aus einem arationalen Teil und einem rationalen Teil besteht, denen unterschiedliche Bestformen (aretai) zugewiesen werden.8 Durch Habituation wird der arationale Seelenteil auf das Gute ausgerichtet und der Mensch erlangt die ethische Tugend (aretē ēthikē). Dieser Prozess wird von Aristoteles als Lernen durch Handeln (learning by doing) konzipiert.9 Im Gegensatz dazu erreicht der rationale Seelenteil seine Exzellenz, die dianoeti­ schen Tugenden bzw. Tugenden des Intellekts, darunter die Klugheit (phronēsis), durch Instruktion, d. h. durch vernünftige Belehrung (logos/didachē/didaskalia).10 Ziel und im Fall des Gelingens Resul­ tat dieser beiden unterschiedlichen Lernprozesse ist der gute, d. h. 5 Die genaue Erörterung der Entstehung des phronimos kann zudem neue Perspek­ tiven auf Aristoteles’ Ethik eröffnen. Vgl. Burnyeat 1980, S. 69. 6 Vgl. Pol. VII 13, 1332a38–b11. 7 Vgl. Pol. VII 13, 1332b10f.; EN X 10, 1179b20–31. Aristoteles vertritt die Auffas­ sung, dass ethische Tugend (aretē ēthikē) durch Gewöhnung (ethos/ethizein) entstehe. Dabei ist zum einen zu unterscheiden zwischen dem Prozess der Gewöhnung (in der anglophonen Literatur habituation) und dem Ergebnis des Gewöhnungsprozesses, der Gewohnheit (habit). Es ist zunächst wichtig zu verstehen, wie Aristoteles diese Begriffe gebraucht. Ich möchte anschaulich machen, dass Gewöhnung bei Aristoteles jeglichen Prozess des Erwerbs oder der Veränderung von natürlichen Dispositionen, und eine Gewohnheit eine feste, durch Gewöhnung erworbene (Verhaltens-)Disposi­ tion bezeichnet. Den Begriff der Habituation verwende ich speziell für den Erwerb einer tugendhaften Charakterdisposition. 8 Vgl. EN II 1, 1103a14–18. 9 Vgl. EN II 1, 1103a14–1103b25. 10 Vgl. EN II 1, 1103a14–18.

14 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

1.1 Problemstellung

tugendhafte Mensch, der sowohl die ethische Tugend als auch die phronēsis verwirklicht. Er ist in praktischen Kontexten in der Lage zu beurteilen, was das Gute ist, und verfügt über eine uneingeschränkte moralische Motivation, das Gute zu tun. In Bezug auf den Prozess der Erziehung hat sich ein Paradigma herausgebildet, das kritischer Untersuchung bedarf. Da Aristoteles die Besprechung von ethischer Tugend und intellektueller Tugend trennt, wird der Leser dazu verleitet, die Zweiteilung des Prozesses des Tugenderwerbs11 auch als zeitlich getrennt zu interpretieren: Erst wird der Mensch tugendhaft, indem er an die richtigen Verhaltenswei­ sen gewöhnt wird. Und später, wenn er vernünftig ist, kann er eben­ diese Verhaltensweisen reflektieren, verstehen und begründen. Die Dichotomie zwischen ethischem und intellektuellem Lernen wurde noch dadurch verschärft, dass moralische Habituation als eine Art Praxis verstanden wurde, die keinerlei Kognition involviere. Lernen durch Handeln wird dann verstanden als durch stupide Wiederholung von Bewegungen vollzogene Abrichtung oder Konditionierung, wel­ che keinerlei kognitives Verständnis vom Lernenden verlangt.12 Die strikte Unterscheidung zwischen einem als nicht rational und non-kognitiv angenommenen Prozess der Habituation und einem rein auf die Vernunft konzentrierten Prozess der intellektuel­ len Instruktion macht es jedoch schwierig, zu verstehen, wie ein Übergang zwischen diesen beiden Bereichen gewährleistet werden soll. Wenn wir einerseits die Zielkompetenz sehen, die am Ende des Erziehungsprozesses erreicht sein soll – eine umfassende Urteils­ kraft in praktischen Fragen (phronēsis) –, und andererseits den dort hinführenden Gewöhnungsprozess, den Aristoteles beschreibt, als

11 Die Trennung dieser Begriffe beeinflusst maßgeblich die Komposition der Niko­ machischen Ethik: Zu Beginn des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles seine Unterscheidung von ethischer und dianoetischer Tugend ein, die auf der Einteilung der Seele in Teile (oder Funktionen) beruht (vgl. EN II 1, 1103a14–18). In der Folge der Ausführungen geht es dann zunächst um den Erwerb der ethischen Tugend, ihre Definition als hexis und als Mitte zwischen Extremen, sowie konkrete Beispiele ethischer Tugend. Erst im sechsten Buch kommt Aristoteles wieder auf die dianoetische Tugend zu sprechen. 12 Nancy Sherman beschreibt, dass dies, als sie 1980 ihre Promotion begann, die vorherrschende Meinung gewesen sei. Vgl. Sherman 1989, Preface. In einem späteren Aufsatz zitiert sie exemplarisch in Vertretung dieser Interpretation Alexander Grant (1885, 482). Vgl. Sherman 1999b, S. 231. Ausnahmen stellen die Arbeiten Burnyeats (Burnyeat 1980) und Sorabjis (Sorabji 1980) dar. Vgl. Sherman 1989, Preface.

15 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

1. Einleitung

mechanisch auffassen,13 entsteht ein Paradox: Der Erziehungsprozess beginnt mit einer Habitualisierung, in der das Kind bestimmte Hand­ lungsmuster durch Einübung automatisiert. Durch Üben und Praxis wird es quasi auf das gute Handeln konditioniert, ohne jegliche Form von kognitivem Verständnis dessen. Am Ende des Erziehungs­ prozesses soll aber ein selbstständig urteilender und verantwortlich handelnder Erwachsener stehen, der sein eigenes Verhalten sowie seine Gründe reflektieren kann.14 Zwischen diesen beiden Stufen ist ein unerklärlicher Qualitätssprung zu erkennen: Wie wird aus einem konditionierten Kind ein selbstständiger und reflektierter Erwachsener?15 Zwischen der angestrebten Zielkompetenz und der Erziehungsphase der Gewöhnung besteht eine Kluft, die nach einer Erklärung verlangt. In der Forschung wird dieses Problem als das psychologische Paradox bezeichnet. Ist habituell geformte Vernunft psychologisch möglich?16 Die Ansätze, diesem Problem zu begegnen, bewegen sich zwi­ schen intellektualistischen und anti-intellektualistischen Strategien. Ein gutes Beispiel für eine eher intellektualistische Sichtweise auf den Habituationsprozess bieten die Arbeiten Nancy Shermans.17 Ihr Ziel ist es, die Rolle intentionaler Gehalte im Prozess der Habituation zu betonen und auch im ersten Teil des Erziehungsprozesses, der Habituation, Vernunftanteile nachzuweisen.18 Somit erscheint der Übergang zwischen dem Prozess der Habituation, in dem eine gewisse Kontextsensitivität ausgebildet wird, und der Zielkompetenz, der Urteilskraft, nicht mehr so abrupt. Eine eher anti-intellektualistische Strategie, wie sie zum Beispiel (der frühe) John McDowell anwendet, bemüht sich hingegen, die Eigenheit der Zielkompetenz abzuschwächen. Indem er phronēsis nur als eine Art Bekräftigung der bereits vorhandenen, durch Gewöhnung erlangten Handlungsgewohnheiten interpretiert, lässt er die Kluft

13 Sherman spricht von einer mechanischen Theorie der Habituation (›mechanical theory of habituation‹). Sherman 1999b, S. 232. 14 Dieses Problem gründet in der Frage der Interdependenz von charakterlichen und diaonetischen Tugenden innerhalb der Einheit der Person, die von Intellekt und Begehren bestimmt ist. 15 Vgl. Sherman 1999b, S. 232. 16 Kristjánson 2007, S. 32. 17 Vgl. Sherman 1989 und Sherman 1999b. 18 Vgl. Sherman 1999b.

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1.1 Problemstellung

zwischen Gewöhnungsphase und Zielkompetenz schwinden.19 Aller­ dings schmälert diese Position die allgemeine Auffassung vom voll­ kommenen spoudaios, der als voll verantwortlicher und eigenständig reflektierender Akteur seine moralische Existenz selbst bestimmt und damit sogar Richtschnur und Maß für andere ist. Eine realistische Rekonstruktion der von Aristoteles skizzierten Tugenderwerbsprozesse und eine fundierte Analyse der menschlichen Entwicklung wird m. E. das Paradox auflösen. Aristoteles formuliert einen Begriff des sukzessiven Vernünftig-werdens, der sich nicht in zwei strikt voneinander trennbare Phasen aufteilen lässt. Es ist also vielmehr seiner Methode und Vorgehensweise in der Nikoma­ chischen Ethik geschuldet, dass die Tugend des Charakters und des Intellekts getrennt voneinander behandelt werden.20 Der Erwerb der charakterlichen Tugend und der Erwerb der phronēsis geschehen aber nicht in strikt voneinander trennbaren Erziehungsphasen, sondern greifen ineinander. Um dies zu zeigen, werde ich das Konzept einer kontinuierli­ chen Entwicklung des menschlichen Kindes bei Aristoteles plausibel machen. Dies verlangt zu zeigen, wie ein sukzessiv zunehmendes Abstraktionsvermögen mit dem ethisch-moralischen Lernen einher­ geht und inwiefern sich beide gegenseitig bedingen. Natürlich ver­ langt die Änderung von emotionalen Dispositionen auch Erkennt­ nisse und Einsichten; diese müssen aber an die kognitive Entwicklung des Kindes angepasst sein und mit ihr ›mitwachsen‹. Um das zu verstehen, muss ein umfassenderer Blickwinkel auf Aristoteles‹ Auf­ fassung von menschlicher Entwicklung, menschlichem Verhalten und menschlicher Motivation eingenommen werden. Sowohl die Annahme eines Bruches in der menschlichen Entwicklung sowie eine Intellektualisierung des Habituationsprozesses oder eine Abschwä­ chung des aristotelischen Vernunftbegriffes werden dadurch obsolet. Ich werde in der vorliegenden Arbeit zeigen, dass die gerade skizzierte, sprunghafte Auffassung von paideia bei Aristoteles nicht die richtige Lesart ist, weil sie

Vgl. McDowell 1996, S. 27ff. »The ability to see actions as noble is already a perhaps primitive form of the prescriptive intellectual excellence, practical wisdom.« McDo­ well schwächt die Bedeutung der phronēsis vor allem dadurch ab, dass er die Bedeutung der natürlichen Tugend überschätzt. Vgl. Hoffmann, M. 2010, S. 176. 20 Diesen Punkt merkt auch Thornton Lockwood an. Vgl. Lockwood 2013, S. 20.

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1. Einleitung

(a) auf der Prämisse beruht, dass Aristoteles Kinder als die ara­ tionalen Objekte der Habituation begreife, die quasi wie der Pawlow‹sche Hund auf tugendhaftes Verhalten konditioniert werden könnten; (b) impliziert, dass Aristoteles davon ausgehe, dass die Vernunft zu einem bestimmten Zeitpunkt in der menschlichen Entwicklung hinzuträte, sich sozusagen sprunghaft einstelle; (c) und Aristoteles Habituation als Prozess konzipiere, der jegliche Vernunft ausschließe und eine Art stumpfe Wiederholung von Verhaltensmustern darstelle. Ich werde im Gegenteil zeigen, dass (a) für Aristoteles Kinder die Subjekte der Erziehung sind, deren mentale Fähigkeiten zumindest basale Formen der Urteilsbildung ermöglichen und die aufgrund ihres Strebens, so sein zu wollen, wie ihr Vorbild, dieses auf aktive Weise nachahmen; (b) Aristoteles Vernunft als ein sich sukzessiv einstellendes Vermö­ gen versteht, das maßgeblich auf natürlichen Entwicklungspro­ zessen (d. h. zunehmender Abstraktion) beruht; (c) Habituation daher in der aristotelischen Konzeption als Handeln unter Anleitung zu verstehen ist, welches Vorformen von Ratio­ nalität miteinschließt; (d) und zunehmendes Abstraktionsvermögen und moralisches Ler­ nen sich gegenseitig bedingen. Bevor ich mich der genauen Erörterung des textlichen Befundes bei Aristoteles widme, soll die Fragestellung, wie der Mensch zum guten Menschen wird, im Verhältnis zu den Debatten der Vorgänger des Aristoteles eingeordnet werden. Im Zentrum der zeitgenössischen Debatte um die Frage der Akquisition menschlicher Exzellenz durch Erziehung wurden sowohl in der Akademie als auch außerhalb drei Begriffe diskutiert: physis, ethos und logos. Menon macht in der eröffnenden Frage des gleichnamigen Dialogs anschaulich, wie die Leitfragen dieser Debatte formuliert werden können: MEN. Ἔχεις μοι εἰπεῖν, ὦ Σώκρατες, ἆρα διδακτὸν ἡ ἀρετή; ἢ οὐ διδακτὸν ἀλλ᾿ ἀσκητόν; ἢ οὔτε ἀσκητὸν οὔτε μαθητόν, ἀλλὰ φύσει παραγίγνεται τοῖς ἀνθρώποις ἢ ἄλλῳ τινὶ τρόπῳ; Menon. Sokrates, kannst du mir sagen, ob man die aretē lehren kann? Oder kann man sie nicht lehren, sondern einüben? Oder kann man

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1.1 Problemstellung

weder durch Übung noch durch Lernen gut werden, sondern ist man es von Natur aus oder auf sonst irgendeine Weise? Menon 70a.

Aristoteles‹ Modell von Erziehung (paideia) ist als Antwort auf diese Debatte zu verstehen.21 Genauso wie Menon stellt Aristoteles die Faktoren der Natur (physis), der Gewöhnung (ethos) und das ver­ nunftbasierte Lernen (logos) als sich ausschließende Alternativen zur Disposition, am deutlichsten in der Eröffnung der Eudemischen Ethik: πρῶτον δὲ σκεπτέον ἐν τίνι τὸ εὖ ζῆν καὶ πῶς κτητόν, πότερον φύσει γίνονται πάντες εὐδαίμονες οἱ τυγχάνοντες ταύτης τῆς προσηγορίας, ὥσπερ μεγάλοι καὶ μικροὶ καὶ τὴν χροιὰν διαφέροντες, ἢ διὰ μαθήσεως, ὡς οὔσης ἐπιστήμης τινὸς τῆς εὐδαιμονίας, ἢ διά τινος ἀσκήσεως (πολλὰ γὰρ οὔτε κατὰ φύσιν οὔτε μαθοῦσιν ἀλλ᾿ ἐθισθεῖσιν ὑπάρχει τοῖς ἀνθρώποις, φαῦλα μὲν τοῖς φαύλως ἐθισθεῖσι, χρηστὰ δὲ τοῖς χρηστῶς); ἢ τούτων μὲν κατ᾿ οὐδένα τῶν τρόπων, δυοῖν δὲ θάτερον, ἤτοι καθάπερ οἱ νυμφόληπτοι καὶ θεόληπτοι τῶν ἀνθρώπων, ἐπιπνοίᾳ δαιμονίου τινὸς ὥσπερ ἐνθουσιάζοντες, ἢ διὰ τὴν τύχην (πολλοὶ γὰρ ταὐτόν φασιν εἶναι τὴν εὐδαιμονίαν καὶ τὴν εὐτυχίαν). Zuerst aber ist zu prüfen, worauf das glückliche Leben beruht, und wie man es erwerben kann: ob es also von Natur (physei) geschieht, dass all die Menschen glücklich sind, die als solche angesprochen werden – so wie sie groß oder klein sind, diese oder jene Hautfarbe haben – oder ob es durch Lernen geschieht, was darauf hinausliefe, dass das Glück eine Art praktischer Kunst22 wäre; oder durch eine Art Training (askēsis)23; nicht weniges nämlich kommt weder von Natur noch vom Lernen, sondern von der Gewöhnung (ethistheisin): Schlechtes von schlechter, Gutes von guter Gewöhnung. Oder es geschieht auf keine der genannten Weisen, sondern auf folgende zwei: entweder dadurch, dass sie durch Einfluss eines göttlichen Wesens sich sozusagen in einem heilig-entrückten Zustand befinden – ähnlich jenen Menschen,

Vgl. Sorabji 1980, S. 217. Im griechischen Text steht hier ›epistēmē‹. Um von einer praktischen Kunst zu sprechen, müsste hier eigentlich technē oder phronēsis stehen. Wahrscheinlich wählt Aristoteles den Begriff, um den Anteil des intellektuellen Verstehens zu betonen, der für den Besitz einer epistēmē notwendig ist, was sich durch die Verbindung mit dem Begriff des Lernens (mathēsis) gut begründen lässt. Der Kontrast zwischen dem Glück als Resultat eines durch Vernunfteinsicht gewonnenen Wissens oder eine durch Übung erlangte Gewohnheit wird dadurch besonders deutlich. 23 Je nach Kontext, lässt sich askēsis mit Übung oder mit Training übersetzen. 21

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1. Einleitung

von denen ein Gott oder eine Nymphe Besitz genommen hat – oder durch (Glücks-)fügung (eutychia). EE I 1, 1214a14–26.24

Im Fortgang der Untersuchung zeigt sich jedoch, dass alle drei Fakto­ ren für die aristotelische Position eine Rolle spielen. In welcher Weise jedoch diese Faktoren eine Rolle spielen, gilt es zu klären. Es ist allgemein anerkannt, dass sich die aristotelische Konzep­ tion des Tugenderwerbs als Kritik am sokratischen Intellektualismus verstehen lässt.25 Sokrates war der Meinung, dass Wissen die notwen­ dige und hinreichende Bedingung für moralisch richtiges Handeln darstelle.26 Aristoteles‹ Haupteinwand gegen diese Position besteht darin, zu bestreiten, dass Wissen allein eine motivationale Kraft habe. Nach Aristoteles befähigt das Wissen um das Gute den Menschen noch nicht hinreichend dazu, das Gute zu tun, und es ist seine Haupt­ sorge in der Nikomachischen Ethik, wie Menschen das Gute nicht nur erkennen, sondern auch in ihrem Leben tatsächlich verwirklichen können.27 Die Frage danach, wie ein Mensch tugendhaft wird und sich regelmäßig und zuverlässig für das Gute entscheidet, lässt sich als Frage nach der Entstehung moralischer Motivation auffassen. Diese prägt die Nikomachische Ethik als zentrales Thema. Die aristotelische Moralphilosophie fragt also danach, warum Menschen etwas erstreben und welche Dinge sie aus welchen Grün­ den als lustvoll empfinden. Menschliche Lüste und Triebe und ihre Bedeutung für das menschliche Handeln spielen auch bei Platon eine wichtige Rolle. Allerdings besteht die platonische Konzeption von moralischer Motivation darin, den Einfluss von Lüsten und Trieben auf das menschliche Handeln zu minimieren, sodass der Einfluss der Vernunft maximiert werden kann.28 Aristoteles hingegen hat es nicht darauf abgesehen, den Einfluss der Lust (hēdonē) auf das menschliche Handeln zu minimieren, sondern er ist davon überzeugt, dass das Empfinden von Lust und Unlust (hēdonē kai lypē) ein Faktor ist, der das Leben des Menschen 24 Die Eudemische Ethik wird im Folgenden nach der Übersetzung von Dirlmeier wie­ dergegeben. 25 Vgl. Graeser 1983, S. 94; Burnyeat 1980, S. 70. 26 Vgl. Gaeser 1983, S. 96. 27 London 2001, S. 578–579. 28 Der Kulminationspunkt dieses Prozesses ist der Tod, in dem die körperlichen Einflüsse ihre Wirkung auf die Seele ganz verlieren und die Seele des Menschen nur noch reine Vernunft ist.

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1.2 Der Textbefund

durchgängig maßgeblich beeinflusst.29 Wenn aber trotzdem die Ver­ nunft die Oberhand gewinnen soll, und das ist auch Aristoteles‹ Ziel,30 bleibt nur noch die Möglichkeit, dass das menschliche Emp­ finden von Lust und Unlust auf die menschliche Vernunft ausgerichtet wird.31 Da Aristoteles die Auffassung hat, dass Gewöhnung (ethos) die Kraft hat, das Empfinden von Lust und Unlust zu verändern,32 ist sie das Mittel der Wahl. Mit zunehmendem Verständnis können aller­ dings auch vernünftige Belehrungen (logos) immer mehr Raum im Erziehungsprozess einnehmen. Am Ende besteht das Ziel von Erzie­ hung für Aristoteles darin, Streben und Vernunft, Fühlen und Den­ ken, kongruent zu machen.33 Der aristotelische Mensch denkt, was er fühlt und fühlt, was er denkt.34

1.2 Der Textbefund 1.2.1 Paideia als Thema der praktischen Philosophie35 Die explizite Behandlung des Themas ›paideia‹ findet sich in den Büchern VII und VIII der Politik. Ebenso wertvoll für das Thema sind EN II 2, 1104b9–11; EN X 1, 1172a19ff. Aristoteles ist überzeugt davon, dass die Vernunft das oberste Gut menschlichen Lebens ist und sich alles im menschlichen Leben nach ihr ausrichten muss. Vgl. Pol. VII 15, 1334b14f. Für eine genaue Besprechung dieser Passage siehe Abschnitt 1.5. Außerdem zu bedenken: EE VIII 3, 1249b5ff. 31 Vgl. EN II 2, 1104b8–13. 32 Rhet. I 1369b15ff.; EN X 10, 1179b35. 33 Angedeutet wird dies in EN I 9, 1099a7ff., ausformuliert in EN VI 2, 1139a22–26. Ähnlich EE 1224a24ff, b25ff. Ganz deutlich auch in Pol. VII 13, 1334b11, wo von einem harmonischen Zusammenspiel (symphōnein)von arationalem und rationalem Seelenteil gesprochen wird. 34 Vgl. Kristjánsson 2007, S. 3. 35 Innerhalb der theoretischen Philosophie des Aristoteles spielt die paideia keine explizite Rolle. Allerdings bilden einige Begriffe innerhalb der theoretischen Philoso­ phie des Aristoteles die Grundlage, um überhaupt von einer Theorie der Erziehung und Entwicklung sprechen zu können. Von zentraler Bedeutung ist die ontologische Annahme, dass natürliche Dinge Veränderungsprozesse durchlaufen, d. h., dass die Natur an sich nicht unveränderlich ist (Phys. I 2). Zur Erklärung solcher Verände­ rungsprozesse zieht Aristoteles die Begriffe der dynamis und der entelecheia/energeia heran. Außerdem von Bedeutung sind Aristoteles’ Überlegungen zu Möglichkeit und Vollzug von Wissenserwerb. Die aristotelische Position richtet sich gegen das Postulat der Unmöglichkeit des Lernens (etwa in Met. IX 8, 1049b29ff.) sowie gegen 29

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1. Einleitung

die Überlegungen der Eudemischen Ethik sowie der Nikomachischen Ethik.36 Diese Werke bilden die Hauptpfeiler der praktischen Philoso­ phie des Aristoteles und bedingen sich gegenseitig.37 Da das Thema paideia bei Aristoteles zu diesem Themenkomplex gehört, möchte ich zu Beginn untersuchen, welchen Platz paideia in Aristoteles‹ praktischer Philosophie einnimmt, indem ich erörtere, in welchen Kontexten Aristoteles den Begriff der Erziehung (paideia) bzw. das Begriffstrio ›physis ethos logos‹ einführt und in welchem Verhältnis das Thema ›paideia‹ zur Gesamtintention der jeweiligen Schrift steht. Die praktische Philosophie benennt Aristoteles mit dem Begriff »he peri ta anthrōpina philosophia«38 und behandelt damit den »Bereich dessen, was zum Menschen gehört.«39 Dabei ist sie jedoch keine Anthropologie im heutigen Sinne, sondern das thematische Zentrum, das Ethik und Politik verbindet, ist die Frage nach dem Glück (eudaimonia), d. h. dem guten Leben (eu zēn) für den Menschen.40 Eudaimonia wird von Aristoteles als dasjenige Ziel eingeführt, »in dem sich das Streben des menschlichen Individuums insgesamt erfüllt und das so das Leben im Ganzen gut macht.«41 Aristoteles verankert dieses Gut des Menschen in dessen Natur, d. h. es ist grundlegend von dessen Beschaffenheit oder Grundkonstitution abhängig, die Aristoteles im ersten Buch der Politik in einer Doppelnatur bestimmt: Der Mensch ist einerseits das einzige Lebewesen, das logos besitzt und sein Leben wird von seiner Vernunftnatur bestimmt. Andererseits ist der Mensch in besonderem Maße ein auf Gemeinschaft angelegtes und angewiesenes Lebewesen (zōon politikon).42 Ausgehend von dieser Doppelbestimmung erklärt Aristoteles die eudaimonia des die Auffassung, dass Lernen hauptsächlich als Wiedererinnerung (anamnesis) zu verstehen sei. Auf die ontologischen Voraussetzungen von Veränderungen wird in Abschnitt 3.7 eingegangen. 36 In der Nikomachischen Ethik insbesondere die Bücher II und X. 37 Während in den vergangenen Jahrzehnten die Eudemische Ethik mehr als Ergän­ zung zur Nikomachischen Ethik betrachtet wurde (vgl. Willmann 1909), sprechen neuere Forschungen dafür, die Eudemische Ethik als das ältere Werk zu betrachten. Es sprechen gute Gründe dafür, die Magna Moralia nicht mehr für authentisch zu halten. Vgl. Rapp 2004. 38 EN X 10, 1181b15. 39 Vgl. Flashar, S. 293–294. 40 Richard Kraut sieht Aristoteles’ praktische Philosophie als ›investigation of human well-being‹. Kraut 2002, S. 16. 41 Wolf 2010, S. 294. 42 Vgl. Pol. I 1, 1253a7–9.

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1.2 Der Textbefund

Menschen. Einerseits besteht die eudaimonia des Einzelnen darin, sein spezifisches ergon zu erfüllen, indem seine Seele gemäß der Vernunft (logos) im Sinne der Tugend (aretē) tätig ist.43 Andererseits tut der Mensch dies aufgrund seiner zōon-politikon-Natur nicht allein im luftleeren Raum, sondern in einer Gemeinschaft,44 und zwar nicht nur in der Gemeinschaft des Hauses (oikos) oder des Dorfes, sondern in der der Polis, der staatlichen Gemeinschaft. So diskutiert die Ethik das beste Menschsein und die Politik das beste Staat-Sein, welche sich beide in der Verwirklichung der eudaimonia vollziehen. Die praktische Philosophie des Aristoteles stellt so die Frage nach der Bestform menschlichen Lebens für das Individuum und die Gemeinschaft.45 Im Begriff der paideia treffen beide Aspekte – der individuelle und der kollektive – aufeinander. Einerseits ist Erziehung (paideia) auf das Individuum bezogen, indem sie dessen individuelle Anlage zum guten Menschsein bestmöglich verwirklichen soll. Gleichzeitig, so betont Aristoteles, ist Erziehung keine individuelle Angelegenheit, sondern das Erreichen ihrer Ziele ist auf die Gemeinschaft ausge­ richtet.46 Dies hat sowohl den praktischen Aspekt, dass eine gute Erziehung der nachkommenden Generation die Gesellschaft und die gesellschaftliche Struktur erhalten soll,47 als auch den wesentlich all­ gemeineren Aspekt, dass der Tugenderwerb des Menschen auf andere Menschen bezogen ist. Viele der Tugenden sind auf zwischenmensch­ liche Aspekte bezogen, und erst der Tugendhafte ist zu (wahrer) Freundschaft und Liebe (philia) fähig. 48 Die »moralischen Tugenden [haben] – unbeschadet ihrer Verankerung im Charakter des einzelnen

Vgl. EN I 6, 1098a7ff. Vgl. EN I 5, 1097b8ff. 45 Vgl. Höffe 2006, S. 241. 46 Dieser Gedanke findet sich sowohl in der Ethik (EN X 10, 1179b34ff.) als auch in der Politik (Pol. VIII 1, 1337a11–18). Schütrumpf vertritt die Auffassung, dass Individualität erst in der späteren Hälfte des Lebens zum Tragen kommt, zunächst aber die Uniformität der Bürger im Vordergrund steht. Vgl. Schütrumpf 2006. 47 Für Aristoteles entsteht die staatliche Gemeinschaft auf der Grundlage, dass meh­ rere Menschen die gleiche Auffassung vom guten Leben in Gemeinschaft vertreten, und sich zusammenschließen, um diese zu verwirklichen. Vgl. Pol. I 2, 1253a1–18 und meine Auslegung dieser Passage in Abschnitt 5.6.1. Dann ist es nur selbstverständlich, dass es auch in ihrem Interesse liegt, die Prinzipien, nach denen sie gemeinsam leben, erhalten zu wollen, indem sie sie an die nächste Genereation weitergeben wollen. Vgl. Schütrumpf 2006, S. 246. 48 Vgl. EN VIII 4, 1156b7ff. 43

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1. Einleitung

– als Sitz im Leben die Polis […]«49, also die Gemeinschaft mit ande­ ren Menschen.

1.2.2 Paideia im Kontext des Idealstaatsentwurfs der Politik und erste Definition Die Frage nach der paideia stellt sich im aristotelischen Werk jeweils im Kontext der Frage danach, wie Glück (eudaimonia) bzw. ein gelungenes Leben verwirklicht oder erreicht werden kann.50 Das Glück wird von Aristoteles als eine Tätigkeit der Seele im Sinne der Vernunft bestimmt51 und ist unter diesem Vorzeichen etwas, zu dem der Mensch erst befähigt werden muss. Die Verwirklichung der eudaimonia wird im Idealstaatsentwurf der Bücher VII und VIII der Politik diskutiert, in denen die aristote­ lischen Überlegungen zur paideia einen beachtlichen Raum einneh­ men. Paideia ist der Weg des Menschen zu seiner Perfektion und kann deshalb im besten Staat unmöglich der Zufälligkeit des fami­ liären Umfeldes überlassen werden, sondern muss, so Aristoteles, staatlich organisiert sein.52 Die Konzeption eines Erziehungs- und Bildungsprogramms für die zukünftigen Bürger des besten Staates ist die Aufgabe des Gesetzgebers (nomothetēs), der mit Blick auf das höchste Ziel der Polis, nämlich der eudaimonia, nicht nur ihre Gesetze entwerfen, sondern auch die paideia konzipieren wird. Sie steht damit ganz in »der philosophischen Tradition der Idealstaatsentwürfe«53, denn auch Platon diskutiert ein umfassendes Erziehungsprogramm im Rahmen seiner Staatstheorien (Politeia54 und Nomoi55).56 Hellmut Flashar ordnet die Entstehung der Bücher VII und VIII der Politik in die Akademiezeit ein und betont die »starken Anklänge[…] an die Höffe 2001, S. 18. Vgl. EN I 10, 1099b9ff.; Vgl. Pol. VII 13, 1332a3ff. 51 Vgl. EN I 6, 1097b22–1098a20. 52 Vgl. Pol. VIII 1, 1337a11–34; EN X 10, 1179b34ff. 53 Flashar 1983, S. 314f. 54 Carnes Lord verweist durchweg auf die Politeia als Bezugs- und Vergleichspunkt. Vgl. Lord 1982. 55 Schütrumpf und Neschke-Hentschke sprechen durchweg von den Nomoi als Bezugs- und Vergleichspunkt. 56 Neschke-Hentschke sieht auch Zenons Politeia und Ciceros De re publica in dieser Tradition. Vgl. Neschke-Hentschke 2001, S. 170. 49

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1.2 Der Textbefund

platonischen ›Gesetze‹«57. Ingemar Düring konstatiert in den eben genannten Büchern sogar ein »im Großen und Ganzen platonische[s] Begriffsmaterial«.58 Die Eigenständigkeit sowie die Originalität der aristotelischen Erziehungskonzeption stehen daher immer wieder in Frage.59 Problematisch ist die offenkundige Unvollständigkeit der Aus­ führungen. Da das Buch VIII der Politik ein abruptes Ende nimmt und viele der Ausführungen eher skizzenhaft bleiben, wirkt das geschilderte Bildungsprogramm insgesamt sachlich unvollständig und eher grob umrissen als wirklich ausgeführt.60 Dafür kann man verschiedene Gründe vermuten. Düring geht davon aus, dass Aris­ toteles sein Erziehungsprogramm nie ausgeführt habe,61 während andere Autoren vermuten, dass es diese Ausführungen gegeben habe, diese allerdings verloren gegangen seien. Der Autor, der die Politik ins Lateinische übersetzt hat (wahrscheinlich Wilhelm von Moerbeke), vermutete beispielsweise, dass er die übrigen Teile des auf Griechisch vorliegenden Werkes noch nicht (nondum) gefunden habe.62 Für die Annahme, dass es diese übrigen Teile gegeben hat, spricht zumindest die Tatsache, dass bei Diogenes Laertius eine Schrift mit dem Titel ›peri paideias‹ für Aristoteles vermerkt ist.63 Letztlich muss man diese Lücke in der Überlieferung akzeptieren und damit arbeiten, was überliefert ist. Auch wenn das präsentierte Erziehungs­ programm skizzenhaft bleibt, passt die Orientierung am Mittleren, am Möglichen und am Angemessenen, insgesamt gut zur aristoteli­

Flashar 1983, S. 231–232. Düring 1966, S. 474f. 59 Den Kulminationspunkt dieser Tendenz bildet Henri-Irénée Marrou 1957. Er hat sich die Mühe gemacht, eine ›Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum‹ zusammenzustellen, worin er Platon und Isokrates als die Meister der klassischen Tradition darstellt und Aristoteles vollkommen außer Acht lässt. Auf einer Konferenz zu dieser Auslassung befragt, soll er einige Jahre später gesagt haben, dass er Aristo­ teles’ Ausführungen zur paideia nicht für originell, sondern lediglich für affirmativ gegenüber den gesellschaftlich etablierten Normen seiner Zeit gehalten habe. Auch in Werner Jaegers Überblick kommt Aristoteles nicht vor. Vgl. Jaeger 1959. 60 Vgl. Flashar 1983, S. 314. Dürung bezeichnet das Buch VIII der Politik ebenfalls als unvollendet und führt als Belege ebenfalls die Skizzenhaftigkeit und das abrupte Ende an. Vgl. Düring 1966, S. 489. 61 Vgl. Düring 1966, S. 458. 62 Aristoteles Latinus [*6:XXIX/1: 56], vgl. Flashar 1983, S. 314. 63 Diog. Laert. IX, 8, 53. Vgl. Schuhl et al. 1968, S. 143. 57

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schen Philosophie.64 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang das skizzierte Erziehungsprogramm zu den Intentionen und Inhalten der Politik steht. In der Forschung wurde von verschiedenen Seiten betont, dass die Politik kein Werk aus einem Guss sei, sondern vielmehr so wirke, als sei sie aus einzelnen Teilen zusammengesetzt.65 Aus dieser Lesart heraus ergäbe sich kein Problem für das paideia-Thema innerhalb der Politik, da eben die Abhandlungen über die paideia, wie auch andere Themen, hier einfach lose aneinandergereiht wären. Diese Auffassung umgeht jedoch die Aufgabe, die inhaltliche Struktur der Politik in den Blick zu nehmen und auf die Stellung des Themas der paideia hin zu analysieren. Auch wenn man nicht der starken These einer unitarischen Lesart zustimmen möchte, wie zum Beispiel Manuel Knoll sie vertritt,66 muss doch beachtet werden, dass die Politik, trotz einiger Widersprüche und unebener Übergänge, eine »kohärente Lehre«67 bietet,68 und insofern die Stellung der Erzie­ hungsfrage innerhalb einer politischen Schrift zu bedenken ist.69 Aris­ toteles‹ Überlegungen zur paideia finden sich innerhalb des Entwurfs der bestmöglichen Polis oder ›Polis nach Wunsch‹ (kat‹euchēn).70 Der Kontext des Idealstaatsentwurfes ist somit für die aristotelische paideia-Lehre bedeutsam. Die Polis ist das Resultat der technischen Ratio des Gesetzgebers (poiēsis), welcher vor die Aufgabe gestellt ist, für den gewünschten Zweck die richtigen Mittel zu wählen.71 Die Mittel zerfallen in zwei Vgl. Flashar 1983, S. 314. Vgl. Höffe 2001, S. 7. 66 Vgl. Knoll 2011. 67 Höffe 2001, S. 7. Neschke-Hentschke bedauert, dass sowohl Flashar als auch Otfried Höffe den Nachweis für diese These schuldig bleiben. Vgl. Neschke-Hentschke 2001, S. 171. 68 Für eine unitarische Lesart argumentieren verschiedene Ausleger. Lord betont gleich zu Anfang, dass er eine unitarische Leseweise annimmt. Vgl. Lord 1982, S. 202. Flashar möchte, auch wenn die Politik zusammengesetzt sei, doch eine Endredaktion durch Aristoteles selbst annehmen, was eine gewisse innere Einheit der Schrift eben­ falls implizieren würde. Vgl. Flashar 1983, S. 231. Auch Höffe plädiert für eine unita­ rische Leseweise. Vgl. Höffe 2001, S. 7f. 69 Trotz der Sikzzenhaftigkeit und Unvollständigkeit des Erziehungsprogramms in den Büchern VII und VIII der Politik, beziehen sich viele Kommentatoren dann doch ganz selbstverständlich auf andere Passagen der Politik, als handle es sich um ein vollständig stimmiges Werk – auch Schütrumpf selbst. Vgl. Schütrumpf 2006. 70 Vgl. Pol. VII 4, 1325b36. 71 Vgl. Neschke-Hentschke 2001, S. 174. 64

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Kategorien, nämlich solche, »ohne die die Polis überhaupt nicht existieren kann […] im Unterschied zu den Elementen, die ihr Wesen ausmachen, ›merē‹ genannt […].«72 Davon sind einige naturgegeben und deshalb vom Gesetzgeber nicht plan- oder beeinflussbar, andere jedoch sind frei wählbar. Die Fiktion des Idealstaatsentwurfs besteht nun darin, auch erstere Elemente, die in der Realität sonst naturge­ geben sind (wie die geographische Lage zum Beispiel), im idealen Sinne anzunehmen, wobei es sich nicht um eine Utopie handelt, sondern die Überlegungen sich im Rahmen des Möglichen halten.73 Den ersten Teil der Überlegungen bilden die Kapitel 4–7 des Buches VII, in denen Aristoteles über die bestmögliche Lage, das Klima und die Einwohner des Idealstaates nachdenkt. Darauf folgen seine Überlegungen zu den konstitutiven Teilen des Staates (8–12). Ada Neschke-Hentschke sieht in dieser Zweiteilung den »Ausdruck eines hylemorphen Denkens«74, da sie die materiellen Aspekte des Staates als hylē, also stoffliche Grundlage des Staates, betrachtet, dem dann dessen Verfassung (politeia/politeuma) seine entsprechende Form gibt.75 Die politeia und somit der »Zusammenhang aller Funktionen, die das gute und gelungene Leben in konkreten schönen Handlungen aktualisieren«76, wird von den Bürgern bestimmt, die an der Verfas­ sung teilhaben (politēs). Sie ist gestaltet durch deren Tätigkeiten als Ratsherren, Richter und Priester und die Ausübung ihrer praktischen Tugenden, sowie der Muße, als Ausübung ihrer dianoetischen Tugen­ den.77 Der Begriff der paideia taucht bei Aristoteles in diesem ZweckMittel-Zusammenhang auf, und zwar als Mittel mit dem Zweck, die Bürger zur Muße zu befähigen. Im Folgenden möchte ich detailliert nachzeichnen, durch welchen Argumentationsgang Aristoteles den Begriff der paideia einführt. Aristoteles reflektiert zu Beginn des 13. Kapitels Buch VII das Ziel des Staates und die richtigen Mittel, dieses zu erreichen. Das Ziel ist das Glück (eudaimonia)78 oder das gelungene Leben (eu

72 73 74 75 76 77 78

Vgl. Neschke-Hentschke 2001, S. 174. Vgl. ebd. Ebd., S. 177. Ähnlich Leunissen 2012, S. 511. Neschke-Hentschke 2001, S. 176. Vgl. Ebd., S. 176ff. Vgl. Pol. VII 13, 1332a5–7.

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zēn). Mit ›Rückgriff‹ 79 auf EN I 7, 1098a16 bestimmt Aristoteles das Glück als vollendete Verwirklichung oder Aktualisierung (energeia) der Tugend (aretē).80 Er kommt auch darauf zu sprechen, dass der Tugendhafte, wenn er nicht in ausreichendem Maße über die äußeren Güter verfüge, nicht glücklich genannt werde (wie auch schon in der EN), und kommt deshalb zur Unterscheidung zweier Faktorenarten, die die eudaimonia beeinflussen: Einmal sind es diejenigen, die vom Schicksal (tychē) abhängen und somit nicht willentlich vom Menschen beeinflussbar sind,81 und andererseits sind es diejenigen, die durch Wissen (epistēmē) und bewusste Entscheidung (prohairesis) beein­ flussbar sind.82 Der Idealstaatsentwurf bedenkt beides: einerseits die Faktoren, die zwar wünschenswert wären (wie zum Beispiel die Lage der Polis in der Nähe des Meeres) und die Faktoren, die von der menschlichen Planung abhängen, wie zum Beispiel die Verfassung, die Gesetze oder eben die paideia der Polis. Die Frage der eudaimonia des Staates beantwortet Aristoteles mithilfe der Analogie zum Menschen: Der Mensch, den man glücklich nennt, verwirklicht die Tugend (aretē), ist also gut (agathos) und tüch­ tig (spoudaios). Der Staat, den man glücklich nennt, muss demnach ebenfalls die Tugend verwirklichen, bzw. tüchtig sein.83 Wann aber ist ein Staat tüchtig? Diese Frage beantwortet Aristoteles zunächst mit der Pars-pro-toto-Lösung: »Aber gewiss, gut ist die Polis, in der die

79 Die zeitliche Abfolge der Entstehung von Nikomachischer Ethik und Politik ist eine schwierige Frage. Zumeist wird jedoch davon ausgegangen, dass die EN das reifste Werk ist und daher zuletzt entstand. In der Politik setzt Aristoteles allerdings häufig Konzepte voraus, die in der EN detailliert besprochen werden. Es ist denkbar, dass diese (z.T. in der Eudemischen Ethik) bereits vorformuliert waren und Aristoteles des­ halb darauf Bezug nehmen kann, ohne, dass die EN zum Zeitpunkt der Verfassung der Politik vollendet gewesen wäre. Befürworter dieser Hypothese ist beispielsweise Schütrumpf. Vgl. Flashar 1983, S. 226–227. 80 Vgl. Pol. VII 13, 1332a7–10. 81 Später wird sich zeigen, dass das auch die Menschen selbst und ihre natürliche Begabung zum Gutsein ist. Die Einwohner der Polis können so verstanden werden als das Material, dem der Gesetzgeber eine Form zu geben versucht. Aus der Nikomachi­ schen Ethik ergibt sich zusätzlich der Aspekt, dass die Kunst der Gesetzgebung einige Gemeinsamkeiten mit der Kunst der Erziehung hat. Vgl. EN X 10. 82 Vgl. Pol. VII 13, 1332a28–32. 83 Ganz deutlich ist hier die methodische Nähe zu Platon, der ebenfalls mit der Isomorphie zwischen Staat und Individuum argumentiert.

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1.2 Der Textbefund

Bürger, die an der Verfassung teilhaben, tüchtig sind. In unserer haben aber alle Bürger an der Staatsverwaltung teil.«84 Die allgemeine Frage nach der eudaimonia und damit Bestform des Staates hat sich auf die Individualebene verlagert: auf die Frage nach der Bestform des Menschen.85 Jedoch nicht die Bestform irgend­ eines Menschen, sondern desjenigen, der an der Verfassung teilhat.86 Die Frage der eudaimonia des Staates ist somit zur Frage geworden, wie ein Mann (als Staatsbürger) tüchtig wird, d. h. wie die Bestform des Menschseins erreicht wird. Aristoteles‹ Antwort besteht in einer Aufzählung der Faktoren, von denen die Bestform (aretē) des Men­ schen abhängt: physis, ethos, logos.87 Über die Natur (physis), die es dem Gesetzgeber leicht mache, habe er zuvor schon genug gesagt.88 Das ›Übrige‹ – also alles, was an die Natur anknüpft – »ist das Werk der paideia, denn sie lernen durch Gewöhnt-werden und (Zu-)Hören (τὸ δὲ λοιπὸν ἔργον ἤδη παιδείας· τὰ μὲν γὰρ ἐθιζόμενοι μανθάνουσι, τὰ δ᾿ ἀκούοντες.).«89 Die paideia hat demnach zwei Momente: einerseits sich an etwas gewöhnen (ethizomai) und andererseits, etwas Hören (akouein), d. h. Gehör schenken und auch verstehen. Die Instrumente der paideia sind demnach die Gewöhnung (ethos) und das, worauf

84 Pol. VII 13, 1332a32–35. Aristoteles sieht auch die Möglichkeit, dass der Staat gut ist, nicht aber jeder einzelne Bürger. Zur Frage, wie das gemeinsame Glück, das koinon sympheron zu verstehen ist (additiv/synergetisch) siehe die Diskussion bei Cooper 1990. 85 Die Pars-pro-toto-Methodik stellt uns und Aristoteles vor einige Probleme. Offen­ sichtlich gibt es auch Menschen im Staat, die nicht an der Verfassung teilhaben, jedoch aber an der Gemeinschaft: Frauen, Sklaven und Kinder. Zudem kommt Aristoteles auch nicht um das Problem herum, dass doch nicht alle auf einmal herrschen, auch wenn prinzipiell alle an der Herrschaft teilhaben. Er kommt also, obwohl er explizit das Prinzip einer platonischen Herrscherelite vermeiden will, nicht darum, zu erklären, durch welche Qualitäten sich diejenigen auszeichnen, die Entscheidungen treffen. Nehmen wir diese Gruppe einmal als gesetzt an, so ergibt sich immer noch das Problem, ob ihre Bestform als Staatsbürger mit der Bestform des Menschen an sich zusammenfällt. 86 Hier stellt sich die Frage, wer das eigentlich ist. Cooper argumentiert dafür, dass nicht nur die richtenden und die abgeordneten Bürger sind, sondern auch alle anderen männlichen freien Bürger. Vgl. Cooper 1990, S. 241. 87 Vgl. Pol. VII 13, 1332a38–b11. 88 Gemeint ist wahrscheinlich das 7. Kapitel des Buches VII. Ob es sich hier um eine rassistische Herausstellung der Griechen als für den aristotelischen Staat am besten geeigneten Nation oder letztlich der Betonung einer Banalität geht, ist unklar. Zur näheren Diskussion siehe Leunissen 2012, S. 510–512. 89 Pol. VII 13, 1332b10f.

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das Hören reagiert, der logos, in diesem Kontext zu verstehen als Belehrung oder verbale Instruktion.90 Wir können aus dieser Passage zentrale Aspekte für die Defini­ tion der paideia ableiten. Zunächst einmal bezeichnet paideia einen Veränderungsprozess im Menschen, denn er soll aus diesem etwas machen, was er zuvor nicht ist. Da er bei der Natur ansetzt, könnte man paideia als Veränderungsprozess, der bei den menschlichen Naturanlagen ansetzt, beschreiben. Dieser Veränderungsprozess voll­ zieht sich durch zwei Instrumente oder Methoden, nämlich die Gewöhnung und die Belehrung, und hat einen guten und tüchtigen Menschen zum Endziel, der im Sinne der aretē lebt. Tentativ kann folgende Definition formuliert werden: Paideia bei Aristoteles bezeichnet einen Prozess der Veränderung der natürlichen Anlagen des Menschen, der durch Gewöhnung und Belehrung herbeigeführt wird, mit dem Ziel, ein menschliches Kind zu einem guten (tugendhaften) Menschen zu machen.91 Durch diese Definition wird deutlich, dass die paideia essenziell für den Idealstaatsentwurf des Aristoteles ist: Ohne die richtige paideia kann der Staat nicht gelingen.92 Insofern ist auch klar, dass der paideia innerhalb der praktischen Philosophie des Aristoteles ein zentraler Stellenwert zukommt.93 Sie dient dem Gesetzgeber als Mittel zum Zweck, das Ziel der eudaimonia des Staates zu erreichen. Außerdem löst sie das Stabilitätsproblem beim Generationenwechsel, da sie die Jugend nach den Idealen erzieht, nach denen die Eltern leben und vor allem, nach jenen, die zur bestehenden Verfassung passen, sodass diese erhalten wird.94 Deshalb ist der Staat für die paideia verantwortlich.95

90 In der EN finden wir auch die Auflistung der drei Faktoren mit den Begriffen physis, ethos und didachē. Vgl. EN X 10, 1179b20f. 91 Es handelt sich um eine vorläufige Definition, die im Laufe der Untersuchung an Genauigkeit gewinnen wird. 92 Deshalb gehören Erziehung und Bildung (paideia) auch zu Stabilitätsfaktoren für das Bestehen des Staates. Vgl. Pol. V 9, 1310a12–22. 93 Dieser Stellenwert wird ihr jedoch von einigen Auslegern nicht eingeräumt, weil sie paideia entweder als Teil einer Utopie sehen oder, weil sie paideia als ›formal schooling‹ verstehen und deshalb für ein Randthema halten. Vgl. Lord 1990, S. 202. 94 Vgl. Schütrumpf 2006, S. 246; S. 252. 95 Grundsätzlich besteht bei Aristoteles eine Spannung zwischen der Tendenz zur staatlich gelenkten und auf die Verfassung ausgerichteten, uniformen Erziehung und Überlegungen zur in der Erziehung notwendigen Berücksichtigung der individuellen

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1.2 Der Textbefund

1.2.3 Paideia im Kontext der Ethik Die Frage nach der paideia wird auch innerhalb der Ethik im Kontext der Frage danach, wie Glück oder das gelungene Leben (eudaimonia) verwirklicht bzw. erreicht wird, diskutiert. Das gelungene Leben wird von Aristoteles als Tätigkeit der Seele im Sinne der Vernunft bestimmt96 und ist unter dieser Definition etwas, zu dem der Mensch erst befähigt werden muss. Die beste Verwirklichung der eudaimonia wird vor allem im ersten und zehnten Buch der Nikomachischen Ethik, sowie in den ersten beiden Büchern der Eudemischen Ethik untersucht, und in beiden begegnet dem Leser hier wie in der Politik die Trias von physis, ethos und logos. Inwiefern das Prinzip der Gewöhnung (ethos) mit der Befähi­ gung zum Glück oder dem guten Leben zusammenhängt, referiert Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik zunächst in einer sehr vagen Formulierung: Ὅθεν καὶ ἀπορεῖται πότερόν ἐστι μαθητὸν ἢ ἐθιστὸν ἢ ἄλλως πως ἀσκητόν, ἢ κατά τινα θείαν μοῖραν ἢ καὶ διὰ τύχην παραγίνεται. Daraus ergibt sich die Frage, ob das Glück durch Lernen (mathēton), durch Gewöhnung (ethiston) oder sonst wie durch Übung (allōs pōs asketon) entsteht oder ob es sich kraft einer göttlichen Fügung oder durch Zufall einstellt. EN I 10, 1099b10–12.97

Letzteres ist ausgeschlossen, weil es des höchsten Zieles menschli­ chen Lebens unwürdig erscheint, dass es sich rein zufällig einstelle.98 Dass das Glück zu den göttlichsten Dingen gehört, stellt für Aristo­ teles keinen Hinderungsgrund dafür dar, dass es durch menschliche Bemühungen, also »durch Tugend und durch eine Art von Lernen (mathēsis) oder Übung (askēsis) entsteht.«99 Es ist also zunächst ganz offen, ob das Glück oder das gelungene Leben durch eine Form der Übung, durch Lernen oder andere Arten der Bemühungen von Familie und des individuellen Kindes. Vgl. Schütrumpf 2006. Zur Verantwortung der Eltern für die Erziehung in der Familie siehe Kapitel 6. 96 Vgl. EN I 6, 1097b22–1098a20. 97 Alle Zitate aus der Nikomachischen Ethik sind der Übersetzung nach Ursula Wolf entnommen. Wolf 2011. 98 Vgl. EN I 10, 1099b24–25. 99 EN I 10, 1099b15–16. Übersetzung leicht modifiziert: Wolf übersetzt mathēsis mit Lehre. Da es aber um den Vorgang geht, dass jemand etwas lernt, und eine Verwechslung mit der Lehre im Sinne von Instruktion (logos, didaskalia) vermieden werden soll, ist die Übersetzung mit ›Lernen‹ zutreffender.

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Menschen erreicht werden kann. Fest steht nur, dass in jedem Fall eine Art von Bemühung da sein muss, weil sich das Glück seiner Meinung nach weder automatisch noch zufällig, und d. h. nicht ohne menschliches Zutun einstellt. Wesentlich konkreter äußert sich Aristoteles dann im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik, in welchem er erklärt: γίνεσθαι δ᾿ ἀγαθοὺς οἴονται οἱ μέν φύσει, οἱ δ᾿ ἔθει, οἱ δὲ διδαχῇ. τὸ μὲν οὖν τῆς φύσεως δῆλον ὡς οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν [ὑπάρχει], ἀλλὰ διά τινας θείας αἰτίας τοῖς ὡς ἀληθῶς εὐτυχέσιν ὑπάρχει· ὁ δὲ λόγος καὶ ἡ διδαχὴ μή ποτ᾿ οὐκ ἐν ἅπασιν ἰσχύει, ἀλλὰ δεῖ προδιειργάσθαι τοῖς ἔθεσι τὴν τοῦ ἀκροατοῦ ψυχὴν πρὸς τὸ καλῶς χαίρειν καὶ μισεῖν, ὥσπερ γῆν τὴν θρέψουσαν τὸ σπέρμα. οὐ γὰρ ἂν ἀκούσειε λόγου ἀποτρέποντος οὐδ᾿ ἂν4 συνείη ὁ κατὰ πάθος ζῶν· τὸν δ᾿ οὕτως ἔχοντα πῶς οἷόν τε μεταπεῖσαι; Gut nun wird man nach einer Meinung von Natur aus (physis), nach einer anderen Meinung durch Gewöhnung (ethos) und nach wieder einer anderen Meinung durch Belehrung (didachē). Was nun das Natürliche betrifft, so ist offensichtlich, dass es nicht in unserer Macht liegt, sondern durch eine Art göttliche Ursache den wahrhaft vom Glück Begünstigten (eutychēs) zukommt. Die Rede und Belehrung haben aber wohl kaum bei allen Menschen Wirkung; vielmehr muss die Seele des Hörers zuvor durch Gewöhnung bearbeitet worden sein, dass sie auf richtige (kalōs) Weise freut und abgeneigt ist, so wie Erde, die Samen nähren soll [bearbeitet wird]. Denn ein Mensch, der nach dem Affekt lebt, wird auf eine Rede, die ihn davon abbringen will, nicht hören; er wird sie nicht mal verstehen. Wie aber soll es möglich sein, einen Menschen, der so verfasst ist, umzustimmen? EN X 10, 1179b20–28.

Diese Passage ist äußerst aufschlussreich und kann unser Verständnis der paideia und der sie bestimmenden Faktoren erweitern. Zunächst wird das Ziel genau benannt. Pädagogisches Handeln in Form von Gewöhnung und Belehrung zielt darauf, dass Vernunftgründe im Handelnden verbindlich werden, d. h. eine motivationale Kraft entfal­ ten. Dies kann nur geschehen, wenn sich die Seele des Lernenden »auf die richtige Weise freut und abgeneigt ist«100, d. h., wenn seine affektiven Dispositionen auf die richtige Weise eingerichtet werden. D. h., dass er auf die jeweiligen Verhaltensweisen und Situationen die richtige emotionale Reaktion zeigt. Sie kann in etwa subsumiert

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werden unter der Formulierung ›Das Gute wertschätzen und das Schlechte hassen‹. Die Gewöhnung, durch die dies geschehen soll, stellt demnach die Vorbereitung auf das Hören von belehrenden Worten dar. Das Bild, das Aristoteles gebraucht, um dies zu beschreiben, ist sprechend: Gewöhnung soll den Lernenden auf die Belehrung vorbereiten, so wie man den Acker durch Pflügen auf die Einpflanzung des Samens vorbereiten muss. Des Weiteren wird das Ziel der Gewöhnung noch einmal durch die Negativformulierung deutlich: Derjenige, der (noch) nicht durch Habituation einen guten Charakter erworben hat, lebt nach dem Affekt (ho kata pathos zōon). Ziel der Gewöhnung ist es also, nicht nach dem Affekt zu leben, d. h. ein so geartetes Verhältnis zu den eigenen Affekten zu gewinnen, dass Raum für Vernunftgründe ist bzw. dass Vernunftgründe verbindlich werden können oder bestim­ mend sind. Dies ist der zentrale Punkt, den Aristoteles über Habitua­ tion macht: Sie ermöglicht es, dass Vernunftgründe im Menschen motivationale Kraft entfalten können.101 Aristoteles nutzt für diesen Punkt ein reichhaltiges Vokabular: Derjenige, der durch die Gewöhnung auf die Belehrung vorbereitet ist, der wird ihr Gehör schenken, sich überzeugen lassen, sie sich zu Herzen nehmen. D. h., dass Vernunft nur so zur verbindlichen Handlungsmaxime für einen Menschen werden kann.102 Für den nach dem Affekt lebenden Menschen hingegen ist nur Zwang verbindlich. In ihm kann die Vernunft keine motivierende Wirkung entfalten. Er kommt so über tierische Antriebe nicht hinaus. Dies aber genau ist Ziel des menschlichen Daseins und wird durch paideia in der Verbin­ dung von Gewöhnung und Belehrung ermöglicht und verwirklicht, wenn sie gelingt.

101 Hierin liegt dann das zentrale Problem des Akratikers, der nach seinem pathos lebt und entscheidet: Die richtige Einsicht ist für ihn nicht handlungsmotivierend, weil sie nicht hinreichend mit den Gefühlsstrukturen vermittelt ist. Siehe dazu meine Diskussion in Kapitel 7. 102 Lawrence beschreibt das sehr zutreffend: Die Vernunft ist dann dasjenige, das dem Leben eine Form gibt: »such a life is constructed around the individual’s own sense […] of order, of beauty or the fine (to kalon), of the situationally appropriate, and, if successfully constructed […] it will indeed have that beauty, that radiant fineness, the agent takes it to have, the beauty of Human Life, a wonderful life.« Lawrence 2011, S. 237–238.

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1.2.4 Sinn und Möglichkeit der Rekonstruktion eines Curriculums Wie bereits herausgestellt, ist das in den Büchern VII und VIII geschilderte Erziehungsprogramm skizzenhaft und unvollendet. Wie Flashar richtig herausstellt, sind die darin aufgeworfenen Fragen und angeschnittenen Themen allerdings »von allgemeiner Bedeutung und gleichbleibender Aktualität«103. Darunter zählt er: »die Frage des Ausmaßes staatlicher Kompetenz in Erziehungsfragen, die Organisation der Curricula, das Verhältnis von intellektueller und charakterlicher Bildung, von zweckgerichteter Ausbildung (Schreiben, Lesen, Rechnen) zu zweckfreier Bildung (Musik, Dichtung, Philoso­ phie), die Rolle des Sports, die Wichtigkeit von Erholung und Entspan­ nung […].«104

Gerade weil die Ausarbeitung dieser Fragestellungen aber so allge­ mein, z. T. oberflächlich und mit anderen Aspekten unverbunden bleibt, ist es schwierig, ein aristotelisches Curriculum zu rekonstru­ ieren, das uns genau sagen könnte, wie Menschen tugendhaft wer­ den.105 Zumindest ist die geschilderte Laufbahn im Vergleich zum Beispiel zu Platons Entwurf in der Politeia geradezu holzschnittartig. Dieser Tatsache soll in der vorliegenden Untersuchung Rech­ nung getragen werden, indem weder ein aristotelisches Curriculum rekonstruiert noch ein aristotelisches Schulprogramm entworfen werden soll. Der Fokus liegt auf der Ausbildung der Tugend der phronēsis und der ihr zugrundeliegenden charakterlichen Tugenden. Es handelt sich in diesem Sinne um eine moralpsychologische Arbeit, deren Hauptausgangspunkt die Ethik (Nikomachische und Eudemi­ sche Ethik gleichermaßen) ist,106 zu der die Politik komplementär betrachtet wird.

Flashar 1983, S. 314. Flashar 1983, S. 314. 105 Einen Versuch, ein solches zu skizzieren, bietet Charles D.C. Reeve. Er stellt in seinem Beitrag zunächst Erziehungsziele vor und erörtert dann, mit welchen Metho­ den diese erreicht werden sollen. Vgl. Reeve 1998, S. 60–63. 106 Die Magna Moralia werden nur vereinzelt herangezogen, da ihre Echtheit inzwi­ schen als umstritten gilt. Vgl. Flashar 2013, S. 67. 103

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1.3 Definition der paideia durch ihr Ziel

1.3 Definition der paideia durch ihr Ziel Bei der Interpretation eines Philosophen, der selbst methodisch meist so vorgeht, dass er das Wesen einer Sache durch ihr Ziel bestimmt, liegt es nicht fern, diese Methode für den hier zu bestimmenden Begriff ebenfalls anzuwenden. Das Ziel der paideia besteht darin, dem Menschen die eudaimonia zu ermöglichen. Diese wiederum besteht in der Tätigkeit des vernünftigen Seelenteils gemäß der Tugend,107 und deshalb bildet diese das Ziel jeglicher pädagogischen Bestrebung. Damit die Tätigkeit der Seele im Sinne der Vernunft möglich ist, müs­ sen Triebe und Lüste allerdings nicht ausgemerzt, sondern vielmehr das Streben (orexis) des Menschen auf das Gute ausgerichtet werden. Das Ziel der Erziehung besteht für Aristoteles somit in der Kongruenz oder Harmonie des strebenden und des denkenden Seelenteils.108 Diese Auffassung äußert Aristoteles nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Politik.109 In beiden Werken findet sich darüber hinaus der Grundgedanke, dass die Ausrichtung des Strebens der Nährboden für die Ausübung der Vernunfttätigkeit sein muss.110 Aristoteles‹ teleologisches Denken kommt hier ganz zum Tragen. Vernunft hat Priorität in der Gesamtperspektive. Das heißt allerdings nicht, dass die Erziehung mit der Vernunft beginnt, wie Aristoteles in einer zentralen Passage der Politik verdeutlicht: τούτων δὲ ποίους μέν τινας εἶναι χρὴ τὴν φύσιν, διώρισται πρότερον, λοιπὸν δὲ θεωρῆσαι πότερον παιδευτέοι τῷ λόγῳ πρότερον ἢ τοῖς ἔθεσιν. ταῦτα γὰρ δεῖ πρὸς ἄλληλα συμφωνεῖν συμφωνίαν τὴν ἀρίστην: ἐνδέχεται γὰρ διημαρτηκέναι τὸν λόγον τῆς βελτίστης ὑποθέσεως, καὶ διὰ τῶν ἐθῶν ὁμοίως ἦχθαι. φανερὸν δὴ τοῦτό γε πρῶτον μέν, καθάπερ ἐν τοῖς ἄλλοις, ὡς ἡ γένεσις ἀπ᾽ ἀρχῆς ἐστι καὶ τὸ τέλος ἀπό τινος ἀρχῆς ἄλλου τέλους, ὁ δὲ λόγος ἡμῖν καὶ ὁ νοῦς τῆς φύσεως τέλος, ὥστε πρὸς τούτους τὴν γένεσιν καὶ τὴν τῶν ἐθῶν δεῖ παρασκευάζειν μελέτην: ἔπειτα ὥσπερ ψυχὴ Vgl. EN I 6, 1097b22–1098a19. Vgl. EN VI 2, 1139a25–26. »Was der denkende Teil bejaht und der strebende Teil verfolgt, muss dasselbe sein.« 109 Vgl. Pol. VII 13, 1332b5–6. Aristoteles betont hier, dass das Ziel der Erziehung darin besteht, dass vernünftiger und strebender (bzw. durch Gewöhnung beeinfluss­ barer) Seelenteil miteinander in Harmonie sind (symphōnen allēlois). Eine ähnliche Wortwahl findet sich in Pol. VII 15, 1334b9–10. Hier spricht Aristoteles von dem vollkommensten Einklang (symphōnia aristē), in den strebender und vernünftiger Seelenteil gebracht werden sollen. Die Steigerung des Adjektivs ›vollkommen‹ hebt diesen Punkt besonders hervor. 110 Vgl. EN X 10, 1179b20–31. Siehe meine Besprechung in Abschnitt 1.2.3. 107

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1. Einleitung

καὶ σῶμα δύ᾽ ἐστίν, οὕτω καὶ τῆς ψυχῆς ὁρῶμεν δύο μέρη, τό τε ἄλογον καὶ τὸ λόγον ἔχον, καὶ τὰς ἕξεις τὰς τούτων δύο τὸν ἀριθμόν, ὧν τὸ μέν ἐστιν ὄρεξις τὸ δὲ νοῦς, ὥσπερ δὲ τὸ σῶμα πρότερον τῇ γενέσει τῆς ψυχῆς, οὕτω καὶ τὸ ἄλογον τοῦ λόγον ἔχοντος. φανερὸν δὲ καὶ τοῦτο: θυμὸς γὰρ καὶ βούλησις, ἔτι δὲ ἐπιθυμία, καὶ γενομένοις εὐθὺς ὑπάρχει τοῖς παιδίοις, ὁ δὲ λογισμὸς καὶ ὁ νοῦς προϊοῦσιν ἐγγίγνεσθαι πέφυκεν. διὸ πρῶτον μὲν τοῦ σώματος τὴν ἐπιμέλειαν ἀναγκαῖον εἶναι προτέραν ἢ τὴν τῆς ψυχῆς, ἔπειτα τὴν τῆς ὀρέξεως, ἕνεκα μέντοι τοῦ νοῦ τὴν τῆς ὀρέξεως, τὴν δὲ τοῦ σώματος τῆς ψυχῆς. Es bleibt also noch übrig zu untersuchen, ob bei der Erziehung die Vernunftbildung oder die Gewöhnung vorangehen muss, denn so viel ist gewiss, dass beide in den vollkommensten Einklang miteinander gebracht werden müssen, weil es ebenso sehr möglich ist, dass die Vernunft das beste Grundprinzip verfehlt, wie dass man durch die Gewöhnung in gleicher Weise irregeleitet wird. Hier ist nun zunächst deutlich, dass wie überall, so auch hier die Entwicklung (genesis) bei einem Anfangspunkt beginnt und das Ende wiederum Anfang für ein anderes Ende ist; die Vernunft (logos) und das Einsehvermögen (nous) sind aber Endziel unserer Natur, folglich muss man auf diese hin die Entwicklung (genesis) des Menschen und die Bemühung um die Gewohnheiten richten. Ganz in derselben Weise ferner, wie Seele und Leib zweierlei sind, unterscheiden wir wiederum in der Seele zwei Teile, den unvernünftigen (alogon) und den vernunftbegabten (logon echon), und die Verhaltensweisen (hexis) beider, Streben (orexis) und Einsehen (nous); und geradeso wie der Körper seiner Entstehung nach früher ist, als die Seele, so ist auch der unvernünftige Teil der letzteren früher als der vernunftbegabte. Auch dieses liegt offen zutage, denn Erregung (thymos) und Wollen (boulēsis) sowie die Begierde (epithymia) sind bei den Kindern gleich nach der Geburt vorhanden, Überlegen (logismos) und Einsehen (nous) aber entwickeln sich naturgemäß nach und nach mit zunehmendem Alter. So muss also die Sorge für den Körper der für die Seele notwendig vorangehen, und dann muss zunächst die richtige Pflege des Strebevermögens nachfolgen, so jedoch, dass man bei der Ausbildung des Körpers die der Seele und bei der des Strebevermögens die des Einsehvermögens als Ziel im Auge hat. Pol. VII 15, 1334b7–28.

Aristoteles formuliert zwei unterschiedliche Prioritäten. Mit Blick auf das Ziel der Erziehung hat die Vernunft Priorität vor dem Streben. Mit Blick auf die Entwicklung jedoch hat das Streben Priorität vor der Vernunft. Aristoteles bezieht sich mit der Aussage über die

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1.3 Definition der paideia durch ihr Ziel

teleologische Priorität der Vernunft auf das Ergon-Argument.111 Das Endziel der menschlichen Natur und damit das Glück (eudaimonia) besteht für Aristoteles darin, die Seele im Sinne der Vernunft zu betätigen (psychēs energeia kata logon).112 Deshalb besteht das Ziel der Erziehung darin, die Aktivität des vernünftigen Seelenteils zu ermöglichen, was nur möglich ist, wenn die Vernunft (logos) und die auf ihr beruhenden rationalen Vermögen ausgebildet sind und aktualisiert werden können. Da die Vernunft und das Tätigsein des vernünftigen Seelenteils das höchste Ziel der Erziehung darstellen, ist es für Aristoteles geboten, dass sich alle anderen Erziehungsschritte auf dieses Ziel hin ausrichten müssen, so auch die Habituation, die als Ausrichtung des Strebens verstanden werden muss. Das Streben (orexis) ist die Tätig­ keit des arationalen Seelenteils. Dieser ist der Vernunft teleologisch nachgeordnet, hat aber genetische Priorität, da er zuerst entsteht. Aufgrund der zeitlichen Ausdehnung der Erziehung, muss sie sich nach der Entstehung bestimmter natürlicher Eigenschaften rich­ ten. Aristoteles formuliert hier deswegen eine Opposition: Das Stre­ ben des Kindes ist von Anfang an (euthys) vorhanden und deshalb die erste Eigenschaft des Menschen, auf die die Erziehung einwirken kann.113 Erst wenn Einsicht und Überlegung hinzukommen, also im 111 Vgl. EN I 6, 1097b22–1098a20. Da die Nikomachischen Ethik gemeinhin als das reifere Werk gilt, mag es verwundern, inwiefern hier ein Rückbezug auf die Nikoma­ chische Ethik aus der Politik möglich ist. Allerdings ist die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bücher der Politik weiterhin unklar und umstritten. Vgl. Flashar 1983, S. 231–232. Am Schluss der Nikomachischen Ethik (EN X 10, 1181b15–23) wird zur Politik übergeleitet und auf den Inhalt der Bücher II – VIII verwiesen. Es gibt demnach viele verschiedene Interdependenzen und es ist davon auszugehen, dass, auch wenn die Nikomachische Ethik zur Zeit der Verfassung der Politik noch nicht verfasst oder fertiggestellt war, Aristoteles einzelne Elemente oder Argumente (wie das ErgonArgument) vorher bereits eigenständig formuliert hatte. Fragen der Chronologie ein­ zelner Werke sind in der Forschung insgesamt aber immer mehr in den Hintergrund gerückt. Vgl. Flashar 1983, S. 227. 112 Vgl. EN I 7, 1098a7f. 113 Als Formen des Strebens zählt Aristoteles hier thymos, boulēsis und epithymia. Von der Argumentationsstruktur ist deutlich, dass Aristoteles hier einerseits rationale und andererseits affektive Fähigkeiten einander gegenüberstellen will. Der Begriff der boulēsis ist deshalb hier verwunderlich, weil er eigentlich ein vernunftgeleitetes Wünschen bzw. rationales Streben bezeichnet (vgl. EN III 4, 1111b19–29, De an. III 9, 432b5–6, Rhet. I 10, 1369a1–4) und Kindern nicht zugeschrieben werden kann. Aufgrund des Kontextes und auch aus dem Satzbau lässt sich aber ableiten, dass Aristoteles von arationalen Seelenvermögen des Kindes spricht, die den rationalen

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1. Einleitung

Kind entstanden sind, können auch diese geschult und gefördert wer­ den. Mit Blick auf die Genese hat jedoch der Körper Priorität gegen­ über der Seele, die aus Streben und Vernunft besteht. Deshalb zieht Aristoteles das Fazit seiner Überlegungen folgendermaßen: Die Pflege für den Körper muss der der Seele vorangehen. Damit ist das Aufziehen und Pflegen (trophē) gemeint, das in den ersten (sieben) Lebensjahren hauptsächlich auf körperliche Aspekte ausgerichtet ist: Angemessene Versorgung mit Nahrung, Gewöhnung an Kälte sowie ausreichende Bewegung und altersgerechte Spiele.114 Dann folgt die Sorge um das Streben, die Habituation, in der der arationale Seelenteil auf die Vernunft hin ausgerichtet wird, und zuletzt die intellektuelle Förderung zur Ausbildung und Schulung von Vernunft und Urteils­ kraft. Diese Priorisierungen im zeitlichen Ablauf der Erziehung, die Aristoteles in Politik VII 15 vornimmt, haben verschiedene Interpre­ ten dazu veranlasst, von zwei oder drei aufeinander folgenden Erzie­ hungsphasen zu sprechen.115 Dies ist jedoch kritisch zu hinterfragen. Es ist davon auszugehen, dass Aristoteles keine strikt dichotomische Konzeption von Erziehung vertritt, sondern diese Dichotomie metho­ disch nutzt. Um dies zu erläutern, muss einerseits untersucht werden, welche Rolle die dichotomische Anlage der Erziehung in Aristoteles‹ Gesamtvorhaben hat. Andererseits müssen aber auch die Grenzen dieser Methodik berücksichtigt werden. Dabei wird sich zeigen, dass Aristoteles zwar zwei unterschiedliche Erziehungsmodi begrifflich voneinander unterscheidet, sich diese innerhalb der menschlichen Entwicklung jedoch nicht als strikt voneinander getrennt aufeinan­ derfolgend denken lassen, wenn man Aristoteles‹ Auffassungen über das Kind und seine Entwicklung in Betracht zieht.116 Fassen wir also zusammen: Aristoteles konzipiert paideia als einen zweigliedrigen Prozess, der aus Gewöhnung auf der einen und Belehrung auf der anderen Seite besteht. Gewöhnung soll die kontrastierend gegenübergestellt werden. Eine Möglichkeit, zu erklären, dass hier auch boulēsis steht, wäre, dass das Vokabular der Politik noch nicht so ausgefeilt ist und Aristoteles boulēsis erst später nur in der strikten Definition als rationales Streben verwendet hat, es hier aber einfach gebraucht, um allgemein ein kindliches Wünschen im Sinne eines Wollens zu bezeichnen. 114 Vgl. Pol. VII 17, 1336a2–1336b2. 115 Vgl. Tobin 1989, McGowan Tress 1997, Reeve 1998. 116 Vergleiche meine Diskussion in Abschnitt 4.6.

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1.4 Kurzer Überblick über den Forschungsstand

affektiven Dispositionen des Menschen so einrichten, dass sie mit dem, was die Vernunft als Ziel setzt, übereinstimmt. Deshalb muss die Gewöhnung der Belehrung zeitlich vorausgehen. Resultat des Prozesses ist, dass der Mensch im Sinne seiner Vernunft tätig werden kann. Die paideia ist somit fundamentaler Ermöglichungsgrund für die eudaimonia.

1.4 Kurzer Überblick über den Forschungsstand Das Thema der Erziehung bei Aristoteles ist aus verschiedenen Grün­ den in der Forschung nicht besonders beachtet worden. Der erste Grund ist der Kommentartradition inhärent. Erziehung im engeren Sinne gehört bei Aristoteles nicht zu den klassischen Themen, weil sich die Kommentartradition an einzelnen Werken orientiert und keine selbstständige Schrift über die Erziehung bei Aristoteles über­ liefert ist.117 Der zweite Grund für die Vernachlässigung des Themas der Erziehung bei Aristoteles liegt aber in dem, was überliefert ist. Das in Buch VII und VIII der Politik überlieferte Curriculum ist weder besonders originell noch sonderlich umfassend. Vielmehr handelt es sich offenbar um eine nicht vollendete oder nicht vollständig vorliegende Untersuchung der Erziehung, die vor allem die Frage beleuchtet, inwiefern Erziehung für den Staat und seine Bürger eine Rolle spielt.118 Trotz der Kürze und Überblicksartigkeit der dortigen Ausführungen, finden sich hierin einige Aspekte, die die Aufmerk­ samkeit zeitgenössischer Aristoteles-Forscher erlangt haben, so zum Beispiel das Postulat, dass Erziehung die gleiche für alle sein sollte.119

117 Diogenes Laertios verweist auf eine Schrift mit dem Titel ›Peri paideias‹. Davon sind allerdings nur Fragmente erhalten. Vgl. Schuhl et al. 1968. S. 143–145. 118 Darauf geht beispielsweise Reeve ein. Er liefert einen guten Überblick über die Primärstellen, die für das Verhältnis von Erziehung und Staat relevant sind. Eine prägnante Thesenbildung bleibt leider aus. Vgl. Reeve 1998. 119 Randall Curren entwickelt in seiner Monographie Aristotle on the Necessity of Public Education beispielsweise ein Theoriegebäude für zeitgenössische Erziehung und Bildung, welches er aus den Maßgaben des Aristoteles ableitet. Das Postulat der gleichen Erziehung für alle nutzt er als Argument dafür, Kinder unterschiedlicher Hintergründe und Talente gemeinsam miteinander zu unterrichten. Er sieht dieses Prinzip als Garant für Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der Gesellschaft. Vgl. Curren 2000.

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1. Einleitung

Die Vernachlässigung des Themas lässt sich jedoch systema­ tisch nicht rechtfertigen. Edmund Braun, der eine sehr hilfreiche Textsammlung120 von Passagen zusammengestellt hat, die in Bezug auf die paideia relevant sind, erklärt dazu zutreffend, »dass das Auseinander und scheinbare Durcheinander der über das ganze aristotelische Werk verstreuten Erörterungen über die Paideia nicht ein Fehlen einer grundlegenden philosophischen Theorie bedeu­ tet, sondern vielmehr einem Plan folgt, der seine Voraussetzung in der aristotelischen Anthropologie hat und sich letztlich auf die von Aristoteles entwickelte Ontologie, speziell seine Werdelehre, gründet, dergestalt, dass sie den Horizont darstellt, in dem Aristoteles seine Lehre von der Paideia als dem Vollzug der Selbstkonstitution des Menschen behandelt.«121

Und die Selbstkonstitution des guten Menschen ist es, die in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt steht. Es handelt sich insofern um eine moralpsychologische Arbeit, die sich mit der Frage beschäf­ tigt, wie ein guter Mensch entsteht. Diese Fragestellung wurde in signifikanter Weise von Myles Burnyeat wieder in den Fokus der Forschung gebracht, der mit seinem Artikel Aristotle on Learning to Be Good, welcher 1980 erschien, den Beginn einer andauernden Debatte darstellt.122 Er bezeichnet darin das durch den Prozess der Habituation (ethos) erworbene Reaktionspotential als »fabric of character«123, also als den Stoff, aus dem der Charakter gemacht ist. Damit meint er, dass die in der Kindheit erworbenen dispositionalen Strukturen auch für den erwachsenen Akteur und seine vernunftgeleitete Moralität wei­ terhin von Bedeutung sind.124 Dieses geflügelte Wort griff Sherman 1989 als Titel für ihre Dissertation The fabric of character auf, in der sie den Schwerpunkt auf das Erlernen emotionaler Reaktionen legt.125 Braun 1974. Braun 1974, S. 168. 122 Vgl. Burnyeat 1980. 123 Ebd., S. 80. 124 Vgl. ebd., S. 80. Benjamin Kiesewetter liegt deshalb m. E. mit der Übersetzung als ›Fabrik des Charakters‹ falsch, auch wenn der Aspekt der ›Produktion‹ des Charakters bzw. von charakterlichen Haltungen im Zentrum des Aufsatzes steht. Vgl. Burnyeat 2006, S. 227. ›Fabric‹ bedeutet im Englischen eben Stoff oder Gewebe und bezeichnet das, woraus etwas gemacht ist. Burnyeat hält die (emotionalen) Reaktionen, die nicht aus der reflektierenden Vernunft stammen, für dieses Gewebe oder für den Stoff, aus dem der Charakter gemacht ist. 125 Sherman 1989. 120 121

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1.4 Kurzer Überblick über den Forschungsstand

Diese Pionierarbeit ist die erste Arbeit in diesem Themenbereich, die einen echten moralpsychologischen Schwerpunkt hat und die sich ernsthaft damit beschäftigt, den Prozess der Charakterschulung in seinen verschiedenen Aspekten zu untersuchen. Sherman nimmt auch erstmalig die Eltern-Kind-Beziehung bei Aristoteles mit Blick auf diese systematische Fragestellung unter die Lupe.126 Ein großes Manko dieser Arbeit ist allerdings, dass Sherman vor allem von der Theorie der Emotionen in der Rhetorik ausgeht,127 in der die kogniti­ ven Gehalte von Emotionen eine große Rolle spielen, und sie so zu einer eher intellektualistischen Deutung des Habituationsprozesses gelangt, den sie als Prozess auffasst, der sehr stark von verbalen Instruktionen geprägt ist. Dabei vernachlässigt sie den Aspekt des Lernens durch Handeln, den Aristoteles so betont. Dies ist in verschie­ dener Hinsicht zu kritisieren.128 Eine grundsätzlich sehr gelungene Analyse der aristotelischen Moralerziehung beispielsweise bildet die Monografie von Kristján Kristjánsson Aristotle, Emotions and Education. Sie bietet sowohl für die Leserschaft innerhalb der Aristoteles-Forschung wie auch außerhalb einen bündigen Überblick über Aristoteles‹ Auffassung von Erziehung und Charakterformung. Ihre Bezüge zur zeitgenös­ sischen Forschung im Bereich der Psychologie und der Lern- und Bildungsforschung, vor allem mit Blick auf emotionale Erziehung, machen sie sehr instruktiv.129 Darüber hinaus ist die Frage nach der Entstehung des moralisch guten Menschen Teil zahlreicher moralphilosophischer und moral­ psychologischer Tagungen und Beiträge zu Aristoteles,130 was vor allem dem Wiedererstarken des allgemeinen Interesses an einer Tugendethik antiker bzw. aristotelischer Prägung zu verdanken ist. Meine Arbeit stellt den Versuch dar, die Frage nach der Ent­ stehung des moralisch guten Menschen mit Blick auf die gesamte aristotelische Philosophie sinnvoll und kohärent zu beantworten. Eine Schwierigkeit, die mit dieser Fragestellung verbunden ist, besteht darin, dass sie viele große Themen der aristotelischen Philosophie berührt, und sich deshalb mit vielen Debatten auseinandersetzen Vgl. Sherman 1989, S. 151–156 und S. 164–199. Vgl. Sherman 1989, S. 169 und Sherman 1999b, S. 240. 128 Vgl. Meine Ausführungen in Abschnitt 8.3. 129 Vgl. Kristjánsson 2007. 130 Zu nennen sind hier Sherman 1999a, Carr/Steutel 1999a, Rapp/Wagner 2006, Pakaluk/Pearson 2011, Mesch 2013. 126

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1. Einleitung

muss, die tief und breit geführt werden: Anthropologie (Was ist der Mensch?), Ethik (Welches Leben soll der Mensch führen?), Hand­ lungstheorie (Welche Handlungen sind dem Menschen zuzuschrei­ ben und wie ist moralische Verantwortung zu attribuieren?), Onto­ logie (Wie ist Lernen/Charakterformung als Veränderungsprozess möglich?), Epistemologie (Was kann der Mensch wissen und verste­ hen?). Ich bin jedoch der Meinung, dass die Gesamtperspektive, die in der vorliegenden Untersuchung eingenommen wird, einen wertvollen Beitrag zu diesen Einzeldebatten leisten kann, insbesondere in Bezug auf moralische Motivation bei Aristoteles und das Verhältnis von Emotion und Vernunft beim moralischen Akteur.

1.5 Aufbau und Hauptergebnisse der vorliegenden Untersuchung Ziel des ersten Teils dieser Arbeit ist es, alle Aspekte einer Theorie der Erziehung entsprechend Aristoteles‹ Verständnis von paideia möglichst präzise zu rekonstruieren. Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung wird dann in detaillierter Weise auf den Begriff der moralischen Motivation und deren Entstehung eingegangen. Im ersten Teil der Rekonstruktion der Theorie der (moralischen) Erziehung bei Aristoteles geht es darum, zentrale Begriffe einer Theo­ rie der Erziehung zu entfalten und ihren Zusammenhang zu klären. Zunächst wird durch eine Analyse des Naturbegriffs bei Aristoteles untersucht, inwiefern die Natur für die Erziehung eine Rolle spielt (Kapitel 2). Dabei wird sich herausstellen, dass Aristoteles mit Natur (physis) sowohl die Ausgangslage des Erziehungsprozesses als auch ihr Ziel im Sinne eines Idealziels bezeichnet. Eine dritte Bedeutung des Naturbegriffes, der für die vorliegende Arbeit ebenso wichtig ist, ist die des natürlichen Potentials zu Entwicklung. Ich werde zeigen, dass natürliche Entwicklungsprozesse und erzieherische Maßnahmen für Aristoteles ein komplementäres System bilden. Der nächste Schritt besteht in einer exegetischen Analyse des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik mit Blick auf den Begriff der Gewöhnung bzw. Habituation (ethos) (Kapitel 3). In diesem Kapitel erarbeite ich die Grundanforderungen, die Aristoteles in Bezug auf den Prozess der Habituation stellt. Es folgt eine Abgrenzung des Begriffs der Habituation zum Begriff der Instruktion (Kapitel 4). Im Anschluss geht es um das Subjekt des Erziehungsprozesses: das Kind (Kapitel 5).

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1.5 Aufbau und Hauptergebnisse der vorliegenden Untersuchung

Bekanntermaßen vergleicht Aristoteles Kinder mit Tieren, weil er als ihr Hauptmerkmal eine mangelnde Vernunftfähigkeit ansieht. Wie aber soll aus einem arationalen Kind ein rationaler Akteur werden? In diesem Kapitel werde ich das Konzept der Kindheit bei Aristoteles rekonstruieren und zeigen, dass Kinder zumindest aufgrund ihrer Fähigkeit, passiv an der Vernunft eines Erwachsenen teilzuhaben, erziehungsfähig sind. In diesem Zuge werde ich auch das ideale Verhältnis zwischen Kind und erzieherischer Bezugsperson erörtern und untersuchen, ob das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern diesem Idealverhältnis entspricht (Kapitel 6). Im nächsten Teil der Arbeit geht es um den Erwerb moralischer Motivation (Kapitel 7). Moralische Motivation ist das, was dem unbeherrschten Menschen (akratēs) fehlt. Deshalb widme ich mich in diesem Teil zu Beginn dem Begriff der Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles, die das Gegenbild zur Tugend bildet. Gerade der Begriff der akrasia ist von besonderer Bedeutung, da der akratische Mensch, trotz des Wissens um das Gute und Richtige, dennoch nicht in der Lage ist, dieses in seinem Handeln umzusetzen. Die akrasia ist insofern mit Blick auf die moralische Motivation aufschlussreicher als bloße Schlechtigkeit. Durch die Analyse des Verständnisses der Wil­ lensschwäche bei Aristoteles lässt sich besonders gut aufzeigen, was er unter dem Ziel der Erziehung, der Tugend, versteht. Dieses wird in Abgrenzung zu Sokrates und Platon besprochen, um die aristotelische Innovation als Kritik am sokratischen Intellektualismus und dessen Weiterentwicklung bei Platon in Form eines starken Internalismus herauszustellen. Daran anschließend werden die Grundaspekte einer allgemeinen Theorie der Bewegung von Lebewesen entfaltet und die aristotelische Theorie der Motivation metaethisch eingeordnet. Ich werde dafür argumentieren, dass Aristoteles als schwacher Internalist zu verstehen ist, was bedeutet, dass ein kognitver Gehalt ein Lebe­ wesen immer nur in Verbindung mit einem Streben bewegen kann, wobei der Zusammenhang zwischen Streben nach dem Guten und Einsicht in das Gute nicht kontingent ist. Im letzten Kapitel werde ich im Detail diskutieren, wie mora­ lische Motivation im Kind entsteht (Kapitel 8). Dabei werde ich zeigen, dass Aristoteles Habituation als Prozess des angeleiteten Handelns versteht, in dem Kinder Pro-Einstellungen in Bezug auf tugendhafte Handlungen entwickeln. D. h., dass positive Gefühle mit tugendhaften Handlungen verbunden werden. Weiterhin geht es in diesem Prozess darum, die Wahrnehmung des Kindes mit Blick auf

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1. Einleitung

Situationen zu schulen, die tugendhaftes Handeln erfordern, sowie eine mittlere Haltung zu den eigenen Emotionen auszubilden. Dies gelingt nicht nur durch angeleitetes Handeln, sondern auch durch die Nachahmung eines Vorbildes, welches das Kind aktiv nachahmt (mimēsis). Zuletzt gehe ich auf das Resultat des Erziehungsprozesses ein, indem ich schildere, inwiefern eine Harmonie in der Seele des phronimos besteht: In ihm sind die verschiedenen Wertkategorien des menschlichen Lebens – das Lustvolle, das Zuträgliche und das Angenehme – in völligem Einklang.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)131

Der Naturbegriff hat innerhalb der Aristoteles-Forschung, wie auch außerhalb, sehr viel Aufmerksamkeit erhalten, vor allem in der Frage der Ethikbegründung auf Grundlage der Natur des Menschen. Unabhängig von dieser Debatte ist das an mancher Stelle explizite, an mancher Stelle implizite Verständnis von dem, was mit erster und zweiter Natur bezeichnet werden soll, wichtig für eine Untersuchung der paideia. Wenn man unter erster Natur alle natürlichen und angeborenen Eigenschaften eines menschlichen Kindes fasst, und unter zweiter Natur alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die es durch Sozialisation erwirbt, sozusagen die Kultur, dann ließe sich paideia als Übergang von der ersten zur zweiten Natur verstehen. Deshalb spielt sowohl der Naturbegriff als solcher als auch seine Differenzierungen in erste und zweite (und eventuell wahre oder vollendete) Natur bei Aristoteles eine zentrale Rolle für die Frage der erfolgreichen paideia. Im Folgenden sollen zunächst die verschiedenen Bedeutungsdi­ mensionen des Begriffs der Natur (physis) bei Aristoteles im Wesent­ lichen aufgezeigt werden. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Aristo­ teles ein teleologisches Naturverständnis hat, das beispielsweise von einem szientistischen Verständnis des Naturbegriffs strikt zu unter­ scheiden ist.132 Die teleologische Dimension des Naturbegriffs ergibt sich dadurch, dass ein natürliches Lebewesen für Aristoteles immer zu einer Art gehört, der spezifische Ziele und damit spezifische Funktio­ nen zuzuordnen sind. Unter ›Natur‹ versteht Aristoteles dann sowohl »ein internes Prinzip von Veränderung und Ruhe«133, wie auch Zielund Endpunkt einer natürlichen Entwicklung. Da das Erreichen des Wesentliche Ergebnisse dieses Kapitels sowie der Abschnitte 3.2 und 3.3 wurden veröffentlicht auch in Summa 2022a. 132 Die Aufsplittung des Naturbegriffs in eine verzauberte Natur und eine wis­ senschaftlich erschließbare Natur, wie sie McDowell vornimmt, ist deshalb gänz­ lich unaristotelisch. 133 Leunissen 2011, S. 348. 131

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

Ziels als Vollendung der Artnatur einer natürlichen Spezies immer als Entfaltung und Verwirklichung natürlich angelegter Vermögen und Potentiale verstanden werden muss, sind die Begriffe Vermögen (dynamis) und Vervollkommnung (entelecheia) zentrale Begriffe der natürlichen Teleologie bei Aristoteles.134

2.1 Wesentliche Elemente der aristotelischen physisKonzeption Der Begriff ›physis‹ bei Aristoteles zeichnet sich durch eine kon­ zeptionelle Vielschichtigkeit aus, die darin begründet ist, dass er »die traditionellen Bedeutungen von physis rezipiert und sie mit je unterschiedlicher Gewichtung in seine begriffliche Konzeption integriert.«135 Die Grundbedeutung des Wortes umfasst Ursprung, Geburt, natürlich gewachsene Gestalt oder gar Kreatur bis hin zu Natur im Sinne einer natürlichen Ordnung.136 Innerhalb der aristotelischen Philosophie sind jedoch vier sys­ tematisch bedeutsame Verwendungsweisen zu unterscheiden:137 Im physikalischen und im metaphysischen Sinne kann physis als Bewe­ gungsursache (1), als Formal- und Finalursache (2), als Substanz oder Essenz (3) sowie als physisches Material (4) einer Entität verstanden werden. Die aristotelische Konzeption des Naturbegriffs ist daher in engem Zusammenhang mit seiner Ursachenlehre zu sehen.138 Die physis als Bewegungsursache unterscheidet die natürlichen Dinge von künstlich hergestellten Dingen. Jedem natürlichen Lebe­ wesen oder Ding wohnt die Natur als seine Bewegungsursache inne und ist verantwortlich für jegliche Art von Veränderung (kinēsis) 134 Besonders ausführlich entwickelt Aristoteles seine Lehre von einer natürlichen Teleologie im zweiten Buch der Physik. Damit wendet er sich zum einen gegen ein Modell der Teleologie platonischen Typs, in dem die Zweckgerichtetheit der Natur durch einen planvollen Schöpfergott begründet wird, zum anderen gegen einen mate­ rialistischen Reduktionismus, wie er zum Beispiel von Empedokles formuliert wurde, und dem die Annahme zugrunde liegt, dass sich alle Naturprozesse auf eine materiale Notwendigkeit reduzieren ließen. Vgl. Leunissen 2011, S. 348. 135 Müller 2006, S. 15. 136 Vgl. Althoff 2005, S. 455. 137 Vgl. ebd., S. 456. 138 Aristoteles entwickelt seine Ursachenlehre im Kap II 3 der Physik und in Buch I 3 der Metaphysik.

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2.1 Wesentliche Elemente der aristotelischen physis-Konzeption

oder Bestand (stasis), Wachstum (auxēsis) und Vergehen (phthisis) sowie Eigenschaftsveränderung (alloiōsis).139 Aristoteles definiert natürliche Lebewesen und Dinge also dadurch, dass diese die Ursache für Bewegung sowie Ruhe, Wachstum und Veränderung in sich selbst tragen.140 Dieser Aspekt des physis-Begriffs lässt sich als seine autopoietische141 oder dynamische142 Dimension bezeichnen. In einem essentialistischen Verständnis hat der Begriff der physis Überschneidungspunkte sowohl mit dem Begriff Art(-form) (eidos) wie auch mit dem Begriff des Wesens (ousia), insofern die Natur einer Sache ihr eigentümliches Wesen, ihre Essenz bezeichnet.143 Im Bereich der Genese kann die Natur sowohl als Formal- als auch als Finalursache auftreten: Durch sie gewinnt eine Sache ihre Form und strebt ihrem Seinsziel entgegen. Die Natur im Sinne ihres eigentüm­ lichen Wesens ist Ziel (telos) ihres Daseins.144 Die Schwierigkeit besteht darin, dass aufgrund dieser Bestim­ mungen ein dynamisches Verständnis der Natur als Ursache für einen natürlichen Entstehungs- und Entwicklungsprozess und ein essentia­ listisches Verständnis von Natur im Sinne von Essenz, auf die hin sich alles ausrichtet (teleologisches Verständnis), zusammenfallen. In der Genese können Anfang und Ende, Bewegungsimpuls und Ziel somit identisch sein. Natur ist damit eine innere anfängliche Ursache der Veränderung (archē), welche auf ein Ziel (telos) ausgerichtet ist, welches durch die Form (eidos) des Lebewesens bestimmt wird. Die Natur einer Sache macht diese Sache zu dem, was sie ist, sie verursacht einen Existenzmodus. Für natürliche Gegenstände und auch für die Vgl. Phys. II 1, 192b13ff. Fossheim hält ›Bewegungsursache‹ für die Grundbedeutung von physis und meint, dass sich aus ihr alle anderen Bedeutungen des Begriffs ableiten ließen. Vgl. Fossheim 2003, S. 12. Wenn man Natur als Telos als primär Bewegendes annimmt, ist dies durchaus denkbar, stellt jedoch eine wenig gewinnbringende Verkürzung dar. Möchte man unbedingt eine einzige Wortbedeutung festhalten, so ist am überzeu­ gendsten der Vorschlag von Jörn Müller, Natur schlechthin als »zweckhaft arbeitendes inneres Prinzip des bestimmten natürlich Seienden« zu verstehen. Vgl. Müller 2006, S. 22. Es bleibt trotzdem zu bedenken, dass die anderen Bedeutungen »keineswegs Äquivokationen (des physis-Begriffs) sind, sondern sich in analoger Weise im Rahmen einer pros-hen-Relation auf diese Grundbedeutung« beziehen. Vgl. Müller 2006, S. 22. 141 Vgl. Müller 2006. 142 Vgl. Morel 1997. 143 Vgl. De part. anim. II 1, 646b14ff. 144 Vgl. Pol. I 2, 1252b31–34. 139

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

meisten Lebewesen ist die Natur daher notwendige und hinrei­ chende Ursache ihres Seins.145 Mit der Wendung physei bezeichnet Aristoteles, was jeweils von Natur aus existiert bzw. auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen ist. Damit können die bisher erläuterten Dimensionen der physis gemeint sein. ›Ein Mensch strebt von Natur aus nach Glück‹ oder ›Es liegt in der Natur des Auges zu sehen‹ usw. sind beispielsweise Aussagen, in denen die essentialistische Bedeutung des Wortes zum Tragen kommt. Darüber hinaus kann die Wendung ›von Natur aus‹ die Bedeu­ tung ›von Geburt an‹ oder ›von Anfang an‹ haben. Natürliche Eigen­ schaften sind dann zu verstehen als angeborene Eigenschaften, die einem Lebewesen von Geburt an zukommen, wenn es ›gesund‹ geboren wird, oder die ihm im Laufe seiner Entwicklung zukommen, wenn nichts Äußeres diese Entwicklung hindert.146

2.2 Das Artprinzip und die Teleologie in der Natur Aus dieser Perspektive gibt es für jedes Lebewesen ein spezifisches Telos, das durch die Zugehörigkeit zu einer Art definiert wird. Und dies bezieht sich sowohl auf die erste als auch die zweite Vollendungs­ stufe (Entelechie) dieses Lebewesens. Der Weg in das vollkommene Sein eines Lebewesens kann so als teleologischer Prozess verstanden werden, der sich in zwei Schritten vollzieht. Der erste Schritt ist die Entstehung eines Lebewesens in seiner vollen körperlichen Integrität, welche in der englischen Literatur tref­ fend als ›coming-to-be‹ bezeichnet wird. Dieser Prozess beinhaltet,

145 Dies gilt allerdings nur unter günstigen Umständen, bzw. der Abwesenheit von Verhinderungsgründen. Zur Frage der Ursache von Privationen siehe Abschnitt 2.4. Ich werde im Folgenden darauf eingehen, dass für Aristoteles die Natur eben nicht für alle Lebewesen allein und vollständig für ihr Sein verantwortlich ist, sondern dass er von einer gestuften Ontologie ausgeht. Für manche Wesen ist die Natur allein bestimmend für ihr Verhalten, für Menschen jedoch und auch für einige andere höhere Säugetiere sind es ebenso durch Gewöhnung erworbene Eigenschaften, und für den Menschen darüber hinaus die Vernunft. Vgl. Met. A 1; Pol. VII 13, 1332a38–b11, Phys. II 8, 199a20–30. 146 Vgl. EE II 8, 1224b29–35. Phys. II 8, 199b15–18.

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2.2 Das Artprinzip und die Teleologie in der Natur

dass das Lebewesen funktionale Körperteile147 ausbildet, »die dem Individuum ebenso zum eigenen Leben bzw. Überleben wie auch zur Perpetuierung der Spezies nützlich sind.«148 Nützlichkeit und Zweckdienlichkeit (das hou-heneka) fallen hier zusammen: »Die Kör­ perteile entstehen um des ganzen Organismus willen und erweisen sich zugleich in ihrer fundamentalen Nützlichkeit als notwendige Voraussetzungen für dessen Existenz bzw. Funktionalität.«149 Die organische Beschaffenheit eines Lebewesens erklärt sich jeweils aus seinen spezifischen Bewegungs- und Strebenszuständen.150 Die natürliche Teleologie findet ihren Abschluss aber noch nicht in der Entstehung eines Lebewesens, sondern erst in dessen Tätigsein (energeia), der zweiten Entelechie. Auf dieser Betrachtungsebene stellt sich ein voll ausgebildeter Körper als Potential dar, die Tätigkei­ ten aktual auszuüben, die dem Lebewesen aufgrund seiner Artzuge­ hörigkeit potenziell zukommen. Ein Löwe beispielsweise hat Klauen zum Jagen. Was wäre ein Löwe ohne Klauen? Genau genommen ist dies undenkbar, denn sie stellen einen integralen Bestandteil seiner körperlichen Beschaffenheit dar und dienen ihm bei seiner charakteristischen Tätigkeit, dem Jagen. Die Klauen sind dem Löwen insofern nützlich, als sie ihm und seiner Art das Überleben ermögli­ chen. Zudem ermöglichen sie ihm eine für ein Raubtier essenzielle Tätigkeit: das Jagen – eine Tätigkeit, ohne die der Begriff ›Löwe‹ nicht bedeutungsvoll wäre und eine Tätigkeit, ohne die die Art ›Löwe‹ nicht überleben könnte, d. h. nicht existieren könnte. Die Klauen sind also in mehrfacher Hinsicht für den Löwen und seine Existenz essenziell. Der Begriff des ergon ist mit dem Begriff der aretē, d. h. der Bestform, eng verbunden. Das Jagen ist nicht nur gut und nützlich für den Löwen (als Individuum und als Art). Wenn er jagt, entspricht der Löwe seiner Art auf eine besonders gute Weise im Sinne der artspe­ zifischen aretē. Der gleiche Zusammenhang gilt für den Menschen. Der Begriff der ›aretē‹ bezeichnet daher nicht primär die moralische Ein gutes Beispiel für ein solches funktionales Körperteil ist die menschliche Zunge. In De part. anim. II 17, 660a2ff. beschreibt Aristoteles sehr genau, warum gerade die Form der menschlichen Zunge besonders gut dazu geeignet ist, sprachliche Laute zu formen. 148 Müller 2006, S. 52. 149 Ebd. Das Konzept der zielgerichteten Funktionalität betrifft nicht nur Lebewesen wie Menschen oder Tiere, sondern auch Pflanzen und künstlich hergestellte Gegen­ stände (Artefakte). 150 Vgl. Wolf 2010, S. 295. 147

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

Tugendhaftigkeit, sondern zunächst allgemein eine natürliche Gutheit oder Vollkommenheit, die sich in der Verwirklichung (entelecheia) der Natur eines jeweiligen Dinges oder Lebewesens zeigt. Verwirklichung heißt dabei, ›tätige Verwirklichung‹ beziehungsweise Aktivität oder Aktualisierung (energeia).151 Jedes Ding entspricht sich selbst am besten, wenn es nicht nur potenziell in der Lage ist, sein spezifisches ergon zu erfüllen, sondern dieses gerade tatsächlich auch erfüllt.152 Die artgemäße Tätigkeit ist für Lebewesen, die mit Sinnen ausgestattet sind, mit Lust verbunden. Was für das Lebewesen gut ist, ist für es auch lustvoll:153 δοκεῖ δ᾿ εἶναι ἑκάστῳ ζῴῳ καὶ ἡδονὴ οἰκεία, ὥσπερ καὶ ἔργον· ἡ γὰρ κατὰ τὴν ἐνέργειαν. Jedem Lebewesen ist, so die verbreitete Meinung, eine bestimmte Art der Lust eigen (oikos), so wie es auch eine eigene Funktion (ergon) hat; denn die Lust, die seiner Tätigkeit entspricht, wird die ihm eigene sein. EN X 5, 1176a3–5.

Das Gute für ein Lebewesen ist also zugleich das ihm Zuträgliche und Lustvolle, was es deshalb natürlicherweise erstrebt.154 Seine körperliche Beschaffenheit sowie sein ganzes Streben sind demnach darauf ausgerichtet, das ihm eigentümliche ergon zu erfüllen und damit seine vollkommene Natur zu realisieren. Im Rahmen der Naturteleologie findet sich bei Aristoteles ver­ einzelt eine personifizierte Rede von der Natur.155 Er spricht beispiels­ weise davon, dass die Natur nichts umsonst mache.156 Hinter diese Aussage steckt die Annahme, dass die Natur in ihrer Gesamtheit grundsätzlich zweckmäßig beschaffen ist, was sich dadurch ergibt, Müller 2006, S. 55. EN II 5, 1106a15–21. »Hierzu ist zu sagen, dass jede Tüchtigkeit (aretē) einerseits dasjenige selbst, woran sie sich findet, vollkommen macht, andererseits seiner Tätig­ keit (ergon) die Vollkommenheit verleiht. Die Tüchtigkeit des Auges macht z. B. das Auge selbst und seine Leistung gut, da sie bewirkt, dass wir gut sehen. Desgleichen macht die Tüchtigkeit des Pferdes, dass es selbst gut ist und dass es gut läuft, den Reiter gut trägt und vor dem Feind standhält.« Übersetzung nach Müller. Müller 2006, S. 55. Wolf übersetzt für aretē jeweils Gutheit und für ergon Funktion. 153 Vgl. Müller 2006, S. 56. 154 Diese Auffassung findet sich an zahlreichen Belegstellen. U.a. Hist. anim. VIII 1, 589a8–9. 155 Beispielsweise Cael. I 4, 271a33. 156 Beispielsweise Pol. I 2, 1253a9; Cael. I 4, 271a33; II 8, 290a31f.; De part. anim. II 13, 658a8–9. 151

152

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2.2 Das Artprinzip und die Teleologie in der Natur

dass die Lebewesen in der Natur zweckmäßig, und d. h., im besten Sinne beschaffen sind.157 Hingegen wendet sich Aristoteles ausdrück­ lich gegen die Konzeption eines göttlichen Geistes, der alles planvoll geschaffen habe.158 Die natürliche Zweckmäßigkeit ergibt sich ohne ein Bewusstsein, das plant oder denkt.159 Man sollte bei Aristoteles daher nicht von einer Teleologie der Natur sprechen, weil dies impli­ zieren würde, dass es ein übergeordnetes Prinzip gäbe, das alles zu einem großen zweckmäßigen Ganzen angelegt habe, sondern von einer Teleologie in der Natur: einer Zweckmäßigkeit, die sich jeweils in natürlichen Entitäten verwirklicht.160 Das bedeutet auch, dass mitunter intentional klingende Beschreibungen nicht unbedingt die Intentionalität einzelner Lebewesen implizieren.161 Wenn also die Rede davon ist, dass die Spinnen ein Netz bilden, um Beute zu machen, dann ist damit keine zweckmäßige Intentionalität des Tieres impliziert, sondern lediglich ein zweckmäßiger, natürlicher Ablauf beschrieben.162 Wenngleich in der aristotelischen physis-Konzeption die natür­ liche Zweckmäßigkeit auch mit einer materiellen Zweckmäßigkeit verbunden ist, handelt es sich nicht um eine reduktionistische Posi­ tion. Die hylē als Materialursache ist zwar ebenfalls eine Antwort auf die Frage, warum etwas so ist, wie es ist, allerdings nicht die einzige

157 Grant bezeichnet diese Sicht auf die Welt als ›natural optimism‹. Vgl. Grant 1885, S. 284. 158 Vgl. Müller 2006, S. 21. Zur Distanzierung Aristoteles’ von der Vorstellung eines platonischen Demiurgen vgl. Müller 2006, S. 44–50. Auch Nussbaum, CraemerRuegenberg und Wieland haben die Auffassung einer übergeordneten Naturteleologie bei Aristoteles in Frage gestellt. Vgl. Müller 2006, S. 50. Da sich teleologische Beob­ achtungen auf einzelne zweckgerichtete Abläufe an einzelnen Naturprodukten bezie­ hen, ist es treffender, »von einer Teleologie in der Natur, als von einer Teleologie der Natur zu sprechen.« Müller 2006, S. 50. 159 Vgl. Phys. II 8, 199b26–28: »Unverständlich ist der Einwand, man könne doch nicht meinen, sie (die Naturabläufe) erfolgten wegen etwas, wenn man nicht sehe, daß das Anstoßgebende (to kinoun) planend mit sich zu Rate gegangen sei (bouleusa­ menon).« 160 Anders Wolf, die zu implizieren scheint, dass alles Leben letztlich auf den unbe­ wegten Beweger hinstrebe. Vgl. Wolf 2010, S. 296. 161 Vgl. Osborne 2007, S. 77: »Nevertheless, although the responses are end-directed […] the animal itself is not choosing to act for that end in the moment when it acts on a reflex […].« 162 Vgl. Phys. II 8, 199a20–30.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

und nicht die primäre.163 So gelingt es Aristoteles, sich den Weg für die Betrachtung der Natur unter formalen und finalen Aspekten offen zu halten.164 Die natürliche Gutheit oder Vollkommenheit hängt eng mit dem ergon einer natürlichen Entität zusammen. Während das jewei­ lige ergon für Dinge, Pflanzen und Tiere jedoch jeweils eindeutig durch ihre Art bestimmt ist, gibt es für den Menschen nicht nur ein einziges und so deutlich bestimmtes ergon. Aristoteles betont ausdrücklich die Pluralität der menschlichen Lebensformen, in denen nicht erkennbar ist, welche der menschlichen Natur am meisten oder vielleicht ausschließlich entspricht. Deshalb geht Aristoteles in seiner Theoriebildung ausschließlich vom ergon aus, das für den Menschen spezifisch ist, und ihn von anderen Tieren unterscheidet.165

2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia 2.3.1 Paideia als Mittel zur Vollendung Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Natur im Griechischen kann im Deutschen wie auch im Englischen problemlos nachgeahmt werden, woraus sich m. E. teilweise begriffliche Unschärfen ergeben, die ich vermeiden möchte. Deshalb muss klar herausgestellt werden, welche Elemente des Naturbegriffs für die Frage der paideia eine Rolle spielen. Dabei sollte keineswegs eine Trennlinie zwischen dem physisBegriff in den theoretischen Schriften (Physika, De Caelo, Metaphysik) 163 Aristoteles wendet sich damit ausdrücklich gegen reduktionistische Positionen, wie etwa die des Empedokles, der behauptet, dass bestimmten Organismen bestimmte Funktionen aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit zukommen. Aristoteles hält im Gegensatz dazu bestimmte Funktionen für primär, und diese zögen dann bestimmte materielle Beschaffenheiten nach sich. Vgl. Althoff 2005, S. 458 und Leunissen 2011, S. 351. 164 Vgl. Müller 2006, S. 18. 165 Dieser Schritt ist sicherlich in gewisser Hinsicht problematisch oder zumindest diskutabel. Michael Thompson hat deshalb zum Beispiel alternativ vorgeschlagen, den breiteren Begriff der menschlichen Praxis zum Ausgangspunkt für die Bestimmung des menschlich Guten zu machen. Allerdings ist dieser Begriff in seiner Theorie so unterbestimmt geblieben, dass er letztlich leer bleibt. Denn wenn man von allem aus­ geht, was Menschen (auch aus historischer Perspektive) tun und je getan haben, wird es unmöglich, daraus eine normative Ableitung dahingehend zu machen, was Men­ schen tun sollten. Vgl. Wolf 2010, S. 314f.

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2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia

und den praktischen Schriften (Nikomachische und Eudemische Ethik, Politik) gezogen werden. Im Gegenteil – der Begriff der Natur spielt eine entscheidende Rolle für die aristotelische Ethik, und zwar gerade durch das Oszillieren zwischen zwei Gegenpolen:166 zwischen der Natur »als Vorgabe bzw. Anfangsbedingung« (N1) auf der einen Seite und der Natur »als Aufgabe und Endgestalt« (Nt)167 auf der anderen Seite, welche oft als wahre oder vollendete Natur bezeichnet wird.168 Eine Studie, die die Entstehung des tugendhaften Menschen sowohl durch erzieherisches Handeln wie auch natürliche Entwick­ lung untersucht, kann diese Doppeldeutigkeit nicht ungeachtet las­ sen. Der Veränderungsprozess der Erziehung bewegt sich nämlich gerade zwischen diesen beiden Polen. Erzieherische Prozesse verän­ dern die Natur im Sinne eines Anfangs- oder Ausgangspunktes (im Folgenden N1) in einer solchen Weise, dass sie am Ende eines gelungen und erfolgreichen Erziehungs- und Entwicklungsprozess Nt, also der vollendeten menschlichen Natur entspricht. Das meint Aristoteles, wenn er davon spricht, dass Kunst (technē) sowie Bildung und Erziehung (paideia) nur noch die Lücken ausfüllen, die die Natur noch gelassen habe.169 Hier versteht Aristoteles Natur im Sinne einer (unvollendeten) Anfangsbedingung und Voraussetzung von Erziehungsprozessen (N1), andernfalls würde er nicht von ihren Lücken sprechen.170 Erziehung dient also der Vervollkommnung dessen, was noch roh und unvollkommen ist. Der Mensch, obwohl er ein natürliches Lebewesen ist, entspricht nicht allein schon durch natürliche Entwicklung seiner Anlagen seiner wahren Natur (Nt), sondern erst durch Erziehung (paideia).

Vgl. Müller 2006. Vgl. ebd., S. 11. 168 Von nun an werde ich folgende Kürzel verwenden: N1 bezeichnet die Natur als Anfangsbedingung, Nt die Natur als telos bzw. Endgestalt und Ziel und Nk die Natur als Triebfeder natürlicher Veränderungsprozesse. 169 Vgl. Pol. VII 17, 1337a1–3. 170 Morel beschreibt unsere Prädisposition zur Moral als eine unbestimmte und pas­ sive Kraft. Vgl. Morel 1997, S. 135. Thompson wäre mit dieser Auffassung von erster Natur sicherlich nicht einverstanden. 166

167

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

2.3.2 Prozessualität, Veränderung, erste und zweite Entelechie Natürlichen Dingen kommt eine ihnen innewohnende Prozessualität zu. Deshalb kommen wir nicht umhin neben N1, als Anfangsbe­ dingung, und Nt, im Sinne der vollendeten Natur, einen dritten Naturbegriff abzugrenzen: die Natur als Bewegungsursache (kinēsis) Nk, welche sowohl Veränderungen wie die Ortsbewegung natürlicher Lebewesen bezeichnet als auch Veränderungsprozesse wie Qualitäts­ veränderung, Wachstum oder Schwinden.171 Handelt es sich um natürliche Veränderungsprozesse, liegt ihre Ursache in der Natur des Lebewesens, wobei die Veränderung nur zustande kommt, wenn ihr kein äußerer Hinderungsgrund entgegensteht. Ein Lebewesen wächst, wenn es die Möglichkeit hat, sich Nahrung und Wasser zuzuführen. Eine Pflanze wächst, wenn ihr genügend Wasser und Licht zur Verfügung stehen usw. Die Natur bestimmt diesen Prozess in der Hinsicht, als dass ein Lebewesen beispielsweise am Ende des Wachstumsprozesses die Größe erreicht, die für seine Art üblich ist, die seiner Natur (im Sinne von Art/Form (eidos)/ Wesen (ousia)) entspricht und zwar unter Umständen, die man als ›normal‹ oder ›günstig‹ bezeichnen würde: »Naturgemäß (physei) nämlich (verhält sich) alles, was von einem ursprünglichen Antrieb in sich selbst aus in fortlaufender Veränderung zu einem bestimmten Ziel (telos) gelangt.«172 Die Natur als Ursache für den Ablauf von natürlichen Entwicklungsprozessen wie Wachsen, Altern, Verdorren, usw., d. h. die autopoietische Dimension der Natur, wollen wir mit Nk bezeich­ nen. Aristoteles bezeichnet diese Prozesse, zumal sie von Natur aus (physei) ablaufen, als natürlich. Nun gibt es zwei spezifisch aristotelische Begriffe, die fundamen­ tal für das Verständnis des Begriffs der Veränderung (kinēsis) sowie des natürlichen Werdens sind: Möglichkeit und Wirklichkeit.173 Für Wirklichkeit verwendet Aristoteles zwei unterschiedliche Begriffe, entelecheia und energeia, die allerdings synonym zu verstehen sind.174 Aristoteles unterscheidet zwischen erster und zweiter Wirklichkeit, »was sich einleuchtend am Beispiel von Fähigkeiten illustrieren läßt. Die erste Wirklichkeit markiert den Besitz, die zweite die Ausübung 171 172 173 174

Vgl. De an. I 3, 406a12–13. Phys. II 8, 199b15–17. Vgl. Müller 2006, S. 23. Vgl. ebd., S. 25.

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2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia

eines Vermögens.«175 Der Übergang von einem natürlichen Potential zu einer Aktualisierung wird als kinēsis bezeichnet. Ein Beispiel hierfür wäre das Ergrauen von Haaren. Haare haben das natürliche Potential, grau zu werden. Wenn sie dann tatsächlich grau werden, aktualisiert sich dieses Potential. Eine Veränderung (kinēsis) ist also eine Aktualisierung von Wirklichkeit qua Möglichkeit. Sie kann durch vier konstitutive Elemente bestimmt werden: (1) Das Seiende, an dem sich die Veränderung vollzieht, (2) die Fähigkeit (dynamis) dieses Seienden zur Veränderung, (3) den eigentlichen Vorgang der Aktualisierung von (2) in oder an (1) (4) und das Endresultat, d. h. die erreichte Wirklichkeit.176 Eine zweite Entelechie bezeichnet die Aktualisierung eines (erwor­ benen) Vermögens, beispielsweise, wenn jemand, der die Fähigkeit erworben hat, Gitarre zu spielen, diese aktualisiert, indem er Gitarre spielt. Die Aktualisierung eines Vermögens dieser Art ist eine ener­ geia. Das Tätigsein ist für Aristoteles die höchste Form der Aktualisie­ rung und stellt deshalb den Zielpunkt eines Vollendungsgeschehens dar. Zielpunkt des Tugenderwerbs ist deshalb nicht, die Tugend als Vermögen (lediglich) zu besitzen, sondern in Aktivität und Verwirk­ lichung zu sein,177 d. h. im Sinne der Tugend zu handeln. Müller bringt dies gewinnbringend auf den Punkt: »In diesen Distinktionen zeigt sich die Leistungsfähigkeit des Begriffs­ paares dynamis-energeia bei Aristoteles, das ein sich in zwei Stufen vollziehendes Vollendungsgeschehen auf den Begriff bringt: In der ersten Stufe ist die Möglichkeit latent vorhandenes Charakteristikum eines natürlich Seienden, das jedoch noch seiner Aktualisierung bedarf. Diese Transition vollzieht sich im Rahmen einer kinēsis. In der zweiten Stufe wird die beim Abschluß der ersten Stufe erreichte Wirklichkeit wiederum als Möglichkeit (in diesem Fall im Sinne von Fähigkeit) gefaßt, die in einer weiteren Aktualisierung zur zweiten Wirklichkeit wird. Diese zweite Aktualisierung erhält dabei den Namen energeia. Insofern auf dieser Ebene dann der Abschluß des natürlichen Gesche­ hens, das telos, der Natur, erreicht worden ist, erschließt sich hieraus auch die semantische Nähe von entelecheia und energeia: Das ›Im-Ziel-

175 176 177

Vgl. Müller 2006, S. 25. Vgl. ebd. Vgl. Met. IX 8, 1050a17–19.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

Sein‹ wird von Aristoteles gedacht als ein ›Im-Werk-Sein‹, d. h. als das Ausüben einer Tätigkeit.«178

Die vollständige Verwirklichung eines Lebewebens besteht also immer im Tätigsein (energeia). Deshalb verwundert es auch nicht, dass Aristoteles das menschliche Glück, das höchste Ziel seines Daseins, ebenfalls als ein Tätigsein definiert.179 Der Gegenbegriff zur Aktualisierung der ebenso wichtig für das Verständnis der paideia ist, ist der Begriff des Potentials oder Vermö­ gens (dynamis), welches den Ausgangspunkt für den Erziehungspro­ zess bildet. Jedem Lebewesen kommen spezifische Vermögen oder Potentiale (dynameis) zu, wobei man sie zusätzlich noch in aktive und passive Vermögen unterteilen kann: 1. 2.

»Aktive dynameis, also Kräfte, mit denen das natürlich Seiende Prozesse wie z. B. Bewegung, bei anderen physei onta hervorru­ fen kann. Passive dynameis, d. h. innere Anlagen bzw. Potentiale, die ihrer­ seits rezeptiv sind, also von außen durch ein anderes natürliches Seiendes in Gang gesetzt werden.«180

Mit dieser Unterscheidung wird klar, dass es einer präzisen begriffli­ chen Unterscheidung bedarf, um Veränderungen ›von innen heraus‹ von Veränderungen ›von außen‹ zu unterscheiden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine Pflanze hat beispielsweise das aktive Poten­ tial zu wachsen, und zwar immer dann, wenn sie genügend Wasser und Licht zur Verfügung hat. Sie hat gleichzeitig das passive Potential zu verdorren, wenn nicht genug Wasser und Licht vorhanden sind, das sich immer dann aktualisiert, wenn tatsächlich nicht genügend Wasser und Licht zur Verfügung stehen. Das Gedeihen eines natürli­ chen Lebewesens ist also immer von den ›normalen‹ oder ›günstigen‹ Umständen abhängig, ohne die sich natürliche Potentiale nicht aktua­ lisieren können.

178 179 180

Müller 2006, S. 26. Vgl. EN I 6, 1097b22–1098a20. Müller 2006, S. 26f.

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2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia

2.3.3 Die spezifisch menschliche Genese und die scala naturae Für einen Großteil der natürlichen Lebewesen ist es aus Aristoteles‹ Sicht der Fall, dass sie ihrer Natur Nt schon ohne weiteres Zutun, d. h. nur auf Grundlage von Nk und den normalen oder günstigen Umständen entsprechen. Eine Pflanze beispielsweise wächst nach oben, eine Biene sammelt Honig, eine Spinne baut ein Netz – und zwar allein von Natur aus. Die Erfüllung ihrer Natur im Sinne von Nt gelingt allein durch die Betätigung oder Aktualisierung von natürlichen Anlagen. Natürliche Lebewesen werden sogar gerade dadurch charakterisiert, dass sie die Ursache für ihre Bewegungen und naturgemäßen Veränderungen in sich selbst tragen: »Tiere können sich im Raum bewegen, Pflanzen können wachsen und vergehen, Elemente können ineinander übergehen und dabei ihre Eigenschaften verändern, und alle diese natürlichen Dinge tragen die Ursache dafür in sich selbst (ähnlich Met. XII 3, 1070a7f.; V 4, 1015a14; Cael. III 2, 301b17ff.: Gen.an. II 1, 735a2ff. etc.).«181

Der Mensch gehört auch zu den natürlichen Lebewesen. Was hat er mit den anderen Lebewesen gemeinsam und was unterscheidet ihn von diesen? Der wesentliche Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen besteht für Aristoteles in seiner Bestimmung als vernunftbegabtes Lebewesen (zōon logon echon). Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied zu allen anderen Lebewesen, der die Genese des Menschen betrifft. Der Mensch entspricht seiner wahren oder vollkommenen Natur Nt nicht allein schon durch die Aktualisie­ rung seiner in N1 gegebenen Naturanlagen aufgrund von Nk, sondern erst die Erziehung (paideia) macht ihn zu dem, was er ist: ein Mensch im vollen Sinne. Damit die Vernunft im Menschen zum steuernden Prinzip werden kann, ist sowohl die charakterliche Formung durch Habituation wie auch die Belehrung oder Unterrichtung über die Prin­ zipien des guten Lebens notwendig, damit der Mensch die ethischen und dianoetischen Tugenden erwirbt und damit gemäß der Vernunft tätig werden kann. Die Vernunft ist in dem Maße für den Menschen natürlich, als sie zu seinem Wesen (eidos/ousia) gehört. Allerdings ist sie Vorgabe und Aufgabe seines Daseins, da es gilt, sie für das Leben und das praktische Handeln verbindlich werden zu lassen. Und dies, so Aristoteles, 181

Althoff 2005, S. 457.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

kann nicht ohne äußeres Zutun allein aufgrund von Nk geschehen, sondern muss durch Impulse von außen, die sich unter ethos und logos subsummieren lassen, geschehen.182 D. h. aber nicht, dass Nk nicht auch eine Rolle für die Bildung und Erziehung des Menschen spielen würde. Auch im Menschen qua natürliches Lebewesen spielen sich natürliche Entwicklungsprozesse ab (wie Wachsen oder Altern), die ohne Impuls von außen unter normalen Bedingungen ablaufen. Die Natur ist deshalb nicht nur Ausgangspunkt (N1) und Zugrunde­ liegendes (hylē) des Erziehungsprozesses, sondern selbst Motor eines Reifungsprozesses, welcher wiederum mit dem Erziehungsprozess in Wechselwirkung steht. Allerdings ist der Begriff der paideia nicht auf den Menschen beschränkt. In Historia animalium führt Aristoteles auch andere Lebensformen an, die ihre Jungen dazu erziehen (müssen), so zu leben, wie es gemäß Nt richtig ist. Je nach Lebensform gibt es also Unterschiede darin, wie die vollkommene Natur Nt aktualisiert oder verwirklicht wird. Eine Biene muss zwar nicht lernen, wie man fliegt, aber eine Katze muss lernen, wie man jagt. Die aristotelische Stufenleiter des Lebendigen (scala naturae183) spielt hier eine Rolle. Je komplexer eine Lebensform ist, bzw. je komplexer die Konstitution von Nt ist, desto komplexer (und auch zeitlich ausgedehnter) ist der Lernprozess, in dem das Lebewesen lernt, seiner Natur Nt zu entspre­ chen. τὰ μὲν οὖν ἁπλῶς ὥσπερ φυτὰ κατὰ τὰς ὥρας ἀποτελεῖ τὴν οἰκείαν γένεσιν· τὰ δὲ καὶ περὶ τὰς τροφὰς ἐκπονεῖται τῶν τέκνων, ὅταν δ᾿ ἀποτελέσῃ χωρίζονται καὶ κοινωνίαν οὐδεμίαν ἔτι ποιοῦνται· τὰ δὲ συνετώτερα καὶ κοινωνοῦντα μνήμης ἐπὶ πλέον καὶ πολιτικώτερον χρῶνται τοῖς ἀπογόνοις. Die einen vollziehen noch ganz einfach, wie die Pflanzen, je nach der Jahreszeit den Zeugungsakt, die anderen bemühen sich weiter um die Aufzucht der Jungen, trennen sich jedoch von ihnen, sobald sie selbstständig geworden sind, und pflegen mit ihnen weiter keine Gemeinschaft. Andere aber, schon verständiger (synetōtera) und mit

Die Tugenden gehören damit nicht in den Bereich des Natürlichen im Sinne des Angeborenen. Sie kommen dem Menschen aber von Natur aus zu, d. h. dass sie seinem Wesen entsprechen. Unter dieser Betrachtungsweise sind sie das Natürlichste für den Menschen. 183 Der Begriff der ›scala naturae‹ bezeichnet die Gesamtheit des sublunaren Lebens in einer hierarchischen Sichtweise. 182

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2.3 Die Bedeutung des Naturbegriffs für die paideia

Gedächtnis (mnēmē) begabt, ziehen ihre Nachkommen darüber hinaus zu gemeinsamem Leben heran. Hist. anim. VIII 1, 588b30–589a2.

Aristoteles macht diese Aussage in dem Kontext, in dem er die scala naturae als Kontinuum erklärt, in der die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Lebensformen je nach Blickrichtung gravierender oder weniger gravierend erscheinen.184 Eine zeitlich ausgedehntere und umfangreichere paideia sieht er dann vonnöten, wenn die Jungen nach der Aufzucht mit den ausgewachsenen Tieren in einer Gemein­ schaft leben sollen. Das Ziel des gemeinsamen Lebens betrachtet er als abhängig von den kognitiven Fähigkeiten des Gedächtnisses und der Urteilskraft. Paideia im Tierreich hat also das Ziel, etwas weiterzugeben, woran ein Lebewesen sich erinnern kann, und erin­ nerungswürdig in dem Sinne ist, dass es eine Bedeutung für die nächste Generation und den Erhalt der Art hat. Die Fähigkeit zu Jagen ist beispielsweise eine solche Art des Erfahrungswissens, das auf basalen Erinnerungsfähigkeiten beruht,185 und für den Erhalt und das gemeinsame Leben eines Löwenrudels essenziell ist. Es ist eine Fähigkeit, die von den Jungen aber erst erlernt werden muss. Genauso wie bei höheren Säugetieren, wird auch das mensch­ liche Kind in eine gemeinsame Praxis mit den Erwachsenen hinein­ erzogen. Der Mensch, der für Aristoteles an der Spitze der scala naturae steht, ist allerdings das komplexeste Lebewesen und muss demnach auch die komplexeste Erziehung durchlaufen, um seine vollendete Natur Nt zu erfüllen. Das gemeinschaftliche Leben, in das er hineinerzogen wird, fordert eine Fülle von Kenntnissen und Erfahrungswissen. Alle anderen Tierarten sind je nach Komplexität auf einer kontinuierlichen Skala darunter einzuordnen. Ein gewichtiger Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Tieren besteht jedoch darin, dass es für Tiere jeweils nur eine artspezifische Möglichkeit gibt, ihrer Artnatur zu entsprechen, sodass »nicht nur identische Strukturen, sondern auch ein fest umgrenztes Schema von Verhaltensweisen innerhalb einer Spezies«186 durch ihre Verglichen mit einem Stein sind Steckmuscheln geradezu lebendig, denn sie sterben, wenn man sie ausreißt. Verglichen mit höheren Säugetieren fragt man sich allerdings, ob man zurecht von einem Tier spricht, oder viel mehr von einer Pflanze sprechen sollte. Vgl. Hist. anim. VIII 1, 588b4ff. 185 Gebündelte Erinnerungen sind die kognitive Voraussetzung für Erfahrung. Vgl. Met. I 1, 980b29–981a1. 186 Müller 2006, S. 63. 184

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

natürliche Gestalt gegeben sind. Der Löwe jagt, die Biene sammelt Honig usw. – darüber gibt es weder bei den Tieren selbst noch bei einem Beobachter Irritationen oder Kontroversen. Beim Menschen hingegen ist nicht einfach von einem beobachtbaren Verhalten ables­ bar, wie sich der Mensch verhalten und sein Leben gestalten sollte. Er kann sich aufgrund seiner Vernunft für verschiedene Modi vivendi entscheiden, sodass er sich mit »fast infiniten Möglichkeiten mensch­ licher Existenzgestaltung«187 konfrontiert sieht. Dies macht es sowohl von einem Beobachterstandpunkt als auch aus der Ich-Perspektive schwierig, auszumachen, ob es die eine richtige Art zu leben für den Menschen gibt. Der menschlichen Natur kommt deshalb neben allen Gemeinsamkeiten, die es mit dem subrationalen Bereich des natürlichen Lebens geben mag, eine Sonderstellung zu.188 Aristoteles entscheidet sich, wie allgemein bekannt ist, dafür, die spezifische Differenz des Menschen, seine Logosfähigkeit, zum ausschlaggebenden Merkmal zu machen, um die spezifischen Tätig­ keiten und Verhaltensweisen, die dem Menschen qua Menschsein zukommen, zu beschreiben.189 So stellt es sich für Aristoteles schluss­ endlich so dar, dass es »auch für den Menschen nur ein einziges telos seines Lebens«190 gibt: die eudaimonia, die das Tätigsein des vernünf­ tigen Seelenteils in Übereinstimmung mit der Tugend darstellt.191 Dieses Ziel menschlichen Lebens wird nicht allein schon durch bloße Existenz oder Wachstum erfüllt, sondern muss durch Erziehung erst ermöglicht werden. So vielfältig menschliches Leben und damit »divergierende Ethosformen«192 sein mögen, ist der Mensch aus aris­ totelischer Sicht in die Verantwortung gestellt, sich bei der Pluralität der Lebensentwürfe für den einen richtigen Lebensentwurf, nämlich das gute Leben (eu zēn), zu entscheiden.193 Wenngleich dieses als zu gestaltender Rahmen zu verstehen ist, in dem es Raum für individu­ elle Schwerpunktsetzungen gibt,194 sind damit einige Lebensmodelle (das Leben des Geldes oder ein Verbrecherdasein beispielsweise) ausgeschlossen. Die Gestaltungsoffenheit menschlichen Lebens stellt 187 188 189 190 191 192 193 194

Müller 2006, S. 65. Vgl. ebd., S. 63–66; 121–128. Vgl. EN I 6. Müller 2006, S. 65. Vgl. EN I 6, 1098a15–17. Müller 2006, S. 65. EN I 9, 1098b20ff. Vgl. Müller 2006, S. 121–128.

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2.4 Die Opposition von zeitlicher und ontologischer Priorität

für Aristoteles jedoch grundsätzlich einen gewichtigen Unterschied zu tierischem und pflanzlichem Leben dar.

2.4 Die Opposition von zeitlicher und ontologischer Priorität Auch für den physis-Begriff gilt ein Grundsatz, der die gesamte aris­ totelische Philosophie bestimmt: Das der Entstehung nach Spätere ist das der Natur nach Frühere.195 Auf der zeitlichen Achse bildet die Natur im Sinne von N1 die Anfangsbedingung für die paideia, während Nt ihren Endpunkt bildet. Unter Natur als Anfangsbedingung sind wiederum eine Vielzahl von Aspekten zu verstehen, die aufgrund der Vielschichtigkeit des Natur­ begriffs bei Aristoteles weiter auszudifferenzieren sind: Zunächst ist es von Bedeutung, die physis, von der Aristoteles ausgeht, als speziell menschliches, natürliches Potential zu verstehen, bestimmte Entwick­ lungsprozesse zu durchlaufen, bzw. bestimmte spezifisch menschliche Fähigkeiten zu erwerben und zu entfalten. Andere Lebensformen können zum Teil auch durch Lernen Fähigkeiten erwerben, aber für die menschliche paideia ist eben nur die menschliche physis maßgeblich, aus der sich eine gewisse Spannbreite möglicher Fähigkeiten ergibt. Diese wiederum resultiert aus der menschlichen physis im Sinne einer materiellen Natur (hylē), d. h. den körperlichen Voraussetzungen eines Menschen, welche wiederum die Summe aller angeborenen Fähigkeiten eines Menschen bedingen, welche Aristoteles bisweilen ebenfalls mit dem Terminus ›physis‹ bezeichnet.196 Wir sehen hier ein Ineinandergreifen der Bedeutungen von physis als Anfangsbedingung oder natürliches Potential sowie als materielle Ursache. Auf der teleologischen Achse steht hingegen die vollendete Natur Nt zuerst, denn die Bestform einer Sache ist logisch primär.197 An ihr allein richtet sich das erzieherische Handeln aus.198 Das Endziel Vgl. Phys. VIII 7, 261a13f.; De part.anim. II 1, 64624ff. Vgl. Pol. VII 13, 1332a40–42: »Denn zunächst muss man eine bestimmte Natur haben, z. B. die eines Menschen und die eines anderen Lebewesens, und sodann eine bestimmte Beschaffenheit des Körpers und der Seele.« 197 Vgl. Althoff 2005, S. 458. 198 Vgl. Pol. I 2, 1252b31–34. »Die Natur (physis) ist eben das Endziel, denn diejenige Beschaffenheit, welche ein jeder Gegenstand erreich hat, wenn seine Entwicklung 195

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

der menschlichen Natur besteht darin, ihr, d.h. der menschlichen Natur, am meisten zu entsprechen. D. h., dass das menschliche Leben und damit jegliche Erziehung (paideia) darauf ausgerichtet ist, dass der Mensch seinen vernünftigen Seelenteil in einem guten Sinne betätigen kann:199 ὁ δὲ λόγος ἡμῖν καὶ ὁ νοῦς τῆς φύσεως τέλος, ὥστε πρὸς τούτους τὴν γένεσιν καὶ τὴν τῶν ἐθῶν δεῖ παρασκευάζειν μελέτην. Die Vernunft (logos) und das Einsehvermögen (nous) sind aber Endziel unserer Natur (tēs physeōs telos), folglich muss man auf diese hin das Werden (genesis) des Menschen und die Bemühung (meletē) um die Gewohnheiten (tōn ethōn) richten. Pol. VII 15, 1334b14–17.200

Erziehung ist damit der Ermöglichungsgrund dafür, dass der Mensch seine Natur im Sinne von Nt überhaupt erfüllen kann. Menschliches Leben kann als ständiges Streben verstanden werden, diese Natur zu verwirklichen und deshalb ist der Mensch dauerhaft ›auf dem Weg zu sich selbst᾿. Aristoteles‹ Auffassung von Natur oszilliert deshalb zwischen einem essentialistischen und einem dynamischen Verständ­ nis.201 Die essentialistische Dimension des Naturbegriffs verweist darauf, dass mit Natur das bezeichnet wird, was ein Lebewesen wirklich ist. Die dynamische Dimension besteht darin, dass ein natürliches Lebewesen immer auf eine gewisse Weise noch im Prozess begriffen ist, seine Natur tatsächlich zu aktualisieren. Darin zeigt sich die teleologische Dimension des Naturbegriffs als etwas, das durch vollendet ist, eben diese nennen wir Natur desselben, wie z. B. die des Menschen, des Rosses, des Hauses.« 199 Dieser Aspekt spielt auch in Pol. VII 13, 1332a38–1332b11 eine Rolle, besonders mit Hinblick auf die scala naturae. Da eben der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Tieren vernunftbegabt ist, gehört es zu seinen spezifischen Aufgaben, diese Vernunft­ begabung zu aktualisieren. Hier klingt auch schon an, dass diese Aktualisierung bestmöglich gelingt, wenn die Seelenteile in Harmonie miteinander sind, d. h. Streben und Vernunft in ein Kongruenzverhältnis gebracht werden. Dieser Gedanke findet sich auch in Pol. VII 13, 1334b9–11. 200 Bemerkenswert ist hier, dass Aristoteles nicht nur die Bemühung um die Gewohnheiten, die ein Mensch sich aneignet, d. h. die habituelle Formung der menschlichen Seele, auf die Vernunft ausgerichtet sehen will, sondern auch die Entwicklung (genesis). 201 »Cependant ce qui caractérise encore l’être naturel c’est qu’il contient toujours une part d’indétermination […] : les êtres naturels sont toujours en chemin vers leur phy­ sis.« Morel 1997, S. 132. Vgl. auch Phys. II 1, 193b12–13. Müller spricht von einem statischen und einem dynamischen Verständnis. Vgl. Müller 2006, S. 16.

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2.5 Gründe für das Nicht-Erreichen der vollendeten Natur (Privation)

Erziehung (paideia) erst erreicht wird. Aristoteles verwendet selbst die Metapher des Weges: Ἔτι δ᾿ ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν εἰς φύσιν. […] οὐχ οὕτω δ᾿ ἡ φύσις ἔχει πρὸς τὴν φύσιν, ἀλλὰ τὸ φυόμενον ἐκ τινὸς εἰς τὶ ἔρχεται, ᾗ φύεται. εἰς τί οὖν φύεται; οὐχὶ ἐξ οὗ, ἀλλ᾿ εἰς ὅ. ἡ ἄρα μορφὴ φύσις. Schließlich ist Natur als ein Werden (genesis) verstanden, der Weg zur Natur. […] Was von Natur hervorgeqbracht ist, geht von etwas (seinem Ausgang) weg zu etwas (seiner Vollendung) hin, sofern es auf- und hervorgeht. Zu was geht es aber hervor? Offenbar nicht zu dem, woraus es geworden ist, sondern zu dem, als was es jeweils entsteht. Also ist die Gestalt (morphē) Natur. Phys. II 2, 193b12–18.202

Erreicht der Mensch je sein Ziel und wird zur Verkörperung wahren Menschseins oder bleibt er sein Leben lang auf dem Weg zu diesem Ziel? Auf einer theoretischen Ebene muss Aristoteles annehmen, dass der phronimos tatsächlich diese vollkommene menschliche Natur verkörpert, weil seine Ethik um den phronimos als Normfigur aufge­ baut ist.203 D. h. jedoch nicht, dass diese Person real-historisch je existiert habe oder existieren müsste, um von ihr sprechen zu können. Dennoch gibt es gute Gründe, die Existenz des phronimos für ein realisierbares Ziel zu halten.204

2.5 Gründe für das Nicht-Erreichen der vollendeten Natur (Privation) Man könnte mit Hinblick darauf, dass natürliche Dinge mit Notwen­ digkeit so sind, wie sie sind, dafür argumentieren, dass mit dieser Konzeption alle Menschen auch notwendigerweise zu rationalen Akteuren (phronimoi) werden müssten. Das hieße allerdings, dass die Notwendigkeit natürlicher Prozesse im Sinne einer absoluten Determiniertheit zu verstehen wäre. Dies entspricht nicht der aris­ totelischen Position. Fehlentwicklungen und Missbildungen sind, obwohl sie gegen die Natur im Sinne von Nt sind, trotzdem »nicht Übersetzung nach Edmund Braun. Braun 1974, S. 17. Eine sehr lesenswerte Arbeit, die die Rolle des phronimos als Normfigur der Moral herausarbeitet, stellt die Monografie von Magdalena Hoffmann 2010 dar. 204 Vgl. Wolf 2010, S. 294. 202

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

auszuschließende Begleiterscheinungen«205, also Teil der Natur. Fehl­ bildungen sind jedoch nicht im Bereich der ousia oder des eidos anzutreffen, sondern auf Ebene des Stoffes (hylē). Sie sind somit akzidentelle Abweichungen vom Normalfall: »Fehlentwicklungen wie z. B. Mißbildungen sind zumeist darauf zurückzuführen, daß die Form als das von innen her Gestalt verleihende Prinzip an der ›Unbestimmtheit‹ (aoristia) der Materie ihre Grenze findet (vgl. GA 778a4–9).«206 Wenn Privation immer als akzidentelle Abweichung vom Nor­ malfall zu verstehen ist, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Ideal­ fall und Normalfall zusammenfallen: »Das Natürliche wird […] bei Aristoteles sowohl als Ideales wie auch als Normales gedacht.«207 Die Regularität der Natur ist also immer etwas, das nur unter bestimmten Bedingungen eintritt, und zwar solchen Bedingungen, die wir als ›nor­ mal‹ oder ›üblich‹, vielleicht sogar als ›günstig‹ bezeichnen würden. φύσει γάρ, ὅσα ἀπό τινος ἐν αὑτοῖς ἀρχῆς συνεχῶς κινούμενα ἀφικνεῖται εἴς τι τέλος· ἀφ᾿ ἑκάστης δὲ οὐ τὸ αὐτὸ ἑκάστοις οὐδὲ τὸ τυχόν, ἀεὶ μέντοι ἐπὶ τὸ αὐτό, ἂν μή τι ἐμποδίσῃ. Naturgemäß (physei) nämlich (verhält sich) alles, was von einem ursprünglichen Antrieb in sich selbst aus in fortlaufender Veränderung zu einem bestimmten Ziel gelangt. Von einem jeden aus ergibt sich für ein jedes nicht dasselbe, und schon gar nicht etwas Beliebiges, allerdings will sich immer dasselbe bilden, wenn nicht etwas störend eintritt. Phys. II 8, 199b15–18.208

Die Bedingung ›wenn nicht etwas störend eintritt‹ ist deshalb von großer Wichtigkeit. Natur als Normalfall bedeutet, dass Störungen und Devianzen immer als Abweichungen zu verstehen sind. Deshalb gibt es auch keine negative paideia und kein Bild (eidos) des schlechten Menschen, das Ziel oder Ursache seines Seins sein könnte. Schlechte Menschen sind schlichtweg ›nicht-gute‹ Menschen, bzw. Menschen, die ihrer Natur nicht entsprechen, die vom Ideal abweichen.209 Formen von und Gründe für Abweichungen vom Idealfall gibt es viele. Aristoteles unterstreicht die Ambivalenz der menschlichen Naturanlagen: Sie können sich zum Guten und zum Schlechten entwi­ 205 206 207 208 209

Müller 2006, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd. Übersetzung nach Jörn Müller. Müller 2006, S. 19. Meine Hervorhebung. Philippa Foot spricht von defekten Menschen. Vgl. Foot 2004.

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2.6 Vernunft – von Natur aus?

ckeln, wobei hier die Gewöhnung den Ausschlag dafür gibt.210 Gründe für Privationen können sowohl im Bereich der hylē auftreten211 als auch später aufgrund von nicht erfolgter, falscher oder nicht ausrei­ chender paideia.212 Deshalb ist der Idealfall selten und lobenswert, während die Abweichungen vielgestaltig sind.213

2.6 Vernunft – von Natur aus? Es stellt sich jedoch die drängende Frage, ob Vernunft durch ver­ nünftige Unterweisung entsteht, oder ob sie ein Resultat natürlicher Entwicklung im Sinne von Nk, d. h. ein Produkt der eigenbedingten Prozessualität natürlicher Dinge ist. Verschiedene Belegstellen legen nahe, dass letzteres der Fall ist. In der oben schon angeführten Passage der Politik erläutert Aristoteles, dass sich natürliche Anlagen des Menschen zunächst einmal (potenziell) in entgegengesetzte Richtungen entwickeln und sich somit zum Guten oder zum Schlechten hin verändern könnten.214 Daraufhin betont er, dass es die Gewöhnung sei, die sie, also diese Naturanlagen, verändere. An dieser Stelle unterstreicht er allein den Einfluss des ethos, der sich bekanntermaßen auf den strebenden See­ lenteil richtet, während von Belehrung nicht gesprochen wird. Auch in der Nikomachischen Ethik wird das Verhältnis von Gewöhnung und Vernunft so dargestellt, dass die Habituation das menschliche Streben so einrichten muss, dass die Vernunft hinzukommen kann, wie ein Samen, der auf einen gepflügten Acker fällt.215 Der bildhafte Vergleich, den Aristoteles entwirft, macht deutlich, dass die Gewöh­ nung die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich die Vernunft auf gute Weise entfalten und im Handelnden wirksam werden kann. Die Entfaltung der Vernunft, also das Vernünftig-Werden ist m.E. jedoch Vgl. Pol. VII 13, 1332a38–1332b3. Aristoteles zieht in Betracht, dass jemandem aufgrund der Natur (hier im Sinne von natürlichen Voraussetzungen) das Glück ganz versagt bleibt. Gleichzeitig kommt aber auch der Zufall als Verhinderungsgrund in Frage. Die Idee der ›Begabung zum Guten‹ wird angedeutet, weil impliziert wird, dass bei der Erziehung von besser geeigneten Menschen weniger äußeres Zutun vonnöten sei. Vgl. Pol. VII 13, 1331b41–1332a2. 212 Vgl. EN X 10, 1179b4–20. 213 Vgl. EN II 5, 1106b28–35; II 9, 1109a25–29. 214 Vgl. Pol. VII 13, 1332b1ff. 215 EN X 10, 1179b25ff. 210

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

nicht einer Form von Belehrung geschuldet, sondern als Resultat einer natürlichen Entwicklung zu deuten. Vernunft resultiert aus der Aktualisierung eines angeborenen Potentials. Dies lässt sich folgendermaßen belegen: καὶ γὰρ ὁ λόγος φύσει ὑπάρχει ὅτι ἐωμένης τῆς γενέσεως καὶ μὴ πηρωθείσης ἐνέσται, καὶ ἡ ἐπιθυμία ὅτι εὐθὺς ἐκ γενετῆς ἀκολουθεῖ καὶ ἔνεστιν· σχεδὸν δὲ τούτοις δυσὶ τὸ φύσει διορίζομεν, τῷ τε ὅσα εὐθὺς γινομένοις ἀκολουθεῖ πᾶσι, καὶ ὅσα ἐωμένης τῆς γενέσεως εὐθυπορεῖν γίνεται ἡμῖν, οἷον πολιὰ καὶ γῆρας καὶ τἆλλα τὰ τοιαῦτα. Denn sowohl die rationale Kraft ist von Natur da, weil sie sich bei normalem, unversehrtem Entwicklungsablauf bei uns einstellen wird – als auch ist die Begierde da, denn gleich von Geburt ab begleitet sie uns und ist in uns anwesend. Das aber sind ja faktisch die beiden Momente, mit denen wir den Begriff ›von Natur‹ bestimmen: einerseits ›was uns alle gleich von Geburt an begleitet‹, andererseits ›was uns bei normalem, geradlinigem Entwicklungsablauf zuwächst‹, z. B. graue Haare, Alter und was dergleichen mehr ist. EE II 8, 1224b29–35.

Aristoteles bestimmt das, was von Natur aus (physei) besteht, hier durch zwei Momente: einerseits als das, was uns von Geburt an begleitet, und andererseits das, was uns bei einem normalen, unge­ hinderten Entwicklungsablauf ›zuwächst‹. Beides, sowohl das ratio­ nale Vermögen, hier mit logos bezeichnet, und das strebende Vermö­ gen, hier mit epithymia bezeichnet, kommen dem Menschen von Natur aus zu. Dies haben beide Vermögen gemeinsam. Dennoch kommen sie dem Menschen auf unterschiedliche Weise von Natur aus zu: Das Streben, so Aristoteles, ist von Anfang an, d. h. von Geburt an aktual im Menschen anwesend und begleitet ihn von da an. Diese Annahme lässt sich auch durch andere Belegstellen stützen, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme. Für den logos hingegen, so Aristoteles, gilt das andere Natürlichkeitskriterium: Dieser stellt sich ein, wenn die Entwicklung eines Menschen geradlinig verläuft, d. h. wenn nichts diese Entwicklung verhindert. Der logos als Potential ist also im Menschen auch von Geburt an anwesend, allerdings nur potenziell, und entfaltet sich im Laufe seiner Entwicklung zu einem aktualen Vermögen, das sich dann jeweils aktualisiert, wenn der Mensch denkt oder vernünftige Entscheidungen trifft. Ausgehend von dieser Annahme macht es Sinn, dass Aristoteles von Kindern sagt, dass ihr vernünftiger Seelenteil (noch) unvollkom­ men sei: Er ist in ihnen zwar schon vorhanden, aber noch in einer

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2.6 Vernunft – von Natur aus?

unvollkommenen Form.216 Wenn es zur Natur von erwachsenen Menschen gehört, rational zu sein, Kinder allerdings noch nicht rational sind, ist es eine plausible Interpretation, dass Kinder in zunehmendem Maße vernünftig werden. Sobald der Zenit überschrit­ ten ist und Vernunft aktual da ist, sind sie der Definition nach keine Kinder mehr. Kindheit lässt sich in Aristoteles‹ Sinn demnach als Zeit definieren, in der ein menschliches Lebewesen sein vernünftiges Potential noch nicht im vollen Sinne verwirklicht hat. Da Aristoteles von einem Entwicklungsablauf oder einem Prozess spricht, impliziert dies zudem, dass sich Vernunft sukzessiv einstellt. Erwachsenwerden wäre demnach zu verstehen als ein Prozess des sukzessiven Ver­ nünftig-werdens. Diese Interpretation wird auch von einer anderen Belegstelle gestützt, in der Aristoteles Folgendes sagt: ὥσπερ δὲ τὸ σῶμα πρότερον τῇ γενέσει τῆς ψυχῆς, οὕτω καὶ τὸ ἄλογον τοῦ λόγον ἔχοντος. φανερὸν δὲ καὶ τοῦτο· θυμὸς γὰρ καὶ βούλησις, ἔτι δὲ ἐπιθυμία, καὶ γενομένοις εὐθὺς ὑπάρχει τοῖς παιδίοις, ὁ δὲ λογισμὸς καὶ ὁ νοῦς προϊοῦσιν ἐγγίγνεσθαι πέφυκεν. […] und geradeso wie der Körper seiner Entstehung nach früher ist als die Seele, so ist auch der unvernünftige Teil der letzteren früher als der vernunftbegabte. Auch dieses liegt offen zutage, denn Erregung (thymos) und Wollen (boulēsis) sowie die Begierde (epithymia) sind bei den Kindern gleich nach der Geburt vorhanden, Überlegen (logismos) und Einsehen (nous) aber entwickeln sich naturgemäß nach und nach mit zunehmendem Alter. Pol. VII 15, 1334b20–25.

Aristoteles betont, dass sich vernünftiges Überlegen (logismos) und Einsehvermögen (nous) bei Kindern erst mit zunehmendem Alter einstellen, sie aber gleichzeitig das primäre Ziel der menschlichen Existenz darstellten. Alle Funktionen des strebenden Seelenteils217 seien allerdings von Geburt an schon (aktual) bei Kindern vorhanden. Die Formulierung, dass Vernunft hinzukomme, soll hinsicht­ lich der zeitlichen Entwicklung implizieren, dass Vernunft nicht von Anfang an aktual vorhanden ist. Die Rede vom ›Dazukommen‹ ist allerdings missverständlich und klingt, als sei Vernunft etwas, das Vgl. Pol. I 13, 1260a13–14. Begierde (epithymia) erfordert als kognitive Fähigkeit nur die Wahrnehmung und der Zorn (thymos) komplexe Wahrnehmung. Deshalb können sie Kindern bedenken­ los zugeschrieben werden. Zur Problematik des Wunsches (boulēsis) beim Kind an dieser Stelle siehe Fußnote 113. In EE II 8, 1224b30–31 sagt Aristoteles ebenfalls, dass die Begierde von Geburt an im Menschen sei. 216

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

dem Menschen an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung zuge­ geben werde, wie einer Suppe das Salz. Das ist allerdings nicht der Fall. Vernunft ist nicht etwas, das von außen her dazukommt, sondern sich von innen her einstellt. Sie ist Resultat der autopoietischen Funktion der menschlichen Natur. Man könnte nun wiederum Folgendes einwenden: Wenn die Vernunftfähigkeit dem Menschen aufgrund seiner natürlichen Ent­ wicklung zukommt wie das Wachsen von Haaren, dann müssten alle Menschen auf die gleiche Weise vernünftig sein. Dies ist aber offen­ sichtlich nicht der Fall. Der Begriff ›vernünftig sein‹ muss demnach präzisiert werden. Wenn wir sagen, dass manche Menschen ›unver­ nünftig‹ seien, dann ist im strikten Sinne nicht gemeint, dass sie keine Vernunft besäßen, wie eine Topfpflanze keine Vernunft besitzt, son­ dern vielmehr, dass Vernunft für diese Menschen in ihrem Handeln nicht verbindlich ist, wie bei Akratikern oder bei allein an der Lust orientierten Menschen. Diese Menschen haben ebenfalls eine logosFähigkeit, aber diese wird nicht wirksam, weil ihre charakterlichen Dispositionen es nicht erlauben. Diese Argumentation wird durch die Überlegungen von Iakonos Vasiliou gestützt. Er macht anschaulich, warum der Unterschied zwischen denen, die die Argumente der Ethik verstehen, und denen, die sie nicht verstehen, nicht darin besteht, dass die einen rational sind und die anderen nicht, sondern darin, dass die einen gut habituiert sind und die anderen nicht. Die Fähigkeit, objektive Argumente für Moralität nachzuvollziehen, mag zwar auch damit zusammenhängen, wie intelligent man ist. Aber für solche Überlegungen überhaupt erst offen zu sein, d.h. interessiert und emp­ fänglich, hängt von den charakterlichen Dispositionen ab.218 Aristote­ les versteht demnach unter Vernunftrezeptivität (›responsiveness to reason‹) letztlich eine Empfänglichkeit für moralische Überlegungen (›responsiveness to moral considerations‹).219 Wenn es darum geht, dass Tugendhaftigkeit nicht erreicht wird und sich die Vernunft nicht durchsetzt, macht Aristoteles dieses Scheitern am ethos fest. Vernunft stellt sich also auf natürliche Weise ein, in dem Sinne, dass jedem Menschen der logos aufgrund von Vgl. Vasiliou 1996, S. 775. Vgl. Kristjánsson 2006, S. 105. Die Empfänglichkeit für moralische Argumente werde ich im Folgenden als Argumentrezeptivität bezeichnen. Eine detaillierte Bespre­ chung dieser Fähigkeit findet sich in Abschnitt 5.6. Meine Überlegungen in Abschnitt 7.3.4 vertiefen diesen Aspekt. 218

219

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2.7 Die inhaltliche Nähe von Bestform und Ziel

natürlicher Entwicklung zukommt, wenn dem nichts hinderlich im Wege steht. Die Logosfähigkeit ist insofern ein natürliches Potential, als es sich in jedem Menschen qua Mensch natürlicherweise entfaltet: »to possess logos is the result of having a certain kind of nature (phu­ sis): nameley being a human being.«220 Die Vernunft wird aber nur auf gute und richtige Weise im Menschen wirksam und für sein Han­ deln verbindlich, wenn seine charakterlichen Dispositionen mithilfe der richtigen Gewöhnung gut eingerichtet wurden. Das Streben, das ihn von Geburt an begleitet, muss verändert bzw. gelenkt werden, damit der Mensch zu einem moralisch-vernünftigen Akteur werden kann. Diese Form der moralischen Vernünftigkeit, die an einen gut geformten Charakter gebunden ist, heißt im aristotelischen Vokabular phronēsis.221

2.7 Die inhaltliche Nähe von Bestform und Ziel Die teleologische Erklärung natürlicher Prozesse hat bei Aristoteles »eine evaluative bzw. axiologische Dimension.«222 Die Zweckursache als Ziel eines natürlichen Lebewesens oder Prozesses wird bei ihm häufig mit »dem Guten (tagathon), dem Besseren (to beltion) oder Besten (to ariston) gleichgesetzt«223. Etwas teleologisch, d. h. mit Blick auf ein Ziel erklären, heißt bei Aristoteles auch oder gerade im Bereich des natürlichen Geschehens, es durch das Gute oder Beste zu erklären. Das telos eines Lebewesens hat also den Charakter des Guten oder Besten für dieses Lebewesen.224 220 Vasiliou 1996, S. 778. Sorabji sieht darin die größte Innovation Aristoteles’ gegen­ über Platon. Platon geht offenbar davon aus, dass manche Menschen nie vernünftig werden oder, wenn überhaupt, dann erst spät (Rep. 441a-b). Indem Vernunft bei Aris­ toteles ein natürliches Potential darstellt, das jeder Mensch entfalten kann, und dadurch, dass er den rationalen von einem strebenden Seelenteil strikt trennt, wird das Vermögen der Vernunft an sich neutraler. Es ist nicht mehr, wie noch bei Platon, grundsätzlich in Richtung Weisheit angelegt, sondern kann gut oder schlecht einge­ setzt werden. Logos muss zum orthos logos werden. Vgl. Sorabji 1995, 70f. Deshalb kommt der Formung des strebenden Seelenteils bei Aristoteles eine so große Bedeu­ tung zu. 221 Vgl. Vasiliou 1996, S. 778–780. 222 Müller 2006, S. 44. 223 Müller 2006, S. 44. 224 Vgl. Müller 2006, S. 44.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

»Dass dabei nicht jeder angestrebte Zielzustand deswegen gleich den Charakter des objektiv bzw. wahrhaft Guten besitzt, hat Aristoteles selbst hervorgehoben: Intentionale Handlungen gehen zuerst einmal auf das scheinbare Gute, das phainomenon agathon (›gut‹ in der subjektiven Beurteilung des Handelnden), das nicht unbedingt mit dem tatsächlichen Guten (das haplōs agathon, welches als ›gut‹ im objektiven Sinne zu sehen ist), identisch sein muß.«225

In der teleologischen Erklärung verschwimmen dabei die Grenzen zwischen den Kategorien des Guten, des Zuträglichen und des Lust­ vollen. Im organischen Bereich ist das leicht zu verstehen. Lebewesen streben so betrachtet natürlicherweise nach Dingen, die ihnen guttun und ihrem Überleben zuträglich sind. Die meisten Tiere beispiels­ weise streben nach Nahrung, die in einem physiologischen Sinne gut für sie ist, d. h. nach Nahrung, die dem Erhalt ihrer jeweiligen Art zuträglich ist. Wenn sie diese Nahrung fressen, ist es für sie lustvoll und deshalb suchen sie sie. Die Zielzustände, die ein Lebewesen erstrebt, sind gut für das Lebewesen, zumindest in dem Sinne, dass sie ihm gut erscheinen und es sie deswegen erstrebt.226 Ob sie auch schlechthin gut sind, ist eine schwierige Frage, scheint aber für Tiere leichter bestimmbar zu sein als für den Menschen. Das zeigt sich vor allem in den verschiedenen Arten und Weisen, in denen der Mensch lebt. Denn bei ihm ist nicht einfach abzulesen, was das Gute für ihn ist.227 Grundsätzlich ist Aristoteles jedoch der Auffassung, dass die Bestform einer Daseinsform auch immer an der mit ihr verbundenen Lust erkennbar ist.228 Insofern liegt es auf der Hand, warum Aristoteles der Meinung ist, dass das tugendhafte Leben für den Menschen lustvoll sein muss. Eine weitere Überlegung wert wäre jedoch die Frage, ob die menschliche Bestform, die dann in der Übersetzung eben als Tugendhaftigkeit (aretē) wiedergegeben ist, dem Menschen auch zuträglich ist. Philippa Foot scheint in ihrer Inter­ pretation in diese Richtung zu argumentieren.229 Die grundlegende Idee ist, dass Tugendhaftigkeit nicht im kantischen Sinne gegen die natürlichen Neigungen und dem, woran ein Mensch Lust empfindet, durchgesetzt werden muss, sondern, dass Tugendhaftigkeit, im Sinne 225 226 227 228 229

Müller 2006, S. 45. Zum motivationalen Hedonismus vgl. Abschnitt 7.4. Vgl. Foot 2004, S. 64. EN X 5, 1176a2–9. Vgl. Foot 2004, S. 33.

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2.8 Zusammenfassung

von menschlicher Bestform, an sich lustvoll und rational gesehen das einzige ist, wonach ein Mensch streben wollen kann. »Aristoteles nimmt somit gegenüber Platon eine strebensethische Reformulierung des Begriffs des Guten (inklusive des lustvollen Guten) vor, die in ihrem Kern auf der Teleologie der Natur im Allgemei­ nen und der Begierden bzw. Bedürfnissen von spezifischen Lebewesen im Besonderen aufruht, sofern diese auf die tätige Verwirklichung des eigenen ergon bezogen sind.«230

Tugend (aretē) in diesem Sinne bezeichnet also zunächst noch gar nichts Moralisches, sondern lediglich »ein Konzept funktionaler Gut­ heit«231 oder »natürlicher Normativität«232, das mit dem Leben einer Lebensform zu tun hat, sich aber außerhalb des Belebten ebenso auf Gegenstände wie Artefakte beziehen kann.233

2.8 Zusammenfassung Wir haben gesehen, dass der Naturbegriff bei Aristoteles sehr viel­ schichtig ist und dass alle Dimensionen dieses Begriffs in gewisser Weise für die Analyse der paideia relevant sind. Die Natur N1 als Anfangsbedingung und Ausgangspunkt des Erziehungsprozesses umfasst alle angeborenen Eigenschaften des Menschen und bildet den Ausgangspunkt des Erziehungsprozesses. Die Natur Nt als Ziel- und Endgestalt dessen, was der Mensch sein soll und sein kann, ist das Ziel der paideia. Es ist Vor- und Aufgabe des Menschen, dieses Ziel zu verwirklichen. Auf dem Weg zu diesem Ziel spielt die Natur als treibende Kraft der Entfaltung natürlich angelegter Potentiale von innen heraus eine komplementäre Rolle zu von außen einwirkenden Faktoren wie Gewöhnung und Belehrung. Ich habe gezeigt, dass die menschliche Eigenschaft ein natürliches Potential ist, das sich durch Entwicklung entfaltet. Die Tatsache, dass manche Menschen vernünftig (d.h. von der Vernunft geleitet) handeln und leben und andere nicht, liegt darin begründet, wie ihre charakterliche Konstitution ist. Menschen, deren habituelle Impulse in der Kindheit auf das Gute ausgerichtet werden, 230 231 232 233

Müller 2016, S. 41. Ebd., S. 42. Foot 2004, S. 59. Vgl. Müller 2016, S. 42 mit Verweis auf EN II 5, 1106a15–21.

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2. Der Naturbegriff und seine Bedeutung für die Erziehung (paideia)

sind für moralische Überlegungen und ethische Argumente empfäng­ lich. Da die vernunftgeleitete Lebensweise für den Menschen die bestmögliche Daseinsform ist, kann der Mensch nicht allein durch die Entfaltung natürlicher Potentiale, sondern erst durch paideia seiner wahren Natur Nt entsprechen und diese verwirklichen. Moralische Tugendhaftigkeit ist in diesem Sinne das Natürlichste für den Men­ schen. Da das gute menschliche Leben anspruchsvoll und komplex ist, ist die paideia des Menschen die komplexeste aller Lebewesen. Trotzdem gibt es auch bei anderen Lebewesen Formen von Lernen und Erziehung, durch die der Nachwuchs überlebenswichtige Fähig­ keiten erlernt und zu gemeinsamem Leben herangezogen wird. Die Notwendigkeit der paideia zum Erreichen der vollendeten Natur ist demnach nichts, was für die Spezies Mensch spezifisch wäre. Den natürlichen Lebewesen Mensch und Tier ist weiterhin gemeinsam, dass ihre körperliche Beschaffenheit funktional auf die Ausübung der für sie spezifischen Tätigkeiten ausgerichtet ist. Der Begriff der Bestform/ Tugend (aretē) ist sowohl im Tierreich als auch auf den Menschen bezogen eng mit dem der energeia verbunden: Natürliche Lebewesen werden ihrer Natur in einem guten Sinne gerecht, wenn sie in den artspezifischen Tätigkeiten tätig sind. Das Ausüben dieser Tätigkeiten ist für sie lustvoll und ihnen zuträglich. Das richtige Leben kann insofern auch daran erkannt werden, dass es mit Lust verbunden ist. Der Naturbegriff ist insofern telelogisch, als jedem Lebewesen qua Artzugehörigkeit bereits artspezifische Ziele zukommen. Diese teleologische Erklärung natürlicher Prozesse hat zudem eine evalua­ tive Komponente: Die Zielzustände, die ein Lebewesen erstrebt, sind für dieses gut, zumindest in dem Sinne, dass sie ihm gut erscheinen und es sie deswegen erstrebt. Im teleologischen Naturbegriff ist deshalb auch immer eine evaluative Komponente enthalten.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos) und seine Rolle im Tugenderwerbsprozess: Habituation

Das Ziel des nun folgenden Kapitels besteht darin, Aristoteles‹ Haupt­ thesen zum ersten Aspekt der Erziehung, der Charakterformung durch Gewöhnung (ethos), der sogenannten Habituation, herauszu­ arbeiten.234 Es geht dabei einerseits um eine positive Bestimmung des Begriffs der Habituation, sowie gleichzeitig um eine Abgrenzung dieser vom Begriff der Instruktion. Zentral für dieses Unternehmen ist das zweite Buch der Nikomachischen Ethik, in welchem Aristoteles erläutert, was man sich unter der Form des Lernens, welches durch Gewöhnung verursacht wird, vorzustellen habe. Aristoteles vertritt die Auffassung, dass ethische Tugend (aretē ēthikē) durch Gewöhnung (ethos/ethizein) entsteht. Dabei ist zum einen zu unterscheiden zwischen dem Prozess der Gewöhnung (in der anglophonen Literatur habituation) und dem Ergebnis des Gewöh­ nungsprozesses, der Gewohnheit (habit). Es ist wichtig zu verstehen, wie Aristoteles diese Begriffe gebraucht. Ich möchte anschaulich machen, dass Gewöhnung bei Aristoteles jeglichen Prozess des Erwerbs von Fähigkeiten oder der Veränderung von natürlichen Dispositionen bezeichnet, und eine Gewohnheit eine feste, durch Gewöhnung erworbene (Verhaltens-)Disposition ist. Sarah Broadie versucht Habituation als dasjenige zu erklären, wodurch ethische Tugend entsteht, und möchte deshalb ausgehend von einer Diskussion der ethischen Tugend deuten, was unter dem Prozess des Tugenderwerbs zu verstehen sein könnte.235 Damit beginnt sie mit dem schwierigeren Problem, weil in der Forschung umstritten ist, was ›ethische Tugend‹ bei Aristoteles eigentlich bedeu­ tet. Ich möchte deshalb umgekehrt vorgehen und mich dem Begriff der Gewöhnung (ethizein) erst unabhängig von dem Begriff der ethischen

234 Wesentliche Ergebnisse dieses Kapitels wurden in stark verkürzter Form veröf­ fentlicht auch in Summa 2022b. 235 Broadie 1991, S. 72f.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Tugend nähern.236 Daraus werden sich neue Perspektiven auf den Begriff der ethischen Tugend bei Aristoteles ergeben. Ziel dieses Kapi­ tels ist es, alle Elemente einer Theorie der Habituation herauszuar­ beiten, und zwar auf Grundlage der ersten Kapitel des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik. Diese Elemente werde ich mit der Hinzunahme von Passagen aus einigen der theoretischen Schriften des Aristoteles (Metaphysik, Physik, De memoria et reminiscentia) weiter elaborieren.

3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)? 3.1.1 Ausgangspunkt: Die Einteilung der Seele und die dichotomische Struktur der Tugend Ausgangpunkt für die Definition der Tugend als Eigenschaft der menschlichen Seele ist die Zweiteilung der Seele in einen von sich aus vernünftigen und einen passiv-vernünftigen Teil: Διττῆς δὴ τῆς ἀρετῆς οὔσης, τῆς μὲν διανοητικῆς τῆς δὲ ἠθικῆς, ἡ μὲν διανοητικὴ τὸ πλεῖον ἐκ15 διδασκαλίας ἔχει καὶ τὴν γένεσιν καὶ τὴν αὔξησιν, διόπερ ἐμπειρίας δεῖται καὶ χρόνου· ἡ δ᾿ ἠθικὴ ἐξ ἔθους περιγίνεται, ὅθεν καὶ τοὔνομα ἔσχηκε μικρὸν παρεγκλῖνον ἀπὸ τοῦ ἔθους. Da die Gutheit (aretē) also zwei Arten aufweist, die Gutheit des Denkens (dianoētikē) und die charakterliche (ēthikē) Gutheit, verdankt die Gutheit des Denkens sowohl ihr Entstehen als auch ihr Anwachsen größtenteils der Belehrung (didaskalia) – weshalb sie Erfahrung und Zeit erfordert –, während die charakterliche Gutheit aus Gewöhnung hervorgeht. Daher auch ihr Name (ēthikē), der nur wenig von dem Wort ethos (Gewohnheit) abweicht. EN II 1, 1103a14–18.

Mit der Bestimmung der Tugend als von zweifacher Art (dittēs ousēs) nimmt Aristoteles eine Unterscheidung vor, die er bereits im letzten Abschnitt des ersten Buches der Nikomachischen Ethik begründet hat: Die Unterteilung der Tugend in ethische und die dianoetische.237 Die Seelenteile, denen diese Formen von Exzellenz zugeschrieben werden, 236 Die Kritik an Broadies Vorgehensweise ist durch Burnyeat inspiriert. Burnyeat 1980, S. 69. 237 Vgl. Broadie/Rowe 2011, S. 296.

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3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?

sind einerseits der Teil, der logos hat (im Folgenden als der rationale Teil der Seele bezeichnet), und zwar im eigentlichen Sinne und in sich selbst, und andererseits der Teil, der auf den logos hören kann, wie ein Kind auf den Vater hört (im Folgenden als strebenden Teil der Seele bezeichnet).238 Für beide Formen der Tugend gibt Aristoteles Beispiele. Dia­ noetische Tugenden sind Weisheit (sophia), Einsicht (synesis) und praktische Vernunft (phronēsis). Für charakterliche Tugenden nennt Aristoteles Freigiebigkeit (eleutheriotēra) und Besonnenheit (sophro­ synē). Diese Listen sind nicht erschöpfend, sondern bieten vielmehr einzelne typische Bestformen des Intellekts und des Charakters, die dem Leser eine vage Idee von dem geben sollen, worüber Aristoteles spricht. Eine theoretische Untermauerung dieser Zuordnung steht an dieser Stelle der Nikomachischen Ethik noch aus. Um den Unterschied zwischen diesen Formen von Tugend noch anschaulicher zu machen, nutzt Aristoteles einen Hinweis auf den alltäglichen Sprachgebrauch: Wenn wir jemanden als weise (sophos) oder verständig (synetos) bezeichnen, dann sprechen wir nicht von seinem Charakter, sondern von seinem Intellekt. Wenn wir aller­ dings eine Charaktereigenschaft als lobenswert hervorheben wollen, dann würden wir einen Begriff wie ›sanft‹ (praos) oder ›besonnen‹ (sōphrōn) verwenden. Durch diesen Sprachgebrauch wird deutlich, dass es unterschiedliche Eigenschaften der menschlichen Seele gibt, die wir als lobenswert bezeichnen: Wir können einmal den Intellekt eines Menschen loben, indem wir ihn als weise oder klug bezeichnen. Der gleiche Mensch kann aber auch in Hinblick auf seine charakter­ Vgl. EN I 13, 1103a 1–10. Dabei kommt es Aristoteles nicht darauf an, ob diese Zweiteilung ontologisch, physisch oder nur begrifflich zu verstehen ist, und dies ist auch für den in der Ethik gesetzten Untersuchungsgegenstand unwichtig. Vgl. EN I 13, 1102a29ff. Aristoteles scheint damit auf eine damals zeitgenössische Diskussion zu verweisen: Entweder die Seele ist zweigeteilt, wie auch ein Körper mehrere Teile hat, wie auch andere teilbare Dinge. Oder aber sie ist der Natur nach eine Einheit, allerdings begrifflich zweiteilig. Ich nehme an, dass Aristoteles zu der zweitgenannten Alternative neigt. Die Seele als für das Leben eines lebendigen Kör­ pers verantwortliche Ursache, muss eines sein. Die begriffliche Trennung ergibt sich allerdings notwendig aus den unterschiedlichen Funktionen, die der Seele zugeschrie­ ben werden können. Diese begrifflichen Unterscheidungen sind durchaus wichtig, um menschliche Entscheidungsprozesse und menschliches Handeln zu erläutern. Ich übernehme die Lesart, die von einer funktionalen Gliederung in eine rationale, eine strebende und eine vegetative Gruppe von Vermögen ausgeht, und damit der Lehre entspricht, die in De anima präsentiert wird. 238

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

liche Disposition (hexis) gelobt werden, nur eben mit anderem Voka­ bular.239 Auch charakterliche Dispositionen können also Gegenstand von Lob und Tadel sein und Eigenschaften, die lobenswert sind, sind für Aristoteles Tugenden.240 Im nun für uns im Mittelpunkt stehenden Abschnitt des zwei­ ten Buches geht es um den Erwerb dieser so skizzierten zweifa­ chen Tugend. Die dianoetischen Tugenden werden nach Aristoteles ›größtenteils‹ durch Belehrung (didaskalia) erworben. Belehrung ist sowohl für das Entstehen (genesis) als auch für das Anwachsen (auxēsis) von intellektuellen Tugenden verantwortlich. Dies liefert die Begründung dafür, zu behaupten, intellektuelles Lernen erfordere Zeit und Erfahrung. Allerdings bleibt unklar, warum nur ein Großteil der dianoe­ tischen Tugend und nicht die Tugend in ihrer Gesamtheit durch Belehrung erlernt werden soll. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass sich die Vervollkommnung der dianoetischen Tugend eventuell durch natürliche Entwicklung vollzieht.241 Außerdem erklärt Aristo­ teles nicht, ob Zeit und Erfahrung auf Seiten des Schülers oder auf Seiten des Lehrers gefordert sind, wobei schlichtweg plausibel ist, beides anzunehmen. Über die Tugenden des Charakters erfahren wir, dass sie durch Gewöhnung (ethos) entstehen. Die etymologische Verwandtschaft zwischen dem Adjektiv ethisch/charakterlich (ēthikē) und dem Substantiv Gewöhnung/Habituation (ethos) scheint Aristoteles als ersten Hinweis auf enge systematische Verwandtschaft zwischen Gewöhnung und Tugend zu nehmen. Die Bemerkung, dass gerade die Belehrung Erfahrung und Zeit erfordere, verwundert. Broadie, die richtigerweise darauf hinweist, dass der Prozess der Habituation, so wie er von Aristoteles konzipiert wird, schon in der frühen Kindheit beginnen muss, denkt, dass Aristoteles meinen muss, dass Zeit und Erfahrung notwendig seien, bevor Belehrung (didaskalia) beginnen könne.242 Erfahrung gehe der Vgl. EN I 13, 1103a3–10. In der Parallelstelle in der Eudemischen Ethik spielt der Aspekt des Lobens ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Beispiele sind allerdings andere: »Wir kennzeichnen nämlich die charakterliche Beschaffenheit eines Menschen nicht, indem wir sagen er sei weise (sophos) oder gerissen (deinos), sondern (indem wir sagen): er hat ein ruhiges (praos) oder freches (thrasus) Wesen.« EE II 1, 1220a11–13. 241 Vgl. meine Argumentation in Abschnitt 2.6. 242 Vgl. Broadie/Rowe 2011, S. 296; Broadie 1991, S. 73. 239

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3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?

Analyse und dem systematischen Wissen voraus und sei deshalb der Stoff für die phronēsis243 und die Voraussetzung dafür, von Aristoteles‹ Abhandlung über Ethik zu profitieren.244 Phronēsis sei nur möglich, wenn der strebende Seelenteil richtig trainiert sei und dieses Training erfordere eben Zeit, wie auch der Zugewinn von Erfahrung.245 Dieser Erklärung ist in Gänze zuzustimmen.246

3.1.2 Der Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten Der nächste Schritt, nachdem Aristoteles die ethische Tugend als Ergebnis der Gewöhnung, d. h. hier als Ergebnis eines Prozesses der Gewöhnung, definiert hat, besteht darin, Gewöhnung und Natur voneinander abzugrenzen. ἐξ οὗ καὶ δῆλον ὅτι οὐδεμία τῶν ἠθικῶν ἀρετῶν φύσει ἡμῖν ἐγγίνεται· οὐθὲν γὰρ τῶν φύσει ὄντων ἄλλως ἐθίζεται, […] Hieraus wird auch deutlich, dass keine der ethischen Tugenden in uns von Natur aus (physei) entsteht. Denn kein natürliches Ding (tōn physei ontōn) wird durch Gewöhnung (ethizetai) verändert […]. EN II 1, 1103a18–20.247

Aus der Behauptung, ethische Tugend entstehe nicht durch Beleh­ rung, sondern Gewöhnung (ethos), so Aristoteles, folge direkt, dass die ethische Tugend nicht von Natur aus entstehe. Aristoteles stellt hier zwei Wirklichkeitsbereiche einander gegenüber. Auf der einen Seite das von Natur aus Seiende, d. h. die Menge von Dingen, die sowohl Entstehungs- als auch Bewegungsursache und somit causa formalis wie causa finalis in der Natur haben, und auf der anderen Seite die Menge von Dingen, die ihre Entstehungs- und Bewegungs­ ursache und damit causa formalis und causa finalis in der Gewöhnung haben. Aus der Zuordnung der ethischen Tugend zu dem, was durch 243 Broadie/Rowe 2011, S. 296 mit Verweis auf EN VI 8, 1142a9–19; VI 12, 1143b11–14. 244 Ebd. mit Verweis auf EN I 3, 1095a2–3. 245 Vgl. Broadie/Rowe 2011, S. 296. 246 Inwiefern Erfahrung als die Grundlage des weiteren Verstehens dient, werde ich in Kapitel 4 ausarbeiten. 247 Übersetzung nach Wolf, leicht modifiziert: sie übersetzt aretē ēthikē mit Tugend des Charakters, ich mit ›ethische Tugend‹. Diese Begriffe sind aber synonym.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Gewöhnung entsteht, wird allein schon begrifflich impliziert, dass die ethische Tugend keine natürliche oder angeborene Eigenschaft ist, sondern erst durch Gewöhnung, genauer Gewöhnt-Werden (ethize­ tai), entstehen kann. Wir erkennen hier den Naturbegriff wieder als Summe aller natürlichen Potentiale N1 im Sinne von angeborenen Potentialen. Aristoteles nutzt den Vergleich mit dem natürlichen Verhalten des Steines und des Feuers, um zu veranschaulichen, dass jedes Seiende »über spezifische Bewegungs- und Ruhezustände«248 verfügt. οἷον ὁ λίθος φύσει κάτω φερόμενος οὐκ ἂν ἐθισθείη ἄνω φέρεσθαι, οὐδ᾿ ἂν μυριάκις αὐτὸν ἐθίζῃ τις ἄνω ῥίπτων, οὐδὲ τὸ πῦρ κάτω, οὐδ᾿ ἄλλο οὐδὲν τῶν ἄλλως πεφυκότων ἄλλως ἂν ἐθισθείη. οὔτ᾿ ἄρα φύσει οὔτε παρὰ φύσιν ἐγγίνονται αἱ ἀρεταί, ἀλλὰ πεφυκόσι μὲν ἡμῖν δέξασθαι αὐτάς, τελειουμένοις δὲ διὰ τοῦ ἔθους. Beispielsweise lässt sich ein Stein, der von Natur aus nach unten fällt, nicht daran gewöhnen, nach oben zu fliegen, selbst wenn jemand ihn dadurch daran gewöhnen wollte, dass er ihn zehntausendmal (myriakis) nach oben wirft. Ebenso wenig kann man das Feuer daran gewöhnen, sich nach unten zu bewegen, und man wird auch keines von den übrigen Dingen, das von Natur aus auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, daran gewöhnen können, sich auf eine andere Weise zu verhalten. Also entstehen die Tugenden in uns weder von Natur aus noch gegen die Natur. Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet. EN II 1, 1103a20–26.

Diese Passage gibt Aufschluss über den Mechanismus der Gewöh­ nung. Oberflächlich betrachtet scheint es banal, darauf hinzuweisen, dass der Stein nicht durch wiederholtes Hochwerfen lernen kann, zu fliegen. Tatsächlich könnte man den Mechanismus der Gewöhnung jedoch genauso verstehen: Ein Objekt oder Individuum unterliegt wiederholt demselben Einfluss oder derselben Aktivität und verän­ dert dadurch sein Verhalten. So erklärt es Aristoteles in der parallelen Passage der Eudemischen Ethik: ἐπεὶ δ᾿ ἐστὶ τὸ ἦθος—ὥσπερ καὶ τὸ ὄνομα σημαίνει ὅτι ἀπὸ ἔθους ἔχει τὴν ἐπίδοσιν, ἐθίζεται δὲ ὑπ᾿ ἀγωγῆς τὸ μὴ ἔμφυτον τῷ πολλάκις κινεῖσθαί πως οὕτως ἤδη ἐνεργητικόν.

248

Müller 2006, S. 17.

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3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?

Indem aber der Charakter (ēthos), wie auch der Name anzeigt, etwas ist, was sich von der Gewöhnung (ethos) herausbildet, der Gewöhnungs­ prozess aber vor sich geht durch eine Führung, die keine angeborene ist, vermittels häufigen, in bestimmter Art erfolgenden Bewegtwerdens, ist er auf diese Weise letzten Endes das aktivierende Element. EE II 2, 1220a39–b3.

Wir finden hier dieselbe Idee. Der Charakter oder die charakterliche Tugend (aretē ēthikē) entsteht durch Gewöhnung (ethos), und das bedeutet, dass sich durch die Wiederholung einer Bewegung oder Aktivität ein Lerneffekt einstellt: Ein Lebewesen lernt, dieselbe Bewe­ gung, der es zunächst passiv unterworfen wird, später aktiv, d. h. aus sich selbst heraus bzw. von sich aus, auszuüben. Aristoteles macht dabei mit dem Beispiel des Steines darauf auf­ merksam, dass aus seiner Sicht der Grund dafür, dass der Stein nicht durch wiederholtes Hochgeworfen-Werden daran gewöhnt wird, zu fliegen, dessen Natur ist. Natur bezeichnet hier in einem essentialisti­ schen Sinne des Wortes, das, was der Stein seinem Wesen (ousia) nach ist. Seiner Natur (physis) nach wird der Stein immer, sobald er in der Luft ist, nach unten fallen. Deshalb ist die Bewegung nach oben für ihn unnatürlich im Sinne von gewaltsam: Das Prinzip dieser Bewegung liegt nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern agiert gegen seine natürliche Bewegung.249 Aristoteles erklärt weiter: »Das [also der Effekt der Gewöhnung] ist etwas, was wir beim Unbelebten nicht beobachten können, denn auch dann, wenn du den Stein unzählige Male in die Höhe wirfst, wird er dies [das Steigen] niemals tun ohne Zwang.«250 Menschen als lebendige, mit Wahrnehmung ausgestattete Wesen können hingegen durch Gewöhnung neue Verhaltensweisen erwerben, die vorher nicht angeboren sind – allerdings offensichtlich nicht jede Art von Verhaltensweise. Denn auch Menschen können nicht durch wiederholtes Hochgeworfen-Werden lernen, zu fliegen. Anscheinend liegt es also in der menschlichen Natur, nur bestimmte Fähigkeiten erwerben zu können, nämlich solche, zu denen dem Men­ schen natürlicherweise ein bestimmtes Potential zukommt. Aristote­ les zeigt mit diesem Vergleich auf, dass jedes lebendige Wesen eine 249 Aristoteles geht davon aus, dass ein Stein eine natürliche Bewegung zum Erd­ mittelpunkt hat, weil er hauptsächlich aus einem Element (der Erde) besteht, das zu seinem natürlichen Ort strebt. Vgl. Broadie/Rowe 2011, S. 296. 250 EE II 2, 1220b3–5.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

bestimmte Bandbreite von Fähigkeiten erwerben kann, die innerhalb seines natürlichen Potentials N1 liegen. Aus dieser Perspektive macht auch der letzte Satz dieses Abschnitts Sinn: Die Tugenden entstehen nicht gegen die Natur im Menschen, sie liegen durchaus im Bereich des Möglichen für ihn. Sie entstehen aber nicht allein durch natürliche Entwicklungsprozesse (Nk), sondern es bedarf eines weiteren Schrit­ tes, der Gewöhnung, um sie zu erwerben. Der Gewöhnungseffekt scheint aber erst bei einer häufigen Wiederholung einzutreten: myra­ kis heißt wörtlich ›unzählige Male‹. Zwei- oder dreimal demselben Einfluss zu unterliegen, ergibt deshalb noch keinen Gewöhnungsef­ fekt.251 Die natürliche Eigenschaft des Steines herunterzufallen, wenn er hochgeworfen wird, ist eine dynamis (engl. capacity/potentiality). Damit wird ein naturgegebenes Potential oder eine Grundfähigkeit des Steines bezeichnet. Im Folgenden sagt Aristoteles genauer, worin sich angeborene von angewöhnten Fähigkeiten unterscheiden: Näm­ lich durch die Reihenfolge, in der sich Potentialität und Aktualität zueinander verhalten. ἔτι ὅσα μὲν φύσει ἡμῖν παραγίνεται, τὰς δυνάμεις τούτων πρότερον κομιζόμεθα, ὕστερον δὲ τὰς ἐνεργείας ἀποδίδομεν (ὅπερ ἐπὶ τῶν αἰσθήσεων δῆλον· οὐ γὰρ ἐκ τοῦ πολλάκις ἰδεῖν ἢ πολλάκις ἀκοῦσαι τὰς αἰσθήσεις ἐλάβομεν, ἀλλ᾿ ἀνάπαλιν ἔχοντες ἐχρησάμεθα, οὐ χρησάμενοι ἔσχομεν)· τὰς δ᾿ ἀρετὰς λαμβάνομεν ἐνεργήσαντες πρότερον, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων τεχνῶν· ἃ γὰρ δεῖ μαθόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανθάνομεν, οἷον οἰκοδομοῦντες οἰκοδόμοι γίνονται καὶ κιθαρίζοντες κιθαρισταί· οὕτω δὲ καὶ τὰ μὲν δίκαια πράττοντες δίκαιοι γινόμεθα, τὰ δὲ σώφρονα σώφρονες, τὰ δ᾿ ἀνδρεῖα ἀνδρεῖοι. Ferner: Bei dem, was von Natur aus (physei) gegeben ist, besitzen wir zuerst die Fähigkeit (dynamis), und äußern erst später die Tätig­ keit (energeia), wie das bei der sinnlichen Wahrnehmung (aisthēsis) deutlich ist. Wir haben nämlich die Wahrnehmungsvermögen nicht durch wiederholtes Sehen oder Hören erworben, sondern umgekehrt: Weil wir die Wahrnehmungsvermögen schon hatten, haben wir sie gebraucht; wir haben sie nicht durch den Gebrauch erst bekommen.

Ausnahmen bestätigen die Regel. In De mem. 2, 451b14ff. zieht Aristoteles auch die Möglichkeit in Betracht, dass etwas so einprägsam sein kann, dass es nach nur einmaligem Sehen im Gedächtnis bleibt, bzw. dass manche Menschen nach nur einmaligem Kontakt mit einem Gegenstand an ihn gewöhnt sein können. 251

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3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?

Die Tugenden hingegen erwerben wir dadurch, dass wir sie zuvor (proteron) betätigen (energein), wie das auch bei den Arten des Herstel­ lungswissens (technē) der Fall ist. Denn was wir erst lernen müssen, um es zu machen (poiein), lernen wir, indem wir es machen (poiountes mantanomen). Zum Beispiel wird man Baumeister dadurch, dass man baut, und Kitharaspieler, dadurch, dass man die Kithara spielt. So werden wir auch gerecht dadurch, dass wir Gerechtes tun (prattein), mäßig dadurch, dass wir Mäßiges und tapfer dadurch, dass wir Tapferes tun. EN II 1, 1103a26–1103b2.

Die Fähigkeiten, die uns von Natur aus innewohnen, müssen wir nur aktivieren, um sie zu gebrauchen, und zwar in einer Form von Aktivität (energeia). Zur Veranschaulichung dient die Wahrnehmung: Man muss nicht erst wiederholt sehen oder hören, um das Sehen und Hören zu lernen, sondern im Gegenteil. Man muss zuerst und anfänglich schon in der Verfügung über diese Fähigkeit sein und kann sie dann gebrauchen, wenn sich ein Wahrnehmungsobjekt zur Anschauung anbietet. Für den Tugenderwerb nimmt Aristoteles genau den umgekehr­ ten Fall an. Die Tugenden erwerbe man, indem man sie betätige (energēsantes proteron). Dies haben sie seiner Meinung nach mit ande­ ren Kunstfertigkeiten (technai) gemeinsam.252 Aristoteles formuliert die ›learning by doing‹-Konzeption noch einmal stärker: »Durch das Handeln (poiountes) lernen wir (manthanomen)« und nennt diesmal konkrete technai. Baumeister entstünden durch das Bauen von Häu­ sern und Kitharaspieler durch das Spielen der Kithara. Dies sei parallel zum Erwerb der Tugenden zu verstehen: Wir würden gerecht dadurch, dass wir gerecht handeln, besonnen durch besonnenes Handeln und tapfer durch tapferes Handeln. Aristoteles‹ These ist demnach die Folgende: die Fähigkeit (dyna­ mis) entsteht durch die entsprechende Tätigkeit (energeia). Tätigkeit wird von Aristoteles mit drei unterschiedlichen Verben benannt: energein, poiein, prattein. Auch in diesem Kontext verweist Aristote­ les wieder auf die Häufigkeit der Wiederholung, diesmal innerhalb einer Negativformulierung: Man könne die Fähigkeit zu sehen nicht dadurch trainieren, etwas viel/oft (pollakis) anzuschauen.253 Für natürliche Fähigkeiten gilt also, dass die dynamis zeitliche Priorität gegenüber der energeia hat. Für erworbene Fähigkeiten 252 253

Vgl. EN II 1, 1103a31f. Vgl. EN II 1, 1103a28f.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

(hexeis/aretai) gilt das umgekehrte Prinzip: Die Aktivität hat zeitliche Priorität gegenüber der durch die Aktivität zu erwerbenden Haltung/ Disposition, die wiederum erst dazu befähigt, tätig zu sein. Die Tugend ist als Potential zu verstehen, sich tugendhaft zu verhalten, soll aber, wie Aristoteles betont, erst dadurch erworben werden, dass man sich tugendhaft verhält – dies scheint eine zirkuläre Auffassung zu sein. Bevor ich jedoch auf die Lösung dieses Zirkelproblems ein­ gehe, möchte ich zunächst auf den zweiten Anlauf eingehen, den Aristoteles unternimmt, um den beschriebenen Mechanismus noch einmal anders zu beschreiben, und zwar durch den Vergleich mit dem Erwerb einer technē.

3.1.3 Lernen durch Handeln und die technē-Analogie Aristoteles bestimmt das Entstehungsprinzip der Tugend als dasselbe, durch das auch ihr Vergehen ausgelöst wird. Dieses Prinzip sei vergleichbar mit dem Prinzip, durch das eine Kunstfertigkeit entstehe, bzw. man eine Kunstfertigkeit erwerbe. ἔτι ἐκ τῶν αὐτῶν καὶ διὰ τῶν αὐτῶν καὶ γίνεται πᾶσα ἀρετὴ καὶ φθείρεται, ὁμοίως δὲ καὶ τέχνη· ἐκ γὰρ τοῦ κιθαρίζειν καὶ οἱ ἀγαθοὶ καὶ οἱ κακοὶ γίνονται κιθαρισταί· Das wodurch die Tugend entsteht und das wodurch sie vergeht, sind das gleiche, ähnlich wie bei der Kunstfertigkeit (technē): Aus dem Kithara­ spielen gehen nämlich sowohl gute als auch schlechte Kitharaspieler hervor […]. EN II 1, 1103b6–9.254

Was ist dieses Prinzip? Zunächst wird es an einer typischen Kunst­ fertigkeit demonstriert: Aus dem Kithara-Spielen entstehen sowohl gute wie auch schlechte Kitharaspieler. Aus der Aktivität entstehe also die Fähigkeit, und dies jeweils in der jeweiligen Qualität der Ausübung. Aus diesem Grund meint Aristoteles, brauche es Lehrende (didaxōn).255 Ohne Lehrende256 würden alle, die eine Kithara in die Meine Übersetzung. EN II 1, 1103b12. 256 Ich bezeichne beide Personengruppen des Erziehungsprozesses – Lernende und Lehrende – bewusst mit dem substantivierten Partizip, um auszudrücken, dass diese Rollen grundsätzlich von Menschen jeglicher geschlechtlicher Identität eingenommen werden können. Im Sinne der einfacheren Lesbarkeit verzichte ich allerdings auf ein Gendern mit er*sie im Fließtext. Leider ist davon auszugehen, dass Aristoteles jedoch 254 255

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3.1 Was ist Habituation durch Gewöhnung (ethos/ethizein)?

Hand nähmen, einfach zufällig gute oder schlechte Kitharaspieler. Aus ein und demselben Mechanismus, der wiederholten Tätigkeit, entsteht laut Aristoteles sowohl eine gute Fähigkeit wie auch eine schlechte Fähigkeit. Der Unterschied wird davon ausgemacht, ob ein Lehrender die Tätigkeit begleitet oder nicht. Leider wird den Lehrenden von Aristoteles keine weitere Tätigkeit als didaxein zuge­ schrieben. Dem Text ist daher nicht zu entnehmen, was die Lehrenden im Einzelnen tun. Es muss sie aber in jedem Fall geben, und sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der aus der Aktivität folgenden Kompetenz.257 Nachdem das gesagt ist, überträgt Aristoteles den genannten Mechanismus bzw. das genannte Prinzip auf die Tugenden. Die Tätigkeit wird nun nicht mehr so konkret benannt, wie bei den Kunst­ fertigkeiten (Kithara-Spielen, Häuser-Bauen), sondern allgemeiner: Handelnd bzw. durch Handeln (prattontes) werden Menschen daran gewöhnt (ethizomenoi), sich im Umgang mit anderen Menschen gerecht oder ungerecht zu verhalten, oder in Gefahrensituationen tapfer standzuhalten oder feige wegzurennen. Dies gelte auch noch für einen dritten Tugendbereich, den des Affekts und der Lust. Je nachdem werde man besonnen und mild oder unmäßig und erzürnbar, je nachdem, wie man sich im Umgang mit anderen Menschen verhielte. Nach diesen umrisshaften Beispielen für den Tugenderwerb durch Handeln, benennt Aristoteles das Prinzip, die Formel oder Regel, die er in all dem gegeben sieht: Aus den Tätigkeiten (ener­ geia) entstehen die entsprechenden Haltungen (hexeis). Besonders interessant ist hier die Wortwahl. Aristoteles ist der Meinung, dass dieses Prinzip einen logos darstelle. Es scheint, als handle es sich um einen logos, der nicht irgendeiner Quelle entnommen, sondern an dieser Stelle von Aristoteles neu formuliert wird.258 Aus dem Prinzip, dass die Haltungen aus den Tätigkeiten entstehen, leitet Jungen als Lernende und Männer als Lehrende im Kopf hat. Zu der Problematik des Geschlechts und der Rolle von den Geschlechtern im Erziehungsprozess siehe Kapitel 6. 257 Mit Kompetenz bezeichne ich jeweils ein Bündel von Fähigkeiten. 258 Die zweite interessante Auffälligkeit: Aristoteles spricht an dieser Stelle von Haltungen (hexeis). Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die ethische Tugend (aretē ēthikē), dann sprach er von Fähigkeiten (dynameis) und jetzt von Haltungen (hexeis). Der Text entspricht in diesem Satz also bereits der späteren Argumentation, in der die ethische Tugend nicht als dynamis, sondern als hexis bestimmt wird. Vgl. EN II 4, 1105b19–1106a13.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Aristoteles dann das Postulat ab, dass man den Tätigkeiten eine bestimmte Beschaffenheit geben muss. Dieses Postulat wird von einem weiteren Hinweis erweitert, wieder in einer Formulierung via negationis. Es mache keinen geringen Unterschied, d. h. es sei von grundlegender Bedeutung, schon von Kindheit an das Richtige gewöhnt zu werden.259 Damit stehen die Kernelemente einer Theorie der Gewöhnung fest. Eine erworbene Fähigkeit entsteht durch die entsprechende Tätigkeit, d. h. der menschliche Charakter wird durch das eigene Handeln geformt. Den entscheidenden Unterschied für den gelungenen Lernprozess macht der Lehrende aus, denn ohne Lehrenden kann man sich auch an eine schlechte Handlungsroutine gewöhnen. Dazu sollte die Handlungsroutine mit einem frühen (d. h. in der Kindheit liegenden) Lernbeginn verbunden sein. Aristoteles versteht also Gewöhnung als Prinzip der Entstehung einer Fähigkeit. Sie ist seiner Meinung nach eine Art und Weise, etwas zu lernen (manthanein). Dieses ›Lernen‹ ist eine Veränderung der charakterlichen Haltung (hexis) eines Individuums. Der Verän­ derungsprozess wird durch ein Handeln (prattein), eine Aktivität/ ein Tätigsein (energein) oder ein Tun (poiein) ausgelöst und erreicht seinen Effekt nur bei häufiger Wiederholung. Die Qualität des Gewöhnungseffekts ist dabei sowohl von einem Lehrenden, der das Handeln begleitet, als auch von einem frühen Lernbeginn abhängig. Der Erwerb einer ethischen Tugend, verstanden als Disposition oder charakterliche Haltung (hexis), ist analog zum Erwerb einer prakti­ schen Fähigkeit zu verstehen, auch wenn die Analogie nicht in allen Punkten gilt. Die technē-Analogie verdeutlicht, dass Aristoteles überzeugt ist, dass es ein ganz normales Phänomen in der Welt ist, dass Menschen etwas lernen und darin besser werden.260 Genauso wie Menschen erlernen können, ein Instrument zu spielen oder Häuser zu bauen, können sie auch lernen, anderen zu helfen, sich Herausforderungen zu stellen oder ein guter Freund zu sein.261 In dieser Hinsicht unter­ scheidet sich die Tugend nicht von anderen Kunstfertigkeiten.262 Lediglich das, worin man gut ist, ist unterschiedlich. Tugendhafte Menschen sind besonders gut darin, ein Leben zu führen, das beson­ 259 260 261 262

Vgl. EN II 1, 1103b23–25. Aristoteles argumentiert ähnlich in: EN II 2, 1104b11ff. Vgl. Russell 2015, S. 23. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur

ders menschlich ist, beziehungsweise der menschlichen Natur beson­ ders entspricht.263 Sie handeln deshalb nicht nur clever oder geschickt, sowie es vielleicht ein talentierter Musiker oder guter Baumeister tut, sondern sie handeln aus einer inneren Haltung heraus, die genauso entscheidend für die Handlung ist, wie die Effekte dieser Handlung selbst. Die ersten beiden Kapitel des zweiten Buches der Nikomachi­ schen Ethik stellen so die zentralen Elemente einer Theorie der Gewöhnung dar, werfen allerdings auch Fragen auf: Um welche Art von Aktivität soll es sich im Einzelnen handeln? Welche Aufgaben hat der Lehrende? Warum ist Aristoteles der Meinung, dass junge Menschen besser lernen als ältere? Bevor ich diese Fragen im Folgen­ den beantworte, möchte ich allerdings den Begriff der Gewöhnung noch genauer untersuchen, indem ich analysiere, was das Resultat des Gewöhnungsprozesses ist und wie der Prozess selbst zu verstehen ist.

3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur264 In der Forschung zeichnet sich die allgemeine Tendenz ab, mit erster Natur sowohl alle angeborenen Eigenschaften zu bezeichnen als auch solche, die sich durch natürliche Prozesse entfalten. Mit zwei­ ter Natur hingegen wird die Summe aller erworbenen Fähigkeiten und Eigenschaften bezeichnet, maßgeblich also auch die durch die Gewöhnung zu erwerbenden charakterlichen Dispositionen sowie die praktische Vernunft.265 Aristoteles verwendet den Terminus ›zweite Natur‹ (deutera physis) nicht wörtlich. Es gibt jedoch eine Reihe von Passagen, in denen das Konzept der zweiten Natur impliziert wird: In EN VII 11, 1152a29ff. erwähnt Aristoteles innerhalb der Diskussion um die Stabilität von Gewohnheiten, dass die Gewohnheit nur schwer zu verändern sei, weil sie der Natur gleiche (hoti tē physei eoiken). Er stützt diese Aussage auf ein Zitat von Euenos: »Ich sage, Freund, Vgl. Russell 2015, S. 23. Wesentliche Ergebnisse dieses Abschnitts wurden veröffentlicht auch in Summa 2022a. 265 Ein gutes Beispiel für diese Tendenz bieten die frühen Schriften McDowells. Vgl. McDowell 1995, S. 170. 263

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es bedarf lang dauernder Übung, und dann wird sie dem Menschen schließlich zur Natur (phēmi polychronion meletēn emenai, phile, kai dētautēn anthrōpoisi teleutōsan physin einai).«266 Eine ähnliche For­ mulierung greift Aristoteles in einem ganz anderen Kontext nochmal auf. In De mem. II, 452a27–8 findet sich die Wendung, dass die Gewöhnung schon fast wie eine Natur sei: hōsper gar physis ēdē to ethos.267 Und in der Rhetorik sagt Aristoteles sogar ausdrücklich, dass etwas Angewöhntes schon zu etwas Natürlichem/Angeborenen geworden ist (kai gar ethismenon hōsper pephykos ēdē gignestai).268 Diese Formulierungen wurden in der Rezeption als Rede von der zweiten Natur (secunda natura/second nature) aufgegriffen. Macht es Sinn, die Summe aller erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten als zweite Natur zu bezeichnen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich im Folgenden auf die bisherigen Überlegungen zum aris­ totelischen Naturbegriff eingehen, um dann zu zeigen, dass sich aus der gesamten Bedeutungsvielfalt des Naturbegriffs Parallelen zur Gewohnheit ziehen lassen. Diese Parallelen werden anschaulich machen, dass Aristoteles eine Gewohnheit als eine quasi-natürliche Seins- und Bewegungsursache auffasst, die ein Set erworbener Dispo­ sitionen umfasst, die einen Menschen relativ zuverlässig zu einem bestimmten Verhalten disponieren. Pierre-Marie Morel hat richtig darauf verwiesen, dass es sich bei dem Begriff ›zweite Natur‹ im weitesten Sinne um eine Definition handelt, bei der der bekannte, vorausgesetzte Term die Natur und der dadurch definierte Term die Gewöhnung ist.269 Inwiefern wirft also der aristotelische Naturbegriff Licht auf den Begriff der Gewöhnung? Welche Relation legt Aristoteles diesen Begriffen zugrunde?270

3.2.1 Die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Natur und Gewohnheit Für die folgenden Überlegungen müssen wir uns auf die zentralen Dimensionen des Naturbegriffs bei Aristoteles zurückbeziehen, die EN VII 11, 1152a32–33. In der Tradition wurde diese Wendung oft als ›zweite Natur‹ wiedergegeben. Vgl. Morel 1997, S. 131. 268 Rhet. I 11, 1370a6–7. 269 Vgl. Morel 1997, S. 131. 270 Vgl. ebd. 266

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3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur

im zweiten Kapitel erarbeitet worden sind. Dies gelingt, wenn man zeigen kann, inwiefern Natur und Gewöhnung als analoge Begriffe zu verstehen sind und inwiefern sie sich unterscheiden. Die Natur als Ursache von Sein und Bewegung ist verantwortlich für das, was man als ›Verhalten‹ einer Sache oder eines Lebewesens bezeichnen würde: Aufgrund der Natur fällt der Stein nach unten oder jagt der Löwe Zebras. Dinge, die von Natur aus geschehen, geschehen immer in der gleichen Weise und mit einer Regularität, die man als Notwendigkeit bezeichnen kann.271 Natur als Bewegungsprinzip einer Entität gewährleistet deshalb ein regelmäßiges und zuverläs­ siges Verhalten(-smuster), während die Gewöhnung ein Verhalten auslöst, das (nur) in den meisten Fällen auftritt. Dies macht Aristoteles zum Beispiel in einer Passage der Rhetorik anschaulich, in der er verschiedene Kausalursachen für Bewegun­ gen analysiert: Ἔστι δ᾿ ἀπὸ τύχης μὲν τὰ τοιαῦτα γιγνόμενα, ὅσων ἥ τε αἰτία ἀόριστος […] φύσει δέ, ὅσων ἥ τ᾿ αἰτία ἐν αὐτοῖς καὶ τεταγμένη· ἢ γὰρ ἀεὶ ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ ὡσαύτως ἀποβαίνει. […] βίᾳ δέ, ὅσα παρ᾿ ἐπιθυμίαν ἢ τοὺς λογισμοὺς γίγνεται δι᾿ αὐτῶν τῶν πραττόντων. ἔθει δέ, ὅσα διὰ τὸ πολλάκις πεποιηκέναι ποιοῦσιν. durch Zufall geschieht solches, dessen Ursache nicht bestimmbar ist und was nicht zu einem Zwecke […] geschieht. […] Auf natürliche Weise geschieht alles, was die Ursache in sich selbst trägt und wessen Ursache bereits festgelegt ist. Es läuft nämlich immer oder zumeist so ab […]. Aus Zwang geschieht aber, was durch die Handelnden selbst entgegen Verlangen oder Überlegung geschieht, aus Gewohn­ heit das, was man tut, weil man es schon oft getan hat. Rhet. I 10, 1369a32–1369b7.272

Kennzeichnend für die Dinge, die von Natur aus geschehen, ist ihre Regularität: Sie laufen immer oder meistens auf ein und dieselbe Weise ab und haben ihr Bewegungsprinzip in sich selbst.273 Aus 271 Vgl. EN III 5, 1112a23–26: Aristoteles erklärt, dass Dinge, die immer auf die gleiche Weise geschehen, dies entweder von Natur aus oder aus Notwendigkeit tun, wie zum Beispiel Sonnenwenden oder das Aufgehen der Sterne. 272 Eine Passage, in der Aristoteles ebenfalls beschreibt, dass Dinge, die von Natur aus geschehen, immer auf die gleiche Weise geschehen, während Dinge, die sich aus Gewohnheit ereignen, nur in den meisten Fällen auf diese Weise geschehen, ist De mem. 2, 451b11–14. 273 Mit der impliziten Voraussetzung, dass nichts von außen sie hindert oder ihnen entgegensteht. Vgl. Müller 2006, S. 19.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

einem Samen wächst zum Beispiel immer auf genau die gleiche Weise eine Pflanze, wenn sie genügend Wasser, Wärme und Licht hat. Auch wenn der Prozess des Wachsens von äußeren Faktoren wie Wasser, Wärme und Licht beeinflusst wird, kommt der Bewegungsimpuls für das Wachsen aus der Natur des Samens selbst: Der Samen ist das, was essenziell zum Wachsen angelegt ist. Für den Zwang spezifiziert Aristoteles, dass die Ursache oder der Bewegungsimpuls außerhalb der Entität liegt, auf die der Zwang ausgeübt wird, und somit deren eigentlichen Bewegungsimpulsen entgegenstrebt. Was die Gewohnheit betrifft, macht Aristoteles keine Aussage darüber, ob der Bewegungsimpuls im Objekt selbst liegt oder nicht. Wichtig scheint für ihn nur, die Gewohnheit durch das zu definieren, durch das sie entsteht: Eine Gewohnheit ist ein Bewe­ gungsprinzip, das entstanden ist, weil etwas wiederholt getan wurde. Kommen wir auf die Passage der Rhetorik zurück, die zwei zentrale Aspekte aus EN II 1 aufgreift: Aktivität (energeia, prattein) und Häufigkeit. Diese Häufigkeit der Wiederholung führt dazu, dass die Gewohnheit fast so zuverlässig ist, wie die Natur: καὶ γὰρ τὸ εἰθισμένον ὥσπερ πεφυκὸς ἤδη γίγνεται· ὅμοιον γάρ τι τὸ ἔθος τῇ φύσει· ἐγγὺς γὰρ καὶ τὸ πολλάκις τῷ ἀεί, ἔστι δ᾿ ἡ μὲν φύσις τοῦ ἀεί, τὸ δὲ ἔθος τοῦ πολλάκις. Ebenso ist es mit den Gewohnheiten, denn auch das, woran man sich gewöhnt hat, geschieht, als sei es schon von Natur aus entstanden. Die Gewohnheit ist nämlich in gewisser Hinsicht der Natur ähnlich (homoion), denn nahe beieinander liegen ›oft‹ und ›immer‹, Natur aber bedeutet in etwa ›immer‹, Gewohnheit ›oft‹. Rhet. I 11, 1370a6–9.

Aristoteles bestimmt das Verhältnis zwischen erster und zweiter Natur als das der Analogie: das Angewöhnte (ethismenos) ist wie (hōsper) das Angeborene (pephykos). Gleichzeitig ist aber ein Rück­ griff auf Morels Interpretation sinnvoll, der den Status der zweiten Natur als Zweitrangigkeit oder Sekundarität auffasst. Die Gewöh­ nung ist im Vergleich mit der Natur, wenn auch analog in Bezug auf ihre Funktion, zweitrangig mit Hinblick auf ihre Regularität. Eine durch Gewöhnung erworbene Disposition verursacht ein bestimmtes Verhalten lediglich in den meisten Fällen, aber nicht immer wie eine natürliche Disposition. Deshalb ist sie auch leichter abzulegen als eine natürliche Disposition.274 Die Regelmäßigkeit im Sinne von ›in den 274

Vgl. EN Ⅶ 11, 1152a29–30.

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3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur

meisten Fällen‹ scheint aber für ein Verhalten, das als ethisch gut bewertet wird, durchaus ausreichend zu sein.275 Das Verhältnis der Analogie wird auch von der eingangs genann­ ten Passage aus De memoria et reminiscentia untermauert. οἷον εἴ τις νοήσειεν ἐφ᾿ ὧν ΑΒΓΔΕΖΗΘ· εἰ γὰρ μὴ ἐπὶ τοῦ Α μέμνηται, ἐπὶ τοῦ Ε ἐμνήσθη· ἐντεῦθεν γὰρ ἐπ᾿ ἄμφω κινηθῆναι ἐνδέχεται, καὶ ἐπὶ τὸ Δ καὶ ἐπὶ τὸ Ζ εἰ δὲ μὴ τούτων τι ἐπιζητεῖ, ἐπὶ τὸ Ζ ἐλθὼν μνησθήσεται, εἰ τὸ Η ἢ τὸ Θ ἐπιζητεῖ. εἰ δὲ μή, ἐπὶ τὸ Δ καὶ οὕτως ἀεί. τοῦ δ᾿ ἀπὸ τοῦ αὐτοῦ ἐνίοτε μὲν μνησθῆναι ἐνίοτε δὲ μή, αἴτιον ὅτι ἐπὶ πλείω ἐνδέχεται κινηθῆναι ἀπὸ τῆς αὐτῆς ἀρχῆς, οἷον ἀπὸ τοῦ Γ ἐπὶ τὸ Ζ ἢ τὸ Δ. Ἐὰν οὖν μὴ διὰ παλαιοῦ κινῆται, ἐπὶ τὸ συνηθέστερον κινεῖται· ὥσπερ γὰρ φύσις ἤδη τὸ ἔθος. διὸ ἃ πολλάκις ἐννοοῦμεν, ταχὺ ἀναμιμνησκόμεθα· ὥσπερ γὰρ φύσει τόδε μετὰ τόδε ἐστίν, οὕτω καὶ ἐνεργείᾳ· τὸ δὲ πολλάκις φύσιν ποιεῖ. Z. B. wenn jemand ABCDEFGH denkt: Falls er sich nicht an H erinnert, dann wird er es bei F; denn von da aus kann er zu beiden – sowohl G als auch E – bewegt werden. […] Der Grund dafür aber, dass man sich von demselben Punkt aus manchmal erinnert und manchmal nicht, ist der Grund, dass man von demselben Prinzip aus zu mehrerem bewegt werden kann, z. B. von C nach D oder B. Wird man nun durch etwas schon länger Vorhandenes bewegt, so bewegt man sich zu Geläufigerem; denn die Gewohnheit ist schon wie die Natur. Daher erinnern wir uns schnell an das, was wir oft in Gedanken hatten; denn wie in der Natur dieses auf jenes folgt, so auch in einer Tätigkeit; das ›Oftmals‹ aber schafft Natur.‹ De mem. 2, 452a19–30.

Aristoteles vertritt die Auffassung, dass es leichter sei, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, das man schon einmal gedacht habe, und zwar oftmals. In diesem Fall nämlich sei die Gewöhnung schon eine Natur geworden. Seine Begründung dafür lautet: Das ›Oftmals‹ schaffe Natur.276 Durch das häufige Ins-Gedächtnis-Rufen eines Gedächtnis­ inhalts entsteht also ein leichterer mentaler Zugang zu eben diesem, eine erleichterte Abrufbarkeit. Diese entspricht einer naturgegebe­ nen Abrufbarkeit. Die regelmäßige und häufige Wiederholung einer Tätigkeit und das Entstehen einer charakterlichen Haltung bedingen sich offen­ bar gegenseitig: Das Oftmals schafft Natur, d. h. durch die häufige Wiederholung entsteht eine Haltung, die einer natürlichen Haltung 275 Ich spreche hier bewusst von Verhalten und nicht von Handeln, da auch die unbewussten (emotionalen) Reaktionen eines Menschen mitinbegriffen sind. 276 Vgl. De mem. 2, 452a30.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

ähnelt. Diese befähigt wiederum zum Tätigsein. Wie Morel richtig feststellt, besteht deshalb ein kausales Verhältnis zwischen dem Tätigsein (l‹acte/energeia) und der Disposition zum Tätigsein, dem Potential (la disposition/dynamis/hexis): »Ainsi, l‹hexis constituée par la répétition de l‹acte finit par constituer une potentialité déterminée réelle et doublement naturelle : produit de l‹acte elle constitue à la fois un état mental et une affection corporelle; comme les causalités naturelles, elle assure un certain ordre aux états qui en sont l‹actualisation. «277

Andererseits befähigt diese durch Gewöhnung erworbene Haltung das Individuum wiederum dazu, ein bestimmtes Verhalten oftmals und mit einer zuverlässigen Regelmäßigkeit an den Tag zu legen. Es entsteht ein selbstverstärkender Effekt, wie Aristoteles selbst betont.278 Diese Automatisierung scheint mit einer erleichterten Abrufbarkeit zusammenzuhängen, die das Verhalten quasi natür­ lich macht. Morel ist es sehr daran gelegen, zu betonen, dass die erworbene Haltung letztendlich genauso natürlich ist, wie angeborene Eigen­ schaften, auch wenn sie sich nicht mit der gleichen notwendigen Häufigkeit niederschlagen: »L‹habitude peut, donc faillir plus souvent que la nécessité, mais le processus habituel, en lui-même, ne différera pas du processus nécessaire.«279 Morel besteht m. E. zurecht darauf, dass es zwischen einem angewöhnten Bewegungsablauf und einem angeborenen Bewegungsablauf im Prinzip keinen Unterschied mehr gibt. Dies ist der beste Grund dafür, die Summe aller erworbenen Dispositionen unter dem Begriff der (zweiten) Natur zusammenzu­ fassen: sie sind natürlich. Worin besteht dann die Zweitrangigkeit? M. E. ist der Aspekt der Zweitrangigkeit allein auf die Zeitlichkeit zu beziehen. Eine erworbene Haltung muss eben erst erworben werden und ist nicht von Anfang an vorhanden. Deshalb ist sie in einem temporären Sinne sekundär. In einem teleologischen Sinne sind erworbene Haltungen jedoch für komplexe Lebewesen primär, da sie erst durch den Erwerb dieser Haltungen ihrer vollendeten Natur Nt entsprechen.

277 278 279

Morel 1997, S. 140. Vgl. EN II 2, 1104a33–1104b3. Morel 1997, S. 137.

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3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur

Nun möchte ich auf den anderen wichtigen Aspekt der ›zweiten Natur‹ zu sprechen kommen: Was heißt Natürlichkeit in diesem Kontext? Morel zielt auf den Begriff der Spontanität ab: Bei der Aktualisierung einer angeborenen Fähigkeit muss man nicht erst überlegen, wie etwas geht, man tut es einfach: »la vitesse de l‹hab­ itude vaut la spontanéité naturelle.«280 Ein gewisser Handlungsablauf wird automatisiert, wie etwa, wenn ein Mensch Fahrrad fährt, keine Überlegung dazu notwendig ist, auszumachen, wie er in die Pedale treten muss. Der Handlungsablauf fühlt sich natürlich an, weil er automatisiert wurde. Der Begriff der Automatisierung ist in der Forschung allerdings kontrovers, weil er impliziert, der Prozess der Habituation sei quasi ein mechanischer und deshalb stumpfsinniger und undurchdachter Prozesses (»mindless process«281) der Wiederholung, in dem die Lernenden bestimmte Prinzipien ganz passiv absorbieren würden (»passive absorption«282). Richard Sorabji, Nancy Sherman, John McDowell, Dorothea Frede sowie Daniel Russel beispielsweise rich­ ten sich jeweils explizit dagegen, den Prozess der Gewöhnung so zu verstehen.283 Ohne jedoch bereits an dieser Stelle auf die Details dieser Debatte einzugehen, sei so viel gesagt: Aristoteles vergleicht den Tugenderwerb mit dem Erwerb einer Gewohnheit und dies ist ernst zu nehmen, auch wenn es bei einem Autor, bei dem ein solches Primat der Vernunft im Mittelpunkt steht, merkwürdig erscheint. An dieser Stelle ist nicht unser alltägliches Verständnis von Gewohn­ heit gemeint, sondern das Verständnis, das der aristotelische Text impliziert. Für Aristoteles ist eine Gewohnheit eine durch Gewöh­ nung erworbene, stabile Verhaltensdisposition (hexis), die ein Indivi­ duum regelmäßig und zuverlässig zu einem bestimmten Verhalten

Morel 1997, S. 136. Sorabji 1980, S. 201. 282 Russell 2015, S. 24. 283 Vgl. Sorabji 1980, Sherman 1989, McDowell 1996, S. 30, Frede 2008, Russell 2015, S. 24f., Sherman 1999b. Ich werde im Folgenden noch zeigen, inwiefern dieser Prozess nicht ohne mentale Zustände des Kindes auskommt, also in jedem Fall nicht ›mindless‹ ist. Dies liegt vor allem daran, dass der Begriff der Wiederholung richtig verstanden werden muss. Kinder sollen nicht wie ein Hund, mit dem man ein Kunst­ stück einübt, beispielsweise immer genau den gleichen Bewegungsablauf einer Hand­ lung ausführen, sondern in ähnlichen Handlungssituationen prinzipienorientiert han­ deln. Siehe dazu Abschnitt 3.6. 280

281

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

befähigt.284 Der Prozess der Gewöhnung besteht dabei in einem häufig wiederholten Tätigsein, das die Automatisierung bestimmter Reaktionen sowie die Festigung bestimmter Dispositionen zur Folge hat. Das Ergebnis des Prozesses der Gewöhnung besteht also darin, dass das Individuum eine stabile Verhaltensdisposition erworben hat. Diese wirkt (fast) genauso, wie eine natürliche Bewegungsursache in ihm. ›Verhalten‹ heißt dabei sowohl auf eine bestimmte Art und Weise zu agieren wie auch (emotional) zu reagieren.285 Gewöhnung bezeichnet bei Aristoteles somit eine Art von Lernen. Durch Gewöhnung werden jedoch nicht nur Tugenden erworben, sondern auch Laster.286 Krankhafte Störungen wie sich Haare auszu­ reißen, Erde zu essen oder die Päderastie hält Aristoteles für durch Gewöhnung entstandene Störungen.287 Zudem glaubt Aristoteles, dass Schlechtigkeit bei Tieren von Natur aus vorhanden sei, während sie bei Menschen aus Gewöhnung entstehe.288 Gewöhnung kann bei Aristoteles also allgemein als ein Prozess verstanden werden, der Dispositionen verändert oder schafft.289 Daher werde ich den Begriff der Habituation nur im Speziellen für den Erwerb von tugendhaften Dispositionen verwenden, den Begriff der Gewöhnung für den Erwerb jeglicher Art von Disposition. Frede weist auch darauf hin, dass der Begriff der Gewohnheit bei Aristoteles anders zu verstehen sei als in unserem alltäglichen Verständnis.290 Allerdings mit einem anderen Anliegen:

284 Daniel Russell schlägt deshalb vor, ›habit‹, also das Ergebnis eines Gewöhnungs­ prozesses, nicht mit ›Gewohnheit‹ zu übersetzen, sondern einfach mit ›Eigenschaft‹ (attribute). Vgl. Russell 2015, S. 24. 285 Dies lässt sich auch noch einmal umgekehrt nachweisen: Aristoteles vertritt die Auffassung, dass unbeherrschte Menschen, die dies aufgrund von Gewohnheit seien, leichter heilbar seien als diejenigen, die von Natur aus unbeherrscht seien. Aristoteles begründet dies auf doppelte Weise: die Gewohnheit lasse sich leichter verändern als die Natur, weil sie eben weniger stabil wäre. Gleichzeitig wäre die Gewohnheit aber überhaupt erst stabil, weil sie der Natur gleiche (vgl. EN VII 11, 1152a27–33).. 286 Vgl. EN VII 11, 1152a27–33. 287 Vgl. EN VII 6, 1148b27–31. 288 Vgl. EN VII 15, 1154a31ff. 289 Dieser Punkt lässt sich noch weiter belegen: Innerhalb der Erörterung, wie ein Verschwender sich in einen Großzügigen verwandeln könnte, sagt Aristoteles bei­ spielsweise, dass dies durch Gewöhnung oder irgendeine andere Art von Veränderung geschehen könnte. Vgl. EN IV 3, 1121a23–24. 290 So argumentiert auch Lockwood. Lockwood 2013.

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3.2 Das Resultat des Habituationsprozesses als zweite Natur

»Die Disposition zum moralisch richtigen Handeln beruht zwar auf Gewohnheit, sie ist aber eben doch nicht nur eine Sache der Gewohn­ heit. Denn es geht Aristoteles nicht um Gewohnheiten wie die, beim Essen nicht das Messer in den Mund zu stecken, die Serviette nicht als Taschentuch zu benützen [sic!] oder an Bekannten nicht grußlos vorbeizugehen. Derartig ›eingefleischte‹ Gewohnheiten erfordern in der Tat kein weiteres Nachdenken. Gewohnheiten dieser Art kann Aristoteles aber gar nicht im Sinn haben, denn sonst würden Beratung und Entscheidung schlicht überflüssig. Vielmehr nimmt man mit der moralischen Gewöhnung auch gewisse Prinzipien an, die einen die richtigen Entscheidungen treffen lassen – wann, wie man und aus welchem Grunde und wem gegenüber man es soll.«291

Zunächst ist Fredes Hinweis wichtig, dass mit dem Begriff der Gewohnheit bei Aristoteles im Kontext des Tugenderwerbs nicht banale Gewohnheiten wie bestimmte Tischmanieren bezeichnet wer­ den, sondern Gewohnheiten, die ganz allgemein die Art und Weise betreffen, wie man sich in bestimmten Situationen bestimmten Men­ schen gegenüber verhält. Frede sieht den Grund dafür, den Prozess der Gewöhnung nicht als stupide zu verstehen, darin, dass man mit der Gewöhnung gewisse Prinzipien annehme, sich so und so zu verhalten. Diese Formulierung macht Sinn, wenn man sie wie folgt erklärt: Bei einem Verhalten, das jemand ganz natürlich und spontan an den Tag legt, werden bestimmte Schritte nicht mehr von Grund auf in Frage gestellt, sondern als selbstverständlich ausgeführt.292 Sie werden ver­ innerlicht. Das heißt, dass sich gegenüber dem gewohnheitsmäßigen, quasi natürlichen Verhalten kein Zögern und kein Zweifeln einstellt; innere Widerstände existieren nicht mehr. Der so habituierte Mensch hinterfragt nicht mehr, ob es geboten ist, im Sinne der Tugend zu

291 Frede 2008, S. 116. Im Grunde genommen bezieht sich Frede mit dieser Beschrei­ bung schon auf das Resultat des Gewöhnungsprozesses: dass sich das Kind die Prin­ zipien des Lehrenden schon zu eigen gemacht hat und aufgrund dessen in der Lage ist, die Mitte zu treffen. Dazu mehr in Kapitel 4. 292 Bei Russell findet sich eine wunderbare Erklärung für den Zusammenhang von Gewöhnung und Gewohnheit. Er erläutert: »Ethos is a noun that derives from the verb ethein, ›to be accustomed‹ […] and to say that something comes about by a process that makes some kind of action customary and familiar – we might even say ›charac­ teristic‹. And that makes it easier to see why Aristotle would make such a close link between character and ethos: character is what one has as a result of building up of customary and familiar ways of acting.« Russell 2015, S. 23–24.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

handeln: er tut es einfach.293 Er hat das Prinzip ›ich handle im Sinne des Guten‹ verinnerlicht. Aristoteles schließt damit nicht aus, dass eine praktische Überle­ gung hinzukommen muss, um die richtigen Mittel zu wählen. Er sagt jedoch so viel: derjenige, der einen guten Charakter durch Habituation erworben hat, muss nicht mehr abwägen, ob er das Richtige tun will. Er möchte es tun. Er hat durch Habituation eine uneingeschränkte moralische Motivation erlangt.

3.2.2 Der bleibende Unterschied Ein zentraler Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten bleibt deren Genese. Erworbene Fähigkeiten sind zeitlich später vorhanden, dadurch dass sie erst erworben werden müssen. Es hängt von den richtigen Tätigkeiten ab, ob jemand charakterlich richtig disponiert wird oder nicht, während gleichzeitig immer die Möglichkeit besteht, dass der Erwerbsprozess nicht gelingt. Das macht das Erreichen der Tugend so lobenswert; es ist nicht selbstver­ ständlich, dass Menschen tugendhaft sind.294 Außerdem können erworbene Dispositionen auch wieder verän­ dert werden, zum Beispiel indem man sich an etwas anderes gewöhnt oder etwas vergisst. Dies ist allgemeinhin aber nur selten der Fall. Bei charakterlichen Dispositionen ergibt sich ein selbstverstärken­ der Effekt: »Wenn eine Person erst einmal die ethischen Tugenden erworben hat, wird sie diese ausüben, wann immer die Situation es erfordert, und so dafür sorgen, dass die Tugenden sogar bestärkt werden.«295 Aristoteles geht außerdem davon aus, dass eine Haltung umso stabiler ist, je früher ein Mensch sie erwirbt.296 Es sind nur massive Einschnitte, wie eine Charakter-deformierende Krankheit

293 Wolf spricht davon, dass er ohne innere Widerstände handelt. Vgl. Wolf 2010, S. 298. 294 Vgl. EN II 9, 1109a29f. 295 Hübner 2013, S. 134. 296 Deswegen ist es so wichtig, schon von Kindheit an an das Gute und Schöne gewöhnt zu werden. Vgl. EN II 1, 1103b23–25 und EN II 2, 1104b11ff. Dies ist ein Gedanke, den Aristoteles sicherlich von Platon übernommen hat. Vgl. Rep. 378e; Nom. 653ff. Vgl. Hübner 2013, S. 135.

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3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur

oder Versklavung, die den tugendhaften Menschen von seinem Weg abbringen könnten.297

3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur298 In der Forschung hat sich inzwischen eine Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur eingebürgert, die vor allem im Bereich der Begründung der Normativität eine Rolle spielt. In dieser Begrün­ dungs-Debatte wird gemeinhin unter erster Natur die Summe von angeborenen Fähigkeiten und Anlagen sowie (körperbedingten) Impulsen und emotionalen Motiven verstanden. Mit zweiter Natur bezeichnet man die Summe aller (in der Gesellschaft) erworbenen Fähigkeiten, die vor allem durch die Ausübung der Vernunft gekenn­ zeichnet sind.299 Ich möchte im Folgenden kurz skizzieren, inwiefern diese Begriffe aufgrund der bisherigen Ergebnisse auf Aristoteles anzuwen­ den sind und ob sie gewinnbringend sind, um Prozess und Resultat der Erziehung adäquat zu beschreiben. Dazu beziehe ich mich auf zwei frühe Aufsätze McDowells, die m. E. besonders hilfreich sind, um die aristotelische Position genauer zu konturieren.300 McDowell versteht unter dem Begriff der zweiten Natur, welche durch moralische Erziehung erworben wird, eine spezifische Form praktischer Rationalität (›a specific shaping of practical logos‹).301 Diese Form praktischer Rationalität ermögliche es dem Akteur, so McDowell, von seinen (ersten natürlichen) Impulsen Abstand zu nehmen und diese auf ihre rationale Begründbarkeit hin zu über­

297 Vgl. Hübner 2013, S. 135. Johannes Hübner verweist auch darauf, dass harte kör­ perliche Arbeit zu einer Abstumpfung führen kann. Evidenz dafür könnte Pol. VII 9, 1328b38ff. liefern. 298 Wesentliche Ergebnisse dieses Abschnitts wurden veröffentlicht auch in Summa 2022a. 299 Vgl. Foot 2004, Thompson 2017, McDowell 1995, Hoffmann, T. 2010. 300 McDowell 1995 und 1996 McDowell hat seine eigene Theorie danach umfang­ reich ausgeweitet und weiterentwickelt. Für das Ziel dieses Kapitels sind allerdings seine frühen Aufsätze relevant, weil sie m. E. prägnant zeigen, wie Aristoteles nicht zu interpretieren ist, bzw. an welcher Stelle sich Missverständnisse ergeben können. Eine ausführliche McDowell-Exegese ist nicht Ziel dieses Kapitels. 301 Vgl. McDowell 1995, S. 170.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

denken.302 Mit der Wolf-Parabel erklärt, hieße das Folgendes: Ein Wolf jagt natürlicherweise im Rudel. Würde er jedoch rationales Denken erwerben, so könnte er dieses Verhalten hinterfragen und ganz allgemein überdenken, ob er im Rudel jagen sollte. Sobald diese vernunftbasierte Distanzierung von natürlichen Impulsen und Instinkten möglich ist, werden ethische Fragestellungen aufgeworfen. Die Frage nach dem Sollen ergibt sich also aus der Fähigkeit des Menschen, sein Handeln auf einer Meta-Ebene zu hinterfragen, zu überdenken und zu begründen und auf diese Weise Abstand von seiner ersten Natur zu nehmen.303 Als erste Natur versteht McDowell demzufolge die Summe aller natürlichen motivationalen Impulse (»natural motivational impul­ ses«) und fasst dies letztlich als den tierischen Aspekt der menschli­ chen Natur auf.304 Im Gegensatz zu Menschen werden nicht-vernünf­ tige Tiere voll und ganz durch ihre erste Natur bestimmt. McDowell spricht von einer Autorität, die die erste Natur über das Verhalten nicht-rationaler Tiere habe. Wenn aber eine zweite Natur im Sinne einer Tugend erworben worden sei, ersetze sie die Autorität der ersten Natur, und das geschehe, indem sie alles, was die erste Natur bisher diktierte, in Frage stelle. Mit dem Erwerb der praktischen Rationalität habe der Akteur nun einen Zugang zum Raum der Gründe.305 Diese Interpretation ist ähnlich der von Julia Annas. Als bloße Natur (»mere nature«) (wie hier N1) bezeichnet sie den Aus­ gangspunkt ethischer Erziehung: »Mere nature is strongly contrasted with what matters for ethical development; it is what we must improve on, not what guides our improvement.«306 Bloße Natur ist für Annas dasjenige, das verbessert und letztlich überkommen werden muss und spielt in ihrer Interpretation keine Rolle für die Ethik. Davon unterscheidet sie Natur in einem, wie sie sagt, ›stärkeren Sinne‹, den sie einfach nur mit ›Natur‹ bezeichnet. Hiermit scheint sie Natur in einem normativen Sinne zu meinen,307 d. h. die Natur als Ziel und Aufgabe. Diese entspricht der vollkommenden Natur Nt. Dieser stärkere Naturbegriff bei Annas entspricht McDowells Begriff der 302 303 304 305 306 307

Vgl. McDowell 1995, S. 170. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl.ebd., S. 171. Annas 1993, S. 144. Vgl. ebd.

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3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur

zweiten Natur und stellt das Ziel der moralischen Erziehung dar, welches vor allem vom Aspekt der Vernunftausübung geprägt ist. Obwohl der Aspekt der Vernunftausübung die Interpretation bei McDowell dominiert, weist er trotzdem darauf hin, dass das Erreichen einer zweiten Natur nicht nur rationale, sondern auch emotionale Komponenten habe. Der Mensch sei aufgrund der zweiten Natur nicht nur sprachlich-rational dazu in der Lage, Gründe für sein Handeln zu erörtern. Er lerne außerdem, ein spezifisches Vergnügen in bestimmten Handlungen zu finden; dies seien Handlungen, von denen er diskursiv erörtern könne, warum er sie für lohnend halte.308 Die Reflexion aufgrund des Erwerbs einer zweiten Natur führt dazu, dass der Mensch für sein Handeln Verantwortung übernehmen muss. Er kann sich nicht (mehr) darauf berufen, dass es irgendwel­ che erst-natürlichen Zwänge oder Notwendigkeiten gäbe, die unaus­ weichlich seien, sondern er kann der Bürde der rationalen Reflexion nicht entkommen.309 Er ist sozusagen existentiell zum Entscheiden und Handeln gezwungen, um es mit Christine Korsgaard zu sagen.310 Es wäre aus McDowells Sicht allerdings ein Missverständnis zu meinen, die erste Natur werde ganz und gar ersetzt oder spiele keine Rolle mehr. Im Gegenteil: »first nature matters.«311 Allerdings ist sie nach McDowell nur in zwei Hinsichten relevant: Erstens limitiere sie, inwieweit sich die zweite Natur entwickeln könne.312 McDowell scheint damit eine Art natürliches Talent zur Tugend zu bezeichnen. Diesem Verständnis nach ist die erste Natur eine natürliche Anlage oder Begabung, die, wenn sie nicht gegeben ist, die volle Entfaltung der Tugend beschränkt. Darüber hinaus ist die erste Natur des Men­ schen als Gegenstand der Reflexion bedeutungsvoll. Erst dann und nur in diesem Kontext, so McDowell, käme die Frage ins Spiel, was Menschen brauchten, um ein gutes Leben zu führen.313 Vgl. McDowell 1995, S. 171. Vgl. ebd. 310 »The necessity of choosing and acting is not causal, logical, or rational necessity. It is our plight: the simple inexorable fact of the human condition.« Korsgaard 2013, S. 2. 311 Vgl. McDowell 1995, S. 171. 312 Vgl. ebd. 313 Dies ist ein Seitenhieb auf Foot, die sich öfter darauf bezieht, dass ethisch relevant sei, was Menschen brauchten. Sie verweist zum Beispiel darauf, dass es wichtig für das Funktionieren einer Sprechergemeinschaft sei, dass Versprechen gehalten werden. Sie möchte damit zeigen, dass Moral nicht nur aus Perspektive des Handelnden zu 308

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

McDowell möchte die als zweite Natur erworbene Rationalität aber nicht als etwas sehen, das dem Menschen und seiner ersten Natur letztlich äußerlich bliebe und von außen etwas diktiere. Er betont wiederholt, dass Vernunft für ihn keine mysteriöse außer-natürliche Kraft sei, sondern insofern natürlich, als Menschen natürlicherweise eine zweite Natur im Sinne von Rationalität erwerben.314 Auf den ersten Blick sieht es also so aus, als käme die Mcdowellsche der aris­ totelischen Position recht nahe. Im Folgenden möchte ich kurz anschaulich machen, inwiefern das nicht der Fall ist. Dazu sind meh­ rere Aspekte zu diskutieren. Durch die Vorstellung, dass die erste Natur durch die zweite Natur überkommen werden müsse, ergibt sich ein Bruch in der menschlichen Entwicklung. McDowell kann nicht deutlich machen, wie ein Übergang von erster zu zweiter Natur gelingen kann. Der Bruch zwischen erster und zweiter Natur bei McDowell ergibt sich m. E. aus zwei Missverständnissen: Zum einen ist McDowells Begriff der ersten Natur ein szientistischer Begriff, der mit dem teleologi­ schen Verständnis der Natur bei Aristoteles nichts gemein hat. Zum anderen setzt McDowells Begriff der zweiten Natur eine Form kor­ rigierender Rationalität voraus, als die die phronēsis bei Aristoteles nicht konzipiert ist.

3.3.1 Die normative Aufladung des Naturbegriffs bei Aristoteles Michael Thompson wirft McDowell vor, den Begriff der ersten Natur zu eng zu fassen (dieser Kritik kann ich mich anschließen) und möchte anstatt dessen einen Begriff der ersten Natur stark machen, in dem phronēsis enthalten ist: »Die Besonderheiten des ethischen oder phronetischen Wissens soll­ ten uns nicht dazu bringen, seinen Gegenstand aus der Kategorie der ersten Natur zu entfernen. Sie sollten uns stattdessen eher dazu brin­ gen, eine Unterscheidung innerhalb der Kategorie der ersten Natur zu entwickeln. Wenn wir dieser Idee Sinn geben können, werden wir eine sehen ist, der sich fragt ›Ist es für mich sinnvoll oder von Vorteil, so zu handeln?‹, sondern eben auch auf Seiten dessen, dem etwas widerfährt. Vgl. Foot 2004, S. 32f. 314 Vgl. McDowell 1995, S. 174. Diese Auffassung wird von Vasiliou geteilt. Vgl. Vasiliou 1996, S. 781.

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3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur

Form des naiven Aristotelismus erreichen, die nicht für Mcdowellsche Attacken anfällig ist.«315

Es wird aber letztlich nicht ersichtlich, was mit einem solchen ›naiven Aristotelismus‹ gewonnen sein soll. Jeder der Autor*innen in der Debatte um die erste und die zweite Natur würde bestätigen, dass phronēsis verstanden als praktische Vernünftigkeit einerseits charak­ teristisch für die Lebensform ›Mensch‹ ist, und andererseits diesem innerhalb seiner Ontogenese nicht von Anfang an aktual zukommt, sondern erst erworben und entfaltet werden muss. Ob man dafür nun ein Zwei-Schritt-Muster innerhalb einer ersten Natur oder einen Zwei-Schritt zwischen erster und zweiter Natur formuliert, scheint schlussendlich irrelevant. Viel wichtiger ist, was unter erster Natur eines Lebewesens zu verstehen ist und welche Gesetzmäßigkeiten für die Erkenntnis einer solchen ersten Natur gelten können. In der Darstellung McDowells kann »die Erste [sic!] Natur lediglich mit Hilfe des distanzierenden Vokabulars der Naturwissen­ schaften erfasst werden.«316 Alle Aussagen über die erste Natur eines Lebewesens müssen demnach objektiv quantifizierbar und beobacht­ bar sein. Der Bereich der ersten Natur wird somit zu einem ›Raum der Gesetze‹, der vom ›Raum der Gründe‹, der zweiten Natur, strikt zu unterscheiden ist. Wenn man die obigen Ausführungen über den Naturbegriff bei Aristoteles in Betracht zieht, wird jedoch deutlich, dass ein solches Verständnis der aristotelischen Auffassung nicht zugrunde liegt. Wenn Aristoteles zum Zentrum seiner Ausführungen macht, dass der Mensch von Natur aus ein vernünftiges und auf Gemeinschaft angelegtes Wesen ist, dann ist das keine Aussage, die sich auf Beobachtungen im Sinne von »natural-historical judg­ ments«317 bezieht, sondern eine essentialistische Aussage, die sich auf das Wesen des Menschen bezieht. Würde Aristoteles den engen szientistischen Naturbegriff teilen, ergäbe sich für ihn das gleiche Problem des Bruchs zwischen erster und zweiter Natur des Menschen wie für McDowell. Denn aus einer Summe objektiv quantifizierbarer Aussagen über den Menschen ließe sich tatsächlich kein Ergon-Argu­ Thompson 2017, S. 52. Hoffmann, T., 2010, S. 85. Thomas Hoffmann schreibt erste und zweite Natur jeweils mit Großbuchstaben am Anfang. 317 ›Natural-historical judgments‹ bei Thompson bezeichnen nicht-quantifizierbare Aussagen, die Tatsachen über eine Lebensform festhalten. Vgl. Thompson 2017, S. 55–60. 315

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

ment und keine Ethik herleiten. Aristoteles‹ Verständnis der ersten Natur von Lebewesen ist jedoch teleologisch und geht deshalb über das schlicht Beobachtbare hinaus. Insofern ist der Naturbegriff bei Aristoteles in gewisser Weise normativ aufgeladen. Er bildet einen nicht-beliebigen Rahmen des Seins und kann insofern als normativer Indikator verstanden werden.318

3.3.2 Das Verhältnis von erster und zweiter Natur beim Erreichen der Tugend Auch beim Verständnis der zweiten Natur bei McDowell ergeben sich Probleme. Für McDowell besteht der zentrale Aspekt darin, dass der Mensch mithilfe der erworbenen Vernünftigkeit bestehende Praxen (der ersten Natur) hinterfragen und revidieren kann. Die Vernunft hat hauptsächlich die Funktion, dass der Mensch sich kraft rationaler Reflexion von seinen tierischen Impulsen distanzieren und diese überkommen kann.319 Dies ist aber nicht die Rolle der aristotelischen phronēsis.320 Aristoteles spricht nirgends davon, dass die (erste) Natur des Menschen abgelegt oder überkommen werden müsste. Er ist im Gegenteil davon überzeugt, dass Menschen eine natürliche Anlage für den Erwerb der Tugenden haben.321 McDowells Interpretation scheint zu implizieren, dass es quasi natürliche Impulse im Menschen gibt, die tierartig sind und die durch die Vernunft kontrolliert wer­ den müssten. Aristoteles bezweifelt jedoch gerade, dass genau dies möglich wäre.322 Aus diesem Grund legt er so viel Wert darauf, dass die motivationalen Impulse des Menschen durch Habituation geformt werden: Weil er eben nicht davon überzeugt ist, dass eine Vernunfterkenntnis allein einen Menschen davon abbringen kann, zu tun, worauf er Lust hat oder wonach sein arationaler Seelenteil strebt. Das ideale Menschsein besteht für Aristoteles darin, dass vernünftige Vgl. Müller 2016, S. 58–59. McDowell sagt wörtlich: »reason distances one from first nature« und »The dic­ tates of virtue have acquired an authority that replaces the authority abdicated by first nature with the onset of reason.« McDowell 1995, S. 170. 320 Eine solche Aussage wäre am ehesten in EN VI zu erwarten. 321 Vgl. EN II 1, 1103a23–26. 322 Vgl. Aristoteles’ Bemerkungen bezüglich der Unmöglichkeit, Menschen, die nicht schon gut habituiert sind, mithilfe rationaler Belehrung zu den richtigen Handlungen zu überreden in EN X 10. Diese Passage bespreche ich ausführlich in Abschnitt 5.6.4. 318

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3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur

Überlegung und emotionaler Impuls miteinander übereinstimmen bzw. sich in Harmonie befinden.323 Dieses Harmonie-Modell ist von einem Dominanz-Modell, wie es der frühe McDowell entwirft, zu unterscheiden. Ein interessanter Aspekt, der sich durch die Betrachtung der McDowellschen Position ergibt, ist jedoch Folgender: Der Aspekt des Hinterfragens oder Überdenkens einer bestehenden Praxis. Die­ ser kommt in den aristotelischen Beschreibungen zur Erziehung nämlich nirgends explizit vor. Es müsste aber zum Beispiel möglich sein, eine schlechte Angewohnheit vernünftig zu hinterfragen, und dann Abstand von ihr zu nehmen.324 Eine solche hätte aber nur entstehen können, wenn ein Kind zum Beispiel an etwas Falsches gewöhnt worden wäre, weil Eltern oder Erzieher der Tugend unkundig gewesen wären. Falls der Erziehungsprozess aber ideal verlaufen ist, wird nicht ersichtlich, an welcher Stelle der phronimos die durch Habituation erworbenen Handlungsweisen kritisch auf den Prüfstand heben sollte, bzw. er könnte dies tun, aber dadurch würde sich nichts verändern. Es könnte allenfalls zu einer rationalen Bestätigung aller bisher durch Habituation erworbenen Verhaltensweisen kommen. Während in der McDowellschen Konzeption von praktischer Rationa­ lität der Schritt des kritischen Hinterfragens der ersten Natur einen notwendigen Schritt darstellt, scheint er dies für Aristoteles nicht zu sein. Gleichwohl ist die aristotelische Konzeption auch nicht gänzlich inkompatibel mit dieser Möglichkeit.325

3.3.3 Die Kontinuität in der menschlichen Entwicklung Problematisch am Begriff der zweiten Natur ist aber vor allem der Aspekt, dass dadurch eine Stufe oder ein Bruch in der menschlichen Entwicklung impliziert wird. Ein solcher Bruch würde bedeuten, dass der Mensch als Kind erst einmal nur erste Natur wäre (die noch einer tierischen Natur gleichen würde), die dann eine zweite Natur annehme, die in Widerspruch mit dieser ersten Natur stehe. Diese Auffassung ist nicht mit Aristoteles vereinbar. Für Aristoteles sind die 323 Vgl. EN VI, 1139a22–26; Pol. VII 13 1332b5–6; Pol. VII 15, 1334b9–10 sowie Abschnitt 1.3 und 8.8. 324 Aristoteles scheint das in Pol. VII 13, 1332b6–8 anzudeuten. 325 Dieser Gedanke wird in Abschnitt 7.3.4 weiter ausgeführt.

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nicht-rationalen Anteile der menschlichen Natur nicht schlichtweg mit einer tierischen Natur gleichzusetzen, sondern auch der erstnatürliche Bereich des Menschen ist bereits genuin menschlich.326 Beim Erreichen der Tugend sind dann die Aspekte der ›ersten Natur‹, d. h. der motivationalen Impulse eines Menschen, voll in das Leben des phronimos integriert und bestimmen es maßgeblich.327 Und dass sie es maßgeblich, und zwar auf gute Weise, bestimmen können, liegt an der richtigen Erziehung. Diese Impulse sind auch nicht tierisch, sondern von Anfang an menschlich und potenziell vernünftig.328 Eine zweite, durch Vernunft bestimmte Natur impliziert einen Bruch in der menschlichen Entwicklung – einen Bruch, von dem ich in dieser Arbeit zeigen möchte, dass es ihn für Aristoteles nicht gibt.329 Auch Thomas Hoffmann weist darauf hin, dass sich mit der Version eines aristotelischen Naturalismus nach Foot viel eher ein kontinuierliches Verständnis von menschlicher Entwicklung formu­ lieren lässt. Denn Foot sieht, so wie Aristoteles, die zweite Natur als »praktische Ausgestaltung und Vervollkommnung der Anlagen unserer Ersten Natur«330 womit ein Kontinuum zwischen erster und zweiter Natur nicht nur behauptet, sondern auch gegeben ist. Es ist nicht mit Aristoteles vereinbar, Vernunft als Vermögen zu verstehen, welches die natürlichen Impulse eines Menschen kon­ trollieren oder unterbinden, gar überkommen müsste, geschweige denn könnte. Im Gegenteil: Die aristotelische Position, wie sie bisher erarbeitet wurde, spricht dafür, die Natur des Kindes als etwas zu verstehen, das vollendet und entfaltet, nicht aber überkommen und revidiert werden muss. Für Aristoteles ist die Tugend der phronēsis die Verwirklichung des natürlichen Potentials des Menschen zu prak­ tischer Rationalität, keine Kontrollinstanz zur Beherrschung tieri­ scher Triebe. Vgl. Pol. VII 13, 1332a40ff. Müller verweist zurecht darauf, dass für Aristoteles die Leidenschaften und Gefühle des Menschen eben nicht bloß als unvernünftige oder widernatürliche Regun­ gen gelten, wie bei Platon oder den Stoikern. Vgl. Müller 2006, S. 122. Denn Aristo­ teles betont, dass Lust und Unlust unser ganzes Leben von Kindheit an bestimmen und es deshalb sinnlos ist, sie ablegen zu wollen. Vgl. EN II 2, 1105a 1–5. 328 Siehe dazu auch meine Überlegungen zum Vergleich von Kindern mit Tieren in Kapitel 5. 329 Auf diesen Aspekt wird ausführlich in Kapitel 5 sowie in Abschnitt 2.6 eingegan­ gen. 330 Hoffmann, T. 2010, S. 101. 326

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3.3 Die Problematik des Begriffs der zweiten Natur

Letztlich trifft weder ein Naturalismus der ersten Natur noch ein Naturalismus der zweiten Natur präzise die aristotelische Position. Die Tatsache, dass Aristoteles selbst nicht von einer ersten und auch nicht von einer zweiten Natur spricht, lässt sich nur darauf zurück­ führen, dass er diese Unterscheidung nicht für gewinnbringend gehal­ ten hat. Wie oben gezeigt, sieht Aristoteles Analogien zwischen natürlichen und durch Gewöhnung erworbenen Dispositionen. Darüber hinaus spielt der Begriff einer zweiten Natur keine systema­ tische Rolle für seine Ethik.331

3.3.4 Abschließende Bemerkungen zum Begriff der natürlichen Normativität Ein Aspekt, der noch erwähnenswert ist, ist der folgende: Grund­ sätzlich geht der Versuch, die Eigenschaften einer ersten Natur zu bestimmen, davon aus, dass ein Muster natürlicher Gutheit (natural goodness)332, wie es sich für Tiere bestimmen lässt, ähnlich auch für Menschen formuliert werden kann.333 Dabei stellt sich das Problem, dass die für den Menschen spezifische Lebensweise nicht einfach abzulesen ist.334 In den angeführten Textstellen wird klar, dass die Beispiele aus dem Tierreich jeweils unkontrovers sind: Niemand bestreitet, dass Wölfe im Rudel jagen oder Bienen einen Stachel haben sollten. Das, was Foot als natürliche Gutheit bezeichnet, scheint bei Tieren unstrittig zu sein, weil sich Aristotelian categoricals (Lebens­ form-Beschreibungen, die sich auf die Spezies beziehen) im Bereich von nicht-humanen Tieren, so Foot, auf »Entwicklung, Selbsterhalt und Fortpflanzung«335 beziehen. 331 An dieser Stelle ist noch anzumerken, dass Annas Aristoteles vorwirft, er gebrau­ che den Naturbegriff in einem verwirrenden und nicht durchdachten Sinn. Vgl. Annas 1993, S. 144. Die bisherigen Aufführungen haben allerdings gezeigt, dass Aristoteles bei der jeweiligen Verwendung des Begriffs ›physis‹ ganz genau weiß, was er bezeichnet. Er hat es deshalb anscheinend nicht für nötig gehalten, eine weitere begriffliche Präzisierung einzuführen. 332 Ich übersetze den Begriff ›natural goodness‹ mit natürlicher Gutheit. Damit ist gemeint, dass eine Lebensform der für sie üblichen Natur entspricht bzw. diese vollständig verwirklicht. Der Begriff entspricht somit in gewisser Weise dem Begriff der Bestform (aretē) eines Lebewesens, sowie dem Begriff der vollendeten Natur Nt. 333 Vgl. Foot 2004, S. 59. 334 Vgl. Wolf 2010, S. 295. 335 Foot 2004, S. 53.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Dieser Aspekt führt meiner Meinung nach bei der Übertragung des gerade skizzierten Modells und einer möglichen Festlegung von Aristotelian categoricals für den Menschen zu einer problematischen Engführung: Handeln Menschen moralisch gut oder sind Menschen moralisch gute Wesen, weil es ihrer Selbsterhaltung dient? Dies wird von Foot so verstanden.336 Was Foot zu übergehen scheint, ist die »fundamentale Sonder­ stellung der menschlichen Natur«, auf die zum Beispiel Müller hin­ weist. Bei Pflanzen und Tieren existiert jeweils »genau eine Form der artgerechten Aktualisierung von Potentialitäten«337, während die Möglichkeiten menschlicher Existenzgestaltung unbegrenzt sind. Aristoteles greift im Ergon-Argument bewusst die spezifische Diffe­ renz des Menschen heraus, um das menschliche Ergon zu bestimmen und damit zu sagen, unter welchen Bedingungen der Mensch seine menschliche Bestform (aretē) erreicht.338 Allerdings greift er dieses Ergon nicht in einer offenen Bestimmung heraus, denn dann würde er nur die Rationalität des menschlichen Lebens an sich zum Ziel machen. Damit könnte auch jeder intelligente Verbrecher seiner menschlichen Vernunftnatur gerecht werden. Aristoteles hingegen füllt die menschliche Eigenschaft der Vernunftfähigkeit inhaltlich bzw. gibt ihr durch den Bezug auf die Tugenden eine inhaltliche Prägung, sodass zumindest ein gewisses Feld an charakteristischen Tätigkeiten für den Menschen abgesteckt ist.339 Wenn man diesen Schritt bei Aristoteles nicht mitgeht, gibt es keine Möglichkeit ein Feld von charakteristischen Tätigkeiten zu umreißen, die die natürliche Gutheit des Menschen ausmachen könnten. Das Ergon-Argument gibt also erst in Verbindung mit den Tugenden einen Hinweis auf die spezifischen Tätigkeiten der Lebensform Mensch.

Foot 2004, S. 66–67. Müller 2006, S. 64f. Hervorhebung durch den Autor. 338 Vgl. EN I, 6. 339 Das ist letztlich das, was Martha Nussbaum dann als ›dicke vage Theorie des Guten‹ bezeichnet, in der sich essentielle Fähigkeiten des Menschen bestimmen las­ sen, deren Entfaltung ein gutes menschliches Leben ausmacht. Nussbaum 1992, S. 214ff. 336

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3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses

3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses: Zwei Lösungen Gemäß Aristoteles hat ein Kind noch nicht die kognitiven Fähigkeiten, um auf einer theoretischen Ebene zu verstehen, was zum Beispiel Gerechtigkeit ist.340 Für eine gerechte Handlung setzt Aristoteles aber drei Kriterien an: Sie muss wissentlich geschehen (eidōs), sie muss absichtlich geschehen (prohairomenos) und sie muss aus einer festen Disposition heraus geschehen.341 Da das Kind noch im Lernprozess ist, hat es diese feste Disposition, aus der heraus es handeln sollte, noch nicht voll ausgeprägt, und auf kognitiver Ebene kann es noch nicht verstehen, ob es gerecht handelt oder nicht. Dem Begriff nach kann ein Kind also gar nicht (gerecht) handeln. Es soll aber durch nichts anderes als gerechtes Handeln gerecht werden. Wie ist es dann überhaupt möglich, gerecht zu werden? Es gibt einige Beispiele, für die dies vorstellbar ist: So sagen wir etwa Kindern, sie sollten ›Danke‹ sagen, wenn sie etwas bekommen. Auf einer abstrakten Ebene wissen Kinder nicht, was Dankbarkeit ist. Wenn sie etwas bekommen, müssen wir sie zuweilen auch daran erin­ nern, sich zu bedanken. So gewöhnen wir sie daran. Irgendwann sagt das Kind auch unaufgefordert ›Danke‹, wenn es etwas bekommt und als Erwachsener wird es vielleicht irgendwann jemandem gegenüber ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit empfinden können, wissen, was das ist, und es auch sprachlich ausdrücken können. Ist es vorstellbar, dass ein Erwachsener das je könnte, wenn er nie als Kind gelernt hätte, sich zu bedanken, auch ohne zu wissen, was es genau bedeutet? Ein anderes Beispiel: Ein Kind hat Angst davor, ins Wasser zu springen. Es wird jedoch von den Eltern ermutigt, dies zu tun, oder durch ein anderes Kind, das es beobachtet, wenn es lachend ins Wasser springt. Das Kind, auch wenn noch ängstlich, wird sich vielleicht 340 Diese Aussage beruht auf dem aristotelischen Verständnis von Kindern, die er als menschliche Lebewesen annimmt, die noch nicht zu intellektueller Einsicht in theoretische Inhalte fähig sind (vgl. die Definition des Kindes zu Beginn des fünften Kapitels). Der Begriff ›Gerechtigkeit‹ und eine damit verbundene Theorie von Gerech­ tigkeit ist ein solcher theoretischer Inhalt. Kindern kann daher auf den ersten Blick innerhalb der aristotelischen Philosophie kein ›Wissen‹ in Bezug auf die Gerechtigkeit zugeschrieben werden. Im Laufe des fünften Kapitels werde ich allerdings deutlich machen, inwiefern Kinder bei Aristoteles sukzessive ein Verständnis von abstrakten Begriffen wie dem der Gerechtigkeit ausbilden und auf welchen Ebenen sie diese im Laufe ihrer Entwicklung verstehen können. 341 Vgl. EN II 3, 1105a28–33.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

überwinden können, mutig ins Wasser zu springen, und danach wird es merken: ›Das war gar nicht schlimm‹. Das Kind ist durch die tapfere Handlung tapferer geworden, als es zuvor war. Demnächst springt es vielleicht auch vom Sprungbrett und nicht nur vom Rand ins Wasser. Durch kleine Erfolgserlebnisse tritt so eine Veränderung der Persönlichkeit auf. Und noch ein drittes Beispiel: Weil er sich mäßigen will, nimmt ein Erwachsener sich vor, abends nur eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Am ersten Abend fällt es ihm schwer und sein Magen knurrt. Nach einer Woche hat er sich daran gewöhnt und verspürt gar nicht mehr das Bedürfnis, am Abend ausgiebig zu essen. Er hat sich an die Maßhaltung durch maßvolles Handeln gewöhnt. Allerdings bleibt bei diesen Beispielen die Frage unbeantwortet, woher der Impuls zur Dankbarkeit, Tapferkeit oder Maßhaltung kommt. Da Menschen offenbar nicht von Natur aus tapfer, dankbar oder maßvoll sind, brauchen sie einen von außen kommenden Anstoß in Form einer Empfehlung oder eines Vorbildverhaltens, um sich zu verändern. Neben diesen Beispielen gibt es auch noch eine andere Möglich­ keit, der aristotelischen These eine gewisse Plausibilität zuzuschrei­ ben. Stellen wir uns einen Menschen vor, der gerecht werden will. Jeden Tag aufs Neue verhält er sich seinen Mitmenschen gegenüber jedoch ungerecht und nimmt sich jedes Mal vor: ›Morgen mache ich es anders‹. Wir würden Aristoteles zustimmen, dass dieser Mensch nie­ mals gerecht werden wird, wenn er nicht endlich damit anfängt, sich so zu verhalten.342 Doch auch hier bleibt eine unauflösliche Spannung: Wenn es sich jemand zum Ziel macht, sich gerechter zu verhalten, so muss er doch wissen, was gerecht ist. Oder weiß er es gar nicht, weil er niemals gerecht handelt? Wie aber soll er je so handeln und gerecht werden, wenn er nicht weiß, was gerecht ist? Daraus ergibt sich ein Zirkelproblem: ist ethisches Lernen überhaupt möglich? Das Problem lässt sich allgemein in folgender Form formulieren: Die Tätigkeit F kann nur durch F-en erlernt werden. Ein Anwärter des F-ens kann noch nicht F-en. Nur durch F-en kann man aber das F-en lernen. Folglich kann er das F-en nicht lernen. Die These des Lernens durch Handeln würde in die Behauptung der Unmöglichkeit des Lernens münden, weil die erstrebte Fähigkeit bereits im Lernpro­ 342 Vgl. Aristoteles’ Bemerkung in EN II 3, 1105b11–12: »Ohne das Tun dieser Dinge könnte niemand auch nur erwarten, gut zu werden.«

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3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses

zess vorausgesetzt wäre.343 Aristoteles kennt dieses Problem und beschreibt es selbst in EN II 3, 1105a16–26. Ich möchte diese Pas­ sage interpretieren, indem ich einen Lösungsansatz auf zwei Ebenen angehe: auf einer kausalen (kinetischen) Erklärungsebene und auf einer ontologischen. Beide Wege führen zur gleichen Lösung.

3.4.1 Die kinetische Lösung Beginnen wir mit einer prozessualen Beschreibung des Tugender­ werbs: Zu Beginn des Prozesses gibt es ein Individuum xTp (vermut­ lich ein sehr kleines Kind), das potenziell über ethische Tugend verfügt (Tp) und am Ende des Prozesses gibt es ein Individuum xTa (vermutlich einen jungen Erwachsenen oder Jugendlichen), das aktual über ethische Tugend verfügt (Ta). Diese Veränderung wird durch ›ethizein‹ hervorgebracht. Innerhalb des Gewöhnungsprozesses gibt es einen aktiven und einen passiven Teil: das Kind wird (passiv) an etwas gewöhnt. Wie aber bereits festgestellt wurde, soll sich der Gewöhnungsprozess dadurch vollziehen, dass xTp selbst aktiv ist, d. h., dass x selbst etwas tut oder macht, selbst handelt. Da x noch unvollkommen ist, trägt es das Bewegungsprinzip, das zum tugendhaften Handeln befähigt, noch nicht in sich selbst. Wie kann x also überhaupt handeln? Aristoteles selbst spricht dieses Problem an und liefert eine Lösung, die vielleicht nicht auf den ersten Blick als Lösung erkennbar ist, die ich als solche aber anschaulich machen möchte. Als Reaktion auf den möglichen Einwand, er liefere eine zirkuläre Beschreibung des Lernens, erwidert Aristoteles: Ἀπορήσειε δ᾿ ἄν τις πῶς λέγομεν ὅτι δεῖ τὰ μὲν δίκαια πράττοντας δικαίους γίνεσθαι τὰ δὲ σώφρονα σώφρονας· εἰ γὰρ πράττουσι τὰ δίκαια καὶ τὰ σώφρονα, ἤδη εἰσὶ δίκαιοι καὶ σώφρονες, ὥσπερ εἰ τὰ γραμματικὰ καὶ τὰ μουσικά, γραμματικοὶ καὶ μουσικοί. ἢ οὐδ᾿ ἐπὶ τῶν τεχνῶν οὕτως ἔχει; ἐνδέχεται γὰρ γραμματικόν τι ποιῆσαι καὶ ἀπὸ τύχης καὶ ἄλλου ὑποθεμένου· τότε οὖν ἔσται γραμματικός, ἐὰν καὶ γραμματικόν τι ποιήσῃ καὶ γραμματικῶς, τοῦτο δ᾿ ἐστὶ τὸ κατὰ τὴν ἐν αὑτῷ γραμματικήν. Es könnte jemand eine Schwierigkeit darin sehen, was wir meinen, wenn wir sagen, man könne gerecht werden nur dadurch, dass man Gerechtes tut, und mäßig nur dadurch, dass man Mäßiges tut. Denn wenn jemand tut, was gerecht und mäßig ist, ist er schon gerecht und 343

Vgl. Jansen 2002, S. 232.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

mäßig, ebenso jemand, wenn er Grammatisches und Musikalisches tut, bereits ein Experte in der Grammatik und Musik ist. Oder verhält es sich schon beim Herstellungswissen nicht so? Jemand kann ja etwas Grammatisches auch durch Zufall (kata tychēn) oder unter Anleitung (hēgoumenon) tun. Er wird also ein Experte in der Grammatik erst dann sein, wenn er etwas Grammatisches tut und dies zugleich in der Weise des Grammatikexperten tut, und das heißt, wenn er es aufgrund des in ihm selbst vorhandenen Grammatikwissens tut. EN II 3, 1105a17–26.

Ein Wissender handelt aufgrund seines eigenen Wissens. Er trägt das Prinzip der Bewegung in sich selbst. Für den Unwissenden gibt es der Logik nach jedoch nur zwei Möglichkeiten, wie er richtig handeln kann. Die eine Möglichkeit ist, dass der Lernende zufällig etwas richtig macht. Die andere Möglichkeit besteht darin, aus dem Wissen einer anderen Person heraus, d.h. unter Anleitung, das Richtige zu tun. Für unser Problem heißt das: Für ein im Lernprozess begriffe­ nes Individuum xTp (das Kind) ist es möglich, richtige Handlungen unter Anleitung auszuführen, und zwar aufgrund des Wissens der anleitenden Person y.344 Ganz radikal formuliert hieße das: Das Kind findet das Prinzip seines Handelns, dasjenige, das Art und Richtung seiner Bewegungen bestimmt, außerhalb seiner selbst, im Erziehenden oder Lehrenden y. Dies erfordert wiederum, dass y über ein solches Bewegungsprinzip in sich selbst verfügt, d. h. ethische Tugend aktual besitzt und verwirklicht. Diese Lesart ist jedoch in dreierlei Hinsicht problematisch. Ein erstes Problem ist, dass Aristoteles in den bereits besprochenen Passagen ganz ausdrücklich fordert, dass derjenige, der habituiert wird, selbst tätig ist. Wir können ihn also nicht als passive Marionette annehmen, die einfach ausführt, was eine erziehende Bezugsperson anordnet. Ein zweites Problem besteht darin, dass die Möglichkeit, dass das Kind während des Lernprozesses zum guten Handeln gezwungen wird, ebenfalls ausgeschlossen werden muss.345 Ein drit­ ter relevanter Punkt besteht darin, dass Kinder nicht ohne Antrieb (wie leblose Körper) sind. Sie haben bereits ein natürliches Streben

Ebenso argumentieren Burnyeat und Wolf. Vgl. Burnyeat 1980, S. 74 und Wolf 2007, S. 68–69. 345 Eine Handlung wird unter Zwang ausgeführt, wenn der Bewegungsimpuls nicht von innen, d. h. vom Handelnden selbst, sondern von außen kommt. Vgl. EE II 8, 1224b7–8. Weitere Überlegungen zu Zwang und Freiwilligkeit in der Erziehung folgen in Abschnitt 7.3.4. 344

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3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses

und ein Wollen,346 auch wenn sie noch nicht über rationales Entschei­ den verfügen. Auch dieser Aspekt muss in einer überzeugenden Interpretation berücksichtigt werden. M. E. stellt Aristoteles das Begriffsinstrumentarium selbst zur Verfügung, mit dem wir auf diese Probleme eingehen können. Der Lehrende y soll ›externes‹ Bewegungsprinzip von x, dem Lernenden, sein, und gleichzeitig soll der Lernende selbst in Aktivität sein und dabei die Fähigkeiten erwerben, die ihn bei einem erfolgreichen Gewöhnungsprozess in der Zukunft befähigen werden, aus sich selbst heraus in Aktivität zu sein – und das alles ohne Zwang. Dies ist nur denkbar, wenn wir die erziehende Bezugsperson als causa finalis annehmen, nämlich als Ziel oder Vorbild, auf das das Kind aus eige­ nem Wollen heraus hinstrebt. Der Lehrende kann diese Rolle erfüllen, indem er als Vorbild die Tugend lebt und gleichzeitig Rechenschaft über sein eigenes Verhalten und seine Motivation ablegt. So kann er es dem Lernenden ermöglichen, die richtigen Handlungen auszuführen. Der Lernende ist somit in einem aktiven Prozess begriffen, in dem er sich das Bewegungsprinzip, durch das sein Vorbild geleitet ist, zu eigen macht, d. h. es internalisiert und für das eigene Handeln verbindlich macht, ohne dass er selbst wüsste oder begründen könnte, warum die ausgeführten Handlungen richtig sind. Am Ende eines gelungenen Erziehungsprozesses verfügt der junge Erwachsene dann selbst über die Kompetenz, sich für die richtigen Handlungen zu entscheiden und diese auszuführen. Sein Bewegungsprinzip liegt dann in ihm selbst. So wird auch klar, warum diese erworbene Kompetenz, die angewöhnte Tugend, wie eine zweite Natur ist. Wie die Natur, die dem Lebewesen seine Ziele sowie seine Verhaltensweisen, mit denen es diese verwirklichen kann, vorgibt, so bestimmt nun auch die zweite Natur die Ziele des durch Habituation geformten Menschen sowie sein auf die Umsetzung dieser Ziele gerichtetes Handeln. Das Ergeb­ nis der Habituation, ein Bündel erworbener Dispositionen, hat die gleiche Wirkkraft, wie die angeborenen, natürlichen Dispositionen.

346

Vgl. Pol. VII 15, 1334b22–24.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

3.4.2 Die ontologische Lösung Auch in seinen ontologischen Überlegungen zur Priorität von energeia gegenüber dynamis im Buch IX der Metaphysik, geht Aristoteles auf das Problem einer Zirkularität ein: διὸ καὶ δοκεῖ ἀδύνατον εἶναι οἰκοδόμον εἶναι μὴ οἰκοδομήσαντα μηδέν, ἢ κιθαριστὴν μηθὲν κιθαρίσαντα· ὁ γὰρ μανθάνων κιθαρίζειν κιθαρίζων μανθάνει κιθαρίζειν, ὁμοίως δὲ καὶ οἱ ἄλλοι. ὅθεν ὁ σοφιστικὸς ἔλεγχος ἐγίγνετο ὅτι οὐκ ἔχων τις τὴν ἐπιστήμην ποιήσει οὗ ἡ ἐπιστήμη· ὁ γὰρ μανθάνων οὐκ ἔχει, … Daher wird es auch für unmöglich angesehen, dass jemand ein Bau­ künstler sei, der noch kein Haus gebaut hat, oder ein Kitharaspieler, der noch nicht auf der Kithara gespielt hat; denn derjenige, der das Kithara-Spielen lernt, lernt Kithara-Spielen, indem er auf der Kithara spielt, und ebenso in allen anderen Fällen. Daher leitete sich auch die sophistische Widerlegung (sophistikos elenchos)347 ab, dass jemand, obwohl er nicht über das Wissen verfügt, dennoch das bewirken würde, wovon das Wissen Gegenstand ist: denn derjenige, der etwas lerne, verfüge noch nicht darüber, […] Met. IX 8, 1049b29–34.

Jansen versteht Aristoteles‹ Theorie des Lernens durch Handeln als Lösung dieses Problems und zieht deshalb auch diese Passage der Metaphysik heran, um das Problem aufzulösen. Denn Aristoteles fährt dort fort: … ἀλλὰ διὰ τὸ τοῦ γιγνομένου γεγενῆσθαί τι καὶ τοῦ ὅλως κινουμένου κεκινῆσθαί τι (δῆλον δ᾿ aἐν τοῖς περὶ κινήσεως τοῦτο) καὶ τὸν μανθάνοντα ἀνάγκη ἔχειν τι τῆς ἐπιστήμης ἴσως. […] Weil aber von dem, was entsteht, schon immer etwas entstanden sein muss, und von dem, was ganz und gar bewegt wird, schon etwas bewegt worden sein muss (dies ist in den Abhandlungen über die Bewegung klar geworden)348, so muss wohl auch derjenige, der lernt, über etwas von dem Wissen (bereits) verfügen. Met. IX 8, 1049b35–1050a2.

347 Mit der sophistischen Streitfrage (sophistikos elenchos) ist laut Jansen das MenonParadox gemeint: »Dass nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann, weder was er weiß, noch was er nicht weiß. Nämlich weder was er weiß, kann er suchen, denn er weiß es ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiß, denn er weiß ja auch nicht, was er suchen soll.« Men. 80e. (Vgl. Jansen 2002, S. 228). 348 Gemeint ist Phys. VI 6.

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3.4 Das Problem der vermeintlichen Zirkularität des Tugenderwerbsprozesses

Aus der konkreten Formulierung ›wir werden tapfer, indem wir tapfer handeln‹ usw. lässt sich die allgemeine Formulierung ›tugendhaft wird ein Mensch, indem er tugendhaft handelt‹ ableiten. Das klingt, wie oben erklärt, paradox, weil zu der geforderten Handlung die ent­ sprechende Fähigkeit fehlt, die Fähigkeit aber erst durch das Handeln erworben werden soll. Für Ursula Wolf handelt es sich jedoch nur um ein scheinbares Paradox. Ihr Vorschlag besteht darin, das Paradox aufzulösen, indem man eine starke und eine schwache Lesart von ›Handeln‹ unterscheidet. Der starke Begriff des Handelns würde die genannten Kriterien des Wissens, des Vorsatzes und der charakterli­ chen Grundhaltung voraussetzen, während ein schwacher Begriff des Handelns diesen Kriterien nicht entsprechen müsste. Dieser schwache Begriff wäre dann auf das Handeln von Kindern anwendbar und würde lediglich verlangen, dass das Kind »eine Handlung tut, die so beschaffen ist, wie ein Gerechter sie tun würde.«349 Wolf gibt mit ihrer Unterscheidung von starker und schwacher Lesart einen wichtigen Hinweis: In dem Satz ›F-en lernt man durch F-en« sind die Tätigkeitsbeschreibungen ›F-en‹ nur homonym, nicht synonym, d. h. sie beschreiben nicht exakt die gleiche Tätigkeit. Wie ließe sich der Satz umformulieren, sodass er zutreffender wird? Ich möchte im Folgenden zwei Formulierungen nutzen, die Jansen vorgeschlagen hat,350 und die sich auch mit den bisherigen Überlegungen in Ein­ klang bringen lassen. Zum Ende des Buches II der Nikomachischen Ethik macht Aristoteles noch eine Bemerkung, die zur Lösung des Problems beiträgt: Wären die Fähigkeiten des Häuser-Bauens und des Kithara-Spielens angeboren, bräuchten wir keinen Lehrer, der uns hilft, sie zu erwerben.351 Dieser kann das Kind zum richtigen Handeln anleiten und ihm Ratschläge geben. Mit der Annahme der Anleitung des Kindes durch eine erziehende Bezugsperson352 kann der Satz vom Lernen durch Handeln folgendermaßen umformuliert werden: »Eigenständig zu F-en lernt man durch F-en nach Anleitung«353 So macht auch Sinn, dass Aristoteles unmittelbar nach sei­ nen Erläuterungen über das ›Dass‹ und das ›Warum‹ zwei Wege beschreibt, zu Erkenntnis zu gelangen: Der eine Weg steht nur den 349 350 351 352 353

Wolf 2011, S. 69. Vgl. Jansen 2002, S. 233. Vgl. EN II 2, 1103b12f. Die Identität der erziehenden Bezugsperson wird noch zu klären sein. Jansen 2002, S. 233.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Besten offen, die in der Lage sind, sich alles selbst zu erdenken. Sie können also aufgrund ihrer Vernunft selbst auf das Richtige schließen. Die zweitbeste Variante besteht darin, auf den Rat eines anderen zu hören, wenn man nicht selbst in der Lage ist, sich ›selbst zu beratschlagen‹. Diese Variante ist aber nicht minder klug, denn sie führt auch zu Erkenntnis.354 Diese Unterscheidung, die Aristoteles auf Hesiod zurückführt, könnte für verschiedene Typen von Menschen gelten: Einige sind so begabt, dass sie selbst darauf kommen, andere müssen diese wiederum um Rat fragen. Wenn wir diese Unterschei­ dung jedoch auf die Phasen der Erziehung anwenden, ergibt sich eine interessante Zuordnung: In der Phase des ›Dass‹ ist der Lernende noch darauf angewiesen, den Rat anderer anzunehmen und auf sie zu hören. Sobald er jedoch seine eigene Vernunftfähigkeit voll entwickelt hat, kann er selbstständig reflektieren, entscheiden und handeln. Lernen durch Handeln wird deshalb richtig verstanden als durch Rat (advice) angeleitetes (guided) Handeln (›advice guided activity‹).355 Nun stellt sich allerdings die Frage, wie man sich den Wandel von einem noch unbeholfenen Umgang mit der Kithara bis hin zum guten Kithara-Spielen vorstellen soll. Jansen bringt die plausible Erläuterung vor, dass man sich den Lernprozess im Sinne einer Qualitätssteigerung vorstellen solle.356 Das Kithara-Spielen beginnt also damit, nur einige Saiten zu zupfen, kann aber in ein immer melo­ discheres und stärker automatisiertes Zupfen der Saiten verwandelt werden. D. h., dass man sich die Tätigkeit des F-ens in der anfängli­ chen Behauptung in unterschiedlichen Qualitäten vorstellen kann: F-en in Qualität j lernt man durch F-en in der Qualität i. Durch F-en in der Qualität j kann man aber auch F-en in der Qualität k erreichen usw. Wie schnell und bis zu welchem Perfektionsgrad dieser Prozess der Qualitätssteigerung vorangeht, hängt von den eingangs herausgearbeiteten Faktoren ab: Der Natur zum Beispiel im Sinne einer musischen Begabung, der Gewöhnung im Sinne der Intensität und Häufigkeit des Übens und dem Logos im Sinne der Kompetenz des Lehrers, das Kithara-Spielen zu vermitteln.

354 355 356

Vgl. EN I 2,1095b2–13. Burnyeat 1980, S. 74. Vgl. Jansen 2002, S. 233–234.

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3.5 Das Problem des Anfangs

3.5 Das Problem des Anfangs Gegen die oben formulierte Lösung könnte man kritisch einwenden, dass es zu einem infiniten Regress kommt. Am Anfang müsste schließlich die Tätigkeit im Sinne ›F-en in der Qualität 0‹ ausgeübt werden. Auch dafür gibt es eine Lösung: »Es kommt dabei nicht zu einem infiniten Regress, da nicht alle Vermögen erlernt sind. Der Mensch verfügt bereits bei seiner Geburt durch seine biologische Ausstattung über eine Reihe von Vermögen. Alle später erworbenen Vermögen sind letztlich auf eine Verbesserung der angeborenen Vermögen zurückzuführen.«357

Der Anfang aller Fähigkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens erwer­ ben, liegt also in unseren natürlichen, angeborenen Fähigkeiten. Ein Mensch hat beispielsweise die körperliche Eigenschaft, über Finger zu verfügen, mit denen er präzise sehr kleine Dinge greifen kann, über Ohren zu verfügen, mit denen er hören kann, und über eine Stimme, mit der er singen kann, und ist somit natürlicherweise dazu fähig, das Spiel der Kithara zu erlernen. Aristoteles würde das jedoch umgekehrt formulieren: Weil der Mensch fähig ist, das Spielen eines Musikinstruments zu erlernen, besitzt er die Art von Fingern und die Art von Gehör, die er besitzt. Allerdings gilt es zu betonen, dass immer ein Impuls von außen benötigt wird. Der Impuls, der einen Veränderungsprozess anstößt, ist der weiteren Betrachtung wert. Aristoteles erklärt dazu: ἀεὶ γὰρ ἐκ τοῦ δυνάμει ὄντος γίγνεται τὸ ἐνεργείᾳ ὂν ὑπὸ ἐνεργείᾳ ὄντος, οἷον ἄνθρωπος ἐξ ἀνθρώπου, μουσικὸς ὑπὸ μουσικοῦ, ἀεὶ κινοῦντός τινος πρώτου· τὸ δὲ κινοῦν ἐνεργείᾳ ἤδη ἔστιν. Immer nämlich entsteht das der Verwirklichung nach Seiende infolge eines der Verwirklichung nach Seienden, wie etwa der Mensch durch einen Menschen, der Musische durch den Musischen, indem immer etwas als Erstes bewegt: das Bewegende aber existiert bereits der Verwirklichung nach. Met. IX 8, 1049b24–27.

In einer kausalen Hinsicht entsteht eine Fähigkeit nicht aus dem Nichts, sondern daraus, dass jemand anderes, in diesem Falle der oder die Lehrende, sie bereits besitzt. Derjenige, der einen Veränderungs­ prozess im Lernenden anregen kann, muss selbst schon im Zustand der Verwirklichung sein. Der Prozess des Auslösens oder Anregens 357

Jansen 2002, S. 234.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

muss sich innerhalb der Sphäre von Gleichartigem bewegen: Der Musische entsteht aus einem Musischen, nicht aus einem Baumeis­ ter oder einem Nicht-Musischen. So können Menschen Fähigkeiten erwerben, die sie nicht schon von Geburt an besitzen. Gleichzeitig wird deutlich, inwiefern angeborene Fähigkeiten Voraussetzung und Ausgangspunkt für den Prozess sind, in dem neue Fähigkeiten erwor­ ben werden.

3.6 Das Problem der Qualitätssteigerung Die Erklärung, die Jansen in Bezug auf das Kithara-Spielen liefert, klingt plausibel. Mit fortwährender Übung wird der Lernende immer besser darin, die nötigen Handgriffe auszuführen, das Spiel wird melodischer. Ebenso können wir es uns für das Tanzen, in dem die Schritte immer harmonischer aufeinander folgen, oder das Malen, in dem wir immer gekonnter Pinselstriche setzen, vorstellen. Erklärt dies allerdings tatsächlich, wie ethische Tugend erworben wird? Oder, um mit Broadie zu fragen: »can we train the moral muscle?«358 Beginnen wir mit einem Beispiel: Ein Kind, das Geburtstag feiert, soll den Geburtstagskuchen gerecht unter den Gästen aufteilen. Es ist widerwillig und möchte nicht teilen, doch die Eltern leiten das Kind dazu an, den Kuchen gerecht zu teilen. Es schneidet den Kuchen in gleichgroße Stücke, die der Anzahl der Gäste entsprechend verteilt werden. Anschließend wird gemeinsam gegessen. Nun soll tugendhaftes Handeln durch Wiederholung gefestigt werden. Wie sähe eine Wiederholung dieser Situation aus? Man könnte meinen, dass das Kind das auf diese Weise gerechte Verhalten am besten dadurch lernte, dass es in jedem Jahr einen Kuchen aufteilen muss. Seine Art, den Kuchen zu zerschneiden, würde immer präziser und professioneller werden und es würde die Fähigkeit ›Gerecht-Kuchenaufteilen‹ immer besser ausführen können. Mit dieser Beschreibung möchte ich zeigen, dass die Vorstel­ lung, man könnte tugendhaftes Verhalten in seiner Qualität durch Wiederholung gleicher Settings steigern, absurd ist. Das Prinzip der Gerechtigkeit wird nicht dadurch immer besser erworben, dass man immer besser einen Kuchen teilen kann, weil es nicht um die Aufteilung des Kuchens ›per se‹ geht. Es geht um die Verinnerlichung 358

Broadie 1991, S. 108.

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3.6 Das Problem der Qualitätssteigerung

eines Prinzips (gerecht Teilen), das es gilt, in immer wieder neuen Situationen ausfindig zu machen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Am nächsten Tag in der Schule hat ein anderes Kind sein Butterbrot vergessen. Sagen wir, das Geburtstagskind hätte das Prinzip ›gerecht mit anderen teilen‹ oder auch die Regel ›teile gerecht mit anderen‹ in der einen Situation verinnerlicht und ist nun in der Lage, es auf die neue Situation zu übertragen: Es bietet dem Kind an, sein Butterbrot mit ihm zu teilen. Was ich hier an einem sehr simplen Beispiel demonstrieren möchte, ist das, was Aristoteles mit Wiederholung meint. Es geht um Erfahrungen mit dem gleichen Gegenstand, allerdings nicht mit dem gleichen Gegenstand in einem eng verstandenen Sinne ›Kuchen zer­ teilen‹, sondern mit dem abstrakten Gegenstand ›gerecht mit anderen teilen‹. Es geht nicht darum, wieder und wieder die (äußerlich) selbe Handlung (im Sinne eines identischen Handlungsablaufs) durchzu­ führen (obwohl auch das der Fall sein kann), sondern darum, verschie­ dene praktische Fälle ein und desselben Prinzips (hier ›gerecht mit anderen teilen‹) kennenzulernen, und so zu verinnerlichen. Dabei ist meiner Meinung nach offen, ob wir postulieren müssen, dass das Kind selbst ein solches Prinzip als Proposition formulieren kann oder nicht. Wichtig ist nur, dass es so handelt. An diesem Beispiel wird auch deutlich, warum ›Wiederholung‹ nicht stupide ist. Stupide wäre es, immer und immer wieder, einen Kuchen aufzuschneiden. Die Handlung in einem neuen Handlungskontext erfordert jedoch komplexe kognitive Aktivitäten. Deshalb ist der Begriff der Erfahrung m. E. ein Schlüsselbegriff für den Tugenderwerb: Τὰ μὲν οὖν ἄλλα ταῖς φαντασίαις ζῇ καὶ ταῖς μνήμαις, ἐμπειρίας δὲ μετέχει μικρόν· τὸ δὲ τῶν ἀνθρώπων γένος καὶ τέχνῃ καὶ λογισμοῖς. γίγνεται δ᾿ ἐκ τῆς μνήμης ἐμπειρία τοῖς ἀνθρώποις αἱ γὰρ πολλαὶ μνῆμαι τοῦ αὐτοῦ πράγματος μιᾶς aἐμπειρίας δύναμιν ἀποτελοῦσιν. καὶ δοκεῖ σχεδὸν ἐπιστήμῃ καὶ τέχνῃ ὅμοιον εἶναι ἡ ἐμπειρία, ἀποβαίνει δ᾿ ἐπιστήμη καὶ τέχνη διὰ τῆς ἐμπειρίας τοῖς ἀνθρώποις· […] γίγνεται δὲ τέχνη ὅταν ἐκ πολλῶν τῆς ἐμπειρίας ἐννοημάτων μία καθόλου γένηται περὶ τῶν ὁμοίων ὑπόληψις. Die anderen Lebewesen (die verständigen und gelehrigen Tiere) leben nun mit Vorstellungen und Erinnerungen und haben nur geringen Anteil an der Erfahrung, das Geschlecht (genos) der Menschen dagegen lebt auch mit Kunst (technē) und Überlegungen (logismois). Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen einer

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Erfahrung, und es scheint die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast ähnlich zu sein. Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Men­ schen aus der Erfahrung hervor: […] Die Kunst entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allge­ meine Annahme über das Ähnliche bildet. Met. I 1, 980b25–981a7.

Aristoteles beschreibt Erfahrung als eine Bündelung von Erinnerun­ gen an den gleichen Gegenstand, in der eine ›Annahme über das Ähnliche‹ gebildet wird. Der Lernende muss demnach kognitiv dazu in der Lage sein, den gemeinsamen Aspekt von zwei unterschied­ lichen Situationen wahrzunehmen und somit Partikulares als Fall eines Allgemeineren zu identifizieren. D. h. für unser Beispiel: Das Kind muss kognitiv dazu in der Lage sein, die Ähnlichkeit zwischen Situation 1 ›Kuchen aufteilen‹ und Situation 2 ›ein Butterbrot teilen‹ zu erkennen, und selbst herausfinden, wie sich das Prinzip ›gerecht Teilen‹ in der neuen Situation umsetzen ließe.

3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess Es ist möglich, den Tugenderwerb als Veränderungsprozess zu beschreiben; dabei ist allerdings zu beachten, unter welcher Art von Veränderungsprozess. Klassischerweise setzt eine Veränderung die vorherige Abwesenheit einer Qualität voraus: Sie vollzieht sich dann von ›nicht a‹ zu ›a‹ oder von ›a‹ zu ›nicht a‹. Beim Tugenderwerb verhält es sich allerdings anders. Tugenden sind nicht einfach Ergän­ zungen oder Zusätze zu der menschlichen Natur,359 wie etwa die Farbveränderung bei einer Wand, die weiß gestrichen wird und dabei Wand bleibt. Für den Tugenderwerb ist der Begriff des Wandels (kinēsis) relevant. Mit Wandel (kinēsis) bezeichnet Aristoteles den Übergang von einer dynamis zu einer entelecheia und damit die Reali­ sierung eines natürlichen Potentials: »Das endliche Zur-WirklichkeitKommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (entwickelnde) Veränderung […].«360 Müller rekonstruiert in Bezug auf die gerade genannte Passage in der Physik vier konstitutive Momente einer kinēsis: Vgl. Broadie 1991, S. 74. Vgl. Phys. III 1, 201a10–11 in der Übersetzung Zekls. Müller übersetzt: »Die Wirklichkeit (entelecheia) eines bloß der Möglichkeit (dynamei) nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist Veränderung (kinēsis) […].« Müller 2006, S. 23. Weitere Varianten von Veränderungen bzw. Wandel sind die Veränderung von 359

360

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3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess

»(1) das Seiende, an dem sich die Veränderung vollzieht und das im Zustand fehlender Bestimmtheit (stēresis) vorliegt (2) die Möglichkeit/Fähigkeit (dynamis) dieses Seienden zu der entsprechenden Veränderung, (3) der eigentliche Vorgang der Aktualisierung von (2) in oder an (1), (4) das Endresultat, d. h. die erreichte Wirklichkeit bzw. Aktuali­ tät (entelecheia).«361 Diese Elemente lassen sich in folgender Weise auf den Tugenderwerb übertragen: Das Seiende, an dem sich die Veränderung vollzieht, ist das lernende Kind. Die Fähigkeit zur Veränderung entspricht seinem natürlich angelegten Potential zur Tugendhaftigkeit, und das Endresultat entspricht der tatsächlichen Tugendhaftigkeit. Doch wie wird das Potential verwirklicht? (1) (2) (3) (4)

Das lernende Kind Die (angeborene) Fähigkeit, potenziell tugendhaft zu sein ? Der tugendhafte Erwachsene

Aus dem bisher gesagten muss die Verwirklichung durch eine Kom­ bination von natürlicher Entwicklung und Steuerung von außen (in Form von Habituation und Instruktion) vollzogen werden. Der wichtige Punkt dabei ist allerdings, dass es sich, wie gesagt, nicht um eine rein qualitative Veränderung handelt: »Acquiring a virtue, […] (or for that matter, a skill or a theoretical mastery), is not an alteration, but a perfecting or completing of our nature (EN Ⅱ 13, 1103a25).«362 Broadies Argumentation lässt sich allerdings nicht nur innerhalb der Ethik, sondern auch mit Verweis auf die Physik bestätigen. Ἀλλὰ μὴν οὐδ᾿ αἱ ἕξεις οὔθ᾿ αἱ τοῦ σώματος οὔθ᾿ αἱ τῆς ψυχῆς ἀλλοιώσεις. αἱ μὲν γὰρ ἀρεταὶ αἱ δὲ κακίαι τῶν ἕξεων, οὐκ ἔστι δὲ οὔτε ἡ ἀρετὴ οὔτε ἡ κακία ἀλλοίωσις, ἀλλ᾿ ἡ μὲν ἀρετὴ τελείωσίς τις (ὅταν γὰρ λάβῃ Eigenschaften, das Wachsen oder Schwinden sowie die Ortsbewegung. Vgl. Phys. III 1, 201a10ff.; Vgl. De an. I 3, 406a12–13. 361 Müller 2006, S. 23. 362 Broadie 1991, S. 74. Deshalb macht es auch Sinn, sowohl den natürlichen Status als auch den habituell veränderten Status des Menschen jeweils positiv als ein bestimmtes Set von Dispositionen zu beschreiben und nicht als einen Mangel. Das Kind ist somit nicht ›nicht-vernünftig‹, sondern vielmehr ›vor-vernünftig‹ oder ›potenziell vernünftig‹, bzw. nicht ›nicht-tugendhaft‹, sondern ›potenziell tugend­ haft‹.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

τὴν ἑαυτοῦ ἀρετήν, τότε λέγεται τέλειον ἕκαστον· τότε γὰρ μάλιστα ἔστι τὸ κατὰ φύσιν ὥσπερ κύκλος τέλειος ὅταν μάλιστα γένηται κύκλος βέλτιστος), ἡ δὲ κακία φθορὰ τούτου καὶ ἔκστασις. ὥσπερ οὖν οὐδὲ τὸ τῆς οἰκίας τελείωμα λέγομεν ἀλλοίωσιν (ἄτοπον γὰρ εἰ ὁ θριγκὸς καὶ ὁ κέραμος ἀλλοίωσις ἢ εἰ θριγκουμένη καὶ κεραμουμένη ἀλλοιοῦται ἀλλὰ μὴ τελειοῦται ἡ οἰκία), τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ ἐπὶ τῶν ἀρετῶν καὶ τῶν κακιῶν καὶ τῶν ἐχόντων ἢ λαμβανόντων· αἱ μὲν γὰρ τελειώσεις αἱ δὲ ἐκστάσεις εἰσίν, ὥστ᾿ οὐκ ἀλλοιώσεις. Im Grunde genommen sind Dispositionen (hexeis), seien sie körperlich oder geistig, keine qualitativen Veränderungen (alloiōseis). Manche sind Tugenden (aretai), manche sind Laster (kakiai) und weder Tugend noch Laster sind eine Veränderung, sondern die Tugend ist eine Ver­ vollkommnung/Perfektion (teleiōsis), denn man sagt über eine Sache, dass sie vollkommen ist, wenn sie ihre Bestform (aretē) erreicht hat, denn dann entspricht sie am meisten ihrer Natur (malista esti to kata physin), (wie der Kreis die ausgewogenste Proportion erreicht, wenn er der bestmögliche Kreis wird): und Laster bedeutet, dass etwas eben jenes verliert oder davon abweicht. Dementsprechend nennen wir ja auch die Fertigstellung eines Hauses nicht qualitative Veränderung (denn wer würde denn sagen, das Haus wurde ›verändert‹/›modifi­ ziert‹, anstatt einfach zu sagen ›fertig gestellt‹/›vollendet‹?) So verhält es sich auch mit Tugenden und Lastern und mit denen, die sie haben oder erwerben: Erstere sind Perfektionen/Vervollkommnungen und letztere Abweichungen davon, keines davon sind Veränderungen. Phys. VII 3, 246a10–246b3.

Wenn wir diese Passage mit den bisher getroffenen Aussagen ins Verhältnis setzen, ergibt sich eine neue Perspektive: Ein Kind, das eine Tugend erwirbt, wird nicht im Sinne des Wortes ›Veränderung‹ geformt, sondern genau genommen, wird es vervollständigt, fertig gestellt: es gelangt zu seiner Vollendung.363 Und diese Vollkommen­ heit ist seine eigentliche Natur Nt. Durch den Prozess der Gewöhnung wird das Kind erst der Mensch, als den die Natur ihn entworfen hat, es wird zu sich selbst: zum Menschen.364 Dies stimmt mit dem überein, was anfangs über den aristoteli­ schen Naturbegriff gesagt wurde. Ein Mensch ist immer auf dem Weg Gewöhnung wirkt auf die natürlichen Anlagen des Menschen vervollkommnend oder vervollständigend. Vgl. dazu auch Phys. II 8, 199a15–16 und Pol. VII 17, 1337a1– 3. Siehe dazu auch Abschnitt 2.3.1. 364 Explorativ äußert auch Kristjánsson diese Vermutung, allerdings ohne sie zu belegen oder zu begründen. Vgl. Kristjánsson 2006, S. 106. 363

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3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess

zu sich selbst und erst, wenn er seine Bestform erreicht hat, entspricht er im eigentlichen Sinne seiner Natur.365 Gewöhnung ist damit ein Teil des Weges des Menschen zu sich selbst.366 Ob es der letzte Abschnitt dieses Weges ist oder nicht, wird noch zu diskutieren sein, aber es ist ein Abschnitt dieses Weges, der zurückgelegt werden muss, damit der unvollkommene Mensch (das Kind) zu dem vollkommenen Menschen werden kann, als den die Natur ihn geplant hat, d. h. damit er das natürliche Menschsein verwirklichen kann. Gewöhnung kann somit als ein Mittel menschlicher Selbstwerdung verstanden werden. Wenn man genau hinschaut, erwähnt Aristoteles diesen Punkt bereits in der Passage der EN von der wir ausgegangen sind. Dort heißt es: »Durch sie (die Gewöhnung) werden wir vollkommen (teleioume­ nois).«367 Bedeutet dies jedoch, dass die Gewöhnung schon alles tut, d. h., dass der spoudaios schon durch die Gewöhnung entsteht? Um diese Frage zu beantworten, muss man beachten, dass Aristoteles, wie anfangs herausgearbeitet, immer drei Aspekte von Erziehung hervorhebt: physis, ethos und logos.368 Man muss also bei der Antwort auf diese Frage bedenken, dass durch die Gewöhnung nur die charakterlichen Tugenden erworben werden, nicht aber die intellektuellen. »Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet einen Unterschied für das Handeln.«369 Die Gewöhnung schließt den Erzie­ hungsprozess noch nicht ab, denn die Ausbildung der Vernunft folgt noch und ist zur Vervollkommnung des Menschen notwendig. Trotzdem bleibt bezüglich des Begriffs der Veränderung noch weiteres zu klären. Es ist deutlich geworden, dass Aristoteles den Erwerb einer hexis, die eine aretē ist, als Vollendung und nicht als Alteration versteht. Dennoch gibt es etwas, das sich verändert. In der Folge der eben zitierten Passage der Physik erläutert Aristoteles, dass die tugendhafte Disposition eine Relation ist (pros ti), und je nachdem, ob ein Individuum über eine Tugend (a) oder ein Laster (b) verfügt, dieses Individuum dementsprechend auf die richtige (a) oder die falsche (b) Weise affiziert wird. Diesen Gedanken führt Aristoteles noch genauer aus. 365 Müller weist richtig darauf hin, dass in diesem Modell Perfektion bzw. Vollendung und Natürlichkeit fast synonym sind. Vgl. Müller 2006, S. 61. 366 Vgl. Morel 1997, S. 132. 367 EN II 1, 1103a25f. 368 Vgl. Pol. VII 13, 1332a38–b11; EN X, 1179b20ff. Siehe dazu Abschnitt 1.2.2. 369 EN VI 13, 1144b12f.

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3. Der Begriff der Gewöhnung (ethos)

Ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν τῆς ψυχῆς ἕξεων· ἅπασαι γὰρ καὶ αὗται τῷ πρός τί πως ἔχειν, καὶ αἱ μὲν ἀρεταὶ τελειώσεις αἱ δὲ κακίαι ἐκστάσεις· ἔτι ἡ μὲν ἀρετὴ εὖ διατίθησι πρὸς τὰ οἰκεῖα πάθη, ἡ δὲ κακία κακῶς. ὥστ᾿ οὐδ᾿ αὗται ἔσονται 5ἀλλοιώσεις, οὐδὲ δὴ αἱ ἀποβολαὶ καὶ λήψεις αὐτῶν· γίγνεσθαι δ᾿ αὐτὰς ἀναγκαῖον ἀλλοιουμένου τοῦ αἰσθητικοῦ μέρους. ἀλλοιοῦται δ᾿ ὑπὸ τῶν αἰσθητῶν. ἅπασα γὰρ ἡ ἠθικὴ ἀρετὴ περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας τὰς σωματικάς, αὗται δ᾿ ἢ ἐν τῷ πράττειν ἢ ἐν τῷ μεμνῆσθαι ἢ ἐν τῷ ἐλπίζειν. αἱ μὲν οὖν ἐν τῇ πράξει κατὰ τὴν αἴσθησίν εἰσιν, ὥσθ᾿ ὑπ᾿ αἰσθητοῦ τινος κινεῖσθαι, αἱ δ᾿ ἐν τῇ μνήμῃ καὶ ἐν τῇ ἐλπίδι ἀπὸ ταύτης (ἢ γὰρ οἷα ἔπαθον μεμνημένοι ἥδονται ἢ ἐλπίζοντες οἷα μέλλουσιν)· ὥστ᾿ ἀνάγκη πᾶσαν τὴν τοιαύτην ἡδονὴν ὑπὸ τῶν αἰσθητῶν γίγνεσθαι. ἐπεὶ δ᾿ ἡδονῆς ἢ λύπης ἐγγιγνομένης καὶ ἡ κακία καὶ ἡ ἀρετὴ ἐγγίγνεται (περὶ ταύτας γάρ εἰσιν), αἱ δ᾿ ἡδοναὶ καὶ αἱ λῦπαι ἀλλοιώσεις τοῦ αἰσθητικοῦ, φανερὸν ὅτι ἀλλοιουμένου τινὸς ἀνάγκη καὶ ταύτας ἀποβάλλειν καὶ λαμβάνειν. ὥσθ᾿ ἡ μὲν γένεσις αὐτῶν μετ᾿ ἀλλοιώσεως, αὐταὶ δ᾿ οὐκ εἰσὶν ἀλλοιώσεις. Das gleiche gilt für die Haltungen (hexeis) der Seele: Denn auch sie bestehen in bestimmten Relationen (sind jeweils ein Sich-zu-etwasVerhalten), und die Tugenden/die jeweiligen Bestformen (aretai) sind Vervollkommnungen und die Schlechtigkeiten Entartungen/Abirrun­ gen. Des Weiteren versetzt die Tugend in einen guten Zustand gegen­ über den eigenen Gefühlen/die je eigenen Affekte (pathē), die Schlech­ tigkeit in einen schlechten. Folglich werden sie (die Tugenden) keine Veränderungen sein, und auch nicht das Ablegen oder Annehmen von ihnen. Sie entstehen also notwendigerweise durch die Veränderung des wahrnehmenden (Seelen-)teils / indem sich der wahrnehmende Seelenteil verändert. (Er) wird sich allerdings durch wahrnehmbare Objekte verändern. Denn jede ethische Tugend dreht sich um/basiert auf körperlicher Lust und Unlust, stammt sie nun aus dem (aktualen) Handeln, aus der Erinnerung oder aus der Hoffnung auf Zukünftiges. Phys. VII 3, 246b20–247a19.370

Der Erwerb einer Tugend an sich ist folglich keine qualitative Verän­ derung eines Individuums, sondern präziser gesagt, mit einer qualita­ tiven Veränderung des sensitiven Teils dieses Individuums verbunden oder durch ihn kausal verursacht. Der sensitive Teil ist dazu fähig, Lust und Unlust zu empfinden. Es geht somit um eine Veränderung dessen, auf welche Weise ein Mensch Lust und Unlust empfindet, wie er affiziert wird. Durch die Veränderung der Wahrnehmung im Tugenderwerbsprozess nimmt der Lernende tugendhaftes Handeln zunehmend als lustvoll wahr. Gleichzeitig werden Handlungen, die 370

Eigene Übersetzung.

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3.7 Tugenderwerb als Veränderungsprozess

nicht im eigentlichen Sinne gut sind, immer weniger lustvoll für ihn. So verändern sich die Prinzipien seines Handelns und sein Wertesystem. Diese Aspekte werden in den Kapiteln 7 und 8 weiter entfaltet, in denen es um die Entstehung moralischer Motivation geht.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

In diesem Kapitel geht es darum, den Begriff der Habituation ver­ tiefend zu klären, indem der Zusammenhang zwischen Charakter­ formung und Prinzipienerkenntnis analysiert wird. Ein Teilaspekt davon wird die Abgrenzung des Habituationsbegriffes gegenüber dem Begriff der Instruktion sein. Zu Beginn des zweiten Buches der Niko­ machischen Ethik führt Aristoteles den Begriff der Gewöhnung als Methode des Erwerbs der charakterlichen Tugenden ein. Im Kontext dieser Einführung unterscheidet er Habituation und Instruktion deut­ lich als zwei unterschiedliche Erwerbsmodi: Instruktion (didaskalia) sei das, wodurch die dianoetische und Habituation das, wodurch die ethische Tugend erworben werde. Διττῆς δὴ τῆς ἀρετῆς οὔσης, τῆς μὲν διανοητικῆς τῆς δὲ ἠθικῆς, ἡ μὲν διανοητικὴ τὸ πλεῖον ἐκ15 διδασκαλίας ἔχει καὶ τὴν γένεσιν καὶ τὴν αὔξησιν, διόπερ ἐμπειρίας δεῖται καὶ χρόνου· ἡ δ᾿ ἠθικὴ ἐξ ἔθους περιγίνεται, ὅθεν καὶ τοὔνομα ἔσχηκε μικρὸν παρεγκλῖνον ἀπὸ τοῦ ἔθους. Da die Gutheit (aretē) also zwei Arten aufweist, die Gutheit des Denkens (dianoētikē) und die charakterliche (ēthikē) Gutheit, verdankt die Gutheit des Denkens sowohl ihr Entstehen als auch ihr Anwachsen größtenteils der Belehrung (didaskalia) – weshalb sie Erfahrung und Zeit371 erfordert –, während die charakterliche Gutheit aus Gewöhnung hervorgeht. Daher auch ihr Name (ēthikē), der nur wenig von dem Wort ethos (Gewohnheit) abweicht. EN II 1, 1103a14–18.

Die Instruktion oder Belehrung richtet sich auf den Seelenteil, der aus sich heraus vernünftig ist, und setzt somit voraus, dass sich das natürliche Potential der Vernunft im Lernenden bereits entfaltet hat. Belehrung richtet sich also an Menschen mit aktualisierter Vernunft­ fähigkeit und hat das Ziel, Gründe zu explizieren (auf Seiten des

371 Broadie argumentiert dafür, dass auch und gerade Habituation Erfahrung und Zeit erfordere. Vgl. Broadie 1991, S. 73.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

Lehrenden) und Gründe zu verstehen (auf Seiten des Lernenden).372 Gründe zu verstehen heißt in der aristotelischen Epistemologie, die Gründe/Ursachen (aitia) einer Sache zu verstehen, sowie die ersten Prinzipien (archai), die das Sein dieser Sache (ontologisch) begrün­ den. Nun stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Habituation und Instruktion stehen und wie wir Habituation besser verstehen können, wenn wir bedenken, dass diese von Instruktion zu unterscheiden ist.

4.1 Die Doppelbedeutung von Prinzipien Dazu muss eine Passage analysiert werden, die ganz zu Beginn der Nikomachischen Ethik zu finden ist. Dort erklärt Aristoteles, dass es einen Unterschied gibt zwischen Begründungen (logos), die von Prinzipien (archē) ausgehen und solchen, die zu Prinzipien hinführen. Mit dem Verweis darauf, dass sich auch Platon mit diesem Problem beschäftig habe, sagt Aristoteles im Anschluss: ἀρκτέον μὲν οὖν ἀπὸ τῶν γνωρίμων. ταῦτα δὲ διττῶς, τὰ μὲν γὰρ ἡμῖν τὰ δ᾿ ἁπλῶς· ἴσως οὖν ἡμῖν γε ἀρκτέον ἀπὸ τῶν ἡμῖν γνωρίμων. διὸ δεῖ τοῖς ἔθεσιν ἦχθαι καλῶς τὸν περὶ καλῶν καὶ δικαίων καὶ ὅλως τῶν πολιτικῶν ἀκουσόμενον ἱκανῶς. ἀρχὴ γὰρ τὸ ὅτι, καὶ εἰ τοῦτο φαίνοιτο ἀρκούντως, οὐδὲν προσδεήσει τοῦ διότι: ὁ δὲ τοιοῦτος ἔχει ἢ λάβοι ἂν ἀρχὰς ῥᾳδίως. Man muss nämlich von dem Bekannten (gnōrimon) ausgehen (ark­ teon). Doch dieses ist von zweifacher Art. Das eine ist das für uns (hēmin) Bekannte, das andere das überhaupt (haplōs) Bekannte. Ver­ mutlich müssen wir also mit dem für uns Bekannten anfangen.373 Daher muss, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte (kalon) und Gerechte (dikaion), allgemein über die Themen der politi­ schen Untersuchung (politika), geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben. Denn Ausgangspunkt (archē) ist das Dass (hoti), und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darüber hinaus das Warum (dihoti) erforderlich sein. Wer so beschaffen ist, der besitzt entweder die ersten Prinzipien (archē) oder er wird sie leicht erhalten. EN I 2, 1095b2–8. Vgl. Hübner 2013, S. 130. Vgl. zum Unterscheid zwischen dem für uns Bekannten und dem überhaupt Bekannten Anal. post I 2.

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4.1 Die Doppelbedeutung von Prinzipien

Aristoteles unterscheidet hier das ›an sich‹ Bekannte von dem ›für uns‹ Bekannten, wobei er das ›uns Bekannte‹ als Ausgangspunkt für den ethischen Lernprozess festlegt. Diesen Ausgangspunkt bestimmt er als das ›Dass‹, das erworben werden soll, bevor ein ›Warum‹ möglich sei. Offenbar soll das ›Dass‹ gleichbedeutend mit einem guten Charakter sein, während das ›Warum‹ das Hören einer Vorle­ sung über das Edle (to kalon) und Gerechte (to dikaion) bezeichnen könnte.374 Im Folgenden möchte ich genauer klären, wie der Zusam­ menhang zwischen Prinzipienerkenntnis, Charakterformung und der gestuften Epistemologie bei Aristoteles zu verstehen ist. Aristoteles unterscheidet das ›an sich Bekannte‹ von dem ›uns Bekannten‹. Das an sich Bekannte ist das, was aus einem allgemeinen, d. h. nicht an ein Individuum gebundenen Blickwinkel an sich episte­ mologisch prioritär ist. Dies sind die ersten Ursachen einer Sache, die allgemeinsten Kenntnisse. Das für uns Bekannte hingegen ist eine Art von Wissen, das einem Individuum in seinem Leben zuerst und aus unmittelbaren (sinnlichen) Erfahrungen zukommt. Aristoteles wendet sich explizit gegen einen Top-Down Ansatz ethischer Erziehung. In einem solchen Ansatz würde man dem Schü­ ler zunächst eine Vorlesung über das Gute halten, die er theoretisch verstehen müsste. Dann würde man den Schüler bitten, sein theore­ tisch erworbenes Wissen in der Praxis anzuwenden.375 Die Vorgehensweise, die Aristoteles für richtig hält, verläuft genau umgekehrt: Wir sollen von dem uns Bekannten ausgehen (ark­ teon)376, d. h. der Ausgangspunkt für jegliche Art von Lernprozess soll das sein, was wir aus dem unmittelbaren Kontakt mit der Welt als erste Kenntnisse bereits haben. Dieses Postulat wird dann von Aristoteles dazu genutzt, Folgendes zu begründen: Der Erwerb eines guten Charakters durch die Gewöhnung soll Voraussetzung dafür Das Edle (to kalon) und Gerechte (to dikaion) bezeichnet bei Aristoteles das moralisch Werthafte und somit den Inhalt der Vorlesungen über das gute Leben. Vgl. EN I 2, 1095b4–6. Siehe auch EN I 1, 1094b14–16. 375 Die Möglichkeit eines Ansatzes, in dem die Theorie vor der Erfahrung kommt, ist in der Eudemischen Ethik sicherlich noch eine Option für Aristoteles (vgl. London 2001) und steht inhaltlich der platonischen Konzeption von moralischer Erziehung nahe. Dies scheint ein zusätzlicher Anhaltspunkt dafür zu sein, dass die in der Niko­ machischen Ethik präsentierte Konzeption die reifere ist. Vgl. London 2001, S. 579ff. 376 Der Grundsatz, man müsse von dem für den Menschen Bekannteren ausgehen, findet sich auch in anderen Kontexten. Zum Beispiel in Phys. I 1, 184a18–21. Das Gerundiv arkteon welches imperativisch übersetzt werden muss, betont, dass diese Aussage normativ zu verstehen ist. 374

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

sein, eine Vorlesung kompetent genug verfolgen zu können, d. h. um hinreichend ausgestattet zu sein, eine solche Vorlesung auf gute Weise zu hören und zu verstehen.377 Aristoteles begründet das mit der Behauptung, dass das Dass Anfangspunkt (archē) sei. Und wenn die­ ser hinreichend genau aufgezeigt sei, hält er sogar eine Beschäftigung mit dem Warum (für die Praxis) eventuell für gar nicht mehr nötig. Dies wird weiter expliziert: Denn der so Beschaffene (derjenige, der schon einen guten Charakter durch Habituation erworben hat), hat entweder die ersten Prinzipien, oder er wird sie leicht erwerben kön­ nen. Um diese Aussagen zu verstehen, muss man die doppelte Verwendung erklären, mit der Aristoteles die Begriffe ›archē‹ oder ›prōton‹ gebraucht. Einmal verwendet er ›zuerst‹ bzw. ›anfänglich‹ mit Bezug auf das Individuum. Das ›Dass-es-so-ist‹ (to hoti) ist etwas Erstes in der Biografie eines Menschen und ist deshalb ein Anfang und Ausgangspunkt für die noch kommenden Erkenntnis­ prozesse.378 Diese ersten Feststellungen oder Einsichten beziehen sich auf die Erscheinungen (ta phainomena), die sich den Sinnen erschließen. Wenn man diese Erscheinungen jedoch verstehen und erklären möchte, muss man nach ihren Ursachen fragen, d. h. nach den ersten Prinzipien, die dafür verantwortlich sind, dass die Phänomene uns so erscheinen, wie sie uns erscheinen. Der Grund oder die Ursache (aitia) eines Sachverhalts ist also an sich etwas Erstes, da sie den Sachverhalt primär begründet, aber ist innerhalb der Entwicklung eines Menschen erst später Inhalt einer Erkenntnis.

4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum Die Rede von der Dualität von ›Dass‹ (hoti) und ›Warum‹ (dihoti) ist eine für Aristoteles vor allem in den Ersten und Zweiten Analyti­ ken relevante »wissenschaftstheoretische Unterscheidung, die zwei unterschiedliche Stadien im wissenschaftlichen Forschungsprozeß [sic] kennzeichnen soll: die Feststellung der Fakten (des Daß) und die In diesem Kontext erfahren wir auch, was Inhalt dieser Vorlesung sein wird: das Gute und Gerechte und die politischen Dinge im Allgemeinen, also im Prinzip die Themen, um die es in der Nikomachischen Ethik geht. Vgl. EN I 2, 1095b4–6. 378 Mit dieser Annahme widerspricht Aristoteles dem Menon-Paradox, das behaup­ tet, dass ein Mensch, wenn er etwas suche, nichts davon wüsste, was er suchte. 377

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4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum

Erforschung der Ursachen (des Warum).«379 Mit seiner Forderung, dass auch in der Ethik zunächst eine Grundlage von nicht weiter begründeten Faktenwissen erlangt werden muss, von der aus dann durch tiefergehende Analyse nach Begründungen gefragt werden kann, ist eine Vorgehensweise, die Aristoteles auch in anderen wis­ senschaftlichen Kontexten für angebracht hält: »Gewöhnlich müssen zunächst die Fakten erkundet werden, und erst dann sollte nach den Ursachen dieser Fakten gesucht werden (Anal. post. II 1, 89b29 31; II 2, 89b38 90a2; De part. anim. I 5, 645b1–4).«380 Da Aristoteles unter Wissen im engeren Sinne immer ein Wissen von Ursachen (vgl. Anal. post. I 2, 71b9–16) versteht, muss das Wissen um das Dass als Wissen von Fakten als schwächerer Wissensbegriff aufgefasst werden. Dieses Wissen im schwächeren Sinn lässt sich zumeist in All-Sätzen formulieren381 und kann durch vielfältige Wege erlangt werden. Wolfgang Detel weist die Wahrnehmung (aisthēsis) sowie die Induktion (epagōgē) als »wichtigste Instrumente für die Feststellung universeller Fakten«382 bei Aristoteles aus, wobei auch die eigene Beobachtung383 und zuverlässige Berichte384 eine Rolle bei der Akquisition von Faktenwissen mit allgemeinem Charakter spielen können.385 In der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles ebenfalls Wahrnehmung und Induktion als die Hauptquellen für das Erlangen von universellem Faktenwissen, macht allerdings eine bedeutsame Ergänzung: οὐκ ἀπαιτητέον δ᾽ οὐδὲ τὴν αἰτίαν ἐν ἅπασιν ὁμοίως, ἀλλ᾽ ἱκανὸν ἔν τισι τὸ ὅτι δειχθῆναι καλῶς, οἷον καὶ περὶ τὰς ἀρχάς: τὸ δ᾽ ὅτι πρῶτον καὶ ἀρχή. τῶν ἀρχῶν δ᾽ αἳ μὲν ἐπαγωγῇ θεωροῦνται, αἳ δ᾽ αἰσθήσει, αἳ δ᾽ ἐθισμῷ τινί, καὶ ἄλλαι δ᾽ ἄλλως. Man darf nicht überall die Ursache (aitia) auf die gleiche Weise suchen; in einigen Fällen genügt es vielmehr, das Dass (to hoti) richtig aufgezeigt zu haben, wie zum Beispiel bei den Prinzipien (archē). Das Dass-es-so-ist ist etwas Erstes (prōton) und ein Prinzip (archē). Von den Prinzipien erkennt man die einen durch Induktion (epagōgē), andere durch Wahrnehmung (aisthēsis), andere erwerben wir durch 379 380 381 382 383 384 385

Detel 2006, S. 265. Ebd. Vgl. ebd. mit Verweis auf Anal. post. I 31, 87b19–39. Detel 2006, S. 266. Vgl. ebd. mit Verweis Cael. I 3, 270b11–16; De gen. anim. IV 1, 750b26–30. Vgl. ebd. mit Verweis auf Hist. anim. V 5, 541a12ff.; De gen. anim. II 5, 755b1ff. Vgl. Detel 2006, S. 266.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

eine gewisse Gewöhnung (ethismos), andere noch auf andere Art. EN I 7, 1098a33–b4.

Auch hier definiert Aristoteles das Dass-es-so-ist als etwas Erstes und als ein Prinzip. Ein solches Prinzip soll durch drei verschiedene Erwerbsmodi erlangt (wörtl. geschaut) werden können: Wahrneh­ mung, Induktion oder eine Art von Gewöhnung. Durch den Hinweis darauf, dass es um durch Wahrnehmung erwerbbare Prinzipien gehen soll, wird deutlich, dass es sich nicht um die ontologisch ersten Prinzipien handeln kann, die Gegenstand der ersten Philosophie und Wissenschaft (sophia/epistēmē) sind,386 sondern dass es sich um die oben beschriebenen Ausgangspunkte im Sinne eines grundlegenden Faktenwissens handeln muss, beziehungsweise um deklarative erste Feststellungen im Sinne von ›etwas ist so und so‹. Diese Feststel­ lungen kann man im aristotelischen Sinne auch als Erfahrungswis­ sen verstehen. Die Art und Weise, wie Aristoteles Wahrnehmung, Induktion und eine gewisse Form von Gewöhnung aufzählt, verdeutlicht, dass er sie für analoge Möglichkeiten hält, solche ersten Feststellungen zu machen, beziehungsweise solche ersten Prinzipien in der eigenen Biografie zu erwerben. Gleichwohl bedeutet der Einsatz des Indefi­ nitpronomen ›tini‹ (›irgendeine‹ Gewöhnung) eine Einschränkung, die möglicherweise darauf hindeutet, dass Aristoteles sich nicht ganz sicher ist, ob Gewöhnung wirklich in diese Reihe passt, oder aber, dass er nicht genau sagen kann, um welche Form von Gewöhnung es sich handeln sollte. Gehen wir jedoch davon aus, dass Aristoteles tatsäch­ lich Gewöhnung meint: Was könnten dann die ersten Kenntnisse sein, an die er denkt? In den antiken Kommentaren wird Folgendes vorge­ schlagen: Durch Induktion lernen wir, dass alle Menschen atmen und durch Wahrnehmung, dass Feuer heiß ist.387 Ein Beispiel: Durch Wahrnehmung können wir feststellen, dass es regnet und Menschen Schirme verwenden; durch Induktion kön­ nen wir feststellen, dass Menschen, immer wenn es regnet, Schirme verwenden und durch Gewöhnung können wir es zur Gewohnheit machen, einen Schirm zu verwenden, wenn es regnet. Es wird klar, dass Gewöhnung im Gegensatz zu den anderen Erwerbsmodi, dafür sorgt, dass die Prinzipien, die ein Individuum im Sinne des für uns 386 387

Vgl. Met. I 1, 981b27–29. Vgl. Burnyeat 1980, S. 73.

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4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum

Bekannten durch Gewöhnung erwirbt, handlungsrelevant werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diejenigen Prinzipien, welche man durch eine Vorlesung über das Gute und Richtige einsieht, die gleiche Art von Prinzipien sind, die man durch Gewöhnung erlangt. Aristoteles legt sich hier nicht eindeutig fest, da er zwei unterschied­ liche Varianten für möglich hält. Er vertritt die Auffassung, dass derjenige, der bereits einen guten Charakter erworben hat, die Prinzi­ pien bereits hat oder zumindest leicht erwerben wird: »echei ē laboi an archas radiōs«. Die zweitgenannte Variante scheint dabei plausibler. Mit ihr ist die Auffassung verbunden, dass das durch Gewöhnung erlangte Wissen im Sinne von Dass-es-so-ist für den Lernenden die Vorstufe dazu darstellt, zu verstehen, warum etwas so ist wie es ist. Derjenige, der durch Gewöhnung ein Wissen über das Dass hat, wird demnach die dahinter liegenden kausalen Prinzipien leicht erfassen können, weil er den ersten Schritt des Erkenntnisweges schon gegangen ist. Die erstgenannte Variante ist insofern unplausibel, als es keinen Sinn machen würde, von einem zweiten Schritt der Belehrung auszugehen, wenn schon im ersten Schritt die allgemeinen Prinzipien erkannt werden sollten. In einer extremen Lesart dieser Interpretation würde man Aristoteles sogar so verstehen, dass durch Gewöhnung Begründungen schon implizit erworben würden und Belehrung daher unnötig sei.388 Dies ist aber aus folgendem Grund abzulehnen: Aristoteles gesteht lediglich zu, dass das Warum in manchen Fällen (en tisi) eventuell nicht mehr notwendig ist und auch nur dann, wenn das Dass auf richtige Weise (kalōs) aufgezeigt ist.389 Nichts spricht dafür, dass die Ethik ein solcher Fall ist, da die gesamte Nikomachische Ethik darauf abzielt, Gründe zu liefern (Ergon-Argument, Mesotēs-Lehre).390 Diese Auffassung wird von manchen Autor:inen vertreten, wie zum Beispiel von Jessica Moss. Unter der programmatischen Wendung ›virtue makes the goal right‹ versteht sie die Auffassung, dass ein Individuum durch Habituation bereits alle seine relevanten Handlungsziele erwirbt und die phronēsis dann nur noch die Aufgabe hat, diese umzusetzen. Vgl. Moss 2011. Diese Auffassung verlangt eine eigene Diskussion, die im nächsten Abschnitt folgt. 389 Denkbar für Aristoteles wäre die Medizin. Er betont in der Metaphysik zum Beispiel, dass erfahrenere Menschen im Praktischen oft wesentlich kompetenter sind als Theoretiker. Für die Medizin mag diese Art von praktischer Kompetenz dann auch ausreichend sein. Für die Ethik ist dies fragwürdig. 390 Den Nachweis dafür, dass sich die Ethik mit vernunftbasierten Argumenten an den Zuhörer wendet und nicht an einen gemeinsamen common sense appelliert, bringt überzeugend Terence Irwin 1978. 388

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

Aristoteles scheint also von einer Art zweistufigem Prozess auszugehen, für den er eine gewisse Abfolge bzw. Reihenfolge postu­ liert, in der Gewöhnung und Belehrung aufeinander folgen sollen. Der Erwerb eines guten Charakters stellt in der EN die Bedingung dafür dar, durch Belehrung die phronēsis sowie die anderen dianoeti­ schen Tugenden zu erwerben. Es muss ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass Aristoteles Menschen, die diese Form von Charakterfor­ mung nicht ab früher Kindheit erfahren haben, tatsächlich als Schüler jeglicher ethischen Theorie ausschließt. Einerseits, weil ihnen die Wahrnehmung ethisch relevanter Fakten in einem so umfangreichen Sinn fehlt, dass sie nicht genug Faktenwissen akkumuliert haben, welches den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bilden würde. Andererseits, weil ihnen die Motivation und das Interesse fehlt, dies zu tun.391 Jemandem, der nicht an gutem Handeln interessiert ist, auf theoretischer Ebene Erläuterungen darüber, was gute Handlungen sind, zukommen zu lassen, ist aus Aristoteles Sicht sinnlos.392 Gleich­ zeitig ist das Ziel der Nikomachischen Ethik auch nicht, jemanden, der ein unmoralischer Mensch ist, für die Tugend zu begeistern.393 Dieser würde die Tugend höchstens aufgrund von externer Motivation (wie zum Beispiel bevorstehenden Strafen oder gesellschaftlichem Druck) verfolgen, aber niemals um ihrer selbst willen.394 Für den Menschen, der das gute Handeln allerdings schon für sein Leben verbindlich gemacht hat, ist es gewinnbringend und äußerst wichtig, sich auch auf theoretischer Ebene damit zu beschäftigen, was ein gutes Leben ist und was es ausmacht.395 Der Punkt, der Aristoteles in der EN wichtig ist, ist, dass das eigene Handeln und Sammeln von Erfahrungen die Voraussetzung für jegliche Form von ethischem Verständnis auf einem theoretischen Niveau ist. Diese Form der Erfahrung bietet die Grundlage dafür, nicht nur theoretisch danach zu fragen, was das gute Leben ausmacht, sondern auch motiviert zu Vgl. dazu auch die Argumentation von Kraut 1998, S. 280. Vgl. EN X 10, 1179b20–35. 393 Vgl. Burnyeat 1980, S. 81. Kraut 1998, S. 271. 394 Burnyeat 1980, S. 81. 395 Ein theoretisches Wissen über das Gute ist für Menschen, die ihre Strebungen nach der Vernunft ausrichten, von vielfältigem Nutzen (vgl. EN I 1, 1095a10f.). Dies kann m. E. mit einem an anderer Stelle formulierten Bild erläutert werden: Menschen, die ein Wissen (gnōsis) vom Guten haben, sind auch im Handeln (praxis) kompetenter, weil sie wie die Bogenschützen, die einen Zielpunkt haben, eher das Richtige treffen (vgl. EN I 1, 1094a22–24). Burnyeat argumentiert ähnlich. Vgl. Burnyeat 1980, S. 81. 391

392

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4.2 Das Dass als Voraussetzung für das Warum

sein, diese Frage überhaupt zu stellen. Die Lernenden müssen deshalb durch den Prozess der Habituation erst befähigt werden, für rationale Argumente offen zu sein, beziehungsweise diesen Gehör zu schen­ ken.396 Insofern wird deutlich, warum jemand, der zum Beispiel etwas aus der Nikomachischen Ethik über phronēsis lernen möchte, bereits einen guten Charakter erworben haben muss. Denn Aristoteles geht offensichtlich davon aus, dass bestimmte erste einfache Erkenntnisse die Grundlage für alles weitere Fragen und Verstehen darstellen.397 Das hängt damit zusammen, dass die Nikomachische Ethik von der Sorge geprägt ist, dass die Einsicht darin, was das gute Leben wirklich ausmacht, am Ende praktisch nutzlos sein könnte, und zwar dann, wenn es Akteuren nicht gelingt, gemäß ihrer guten Einsichten zu handeln.398 Diese Sorge verdeutlicht sich in verschiedenen Über­ legungen. Aristoteles hält z. B. verbale Erziehungsmittel wie Beleh­ rungen für wirkungslos, wenn der Zuhörer nicht bereits prinzipiell daran interessiert ist, gut zu handeln. Argumente sind demnach dann wirkungslos, wenn jemand nicht für solche Argumente empfänglich geworden ist, indem seine charakterlichen Dispositionen bereits auf das Gute ausgerichtet wurden.399 Damit dies nicht geschieht, vertritt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik einen ›experience first‹-Ansatz, der einem ›theory first‹- Ansatz, wie er noch in der Eudemischen Ethik vertreten wird, entgegengesetzt ist.400

396 Diese Fähigkeit werde ich im Folgenden als Argumentrezeptivität bezeichnen. Eine detaillierte Besprechung dieser Fähigkeit findet sich in Abschnitt 5.6.2. Um mit einem Beispiel von Vasiliou zu arbeiten: Wenn ein Jugendlicher vorhat, aus Spaß eine Katze am Schwanz aufzuhängen und dann von einem Erwachsenen darauf hingewie­ sen wird, dass das grausam sei, so Vasilou, würde der wohl erzogene Jugendliche diese Informationen als einen Grund anerkennen, es nicht zu tun, während ein nicht schon charakterlich erzogener Jugendlicher dies nicht als einen Grund anerkennen würde. Vgl. Vasiliou 1996, S. 788. 397 Auf die Herstellung der Argumentrezeptivität werde ich in 5.6.2 genauer einge­ hen. 398 Vgl. London 2001, S. 578–579. 399 Vgl. EN X 10, 1179b20–35. Vgl. dazu Abschnitt 5.6.2. 400 London 2001, S. 553–554.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

4.3 Das Lernziel der Habituation Wie kann man sich erste Kenntnisse oder universelles Wissen als Ausgangspunkt für die Analyse von ethischen Begründungen im Bereich des moralischen Lernens vorstellen? Vieles spricht dafür, dass der Lernende, der das Dass besitzt, »von bestimmten Handlun­ gen weiß, dass sie unter bestimmten Umständen edel und gerecht sind.«401 Damit ist die Fähigkeit vorausgesetzt, bestimmte Handlun­ gen in bestimmten Umständen wiederzuerkennen und als Fall von tugendhaftem Handeln identifizieren zu können.402 In der Forschung wird vielfach diskutiert, ob das ›Faktenwissen‹ über gute und gerechte Handlungen in Form eines Regelwissens formulierbar sei, und in die­ ser Form auch angeeignet werde. Denkbar wäre etwas wie ›Es ist gut und richtig, tapfer, gerecht und mäßig zu sein‹. Solche und ähnliche Sätze enthalten das Wissen darum, dass die Tugenden anzustreben sind und verraten von demjenigen, der sie sagt und meint, dass er eine gewisse Pro-Einstellung gegenüber den Tugenden hat. Würde die moralische Erziehung allerdings damit beginnen, den Lernenden solche Sätze auswendig lernen zu lassen und dann zu explizieren, auf welche Art von Situationen diese Sätze anwendbar sind, wäre dies jener Top-Down-Ansatz, gegen welchen Aristoteles sich so explizit wendet. Es ist also eine grundsätzliche Skepsis angebracht gegenüber dem bloßen Aneignen von Wissen über das Dass als Auswendig-Ken­ nen von moralischen Regeln oder Leitsätzen. Überzeugender scheint die Interpretation, dass die Lernenden im Laufe der Habituation eine allgemeine, evaluative Einstellung (»eva­ luative attitude«) erwerben, »die nicht auf Regeln oder Vorschriften reduzierbar ist.«403 Diese Einstellung entsteht aus der Konfrontation mit vielfältigen, ethisch relevanten Situationen, die wiederum die Erfahrungsgrundlage bilden, auf welche bei der theoretischen Refle­ xion über das gute Leben zurückgegriffen wird. Burnyeat 2006, S. 218. Das Edle (to kalon) und Gerechte (to dikaion) bezeichnet bei Aristoteles das moralisch Werthafte und somit den Inhalt der Vorlesungen über das gute Leben. Vgl. EN I 2, 1095b4–6. Siehe auch EN I 1, 1094b14–16. 402 Vgl. Vasiliou 1996, S. 784. Besonders treffend ist, dass Vasiliou hier von ›pointing‹ spricht: Das Kind kann sozusagen auf eine Handlung zeigen und sagen ›das ist gerecht/ das ist tapfer usw.‹. 403 »What Aristotle is pointing to is our ability to internalize from a scattered range of particular cases a general evaluative attitude which is not reducible to rules or pre­ cepts.« Burnyeat 2006, S. 218. 401

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4.3 Das Lernziel der Habituation

Damit hat die Habituationsphase zwei distinkte Ziele. Zum einen ein epistemisches Ziel: der Lernende soll Wissen (im schwäche­ ren Sinne) davon haben, welche Handlungen edel (kalon) und gerecht (dikaion) sind. Zum anderen ein emotionales oder konatives Lernziel: der Lernende soll eine grundsätzlich positive Einstellung zu diesen Handlungen entwickeln. Beide Ziele bzw. Aspekte verdienen eine detailliertere Diskussion. Die Art des Wissens, um das es geht, ist auf Handlungen im sozialen Kontext bezogen. Dies unterscheidet es von anderen Arten von Wissen auf dem Niveau des Dass. Dazu sei die Position von Bur­ nyeat kurz referiert: Das ethische Wissen hält er nicht für ein dekla­ ratives, reflektiertes Wissen, sondern für ein implizites vorbewusstes Wissen: einen Glauben (»believing«404), der in gewisser Weise hand­ lungsbefähigend ist. Er ermöglicht dem Lernenden nämlich, eine Handlung so zu tun, wie der Tugendhafte sie tun würde. Der Lernende weiß (im schwachen Sinne des Begriffs), dass diese Handlung zu wählen ist, weil ein tugendhafter Mensch sie wählen würde.405 Damit muss eine bestimmte Form geschulter Wahrnehmung verbunden sein, denn es kommt jeweils auf die konkreten Umstände an, ob eine Handlung tugendhaft ist oder nicht. Teil der beschriebenen evaluati­ ven Haltung müsste somit auch die Fähigkeit sein, die Eigenschaften einer Situation genau zu erfassen und auszuwerten. Die Fähigkeit, die Eigenschaften der Situation zu erfassen, reicht soweit, dass derjenige, der das Dass besitzt, weiß, wie man sich in dieser oder jener Situation verhalten sollte.406 Deshalb ist derjenige, der schon ohne das Warum richtig handeln kann, jemand, der sich durch seine besondere Aufmerksamkeit auszeichnet und bestimmte Wahrnehmungen hat, die eine Person, die nicht moralisch habitu­ iert wurde, nicht hat.407 Die geschulte Wahrnehmung wird dem Lernenden allerdings auch von Burnyeat im strengen Sinne erst am Ende des Lernprozesses zugeschrieben, wenn er zum vollkommenen phronimos geworden ist. Man muss demnach von einer Vorform der geschulten Wahrnehmung sprechen. Vgl. Burnyeat 1980, S. 71. Vgl. Wolf 2007, S. 69. 406 Vgl. Tobin 1989, S. 196. 407 Vgl. Kraut 1998, S. 283. Kristjánsson bemerkt dazu kritisch, dass auch die geschulte Wahrnehmung noch nicht mit der Einsicht in Gründe zusammenhängt. Vgl. Kristjánsson 2007, S. 36. 404 405

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

Der zweite Aspekt ist der emotionale bzw. motivationale. Der Lernende, der moralisch habituiert wurde, verbindet positive Emo­ tionen mit moralischem Handeln, höchstwahrscheinlich durch den Mechanismus von Lob und Tadel. Das hat zur Folge, dass der Ler­ nende tugendhaftes Handeln für sich als Ziel verinnerlicht. Der Schlüssel zum richtigen Verständnis der aristotelischen Position liegt m. E. in der Erkenntnis, dass epistemischer und emotionaler Aspekt der Verinnerlichung im Prozess der Habituation untrennbar mitein­ ander verbunden sind. Von einer Handlung zu begreifen, dass sie gut ist, heißt für Aristoteles gleichzeitig, sie tun zu wollen. Deswegen hat die Habituation mit der kognitiven Kraft gleichzeitig eine motivatio­ nale Kraft. Auf diesen Aspekt werde ich im Folgenden eingehen.

4.4 Die kognitive Kraft der Gewöhnung und die Bedeutung der interpersonalen Beziehung zwischen Lernendem und erziehender Bezugsperson Kommen wir auf die Ausgangspassage zurück, in der Aristoteles verschiedene Möglichkeiten von Prinzipienerkenntnis aufzählt. τὸ δ᾿ ὅτι πρῶτον καὶ ἀρχή. τῶν ἀρχῶν δ᾿ αἱ μὲν ἐπαγωγῇ θεωροῦνται, αἱ δ᾿ αἰσθήσει, αἱ δ᾿ ἐθισμῷ τινί, καὶ ἄλλαι δ᾿ ἄλλως […] Das Dass-es-so-ist ist etwas Erstes (proton) und ein Prinzip (archē). Von den Prinzipien erkennt man die einen durch Induktion (epagōgē), andere durch Wahrnehmung (aisthēsis), andere erwerben wir durch eine gewisse Gewöhnung (ethismos), andere noch auf andere Art. EN I 7, 1098b2–4.408

Aristoteles erklärt in dieser kurzen Passage, wie Menschen Aus­ gangspunkte (damit gibt Burnyeat ›archē‹ wieder) erreichen: und zwar durch Induktion, durch Wahrnehmung, Gewöhnung oder noch andere Lernwege. Der von Burnyeat gewählte Begriff ›starting points‹ Einige Ausleger:innen übersetzen ›kai allei d’allos‹ als eine Art abschließende Bemerkung: ›einige auf diese Weise, andere auf andere‹ (Peters, Grant, Gauthier/ Jolif). Ich schließe mich allerdings der Lesart Burnyeats an, mit der impliziert ist, dass die hier genannte Liste nicht vollständig ist, sondern noch ergänzt werden kann. Diese Lesart wird sowohl von Ross als auch von der antiken Kommentartradition unter­ stützt, in welcher der Aufzählung noch Erfahrung und intellektuelle Einsicht hinzu­ gefügt werden. Vgl. Burnyeat 2006, S. 219. 408

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4.4 Die kognitive Kraft der Gewöhnung

für archē impliziert, dass sie, obwohl sie selbst schon Erkenntnisse sind, auch Anfangspunkte von Erkenntniswegen sind. Es scheint mir allerdings sinnvoller bei der Grundbedeutung ›Prinzip‹ zu bleiben. Nach Burnyeat hat jede Erkenntnis eines Prinzips eine passende Art des Lernens (»mode of acquisition«), was er mit antiken Beispielen illustriert: Wir lernen durch Induktion, dass alle Menschen atmen und durch Wahrnehmung, dass Feuer heiß ist.409 Diese ersten Erkennt­ nisse oder Prinzipien erlauben es uns, nach einem ›Warum‹ zu fragen, zum Beispiel zu ergründen, warum Feuer heiß ist oder warum alle Menschen atmen. Interessant ist nun, dass Aristoteles parallel zu diesen beiden Arten des Lernens (des Lernens durch Wahrnehmung und dem Induktionslernen), auch die Gewöhnung (ethismos) als eine Art des Lernens beschreibt: »habituation is actually a way of grasping it, on a par with though different from induction, perception and other modes of acquisition which Aristotle does not specify.«410 Für Burnyeat ist klar, dass diese Aussage mit Bezug auf Buch II.1 und IV der Nikomachischen Ethik zu lesen ist, nur, dass die Aussage, dass wir lernen, tugendhaft zu handeln, indem wir tugendhaft handeln, durch seine Analyse von I.4 und I.7 nun eine kognitive Komponente erhalten hat: Aristoteles möchte nämlich im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik nicht einfach sagen, dass Tugend Praxis und Übung erfordere, sondern dass die Praxis eine kognitive Kraft besitzt, weil der Mensch durch sie lernen kann, was edel und gerecht ist.411 Das ist die zentrale These, die Burnyeat herausarbeitet. Aristoteles ist der Meinung, dass das Handeln, genauso wie Wahrnehmung oder Induktion, eine Form der Aneignung ist: ein Weg, zu einer impliziten Erkenntnis zu gelangen bzw. ein Prinzip zu verinnerlichen. Diese Interpretation ist insofern interessant, als deutlich wird, dass der epistemische Anteil im Habituationsprozess nicht wegzudis­ kutieren ist. Wenn Habituation dazu dienen soll, feste Handlungs­ dispositionen auszubilden, dann sind damit bestimmte Erkenntnis­ prozesse verbunden, zum Beispiel in einer bestimmten Situation zu erkennen, dass sie unter einen bestimmten Typ von Situationen fällt, in der ein bestimmtes Handeln gefragt ist (z. B. wenn jemand Hilfe braucht). Wenn Lernende im Laufe des Habituationsprozesses andauernd zu jeder einzelnen Handlung, die sie ausführen, angeleitet 409 410 411

Vgl. Burnyeat 1980, S. 73. Ebd. Vgl. ebd.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

oder animiert werden müssten, dann wären sie tatsächlich die Objekte einer stumpfsinnigen Einübung. Dem ist aber nicht so: Vom Lernen­ den sind bestimmte Übertragungsleistungen gefragt. Zum Beispiel muss er lernen, in einer Situation, in der jemand anderes übergangen wird, zu erkennen, dass nun die Tugend der Gerechtigkeit gefragt ist; ebenso muss er lernen konkret zu überlegen, welches ausgleichende Verhalten (zum Beispiel etwas mit dieser Person teilen) angebracht wäre. Sorabji argumentiert ähnlich: »habituation involves assessing the situation and seeing what is called for.«412 Er erläutert dies in Bezug auf Maßhaltung: Es geht nicht darum, um jeden Preis zu vermeiden, zornig zu werden, sondern es geht darum zu lernen, in angemessener Weise in Bezug auf die Situation im richtigen Maße zornig zu werden.413 Es ist also von grundlegender Bedeutung für den Lernprozess, dass die Lernenden im Rahmen ihrer epistemi­ schen Fähigkeiten eine gewisse Urteilskraft ausbilden, mit der sie die partikularen Besonderheiten einer Situation einschätzen können. Diese Form der Urteilskraft kann auch als geschulte Wahrnehmung bezeichnet werden.414 Wie bereits erwähnt, sind für Aristoteles epistemischer und emo­ tionaler Aspekt der Verinnerlichung von Prinzipien im Prozess der Habituation untrennbar miteinander verbunden. Zu verstehen, dass etwas an sich erstrebenswert und gut ist, heißt für Aristoteles auch, es zu erstreben. Motivation wird also durch Erkenntnis generiert. Diese Erkenntnis ist aber nicht eine, die auf rationalen Argumenten basiert, sondern durch das Handeln selbst, durch die Habituation, entsteht: »so those who are well educated recognize, by forming certain habits, that virtuous actions are in themselves appealing.«415 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Burnyeat: »[I]ndem man die Dinge tut, die als edel und gerecht gelten, [erkennt man], dass sie wahrheitsgemäß als edel und gerecht gelten. So kann man dazu kommen, das, worauf man sich anfangs vielleicht aus Vertrauen

Sorabji 1980, S. 216. Vgl. ebd. 414 Kraut legt besonders viel Wert darauf, zu betonen, dass diejenigen, die keine moralische Erziehung erhalten haben, überhaupt nicht in der Lage sind, bestimmte Aspekte von Situationen wahrzunehmen. Vgl. Kraut 1998, S. 283. Auch für Sherman spielt der Aspekt der Wahrnehmungsschulung im Rahmen des Habituationsprozesses eine gewichtige Rolle. Eine ausführliche Diskussion folgt in Abschnitt 8.3. 415 Kraut 1998, S. 281. 412

413

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4.4 Die kognitive Kraft der Gewöhnung

verlässt, für sich selbst zu wissen.«416 Dies bedeutet, gelernt zu haben, dass tugendhafte Handlungen an sich erstrebenswert sind, ohne zu wissen, warum sie es sind. Kritisch einzuwenden ist an dieser Stelle, warum das so passiert, bzw. ob es wirklich stimmt, dass das wiederholte Ausführen von Handlungen dazu führen kann, diese Handlungen zu genießen und motiviert zu sein, sie auszuführen. Burnyeats Beispiel wurde zurecht kritisiert. Er vergleicht die Gewöhnung an tugendhaftes Handeln mit dem Skifahren: Je öfter man Ski fahre, desto mehr lerne man auch, es zu genießen. Im Prinzip kann man das Skifahren durch jegliche praktische Fertigkeit ersetzen: Lernt man durch wiederholtes Flötenspiel, es zu genießen oder durch wiederholtes Kochen, gerne zu kochen? Dagegen kann zurecht eingewandt werden, dass dies nicht für alle Menschen gilt. Es ist ebenso möglich, eine Fertigkeit durch wie­ derholtes Handeln zu lernen und trotzdem keine positiven Emotionen mit dieser Fertigkeit zu verbinden. Es gibt zwei Möglichkeiten, dieser Schwierigkeit zu begegnen. Einerseits könnte man annehmen, dass tugendhafte Handlungen etwas innehaben, das mit der menschlichen Natur so korrespondiert, dass es schlichtweg eine Tatsache ist, dass menschliche Kinder Freude an diesen finden. Das wäre allerdings eine sehr aufwendige ontologische Annahme.417 Oder aber, man betrachtet genauer, wie Aristoteles vorsieht, dass Emotionen in den Prozess der Habituation eingebunden werden. In einer sehr frühen Formulierung sagt er, dass es bei der Habituation darum ginge, zu lernen, sich auf die richtige Weise zu freuen und auf die richtige Weise abgeneigt zu sein, d. h. es geht um die Verbindung von Lustund Unlustgefühlen mit den entsprechenden Handlungen.418 Die Antwort auf die Frage, wie diese Verbindung gelingt, liegt in meiner Interpretation im interpersonalen Verhältnis zwischen Lernendem und Erziehendem. Der erste Aspekt, der hier eine Rolle spielt, ist das Vertrauen in der Beziehung zwischen dem Lernendem (dem Kind) und der erzie­ Burnyeat 2006, S. 221. In diese Richtung geht die Interpretation Marta Jimenez’. Sie verteidigt die Ansicht, dass menschliche Kinder von Anfang an eine Art natürliche Anlage dafür haben, die sie zum Guten und Werthaften zieht. Vgl. Jimenez 2020, S. 70–76. In dieser Publikation gibt es noch viele weitere Aspekte, die in dieser Studie diskussi­ onswürdig wären. Da Jimenez’ Buch jedoch erst erschien, als die inhaltliche Konzep­ tion dieses Manuskripts bereits abgeschlossen war, kann ich hier nur auf ihre Arbeit verweisen, ohne sie im Detail zu besprechen. 418 Vgl. EN II 2, 1104b8ff. 416 417

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

henden Bezugsfigur. Ihre Beziehung ist in Bezug auf die Epistemik des Guten asymmetrisch: Der Erziehende weiß, was gut und richtig ist, und das Kind nicht. Da das Kind sich nicht auf sein eigenes Urteil verlassen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf das Urteil des Erziehenden zu verlassen. Das wird es nur tun, wenn es diesem vertraut. Nur dadurch, dass das Kind oder der Lernende dem Erziehenden vertraut, tut es tatsächlich das, wozu es angeleitet wird. Ohne Vertrauen hätte es keinen Grund dazu. Der zweite bedeutsame Aspekt ist der der Liebe und des Strebens nach Anerkennung. Nur, wenn das Kind nach der Anerkennung der erziehenden Bezugsperson strebt, werden Lob und Tadel, die es von dieser Person erhält, Lust- und Unlustgefühle bei dem Kind auslösen. Dann wird das Kind danach streben, sich so zu verhalten, dass sein Verhalten den Wohlgefallen des Erziehenden erlangt.419 Es eifert dem Erziehenden und dessen Idealen nach. Dieses Nacheifern oder Nachstreben ist der Motor des Habituationsprozesses. Man könnte mit modernen Worten sagen, dass der Prozess der Selbstwerdung, der darin besteht, herauszufinden, was man wahrhaft wertschätzt, damit beginnt, zu lernen, was andere wahrhaft wertschätzen.420 Im Laufe des Habituationsprozesses lernen Kinder so ›zu Lieb­ habern des Edlen und Noblen zu werden‹, sprich, das Gute und Richtige schätzen und zu lieben zu lernen, in dem Sinne, dass es ihr Leben und ihr Handeln prägt. Diese Pro-Einstellung gegenüber dem tugendhaften Handeln ist aber kein oberflächliches ›Gut-Finden‹ oder ›Akzeptieren-Können‹, sondern Liebe in einem existentiellen und daher leidenschaftlichen Sinn. »Aristoteles hat eine Gefühlsdisposition im Sinn, die in ihrer Intensität (natürlich nicht in jeder anderen Hinsicht) durchaus mit einer Leiden­ schaft vergleichbar ist, die jemand hegt, wenn er etwa von Pferden begeistert ist. Seine Pointe ist, dass das, was man in diesem Sinne liebt, das ist, was man genießt oder als lustvoll empfindet.«421

419 420 421

Vgl. Steutel/Spiecker 2004, S. 545. Vgl. Kristjánsson 2007, S. 29. Burnyeat 2006, S. 222f.

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4.5 Der Erwerb von Zielen

Deshalb ist Burnyeat darin zuzustimmen, dass »die Bedeutung, die der Lust in diesen Passagen zukommt, der Schlüssel zu unserem Problem [ist], wie Praxis zu Wissen führen kann.«422

4.5 Der Erwerb von Zielen Versteht man den Habituationsprozess als Prozess der »Internalisie­ rung praktischer Kenntnisse«423, dann ist es naheliegend, dass damit der Erwerb bestimmter impliziter Ziele einhergeht. Johannes Hübner formuliert richtig, dass die Leistung der Erziehung darin bestehe »im Kind einen Sinn für die Art von Zielen [zu] formen, auf welche es nicht schon von Geburt an aus ist, nämlich Sinn für das Schöne (kalon) und Gute (agathon).«424 Es gibt eine Diskussion in der Forschung in deren Zentrum die Frage steht, wie ein ethischer Akteur zu seinen Zielen gelangt. Diese Diskussion möchte ich kurz in ihren Hauptlinien skizzieren, um die Frage zu beantworten, ob und inwiefern durch Habituation Ziele erworben werden. Die Debatte bewegt sich zwischen zwei Lesarten. In der ein­ schränkenden Lesart wird davon ausgegangen, dass die Ziele eines Menschen direkt aus den tugendhaften Haltungen, die er angenom­ men hat, stammen. In ihrem Paper mit dem Titel »Virtue makes the goal right« geht die wohl bekannteste Vertreterin dieser Lesart, Jessica Moss, davon aus, dass (nur) mit dem Erwerb bestimmter Tugenden bzw. tugendhafter Haltungen bestimmte Ziele erworben werden: »our ends themselves are set by our ethical characters.«425 Diese Position ist zunächst erst einmal sehr einleuchtend. Bin ich zum Beispiel ein pünktlicher Mensch, dann kann man mir unterstellen, dass ich das generelle Ziel habe, pünktlich zu sein. Die Annahme, dass mit bestimmten charakterlichen Haltungen bestimmte Ziele implizit verbunden sind, ist zunächst einmal richtig. Radikal wird diese Lesart allerdings dann, wenn abgestritten wird, dass die phronēsis irgendetwas zu diesen Zielen beizutragen Burnyeat 2006, S. 223. Detailliertere Überlegungen zur Assoziation von Lustge­ fühlen mit tugendhaften Handlungen und weiteren Aspekten der Genese moralischer Motivation werden in Kapitel 8 ausgeführt. 423 Vgl. Hübner 2013, S. 132. 424 Ebd., S. 121. 425 Moss 2011, S. 205. 422

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

habe, sondern die in der Kindheit durch Habituation erworbenen Ziele statisch für das ganze Leben unverändert blieben. In dieser radikalen, einschränkenden Lesart wird phronēsis als rein instrumen­ telle praktische Vernunft aufgefasst, deren einzige Aufgabe es sei, die geeigneten Mittel zu finden, um Ziele in die Tat umzusetzen, die durch den Charakter bereits gesetzt und unumstößlich seien. Terence Irwin bringt diese Position markant auf den Punkt: »The ends we pursue are acquired by habituation in pleasure and pain, and once acquired are not subject to practical reasoning, which has no concern with ends. What someone can be rationally convinced to do will depend on the ends he has acquired in his upbringing; he cannot be rationally convinced to change his ends, since there is no rational practical argument about ends.«426

Diese Position impliziert, dass durch die Charakterformung während der Kindheit alle Ziele, die ein Mensch je verfolgen wird, bereits gesetzt und keiner weiteren Kritik mehr unterzogen werden. Sie ruft deshalb zurecht die Kritiker auf den Plan.427 Denn diese Auffassung ist nicht nur kontraintuitiv und unplausibel, sie scheint auch schwer mit dem vereinbar, was Aristoteles andernorts über die phronēsis sagt. Der phronēsis kommt laut Aristoteles eine leitende (architektonikē) Rolle zu,428 die darin besteht, über die unterschiedlichen Handlungszwecke zu reflektieren und sie in ein Verhältnis zueinander zu setzen, beson­ ders dann, wenn sie auf das übergreifende Ziel, ein gutes Leben zu führen, hingeordnet werden müssen.429 Aufgrund der Textgrundlage ist deshalb überhaupt nicht auszuschließen, dass Ziele Gegenstand der praktischen Überlegung sein können. Auch wenn mithilfe der phronēsis Ziele reflektiert werden können, möchte ich zunächst auf den ersten Teil der These eingehen: Ist es so abwegig, dass Ziele zunächst aus der Habituation entstehen? Irwin 1978, S. 255. Moss führt einige Beispiele aus der Forschung an: »The claim that virtue makes the goal right is ›misleading‹ (Cooper [1986, 64], Hardie [1968, 213]); on the prima facie reading ›absurd‹ (Broadie [Broadie and Rowe 2011, 49]); it ›risks obscuring‹ Aris­ totle’s genuine view (McDowell [1998, 30]); it ›must be modified‹ (Greenwood [1973, 51]), or ›must be treated as a lapse on Aristotle’s part‹ (Joachim [1951, 218]); given his other commitments, Aristotle ›is wrong to claim that there is no reasoning about eth­ ical first principles‹ (Irwin [1975, 578]).« Moss 2011, S. 205. 428 Vgl. EN VI 8, 1141b25. 429 Vgl. Vigo 2013. Zur Entkräftung der einzelnen Argumente von Moss vgl. Char­ penel 2017, S. 180–185. 426

427

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4.5 Der Erwerb von Zielen

Aristoteles ist der Meinung, dass durch Habituation Prinzipien verinnerlicht werden. Aber Prinzipien welcher Art? Betrachten wir ein paar Beispiele. Ein Kind könnte Prinzipien wie ›wenn jemand Hilfe braucht, helfe ich‹, oder ›wenn es gefährlich wird, versuche ich tapfer zu bleiben‹, oder ›wenn etwas verteilt wird, muss das gerecht zugehen‹ verinnerlichen. Dies sind Grundsätze, die sowohl das Handeln als auch den Charakter einer Person bestimmen.430 Men­ schen verlassen sich auf solche charakterlichen Eigenschaften, wenn sie beispielsweise versuchen, das Verhalten einer anderen Person zu erklären oder vorauszusagen. Ein Kollege behauptet zum Beispiel, ein anderer Kollege habe Geld veruntreut. Wenn man dann etwas sagt wie ›Das würde er nie tun – er ist ein sehr ehrlicher Mensch‹, dann geht man fest davon aus, dass sich aus dem Charakter (ehrlich zu sein) verbindliche Ziele für das Handeln (niemals Geld veruntreuen) ergeben. Es ist demnach richtig, anzunehmen, dass sich aus dem Prozess der Charakterformung Ziele für das Handeln eines Menschen ergeben, ja, dass es sogar eine Summe solcher Ziele ist, die dessen Handeln strukturieren.431 Dies ist auch mit der vorher erarbeiteten Interpretation, dass aus Habituation eine Form der uneingeschränkten Motivation her­ vorgeht, vereinbar: Jemand, der hilfsbereit ist, muss nicht noch mit sich zu Rate gehen, ob er jemandem helfen will. Er tut es einfach. Das Prinzip ›ich helfe anderen‹ ist als festes Ziel gesetzt. Mit zunehmender Urteilskraft wird solch ein Mensch jedoch besser beurteilen können, ob die Situation, in der er sich befindet, tatsächlich eine Situation ist, in der seine Hilfe moralisch geboten ist. Bittet ihn der Kollege, der tatsächlich Geld veruntreut hat, um Hilfe dabei, sein Fehlverhalten zu vertuschen, wird der moralisch-gute Akteur den Grundsatz der Hilfsbereitschaft in Frage stellen und zu dem Schluss kommen müssen, dass es in diesem Fall andere Werte gebieten, dass er dem Kollegen nicht in der Form hilft, wie es sich dieser wünscht. Dies ist der Moment, in dem sichtbar wird, dass die aristotelische Erziehung keine Tugendautomaten hervorbringt, 430 Auch Mariska Leunissen verweist darauf, dass mit dem Charakter eines Men­ schen (oder Tieres) für Aristoteles bestimmte Persönlichkeitszüge verbunden sind. Vgl. Leunissen 2012, S. 513. 431 Diese Auffassung wird auch von Joel Kupperman gestützt. Kupperman definiert ›Charakter‹ beispielsweise als »normales Denk- und Verhaltensmuster einer Person, vor allem mit Blick auf die Anliegen und Verpflichtungen, die diese Person mit Blick auf sein eigenes und auf das Glück anderer hat.« Vgl. Kupperman 1999, S. 202.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

sondern reflektierte Akteure. Akteure, die je nach Situation entschei­ den können, was genau ein tugendhaftes Verhalten in der jeweiligen Situation ausmachen würde.432 Und diese Leistung wird durch die phronēsis erbracht. Wenn der Akteur mit Hilfe seiner praktischen Vernunft (phronēsis) in diesem Fall abwägt, was zu tun ist, dann reflektiert er mithilfe der phronēsis auf die Mittel, die zur Umset­ zung des Ziels, ein guter Mensch zu sein, notwendig sind. Im Zuge dieser Mittelreflexion muss er aber auch tiefergehend fragen: Wie weit geht der Grundsatz der Hilfsbereitschaft und wann muss er anderen Werten weichen? Ethische Reflexion gibt dem vernünftigen und erwachsenen Akteur folglich keine völlig neuen Ziele, sondern befähigt ihn vielmehr, Ziele, die er bereits erworben hat, besser zu verstehen und praktisch umzusetzen.433 Durch dieses Beispiel wird deutlich, dass wir mit der These, dass durch Habituation Ziele erworben werden, nicht unbedingt eine einschränkende Lesart der phronēsis akzeptieren müssen. Natürlich können mithilfe der praktischen Vernunft Ziele gegeneinander abge­ wogen und überdacht werden – sie müssen es sogar. Zum Schluss möchte ich noch auf die Frage eingehen, ob man den Erwerb von ersten Prinzipien in der Ethik mit der Aneignung von ersten Prinzipien in der theoretischen Philosophie als analog verstehen kann. Die Analogie, so die Interpretation Irwins, könnte darin bestehen, dass beide – erste Prinzipien in der Ethik und erste Prinzipien in der theoretischen Philosophie – jenseits von Argumen­ tation und Abwägung seien.434 Irwin bezieht sich damit auf folgende Passage der Nikomachischen Ethik: ἡ γὰρ ἀρετὴ καὶ ἡ μοχθηρία τὴν ἀρχὴν ἡ μὲν φθείρει ἡ δὲ σῴζει, ἐν δὲ ταῖς πράξεσι τὸ οὗ ἕνεκα ἀρχή, ὥσπερ ἐν τοῖς μαθηματικοῖς αἱ ὑποθέσεις· οὔτε δὴ ἐκεῖ ὁ λόγος διδασκαλικὸς τῶν ἀρχῶν οὔτε ἐνταῦθα, ἀλλ᾿ ἀρετὴ ἢ φυσικὴ ἢ ἐθιστὴ τοῦ ὀρθοδοξεῖν περὶ τὴν ἀρχήν. Denn Tugend und Schlechtigkeit bewahren bzw. zerstören das Prinzip (archē), beim Handeln aber ist das Worumwillen (to hou heneka) das Prinzip, so wie es in der Mathematik die Hypothesen sind. Weder dort noch hier ist es die Überlegung, die das Prinzip lehrt; es ist vielmehr die natürliche oder durch Gewöhnung entstandene Tugend, die das

432 433 434

Vgl. EN III 7, 1113a29ff. Vgl. Kraut 1998, S. 283. Vgl. Irwin 1978, S. 252.

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4.6 Habituation und Instruktion - eine Phasentheorie?

richtige Meinen (to orthodoxein) über das Prinzip lehrt. EN VII 9, 1151a14–19.

Die Analogie sagt aber möglicherweise etwas darüber aus, wie man diese Prinzipien erwirbt: dass man sie erwirbt, ohne sie weiter begründen oder erklären zu können.435 Man muss die sozusagen ›blind‹ akzeptieren. Diese Beschreibung passt perfekt auf die Situa­ tion des Kindes: Das Kind kann auf einer intellektuellen Ebene die Prinzipien, die es von den Erwachsenen vorgelebt bekommt und annimmt, noch nicht begründen oder erklären. Es muss sie akzeptieren, ohne sie begründen zu können. Deshalb ist es von so grundlegender Bedeutung, dass das Verhältnis zwischen Lernendem und erziehender Bezugsperson von Vertrauen geprägt ist. So wird auch deutlich, warum die Aneignung von Zielen keine rationale Abwägung erfordert. Kinder sind nicht zur rationalen Abwägung fähig, und trotzdem müssen gerade sie für ihr Leben und Handeln ver­ bindliche Prinzipien erwerben, bevor sie diese (auf rationale Weise) verstehen können. Dies geschieht dadurch, dass sie der erziehenden Bezugsperson blind vertrauen.436

4.6 Habituation und Instruktion - eine Phasentheorie? Es wurde bereits angesprochen, dass Aristoteles die durch die Hab­ ituation erreichte dispositionale Formung für die Voraussetzung für jede theoretische und explanatorische Art von ethischem Lernen hält. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: einmal in der Hinsicht, in der er die umgekehrte Reihenfolge (theoretisches Wissen und dann Anwen­ dung) für falsch hält, und in der Hinsicht, als dass die notwendige evaluative Einstellung zu tugendhaftem Verhalten auch aus einer lern-motivationalen Sicht die Voraussetzung dafür bildet, etwas über das gute Leben auf theoretischer Ebene lernen zu wollen. Man könnte sich daher leicht zu der Vorstellung verleiten lassen, dass es sich bei Habituation und Instruktion um zwei unterschiedliche 435 Sorabji zieht bei der Diskussion dieser Passage ebenfalls in Betracht, dass es tat­ sächlich so sei, dass Tugend verursache, dass Menschen bestimmte Ziele akzeptierten. Im Allgemeinen hält er diese Passage aber für zu vage, um aussagekräftige Schlüsse zu ziehen, weshalb er sie dann unbeachtet lässt. Vgl. Sorabji 1980, S. 213. 436 Ausführlichere Überlegungen zur Rolle des Vertrauens zwischen Kind und erzie­ hender Bezugsperson folgen in den Kapiteln 5 und 6. Der Erwerb von Zielen wird außerdem besprochen in Abschnitt 7.4.6.

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4. Der Unterschied zwischen Habituation und Instruktion

Phasen im Prozess des ethischen Lernens handelt, wovon die erste notwendig abgeschlossen sein muss, bevor sich die zweite anschließt. Man könnte daraus folgendes Vier-Schritt-Schema entwickeln: 1. Schritt: das Kind wird an richtiges Handeln gewöhnt (ohne Verständnis dessen) 2. Schritt: das Kind wird vernünftig 3. Schritt: der nun erwachsene Lernende kann vernünftig belehrt werden und Gründe verstehen 4. Schritt: der nun erwachsene Lernende hinterfragt aufgrund dieser Belehrung seine bisherige Praxis Allerdings wäre die aristotelische Position in diesem Schema unzu­ treffend abgebildet. Denn es impliziert sowohl, dass die Phase der Habituation abgeschlossen werden könnte, ohne Einsichten irgendei­ ner Form zu haben, als auch, dass sich Vernunft oder vernünftiges Denken mit einem Schlag einstellen würden. Aristoteles vertritt aber im Gegensatz dazu eine Auffassung des sukzessiven Vernünftig-Wer­ dens,437 und deshalb ist auch der Prozess des moralischen Lernens so zu verstehen, dass sich emotionale Gewöhnung und kognitives Lernen miteinander und in Abhängigkeit voneinander entwickeln. Allerdings betont Aristoteles, dass moralisches Lernen durch Hab­ ituation früh beginnen muss und in gewisser Weise die unabdingbare Voraussetzung für bestimmte Formen des theoretischen Räsonierens über das Gute im Erwachsenenalter ist. Die Moralität eines reifen und vernünftigen Erwachsenen beruht auf den Dispositionen, die er in der Kindheit erworben hat; sie kann nicht durch argumentative Überzeugungsreden im Nachhinein ersetzt werden. Insofern spielt der zeitliche Aspekt eine ausschlaggebende Rolle. Jedoch bedeutet die Tatsache, dass sich die kognitiven und emo­ tionalen Fähigkeiten des Lernenden im Laufe des Lernprozesses verändern, nicht, dass Habituation ein stupider Prozess wäre, bei dem ausschließlich stumpfe Einübungsprozesse vonstattengingen, die auch einfache Säugetiere absolvieren könnten. In der Habitua­ tionsphase spielen die (zunehmenden) kognitiven Fähigkeiten des Lernenden eine entscheidende Rolle: Der Lernprozess wird von verschiedenen sich entwickelnden Fähigkeiten beeinflusst, wie zum Beispiel seiner Fähigkeit, seine Umwelt immer angemessener wahr­ zunehmen und auf dieser Grundlage, Situationen, in die er gerät, 437

Vgl. Abschnitt 2.6.

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4.6 Habituation und Instruktion - eine Phasentheorie?

bestimmten Typen von Situationen zuzuordnen; oder auch seiner Fähigkeit, die Reaktionen des Erziehenden immer besser zu verstehen und zu deuten. Insofern ist es innerhalb der vorliegenden Betrachtung notwendig, genauer auf das Subjekt des Habituationsprozesses, den Lernenden, und das heißt in diesem Fall das Kind, sowie sein Verhält­ nis zur erziehenden Bezugsperson einzugehen.

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5. Das Kind

Da das Kind das Subjekt des Erziehungs- und Bildungsprozesses ist, ist es von grundlegender Bedeutung für die vorliegende Unter­ suchung, sein Heranwachsen und seine Fähigkeiten genauer zu analysieren. Sowohl die Betrachtung des Kindes als defizitär im Vergleich zum voll entwickelten Erwachsenen als auch eine positive Beschreibung der tatsächlichen Fähigkeiten und Anlagen des Kindes können dazu beitragen, den Prozess der Habituation selbst besser zu verstehen. Im vorausgegangenen Kapitel wurde Habituation als handlungs­ orientierter Erwerbsprozess herausgearbeitet, durch den charakterli­ che Tugend erworben wird. Es wurde gezeigt, dass es sich nicht um einen rein konditionierend-mechanischen Vorgang handelt, sondern einen Vorgang, der bestimmte Formen von Kognition involviert. Um diese Interpretation zusätzlich zu untermauern, möchte ich unter­ suchen, welche unterschiedlichen Arten von emotionalen und kogni­ tiven Fähigkeiten Aristoteles Kindern zuschreibt. Nach der bekannte­ ren Lesart sind Kinder schlichtweg unvernünftig (alogos). Dies macht sie zu tierähnlichen, (nur) konditionierbaren Lebewesen. Gegen diese Lesart möchte ich im Folgenden argumentieren. Im Grunde genom­ men macht Aristoteles in der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik nur wenige oberflächliche Bemerkungen über Kinder. Deshalb werde ich den Blickwinkel auf andere Schriften ausweiten, in denen Aristoteles Aussagen über Kinder macht, die aufschlussreicher und relevanter sind, so zum Beispiel in den Tierschriften und den Parva naturalia. Gegenstand und Ziel dieses Kapitels ist es, ein realistisches Bild des Kindes bei Aristoteles zu zeichnen, das uns zeigt, welche kognitiven Fähigkeiten Kindern ab welchem Alter innerhalb der aristotelischen Philosophie zugeschrieben werden können. Ich werde illustrieren, dass das aristotelische Kind sich durch sein Potential zu Entwicklung und Lernen auszeichnet, sowie seine Fähigkeit, passiv an Vernunft teilzuhaben und durch sprachlich vermittelte Kommuni­

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5. Das Kind

kation dazuzulernen.438 Diese Interpretation ist notwendig, um das bisher erarbeitete Bild des Habituationsprozesses zu vervollständigen und zu zeigen, inwiefern verbale Erziehungsmittel und vernünftige Erläuterungen Teil des Habituationsprozesses sein können.439

5.1 Textgrundlage Ist es möglich, eine Theorie der Kindheit oder des Kindes bei Aris­ toteles zu diskutieren, obwohl das Corpus Aristotelicum keine geson­ derte Abhandlung des Kindes oder über die Kindheit enthält?440 Die Textgrundlage macht es schwierig zu sagen, ob eine einheitliche Konzeption des Kindes möglich ist, und man kann sicherlich nicht behaupten, dass Aristoteles eine ausformulierte Theorie der kindli­ chen Entwicklung entworfen habe.441 Zwar finden wir im siebten Buch der Politik eine eigene Abhandlung über das Aufziehen von Kindern und außerdem über alle Schriften hinweg verteilte, kurze Hinweise in Bezug auf Kinder und deren Entwicklung. Diese allerdings liefern keine vollständige Diskussion des Kindes, sondern können höchstens zu einer solchen beitragen.442 Damit ist gleich schon ein Problem dieses Vorhabens genannt: Da sich die meisten Erwähnungen des Begriffes ›Kind‹ einerseits in Aristoteles‹ praktischen Schriften (Ethik und Politik) und andererseits in seiner Biologie finden, ist nur ein aus diesen Schriften zusammengesetztes Bild des Kindes bei Aristoteles möglich.443 Allerdings ist es bekanntermaßen Aristoteles selbst, der betont, dass sich die Einzelwissenschaften in ihren jeweiligen Zielen und Methoden stark unterscheiden.444 Eine gemeinsame Diskussion dieser verschiedenen Schriften muss dem Rechnung tragen.445 McGo­ wan Tress beispielsweise geht so vor, dass sie drei Konzeptionen des Kindes getrennt voneinander aus De generatione animalium, der Nikomachischen Ethik und der Politik erarbeitet und sie auch getrennt 438 Wesentliche Ergebnisse dieses Kapitels wurden veröffentlicht auch in Summa 2022b. 439 Dieser Schritt folgt dann in Abschnitt 5.6 und wird in Kapitel 8 weiter diskutiert. 440 Vgl. McGowan Tress 1997, S. 63. 441 Vgl. Kristjánsson 2007, S. 19–20. 442 Vgl. McGowan Tress 1997, S. 63f. 443 Vgl. ebd., S. 65. 444 Vgl. Höffe 2014, S. 31ff. 445 Vgl. McGowan Tress 1997, S. 65.

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5.2 Das Kind – der vorvernünftige Mensch

voneinander stehen lässt. Sie entwickelt aus De generatione animalium eine Konzeption der Genese des Kindes, aus der Nikomachischen Ethik eine an der Oberfläche bleibende Betrachtung der Beziehung zwi­ schen Eltern und Kindern und aus der Politik eine hauptsächlich zusammenfassende Abhandlung darüber, wie ein guter Bürger und Staatsmann entsteht. Die systematische Trennung dieser drei Diszi­ plinen, die McGowan Tress vorschlägt und durchführt,446 bleibt jedoch hinter dem Ziel zurück, eine umfassende Konzeption von Kindheit bei Aristoteles zu liefern. Gleichzeitig muss sie sich auf diese Weise nicht mit den Kompatibilitätsfragen beschäftigen, die sich daraus ergeben, dass die wichtigsten Aussagen zum Kind und zur Kindheit aus drei so unterschiedlichen Schriften stammen und teil­ weise widersprüchlich sind. Ich möchte im Gegensatz dazu eine kohä­ rente Theorie der Kindheit bei Aristoteles erarbeiten und dabei ver­ meintliche Widersprüche auflösen.

5.2 Das Kind – der vorvernünftige Mensch Aristoteles versteht das menschliche Leben als eine Abfolge von Wachstum, Blüte und Verfall, d. h. das Leben ist für Aristoteles in Zei­ ten des Wachsens, der Vollendung und des Schwindens eingeteilt.447 Das Kind kann bestimmt werden als ein im Wachsen oder Werden begriffener Mensch, bzw. als eine Entität, die durch Wachstum und Entwicklung zu einem voll ausgebildeten Menschen werden kann.448 Deshalb ist die maßgebliche Eigenschaft des Kindes die der Unvoll­ kommenheit in Bezug auf sein telos: den vollkommenen Menschen.449 Während die Unvollkommenheit des Kindes verglichen mit einem Erwachsenen (verstanden als voll ausgewachsenes Exemplar einer Spezies) in vielerlei Bereichen gilt, gibt es jedoch einen Aspekt, der besonders erwähnenswert ist: Aristoteles betont wiederholt, dass 446 McGowan Tress leitet aus den Behandlungen in der Biologie, der Ethik und der Politik drei Erziehungsphasen ab, die aufeinander aufbauen sollen: biologische Ent­ wicklung, ethische Formung, politische Bildung. Jede dieser Phasen habe eigene Ziele, die erst erreicht sein müssten, bevor die nächste Phase folgen könne. Vgl. McGowan Tress 1997, S. 67.Zur Problematik der Einteilung des Erziehungsprozesses in Phasen siehe Abschnitt 4.6. 447 Vgl. De an. III 12, 434a22–26. Vgl. King 2004, S. 99. 448 Vgl. McGowan Tress 1997, S. 65. 449 Vgl. ebd., S. 66.

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5. Das Kind

das Kind noch nicht über Vernunft verfüge, insofern sein vernünftiger Seelenteil zwar vorhanden, aber unvollkommen (atelēs) sei.450 Für Aristoteles ist das aus dieser Unvollkommenheit resultierende Defizit an Vernunft, dasjenige, welches die meisten Implikationen für andere Lebensbereiche hat: Aufgrund der nicht vorhandenen Fähigkeit der praktischen Deliberation451 kann das Kind nicht vernunftgeleitet han­ deln452 und ist deshalb nach den Bestimmungen der Nikomachischen Ethik nicht fähig, ein gutes Leben (eu zēn) zu führen und glücklich zu sein.453 Aufgrund der kindlichen Unfähigkeit, Werthaftes von Lustvollem zu unterscheiden, richten sich Lüste von Kindern vielfach auf unangemessene Objekte.454 Deshalb verwendet Aristoteles den Begriff ›Kind‹ (pais oder neos) in den ethischen Schriften auch oft als Kontrastbegriff zum moralisch und intellektuell reifen Menschen, dem phronimos, spou­ daios oder epieikēs.455 Er zählt dann Kinder häufig gemeinsam mit anderen Gruppen von Lebewesen auf, die aus anderen Gründen nicht zur Vernunftanwendung fähig sind und somit im Kontrast zum phronimos stehen, aber oft mit Kindern analoge Strukturen haben. So Tiere, die prinzipiell keine Vernunft entwickeln, Akratiker, die sie zwar besitzen, nicht aber durch sie geleitet sind, und unmäßige Men­ schen456, die häufig dadurch von anderen abgegrenzt werden, dass man sie durch eine Unerzogenheit bzw. eine mangelnde Erziehung (apaideusia) definiert.457 Gerade dieses Bild des noch nicht vernünf­ tigen Kindes, das intellektuell auf einer Stufe mit dem Tier steht, macht es unerklärbar, wie es zum rationalen, moralischen Akteur werden soll. Der Begriff der Kindheit muss deshalb als Zeitraum der kontinuierlichen Entwicklung interpretiert werden.

450 Vgl. Pol. I 13, 1260a13–14; 31–33. Mit dieser Auffassung hat er bis in postmo­ dernde Kindheitskonzepte hineingewirkt. 451 Vgl. EN III 4, 1111b4–10. 452 Vgl. EE II 8, 1224a25–30. 453 Vgl. EN I 11, 1100a1–5. 454 Vgl. EN VII 13, 1153a27–35. 455 Zur synonymen Verwendung dieser Begriffe siehe Kapitel 1. 456 Auch oft als ›die Vielen‹ (hoi polloi) oder die Menschen der Menge bezeichnet oder die ›einzig von Lust gesteuerten Menschen‹. 457 Vgl. Wolf 2011, S. 366.

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5.3 Kindheit als Grenzbegriff und die Abschnitte der Entwicklung

5.3 Kindheit als Grenzbegriff und die Abschnitte der Entwicklung Für Aristoteles ist ein Kind ein menschliches Lebewesen, das aufgrund seiner allgemeinen Unreife, insbesondere im intellektuellen Bereich, unvollkommen, aber außerordentlich formbar ist. Bis zu welchem Alter die Bestimmung als unvernünftig oder vernunftlos gilt, wird nicht explizit gesagt. Es gibt aber einige Hinweise auf zumindest grobe Altersgrenzen. Aristoteles erwähnt, dass die menschliche Ent­ wicklung in Etappen von sieben Jahren einteilbar ist,458 auch wenn er an dieser Stelle nicht explizit sagt, in welchem Alter das Kind welchen Entwicklungsschritt vollzogen hat.459 Deshalb fehlt auch eine Stellungnahme dazu, wann ein Kind kein Kind mehr ist, also zu wel­ chem Zeitpunkt in der Ontogenese die Schwelle von der Unvernunft zur Vernunft überschritten wird.460 Für die vorliegende Untersuchung ist der genaue Zeitpunkt jedoch irrelevant. Wichtig ist lediglich jene begriffliche Bestimmung, dass die Kindheit endet, wenn die Vernunft voll entwickelt ist. Die erste Phase des Lebens, wenn ein neues Individuum entsteht, ist die Genese. Die Genese als solche, bzw. die Tatsache, dass ein neues Lebewesen entsteht, muss vom Begriff der Kindheit abgegrenzt wer­ den. Für Aristoteles liegt der Beginn der Existenz eines Individuums vor der Geburt. Die Kindheit allerdings beginnt erst mit der Geburt. Deshalb sind für seine Theorie der Kindheit seine Abhandlung über den Fötus in De generatione animalium nicht von Bedeutung. Die Entwicklung des menschlichen Individuums ist analog zum Aufbau der scala naturae zu verstehen. Der Fetus hat seine einzigen Funktionen darin, sich zu ernähren und zu wachsen, so wie Pflanzen. Das schon geborene Kind verfügt über eine Wahrnehmung von Lust und Schmerz (hēdonē kai lypē), was es in den Rang eines Lebewesens

Vgl. Pol. VII 16, 1335b32–35 und Pol. VII 17. Genaugenommen sind exakte Altersgrenzen eine empirische Frage. Das Erreichen bestimmter Entwicklungsziele kann individuell von Kind zu Kind verschieden sein; ein möglicher Grund für Aristoteles, dieser Frage nicht weiter nachzugehen. 460 Dies könnte dadurch erklärt werden, dass Aristoteles dem Menschen in Qualität und Quantität steigernde mentale Zustände zuschreibt, die eine Art sukzessives Ver­ nünftig-werden implizieren. Es wäre aber verfrüht, diese Frage nun schon zu klären. 458

459

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5. Das Kind

erhebt.461 Aufgrund der Wahrnehmung von Lust und Schmerz verfügt es über ein Streben, das Lustvolle zu suchen und das Schmerzhafte zu meiden, so wie es Tiere tun. Wenn das menschliche Kind dann erwachsen ist, entspricht es dem Menschen, der sich seiner Natur gemäß nicht nur durch tierisches Streben, sondern auch durch Ver­ nunftanwendung auszeichnet. Das Kind ›erklimmt‹ also im Laufe seiner Ontogenese die scala naturae.462 Bei der Beantwortung der Frage, ob diese schrittweise Entwick­ lung bestimmten Altersgrenzen zuzuordnen ist, kann man sich nur an vereinzelten Nebenbemerkungen orientieren, die vor allem im sieb­ ten und achten Buch der Politik gemacht werden. Der erste Abschnitt der Kindheit, das frühe Kindesalter, umspannt das erste bis siebte Lebensjahr. Aristoteles ist der Meinung, dass Kinder ab dem siebten Lebensjahr eine Schule besuchen sollten. Zuvor ist allein die Familie für das Wohl und die Aufzucht des Kindes verantwortlich.463 Die (elterliche) Fürsorge für das Kind vom ersten bis zum siebten Lebens­ jahr wird mit dem Begriff ›trophē‹ bezeichnet. Für Aristoteles stehen in dieser Phase vor allem körperliche Aspekte im Vordergrund: Er gibt Empfehlungen für die Ernährung, die er im direkten Zusammenhang mit dem Wachstum sieht, propagiert die systematische Gewöhnung an Kälte und empfiehlt ein gesundes Maß an Spiel und Bewegung für Babys und Kleinkinder.464 Der nächste Einschnitt liegt beim vierzehnten oder fünftzehn­ ten Lebensjahr. Zu dieser Zeit beginnt die Pubertät und damit die Geschlechtsreife.465 Es gibt Hinweise darauf, dass die Phase der Kindheit und Jugend aus Aristoteles‹ Sicht mit einundzwanzig Jahren abgeschlossen ist.466 Um zu begründen, warum Menschen in sehr hohen Jahren keine Kinder mehr zeugen sollten, erwähnt Aristoteles,

Wobei Aristoteles in seinen rechtlichen Bestimmungen zur Abtreibung nahelegt, dass der Säugling schon vor der Geburt Wahrnehmung (von Schmerzen) und Leben hat, jedoch nicht genau sagt, ab wann das der Fall ist. Vgl. Pol. VII 16, 1335b19–26. 462 Die Analogie zwischen Ontogenese und scala naturae wird in der späteren Argumentation noch von Nutzen sein. Andrew Coles stützt sich ebenfalls auf diese Analogie. Coles 1997. 463 Vgl. Pol. VII 17, 1336a41–b2. 464 Vgl. Pol. VII 17, 1336a2–b2. Anschaulich gedeutet von Reeve. Vgl. Reeve 1998, S. 60–61. 465 Vgl. Hist. anim. VII 1, 581a14ff. 466 Vgl. Pol. VII 17, 1336b37–40. 461

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5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive

dass man mit dem 50. Lebensjahr die höchste Entwicklungsstufe des Verstandes erreicht habe.467 Es ergibt sich folgendes Bild: Vom ersten bis zum siebten Lebens­ jahr stehen körperliches Wachstum und Spiel im Elternhaus im Vordergrund. Vom siebten bis zum vierzehnten Lebensjahr findet die Habituation in der Schule und/oder im Elternhaus statt. Vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr gibt es eine theo­ retische Einführung in das gute Leben, womit der Erwerb der phronēsis verbunden ist. Von da an wird weitere Lebenserfahrung gesam­ melt und die phronēsis gereift. Da Aristoteles selbst nicht präziser bestimmte Entwicklungsschritte mit Altersstufen verknüpft, soll an dieser Stelle nicht zur Spekulation übergangen werden, sondern das Kriterium der gegenstandsangemessenen Genauigkeit angewandt werden. Die groben Altersgrenzen geben eine vage Orientierung, um darüber zu entscheiden, ob es nachvollziehbar erscheint, welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen Aristoteles Kindern zuschreibt. Im Folgenden möchte ich zunächst auf die Schilderungen in den ethischen und politischen Schriften eingehen, die ein defizitäres Bild der Natur des Kindes zeichnen. Daraufhin möchte ich die Aussagen, die Aristoteles im Kontext seiner biologischen Schriften über Kinder macht, erarbeiten und versuchen, aus beiden Konzeptionen ein kohä­ rentes Bild zu entwickeln, das uns sowohl die Schwächen als auch das enorme Entwicklungspotential des Kindes anschaulich macht. Dabei wird sich zeigen, dass die Analogie zwischen Kind und Tier mit einer präzisen Begriffsbestimmung nicht mehr haltbar ist.

5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive (ethische und politische Schriften) 5.4.1 Der unvollkommene rationale Teil der Seele Im ersten Buch der Politik sagt Aristoteles, dass das Kind einen abwägenden (deliberativen) (Seelen-)Teil habe (to bouleutikon), aber in einer unvollkommenen (ateles) Form.468 Dadurch unterscheide es sich vom Sklaven, der nicht über einen solchen Seelenteil verfüge. 467 468

Vgl. Pol. VII 17, 1335b29ff.. Vgl. Pol. I 13, 1260a13–14.

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5. Das Kind

Die Auffassung, dass Kinder nicht vernünftig seien, findet sich schon bei Platon.469 Allerdings nimmt Aristoteles eine wichtige Differenzie­ rung dieser Definition vor, indem er Kinder nicht generell für nicht vernünftig hält, sondern indem er ihnen einerseits einen unvollkom­ menen, d. h. ausbildungsfähigen, vernünftigen Seelenteil zuschreibt, und andererseits davon ausgeht, dass Kinder auf passive Weise an der Vernunft der Erwachsenen teilhaben.470 Nach der Einführung des unvollkommenen oder nicht ausgebil­ deten vernünftigen Seelenteils, ergänzt Aristoteles: »Da das Kind unentwickelt ist, ist seine Tugend nicht relativ zu ihm selbst, sondern relativ zu einem voll entwickelten Individuum, und demjenigen, der Autorität über ihn hat (seinem Erzieher, LS).«471 Das bedeutet, dass der Maßstab, an dem das Kind gemessen wird, nicht in ihm selbst liegt, sondern in dem Menschen, der es möglicherweise werden kann: der vollkommene Mensch. Für Aristoteles steht der defizitäre Aspekt des Kindes im Vordergrund – der Maßstab, mit dem das Kind verglichen wird, ist immer der Erwachsene. Gleichzeitig formuliert er jedoch eine Konzeption der Entwicklung: Das Kind kann noch zu dem Menschen werden, hinter dem es, in seinem unvollendeten Zustand gemessen, zurückbleibt.472 Die Übersetzung Otto Willmanns dieser Passage macht es noch deutlicher: »Das Kind ist unentwickelt, seine Tugend ist nicht sein Eigentum, sondern nur auf seine Reife angelegt und Verdienst dessen, der es leitet.«473 Die Aussage, dass der rationale Teil der Seele bei Kindern zwar vorhanden, aber unvollkommen oder nicht voll entwickelt sei, deckt sich mit der zuvor erarbeiteten Auffassung, dass Vernunft sich im Zuge einer naturgemäßen Entwicklung erst noch voll ausprägt.474 Vgl. Platon Rep. 441a–b. Sorabji hält dies für eine bemerkenswerte Innovation gegenüber Platon. Vgl. Sorabji 1995, S. 70. 471 Pol. I 13, 1260a31–33: »ho pais atelēs kai hē aretē ouk autou pros hauton estin, alla pros ton teleion kai ton hēgoumenon.« Meine Übersetzung orientiert sich an Shermans. Vgl. Sherman 1999b, S. 234. 472 Für Sherman stellt Pol. I auch die stärkste Belegstelle dafür dar, von einem Ent­ wicklungsmodell bei Aristoteles zu sprechen. Allerdings verbindet sie damit noch die Behauptung, dass diese Entwicklung schubweise verlaufe, manchmal auch stagniere. Vgl. Sherman 1999b, S. 234. Dies konnte sich bisher nicht nachweisen lassen. McGo­ wan Tress betont ebenfalls, dass sich die kindliche Entwicklung vom unvollkommenen zum vollkommenen Menschen vollzieht. Vgl. McGowan Tress 1997, S. 83. 473 Willmann 1909, S. 86. 474 Vgl. EE II 8, 1224b29–35 und meine Besprechung in Abschnitt 2.6. 469

470

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5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive

Das Kind ist deshalb schon hier vom Tier zu unterscheiden, da es, im Gegensatz zu diesem, potenziell vernünftig ist.475 Gleichzeitig wird hier deutlich, dass das gute Gelingen der kindlichen Entwicklung davon abhängt, wer es führt und leitet. Erst der Erziehungsprozess kann das kindliche Potential bis zur Vollkommenheit entfalten. Wäh­ rend das Kind noch nicht über einen voll entwickelten Verstand verfügt, ist ihm jedoch bereits ein Wollen zuzuschreiben. Denn der strebende Seelenteil des Kindes ist von Anfang an präsent, und des­ halb richtet sich die Erziehung in ihrem Anfang an diesem aus. Diese Interpretation bestätigt sich durch verschiedene andere Passagen, in denen Aristoteles die kindlichen Fähigkeiten beschreibt, zum Beispiel im siebten Buch der Politik. Hier erläutert Aristoteles, dass Kinder von Geburt an über ein Streben (epithymia) verfügten, Überlegen (logismos) und Einsehen (nous), aber erst nach und nach mit zuneh­ mendem Alter hinzukämen.476 Diese Belegstelle bestätigt also, dass Aristoteles davon ausgeht, dass das Kind ausschließlich vom Streben geleitet ist.477 Die noch nicht vorhandene Rationalität hat jedoch Konsequen­ zen für die handlungstheoretische Einordnung des Kindes, wobei mit Hinblick auf die Ethik besonders drei Felder von Bedeutung sind: Ent­ scheiden und Handeln, Lustempfindung und Urteilsvermögen sowie die Glücksfähigkeit. Auf diese drei Bereiche menschlicher Fähigkeiten werde ich nun genauer eingehen.

5.4.2 Die Unfähigkeit zu entscheiden und zu handeln Wie Tiere, so Aristoteles in einer einschlägigen Passage der Eude­ mischen Ethik, seien Kinder aufgrund der fehlenden Vernunft nicht dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen oder zu handeln. Kinder bewegen sich zwar und legen ein gewisses Verhalten an den Tag, aber der strenge Begriff des Handelns, der die Wissentlichkeit und den Vorsatz voraussetzt, kann ihnen nicht zugeschrieben werden. ὥστ᾿ ἐπὶ μὲν τῶν ἄλλων ζῴων ἁπλοῦν τὸ βίαιον, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἀψύχων (οὐ γὰρ ἔχει λόγον καὶ ὄρεξιν ἐναντίαν, ἀλλὰ τῇ ὀρέξει ζῇ)· ἐν δ᾿ Vgl. Sherman 1999b, S. 234. Vgl. Pol. VII 15, 1334b20–25. 477 Wie bereits erläutert, ist nicht davon auszugehen, dass Aristoteles Kindern rationales Wünschen (boulēsis) im Sinne des Wortes zuschreibt. Vgl. dazu meine Interpretation dieser Passage in Abschnitt 1.3. 475

476

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5. Das Kind

ἀνθρώπῳ ἔνεστιν ἄμφω, καὶ ἔν τινι ἡλικίᾳ, ᾗ καὶ τὸ πράττειν ἀποδίδομεν (οὐ γὰρ φαμεν τὸ παιδίον πράττειν, οὐδὲ τὸ θηρίον, ἀλλὰ τὸν ἤδη διὰ λογισμὸν πράττοντα). (Eben) deshalb ist bei den Tieren das Erzwungene (nur) einfach – wie beim Unbelebten -, denn bei ihnen gibt es den Gegensatz von Überlegung und Strebung nicht, sondern sie folgen der Strebung. Im Menschen aber ist beides, das heißt in einem bestimmten Alter, dem wir das Handeln wirklich zuerkennen. Wir sprechen ja nicht vom ›Handeln‹ beim Kinde (paidion), und auch nicht beim Tier, sondern erst dann, wenn schon auf Grund von Überlegung (logos) gehandelt wird. EE II 8, 1224a25–30.

Aristoteles macht deutlich, dass der Begriff des Handelns von der Überlegung (logos) abhängt und dieser einem Menschen erst ab einem gewissen Alter zugeschrieben werden kann, allerdings ohne dieses Alter zu nennen.478 Rationalität wird also als Voraussetzung betrachtet, um ein Lebewesen als Akteur zu bezeichnen. Ein solcher Akteur ist erst der erwachsene Mensch, in dem die Wechselwirkung von Streben und Überlegung für das Handeln verantwortlich sind. Eine solche Wechselwirkung gibt es bei Tieren nicht, denn sie folgen nur dem Streben. Die Analogie zwischen Tier und Kind legt nahe, dass auch das Kind nur dem Streben folgt. Dies wird von einer anderen Passage der Nikomachischen Ethik bestätigt, in der Aristoteles betont, dass Kinder, genau wie Tiere, zwar am Gewollten, nicht aber am Vorsätzlichen teilhätten.479 Die bewusste Entscheidung (prohairesis) knüpft Aristoteles bekanntermaßen an die Überlegung (logismos), und da Kinder aufgrund ihrer mangelnden Vernunft keine Delibera­ tionsprozesse durchführen können, können sie auch keine Vorsätze fassen bzw. Entscheidungen treffen.

5.4.3 Die unangemessene Lustempfindung: fehlende Urteilskraft Kinder und unbeherrschte Menschen (akratēs), sogenannte Akratiker, neigen dazu, ihren Affekten zu folgen.480 Beim Kind ist dies auf die Da hier paidion steht, ist jedoch anzunehmen, dass es sich um Kinder unter zwei Jahren handelt. Dies wird im Folgenden deutlich werden. 479 Vgl. EN III 4, 1111b8–10. 480 Vgl. EN VII 2, 1145b10f. 478

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5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive

fehlende Vernunft, beim Akratiker auf die fehlende Verbindlichkeit der Vernunft zurückzuführen. Innerhalb der Diskussion der Lust hebt Aristoteles hervor, dass ein Grund, weshalb die Lust nicht als ein Gut betrachtet werden könne, darin läge, dass Tiere und Kinder die Lust suchten.481Aller­ dings ist diese Aussage Teil des Referats von Meinungen (doxai) und Aristoteles hat noch nicht gesagt, ob er diese Meinung für richtig hält.482 Erst später bezieht Aristoteles Stellung dazu. Er teilt die Meinung, dass Kinder und Tiere nach körperlicher Lust strebten, eine Lust, die der Kluge und auch der Mäßige stets zu vermeiden suchen.483 Gemeint sind möglicherweise körperliche Begierden, wie die nach Nahrung oder überhaupt solchen, die mit Sinneswahrnehmungen verbunden sind.484 Die Beobachtung, dass Kinder vor allem nach körperlicher Lust streben, ist allerdings weniger mit ihrer fehlenden Vernunftfähigkeit in Verbindung zu bringen als vielmehr mit der fehlenden Charakterformung. Erst die Habituation führt dazu, dass sie sich am Richtigen erfreuen. Aristoteles spricht hier also von Kindern, die (noch) nicht gut habituiert worden sind. Um ein anderes Thema geht es im Abschnitt 1176b28–30 im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik. Aristoteles erwähnt hier innerhalb der Argumentation, das höchste Glück sei nicht mit dem (spielerischen) Vergnügen (paidia) gleichzusetzen, da Kinder ein sol­ ches Vergnügen erstrebten. An einem solchen Zeitvertreib erfreuten sich auch Sklaven, so Aristoteles. Am guten Leben allerdings kann sich nur der Gute erfreuen – und dazu seien weder Sklaven noch Kinder fähig. Aristoteles möchte deutlich machen, dass die Lust, die mit dem guten Leben verbunden ist, kein simples Glücksgefühl ist, wie es beim Spiel oder Zeitvertreib empfunden wird. An keiner Stelle macht er Kindern jedoch einen Vorwurf daraus, dass sie noch nicht fähig sind, diese Art der Lust zu empfinden. Im Gegenteil. Es ist seinem Verständnis des Begriffes ›Kind‹ inhärent, nicht das richtige Urteil darüber fällen zu können, was zu schätzen ist, und das heißt, nicht das zu schätzen, was der Gute (spoudaios) schätzt.485 In diesem Kontext ist m. E. auch die Beobachtung des Aristoteles 481 482 483 484 485

Vgl. EN VII 13, 1153a27–35. Das entspricht einer häufigen Vorgehensweise bei Aristoteles. Vgl. EN VII 13, 1153a27–35. Vgl. Rhet. I, 1370a20ff. Vgl. EN Ⅹ 6, 1176b19–27.

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5. Das Kind

festzuhalten, dass sich Kinder an kleinen Dingen wie einem Ball oder einem Salbenfläschchen übermäßig, und d. h. hier unverhält­ nismäßig, erfreuen können.486 Dies verdeutlicht, dass Kinder noch nicht das entsprechende Urteilsvermögen besitzen, mit dem sie ein­ schätzen könnten, was tatsächlich wertvoll und gut ist, und dass dementsprechend auch ihre emotionalen Reaktionen noch nicht so sind, wie sie sein sollen.487 Deshalb gilt Aristoteles’ Kritik in dieser Passage nicht Kindern, sondern vielmehr den Machthabern, die sich in ›kindische‹ Vergnügungen stürzen, und den Menschen, die sie deshalb für glücklich halten, obwohl jene überhaupt nicht glücklich sind, weil Macht allein nicht die Voraussetzungen für die Führung eines guten Lebens bietet und sie deshalb auch nicht zu der Art von Glück befähigt, wie Aristoteles es mit der eudaimonia definiert.488

5.4.4 Die Unfähigkeit ein gutes und gelingendes Leben zu führen: Warum das Kindesalter überwunden werden muss Das Thema der eudaimonia ist durchweg mit dem Problem der Befähigung zu diesem an den Logos gebundenen Glück (eudaimonia) verbunden. Deshalb sind auch Kinder, wenn man den Begriff des Glücks bzw. des gelingenden Lebens so verwendet, wie Aristoteles ihn definiert, nicht glücksfähig: εἰκότως οὖν οὔτε βοῦν οὔτε ἵππον οὔτε ἄλλο τῶν ζῴων οὐδὲν εὔδαιμον λέγομεν· οὐδὲν γὰρ αὐτῶν οἷόν τε κοινωνῆσαι νωνῆσαι τοιαύτης ἐνεργείας. διὰ ταύτην δὲ τὴν αἰτίαν οὐδὲ παῖς εὐδαίμων ἐστίν· οὔπω γὰρ πρακτικὸς τῶν τοιούτων διὰ τὴν ἡλικίαν· οἱ δὲ λεγόμενοι διὰ τὴν ἐλπίδα μακαρίζονται. δεῖ γάρ, ὥσπερ εἴπομεν, καὶ ἀρετῆς τελείας καὶ βίου τελείου. Es ist also naheliegend, dass wir weder ein Rind noch ein Pferd noch ein anderes Tier glücklich nennen; denn keines von ihnen ist in der Lage, sich an einer solchen Tätigkeit (den richtigen Handlungen) zu beteiligen. Aus diesem Grund sind auch Kinder nicht glücklich, da sie wegen ihres Alters noch nicht fähig zu solchen Handlungen sind. Vgl. EN IV 5, 1123a14–16. In der Physik hebt Aristoteles ebenfalls in einer Seitenbemerkung darauf ab, dass kleine Kinder (paidia), noch nicht so urteilen können, wie die Älteren (presbyterois). Vgl. Phys. VII 3, 247b18–248a1. Ich werde auf den Aspekt der Urteilsfähigkeit, die von der richtigen Wahrnehmung abhängt, im folgenden Kapitel noch näher eingehen. 488 Vgl. EN X 6, 1176b9ff. 486 487

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5.4 Die Bestimmung des Kindes aus defizitärer Perspektive

Wenn wir ein Kind dennoch glücklich preisen, tun wir das wegen der Hoffnung auf sein Glück, da das Glück, wie wir gesagt haben, sowohl völlige Gutheit als auch ein volles Leben verlangt. EN I 11, 1099b32–1100a5.

Aristoteles begründet die Hoffnung auf das Glück des Kindes mit Bezug auf die Dinge, die in der Zukunft des Kindes liegen: das Erreichen der Tugend (aretē) und das Ausüben dieser Tugend ein ganzes Leben lang. Das Glück des Kindes liegt im ›noch nicht‹. Gleichzeitig sagt er, dass Kinder zu ›solchen Handlungen‹ nicht fähig seien. Damit sind jene tugendhaften Handlungen gemeint, die das Glück, und damit das gute und gelingende Leben, konstituieren. Was Kinder an diesen Handlungen hindere sei ihr Alter. Mit dem Alter ist deutlich eine Zeit gemeint, in der das Kind bestimmte Fähigkeiten noch nicht erworben und bestimmte Entwicklungsschritte noch nicht vollzogen hat, die es befähigen würden, tugendhafte Handlungen auszuführen, die glückskonstituierend wären. Gleichzeitig wird nahe gelegt, dass Kinder, sobald sie das Alter erreicht haben, in dem sie Handlungen, die der Vernunft entsprechen, ausüben können, auch glücksfähig sind, sofern sie auf gute Weise erzogen wurden. Wenn Aristoteles über das Kindesalter sagt, dass »niemand […] ein Leben wählen [würde], in dem er sich die ganze Zeit hindurch mit dem Verstand eines Kindes an den Dingen freut, die Kindern größte Freude machen«489 und kein vernünftiger Mensch freiwillig zum Leben als Kind zurückkehren würde,490 dann geht es nicht darum, die Kindheit oder Kinder grundsätzlich schlecht darzustellen. Vielmehr möchte Aristoteles deutlich machen, dass sich das menschliche Leben erst dann naturgemäß verwirklicht, wenn es im Sinne der Vernunft geführt wird – und dazu gehört in einem gewissen Sinne die Überwin­ dung der Kindheit. Gleichzeitig wird deutlich, welchen hohen Wert die vernunftgeleitete Lebensweise des Erwachsenen für Aristoteles hat. Deshalb ist Erziehung für Aristoteles eine Notwendigkeit. Der Mensch muss das kindliche Alter und die damit verbundenen Defizite verlassen, sonst kann er nicht glücklich werden und niemals wahre (intellektuelle) Freude erleben. Damit wird ein weiteres wichtiges Merkmal des Kindes deutlich: Auch wenn es unvernünftig ist, besteht dennoch die Möglichkeit, dass seine Vernunftfähigkeit entsteht. Deshalb ist das zweite maßgebliche 489 490

EN Ⅹ 2, 1174a1–3. Vgl. EE I 5, 1215b22–24.

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5. Das Kind

Merkmal des Kindes dessen Entwicklungspotential. Das Kind ist aktual nicht vernünftig, aber potenziell ist es ein vernunftgeleiteter und guter Mensch, zu dem es allerdings nur durch Erziehung wer­ den kann.491 Unvernünftige Erwachsene besitzen dieses Potential zur Veränderung nicht mehr, wie Aristoteles bekräftigt.492 Dieser Unterschied zwischen Kind und unbeherrschtem Erwachsenen ver­ deutlicht einen wichtigen Faktor, der Einfluss auf den Erfolg des Erziehungsprozess hat: das Alter. Nach Aristoteles sind Kinder auf andere Weise formbar und aufnahmefähig als Erwachsene, und das macht die Erziehung notwendig. Werden bestimmte Erziehungsziele bis zu einem bestimmten Alter nicht erreicht, sind sie nicht mehr nachzuholen.493 Auch wenn das eine eher düstere Perspektive auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Erwachsenen ist,494 heißt das positiv betrachtet, dass Aristoteles Kindern ein enormes Entwicklungspoten­ tial zuschreibt. Darüber hinaus hält Aristoteles Veränderungen, die im Kindesalter eintreten (oder auch ausbleiben), für relativ stabil: einmal anerzogene Charaktereigenschaften sorgen für eine relativ stabile charakterliche Grundkonstitution.495 Das bisher gezeichnete Bild ist klar und deutlich: Aristoteles hält Kinder für unvernünftig und, gemessen am voll entwickelten Erwachsenen, für unvollkommen. Gleichzeitig ist er jedoch auch der Meinung, dass Kinder durch ihre Entwicklung sowie die richtige Erziehung (d. h. eine richtige Kombination von Habituation und Instruktion) zu vernünftigen und verantwortlich handelnden Erwach­ senen, ja gar zum vollkommenen phronimos werden können. Eine einerseits sehr pessimistische Auffassung von der Natur des Kindes und eine andererseits sehr optimistische Auffassung von den Effekten der Entwicklung und Erziehung werden miteinander verbunden.496 491 Deshalb spielt das Begriffspaar von dynamis und energeia besonders für eine Theorie der Kindheit eine systematisch wichtige Rolle. Vgl. Abschnitt 2.3.2. 492 Vgl. EN X 10, 1179b24–28. 493 Hübner betont ebenfalls, dass es für schlechte erwachsene Menschen schlicht zu spät sei, sich zu ändern. Hübner 2013, S. 137. Diese Auffassung wird von manchen Interpret:innen abgelehnt, weil sie ihnen zu pessimistisch erscheint. Vgl. Di Muzio 2000, S. 215. 494 Vgl. dazu meine Diskussion in Abschnitt 7.3.4. 495 Vgl. Hübner 2013, S. 134–135. 496 Willmann ist der Meinung, dass Aristoteles das negativ-defizitäre Bild des Kindes dadurch abmildert, dass er Kindern eine bestimmte Form von unbeschwertem Glück und die Fähigkeit zur Freude an kleinen Dingen zuschreibt. Vgl. Willmann 1909, S. 86. Allerdings stellt dies genau genommen keine Abmilderung dar: In dieser Inter­

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5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht

Diese starke Dichotomie möchte ich im Folgenden auflösen, oder zumindest relativieren, indem ich mich der biologischen Sicht auf das Kind zuwende und detailliert untersuche, welche konkreten Eigen­ schaften Aristoteles Kindern zuschreibt. Dies geht darüber hinaus, sie kategorial nach dem Schema ›nicht vernünftig‹ zu klassifizieren.

5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht 5.5.1 Das Fließen bzw. die Bewegung in der Seele des Kindes In De memoria et reminiscentia liefert Aristoteles ein kinetisches Erklärungsmodell für das Werden im Kind. Seiner Meinung nach verfügen Kinder sowie sehr alte Menschen gleichermaßen über eine sehr schlechte Erinnerungsfähigkeit (mnēmē). Dafür gibt er zwei Gründe an: Der erste Grund besteht darin, dass Kinder zwergenhaft seien, der zweite, dass sie im Wachsen begriffen seien. Das Im-Wach­ sen-begriffen-Sein versteht Aristoteles so, dass es im Inneren eines Kindes ein Fließen gibt. Einen festen Erinnerungsgehalt versteht er als festen Abdruck im Inneren. Dieser setzt voraus, dass sich das Innere in einer aufnahmebereiten Festigkeit befindet, wie beim Eindrücken eines Siegelringes in das Wachs. Es darf dann nämlich nicht zu fest oder zu flüssig sein. Das Innere des Kindes, so Aristoteles, sei aber im Fließen, da es noch im Wachsen begriffen sei. Der Gehalt der Wahrnehmung kann sich deshalb nicht einprägen oder festsetzen, so als drücke man den Stempel in flüssiges Wasser.497 Auch sehr alte Menschen haben ein Problem mit der Erinnerung, allerdings aus dem umgekehrten Grund: Ihr Inneres, so Aristoteles, sei zu spröde, als dass sich ein Wahrnehmungsgehalt noch bleibend eindrücken könnte.498 Erstaunlicherweise sei aber nicht das Lebensalter allein Grund dafür, dass das Innere noch im Fließen sei: Auch durch einen Affekt (pathos) kann im Inneren eines Menschen zu viel Bewegung vorliegen.499 Die Fähigkeit, die Aristoteles in diesem Kontext Kindern pretation stehen Kinder immer noch intellektuell auf dem gleichen Niveau mit Tieren und ihre Freude an kleinen Dingen ist kein Anzeichen für eine Art unbeschwerte Art, sich zu freuen, sondern schlichtweg Resultat mangelnder Urteilskraft. 497 Vgl. De mem. 1, 450a32–450b3. 498 Vgl. De mem. 1, 450b3ff. 499 Vgl. De mem. 1, 450b1.

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5. Das Kind

abspricht, ist die Fähigkeit der Erinnerung im engen Sinne, welche das Vermögen bezeichnet, einen Erinnerungsgehalt durch vernünf­ tige Überlegung zurück in die präsenten Gedanken zu holen, ihn bewusst zu betrachten.500 Im Laufe des Älter-Werdens kommt das Fließen im Inneren des Kindes zur Ruhe.501 Da Aristoteles älteren Kindern eine außerordentlich gute Lernfähigkeit zuschreibt, muss ihnen ab einem gewissen Alter auch eine gute Erinnerungsfähigkeit zugeschrieben werden können, da Aristoteles die Bildung von Gedächtnisinhalten als Voraussetzung für Erfahrung und Wissen­ schaft sieht.502

5.5.2 Zwergenhaftigkeit In den Tierschriften erläutert Aristoteles ein körperliches Modell dafür, dass die Vernunftfähigkeit von Kindern noch nicht voll entfaltet ist. Auch hier vergleicht er Kinder mit Tieren und stellt auch auf körperlicher Ebene Analogien fest. νέοις δ᾿ οὖσι τοὐναντίον τὰ μὲν ἄνω μεγάλα, τὸ δὲ κάτω μικρόν (διὸ καὶ ἕρπουσι, βαδίζειν δ᾿ οὐ δύνανται, τὸ δὲ πρῶτον οὐδ᾿ ἕρπουσιν, ἀλλ᾿ ἀκινητίζουσιν)· νάνοι γάρ εἰσι τὰ παιδία πάντα. Προϊοῦσι δὲ τοῖς μὲν ἀνθρώποις αὔξεται τὰ κάτωθεν·[…] Ἔστι δὲ καὶ τὸ τῶν ὀρνίθων καὶ τὸ τῶν ἰχθύων γένος καὶ πᾶν τὸ ἔναιμον, ὥσπερ εἴρηται, νανῶδες. διὸ καὶ ἀφρονέστερα πάντα τὰ ζῷα τῶν ἀνθρώπων ἐστίν. καὶ γὰρ τῶν ἀνθρώπων, οἷον τά τε παιδία πρὸς τοὺς ἄνδρας […], ἀλλὰ τῷ τὸν νοῦν ἔχειν ἐλλείπουσιν. Bei den Kindern sind im Gegenteil die oberen Partien groß und die untere Partie ist klein, deshalb krabbeln sie auch und können nicht laufen, anfangs aber krabbeln sie nicht einmal, sondern sind unbeweg­ lich. Denn alle Kinder sind Zwerge (nanoi). Mit fortschreitendem Lebensalter wachsen bei den Menschen die unteren Teile. […] Die Gattung der Vögel und die Gattung der Fische und überhaupt jedes blutführende Tier ist, wie gesagt, zwergenhaft (nanōdes). Deshalb sind auch alle Tiere weniger intelligent als die Menschen. Ja sogar bei den Vgl. King 2004, S. 38–39. Vgl. King 2004, S. 101, Erläuterung zu 450b6–7; Phys. VII 3, 247b18–248a2 unterstützt diese Auffassung. Auch hier werden Klugheit und Besonnenheit mit der Einkehr von Ruhe verbunden. Sehr kleine Kinder, so Aristoteles hier, seien noch nicht zum Verstehen in der Lage wie Erwachsene. 502 Vgl. King 2004 D. 56–57 mit Verweis auf Met. I 1 und Anal. post. II 19. 500 501

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5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht

Menschen bleiben die Kinder im Verhältnis zu den Erwachsenen […] mit Blick auf den Verstand (nous) […] zurück […]. De part. anim. IV 10, 686b8–26.503

In dieser Beschreibung bedarf der Ausdruck ›zwergenhaft‹ (nanōdes) einer Erläuterung. Aristoteles ist der Meinung, dass alle höheren Säu­ getiere, die Vierfüßler, nicht zum Denken fähig sind, weil das Gewicht des Kopfes auf dem Denken lastet. Diesen Körperbau beschreibt Aristoteles als zwergenhaft, weil die vorderen Körperpartien im Ver­ gleich zu den hinteren schwer sind und das Lebewesen auf vier Füße zwingen. Aristoteles hält Kinder in diesem Sinne für zwergenhaft.504 Die körperliche Eigenschaft des aufrechten Ganges, die nur dem Menschen zu eigen ist, ist aufgrund des gleichen Prinzips einer Kausalität zwischen körperlicher und seelischer Ausstattung seiner Meinung nach die körperliche Voraussetzung für das Denken: τὰ δὲ πρὸς τῷ ζῆν αἴσθησιν ἔχοντα πολυμορφοτέραν ἔχει τὴν ἰδέαν, καὶ τούτων ἕτερα πρὸ ἑτέρων μᾶλλον, καὶ πολυχουστέραν ὅσων μὴ μόνον τοῦ ζῆν ἀλλὰ καὶ τοῦ εὖ ζῆν ἡ φύσις μετείληφεν. τοιοῦτο δ᾿ ἐστὶ τὸ τῶν ἀνθρώπων γένος· ἢ γὰρ μόνον μετέχει τοῦ θείου τῶν ἡμῖν γνωρίμων ζῴων, ἢ μάλιστα πάντων. ὥστε διά τε τοῦτο, καὶ διὰ τὸ γνώριμον εἶναι μάλιστ᾿ αὐτοῦ τὴν τῶν ἔξωθεν μορίων μορφήν, περὶ τούτου λεκτέον πρῶτον. εὐθὺς γὰρ καὶ τὰ φύσει μόρια κατὰ φύσιν ἔχει τούτῳ μόνῳ, καὶ τὸ τούτου ἄνω πρὸς τὸ τοῦ ὅλου ἔχει ἄνω· μόνον γὰρ ὀρθόν ἐστι τῶν ζῴων ἄνθρωπος. Τὸ μὲν οὖν ἔχειν τὴν κεφαλὴν ἄσαρκον ἐκ τῶν περὶ τὸν ἐγκέφαλον εἰρημένων ἀναγκαῖον συμβέβηκεν. Die Wesen aber, die zusätzlich zum Leben Wahrnehmung besitzen, haben eine vielfältigere Gestalt, und von diesen einige in höherem Maße als die anderen, und eine noch mannigfaltigere haben diejenigen Lebewesen, denen die Natur nicht nur am Leben, sondern auch am guten Leben einen Anteil gegeben hat. Dieser Art ist das Geschlecht des Menschen. Von den uns bekannten Lebewesen hat es allein Anteil am Göttlichen oder doch am meisten von allen, so dass man sowohl aus diesem Grunde als auch deshalb, weil die Gestalt seiner äußeren Teile am besten bekannt ist, zuerst über dieses sprechen muss. Zunächst nämlich verhalten sich allein bei diesem Lebewesen die naturgemäßen Teile auch naturgemäß, und dessen oberer Teil ist auf den oberen Teil des Alls gerichtet. Als einziges Lebewesen nämlich ist der Mensch aufrecht gehend. Dass sein Kopf ohne Fleisch ist, ergibt sich notwendig aus dem Gesagten über das Gehirn. De part. anim. II 9, 656a3–15. 503 504

Übersetzung nach Kullmann 2007, leicht modifiziert. De mem. 2, 453b6–7. De part. anim. IV 10, 686b8–11.

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5. Das Kind

Diese Beschreibung des Menschen ist sehr aufschlussreich: Seine körperlichen Merkmale bestehen im aufrechten Gang und in einem, wie Aristoteles sagt, ›fleischlosen‹ Gehirn. Diese körperlichen Eigen­ schaften sind das körperliche Korrelat zu seiner Vernunftfähigkeit, die es ihm ermöglicht, sich auf das All, das Göttliche und die höchsten Dinge auszurichten.505 Zu diesen Fähigkeiten gehört auch die Spra­ che, über die das Kleinkind ebenfalls noch nicht verfügt. τὰ δὲ παιδία ὥσπερ καὶ τῶν ἄλλων μορίων οὐκ ἐγκρατῆ ἐστιν, οὕτως οὐδὲ τῆς γλώττης τὸ πρῶτον· καὶ ἐστιν ἀτελὴς καὶ ἀπολύεται ὀψιαίτερον, ὥστε ψελλίζουσι καὶ τραυλίζουσι τὰ πολλά. Und wie die Kinder ihrer sonstigen Glieder nicht mächtig sind, so haben sie auch noch keine Herrschaft über die Zunge zuerst (prōton). Sie ist auch noch unausgebildet und löst sich erst später (opsiaiteron). Daher stammeln sie und lallen. Hist. anim. IV 9, 536b5–8.506

Da das Kind über die grundlegenden, das Menschsein ausmachenden Eigenschaften (den aufrechten Gang, die Sprache und das Denken) (noch) nicht verfügt, kann man durchaus behaupten, dass sich seine Seele nicht von der des Tieres unterscheide: φανερώτατον δ᾿ ἐστὶ τὸ τοιοῦτον ἐπὶ τὴν τῶν παίδων ἡλικίαν βλέψασιν· ἐν τούτοις γὰρ τῶν μὲν ὕστερον ἕξεων ἐσομένων ἔστιν ἰδεῖν οἷον ἔχνη καὶ σπέρματα, διαφέρει bδ᾿ οὐδὲν ὡς εἰπεῖν ἡ ψυχὴ τῆς τῶν θηρίων ψυχῆς κατὰ τὸν χρόνον τοῦτον, ὥστ᾿ οὐδὲν ἄλογον εἰ τὰ μὲν ταὐτὰ τὰ δὲ παραπλήσια τὰ δ᾿ ἀνάλογον ὑπάρχει τοῖς ἄλλοις ζῴοις. Man versteht diese Behauptung [die Behauptung, dass Tiere analoge Anlagen haben wie Menschen], wenn man auf das Kindheitsalter blickt: in ihm sind ja schon Spuren und Anlagen der Zustände zu sehen, die sich einmal entwickeln sollen, ihre Seele jedoch unterscheidet sich in nichts sozusagen zu dieser Zeit von der eines Tieres, so dass es gar kein Wunder ist, wenn diese Eigenschaften gerade so, jene ähnlich, noch andere entsprechend ausgebildet sind bei den übrigen Geschöpfen. Hist. anim. VIII 1, 588a31–588b3. Wie im Leben der theoretischen Betrachtung beschrieben. Vgl. EN X 7. Übersetzung Gohlke (mit b7 ἀτελής von Aubert / Wimmer statt ἀτελῆ). D’Arcy Wentworth Thompson übersetzt hingegen: »Children, just as they have no control over other parts, so have no control, at first, over the tongue; but it is so far imperfect, and only frees and detaches itself by degrees, so that in the interval children for the most part lisp and stutter.« Es ergibt inhaltlich Sinn anzunehmen, dass sich die Zunge nicht mit einem Schlag, sondern innerhalb einer schrittweisen Entwicklung löst. Allerdings gibt der griechische Text keinen expliziten Anlass für diese Interpretation. 505

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5.5 Die defizitäre Natur des Kindes aus biologischer Sicht

Aristoteles betont ausdrücklich, dass man im Kind bereits Spuren und Anlagen von dem sehen könne, zu dem es sich entwickelt. Gleichzeitig sei der Unterschied zwischen Tier und Mensch kein radikaler, denn Tiere hätten analoge Fähigkeiten, so erläutert es Aristoteles in der Folge der Passage. Das Entwicklungspotential des Kindes wird aber ausdrücklich angesprochen: Nur zu einer gewissen Zeit unterscheide sich das Kind nicht vom Tier. Manche Privationen sind nur tempo­ rär507 und die Privation des Kindes von der Vernunftfähigkeit gehört dazu. Es ist deshalb auch treffender zu sagen, dass (Klein-)Kinder nicht unvernünftig, sondern vorvernünftig sind, denn sie sind der Möglichkeit nach vernünftig. Gleichzeitig wird aus Aristoteles’ Beschreibung der Kinder, die Tieren ähneln, deutlich, dass er von Säuglingen oder Kleinkindern spricht, nicht von älteren Kindern oder gar Jugendlichen. Die Analogie mit dem Tier, die auf theoretischer Ebene festgestellt werden kann, besteht nur so lange, bis das Kind anfängt, aufrecht zu gehen und zu sprechen – eine Veränderung, die sich um das zweite Lebensjahr einstellt. Spätestens ab diesem Alter gilt also die Analogie zwischen Kind und Tier nicht mehr.508 Diese Feststellung relativiert die in den Ethiken gezogenen Vergleiche: In den Ethiken verwendet Aristoteles die Bezeichnungen für ›Kind‹ und für ›menschliches Wesen ohne Ver­ nunft‹ schlichtweg synonym, um den jeweils gemachten Punkt über die Bedeutung der Vernunft für das jeweils diskutierte Phänomen (Entscheiden, Handeln, Glück) zu unterstreichen. Die Analyse der relevanten Passagen aus der Biologie zeichnen allerdings ein differenzierteres Bild. Kinder gelten dort nicht einfach als nicht-vernünftig, während Erwachsene im Gegensatz dazu ver­ nünftig sind. Vielmehr ist Kindheit eine Phase der menschlichen Entwicklung, in der sich das Kind in einer stetigen körperlichen und kognitiven Weiterbildung befindet und in der sich Vernunft graduell ausbildet.509 Es gibt also nicht nur ›Kind‹ oder ›nicht-Kind‹ und damit ›arational‹ oder ›rational‹, sondern, innerhalb der Kindheit Vgl. Met. IX 1, 1046a29–34. »[T]hey [children] leave behind the quadrupeds in the scale of nature, both anatomically and psychologically […]«, Coles 1997, S. 317. 509 Coles spricht deshalb von einem graduellen Begriff von Kindheit (›a gradual account of childhood‹) bei Aristoteles. Vgl. Coles 1997, S. 317. Seine ausführliche Analyse der scala naturae mit Blick auf die körperlichen und seelischen Fähigkeiten verschiedener Tierarten und von Kindern in der aristotelischen Biologie stellen eine wichtige Vorarbeit für meinen eigenen Ansatz dar. 507

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5. Das Kind

selbst gibt es Abstufungen der Logos-Fähigkeit. Kinder, die noch nicht laufen, sondern krabbeln, und noch nicht sprechen, also Babys und Kleinkinder, hält Aristoteles für tierähnlich. Zumindest fehlen ihnen die für das Menschsein charakteristischen Fähigkeiten wie der aufrechte Gang, die Sprachfähigkeit sowie die Vernunft. Sobald Kin­ der diese Fähigkeiten aber erwerben, sind sie nicht mehr tierähnlich. Zudem zeichnen sie sich schon von Anfang an durch das Potential aus, diese Fähigkeiten zu erwerben. Ein Potential, das Tiere nach Aristoteles nicht besitzen. Kinder sind deshalb nicht einfach wie Tiere, sondern zeichnen sich durch ihre potenzielle und dann graduell wachsende Logosfähigkeit aus. Auf diese werde ich im Folgenden genauer eingehen.

5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive: Die Teilhabe des Kindes am logos Im Folgenden soll genauer auf die Fähigkeiten und Eigenschaften des Kindes ab dem zweiten Lebensjahr eingegangen werden, die sich positiv beschreiben lassen. Aristoteles beantwortet die Frage, inwiefern Kinder aufgrund ihrer noch nicht entwickelten, eigenen Logosfähigkeit dennoch Anteil am logos haben können, mit dem Konzept der Teilhabe: Kinder haben am logos der Erwachsenen teil. Bevor genauer geklärt wird, was darunter zu verstehen ist, soll zunächst die Fähigkeit, um die es geht, die Logosfähigkeit, genauer analysiert werden.

5.6.1 Die menschliche Logosfähigkeit Die menschliche Logosfähigkeit wird von Aristoteles in einer sehr bekannten Passage der Politik erläutert: ἐκ τούτων οὖν φανερὸν ὅτι τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί, καὶ ὅτι ὁ ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον, καὶ ὁ ἄπολις διὰ φύσιν καὶ οὐ διὰ τύχην ἤτοι φαῦλός ἐστιν, ἢ κρείττων ἢ ἄνθρωπος […]. διότι δὲ πολιτικὸν ὁ ἄνθρωπος ζῷον πάσης μελίττης καὶ παντὸς ἀγελαίου ζῴου μᾶλλον, δῆλον. οὐθὲν γάρ, ὡς φαμέν, μάτην ἡ φύσις ποιεῖ· λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων· ἡ μὲν οὖν φωνὴ τοῦ λυπηροῦ καὶ ἡδέος ἐστὶ σημεῖον, διὸ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει ζῴοις (μέχρι γὰρ τούτου ἡ φύσις αὐτῶν ἐλήλυθε, τοῦ ἔχειν αἴσθησιν λυπηροῦ καὶ ἡδέος καὶ ταῦτα σημαίνειν ἀλλήλοις), ὁ δὲ λόγος

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

ἐπὶ τῷ δηλοῦν ἐστὶ τὸ συμφέρον καὶ τὸ βλαβερόν, ὥστε καὶ τὸ δίκαιον καὶ τὸ ἄδικον· τοῦτο γὰρ πρὸς τὰ ἄλλα ζῷα τοῖς ἀνθρώποις ἴδιον, τὸ μόνον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ τῶν ἄλλων αἴσθησιν ἔχειν· ἡ δὲ τούτων κοινωνία ποιεῖ οἰκίαν καὶ πόλιν. (a.) Hieraus [aus der Beobachtung, dass aus der natürlichen Gemein­ schaft zwischen Mann und Frau das Haus, aus der Gemeinschaft von Häusern ein Dorf und aus der Gemeinschaft von Dörfern die Polis entsteht] wird deutlich, dass der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört, und dass der Mensch von Natur ein gemeinschaftsbildendes Lebewesen (zōon politikon) ist: und derjenige, der von Natur und nicht durch zufällige Umstände außer aller staatlichen Gemeinschaft lebt, ist entweder mehr oder weniger als der Mensch. […] (b.) Dass ferner der Mensch in weit höherem Maße als die Bienen und alle anderen herdenweise lebenden Tiere ein politisches Lebewesen ist, liegt klar zutage. Denn nichts tut, wie wir behaupten, die Natur zweck­ los. (c.) Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das logos besitzt (zōon logon echon). Die bloße Stimme (phōnē) zwar ist des Angenehmen (hēdeos) und Unangenehmen (lypērou) (An-)zeichen (sēmeion), darum kommt sie auch den anderen Lebewesen zu (denn so weit reicht ihre Natur, von Angenehmem und Unangenehmem eine Wahrnehmung (aisthēsis) zu haben und diese einander anzuzeigen (sēmainein)); der logos dagegen ist dazu bestimmt, das Nützliche (sympheron) und Schädliche (blaberon) deutlich kundzutun (dēloun) und also auch das Gerechte (dikaion) und das Ungerechte (adikaion). Dieses nämlich ist dem Menschen den Tieren gegenüber seine eigen­ tümliche Eigenschaft (idion): dass er allein fähig ist, vom Guten (aga­ thou) und Schlechten (kakou), von Recht (to dikaion) und Unrecht (to adikaion) eine Vorstellung (aisthēsin echein) zu haben. Dass diese aber allen gemeinsam ist, erschafft Haus und Staat. Pol. I 2, 1253a1–18.510

In dieser Passage macht Aristoteles zwei grundlegende Aussagen über den Menschen: einerseits, dass er ein in Gemeinschaft lebendes Lebewesen ist, und andererseits, dass er das einzige Lebewesen ist, das über logos verfügt. Die zweite anthropologische Bestimmung, die Logosfähigkeit, erachtet Aristoteles als konstitutiv für die erst­ genannte, die Fähigkeit zur Staatenbildung. Die Begründung ist Folgende: Tiere verfügen über ein Mitteilungsinstrument, das Aris­ toteles mit »Stimme« (phōnē) bezeichnet. Dieses dient dazu, ihre 510

Meine Übersetzung.

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5. Das Kind

Wahrnehmung von Angenehmem und Unangenehmem anzuzeigen oder auszudrücken. Das Schmerz- und Lustempfinden können sie einander mitteilen, indem ihre Stimme Zeichen (sēmeion) dieser Empfindung gibt. Tieren wird demnach die Fähigkeit zugeschrieben, Schmerz oder sein Gegenteil zu empfinden, und diese Empfindung durch eine lautliche Äußerung den Artgenossen verständlich zu machen. Genauso wie das Tier, ist der Mensch ebenfalls in der Lage, sich seinen Artgenossen mitzuteilen, allerdings nicht nur aufgrund von stimmlichen Geräuschen, sondern aufgrund des logos. Auch Menschen haben eine Wahrnehmung, allerdings nicht nur wie Tiere vom Angenehmen und Unangenehmen, sondern (zusätzlich) vom Guten und Schlechten, vom Gerechten und Ungerechten sowie vom Nützlichen und Schädlichen. Weiterhin sind Menschen in der Lage, diese Wahrnehmung auch deutlich kundzutun, das heißt, begriff­ lich präzise anzusprechen. Aristoteles beschreibt hier die Fähigkeit, abstrakte Konzepte wie das des Guten und Schlechten sowie des Gerechten und Ungerechten, d. h. abstrakte moralische und rechtliche Begriffe, auszubilden und diese seinen Artgenossen begrifflich präzise mitzuteilen. Diese Fähigkeit ist dem Menschen eigen (idion) – im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen – und verändert deshalb auch seine Form des Zusammenlebens mit seinen Artgenossen: Er kann einen Staat bilden, der von moralischen Prinzipien und rechtlichen Bestimmungen geprägt ist. Das macht ihn auf einer anderen Ebene als Bienen oder andere subhumane Lebensformen, zu einem außeror­ dentlich staatenbildenden Wesen. Insofern kann man sagen, dass die menschliche Logosfähigkeit konstitutiv für die Wesensbestimmung des Menschen als ›zōon politikon‹ ist, denn dann, wenn Menschen eine gemeinsame Vorstellung davon haben, was gerecht und ungerecht ist, können sie miteinander einen Staat gründen bzw. darin nach solchen Prinzipien gemeinsam leben. Es kann also festgehalten werden: In Pol. I bezeichnet die Logosfähigkeit jene Fähigkeit, moralische oder rechtliche Begriffe auszubilden. Begriffsbildung wird dabei einerseits als gedanklich abstrahierender und andererseits als sprachlich expres­ siver Prozess aufgefasst.511

511 Zur Logosfähigkeit gehört auch generell die Bildung abstrakter Begriffe. Aristo­ teles spricht hier mit Hinblick auf den Kontext höchstwahrscheinlich nur von der Ausbildung moralischer und rechtlicher Begriffe, da sie konstitutiv für die Entstehung des Staates sind und es in dieser Passage gerade um dessen Entstehung geht.

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

Kinder haben auf doppelte Weise an der menschlichen Logosfähigkeit teil. Einerseits lernen sie Sprache zu verstehen, andererseits lernen sie aktiv selbst zu sprechen. Dabei ist eine graduelle Entwicklung zu verzeichnen. Erst spricht das Kind nur einzelne Wortfetzen (»sie stammeln und lallen«512), dann ganze Wörter und Sätze, zuletzt komplexe Satzstrukturen. Zudem können Kinder mit zunehmendem Alter immer komplexere und abstrakte Begriffe und Konzepte ver­ stehen. Das wachsende Teilhaben an vorsprachlicher und sprachli­ cher Kommunikation ist für Aristoteles die Voraussetzung dafür, in die (familiäre und dann politische) Gemeinschaft hineinzuwachsen. Während Kinder laut Aristoteles jedoch noch nicht selbst über Sprache und komplexe Kognitionen verfügen, haben sie auf passive Weise am logos der Erwachsenen teil, die sie erziehen. Dies ist sowohl auf der somatischen Ebene als auch auf der psychischen Ebene der Fall: Auf körperlicher Ebene ist festzustellen, dass (gesunde) Kinder allein dadurch, dass sie hören können, die physische Möglichkeit haben, Belehrungen, Anweisungen, Hilfestellungen und Ratschläge zu hören und zu verstehen. Auf der psychischen Ebene ist das jedoch auch bei intakter Gehörfähigkeit nicht immer Fall. Es gibt Menschen, die nach Aristoteles »unbelehrbar« sind, weil sie nicht hinhören.513 Die Fähig­ keit, auf den logos zu hören, ist demnach eine psychische Fähigkeit, die durch die seelische Konstitution des Individuums bedingt ist. Beide sollen im Folgenden genauer untersucht werden.

5.6.2 Passive Teilhabe an der Vernunft der Erwachsenen: Die Empfänglichkeit des Kindes für den logos Aristoteles vertritt die Auffassung, dass Kinder in einem passiven Sinne Anteil an der Vernunft (logos) der Eltern oder anderer Erwach­ senen haben. Dies ist dadurch gewährleistet, dass sie ihnen gehorchen und auf sie hören. Diese Auffassung wird allerdings nur indirekt in einer Passage am Ende des ersten Buches der Nikomachischen Ethik thematisiert, in der es eigentlich um das Verhältnis des strebenden zum rationalen Seelenteil geht.514 Dieses Verhältnis erläutert Aristo­ Hist. anim. IV 9, 536b5–9. Siehe 5.5.2. Vasiliou spricht daher zutreffend von der Taubheit des verdorbenen Menschen. Vgl. Vasiliou 1996, S. 792. 514 Vgl. EN I 13, 1102b13–1103a3. 512

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5. Das Kind

teles mithilfe einer Analogie: Der strebende Seelenteil, der so wie das Kind nicht selbst über Vernunft verfüge, verhalte sich zum rationalen Seelenteil wie der Sohn zum Vater. Der strebende Seelenteil, so Aristoteles, habe Anteil an der Vernunft, insofern er auf sie höre und ihr gehorche. Da Aristoteles diese Analogie offensichtlich so versteht, dass sie das (hier zu klärende, unbekannte) Verhältnis von strebendem und rationalem Seelenteil erhellen soll, geht er davon aus, dass jedermann weiß, wie das Verhältnis von Vater und Sohn beschaffen ist. Er geht allerdings an keiner anderen Stelle darauf ein. Man kann also nur mit den Formulierungen arbeiten, die Aristoteles hier verwendet. Er sagt vom strebenden Seelenteil bzw. vom Kind, dass es den guten Rat in Rechnung stellt, d. h. ihm Gehör schenkt bzw. ihn verbindlich nimmt. Der vernünftige Seelenteil bzw. der Vater ermahnt, gibt Rat, tadelt und ermutigt. Im Grunde der Bedeutung des Wortes passt auf die Haltung des Kindes sehr gut der Begriff des Gehorsams, denn es verbindet den Aspekt des Hörens mit dem Aspekt des Verbindlich-Nehmens. So formuliert Willmann zwar etwas altmodisch, aber richtig: »Das erste Gehorchen (peitharchein) gilt aber dem väterlichen Gebote, patrikē pros taxis; der Gehorsam, den unsere Strebekraft der Vernunft und deren Mahnungen, Vorwürfen und Aufmunterungen leistet, ist ein Hören auf dieselbe […].«515 Kinder sind also selbst nicht aktiv vernünftig, haben aber auf passive Weise an Vernunft Anteil, indem sie diese in Form von Ratschlägen, Anweisungen und Ermahnungen in ihrem Verhalten umsetzen können. Diese Beschreibung entspricht recht genau dem anfangs erarbeiteten Begriff der ›advice guided activity‹. Dort wo das Kind aufgrund der mangelnden Vernunftfähigkeit noch nicht selbst überlegen oder entscheiden kann, gibt ihm der elterliche Rat die nötige Wegweisung für das Verhalten.516 Das Kind muss also aufgrund der eigenen mangelnden Vernunftfähigkeit nicht untätig Willmann 1909, S. 89. Es ist nicht leicht zu entscheiden, welche Rolle Mutter und Vater im Prozess der Habituation einnehmen. Manche von Aristoteles’ Überlegungen legen nahe, dass er der Frau traditionell die Verantwortung für die Kindererziehung zuweist, wie es im Athen seiner Zeit üblich war (vgl. Sherman 1989, S. 153). Gleichzeitig bezweifelt Aristoteles, dass Frauen die Vernunftfähigkeit je vollkommen ausbilden (vgl. Pol. I 13, 1260a12–14). Dies schließt sie als Vorbilder des tugendhaften Handelns im Grunde genommen aus. Daraus würde folgen, dass Männer für die Begleitung im Habituationsprozess zuständig sein müssten, während das traditionell nicht ihre Auf­ 515

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

verharren, bis es selbst vernünftig wird, sondern kann vorläufig im Vertrauen auf die vernünftigen Anweisungen der Erwachsenen handelnd tätig werden. Die Fähigkeit, in dieser Weise mit vernünftigen Ratschlägen und Anweisungen anderer umzugehen, werde ich im Folgenden als Ver­ nunftrezeptivität bezeichnen. Nun muss genauer untersucht werden, auf welchen anderen Fähigkeiten des Kindes die Vernunftrezeptivität gründet. Dies sind zum einen die körperliche Fähigkeit zu hören, zum anderen die seelisch-konstituierte Fähigkeit, Vernunftgründen Raum zu geben, die ich mit dem Begriff der Argumentrezeptivität bezeichnen werde.

5.6.3 Auf-den-logos-hören-Können: Der körperliche Aspekt Vieles spricht dafür, die Vernunftrezeptivität auf den passiven und später aktiven Umgang mit Sprache zurückzuführen, denn das Medium der Vermittlung von Anleitungen, Ratschlägen, Hinweisen und Ermahnungen ist die Sprache. Die passiv-rezeptive Fähigkeit mit Sprache umzugehen ist auf der körperlichen Ebene das Gehör. Es gibt Grund zu der Annahme, dass Aristoteles davon ausgeht, dass Kinder, die von Geburt an nicht hören können, entweder nicht in der Lage seien, selbst Vernunft auszubilden, oder in dieser Hinsicht zumindest deutlich benachteiligt seien. Das wird aus einer Passage in De sensu et sensibilius deutlich, in der Aristoteles erklärt, dass blinde Menschen intelligenter als taubstumme seien, weil das Gehör (akzidentell) den größten Beitrag zur phronēsis leiste. κατὰ συμβεβηκὸς δὲ πρὸς φρόνησιν ἡ ἀκοὴ πλεῖστον συμβάλλεται μέρος. ὁ γὰρ λόγος αἴτιός ἐστι τῆς μαθήσεως ἀκουστὸς ὤν, οὐ καθ᾿ αὑτὸν ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός· ἐξ ὀνομάτων γὰρ σύγκειται, τῶν δ᾿ ὀνομάτων ἕκαστον σύμβολόν ἐστιν. διόπερ φρονιμώτεροι τῶν ἐκ γενετῆς ἐστερημένων εἰσὶν ἑκατέρας τῆς αἰσθήσεως οἱ τυφλοὶ τῶν ἐνεῶν καὶ κωφῶν. Akzidentell trägt das Hören den größten Teil zur Klugheit (phronēsis) bei. Denn die Belehrung (logos) ist die Ursache des Lernens, und zwar, weil sie hörbar ist; aber sie ist nicht an sich hörbar, sondern akzidentell, weil es aus Worten zusammengesetzt ist, von denen jedes gabe ist. Aristoteles’ Position ist an dieser Stelle inkonsistent. Weiterführende Über­ legungen zur Rollenverteilung in der Erziehung finden sich in Kapitel 6.

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5. Das Kind

ein Symbol ist. Folglich sind von denjenigen, denen von Geburt an eine Sinneswahrnehmung fehlt, die Blinden klüger als die Taubstummen. De sensu 437a11–17.

Es sei zwar nur eine akzidentelle Eigenschaft des logos, hörbar zu sein; die Möglichkeit, Kinder, die nicht hören können, auf alternativen Wegen zu belehren, wird also nicht kategorisch ausgeschlossen. Allerdings ist das gesprochene Wort das übliche Medium der Unter­ weisung von Kindern. Insofern zieht Aristoteles hier eine direkte Verbindung zwischen der Möglichkeit, die phronēsis auszubilden, und mit Sprache rezeptiv umzugehen. Dieses Bild wird bestätigt, wenn er an anderer Stelle behauptet, dass (von Geburt an) taubstumme Menschen nicht intelligent seien.517 Für ihn besteht somit ein direkter Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Vernunft und der Fähigkeit zu hören. Wenn es ausschließlich um die Fähigkeit ginge, Ratschläge und Anweisungen zu hören, müsste man aber wiederum alle Menschen mit gesundem Hörvermögen gleichermaßen durch eine vernünftige Rede zu vernünftigen Menschen machen können, auch Erwachsene. Ebendies hält Aristoteles allerdings für ausgeschlossen. Er bezeugt zu verschiedenen Gelegenheiten die Auffassung, dass Kinder, anders als verdorbene Erwachsene, noch formbar seien und sich weiterent­ wickeln. Im Gegensatz dazu hält er Erwachsene, die nur an der Lust orientiert leben, für unempfänglich für die vernünftige Rede und daher für unbelehrbar.518 Die Fähigkeit, der Vernunft Gehör zu schenken, kommt also nicht jedem Menschen zu.

5.6.4 Auf-den-logos-hören-Können: Der seelische Aspekt Ich werde nun näher auf die Fähigkeit eingehen, der Vernunft Gehör zu schenken. Dazu müssen zwei Passagen aus dem zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sorgfältig interpretiert werden. Obwohl Aristo­ teles die Fähigkeit, zum vernünftigen Denken zu gelangen, mit der Fähigkeit zu hören, also mit Sprache rezeptiv umzugehen, verknüpft, betont er, dass diese Fähigkeit nicht allen Menschen zukommt. Er unterstreicht die Nutzlosigkeit von verbalen Erziehungsmitteln, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die nicht für sie empfänglich sind. 517 518

Vgl. Hist. anim. IV 4, 536b3–5. EN X 10, 1179b4–18; EN X 10, 1179b20–35.

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

Es ist nun aufschlussreich, an welchen Eigenschaften Aristoteles die Empfänglichkeit für Argumente festmacht. εἰ μὲν οὖν ἦσαν οἱ λόγοι αὐτάρκεις πρὸς τὸ ποιῆσαι ἐπιεικεῖς, ›πολλοὺς ἂν μισθοὺς καὶ μεγάλους‹ δικαίως ›ἔφερον‹ κατὰ τὸν Θέογνιν, καὶ ἔδει ἂν τούτους πορίσασθαι· νῦν δὲ φαίνονται προτρέψασθαι μὲν καὶ παρορμῆσαι τῶν νέων τοὺς ἐλευθερίους ἰσχύειν, ἦθός τ᾿ εὐγενὲς καὶ ὡς ἀληθῶς φιλόκαλον ποιῆσαι ἂν κατοκώχιμον ἐκ τῆς ἀρετῆς, τοὺς δὲ πολλοὺς ἀδυνατεῖν πρὸς καλοκαγαθίαν προτρέψασθαι· οὐ γὰρ πεφύκασιν αἰδοῖ πειθαρχεῖν ἀλλὰ φόβῳ, οὐδ᾿ ἀπέχεσθαι τῶν φαύλων διὰ τὸ αἰσχρὸν ἀλλὰ διὰ τὰς τιμωρίας· πάθει γὰρ ζῶντες τὰς οἰκείας ἡδονὰς διώκουσι καὶ δι᾿ ὧν αὗται ἔσονται, φεύγουσι δὲ τὰς ἀντικειμένας λύπας, τοῦ δὲ καλοῦ καὶ ὡς ἀληθῶς ἡδέος οὐδ᾿ ἔννοιαν ἔχουσιν, ἄγευστοι ὄντες. τοὺς δὴ τοιούτους τίς ἂν λόγος μεταρρυθμίσαι; οὐ γὰρ οἷόν τε ἢ οὐ ῥᾴδιον τὰ ἐκ παλαιοῦ τοῖς ἤθεσι κατειλημμένα λόγῳ μεταστῆσαι. Wenn Worte ausreichen würden, um Menschen gutzumachen, dann würden sie mit Recht nach dem Ausspruch des Theognis vielen und großen Lohn einbringen, und man müsste sie herbeischaffen. Nun aber vermögen sie offenbar zwar Jugendliche von der Art freier Bürger (eleutherios) anzuregen und anzutreiben und einen edel geborenen (eugenēs), wirklich das Werthafte liebenden (philokalos) Charakter (ēthos) dahin zu bringen, dass die Tugend von ihm Besitz ergreift; die Leute aus der Menge (hoi polloi) jedoch vermögen Worte nicht zum Guten und Werthaften zu motivieren. Denn diese sind ihrer Natur nach so beschaffen, dass sie nicht der Scham (aidōs), sondern der Furcht (phobos) gehorchen und dass sie sich schlechter Handlungen nicht deshalb enthalten, weil diese niedrig (aischros) sind, sondern weil sie Strafe nach sich ziehen. Denn indem sie nach ihren Affekten (pathos) leben, suchen sie die ihnen eigene Lust und das, wodurch diese entsteht, und meiden die entgegengesetzte Unlust, haben aber vom Werthaften und wahrhaft Lustvollen nicht einmal eine Vorstellung, da sie nie davon gekostet haben. Welche Reden könnten daher Menschen von solcher Beschaffenheit umgestalten? Es ist ja nicht möglich oder [zumindest] nicht leicht, das, was vor langer Zeit in den Charakter aufgenommen wurde, durch Worte zu beseitigen. EN X 10, 1179b4–18.

Aristoteles nennt hier die Eigenschaften, die ausschlaggebend dafür sind, dass eine vernünftige Rede oder ein ermahnender Appell Men­ schen zu Verhaltensänderungen motivieren können. Empfänglich für vernünftige Appelle sind seiner Meinung nach Jugendliche (neoi), die bestimmte Qualitäten besitzen. Sie sind Freie (1), ihr Charakter entspricht einem edel geborenen (eugenēs) (2), welcher wahrhaft das Gute und Schöne liebt (philokalos) (3) und sie hören im Gegensatz

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5. Das Kind

zu den Menschen aus der Menge auf ihr Schamgefühl (4). Nicht empfänglich für eine vernünftige Rede sind nach Aristoteles Leute aus der Menge, die dadurch charakterisiert werden, dass sie nach dem Affekt (pathos) leben und kein Schamgefühl besitzen. Eine genauere Analyse dieser Eigenschaften wird zeigen, wie sich auf dieser Basis die bisher erarbeiteten Hypothesen bestätigen lassen. Die ersten beiden Eigenschaften, die Aristoteles hier nennt, beziehen sich auf gute Naturanlagen und somit auf die günstigen Vor­ aussetzungen, die ein Lernender von Anfang an in den Lernprozess einbringt. Der dritte Punkt ist der für uns relevanteste: Nur derjenige, der philokalos (geworden) ist, d. h. nur derjenige, der das Gute und Schöne bereits erstrebt und liebt, kann auf Vernunftbelehrungen hören. Zu Beginn wurde gezeigt, dass genau diese Art von Liebe, Wertschätzung oder auch Verbindung von positiven Emotionen mit tugendhaften Handlungen das Ziel der Charakterformung durch Hab­ ituation ist. Interessant ist nun die Verbindung mit dem Schamgefühl. Wenn Kinder innerhalb des Lernprozesses Handlungen ausführen, die nicht erwünscht sind, werden sie sich dafür schämen, entweder schon von sich aus oder nach einem erhaltenen Tadel. Das Scham­ gefühl trägt also in einem positiven Sinne dazu bei, vernünftig zu handeln.519 Die Menschen aus der Menge haben keine Gefühle dieser Art. Falls ihnen bewusst sein sollte, dass ihre Handlungen falsch sind, dann nur, weil sie wissen, dass sie für diese Handlungen bestraft werden könnten. Dies legt nahe, dass es Aristoteles hier nicht um ein angeborenes Schamgefühl geht, das jeder Mensch hätte, sondern um ein erlerntes Schamgefühl, welches erst im Habituationsprozess erworben wird. Neben dem fehlenden Schamgefühl gibt es jedoch einen noch gewichtigeren Aspekt, der dazu führt, dass verbale Erziehungsmittel bei den Menschen aus der Menge ohne Wirkung bleiben: Sie leben nach dem Affekt (pathos). Das bedeutet, dass sich ihr ganzes Stre­ ben an der Maximierung von Lustempfindungen orientiert. Wenn aber das Streben nach (körperlicher/niederer) Lust einen Menschen beherrscht, kann die Vernunft nicht in ihm herrschen. 519 Nicht ohne Grund stellt Burnyeat Scham als Tugend des Lernenden heraus. Bur­ nyeat 1980, S. 78. Jimenez verfolgt diese These in ihrer Monografie weiter. Vgl. Jime­ nez 2020. Da Jimenez’ Buch jedoch erst erschien, als die inhaltliche Konzeption dieses Manuskripts bereits abgeschlossen war, kann ich hier nur auf ihre Arbeit verweisen, ohne sie genauer zu besprechen.

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

Zuletzt macht Aristoteles noch eine Aussage über das kausale Gefüge. Eine durch Gewohnheit erworbene charakterliche Disposi­ tion hält er für relativ stabil. Deshalb sei sie erst recht nicht durch Worte zu verändern. Dies kann einerseits heißen, dass es allgemein recht unwahrscheinlich ist, sie zu verändern. Oder aber, dass, wenn sie überhaupt verändert werden kann, das richtige Mittel dazu in jedem Fall nicht ausschließlich sprachlich verfasste Instruktionen sein können. Dies verrät uns etwas über Aristoteles‹ Auffassung von den kausalen Wirkbeziehungen zwischen Gewöhnung und Belehrung. Wenn die Gewöhnung die charakterlichen Dispositionen richtig ein­ gerichtet hat, fällt das belehrende Wort auf fruchtbaren Boden.520 Charakterbildung stellt Argumentrezeptivität also erst her. Hat aber eine Gewöhnung an das Schlechte stattgefunden oder ist eine Gewöh­ nung an das Gute ganz ausgeblieben, haben belehrende Worte keinen weiteren Einfluss, keine verändernde Kraft. Worte haben also nicht an sich verändernde Kraft, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. Diese Auffassung macht insgesamt deutlich, warum Aristoteles so viel Wert auf eine zeitliche Abfolge in der Erziehung legt. In einer etwas späteren Passage von Buch X macht Aristoteles vergleichbare Punkte.521 Auch dort führt er die Unfähigkeit, auf ver­ nünftige Anweisungen, Belehrungen oder Ermahnungen zu hören, darauf zurück, dass jemand ausschließlich von Affekten geleitet wird. Diesmal geht er sogar so weit zu behaupten, dass Menschen, deren charakterliche Disposition in einem solch schlechten Zustand ist, nicht einmal in der Lage seien, eine vernünftige Rede überhaupt zu verstehen. Menschen, deren Seele auf das vernünftige Wort vor­ bereitet worden ist, befinden sich hingegen in einer günstigeren Ausgangslage: Ihre Seele sei wie fruchtbarer Boden für den Samen der Vernunft. ὁ δὲ λόγος καὶ ἡ διδαχὴ μή ποτ᾽ οὐκ ἐν ἅπασιν ἰσχύει, ἀλλὰ δεῖ προδιειργάσθαι τοῖς ἔθεσι τὴν τοῦ ἀκροατοῦ ψυχὴν πρὸς τὸ καλῶς χαίρειν καὶ μισεῖν, ὥσπερ γῆν τὴν θρέψουσαν τὸ σπέρμα. οὐ γὰρ ἂν ἀκούσειε λόγου ἀποτρέποντος οὐδ᾽ αὖ συνείη ὁ κατὰ πάθος ζῶν: τὸν δ᾽ οὕτως ἔχοντα πῶς οἷόν τε μεταπεῖσαι; Die Rede und Belehrung haben aber wohl kaum bei allen Menschen Wirkung; vielmehr muss die Seele des Hörers zuvor durch Gewöhnung bearbeitet worden sein, dass sie sich auf richtige (kalōs) Weise freut 520 521

Eine ausführliche Verteidigung dieser Auffassung findet sich bei Kraut 1998. Vgl. EN X 10, 1179b20–35.

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5. Das Kind

und abgeneigt ist, so wie Erde, die Samen nähren soll [bearbeitet wird]. Denn ein Mensch, der nach dem Affekt lebt, wird auf eine Rede, die ihn davon abbringen will, nicht hören; er wird sie nicht mal verstehen. Wie aber soll es möglich sein, einen Menschen, der so verfasst ist, umzustimmen? EN X 10, 1179b23–28.

In diesem Abschnitt legt Aristoteles deutlich die Gewöhnung als eine Vorbereitung auf das Hören der belehrenden Worte fest. Dafür benutzt er einen anschaulichen Vergleich: Gewöhnung soll den Ler­ nenden in derselben Weise auf die Belehrung vorbereiten, wie man den Acker durch Pflügen auf die Einpflanzung des Samens vorbereiten muss. Ziel der Gewöhnung ist es laut Aristoteles, dass der Lernende lernt, auf die richtige Weise Freude und Abscheu zu empfinden; es geht also um die richtige emotionale Reaktion auf verschiedene Sachverhalte und Verhaltensweisen. Der Gewöhnte soll lernen, das Gute wertzuschätzen und das Schlechte zu hassen. Das sind genau die Ziele, die für die Habituationsphase festgelegt wurden. Das Gegenbild zum durch Gewöhnung veränderten Menschen ist auch hier derjenige, der nach dem Affekt lebt (ho kata pathos zōn). Dieser Mensch strebt danach, seinen Lustgewinn zu maximieren, wobei körperliche Lüste im Vordergrund stehen. Andere Werte sind für ihn nicht von Bedeutung, nur Zwang ist für ihn verbindlich. In ihm kann die Vernunft keine motivierende Wirkung entfalten. Das Ziel der Gewöhnung besteht demnach darin, das Streben nach Lust, das alle Menschen von Geburt an haben, einzuschränken und es gleichzeitig so zu verändern, dass es sich auf andere Gegenstände richtet, nämlich das Gute und Schöne.522 Der auf diese Weise Habituierte nimmt daher das Gute und Schöne im Allgemeinen sowie die Ausübung der Tugenden im Besonderen als lustvoll wahr. Sein Verhältnis zu den eigenen Affekten lässt zu, dass Vernunftgründe verbindliche Wirkung entfalten können. Diese Empfänglichkeit oder Offenheit für Vernunftgründe wird also durch Habituation erst erreicht. Dies ist die zentrale These, die Aristoteles mit Blick auf die Habituation ver­ tritt: Habituation ermöglicht es, dass Vernunftgründe im Menschen motivationale Kraft entfalten können, d. h. sie stellt Argumentrezep­ tivität her. Aristoteles verwendet verschiedene Formulierungen, um diesen Effekt zu beschreiben: Derjenige, der durch die Gewöhnung für die 522 Lawrence beschreibt diesen Prozess richtig als »shift from living kata pathos to living kata prohairesin«. Lawrence 2011, S. 237.

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5.6 Bestimmung des Kindes aus nicht-defizitärer Perspektive

Belehrung vorbereitet ist, wird ihr Gehör schenken, sich überzeugen lassen, sie sich zu Herzen nehmen. D. h., Vernunft ist für ihn zur verbindlichen Handlungsmaxime geworden. Für den nach dem Affekt lebenden Menschen hingegen ist nur Zwang verbindlich. In ihm kann die Vernunft keine motivierende Wirkung entfalten. Er kommt somit über tierische Antriebe nicht hinaus. Die bisherigen Feststellungen möchte ich nutzen, um eine sehr prominente Stelle der Nikomachischen Ethik umzudeuten, die dafür bekannt ist, junge Menschen als Hörer für die Ethik auszuschließen. Dies macht im Lichte der bisherigen Überlegungen keinen Sinn, denn gerade junge Menschen, aber eben nur diejenigen, die durch Habituation bereits einen guten Charakter erworben haben, sind die geeigneten Hörer für die aristotelischen Ethikvorlesungen. Ἕκαστος δὲ κρίνει καλῶς ἃ γινώσκει, καὶ τούτων ἐστὶν ἀγαθὸς κριτής. […] διὸ τῆς πολιτικῆς οὐκ ἔστιν οἰκεῖος ἀκροατὴς ὁ νέος· ἄπειρος γὰρ τῶν κατὰ τὸν βίον πράξεων, οἱ λόγοι δ᾿ ἐκ τούτων καὶ περὶ τούτων. Jeder beurteilt die Dinge gut, die er kennt, und ist darin ein guter Beur­ teiler. […] Aus diesem Grund sind junge Menschen keine geeigneten Hörer für die politische Wissenschaft. Denn sie sind unerfahren in den Handlungen, in denen das Leben besteht; diese aber bilden gerade den Gegenstand und den Ausgangpunkt der Untersuchung. EN I 1, 1094b27–1095a4.

Ich bin überzeugt, dass Aristoteles hier von jungen Menschen her­ kömmlicher Art spricht. Denn für diese Jugendlichen gilt, dass sie im Handeln unerfahren sind und dass sie den Ausgangspunkt für das weitere Nachdenken noch nicht erreicht haben. Jene Kinder allerdings, denen die aristotelische Charakterschulung von Anfang an zukommt, sammeln innerhalb dieses Prozesses schon die nöti­ gen Erfahrungen.523 Aristoteles macht, wie eben schon herausgearbeitet, auch in dieser Passage die Tatsache, dass ein Mensch vom Affekt geleitet ist, dafür verantwortlich, dass er kein geeigneter Hörer sei, oder vielmehr

Hier könnte man höchstens folgende Bedenken einwenden: In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass Kinder in Handlungssituationen die richtigen Reaktionen einüben sollen. In diesen Situationen sind sie dann bereits ›erfahren‹. Wenn man Erfahrung allerdings als etwas wie ›Lebenserfahrung‹ versteht, die einem Individuum erst mit fortgeschrittenem Alter zuzuschreiben ist, muss man Jugendliche weiterhin von den Ethikvorlesungen ausschließen. 523

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5. Das Kind

das Zuhören nutzlos sei.524 An späterer Stelle relativiert er den Aspekt des Alters: ἔτι δὲ τοῖς πάθεσιν ἀκολουθητικὸς ὢν ματαίως ἀκούσεται καὶ ἀνωφελῶς, ἐπειδὴ τὸ τέλος ἐστὶν οὐ γνῶσις ἀλλὰ πρᾶξις. διαφέρει δ᾿ οὐδὲν νέος τὴν ἡλικίαν ἢ τὸ ἦθος νεαρός, οὐ γὰρ παρὰ τὸν χρόνον ἡ ἔλλειψις, ἀλλὰ διὰ τὸ κατὰ πάθος ζῆν καὶ διώκειν ἕκαστα· τοῖς γὰρ τοιούτοις ἀνόνητος ἡ γνῶσις γίνεται, καθάπερ τοῖς ἀκρατέσιν. τοῖς δὲ κατὰ λόγον τὰς ὀρέξεις ποιουμένοις καὶ πράττουσι πολυωφελὲς ἂν 8εἴη τὸ περὶ τούτων εἰδέναι. Dabei ist es gleichgültig, ob sie jung an Jahren oder unreif im Charakter sind; ihre Unzulänglichkeit hängt nicht von der Zeit ab, sondern ergibt sich daraus, dass sie vom Affekt geleitet leben und auf diese Weise ihre jeweiligen Ziele verfolgen. Solchen Menschen bringt das Erkennen keinen Nutzen – ebenso wenig wie den Unbeherrschten. Hingegen wird für diejenigen, die ihre Strebungen (orexis) nach der Vernunft (logos) gestalten und entsprechend handeln, das Wissen über diese Dinge von vielfältigem Nutzen sein. EN I 2, 1095a4–11.

Auch in diesem Abschnitt ist das entscheidende Merkmal für die mangelnde Argumentrezeptivität die Affektgeleitetheit und die damit einhergehende mangelnde dispositionale Ausrichtung auf das Gute. Diese fehlt nicht nur bei unbeherrschten Menschen, sondern allge­ meinhin auch bei Kindern, weshalb Aristoteles sie als gute Zuhörer für seine Vorlesung ausschließt. Damit meint er jedoch jene Kinder, die keine vorbereitende, an das Gute gewöhnende Erziehung erfahren haben. Deshalb ist es so wichtig, dass Kinder durch Habituation zu guten Zuhörern werden. Und das heißt im aristotelischen System, dass sie aufhören, allein vom Affekt geleitet zu sein und ein lustori­ entiertes Leben zu führen, und stattdessen, dass ihre charakterlichen Dispositionen in einem guten Sinne eingerichtet werden. Und genau dies zu gewährleisten, ist Aufgabe der Habituation. Bisher wurde herausgestellt, dass Aristoteles davon ausgeht, dass charakterliche Formung durch Habituation ein Individuum rezeptiv für rationale Argumente und Begründungen machen kann. Diese Argumente und Begründungen müssen von dem Menschen kommen, der das Kind erzieht, und an dessen Vernunft das Kind zunächst auf passive Weise teilhat. Im Folgenden soll das Verhältnis zwischen Eltern und Kind näher untersucht werden, um die Frage zu beantworten, ob die Eltern diese Rolle für das Kind einnehmen können. 524

Vgl. EN I 2, 1095a4–6.

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6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind

Damit der Erziehungsprozess erfolgreich ist, muss die Beziehung zwischen erziehender Bezugsperson und Kind von Vertrauen, Liebe und Respekt geprägt sein.525 Diese emotionale Bindung ist die Vor­ aussetzung dafür, dass das Kind dem Erwachsenen gehorcht, folgt, seinen Anweisungen und Rückmeldungen Respekt und Aufmerk­ samkeit entgegenbringt, und sich über dessen Lob und Tadel freut. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Beziehung zwischen Eltern und Kind diesen Anforderungen gerecht werden kann.

6.1 Das Verhältnis von Eltern und Kindern Aristoteles charakterisiert das Verhältnis zwischen Eltern und Kind als Freundschaft bzw. Liebe (philia), allerdings nicht als Freundschaft zwischen Gleichen, sondern als ein asymmetrisches Verhältnis zwi­ schen Ungleichen, das durch die Überlegenheit (kath‹ hyperochēn) der Eltern gegenüber den Kindern besteht.526 Allerdings betont er, dass die Art der Freundschaft zwischen Eltern und Kind bzw. Vater und Sohn sich trotzdem von der zwischen Herrschern und Beherrschten unterscheidet.527 Ein weiterer Aspekt, der Aristoteles mit Hinblick auf das Verhältnis von Eltern und Kind wichtig erscheint, ist der der gegenseitigen Verpflichtung.528 In diesem Zusammenhang benennt er allerdings nicht konkret, worin diese besteht. An anderer Stelle hingegen erwähnt Aristoteles, dass der Vater bzw. die Eltern gegen­ über den Kindern Ursache der Ernährung (trophē) und Erziehung (paideia) sind. Die Zuständigkeit der Eltern bezieht sich somit auf 525 526 527 528

Dieser Aspekt wurde vor allem in Abschnitt 4.4 besprochen. Vgl. EN VIII 9, 1158b11–23. Vgl. EN VIII 9, 1158b14–17. Vgl. EN VIII 9, 1158b21–23.

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6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind

diese Bereiche.529 Von Kindern wiederum wird erwartet, dass sie ihre Eltern ehren (timein), und zwar in ähnlicher Weise, wie Untertanen Könige oder wie Menschen ihre Vorfahren würdigen.530 Von den Kindern wird also Respekt, Gehorsam und Wertschätzung gegenüber den Eltern verlangt. Die Wertschätzung ergibt sich, so Aristoteles, daraus, dass die Kinder den Eltern ihre Existenz verdanken.531 Des­ halb lieben Kinder ihre Eltern auch nicht von Geburt an, sondern erst, wenn sie ihre Beziehung zu ihnen kognitiv erfassen können.532 Eltern lieben ihre Kinder jedoch von Geburt an, und zwar als einen Teil von sich selbst. Darüber hinaus schweißen gemeinsame Kinder ein Paar zusammen, weil sie für beide Elternteile ein gemeinsames Gut (koinon agathon) darstellen.533 Der allgemeine Tenor bei Aristoteles geht dahin, dass Kinder für die Eltern wichtig sind, im Sinne einer fortgesetzten Existenz ihrer selbst, an die sie emotional gebunden sind. Die Kinder sind ein Produkt der Eltern, in dem Sinne, dass sie nicht am Leben wären, wenn die Eltern nicht die kausale Ursache für ihre Existenz wären. Existenz ist jedoch nicht nur ein ›Ins-Leben-kommen‹ im Sinne der Genese, sondern auch ein Gedeihen und Sich-Entfalten. Infolgedessen sind die Eltern nicht nur am Wohlergehen und Gedeihen ihrer Kinder interessiert, sondern auch für dieses verantwortlich. Wohlgeratene Kinder sind zudem ein konstitutiver Teil des Glückes der Eltern. Wie auch in Bezug auf andere Individuen, denen man in Freundschaft oder Liebe verbunden ist, wünschen Eltern sich, dass es den Kindern gut geht.534 Glücklich zu sein, aber schlechtgeratene Kinder zu haben, ist daher unmöglich.535

Vgl. EN VIII 13, 1161a15ff; 1162a4–7. Vgl. EN VIII 13, 1161a15–22. 531 Vgl. EN VIII 13, 1162a5ff. 532 »Denn die Eltern lieben das Kind sofort, wenn es geboren ist, die Kinder aber die Eltern erst, wenn die Zeit fortgeschritten ist und sie Verstehen (synesis) und Wahrnehmung (aisthēsis) erworben haben.« EN VIII 13, 1161b24ff. 533 Vgl. EN VIII 14, 1162a27ff. 534 Vgl. EN VIII 9, 1158a27ff. 535 Vgl. EN I 9, 1099b2ff. Zumindest ist Aristoteles der Meinung, dass Kinderlo­ sigkeit und auch schlechte Kinder das Glück trüben. Kinder sind in diesem Sinne ein interessanter Fall von einem Gut: Sie sind den Eltern nicht komplett äußerlich, wie Besitztümer, aber auch nicht so eng mit ihrem Glück verwoben, wie die körperli­ che Gesundheit. 529

530

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6.2 Wer erzieht?

Aristoteles hält auch die Beziehung zwischen Mann und Frau für eine Form der Freundschaft.536 Die familiären Beziehungen sind daher die Keimzelle der staatlichen Gemeinschaft und Aristoteles kri­ tisiert Platon ausdrücklich für den Versuch, jene auflösen zu wol­ len.537 Eines der Argumente gegen die von Platon propagierte Gemeinschaft von Kindern und Frauen ist für Aristoteles der Aspekt, dass man für etwas, was einem eigen ist, mehr Sorge trägt, als für etwas, das man mit vielen teilt.538 Es ist also essenziell für die Bezie­ hung zwischen Eltern und Kind(ern), dass es die eigenen Kinder sind, um die sie sich sorgen. Dies spricht dafür, dass die Erziehung primär eine innerfamiliäre Angelegenheit ist.

6.2 Wer erzieht? In Bezug auf die Frage, wem nun die Hauptaufgabe der Erziehung zukommt, ist bei Aristoteles eine grundsätzliche Spannung zu bemer­ ken. Auf der einen Seite spricht er sich dafür aus, dass es eine einheit­ liche, staatlich regulierte Erziehung gibt, die die Bürger ins richtige Verhältnis zur Verfassung setzt.539 Andererseits ist er der Meinung, dass eine Erziehung, die ganz individuell auf ein Kind eingehen kann, am besten gelingt.540 Außerdem betont er, dass die ethische Erziehung früh beginnen muss.541 Das Streben, so Aristoteles, haben Kinder von Geburt an.542 Wenn das Streben von Anfang an geformt werden soll, muss dies folglich im Rahmen der frühen Erziehung im Elternhaus geschehen, denn das Schuleintrittsalter liegt erst bei sieben Jahren und es sind keine anderen staatlichen Institutionen vorgesehen, die die Kinder vor diesem Alter aufnehmen würden.543 Die frühkindliche Erziehung in der Familie stößt jedoch auf andere konzeptionelle Probleme, die vor allem mit der Frage zu tun haben, wie die Rollenverteilung in der Familie gestaltet sein soll. Diese Frage ist ebenfalls nicht einfach zu beantworten. EN VIII 14, 1162a16ff. Pol. II 2–4. 538 Pol. II, 1261b33ff. 539 Pol. V 9, 1310a12ff. 540 EN X 10, 1180b7ff. 541 Vgl. EN II 2, 1104b11ff. 542 Vgl. Pol. VII 15, 1334b20–25 und EE II 8, 1224b29–35 sowie meine Ausführungen in Abschnitt 2.6. 543 Vgl. Pol. VII 17, 1336a41–b2 sowie meine Ausführungen in Abschnitt 5.3. 536

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6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind

Aufgrund der Verschiedenheit von Mann und Frau geht Aristo­ teles grundsätzlich davon aus, dass von Anfang an eine Arbeitsteilung besteht, in der beiden unterschiedliche Aufgaben zukommen, ohne zu spezifizieren, welche diese sind.544 Sherman geht davon aus, dass Aristoteles der Frau die traditionelle Rolle zuweist, wie Frauen im Athen zur Zeit Aristoteles‹ einnahmen, weil er ihnen keine politische Partizipation zugesteht.545 Das würde auch bedeuten, dass vor allem die Frau für die Kindererziehung, zumindest in den ersten Jahren, verantwortlich wäre. Hinzukommt, dass Aristoteles der Meinung ist, dass Frauen mehr lieben.546 Aristoteles hat die Auffassung, dass das Essentielle der Liebe/Freundschaft (philia) mehr im Lieben als im Geliebt-Werden besteht und verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass gerade Mütter sich durch die Fähigkeit zur selbstlosen Liebe auszeichnen.547 Wenn eine erziehende Bezugsperson angenommen wird, die das Kind beim Lernen begleitet und anregt, spricht somit einiges dafür, anzunehmen, dass dies die Mutter des Kindes ist bzw. sein soll. Loyalität und Vertrauen sowie die Verletzlichkeit aufgrund der tiefen Liebe sind Voraussetzung für die affektive Verbindung zu Freunden in der politischen Gemeinschaft und sind deshalb wichtig für die Erziehung des tugendhaften Menschen.548 Problematisch ist aber, dass grundsätzlich in Frage steht, ob Frauen aus Aristoteles Sicht als ethische Vorbildpersonen geeignet sind: Auch wenn Aristoteles davon spricht, dass es auch für Frauen eine »Art von Tugend geben müsse«549, bezweifelt er auf einer allgemeinen Ebene, dass Frauen je

Vgl. EN VIII 14, 1162a22–24. Vgl. Sherman 1989, S. 153. 546 Vgl. EN VIII 14, 1161b26–27. 547 Vgl. EN VIII 9, 1159a27–33. 548 Vgl. Sherman 1989, S. 154. 549 Pol. I 13, 1260b13–20. Aristoteles arbeitet hier eher mit einem Pars-pro-totoArgument: Für einen tüchtigen Staat müssen seine Teile tüchtig sein, was einschließt, dass neben den Männern auch die Frauen und Kinder tüchtig sein müssen. Kurz zuvor wirft Aristoteles die Frage auf, ob man auch von Frauen und Kindern verlangen könne, dass sie besonnen, tapfer und gerecht seien, lässt die Frage aber unbeantwortet. Vgl. Pol I 13, 1159b28ff. Der Aspekt, dass der Frau eine eigene Form der Tugend zugeschrie­ ben werden müsse, kommt auch noch einmal vor, wenn Aristoteles davon spricht, dass jeder Teil der ehelichen Gemeinschaft gut sein müsse, damit die Gemeinschaft gut sei. Vgl. EN VIII 14, 1162a25ff. 544 545

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6.2 Wer erzieht?

vollständig rationale Akteure werden.550 Infolgedessen haben Frauen keine Form von politischer Partizipation oder bürgerlichen Rechten inne.551 Teil der politischen Gemeinschaft zu sein ist aber eines der Erziehungsziele. Die Vorbildrolle sowie die anleitende Rolle im Habituationsprozess, die sie gegenüber dem Kind einnehmen müssten, können Frauen somit, nimmt man diese Maßgaben ernst, aufgrund der fehlenden Fähigkeit der phronēsis nie erfüllen. Sherman formuliert prägnant: »If women are unable to guide in this process – unable to see circum­ stances in their proper perspective, unable to assess if an injury is warranted, unable to react with the sort of knowledge which ensures a correct choice – then they will be deficient even as educators in the home.«552

Aus dieser Sicht wären nur Männer, die selbst die volle Tugend erreichen können, geeignet, die Leitung im Habituationsprozess zu übernehmen. Diese Möglichkeit ist aus mehreren Gründen nicht ganz abwegig: Die erziehende Bezugsperson soll dem Kind Vorbild in der Tugend sein, diese selbst verwirklichen und das Kind mit seinen auf phronetischer Einsicht beruhenden Hinweisen in Bezug auf das gute Handeln leiten. Männer sind aufgrund ihrer uneingeschränkten Fähigkeit zur Vernunft aus Aristoteles‹ Sicht dazu geeignet, tugend­ hafte Menschen zu werden. Deshalb sind sie besonders geeignet, das Kind im Habituationsprozess durch ihren Rat und ihre Einsicht anzu­ leiten. Auch mit Blick auf die Vorbildfunktion, macht die Gleichge­ schlechtlichkeit Sinn. Ein Mann lebt einem Jungen vor, wie dieser in 550 Vgl. Pol. I 13, 1260a13: Die Frau besäße die Kraft zur Überlegung (bouleutikon) zwar, diese setze sich bei ihr aber nicht gegen die affektiven Kräfte in ihrer Seele durch, so Aristoteles. Sabine Föllinger macht in diesem Zusammenhang geltend, dass laut EE II 10, 1226a26ff. das Mit-Sich-zu-Rate-Gehen (bouleuesthai) ausdrücklich ein Spezifikum des Menschen im Allgemeinen sei. Die Behauptung, dieses sei bei der Frau nicht herrschend (akyron), würde sich lediglich darin ausdrücken, dass die Frau Defi­ zienzen in der Umsetzung rationaler Entscheidungen habe. Vgl. Föllinger 1996, S. 198. Selbst das ist aber für die Anleitung des Habituationsprozesses und für die Vorbildfunktion ein Problem, da die Lernenden langfristig gerade lernen sollen, gemäß vernünftiger Entscheidung zu handeln. 551 Sherman verweist darauf, dass dies ein signifikanter Unterschied zur platonischen Konzeption sei, in der Frauen auch zum Stand der Wächter gehören können. Vgl. Sherman 1989, S. 153. 552 Sherman 1989, S. 155.

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6. Die erziehende Bezugsperson und ihr Verhältnis zum Kind

Zukunft leben und welche Rolle er in der Gesellschaft einnehmen soll. Der Mann gibt dem Jungen auf diese Weise Orientierung und Anlei­ tung. Die Vermutung, der Mann erziehe, wird auch textlich gestützt. Wenn Aristoteles von Eltern und Kindern spricht, spricht er meist exemplarisch von Vater und Sohn,553 nicht von Mutter und Tochter, und auch nicht von Mutter und Sohn. Er vergleicht das Verhältnis von Vater und Sohn mit dem zwischen dem vernünftigen Seelenteil und dem Seelenteil, der passiv an Vernunft teilhat.554 Ein anderer Vergleich ist der der Monarchie: der Vater herrsche über seine Söhne und trage für sie Sorge, wie der König über seine Untertanen.555 Traditionell wurde die Rolle der sogenannten ›Knabenerzieher‹ (›pai­ donomoi‹) von Männern ausgefüllt.556 Die Sophisten sind männliche Lehrer der Tugend, die die Söhne der höheren bürgerlichen Klasse erziehen. Das Verhältnis zwischen Sokrates und Platon oder Platon und Aristoteles ist jeweils das von einem Lehrer zu einem Schüler. Aristoteles‹ traditionelles Rollenverständnis ist also in keinem Fall so zu verstehen, dass Männer aus irgendeinem Grund von der Erziehung ausgenommen wären. Auch wenn Mütter ihre Kinder nach Aristoteles ›mehr‹ lieben, ist damit gleichzeitig gesagt, dass die Väter ihre Kinder auch lieben. Warum sollte nicht auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn eines des Vertrauens und der Fürsorge sein? Problematisch bleibt hier, dass Aristoteles die Hauptaufgaben des Mannes nicht in der Familie sieht, sondern dessen Handeln sich vor allem auf die (freundschaftliche und politische) Gemeinschaft (philia) mit anderen Männern bezieht. »Its principal expression (expression of intimate attachement) will not be within the family or even towards women in heterosexual relationships, but towards other men with whom an enduring interest in virtue is shared.«557 Vgl. z. B. EN VIII 12, 1160b24ff. Vgl. EN I 13, 1102b13–1103a1. 555 Vgl. EN VIII 12, 1160b24–25; Pol. I 13, 1259b10ff. Väterlichkeit und Königlichkeit werden von Aristoteles als analoge Konzepte aufgefasst jeweils mit dem Verweis, dass die Herrschenden für die Beherrschten die Sorge tragen. 556 Vgl. Pol. VII 17, 1336a30ff. 557 Sherman 1989, S. 155. Sherman verweist richtigerweise darauf, dass Aristoteles als die vollkommene Form der Freundschaft die Freundschaft zwischen Gleichen erachtet, deren Kern darin besteht, dass sie gleichermaßen tugendhaft sind. Aufgrund der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau und der Unfähigkeit der Frau zur Tugend, 553

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6.2 Wer erzieht?

Das von Aristoteles gezeichnete Bild der Erziehung bleibt somit inkonsistent. Die Rolle des Mannes als Erzieher wird an keiner Stelle explizit ausgeführt. Die Möglichkeit, die Rolle der Frau aufzuwerten und ihr (zumindest auf die ersten Lebensjahre des Kindes bezogen) eine mögliche Vorbildrolle zuzugestehen, wird ebenso an keiner Stelle angedeutet. Die wenigen Ausführungen über Männer und Frauen und ihre Rolle in der Familie lassen sich somit nicht reibungslos in die bisher erarbeitete Theorie des Tugenderwerbs integrieren. Eine weitere offene Frage in diesem Zusammenhang ist, wie groß der Anteil der relevanten Erziehung ab dem Schuleintritt ist, und inwiefern erzieherische Aufgaben und Vorbildfunktion auch von Menschen übernommen werden können, mit denen das Kind nicht verwandtschaftlich verbunden ist. Denn es ist ebenso möglich, dass Kinder auch im Rahmen der schulischen Bildung Menschen begegnen, die sie als Vorbilder auswählen und die wiederum selbst emotional-affektiv am Gedeihen des Kindes interessiert sind sowie sich für dessen Förderung einsetzen. Ich werde daher weiterhin von der erziehenden Bezugsperson sprechen, da sich nicht abschließend klären lässt, wer diese Rolle für das Kind einnimmt.

fällt die Beziehung zwischen Mann und Frau unter die Art von Freundschaft, die asymmetrisch ist (vgl. EN VIII 8, 1158b11–14).

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7. Moralische Motivation

Der Kern der aristotelischen Erziehungstheorie entwickelt sich aus einer profunden Kritik am sokratischen Intellektualismus, wonach Tugend als eine Form von Wissen aufgefasst wird.558 Dieser bei Platon zumindest in den Frühdialogen und auch noch im Staat auftretende Intellektualismus lässt sich in drei Thesen zusammenfassen: – – –

Die Unfreiwilligkeitsthese: niemand ist freiwillig schlecht oder tut freiwillig Schlechtes559 Die Wissensthese: Tugend ist Wissen Die Einheitsthese: alle Tugenden bilden eine Einheit560

Aristoteles‹ Kritik an diesen Thesen hat zur Folge, dass er moralische Motivation selbst und ihre Entstehung alternativ erklären muss. Dies ist mit einem veränderten Tugendbegriff und einem veränder­ ten Wissensbegriff verbunden, wobei zumindest die Wurzel der Unfreiwilligkeitsthese m. E. erhalten bleibt. In den nun folgenden Kapiteln der vorliegenden Studie werde ich erklären, wie morali­ sche Motivation nach Aristoteles entsteht. Dazu werden zunächst einige metaethische Überlegungen zu moralischer Motivation vor­ 558 Vgl. Horn 2009, S. 343 mit Verweis auf Menon 87c. Im Euthyphron 6e4–6 »kommt klar die Auffassung zum Ausdruck, dass moralisches Handeln im wesentli­ chen Sache des Intellekts sei […] und dementsprechend moralische Urteile den Begriffen ›wahr‹ und ›falsch‹ unterworfen seien. Ähnlich wie für den jüngeren B. Rus­ sell besteht für Sokrates das Anliegen der Ethik also darin, wahre Sätze über Gut und Schlecht auszumachen […]. [Sokrates’] These ging offenbar dahin, dass moralisches Handeln überhaupt eine Sache des Wissens sei und daß derjenige, der über entspre­ chendes Wissen verfügt, notwendig moralisch richtig handle. In diesem Sinn scheint Sokrates die Auffassung vertreten zu haben, daß moralisches Wissen zugleich die notwendige wie auch die hinreichende Bedingung moralischen Handelns sei.« Graeser 1983, S. 94. 559 Diese These findet man, wie Horn betont, in Werken aller biografischen Phasen Platons. Vgl. Horn 2004, S. 168. 560 Horn spricht im Zusammenhang der drei Thesen von »drei Provokationen«, mit denen »der historische Sokrates das landläufige Moralverständnis und die philoso­ phische Moraltheorie seiner Zeit herausforderte.« Horn 2004, S. 168.

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7. Moralische Motivation

ausgeschickt (Abschnitt 7.1). Dann werde ich mich dem Phänomen der Akrasie zuwenden, das als der moralischen Motivation genau entgegengesetzte dispositionale Konzept wichtige Unterschiede kon­ turieren kann (Abschnitt 7.2). Hier werde ich auch deutlich machen, an welchen Stellen Aristoteles sich von Platon entfernt und inwiefern eine (überraschend große) gedankliche Kontinuität gegeben ist (Abschnitt 7.3). Darauffolgend werde ich den Begriff der moralischen Motivation in einer allgemeinen Theorie des Strebens einbetten (Abschnitt 7.4), was eine metaethische Einordnung der aristotelischen Position ermöglicht (Abschnitt 7.5). Dies bildet die Grundlage, um anschlie­ ßend verschiedene Forschungspositionen auszuwerten, die erklären möchten, wie moralische Motivation im Kind durch Habituation erzeugt werden kann (Kapitel 8).

7.1 Metaethische Vorüberlegungen zur moralischen Motivation bei Aristoteles: Aristoteles zwischen Platon und Hume Der bei Platon zumindest in den Frühdialogen und auch noch im Staat auftretende Intellektualismus hat grob umrissen folgende Form: Die Einsicht in das Gute hat zur direkten Folge, dass derjenige, der diese Einsicht hat, unter allen Umständen und Gegebenheiten immer das Gute tun möchte und tun wird. Aus der Existenz eines objektiven Grundes für eine Handlung und der Erkenntnis dieses Grundes folgt ohne Umwege auch die Motivation, diese Handlung auszuführen, sowie die praktische Kompetenz, die Handlung auf die richtige Weise auszuführen. Der platonisch-sokratische Intellektualismus wird in der Inter­ pretation John Mackies als eine Form des starken Internalismus oder auch Existenz-Internalismus verstanden,561 der sich unter die folgenden zwei Auffassungen subsummieren lässt: »In Plato’s theory of Form, and in particular the Form of the Good, are eternal, extra-mental, realities. They are a very central structural element in the fabric of the world. But it is held also that just knowing them or ›seeing‹ them will not merely tell men what to do but will ensure that they do it, overruling any contrary inclinations. The philosopher-kings in the Republic can, Plato thinks, be trusted with unchecked power because their education will have given them knowledge of the Forms. Being 561

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7.1 Metaethische Vorüberlegungen zur moralischen Motivation bei Aristoteles

1.

2.

Moralische Motivation entspringt vollständig und direkt aus der Erkenntnis moralischer Eigenschaften. Die Erkenntnis dieser Eigenschaften bewegt den Akteur, ohne dass eine weitere Quelle der Bewegung wie ein Streben oder eine Disposition benötigt würden. Wer ein moralisches Urteil fällt, ist notwendig motiviert zu handeln. Es handelt sich dabei um eine ›overriding motivation‹: Falls es andere gegenteilige Bestrebungen oder Neigungen gibt, werden diese durch die Einsicht aus (1) überwältigt/ausgemerzt oder überwogen. (overridingness)562

Diese Auffassung ist immer mit einem moralischen Realismus ver­ bunden, d. h. mit der Auffassung, dass moralische Urteile und Über­ zeugungen wahrheitsfähig sind, d. h., dass Aussagen darüber, was moralisch geboten oder nicht geboten ist, in einem objektiven Sinne wahr oder falsch sein können. Um moralische Motivation zu erklären, müssen demnach zwei Fragen beantworten werden können: 1. 2.

Worin besteht die Verbindung zwischen dem moralischen Urteil und der Motivation? (Ist sie notwendig oder kontingent?) Können moralische Urteile eigenständig bewegen/motivieren (move) oder muss eine Vermittlung durch ein Streben (desire) oder eine andere Art von konativem Zustand hinzugenommen werden?563

Die Antworten auf diese Fragen aus Sicht eines platonischen Interna­ listen gestalten sich wie folgt: Zu 1: Die Verbindung zwischen moralischem Urteil und Motivation ist notwendig und deshalb folgt letztere auf ersteres automa­ tisch und unvermittelt. Zu 2: Deshalb braucht es nicht noch etwas anderes, das bewegend hinzukommt als allein das moralische Urteil (overridingness). Im Zentrum der moralischen Erziehung bei Platon steht des­ halb Erkenntnis. acquainted with the Forms of the Good and Justice and Beauty and the rest they will, by this knowledge alone, without any further information, be impelled to pursue and promote these ideals.« Mackie 1977, S. 23f. Vgl. dazu auch Rosati 2016, S. 2. 562 Rosati 2016, S. 3. 563 Vgl. Ebd., S. 5.

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7. Moralische Motivation

Aristoteles grenzt sich durch seine Kritik am sokratisch-platonischen Internalismus von dieser Position ab und scheint deshalb auf den ersten Blick dem Externalismus zuzuordnen zu sein.564 Für einen Externalismus bei Aristoteles sprechen: 1. 2. 3.

Die Art und Weise, wie Aristoteles das Phänomen der Akrasie (akrasia) begreift (allerdings nur in der revisionistischen Les­ art). Die Art und Weise, wie Aristoteles moralische Erziehung kon­ zipiert (ein einzelnes Training suggeriert ein Auseinanderfallen von arationalem und rationalem Seelenteil) Eine Passage, die gemeinhin so verstanden wird, als behaupte Aristoteles, dass Erkenntnis nicht bewegen könnte.565

Zu 1: Die Typen des Unbeherrschten (akratēs) und des Beherrschten (enkratēs) bei Aristoteles sind Charaktere, bei denen das aratio­ nale Streben und das rationale Streben auf unterschiedliche Objekte gerichtet sind.566 Dies ist der erste Hinweis darauf, dass Erkenntnis und Motivation bei Aristoteles eventuell nicht auf notwendige Weise zusammenhängen. Zu 2: Wie in den Kapiteln 3–5 dieser Arbeit herausgestellt wurde, beschreibt Aristoteles im Rahmen seiner Theorie vom Erwerb der Tugenden, dass der nicht-rationale Teil des Menschen in der Kindheit, also dann, wenn noch keine vernünftige Einsicht vorhanden sein kann, auf die richtigen Handlungen disposi­ tional ausgerichtet werden muss. Die strebensmäßige Motiva­ tion muss also bereits vorhanden sein, bevor es überhaupt vernünftige Einsicht im Individuum gibt. Dies scheint der stärkste Hinweis darauf zu sein, dass Aristoteles der Meinung ist, dass letztlich nur das Streben, nicht aber die vernünftige Einsicht, bewege. Zu 3: Insgesamt ist es innerhalb der aristotelischen Kausaltheorie schwierig zu erklären, wie Vernunft zur Bewegungsursache werden kann, da innerhalb der aristotelischen Naturphiloso­ phie nur Körper andere Körper bewegen können, die Vernunft aber etwas Unkörperliches ist. Für diese Einordnung plädiert Kristjánsson 2013. EN VI 2, 1139a35–1139b5. 566 Dabei weicht der Unbeherrschte/Akratiker von seiner Überlegung (logismos) ab, während der Beherrschte/Enkratiker an ihr festhält. Vgl. EN VII 2, 1145b10–12. 564 565

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

Dagegen gibt es aber auch Aspekte, die für einen Internalismus bei Aristoteles sprechen. 1. 2.

Der Gute (phronimos) gewinnt durch seine Einsicht in das, was gut ist, zusätzliche Motivation. Der Ausgang der Erziehung ist nicht beliebig. Kinder können nicht auf beliebige Ziele hin erzogen werden, sondern Aristoteles nimmt eine Art natürliche Verbindung zwischen dem Guten und dem, was menschliche Kinder von Natur aus lernen können, an.

Ich möchte eine abschließende Einordnung zurückstellen, bevor ich die einzelnen Aspekte nicht im Detail besprochen habe. Im ersten Schritt muss nun verdeutlicht werden, wie Aristoteles im Unterschied zu Sokrates und Platon das Phänomen der akrasia erklärt.

7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon Das Phänomen der akrasia, verstanden als Handeln wider besseres Wissen, gilt sowohl für Sokrates als auch für Platon und Aristote­ les als zu vermeidendes menschliches Fehlverhalten, das entweder daraus resultiert, dass eine schlechte oder gar keine Erziehung genos­ sen wurde. Sokrates, Platon und Aristoteles streben als Idealverfassung des Menschen jeweils einen Zustand an, in welchem dieser so handelt, dass er jederzeit mit sich selbst übereinstimmt und gemäß seiner Erkenntnis, d. h. seinem intellektuellen Verständnis von dem, was wahrhaft gut ist, handelt. Da sich die sokratische sowie die frühe mittlere und späte platonische Position jedoch darin unterscheiden, wie sie das Phänomen der akrasia begrifflich fassen, unterscheidet sich auch die Art und Weise der Bekämpfung, Vermeidung oder Heilung des Phänomens. Im Folgenden möchte ich daher das Phänomen der akrasia bei Sokrates und Platon (kurz) skizzieren, um dann deutlich zu machen, inwiefern Aristoteles mit diesen Auffassungen bricht und in welcher Hinsicht sich eine deutliche gedankliche Kontinuität abzeich­ net. Mit seiner Diskussion der Willensschwäche knüpft Aristoteles offensichtlich an verschiedene Diskussionsstränge der sokratisch-pla­ tonischen Debatte an, in deren Zentrum Fragen der Freiwilligkeit, Zuschreibbarkeit und des inneren Konflikts bzw. der Zerrissenheit in

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7. Moralische Motivation

Entscheidungssituationen stehen. Er tut dies in einer betont kritischen Art und Weise, denn bekannterweise wirft Aristoteles Sokrates die ›Leugnung des Phänomens‹ vor.567 Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell klar, dass Sokrates das Phänomen nicht in seiner Exis­ tenz leugnet, sondern durchaus kennt und diskutiert, allerdings die Möglichkeit der akrasia für den guten Menschen für unmöglich hält. Dies macht es so spannend, zu untersuchen, ob Aristoteles diese Auf­ fassung teilt. Akrasia ist nicht die einzige seelische Konstitution, die laut Aristoteles zu vermeiden sei. Sie ist allerdings besonders relevant, weil der Akteur eigentlich weiß, was die richtige Handlung wäre, und sie doch nicht ausführt. Dies weist auf das Fehlen von etwas hin, das ich im Folgenden moralische Motivation nennen werde. Der Unmäßige (akolastos) ist natürlich auch unfähig, gute Taten zu tun, und könnte an dieser Stelle ebenfalls besprochen werden. Doch anders als dieser ist der Akratiker nicht an sich ein schlechter Mensch, sondern ihm fehlt etwas, das innerhalb meines Modells das zentrale Versatzstück ist, das einen Akteur zu einem guten Menschen macht: die Motivation entsprechend der eigenen Urteile zu handeln, und dies durchgängig bzw. zuverlässig. Deshalb ist es an dieser Stelle relevant, den Akratiker, seine seelische Konstitution und seine Deliberationsprozesse genauer zu untersuchen. Im Folgenden möchte ich so vorgehen, dass ich zunächst die sokratische Position selbst rekonstruiere und dann erläutere, worin die aristotelische Position differiert.

7.2.1 Akrasia in den Memorabilien Das Phänomen, das unter dem Begriff der Willensschwäche oder Unbeherrschtheit (akrasia) gefasst wird, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Ein Akteur tut nicht, was er für das Beste hält, obwohl er es könnte. Sokrates spricht »akrasia explizit die Eigenschaft zu, dass sie ›häufig die verwirrt, welche das Gute und das Schlechte durchaus zu beurteilen vermögen, und sie dazu bringt, statt des Besseren das Schlechtere zu wählen (Mem. IV.5.6; Übersetzung P. Jaerisch).«568 Hier bezeichnet akrasia offensichtlich eine Disposition 567 568

Vgl. EN VII 3, 1145b25ff. Müller 2009b, S. 287.

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

des Akteurs, »die als kausale Erklärung für irrationales Verhalten fungieren kann.«569 Sie bezeichnet »einen Mangel an Selbstzucht in den Bereichen Essen, Schlafen, Liebesfreuden und Faulheit und eine gewisse Weichlichkeit gegenüber äußeren Unannehmlichkeiten (vgl. hierzu Mem. I.5.1 – 2 und II.1.1).«570 Mit der Beschreibung geht eine Bewertung einher, denn für Sokrates stellt sie »eine schlimme Verfassung an Leib und Seele (Mem. I.5.5)« dar, die einer Versklavung des Menschen gegenüber seinen körperlichen Lüsten gleichkommt. Die akrasia stellt deshalb eine Form der Unfreiheit dar, die den Menschen auf die gleiche Stufe mit Tieren stellt.571 Ein Akratiker ist jemand, der »von den körperlichen Begierden beherrscht wird und um ihretwillen nicht das Beste zu tun imstande ist«572. Akrasia ist deshalb eine Form der »Beherrschung der Seele durch den Körper«573. Dies ist gleichbedeutend damit, dass der akratische Mensch ein unangemessenes Wertesystem hat, denn sein Wertmaßstab ist nicht das Gute, sondern allein das Lustvolle.574 Aus dieser Beschreibung ergibt sich folgerichtig, dass Be­ herrschtheit zur notwendigen Voraussetzung für Tugend wird. Im beherrschten Menschen kann nicht mehr der Körper (bzw. die kör­ perlichen Lüste) alles Handeln dominieren, sondern der beherrschte Mensch hat seine körperlichen Begierden unter Kontrolle. Diese damit gewonnene innere Freiheit ermöglicht es ihm, den Blick von dem abzuwenden, was nur scheinbar gut (weil unmittelbar lustvoll) ist, und sich dem zuzuwenden, was wirklich gut ist: »Vielmehr ist es dem Menschen mit Beherrschtheit allein möglich, das wahrhaft Gute an den Dingen zu betrachten und […] alsdann dem Guten den Vorzug zu geben und sich vom Schlimmen fernzuhalten«575. So wird Beherrschtheit (enkrateia) zum zentralen Ziel der Erziehung.576 Müller beobachtet hier eine »erstaunliche Umkehrung der Blickrich­

Müller 2009b, S. 287. Das Motiv der Mäßigung bleibt auch im mittleren Platon noch erhalten. Im Zuge der Diskussion der gymnastikē (Rep. 403d-404d) hält er für die Wächter eine einfache Lebensweise für die Beste. 571 Vgl. Mem. II.1.5 und IV.5.11. 572 Mem. IV.5.3. 573 Müller 2009b, S. 288. 574 Vgl. Mem. I.5.11. 575 Mem. IV.5.11. 576 Vgl. Mem. II.1–2. 569

570

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7. Moralische Motivation

tung«577. Aus Platons Politeia kann man nämlich den Eindruck gewin­ nen, dass es der Gewinn der Erkenntnis des Guten ist, der die Seele in den Zustand der Ordnung bringt, in dem die Vernunft über die anderen Seelenteile herrscht. In den Memorabilien ist die Sachlage genau umgekehrt: »Nicht die Weisheit bzw. das Wissen führen zur Beherrschtheit, sondern die Beherrschtheit im Sinne einer Herrschaft der Seele über den Körper und seine Begierden, macht Wissen und Weisheit erst möglich.«578 Selbstbeherrschung wird in den Memorabilien so zur Grundlage aller Tugenden und daher zum zentralen Ziel der Erziehung. Sokrates selbst verkörpert dieses Ziel selbst par excellence. Er wird von Xeno­ phon »als unvergleichliches Muster der Beherrschtheit dargestellt (Mem. IV.5.11)«579 Xenophon sagt im Epilog der Memorabilia über Sokrates, dass seine »Selbstbeherrschung […] ihn dazu in die Lage versetzte‚ ›niemals das Schlechtere an Stelle des Besseren zu wählen […]‹ (IV.8.11) und d. h. letztlich in keiner Situation willensschwach zu handeln!«580 Wichtig anzumerken ist hier allerdings, dass enkrateia dabei durchgängig als Grundlage für die Tugenden verstanden wird, nicht als Tugend selbst. Zudem wird sie selbst nicht als eine Form des Wissens verstanden. »Die sokratische enkrateia drückt somit erst einmal eine nicht-kognitiv fundierte Selbstbeherrschung im Umgang mit körperlichen Lüsten und Schmerzen aus: Der enkratēs beherrscht diese, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen.«581

7.2.2 Niemand tut freiwillig etwas Schlechtes – motivationaler Monismus im Protagoras Auch in den Memorabilien findet sich bereits das Axiom, dass nie­ mand freiwillig etwas Schlechtes tue. Denn auch hier behauptet Sokrates, »dass alle Menschen im Rahmen des Möglichen das wählen, was ihrer Meinung nach am zuträglichsten für sie ist, und dass sie dementsprechend handeln« (Mem. III.9.4). Diesen Ausspruch könnte man als prudentielle Lesart der oft wiederholten sokratischen Para­ 577 578 579 580 581

Müller 2009b, S. 288. Ebd. Vgl. auch Walsh 1963, S. 15. Müller 2009b, S. 288. Ebd., S. 289. Vgl. ebd., S. 289.

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

doxie, dass niemand willentlich etwas Schlechtes tue, verstehen.582 Dieses Axiom ist eng mit der sokratischen Leugnung akratischen Handelns verbunden. Er behauptet, dass niemand wider besseres Wissen handeln würde, weil niemand freiwillig etwas täte, das er nicht für gut befinde. Dies ist genaugenommen aber nicht eine Leugnung des Phänomens, sondern vielmehr eine begriffliche Ausdifferenzie­ rung. Sokrates Bedenken richten sich dabei auf zwei Probleme: Er bezweifelt einerseits die Möglichkeit synchron akratischen Handelns und er hält andererseits die Beschreibung, dass jemand von seiner eigenen Lust ›überwunden werde‹ (›ho hētto einai tōn hēdonōn‹) für unzutreffend.583 Ersteres ist mit der Behauptung der Unfreiwillig­ keitsthese verbunden, letzterer Einwand richtet sich vor allem gegen die Abweisung von Schuld und Verantwortlichkeit im Falle des akra­ tischen Handelns.

7.2.2.1 Synchronie und Diachronie In Protagoras 352d-359a macht es sich Sokrates zur Aufgabe zu widerlegen, dass jemand, der nicht gemäß seines Urteils über das Beste handelt, von der Lust (hypo hēdonē) oder einer anderen Form der emotionalen Aufwallung (vorher genannt sind Zorn und Liebe) über­ wunden (hēttōmenous) oder bezwungen (kratoumenous) würde.584 Sokrates möchte im Laufe der Analyse zeigen, dass niemand sehenden Auges etwas wählt, was er nicht für lustvoll hält, sondern letztlich immer das Lustvollste dasjenige ist, das gewählt wird.585 Entschei­ dend für die Erläuterung der akrasia im Protagoras wird somit, dass der Akteur nicht gegen sein aktuelles Urteil über das Beste handelt, Müller 2009b, S. 289. Ausgangsintuition für Sokrates ist die Auffassung, dass, wenn ein Mensch »Gutes und Böses erkannt habe, […] er von nichts anderem gezwungen werden [könnte] irgendetwas anderes zu tun, als was seine Erkenntnis befiehlt […]«. Er stellt die Auffassung, dass jemand von der Lust überwunden werden konnte zunächst als Auffassung der Menge zur Disposition. Vgl. Prot. 353c–e. 584 Vgl. Prot. 352e. 585 Ein Argument ist, dass man zum Beispiel bei einer ärztlichen Behandlung tempo­ rär Schmerzen, d. h. Unlust in Kauf nimmt, allerdings nur, weil man der Meinung ist, dass sich damit das Lustkalkül insgesamt maximiert (vgl. Prot. 353d). Platon möchte damit zeigen, dass die einzige ›Währung‹, in der sich die Überlegungen dann abspielen, die Lust ist, und es nur darum geht, ausfindig zu machen, unter welchen Bedingungen die Lust langfristig am größten ist. Vgl. Prot. 356a. 582

583

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7. Moralische Motivation

sondern dass sich sein Lustkalkül temporär verändert. Damit liegt nicht eine synchrone, sondern lediglich eine diachrone Variante von Willensschwäche vor: Der Akteur handelt »gegen sein früheres, aber im Einklang mit dem zum Handlungszeitpunkt präsenten Urteil, das durch die räumliche bzw. zeitliche Nähe des Gegenstands übermäßig affiziert und deshalb verkehrt wird.«586 Dass dies überhaupt möglich ist, so die Deutung Müllers, läge daran, dass sein Urteil oszilliere, d. h. sich zwischen zwei unterschiedlichen Auffassungen hin- und herbewege. »Deshalb bedauert bzw. bereut er [der Handelnde/Akra­ tiker] sein Verhalten auch später (356d: metamelein).«587 Urteile, die der Akteur im Rahmen seiner alltäglichen Lebensführung gefällt hat, werden durch einen Gegenstand oder eine Handlung, die im gegebenen Moment besonders lustvoll erscheint, temporär in den Hintergrund gedrängt.588 Diese Form der Fehlerhaftigkeit wird offen­ sichtlich auf eine mangelnde Stabilität des Wissens zurückgeführt.589 Hier kommt die Gestalt der platonischen Epistemologie zum Tragen. »Das thematische Leitmotiv ist an dieser Stelle eindeutig die episte­ mische Unzuverlässigkeit der körperlichen Sinne und die unstete, sich immer wandelnde Gestalt der Wahrnehmungen.«590 Nicht zu wissen, was eigentlich gut ist, wird von Platon damit gleichgesetzt, nicht über die richtige Kunst des Messens (metrētikē) hinsichtlich der richtigen Auswahl von Lust und Unlust zu verfügen.591 Hier hat sich offensichtlich die Blickrichtung verändert bzw. der kausale Zusammenhang: es ist die Erkenntnis des Wahren und Guten,

Müller 2009b, S. 290. Ebd. 588 Die Möglichkeit des Oszillierens im Urteil bzw. die Möglichkeit von einem Gegenstand temporär so stark affiziert zu werden, dass frühere Urteile in den Hinter­ grund rücken, führt Aristoteles nicht auf einen Mangel an epistemischer Stabilität, sondern auf einen Mangel in der Verankerung solcher Urteile im Habitus zurück. Wenn Urteile als verbindliches Wissen fest im Handeln eines Individuums verankert sind, dann können sie nicht kurzfristig in den Hintergrund rücken. 589 Müller verweist zurecht darauf, dass das Oszillieren des Urteils kausal darauf zurückzuführen ist, dass »es nicht auf konstantem und unveränderlichem Wissen ruht, sondern auf dem schwankenden Boden des bloß sinnlich ›Erscheinenden‹ (phantas­ mata: 356d) steht.« Eine ›falsche Meinung‹ (pseudē doxa) bzw. eine Täuschung darüber, was das wirklich Wichtige ist (358c), ist der kausale Grund für die Möglich­ keit von Akrasie. Vgl. Müller 2009b, S. 291f. Mit ›pseudo-akratisch‹ bezeichnet Müller einen Akteur, bei dem diachrone Willensschwäche vorliegt. 590 Müller 2009b, S. 291. 591 Vgl. Prot. 357a–b. 586 587

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

die dafür sorgt, dass sich keine Verzerrungen in der Wahrnehmung des Guten einstellen. Sokrates greift sodann auf eine zu Beginn des Dialogs eingeführte These zurück, dass das Wissen, immer dann, wenn es in reiner Form vorhanden sei, stärker sei, als alle anderen Bestrebungen in der menschlichen Seele.592 Damit ist zumindest die Möglichkeit, von der Lust überwunden zu werden, für den Fall des erkennenden Menschen widerlegt. Akrasia wird also nicht in ihrer Möglichkeit für alle Menschen geleugnet, sondern nur für den Menschen, der das wahrhaft Gute erkannt hat.593 Insofern ist die Schlussfolgerung, dass akrasia als Unwissenheit bzw. Unverstand (amathia) zu deuten ist,594 nicht mehr von der Hand zu weisen. Im Umkehrschluss lässt sich daher festhalten: »Wer über wahres Wissen verfügt, kann von seinem Urteil nicht abgebracht werden.«595 Wahres Wissen versteht Platon nämlich als etwas »Starkes (ischyron), Leitendes (hēgemonikon) und Beherrschen­ des (archikon)«596, das nicht von anderen Kräften wie Zorn, Liebe oder Unlust überwogen werden könne. Das von Platon verwendete Bild ist aufschlussreich: Das Wissen ist nicht Sklave der Leidenschaft, sondern ihr Herr. Wenn die Intensität des Wissens groß genug ist, und das ist bei wahrer Erkenntnis der Fall, dann kann der Mensch »von nichts anderem mehr gezwungen werde[n], irgendetwas anderes zu tun, als was sein Wissen ihm befiehlt‹ (352c).«597 Der platonische Sokrates formuliert also im Protagoras eindeutig die Auffassung, die später unter dem Schlagwort ›overridingness‹ diskutiert wird: Die klare Erkenntnis des Guten überwiegt alle anderen seelischen Impulse. Sokrates verteidigt hier, wie Müller richtig herausarbeitet, die »These vom Tugendwissen als einer hinreichenden Bedingung für richtiges bzw. gutes Handeln.«598 592 »Als wir beide miteinander einverstanden waren, es gebe nichts Stärkeres als die Erkenntnis, und wo sie nur wäre, herrschte sie auch überall über die Lust und alles andere.« Prot. 357c. 593 Aristoteles schließt sich dieser These in gewisser Weise an, weil er auch der Meinung ist, dass der gute Mensch, d. h. in seinem Fall derjenige Mensch, der volle phronēsis erreicht hat und dementsprechend auch die ethische Tugend verwirklicht hat, nicht akratisch sein kann. Tugend und akrasia schließen sich auch bei Aristoteles aus. Vgl. EN VII 3, 1146a4ff. 594 Prot. 357d–e. 595 Müller 2009b, S. 290. 596 Vgl. Prot. 352b. 597 Müller 2009b, S. 291. 598 Ebd.

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7. Moralische Motivation

Der frühe Platon verteidigt so weiterhin den motivationalen Monismus: der Mensch tut immer das, was ihm als am besten erscheint, nur kann sich das bei einem akratischen Menschen tempo­ rär verändern. Platon hält somit an der sokratischen Unfreiwillig­ keitsthese fest.599 Vorkommnisse des Scheiterns werden demnach an der Art und Weise festgemacht, wie Wissen beim Akratiker vorliegt. Das Problem des akratischen Menschen besteht darin, »dass er nicht bei seiner Meinung bleibt, sondern ›der Macht der Erscheinung (hē tou phaino­ menou dynamis: 356d) erliegt […]«600 Die Erklärung der Akrasie im Protagoras ist damit eine rein epistemische, denn entscheidend ist die fehlende Festigkeit des Wissens. Außerdem festzuhalten ist, dass es sich beim historischen Sokrates und frühen Platon um einen Leib-Seele-Konflikt handelt, nicht um einen innerseelischen Konflikt, wie es für Aristoteles‹ Verständnis von akrasia der Fall ist.

7.2.3 Synchrone Willensschwäche im mittleren Platon: Der Fall Leontios Der Fall Leontios bringt die Diskussion um Akrasie auf die nächste Ebene, da hier offensichtlich die Möglichkeit von synchroner Willens­ schwäche in Betracht gezogen wird. Leontios verspürt in sich das starke Bedürfnis, die nach einer Hinrichtung aufgebahrten Leichen zu bestaunen. Er weiß gleichzeitig, dass das kein Verhalten ist, das aus einer rationalen Perspektive moralisch vertretbar wäre. Nach einer Phase des inneren Kampfes begafft er ›von der Begierde überwunden‹ (kratoumenos d‹oun hypo tēs epithymias) die Leichen. Währenddessen ruft er aus: »Da habt ihr es nun, ihr Unseligen, sättigt Euch an dem schönen Anblick!«601 Offensichtlich gibt Platon hier den motivationalen Monismus zugunsten eines Seelenteilungsmodells auf, in dem es unterschiedli­ che Bestrebungen gibt. Der Fall Leontios ist außerdem besonders Vgl. Horn 2004, S. 168. Horn verweist zudem darauf, dass sich diese im gesamten Werk affirmiert findet. 600 Müller 2009b, S. 291. Müller sieht das im Gegensatz dazu, dass er ›nicht bloß‹ von der Lust überwunden werde. M. E. ist das aber gleichbedeutend: von der Lust überwunden werden heißt, dass andere Urteile in den Hintergrund rücken. 601 Rep. 440a. 599

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

dramatisch, da die einzelnen Seelenteile offensichtlich vehement miteinander streiten und auch noch eigene Stimmen erhalten. Die unterschiedlichen Strebungen in ihm erscheinen daher wie autonome Akteure, »weshalb sie auch untereinander kommunizieren bzw. über­ redend aufeinander einwirken können (Rep. 441c).«602 Christopher Bobonich bemerkt dazu: »Each of these three parts is agent-like: each is the subject of psychic states, activities and capacities, that are normally attributed to the whole person.«603 Man erhält fast den Eindruck, dass es sich um einen pathologischen Fall einer multiplen Persönlichkeit handelt. Dieser Fall von ›klarsichtiger‹ Akrasie gefähr­ det in gewisser Weise die Auffassung von einer Einheit der Person.604 Dass ein Mensch, falls er seinen Begierden zu sehr nachkommt, in den Wahn abrutschen kann, zeigt jedoch der Fall des tyranni­ schen Menschen (tyrannos), der tatsächlich völlig die Kontrolle über sich verliert.605 Auch wenn diesbezüglich wesentlich mehr zu bemerken wäre, möchte ich hier nur zwei Aspekte herausgreifen: Erstens, der Kon­ flikt, der beim historischen Sokrates noch zwischen Seele und Kör­ per bestand, hat sich bei Platon zu einem innerseelischen Konflikt gewandelt.606 Zweitens, mit der Formulierung eines motivationalen Pluralismus verändert sich die Beschreibung des Phänomens der Willensschwäche. Diese liegt nämlich dann vor, wenn die Begierde im innerseelischen Kampf die Oberhand gewinnt und die Vernunft bzw. der innere Mensch die Kontrolle bzw. Herrschaft über das Handeln verliert.607 Es handelt sich damit nicht mehr um die Herrschaft des Körpers über die Seele, sondern um ein Ungleichgewicht innerhalb der Seele, das dadurch ausgelöst wird, dass die Begierde übermächtig wird. Im Umkehrschluss besteht die seelische Gesundheit bzw. die seelische Konstitution des guten Menschen darin, dass die Vernunft Müller 2009b, S. 298. Bobonich 1994, S. 3. Bobonich betont, dass man die Seelenteile nicht rein meta­ phorisch verstehen, sondern das Seelenteilungsmodell und seine Rolle für Platons Staat ernst nehmen sollte. 604 Vgl. Müller 2009b, S. 302. Platon scheint allerdings kein Problem mit der Zuschreibungs- und Verantwortungsfrage zu haben, weil es gerade eine Pointe des sokratischen Intellektualismus ist, dass jeder selbst dafür verantwortlich ist, ob er von seinen Begierden beherrscht wird oder ob es ihm gelingt, seine Begierden zu beherr­ schen. Vgl. Horn 2004, S. 168. 605 Vgl. Rep. 573a-b und 574d. 606 Vgl. Müller 2009b, S. 298. 607 Vgl. Rep. 589a-b. 602

603

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7. Moralische Motivation

in ihm dominant ist bzw. herrscht. Platon fasst den Zustand der Herr­ schaft jedoch als eine Harmonie auf, welche durch die philosophische Einsicht gewonnen wird. So gelingt es dem Menschen »sich mittels der Gerechtigkeit auf die Idee des Guten als Letztziel zu orientie­ ren.«608 Dass dies der Fall ist, ist laut der Politeia einem aufwendigen und langwierigen Prozess der Erziehung und (Charakter-)Bildung geschuldet, die bei ihrem erfolgreichen Abschluss zur Erkenntnis der Idee des Guten führt.609 Auch Platon ist somit weit davon entfernt zu behaupten, eine Erkenntnis müsse sich ›einfach einstellen‹ und damit sei das rich­ tige Handeln sicher garantiert. In seinem Erziehungsprogramm fin­ den sich weiterhin die Aspekte der Abhärtung gegen körperliche Bedürfnisse und der Festigung des Charakters durch Übung wie auch intellektuelle Aspekte wie Dialektik und explizite Lehre. Dies sind Aspekte, die in Platons Spätwerk noch stärker ausformuliert und bei Aristoteles grundsätzlich zu einer neuen Herangehensweise transformiert werden. Bemerkenswert bei Platon ist auch die latente Verknüpfung von akrasia mit Krankheit und Vernunftherrschaft mit Gesundheit.

7.2.4 Akrasia beim späten Platon Im platonischen Spätwerk ist eine Entwicklung weg vom dualistischen Leib-Seele-Verständnis hin zu einem eher ganzheitlichen/holisti­ schen Ansatz zu verzeichnen. Das Phänomen der Unbeherrschtheit wird zwar weiterhin (im Gegensatz zum Protagoras) begrifflich von dem der Unwissenheit unterschieden,610 aber sowohl Beschreibung (a) als auch Erklärung (b) des Phänomens der akrasia stehen im dia­ metralen Widerspruch zur sokratischen Position des Protagoras: »(a) jemand handelt gegen sein Urteil über das Beste, (b) weil er von seinen Leidenschaften (sei es nun Eifer oder Begierde) überwunden wird.«611 Platon räumt hier ein, dass zwischen der intellektuellen Evalua­ tion einer Handlung und der affektiven Motivation, diese auszufüh­ ren, eine Diskrepanz bestehen kann: »Es gibt Menschen, die wohl 608 609 610 611

Horn 2009, S. 346. Vgl. Platon Rep. VI–VII. Müller 2009b, S. 303. Ebd., S. 304.

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7.2 Willensschwäche (akrasia) bei Aristoteles in Abgrenzung zu Sokrates und Platon

wissen, dass sie besser etwas anderes täten als das, was sie tun, […] weil sie sich irgendwie von Lust und Schmerz besiegen lassen.«612 Trotzdem ist diese Beschreibung explizit auf »den großen Haufen der Menschen«613 bezogen und nicht auf den tugendhaften Menschen. Der Gedanke, dass es sich bei der akrasia um einen krankheits­ ähnlichen Zustand handelt, ist noch stärker ausgeprägt, wobei das Motiv des Streites der Seelenteile erhalten bleibt.614 Akrasie hat weiterhin einen zwingenden bzw. gewaltsamen Charakter.615 Im Timaios ist, wie Müller überzeugend herausarbeitet, eine Akzentverschiebung zu bemerken. Als Ursache für die Unbeherrscht­ heit sieht Platon eine gewisse körperliche Konstitution, in der sich der Mensch unwillentlich und aufgrund von schlechter Erziehung befindet.616 Akrasia als Zustand, der sich kausal aus der Verfassung des Körpers ergibt, kann so nicht durch die intellektuelle Aufklärung des Handelnden behoben werden, sondern nur durch eine Kur, »die seine gesamte motivationale Einstellung verändert.«617 Platon sieht dazu vor allem Strafen als das richtige Mittel an, das bei demje­ nigen, der schlecht handelt, eine »Art konditionierende Wirkung entfalten soll.«618 Platon versteht akrasia im Spätwerk als physiologisch beding­ tes Phänomen, das keinesfalls (allein) durch Belehrungen auf der intellektuellen Ebene behoben werden kann, sondern dem vielmehr durch eine kombinierte Strategie begegnet werden muss, die körper­ lich-affektive wie auch kognitive Aspekte umfasst.619 Der Aspekt der kombinierten Strategie wird von Aristoteles später aufgegriffen und systematisch weiterentwickelt.620 Auch die Idee, dass die Gesetze

Leg. 902a-b. Ebd. 734b. 614 Vgl. Soph. 228b. 615 Müller 2009b, S. 305. Müller verweist auf Leg. 863b, wo explizit der Begriff bia gebraucht wird, sowie auf Leg. 734, wo die Vehemenz von Lust- und Unlustgefühlen betont wird. 616 Vgl. Tim. 86d-e. 617 Müller 2009b, S. 307. 618 Ebd. Ein Gedanke, den Aristoteles dann für die Erziehung von Kindern aufgreift. 619 Ebd., S. 307. Müller macht das an Tim. 88b-c fest, wo es heißt »Es gibt nur eine Rettung […]: Weder die Seele ohne den Körper noch den Körper ohne die Seele in Bewegung zu setzen, damit beide […] gleichgewichtig und gesund werden.« 620 Vgl. Kapitel 8. 612

613

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7. Moralische Motivation

gegenüber den Bürgern einen erziehenden Effekt haben, findet sich bei Aristoteles wieder.621

7.2.5 Die Überwindung der akrasia: Kur und Heilung bei Sokrates und dem frühen Platon Beim xenophonischen Sokrates ist die Heilung von der Akrasie eine Form der Beherrschtheit, die das Verhältnis zwischen Seele und Körper so gestaltet, dass der Körper nicht die oben beschriebenen verzerrenden Effekte auf die Seele haben kann.622 Dieses als gesund angesehene Verhältnis zwischen Körper und Seele wird durch Abhär­ tung und Training erreicht und sorgt dafür, dass das Wissen eines Akteurs nicht von den Begierden verzerrt werden kann, und deshalb im Handeln zuverlässig greift. Erst der platonische Sokrates im Protagoras ist es, der allein auf die Kraft des Wissens setzt, das, ist es einmal erlangt, die ganze Seele transformiert, weil es als etwas Herrschendes und Leitendes in der Seele alle anderen seelischen Bestrebungen überstrahlt.623 Dabei ist der »normative Zielpunkt, das gegen den Einfluss der Sinnlichkeit resistente Tugendwissen, […] beiden gemeinsam.«624 Resümierend kann demnach gesagt werden, dass die »sokratische Position in Sachen akrasia […] insgesamt auf zwei Säulen [ruht]: - einem primär in seinen kognitiven Implikationen (Urteilszuverläs­ sigkeit und -festigkeit) bedeutsamen Leib-Seele-Dualismus - einem evaluativen und motivationalen Monismus im Handlungs­ urteil: Der Akteur tut letztlich doch das, was er für das Beste hält, auch wenn dies im Falle der unbeherrschten Seele das objektiv Schlechte ist, insofern sie sich dem Körper angeglichen hat und deshalb seinen Begierden nachjagt.«625

Hinzuzufügen ist, dass das Argumentationsziel im Protagoras darin besteht, zu zeigen, dass das behauptete Überwunden-Werden durch 621 Vgl. In Leg. 862d sagt der Athener, dass das Gesetz »belehrt und zwingt«. Aristoteles spricht von der zwingenden Kraft des Gesetzes EN X 10, 1180a20–25. 622 Vgl. Müller 2009b, S. 295. 623 Vgl. ebd. 624 Ebd. 625 Ebd.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

die Lust des Unbeherrschten selbstwidersprüchlich ist. Der Monis­ mus wird formuliert, um diesen Widerspruch abzuwenden. Das Phä­ nomen der Unbeherrschtheit wird aber auch hier nicht generell geleugnet, sondern nur für den guten Menschen, der die Idee des Guten geschaut hat, für unmöglich gehalten.626 Für alle anderen Men­ schen ist Akrasie weiterhin möglich, wenn auch nur in einem dia­ chronen Sinne.

7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position und Aristoteles’ alternative Lösungsvorschläge Wie reagiert Aristoteles nun auf die gerade skizzierte Problemlage und Thesenentwicklung? Dieser Frage möchte ich anhand einiger für die vorliegende Untersuchung relevanter Aspekte nachgehen. Dies wird durch zwei Umstände erschwert. Die Abhandlung zur akrasia bei Aristoteles in EN VII 3 ist ein ungemein schwieriger Text, der aufgrund seiner Inkonsistenzen eine enorme und diverse Menge an Forschungsliteratur verursacht hat, die im Rahmen die­ ser Arbeit nur ausschnittsweise in Bezug auf die hier relevanten Problemstellungen ausgewertet werden kann. Zudem bietet dieser Text eine eher intellektualistische Analyse der akrasia, die eine große Nähe zur sokratischen Position aufweist, und im größeren Rahmen von Aristoteles‹ ethischen Vorhaben eher überrascht, bzw. aus dem Rahmen fällt.627 Bei einer genaueren Analyse der Psychologie des Handelns bei Aristoteles lässt sich aber auch eine revisionistische Theorie der Akrasie entwickeln (siehe Jörn Müller, David Charles628), die sich nicht auf die kognitiven Defizite des Akratikers fokussiert, sondern auf ein motivationales Defizit, das darin besteht, dass sich dessen Streben nicht auf der Realisierung seiner durch vernünftige Überlegung formulierten Ziele richtet, sondern stattdessen der Lust folgt. Besonders dieses Verständnis von Akrasie ist für die vorliegende Studie von Bedeutung. 626 Im Abschluss der Argumentation sagt Sokrates triumphierend: »ihr aber wolltet behaupten, die Lust herrsche oftmals auch über den erkennenden Menschen« (Prot. 357c), genau dies aber wurde widerlegt. 627 Vgl. Müller 2009a, S. 138. 628 Vgl. ebd., S. 136–512 und Charles 1984, S. 109–197.

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7. Moralische Motivation

Da es in der vorliegenden Arbeit aber nicht darum geht, eine vollständige und umfassende Analyse der Akrasie bei Aristoteles zu erarbeiten, sondern im Rahmen einer Erziehungstheorie die Erklä­ rung von fehlender moralischer Motivation zu erläutern, kann sich die nun folgende Diskussion nicht maßgeblich an EN VII orientieren, sondern muss das gesamte Corpus in den Blick nehmen. Systematisch werde ich mich auf drei thematische Felder konzentrieren. Diese umfassen erstens die Frage nach dem Modell der Seelenteilung und seiner Rolle bei der Erklärung der Akrasie als innerseelischen Kon­ flikt. Zweitens die aristotelische Kritik am sokratisch-platonischen Wissensbegriff und die Besonderheiten der phronēsis als praktischer Vernunft. Und drittens die Grundtendenz eines motivationalen Monismus und der Frage seiner Vereinbarkeit mit der Freiwilligkeit von akratischem Handeln bzw. der Verantwortung für ebendieses. Ich beginne mit der Analyse des textlichen Befundes.

7.3.1 Definition und textlicher Befund Aristoteles versteht Unbeherrschtheit bzw. Akrasie (akrasia) als see­ lische Disposition, die dazu führt, dass der Unbeherrschte »von seiner Überlegung (logismos) abweicht.«629 D. h. er vollzieht Handlungen, die seiner rationalen Überlegung widersprechen.630 Das Besondere am Akratiker ist, dass er diese rationalen Überlegungen durchaus hat und deshalb auch über ein intellektuelles Verständnis über das verfügt, was gut ist, dieses Wissen aber gleichzeitig nicht mit seinem motivationalen Setup verbunden ist. Aristoteles spricht davon, dass es nicht mit ihm ›verwachsen‹ sei.631 Der Akratiker unterscheidet sich deshalb vom Schlechten (kakos), der keine Auffassung vom Guten hat, auf der intellektu­ ellen Ebene. Konsequentialistisch betrachtet unterscheidet er sich allerdings nicht vom Schlechten, da auch der Akratiker entweder schlechte Handlungen ausführt oder gute Handlungen unterlässt. Im Gegensatz zum Schlechten stehen die Handlungen, die der Akratiker ausführt, aber im Widerspruch zu seinem übrigen Werte­ system. Die Falschheit seiner Handlungen sind dem Akratiker in 629 630 631

EN VII 3, 1145b10–12. Vgl. EE II 7, 1223a36ff. Vgl. EN VII 5, 1147a22ff.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

gewisser Weise bewusst. Dennoch kann er sich nicht von ihnen distanzieren, weil er von den Begierden beherrscht wird: »Der Unbe­ herrschte weiß, dass es schlecht ist, was er tut, und tut es dennoch wegen des Affekts (pathos).«632 Deshalb sind zwei seelische Zustände charakteristisch für den Unbeherrschten. Wenn er die unbeherrschte Handlung ausführt, empfindet er einerseits Lust, weil er dem folgen kann, was er begehrt.633 Andererseits hat er ein gegenteiliges ver­ nünftiges Streben in sich, das seiner Handlung entgegensteht und so ahnt er, dass er sein Verhalten bedauern wird. Aristoteles spricht von einer Unlust-Erwartung.634 Ein weiterer Indikator für den Akratiker ist sein Bedauern nach der Handlung, sobald ihm bewusst wird, dass diese mit seinem rest­ lichen Wertesystem nicht übereinstimmt. In diesen beiden Aspekten unterscheidet sich der Unbeherrschte von jenem Menschen, der allein von der Lust geleitet wird: Dieser empfindet nämlich keine Unlust, weil er keine widerstrebenden Erkenntnisse hat und außerdem emp­ findet dieser nach dem Handeln weder Reue noch Bedauern. Auf der innerseelischen Ebene ist der Beherrschte das Gegen­ stück zum Akratiker: »Der Beherrschte andererseits weiß [näm­ lich], dass die Begierden schlecht sind und folgt ihnen wegen der Überlegung (logismos) nicht.«635 Dem Beherrschten und dem Unbe­ herrschten ist also gemeinsam, dass sich ihre Seelenteile in einem innerseelischen Konflikt befinden, wobei sich beim Beherrschten die Vernunft durchsetzt und beim Unbeherrschten nicht. Deshalb hat der Beherrschte konsequentialistisch betrachtet die größere Nähe zum Tugendhaften; es gelingt ihm nämlich, das Gute zu tun bzw. etwas Schlechtes zu unterlassen. Warum besteht das Ziel der Erziehung bei Aristoteles aber nicht schlechtweg darin, Beherrschung über die Begierden zu erlangen, wie beim frühen Sokrates? Hier wird eine erste Innovation bei Aristoteles deutlich. Das Problem ist, dass der Beherrschte immer noch einen seelischen Konflikt austrägt, auch wenn die Vernunft diesen gewinnt. Er tut das Gute nicht gerne, sondern muss sich dazu zwingen. Die Disharmonie in der Seele verursacht bei ihm Unlustgefühle. Deshalb fallen bei Aristoteles »Unbeherrschtheit und 632 633 634 635

EN VII 2, 1145b12–13. Vgl. EE II 8, 1224b19–20. Vgl. EE II 8, 1224b20–21. EN VII 2, 1145b13–14.

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7. Moralische Motivation

Beherrschtheit […] nicht unter die Begriffe von Tugend und Laster, sondern konstituieren moralische Zustände sui generis.«636 Aristo­ teles betrachtet die enkrateia trotzdem als lobenswerten seelischen Zustand. Vermutlich deshalb, weil der Beherrschte sich konsequen­ tialistisch nicht vom Tugendhaften unterscheidet. Gleichzeitig hält er sie aber nicht für jenen Zustand, den es zu erstreben gilt. Dies ist allein die Tugend (aretē). In dieser ersten Analyse wird allerdings deutlich, und dies wird auch aus anderen Texten ersichtlich, die in der vorliegenden Arbeit bereits besprochen wurden, dass Aristoteles ein Seelenteilungsmo­ dell vertritt, in dem unterschiedliche Seelenteile auf unterschiedliche Gegenstände ausgerichtet sein können, und in dem den unterschied­ lichen Seelenteilen je eigene Tugendformen zugeschrieben werden. »Damit erscheint es erst einmal so, als ob Aristoteles sich ebenso wie Platon vom evaluativen Monismus sokratischer Prägung verabschiedet hat und von verschiedenen, miteinander konkurrierenden und konfli­ gierenden Motivationsquellen des Handelns ausgeht.«637

Im Folgenden möchte ich diesem Aspekt als erstes nachgehen.

7.3.2 Besondere Aspekte der Analyse akratischen Handelns in EN VII Im siebten Buch der Nikomachischen Ethik präsentiert Aristoteles eine eher intellektualistische Analyse der Akrasie, die eine starke inhaltliche Nähe zur sokratischen Position aufweist. Er fokussiert sich hier vor allem auf die Frage, inwiefern Wissen beim Akratiker vorliegt und um welche Form von Wissen es sich dabei handelt, bzw. unter welcher Beschreibung man beim Akratiker von einem Unwissenden sprechen könnte: »Zuerst müssen wir untersuchen, ob die Unbeherrschten wissend (eidōs) handeln oder nicht und in welcher Weise unwissend.«638 Der Lösung dieses Problems widmet sich der Abschnitt VII 5, der traditionell in vier Teile eingeteilt wird, wobei sich Teil (1) und (3) mit der Ausdifferenzierung des Begriffs Wissen 636 637 638

Müller 2009a, S. 114. Ebd. EN VII 4, 1146b8–9.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

(epistēmē) beschäftigen und die Teile (2) und (4) dieses mit dem praktischen Syllogismus verbinden.639 Aristoteles beginnt mit einer grundlegenden Unterscheidung. Wissen könne einerseits besessen (echein), andererseits genutzt (chresthai) werden. Müller erläutert dazu, dass Aristoteles unter­ scheide »zwischen jemand, der über ein Wissen habituell verfügt, es aber aktuell nicht anwendet und jemand, der es aktualisiert bzw. zur Anwendung bringt, indem er es betrachtet (theorein).«640 Ein Mensch könne somit über ein bestimmtes Wissen verfügen, während es trotzdem auf die aktuelle Handlung nicht angewendet werde. Es ist also möglich, »dass der Akratiker das für die Ausführung der Handlung relevante Wissen (oder zumindest Teile davon) zum Zeitpunkt der Tätigkeit nicht aktualisiert bzw. anwendet.«641 Anstatt von einer Nicht-Aktualisierung kann man auch davon sprechen, dass das Wissen zum Zeitpunkt der Handlung ›blockiert‹ ist.642 Diesen Zustand vergleicht Aristoteles wiederholt mit dem Zustand des Schlafs bzw. der Trunkenheit, in welchem »Wissen […] zwar immer noch vorhanden, nicht aber ad libitum verfügbar«643 ist.644 Um nun genauer zu klären, welche Art von Wissen dem Akrati­ ker zum Zeitpunkt der Handlung nicht aktual zur Verfügung steht, kommt Aristoteles auf den praktischen Syllogismus, der in seiner Philosophie bekanntermaßen die Genese von Handlungen erklärt. Man kann den praktischen Syllogismus nach folgendem Schema konstruieren: Eine Handlung (z.B. etwas Süßes essen) kommt zustande, wenn aus einem Obersatz, der eine allgemeine Regel ent­ hält, (z. B. »Man soll alles Süßes genießen«) und einem Untersatz, der Die genaue Aufteilung lautet wie folgt: (1) EN VII 5, 1146b31–35; (2) EN VII 5, 1146b35–1147a10; (3) EN VII 5, 1147a10–24; (4) EN VII 5, 1147a24–b19. Diese Ein­ teilung habe ich von Müller übernommen. Vgl. Müller 2009a, S. 116. 640 Müller 2009a, S. 116. 641 Mele 1981 hat versucht zu beweisen, dass das Nichtanwenden einer Proposition p bei Aristoteles kompatibel damit ist, dass p im Bewusstsein des Handelnden gegeben ist. Vgl. Müller 2009a, S. 116. 642 Vgl. Müller 2009a, S. 117. 643 Ebd. 644 Die metaphorische Vergleichsebene wird später noch einmal verändert. Dann spricht Aristoteles von jemandem, der von der Leidenschaft übermannt ist, aber mathematische Beweise aufsagt, oder jemandem, der gerade im Begriff ist, etwas zu lernen, und dabei die zu lernenden Sätze ohne Verständnis aufsagt. Diese Beispiele sollen zeigen, dass das Wissen mit dem Akteur noch nicht verwachsen ist. Vgl. EN VII 5, 1147a22ff. 639

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7. Moralische Motivation

ein partikulares Wissen über eine bestimmte Situation enthält (z. B. »dieses hier ist eine Süßigkeit«), die Handlung resultiert (»ich esse dieses hier«). Unter dieser Beschreibung muss man zu dem Schluss kommen, dass »im Falle des Akratikers das Wissen des Untersatzes nicht gegeben ist.«645 D. h., dass dem Akratiker das Wissen über das konkrete Einzelding fehlt. Auf ein moralisches Beispiel angewandt, ließe sich dies folgendermaßen konstruieren: Der Akratiker weiß, dass man anderen Leuten helfen soll (Obersatz). Er kommt an einem Teich vorbei und sieht, dass jemand gerade ertrinkt (e). Es gelingt ihm allerdings nicht, diese Situation (e) als eine zu erkennen, in der seine Hilfe gefragt ist, d. h., als eine Situation, die unter den Typ (E) = ›ich muss helfen‹, fällt. Der praktische Syllogismus käme nicht zustande, weil der Untersatz fehlt. Problematisch daran ist, dass Aristoteles das Zustandekommen des akratischen Handelns aber wie einen praktischen Syllogismus erklärt (Müller sieht zumindest in EN VII 5, 1147a35–1147b5 genau das gegeben). Um dieses Problem zu lösen, wurden verschiedene Strategien vorgelegt. Aus Müllers Sicht kann eine sinnvolle Lösung, die bei der eben dargelegten traditionellen und textnahen Lösung bleibt, nur »bei der Frage ansetzen, in welcher Weise das Nichtwissen des Untersatzes sinnvoll konzipiert werden kann.«646 Dabei gibt es folgende Lösungen: (1) Der Obersatz und der Untersatz werden zwar beide aktuell gewusst, aber nicht in Verbindung miteinander gebracht, weshalb auch die Schlussfolgerung (d. h. die Handlung) ausbleibt (Joa­ chim 1951, Gauthier/Jolif 1970).647 (2) Der Untersatz könnte auch aus mehreren Sätzen bestehen und einer oder mehrere davon werden nicht aktuell gewusst (Thomas von Aquin).648 (3) »Eine andere Möglichkeit liegt darin, dass der relevante Untersatz zwar inhaltlich bewusst ist, aber sein Widerspruch zu übergrei­ fenden Zielen des Handelnden, also etwa im Hinblick auf sein Wohlbefinden in toto, latent bleibt.«649

645 646 647 648 649

Müller 2009a, S. 118. Ebd., S. 119. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 120.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Der Akteur müsste also in unserem Beispiel tatenlos an dem Ertrin­ kenden im Teich vorbei gehen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass dieses Verhalten nicht mit seinem allgemeinen Ziel, ein gutes Leben zu führen, in Einklang steht. Keiner der ›Reparaturversuche‹ zum Verständnis des Untersat­ zes beim Unbeherrschten überzeugt. Außerdem bestehen weiterhin folgende drei Probleme:650 (1) Unter den dargestellten Beschreibungen kommt der praktische Syllogismus genau genommen nicht zum Abschluss. Aristoteles spricht aber davon, dass der Akratiker gegen seine prohairesis handle. Dann wäre akrasia nur im Sinne der Übereilung, nicht aber als Schwäche plausibel. (2) Aus dem beschriebenen inneren Konflikt wird so ein rein kogni­ tives Problem: »What is missing in this formal theory is the recognition that incontinence is due not to failure of knowledge, but to weakness of will.«651 (3) Wenn man Willensschwäche so erklärt, kommt sie einer Unwis­ senheit über die Handlungsumstände gleich. »In EN III wird jedoch gerade diese Form des partikulären Unwissens als ein Kri­ terium für die Unwillentlichkeit von Handlungen herangezogen. Da Aristoteles selbst in EN VII (1152a15–16) den Unbeherrschten jedoch unzweideutig als willentlich Handelnden (hekōn) kenn­ zeichnet, entsteht auch hier scheinbar ein Widerspruch.«652 Die Einwände Müllers in Bezug auf die aristotelische Behandlung der akrasia sind mithin berechtigt und nachvollziehbar. Unabhän­ gig davon ist jedoch an dieser Stelle schon Folgendes gezeigt: Der phronimos als derjenige Mensch, der die Tugend verwirklicht, ist tatsächlich jemand, dem die Subsumtion einer Situation unter den Typ von Situation ›hier ist moralisches Handeln geboten‹ gelingt. Der phronimos würde also, ginge er am Teich vorbei, wissen, dass dies eine Situation ist, in der seine Hilfe gefragt ist. Der phronimos verfügt also über die praktische Kompetenz, Situationen richtig einzuschätzen. Deshalb wird die phronēsis oft auch mit einer bestimmten Wahrneh­ mungsfähigkeit in Verbindung gebracht. Der phronimos ist ›sensibel‹ für Situationen, in denen die Tugend gefragt ist. 650 651 652

Vgl. Müller 2009a, S. 121. Ross 1923, S. 224. Ebd., S. 122.

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7. Moralische Motivation

Insofern mag es zwar ein Kritikpunkt sein, dass akrasia in dieser ersten Lesart wie eine Form des Unwissens konzipiert wird.653 Jedoch wird dadurch deutlich, dass die Tugend als Gegenbild zur Unbe­ herrschtheit nicht nur affektive, sondern auch epistemische Aspekte hat und daher auch die Unwissenheit ausschließen muss. Denn bestimmte Dinge über die Welt und die Menschen zu wissen, ist ebenso Teil der Verantwortung des moralischen Akteurs.

7.3.3 Das revisionistische Verständnis von akrasia Es spricht einiges dafür, das Phänomen der akrasia bei Aristoteles nicht im Sinne von VII 5 zu interpretieren, zumal der darin sichtbare Sokratismus nicht zu den tugendethischen Grundlagen der aristoteli­ schen Ethik in toto passt.654 Alternativ zu der eben dargelegten Ana­ lyse der akrasia auf Grundlage des Buches VII 5 der Nikomachischen Ethik, kann akratisches Verhalten so erklärt werden, dass vor allem der affektive Aspekt im Vordergrund steht. Bleiben wir bei unserem Beispiel. Jemand kommt an dem Teich mit dem Ertrinkenden vorbei und erkennt, dass es sich um eine Situation handelt, in der seine Hilfe gefragt ist. Er kann sich jedoch nicht dazu überwinden, dem Ertrinken­ den zu helfen: Es fehlt an der Motivation, sein allgemeines Wissen über das, was richtig und geboten ist, und sein partikuläres Wissen über die Situation tatsächlich in die Tat umzusetzen. Sein Defizit in diesem Fall ist kein kognitives, »sondern ein motivationales: Sein handlungsleitendes Streben richtet sich nicht auf die Realisierung der vernünftigen Überlegung bzw. Entscheidung, sondern auf das von der Begierde angestrebte Verfolgen der Lust.«655 Die hier naheliegende Erklärung bezieht sich auf die Verbindung von volitiven und kognitiven Aspekten in der Seele. Die Ursache der akrasia liegt somit »im mangelhaften Rückhalt des praktischen Wissens im Streben«.656 Ein gutes Prüfverfahren für dieses Defizit wäre es, eine zusätzliche Erklärung zu einer Situation zu geben. 653 Müller bemerkt hier zurecht die überraschende Nähe zur sokratischen Position, wobei diese zum Teil, wie er überzeugend zeigt, auch der endoxa-Methode geschuldet ist, mit der Aristoteles nämlich versucht, den wahren Kern der Position, mit der er sich auseinandersetzt, zu retten. Vgl. Müller 2009a, S. 124–126. 654 Vgl. ebd., S. 138. 655 Ebd., S. 134. 656 Ebd., S. 137.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Sagen wir, eine Person verfolgt als allgemeines Ziel eine gesunde Lebensführung, verspeist aber jeden Tag eine Sahnetorte. Um eine Verhaltensänderung zu erwirken, wäre es in diesem Fall ausreichend, darzulegen, inwiefern die tägliche Portion an industriellem Zucker und gesättigtem Fett nicht zur Gesundheit beiträgt, sondern im Gegenteil dieser eher abträglich ist. In dem Fall der unterlassenen Hilfe gegenüber dem Ertrinken­ den, würde eine zusätzliche Erklärung im Sinne von ›Sieh mal, da braucht jemand Hilfe‹ nichts verändern, denn der Akratiker weiß, dass der Ertrinkende Hilfe braucht, hilft ihm aber trotzdem nicht. Bei dieser Beschreibung liegt ein genuin innerseelischer Konflikt im Akratiker vor, zwischen dem, was der Akteur für richtig hält und dem, was er strebensmäßig möchte. Das zeigt, »dass Aristoteles akratisches Handeln nicht als genuin kognitives oder als Informationsproblem betrachtet, sondern als ein moralisches Problem, das die Relation von Wissen und der entsprechenden Motivation betrifft.«657 Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass Aristoteles die Dis­ kussion um die Willensschwäche tatsächlich verändert und vorange­ bracht hat. Dies möchte ich anhand drei spezifischer Aspekte en detail diskutieren, und zwar in Hinblick auf sein Seelenteilungsmodell, in Hinblick auf einen neuen Begriff des praktischen Wissens oder der praktischen Kompetenz und mit Blick auf die Frage der Zuschreibbar­ keit von akratischem Handeln bzw. der Verantwortung für ebendieses.

7.3.3.1 Akrasia als Konflikt zwischen Seelenteilen In der Eudemischen Ethik wird das Phänomen der akrasia gerade als Indiz dafür herangezogen, dass es verschiedene Seelenteile gibt. Aristoteles möchte im Abschnitt EE II 7–8 erörtern, was willentlich geschieht und unter welchen Bedingungen Handlungen Menschen zuschreibbar sind, da von der Zuschreibbarkeit ihre moralische Bewertung als gut oder schlecht abhängig ist.658 Es handelt sich deshalb um eine Abhandlung, die zu EN III parallel ist. Dennoch hat dieser Text einige eigenständige Merkmale. Aristoteles beginnt mit der Überlegung, dass zumindest das Erzwungene nicht willentlich ist und das Erzwungene daran erkenn­ 657 658

Corcilius 2008, S. 157. Vgl. EE II 7, 1223a21–23.

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7. Moralische Motivation

bar ist, dass es Unlust bringt. Im Umkehrschluss kommt er zu der Hypothese, dass demzufolge das Willentliche das sein müsse, was der Begierde entspricht, da die Begierde auf das Lustvolle ziele.659 Bei der Prüfung der Hypothese stellt sich jedoch heraus, dass gerade im Fall des Akratikers diese Bestimmung in eine Aporie führt, die Aristoteles folgendermaßen erläutert: ἅπαν γὰρ ὃ ἑκών τις πράττει βουλόμενος πράττει, καὶ ὃ βούλεται ἑκών, βούλεται δ᾿ οὐθεὶς ὃ οἴεται εἶναι κακόν. ἀλλὰ μὴν ὁ ἀκρατευόμενος οὐχ ἃ βούλεται ποιεῖ, τὸ γὰρ παρ᾿ ὃ οἴεται βέλτιστον εἶναι πράττειν δι᾿ ἐπιθυμίαν ἀκρατεύεσθαί ἐστιν· ὥστε ἅμα συμβήσεται τὸν αὐτὸν ἑκόντα καὶ ἄκοντα πράττειν. τοῦτο δ᾿ ἀδύνατον. Alles, was einer willentlich tut, tut er, weil er es wünscht, und (umge­ kehrt), was er zu tun wünscht, das tut er willentlich. Es wünscht sich aber keiner was er für schädlich hält. Indes, wer unbeherrscht handelt, tut nicht das was er (eigentlich) wünscht; denn unbeherrscht handeln bedeutet gerade dies, daß man der Begierde folgend im Widerspruch zu dem handelt, was man für das Beste hält. Woraus sich ergeben müßte, daß ein und derselbe zur gleichen Zeit willentlich und nicht-willentlich handelt. Das aber ist unmöglich. EE II 7, 1223b5–10.

Aristoteles erweitert seine Betrachtung, indem er zeigt, dass für den Beherrschten genau die gleiche Aporie entsteht, wenn auch im umgekehrten Sinne. Der Beherrschte und der Unbeherrschte stellen daher motivati­ onspsychologisch schwierige Fälle dar: »Beide handeln in Einklang mit einer Art von Streben gegen ein anderes aktuell vorhandenes Streben.«660 Es ist für Aristoteles also gar nicht so einfach zu entschei­ den, ob es sich beim Handeln aus Lust nicht doch um eine Art des Gezwungen-Werden handelt. ἐναντίας γὰρ ὁρμὰς ἔχων αὐτὸς ἑκάτερος αὑτῷ πράττει, ὥσθ᾿ ὅ τ᾿ ἐγκρατὴς βίᾳ, φασίν, ἀφέλκων αὑτὸν ἀπὸ τῶν 35ἡδέων ἐπιθυμῶν (ἀλγεῖ γὰρ ἀφέλκων πρὸς ἀντιτείνουσαν τὴν ὄρεξιν), ὅ τ᾿ ἀκρατὴς βίᾳ παρὰ τὸν λογισμόν. Denn jeder, als einzelner betrachtet, handelt aufgrund von Impulsen, die seinem eigentlichen Wesen entgegengesetzt sind, so daß einerseits der Beherrschte sich mit Zwang – so wird behauptet – seiner Begierde zum Trotz, sich vom Genuß losreißt – denn es ist ihm ein schmerzliches

659 660

Vgl. EE II 7, 1223a32–36. Müller 2009a, S. 144.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Sich-losreißen gegen die Widerspenstigkeit der Strebung – anderer­ seits auch der Unbeherrschte unter Zwang gegen die Überlegung han­ delt. Nur daß er anscheinend weniger gegen die Überlegung handelt. EE II 8, 1224a32–36.

Die Art und Weise wie Aristoteles den innerseelischen Konflikt sowohl beim Unbeherrschten wie beim Beherrschten beschreibt, macht deutlich, dass Aristoteles ganz unterschiedliche Triebfe­ dern/Impulse im Menschen annimmt. Die Begierde (epithymia) richtet sich auf die Lust und ist deshalb als Streben nach Objekten zu verstehen, die lustvoll sind bzw. für lustvoll gehalten werden. Die aus vernünftiger Überlegung resultierenden Wünsche (boulēsis) richten sich hingegen auf das, was in Folge vernünftiger Überlegung (logismos, dianoia) für gut befunden wird. Aristoteles hat sich hier offensichtlich vom motivationalen Monismus sokratischer Prägung verabschiedet und wir stellen eine deutliche Nähe zum mittleren Platon fest, bei dem ebenso verschiedene Seelenteile, die sich auf unterschiedliche Wertkategorien ausrichten, miteinander im Wider­ streit stehen. In dieser Hinsicht erwägt auch Aristoteles, dass man in dem Falle, in dem man ›von der Lust übermannt wird‹, in gewisser Weise von Zwang sprechen könnte. Es zeichnet sich jedoch auch ein wichtiger Unterschied zu Platon ab, insofern Aristoteles doch einen wesentlich einheitlicheren Begriff von Person bzw. vom Individuum hat, in dessen Seele es zwar unterschiedliche Kräfte oder Impulse gibt, aber der letztlich doch nur eine Seele hat, die diese Impulse in sich (auf harmonische oder disharmonische Weise) vereint. Dies zeigt sich in der Diskussion, in der Aristoteles den Aspekt des Gezwungen-Werdens beim Akratiker wieder relativiert. Denn Zwang und somit Unwillentlichkeit ist für Aristoteles immer dadurch gekennzeichnet, dass Zwang von außen kommt und damit das Prinzip der Bewegung nicht im Handelnden selbst, sondern außerhalb von ihm liegt.661 Charakteristisch für den Zwang ist außer­ dem auch die Empfindung von Unlust. Die Unlust ist zwar in beiden Fällen gegeben, aber beim Beherrschten und beim Unbeherrschten ist »mindestens ein inneres Prinzip am Werk, insofern jeweils rationales Wünschen bzw. Begierde den kausalen Ursprung der Handlung bilden.«662 Wenn der Anstoß 661 662

Vgl. EE II 8, 1224b7–8. Müller 2009a, S. 145.

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zur Bewegung von innen kommt, liegt für Aristoteles aber kein Zwang vor. Für Aristoteles ist der Blick auf den ganzen Menschen wichtig und dieser ist auch bei unbeherrschtem oder beherrschtem Handeln der Autor seiner Handlung, weil der Impuls der Handlung aus seiner Seele und nicht von außen kommt, auch wenn nur aus einem Teil der Seele. Deshalb kommt er zu dem Schluss: »Die Seele als Ganzes aber handelt willentlich, sowohl beim Unbeherrschten wie beim Beherrschten und unter Zwang handelt weder der eine noch der andere. Sondern dies tut etwas Partielles in ihnen.«663 Diese Überlegungen im Rahmen der Zuschreibbarkeit von Handlungen zeigen deutlich, dass es für Aristoteles möglich ist, dass sich die verschiedenen Seelenteile auf unterschiedliche Gegenstände richten, und er in Anlehnung an Platon ein Seelenteilungsmodell entwickelt, in dem unterschiedlichen Seelenteilen unterschiedliche Impulse zugeschrieben werden. Dies wird auch in der Nikomachischen Ethik bestätigt. Aristoteles erläutert dies im 13. Kapitel des ersten Buches, bevor er den einzelnen Seelenteilen ihre je eigenen Tugenden zuschreibt: »Die Antriebe der Unbeherrschten gehen in entgegengesetzte Richtungen.«664 Auch hier fungiert das Phänomen des Unbeherrschten als Aufweis dafür, dass es unterschiedliche Impulse im Menschen gibt. Das arationale Streben, das im orektikon angesiedelt ist, richtet sich auf die Lust und ist deshalb empfänglich für alles, was lustvoll ist und meidet all jenes, das Unlust bringt. Das rationale Streben hingegen, die boulēsis, ist auf das Gute ausgerichtet, genau genommen auf das, was nach vernünftiger Überlegung für gut befunden wurde. Die Typen des Beherrschten und des Unbeherrschten zeigen, dass es sich beim Guten nicht immer auch um das Lustvolle handelt und dass auch nicht alles, was lustvoll ist, tatsächlich gut ist, und es deshalb so wirkt, als kämpfe das arationale gegen das rationale Streben oder als leiste es Widerstand.665 Aristoteles‹ Erläuterungen unterscheiden sich aber signifikant von Platon darin, dass ersterer die Seelenteile nicht wie eigene Akteure auffasst, sondern die Seele als Ganzes mit ihren unter­ schiedlichen Impulsen als Quelle der Verursachung von Handlun­ gen ansieht. 663 664 665

EE II 8, 1224b26–29. EN I 13, 1102b21. EN I 13, 1102b16–18.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

7.3.3.2 Ausdifferenzierung des Wissensbegriffs Aristoteles entwickelt gegenüber Sokrates und Platon eine eigenstän­ dige Auffassung davon, welche Art von Wissen notwendig ist, um praktisch gut zu handeln. Dies zeigt sich zunächst in seiner grundsätz­ lichen Unterscheidung von praktischem und theoretischem Wissen und der Auffassung, dass die in der Ethik zu erzielenden Erkenntnisse vor allem dazu dienen sollen, in der Praxis ein guter Mensch zu werden und nicht nur zu wissen, was Gutsein bedeutet.666 Die zentrale Rolle in Aristoteles‹ Ethik nimmt die Tugend der phronēsis ein bzw. der phronimos, der diese exemplarisch verkörpert. Die phronēsis kommt allerdings nicht ohne feste Verankerung im Charakter aus, weshalb neben der phronēsis selbst ihre Verwobenheit mit den ethischen Tugenden von Bedeutung ist. Im Folgenden möchte ich mich zunächst mit der phronēsis als genuin praktischem Wissen auseinandersetzen. Danach werde ich genauer auf die Rolle von Dispositionen für die Handlungstheorie eingehen, wobei vor allem der Begriff der bewussten Entscheidung (prohairesis) und deren Zusammenhang mit dem praktischen Syllo­ gismus analysiert werden muss. Ausgangspunkt für Aristoteles ist die explizite Kritik an Sokra­ tes‹ These, dass Tugend ein Wissen sei. Der grundsätzliche Fehler des Sokrates habe darin bestanden, dass dieser glaubte, dass ein Mensch automatisch gerecht sei, wenn er intellektuell erfasst habe, was Gerechtigkeit ist.667 Deshalb habe Sokrates sich fälschlicherweise nur darauf konzentriert, das Wesen der Tugend zu bestimmen, sich aber nicht mit der Frage auseinandergesetzt, wie sie entstehe.668 Das Wesen einer Sache intellektuell zu erfassen sei allerdings nur das Ziel von theoretischen Wissenschaften wie der Mathematik. Aristoteles macht hier einen Unterschied deutlich: Wenn jemand mathematische Axiome begreift, wird er zum Mathematiker. Wenn jemand theoretisch begreift, was Gerechtigkeit ist, ist er dadurch aber noch lange kein gerechter Mensch. Da Sokrates Tugend offenbar für das hielt, was Aristoteles als theoretisches Wissen bezeichnet, habe er aus Aristoteles‹ Perspektive die richte Frage gestellt, nämlich was Tugend sei. Aristoteles grenzt sich hier deutlich von diesem Ansatz ab, indem er betont, dass er 666 667 668

Vgl. EE I 5, 1216b2–25. Vgl. EE I 5, 1216b2ff. Vgl. EE I 5, 12126b20ff.

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ein anderes Ziel anstrebt und daher auch anders vorgehen muss. Sein Vorhaben richtet sich auf die Frage, wie ein Mensch praktische Kompetenz in ethischen Angelegenheiten erreicht: οὐ γὰρ εἰδέναι βουλόμεθα τί ἐστιν ἀνδρεία ἀλλ᾿ εἶναι ἀνδρεῖοι, οὐδὲ τί ἐστι δικαιοσύνη ἀλλ᾿ εἶναι δίκαιοι, καθάπερ καὶ ὑγιαίνειν μᾶλλον ἢ γινώσκειν τί ἐστι τὸ ὑγιαίνειν καὶ εὖ ἔχειν τὴν ἕξιν μᾶλλον ἢ γινώσκειν τί ἐστι τὸ εὖ ἔχειν. Denn wir wollen nicht wissen, was Tugend ist, sondern wollen tapfer sein, und nicht, was Gerechtigkeit ist, sondern gerecht sein – genau so wie wir auch lieber gesund sein sollen als erkennen, was Gesundsein ist, und lieber in guter körperlicher Verfassung sein als erkennen, was gute körperliche Verfassung ist. EE I 5, 1216b21–25.

Deshalb, so Aristoteles, sei es höchst wertvoll zu erkennen, wodurch Tugend entstehe. D. h. jedoch nicht, dass die Vernunft hierbei keine Rolle spiele. Im Gegenteil macht Aristoteles deutlich, dass es in seiner Untersuchung darauf ankommt, mittels logischer Argumente feste Überzeugung zu schaffen.669 Sein ethisches Unterfangen ist also weder von der Annahme geleitet, moralisches Handeln sei durch ein moralisches Gefühl bestimmt (Emotivismus), noch handelt es sich um eine Anhäufung bloßer (subjektiver) Meinungen (Präskripitvismus). Gleichwohl, und das ist der Unterschied zu Platon, ist Aristo­ teles der Meinung, dass Tugenden affektive Gegenstände sind und ihr Erwerb deshalb eng mit der Empfindung von Lust und Unlust zusammenhängt,670 wie auch auf das Handeln als Ziel ausgerichtet sind. Er kommt deshalb zu dem Schluss, dass Tugend als praktische Kompetenz auch auf praktische Weise erworben werden muss und nicht durch Theoretisieren.671 Diese Auflagen, die Aristoteles in der Eudemischen Ethik formu­ liert, werden von den Überlegungen in der Nikomachischen Ethik teilweise eingelöst. Das zeigt sich zum einen im Aufbau der Niko­ machischen Ethik, wo es im zweiten Buch vor allem um charakterli­ che Tugend und im sechsten Buch um die intellektuellen Tugenden geht, wobei Aristoteles hier explizit zwischen Klugheit (phronēsis) und Weisheit (sophia) unterscheidet. Mit diesen unterschiedlichen Begriffen ergeben sich unterschiedliche Kompetenzen. Die Tugend 669 670 671

Vgl. EE I 6, 1216b26–28. Vgl. EE II 1, 1220a34–37. Vgl. EE I 5, 12126b20ff.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

der phronēsis bestimmt Aristoteles außerdem als »eine mit Überle­ gung verbundene wahre Disposition des Handels (hēxis meta logou praktikē) mit Bezug darauf, was für den Menschen gut oder schlecht ist.«672 Dies ist aber nicht nur in Bezug auf einzelne Handlungen und Entscheidungen gemeint, sondern es handelt sich um eine umfas­ sende Fähigkeit. Derjenige, der die phronēsis verkörpert, ist derjenige, »der richtig überlegt mit Bezug auf sein gutes Leben im Ganzen.«673 Bekanntermaßen ist die phronēsis die geeignete Fähigkeit, mit der die Mittel zu einem bestimmten Zweck gefunden werden. Dies ist in einem zweifachen Sinne zu verstehen. Die phronēsis ist die Fähig­ keit, mit der der Kluge seine Handlungen auf das übergeordnete Ziel des guten Handelns hinordnet (aufsteigend). Gleichzeitig kann sie die richtigen Mittel ausfindig machen, um diese Ziele zu erreichen, indem sie diese Ziele genauer analysiert und dann die Mittel und Schritte ausfindig macht, die zum anvisierten Ziel führen (absteigend).674 Damit ist die praktische Kompetenz, ein gutes Leben zu füh­ ren, nicht einfach durch die theoretische Erkenntnis der Idee des Guten impliziert, sondern eine eigenständige Kompetenz. Durch die Ausdifferenzierung des Wissensbegriffs in praktisches und theore­ tisches Wissen, sowie in Wissen, das dispositional im Charakter der Handelnden vermittelt ist, gelingt es Aristoteles, das Phänomen der akrasia differenzierter zu analysieren. Die Persistenz praktischer Urteile ist nicht mehr allein von ihrer epistemischen Fundierung abhängig, sondern von ihrer Verankerung im Charakter.

7.3.3.3 Die Verbindung von Klugheit und Charakter Das Phänomen der akrasia verdeutlicht zudem die Verbindung von praktischem Wissen und dispositionalen Haltungen. Aristoteles ist der Meinung, dass ethische Tugend (aretē ēthikē) und Klugheit (phronēsis) immer nur in Kombination miteinander auftreten: »Klug ist man nicht nur durch Wissen, sondern auch durch die Disposition, dem Wissen entsprechend zu handeln. Der Unbeherrschte aber hat keine Disposition zum Handeln.«675 672 673 674 675

EN VI 5, 1140b4–6. Wolf 2008, S. 124. Vgl. ebd. EN VII 11, 1152a7–9.

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Ein weiterer wichtiger Aspekt der aristotelischen Kritik an Sokra­ tes besteht darin, dass Sokrates den Begriff der Tugend verkürze, indem er »Tugenden einfach mit Formen des Wissens (epistēmē) gleichsetzt.«676 Ein Zitat aus den Magna Moralia zeigt exemplarisch, worin die Kritik der Aristoteliker besteht:677 τὰς γὰρ ἀρετὰς ἐπιστήμας ἐποίει· τοῦτο δ᾿ ἐστὶν εἶναι ἀδύνατον. αἱ γὰρ ἐπιστῆμαι πᾶσι μετὰ λόγου, λόγος δὲ ἐν τῷ διανοητικῷ τῆς ψυχῆς ἐγγίνεται μορίῳ· γίνονται οὖν αἱ ἀρεταὶ πᾶσαι κατ᾿ αὐτὸν ἐν τῷ λογιστικῷ τῆς ψυχῆς μορίῳ· συμβαίνει οὖν αὐτῷ ἐπιστήμα δὲ ποιῶν ἀναιρεῖ καὶ πάθος καὶ ἦθος. διὸ οὐκ ὀρθῶς ἥψατο ταύτῃ τῶν ἀρετῶν. Also wurzeln – nach Sokrates – die Tugenden samt und sonders in dem rationalen Seelenteil. Sofern er die Tugenden zu Formen der Erkenntnis macht, ergibt sich also für ihn die Konsequenz, dass er den irrationalen Seelenteil beseitigt; indem er aber dies tut, beseitigt er sowohl den Bereich der Affekte als auch den des Ethos. Er war somit nicht auf dem richtigen Weg, als er sich dergestalt mit den Tugenden befasste. MM I 1, 1182a16–23.678

Der Hauptvorwurf besteht darin, dass die sokratische Tugendauffas­ sung den arationalen Anteil am Tugendbegriff ignoriere, während »(e)thische Tugenden […] es nach Aristoteles elementar mit pathos und ēthos zu tun [haben]«679. Der Vorwurf, besteht darin, dass Sokrates den Einfluss der Leidenschaften bzw. der Begierde, d. h. die arationalen Aspekte des Seelenlebens unterschätzt habe.680 M. E. ist allerdings in Frage zu stellen, ob der Begriff des Unter­ schätzens hier angebracht ist, denn Sokrates traut den Begierden in der Tat zu, die gesamte Seele eines Menschen und somit auch seine Entscheidungen zu dominieren. Wenn sie alles andere überblenden, haben sie durchaus eine starke Wirkung. Vielleicht ist es zutreffender zu sagen, dass die Kraft intellektueller Erkenntnis überschätzt wird, da ihr zugetraut wird, alle anderen Impulse in der Seele zu übertrumpfen.

Müller 2009a, S. 126. Nach heutigem Stand der Forschung werden die Magna Moralia nicht mehr Aris­ toteles selbst zugewiesen, sie gehen aber auf einen nacharistotelischen Peripatetiker zurück und sind ein deutliches Beispiel für aristotelisches Gedankengut. Vgl. Flashar 2013, S. 67. 678 Vgl. auch MM I 34, 1198a10–15. 679 Müller 2009a, S. 126. 680 Vgl. ebd. 676

677

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Ein zweiter Aspekt, der sehr wichtig ist, ist die aristotelische Annahme, dass sich phronēsis und akrasia gegenseitig ausschließen, d. h., dass der gute Mensch (phronimos) niemals akratisch handelt, und dies weder synchron noch diachron.681 Der arationale Seelenteil wurde durch die Habituation auf die richtigen Ziele ausgerichtet. Es ist deshalb nicht möglich, dass der phronimos akratisch handelt. Tugendhaftigkeit ist deshalb bei Aristoteles eine Eigenschaft, die alle Seelenteile umgreift: »Aus dem Gesagten ist also klar, dass man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die ethische Tugend.«682 Müller bringt dies sehr treffend auf den Punkt: »Insofern sich menschliches Handeln einem komplexen Zusammen­ spiel von Streben und praktischer Überlegung verdankt, bedarf es zum vollkommen guten Handeln der Vollendung sowohl der irrationa­ len Vermögen (in Form ethischer Tugenden) als auch des rationalen Seelenteils, insofern er praktisch tätig ist (in Gestalt der Klugheit). Doch man darf sich diese beiden Größen bei Aristoteles nicht als komplett dissoziierte Aspekte denken, so dass jemand etwa Klugheit in vollem Umfang besitzen, aber bar der ethischen Tugenden sein könnte: Aristoteles vertritt im Gegenteil im Blick auf die Klugheit und die ethischen Tugenden eine wechselseitige Connexio-virtutum-These.«683

Wenn jemand also etwas Schlechtes will und dies auf intelligente Weise umsetzt, wäre dies nicht als Klugheit im aristotelischen Sinne zu bezeichnen. Die Klugheit richtet sich ausschließlich auf gute Ziele. Welche Ziele das sind, wird der gute Mensch aufgrund seiner Urteils­ kraft ausfindig machen können.

7.3.3.4 Beherrschtheit und Mäßigung Wenn man auch bei Aristoteles davon ausgeht, dass der gute Mensch alle Tugenden zugleich besitzen muss, dann ist die Mäßigung (sophro­ synē) eine davon. Mit Erwerb der Mäßigung hat der gute Mensch das richtige Verhältnis zu seinem eigenen Lustempfinden gefunden, denn die Mäßigung ist definiert als Mitte mit Blick auf Lust und Unlust.684 681 682 683 684

Vgl. EN VII 11, 1152a6–7. EN VI 13, 1144b30–32. Müller 2009a, S. 129. Vgl. EN II 7, 1107b4–6.

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7. Moralische Motivation

Aristoteles sagt über die Mäßigung, dass sie die Klugheit (phronēsis) bewahre, weil sie das richtige Urteil bewahre (sōzei tēn phronēsin).685 Die weitere Erklärung ist sehr aufschlussreich: Aris­ toteles sagt, dass mathematische Erkenntnisse ohnehin nicht von »Lust oder Unlust verdorben oder verdreht«686 werden könnten. Der Bereich der Erkenntnisse, die das Handeln betreffen, scheint aber nicht gegen eine solche Verzerrung immun zu sein. Müller sieht hier die aristotelische Mäßigung (sophrosynē) ganz analog zur platonischen enkrateia: »Dieser Schutz vor einer Verzerrung des Urteils durch Gefühle von Lust und Unlust betrifft nicht nur den Umstand, dass der Kluge im Ausgang von richtigen Zielen seine Überlegungen anstellt und Anordnungen trifft; mindestens ebenso wichtig ist es, dass die Klugheit in dieser Tätigkeit nicht durch das Aufwallen von Leidenschaften bzw. Begierden gestört wird – genau das gewährleistet die Mäßigung als Habitus der Mitte in Bezug auf körperlich fundierte Lüste. Der Kluge verfügt also über eine harmonische Ordnung der Gefühle.«687

So interpretiert, erweist sich eine deutliche Kontinuität zu Platon. Die Begierden müssen gemäßigt werden, damit sie nicht gegenüber der Vernunftausübung eine störende Kraft ausüben können. Dies ist bei Aristoteles aber nur ein Teil der Habituation. Natürlich ist es für einen Menschen leichter, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren, wenn er nicht Sklave allerlei körperlich bedingter Aufwallungen ist. Bei Aristoteles kommt aber hinzu, dass die Emp­ findung von Lust und Unlust auf das Gute ausgerichtet wird. Der gute Mensch (phronimos) tut nicht nur das Richtige und Gute, weil er nicht von anderen Begierden davon abgelenkt oder gar abgehalten wird, es zu tun. Der phronimos ist gerade daran erkennbar, dass ihm das Tun des Guten Lust verschafft.688 Hierin liegt der Unterschied zum platonischen sophos. Wenn auch in ihm die Vernunft dominant ist, so hat er immer noch gegenteilige Bestrebungen, die allerdings erfolgreich und restlos unterdrückt werden. Bei Aristoteles gibt es diese Bestrebungen nicht (mehr): das Richtige ist für den Guten anziehend. Deshalb verfügt er über das, was wir heute intrinsische Vgl. EN VI 5, 1140b11ff. EN VI 5, 1140b13–14. 687 Müller 2009a, S. 129. 688 Dieser Aspekt durchzieht die gesamte Nikomachische Ethik. Exemplarisch sei EN I 9, 1099a5–31 genannt. 685

686

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Motivation nennen würden. Es ist die gute Handlung selbst, die für den phronimos attraktiv ist. Da er keine widerstrebenden Impulse hat, kann von Harmonie in der Seele gesprochen werden.689 Wie oben herausgestellt wurde, hielt der historische Sokrates die Beherrschung der Triebe für eine Voraussetzung dafür, dass der Mensch zur Erkenntnis des Guten gelangen kann. Diese Auffassung lässt sich in abgeschwächter Form auch bei Aristoteles finden, wenn man davon ausgeht, dass der aristotelische phronimos alle Tugenden gleichzeitig besitzen muss. Zuletzt soll noch eine Bemerkung zur Erkenntnis des Guten bei Aristoteles ergänzt werden. Die Differenzierung des Wissensbegriffs geht mit einer veränderten Auffassung vom Gewussten einher. Das Gute existiert auch bei Aristoteles als etwas Abstraktes, allerdings als etwas, das in der jeweiligen Situation mit der Urteilskraft ausfindig gemacht werden muss. Dabei geht es sowohl darum, zu erkennen, dass eine bestimmte Situation unter einen bestimmten Typus von Situation fällt, als auch darum, im Falle der Erkenntnis eines allge­ meinen Ziels konkrete Mittel ausfindig zu machen, um dieses Ziel zu erreichen. Dies ist ein Denkschritt der zumindest in der frühen wie auch mittleren platonischen Position so gut wie nicht vorkommt. Wenn die Philosophenkönige in die Höhle zurückkehren und dort herrschen sollen, finden sie unmittelbar schlichtweg, dank der Erkenntnis der Idee des Guten, alle praktischen Lösungen.690 Aristoteles hingegen betont, dass es sich beim praktischen Handeln um eine andere Form der Kompetenz handelt als beim theoretischen Erkennen. Das führt dazu, dass der Schwerpunkt seiner ethischen Überlegungen auch mehr darauf liegt, wie ethische Tugend erworben wird, anstatt theoretisch zu klären, was sie ist. Somit verwundert es nicht, dass auch im Erwerb der Tugend der Schwerpunkt auf dem Handeln und nicht auf dem Erkennen liegt, oder besser gesagt: auf dem Erkennen durch Handeln.

689 Vgl. EN VI, 1139a22–26; Pol. VII 13 1332b5–6; Pol. VII 15, 1334b9–10 sowie Abschnitt 1.3 und 8.8. 690 Vgl. White 2005, S. 133.

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7.3.4 Freiwilligkeit und die Verantwortung für den eigenen Werdegang Aristoteles hält in gewisser Weise an der Unfreiwilligkeitsthese fest, insofern er dem Menschen eine gewisse Verantwortung für akrati­ sches Handeln zuschreibt. Inwiefern man von der Zuschreibbarkeit einer Handlung sprechen kann, diskutiert er in EN III und EE II 7–8, und kommt in beiden Texten zu dem Schluss, dass man nicht von Zwang sprechen kann, wenn ein Mensch ›von der Lust übermannt wird‹. Aristoteles ist der Meinung, dass man nur von Zwang sprechen kann, wenn der Impuls zur Handlung von außen kommt.691 Wenn Handlungen ihren Ursprung (archē) jedoch im Handelnden haben, ist er für diese Handlung verantwortlich, weil es bei ihm liegt, sie zu tun oder zu unterlassen.692 Dieser Aspekt findet sich auch in der kurzen Diskussion über die Verantwortung für den eigenen Charakter, in der Aristoteles betont, dass man sich nicht beschweren könne, kein guter Mensch zu werden, wenn man nicht selbst durch eigenes Handeln anfange, sich so zu verhalten, wie der Mensch, der man sein möchte.693 Dem Akratiker kann akratisches Handeln also vorge­ worfen werden, und sein Verhalten kann nicht dadurch entschuldigt werden, dass ihn die Lust überwältig habe. Dem entgegen steht allerdings die Auffassung, dass der gute Mensch (phronimos) nur wahrhaft gut werden kann, wenn er schon seit seiner Kindheit an die richtigen Handlungen gewöhnt wurde. Da Kinder keine Entscheidungen treffen können694 und sich so auch nicht für eine bestimmte Erziehung entscheiden können, kann man ihnen nicht anlasten, wenn sie schlecht oder gar nicht erzogen werden. Die Spannung, die sich hier ergibt, bleibt allerdings von Aristoteles selbst ungelöst. Christoph Horn bezeichnet das Verantwortungsmoment gerade als die zentrale Provokation des moralischen Intellektualis­ mus: »Die Pointe des Sokratischen Intellektualismus besteht darin, 691 Vgl. EN III 1, 1110b15–17; EE II 8, 1224b7–8. Wenn jemand zum Beispiel mit vor­ gehaltener Waffe gezwungen wird, Geld herauszugeben, dann liegt Zwang vor, weil die Alternative, erschossen zu werden, keine echte Handlungsalternative darstellt. 692 Vgl. EN III 7, 1113b2–8. EE II 8, 1224b7–15. 693 Vgl. EN II 3, 1105b9–19. Hinter dieser Überlegung steht in jedem Fall die aristotelische Auffassung, dass Handlungen den Charakter formen. Es ist gut denkbar, dass Aristoteles hier von Menschen spricht, die zwar gute Vorsätze zur Besserung äußern, aber nicht ernsthaft vorhaben, ihr Verhalten zu ändern. 694 Vgl. EN III 4, 1111b8–10 und meine Besprechung in Abschnitt 5.4.2.

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dass es in jedermanns Hand liegt, ob er oder sie sich durch eine kon­ sequente Vernunftorientierung von verfehltem Handeln frei macht oder nicht.«695 Aristoteles macht in dieser Hinsicht deutlich, dass es mehr bedarf als nur der Entscheidung zum Vernünftig-Sein oder einer überzeugenden Rede. Die Frage nach der Verantwortung für den eigenen Charakter bei Aristoteles muss deshalb genauer untersucht werden. Die Behaup­ tung, der Mensch sei für seinen Charakter verantwortlich bzw. dieser liege bei ihm, findet sich im dritten Buch der Nikomachischen Ethik im Rahmen der Diskussion der Verantwortlichkeit für Handlungen.696 Innerhalb der Diskussion der Verantwortung für Handlungen, hat die These, dass der Mensch nicht nur für seine Handlungen, sondern auch für seinen Charakter verantwortlich ist, die Funktion, die Argumenta­ tion zu stützen. Wenn sich jemand zum Beispiel für eine Unaufmerksamkeit mit den Worten entschuldigte ›ich bin eben nicht so ein aufmerksamer Mensch‹, dann würde Aristoteles ihm eben dies vorwerfen. Aristote­ les verweist in diesem Zusammenhang auf den charakterformenden Effekt unserer Handlungen: Wir werden zu denjenigen Menschen, als die wir handeln. Deshalb ist der Mensch in einem abgeleiteten Sinne auch für seinen Charakter verantwortlich. Nun stellt sich aber ein Problem, denn es macht zunächst den Eindruck, als könnte man Aristoteles hier im Sinne eines Determinis­ mus verstehen: (1) Der Charakter eines Menschen wird von früher Kindheit an geformt und ist deshalb davon abhängig, wie Eltern und Erzieher das kindliche Streben formen und leiten. (2) Kinder treffen aber keine Wahl darüber, in welche Familie sie hineingeboren werden oder von welchen Menschen sie aufgezo­ gen werden. Horn 2004, S. 168. Aristoteles stellt hier die Frage, unter welchen Bedingungen wir Menschen für ihre Handlungen verantwortlich halten. Diese Frage zu beantworten ist notwendig, um darüber urteilen zu können, ob wir jemanden für seine Handlungen loben oder auch tadeln. Die Notwendigkeit dieser Diskussion liegt auf der Hand. Wenn jemand zum Beispiel nur zufällig etwas Gutes tut, hat er kein Lob dafür verdient. Voraussetzung für das Lob ist also, dass die Person die Handlung absichtlich und wissentlich ausführt und gleichzeitig auch anders hätte handeln können. Wenn jemand nämlich zum Beispiel genötigt wird, etwas Gutes zu tun, würden wir das ebenfalls nicht für einen Anlass zu Lob und Tadel halten. 695

696

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7. Moralische Motivation

(3) Folglich ist das Ergebnis der Erziehung durch die äußeren Umstände (Geburtsort, Herkunft, Eltern, Erzieher, Umfeld, Sozialisation) determiniert. (4) Wie können Menschen dann verantwortlich für ihren Charak­ ter sein? Der Weg, den Pierre Destrée einschlägt, um dieses Paradox zu lösen, besteht darin, dass er die in der Kindheit vollzogene Charakterfor­ mung nicht für völlig unabänderlich hält: »The general path allowing us to defend Aristotle‹s argument is to say that in fact first education is not to be meant as absolutely directive, and necessarily determi­ ning.«697 Eine Belegstelle, die er für diese Interpretation heranzieht ist Pol. VII 13, 1332b6–7, wo es heißt: »Menschen tun viele Dinge gegen ihre Gewohnheiten oder gegen die Natur.« Destrée zweifelt also die Auffassung an, dass der Charakter, der in der Kindheit erworben wird, niemals verändert werden könnte. Nennen wir diese Auffassung die Unveränderlichkeitsthese. Für die Unveränderlichkeitsthese spricht, dass Aristoteles die Auffassung vertritt, dass der phronimos niemals schlecht handeln könne. Destrée versucht dies mit dem Hinweis zu relativieren, dass der phronimos unter bestimmten Umständen auch schlecht werden könne698 und Aristoteles die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Dinge in ihr Gegen­ teil umschlagen oder Menschen sich ihn ihr Gegenteil verwandeln.699 Außerdem glaubt Destrée für seine Argumentation ins Feld führen zu können, dass der phronimos und der akolastos (der Unmäßige) Typen von Menschen seien, die niemals real existierten.700 Dies stellt ein ernstes Problem dar, denn die Stabilität des Charakters ist ein Argument für die Verlässlichkeit des ethischen Handelns des phronimos. Aristoteles betont an anderer Stelle, dass der Destrée 2011, S. 302. Destrée führt dafür folgende Stelle an: EN IX 3, 1165b13–22. Aristoteles diskutiert hier, ob der Gute noch mit einem Menschen befreundet sein kann, der schlecht geworden ist. Die aristotelische Diskussion fokussiert sich aber vollständig auf die Fragestellung der Beständigkeit von Freundschaft angesichts der unterschiedlichen Entwicklung zweier Freunde. Wie, unter welchen Umständen und in welchem Maße ein guter Mensch sich tatsächlich vom Guten abwendet, wird hier nicht besprochen. 699 Vgl. Destrée 2011, S. 302 mit Verweis auf vgl. Cat. X, 13a17–31. Diese Passage blickt zugegebenermaßen recht optimistisch auf die Entwicklung des schlechten Men­ schen hin zum Guten. Allerdings ist unklar, inwiefern die Kategorienschrift mit der später in der Ethik ausgefeilten Lehre konform ist. 700 Ebd. 697

698

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Gute auch durch radikale Einschnitte in sein Leben nicht von seiner Tugendhaftigkeit abgebracht werden könnte.701 Der Normalfall für Aristoteles scheint also zu sein, dass ein Mensch im Laufe seiner Kindheit eine bestimmte charakterliche Disposition erwirbt und diese sich (unter normalen Umständen) nicht mehr verändert. Auf der anderen Seite – und das ist m. E. überhaupt der Grund, warum Aristoteles diese Diskussion beginnt – ist der Charakter kein Entschuldigungsgrund für schlechtes Verhalten. Wenn ich mich unethisch verhalte, reicht es nicht, zu sagen ›Ich bin eben so‹ oder auch ›Ich kenne es nicht anders‹. Aristoteles unterstreicht den Aspekt der Verantwortung des moralischen Akteurs, der nicht nur für seine Handlungen, sondern auch für seinen Charakter gilt, der durch seine Handlungen geformt wird und für den seine Handlungen Ausdruck sind. Aristoteles ist also weit von einem deterministischen Verständ­ nis von Erziehung entfernt, in dem ein Kind notwendigerweise ein bestimmter Mensch werden müsste, weil es bestimmte Eltern hat oder eine bestimmte Erziehung genießt. Und deshalb kann sich auch bei Aristoteles der Akratiker nicht für seine willensschwachen Handlungen entschuldigen, indem er auf seinen schwachen Charak­ ter verweist. Um diese Form der Freiheit, der Mensch zu sein, der man sein möchte, sowie die Verantwortung dafür, dass man der Mensch ist, der man ist, zu verteidigen, muss man Kindern eine aktivere Rolle im Erziehungsprozess zugestehen. Destrée sieht dies in der Lücke zwischen zwei Erziehungsphasen gegeben, wovon eine in der Kindheit und eine im Erwachsenenalter stattfinde.702 Nach seiner Interpretation erhält man als Kind eine bestimmte Form der Charakterformung und kann sich als Erwachse­ ner aufgrund der vernünftigen Einsichten, die man nun hat, zu dieser verhalten: »there should be room in between, so to speak, for either a form of endorsement of earlier education, or a rejection of all or part of it.«703 Vgl. die aristotelischen Überlegungen zum Einfluss der äußeren Güter auf das Glück des Guten in EN I 10, 1100a4–1101b9. Ob bei Aristoteles ein Inklusivismus oder Exklusivismus vorliegt, ist umstritten. Vgl. Horn 2013 und Müller 2013. 702 Für die Annahme, dass Menschen auch im Erwachsenenalter auf Erziehung angewiesen seien, zieht er EN X heran. 703 Destrée 2011, S. 303. 701

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7. Moralische Motivation

Ich stimme dem grundsätzlich zu, dass Aristoteles die Möglich­ keit dafür einräumen muss, sich zu der Erziehung zu verhalten, die man genossen hat, sonst wäre seine Darstellung tatsächlich ganz und gar deterministisch zu verstehen. Andererseits bezweifle ich, ob er es dem Menschen zutraut, sich allein aufgrund der Vernunfteinsicht ganz grundlegend zu ändern. Ist das nicht gerade der Grund für die habituelle Erziehung von früher Kindheit an? In EN X bezweifelt er, dass bei Menschen, die einen bestimmten Charakter erworben haben, belehrende Worte irgendeinen Effekt haben könnten. Außerdem besitzt die Habituation, wie gezeigt wurde, auch kognitive Kraft. Es ist also zu bezweifeln, ob ein akolastos im Erwachsenenalter überhaupt noch zur vollen Vernunfteinsicht fähig ist, mit der er seinen Charakter transformieren könnte, zumal sein Charakter dem völlig entgegensteht und er vermutlich auch kein Interesse an einer solchen Veränderung hätte. Selbst der Akratiker, der die Einsicht in das hat, was eigentlich gut wäre, kann sich ja durch diese Einsicht allein nicht dazu bewegen, das Richtige zu tun. Die Interpretation Destrées, die suggeriert, dass grundsätzliche charakterliche Verände­ rungen im Erwachsenenalter möglich seien, ist deshalb nicht völlig überzeugend. Mit einem Blick auf die bisher interpretierten Stellen, muss betont werden, dass Aristoteles die Auffassung vertritt, dass Kinder wesentlich formbarer sind als Erwachsene und sich mit dem Ende der Kindheit deshalb ein Zeitfenster schließt, das zur guten Erziehung genutzt werden muss und sich, wenn es ungenutzt bleibt, auch nicht mehr öffnet. Die transformierende Kraft der Vernunft, die Destrée suggeriert, entspricht wesentlich mehr der sokratischen und frühen platonischen Sicht. Die Vernunfteinsicht in das Gute hat für Platon die ganze Umwendung der Seele (perigagogē holēs tēs psychēs) zur Folge. Für Aristoteles jedoch muss das arationale Streben in der Kindheit auf das Gute ausgerichtet werden, sonst ist das rationale Streben nach dem Guten gar nicht mehr möglich. Müssen wir Aristoteles demnach für einen Deterministen halten, in dem Sinne, dass durch die natürliche Veranlagung, die ein Kind mitbringt, und die Familie und Gesellschaft, in die es hineingeboren wird, sein Leben vorbestimmt ist? Damit ginge auch die Auffassung einher, dass Kinder durch Erziehung lediglich einer bestehenden Praxis konform gemacht würden und es keinen Raum für Innova­ tion gäbe. Habituation könnte dann schlimmstenfalls als Indoktrinie­ rung verstanden werden, in der vorgefertigte und unumstößliche

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Haltungen an Kinder weitergegeben werden, die nicht hinterfragt werden würden.704 Diese Auffassung müssen wir Aristoteles aller­ dings nicht zuschreiben. Zur Lösung dieser Problematik kann man nun den in Kapitel 5 erarbeiteten graduellen Begriff von Kindheit heranziehen. Ein zwei­ jähriges Kind ist noch nicht dafür verantwortlich, was es will. Es folgt lediglich natürlichen Impulsen. Mit zunehmendem Alter können Kinder jedoch mehr und mehr die Konsequenzen ihres Verhaltens überblicken und die Gepflogenheiten ihrer Gesellschaft einschätzen. Ein 10-Jähriger hat durchaus die Wahl der Anweisung des Lehrers zu folgen oder nicht. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass Kinder mehr und mehr an der menschlichen Logosfähigkeit teilhaben (die eben die Entscheidungsfähigkeit miteinschließt) und folglich in einem graduell anwachsenden Sinne mitverantwortlich dafür sind, welche Menschen sie werden. Und auch dies ist nur in einem gewissen Umfang zu verstehen. Aristoteles hält es für sehr schwierig, dass jemand in einer vollständig korrumpierten Gesellschaft zum guten Menschen werden kann705 – aber eben nicht für unmöglich. Man kann also mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit arbeiten. Ein Kind, das gute Anlagen mitbringt und in einer guten Umgebung aufwächst, hat eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, ein guter Mensch zu werden, aber dies ist keine Notwendigkeit in einem deterministischen Sinne.706 Genauso ist es nicht vollkommen unmöglich, dass ein vollkommen schlechter Mensch sich doch noch zum Guten wendet. Es ist nur sehr unwahrscheinlich und selten, weshalb es besonders lobenswert ist, wenn es doch vorkommt. Daher darf man auch hier nicht in die Zwei-Phasen-TheorieFalle stolpern, welche bereits kritisch besprochen wurde.707 Es wäre widersinnig, wenn Kinder zunächst die passiven Objekte ihrer Erzie­ hung, dann als Erwachsene aber plötzlich für ihren Charakter ver­ antwortlich wären. Die Beteiligung des Kindes an seiner eigenen 704 Vgl. dazu die Diskussionen bei Curren 2000, S. 205–212 und Kristjánsson 2007, S. 43–47. Die Fragestellung klingt auch bei Reeve an. Vgl. Reeve 1998, S. 64. 705 Vgl. EN Ⅹ 10,1179b31–1180a1. 706 Ich stimme in diesem Punkt Di Muzio zu. Man darf die Auffassung, dass der Charakter bestimmte Handlungen wahrscheinlicher macht, nicht so verstehen, dass der Charakter diese notwendig auslösen würde. Vgl. Di Muzio 2000, S. 219. Man muss auch mit Destrée annehmen, dass Aristoteles den Menschen für frei hält, in dem Sinne, dass er auch anders handeln könnte, auch wenn der Charakter bestimmte Reaktionen wahrscheinlicher macht. Destrée 2011, S. 289f. 707 Vgl. Abschnitt 4.6.

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7. Moralische Motivation

Entwicklung ist graduell. Kinder sind immer mehr dazu fähig, Ent­ scheidungen zu treffen, die ihren Werdegang betreffen. Wir haben festgestellt, dass ganz kleine Kinder nach Aristoteles zumindest schon über ein Wollen verfügen. Mit dem Wollen können sie sich bereits auf bestimmte Gegenstände, Tätigkeiten oder Vorbildfiguren richten. Es kommt nicht der Tag, an dem das Kind plötzlich vernünftig ist. Es wird sich vielmehr nach und nach durch die Wahl der Tätigkeiten, die es ausführt, durch die Wahl der Freunde, an denen es sich orientiert, und durch die Wahl der Vorbilder, denen es nachstrebt, am Prozess seiner eigenen Erziehung aktiv beteiligen. In dieser Interpretation sind Erwachsene verantwortlich für die Menschen, die sie geworden sind. Letztlich muss man konstatieren, dass es für Aristoteles nicht denkbar ist, Kinder zu vernünftigen Akteuren zu erziehen, ohne diese Erziehung an bestimmte inhaltliche Auffassungen zu knüpfen. Es gibt also keine ›inhaltsneutrale‹ Erziehung zur Vernunft für ihn, bei der Kinder dann nach dem Erlangen der Vernunft die Werte, die für sie relevant sind, selbst aussuchen könnten. Praktische Vernunft (phronēsis) beginnt für Aristoteles mit der Einübung in bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen, die auf einer substanziellen Theo­ rie des Guten beruhen. Dabei paternalisitisch zu sein, war nicht seine Sorge.708

7.3.5 Zwischenfazit: akrasia und moralische Motivation bei Aristoteles Aristoteles richtet sich gegen den motivationalen Monismus des historischen Sokrates und frühen Platons, indem er annimmt, dass es in der Seele unterschiedliche Strebungen oder Impulse gibt, die sich an unterschiedlichen Wertmaßstäben orientieren und somit diachrone und synchrone innerseelische Konflikte auslösen können. Der Idealzustand bei Aristoteles ist wie bei Sokrates die Herrschaft der Vernunft. Diese Herrschaft wird bei ihm aber nicht als Dominanz oder größere Intensität des präsenten Wissens verstanden, die alle anderen Bestrebungen innerhalb der Seele überwiegt, beherrscht oder überstrahlt, sondern als eine Harmonie der verschiedenen Strebungen in der Seele gedeutet, die dadurch entsteht, dass alle Strebungen auf das Gleiche ausgerichtete sind: das wahrhaft Gute. 708

Vgl. Kristjánsson 2007, S. 46.

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7.3 Die aristotelische Kritik an der sokratischen und platonischen Position

Im phronimos gibt es daher keine innerseelischen Konflikte mehr; seine arationalen Bestrebungen sind in der Kindheit erfolgreich auf das Gute ausgerichtet worden. Dieser Konflikt scheint bei Platon hingegen bestehen zu bleiben. Im Beherrschten hat zwar die Vernunft die Oberhand gewonnen, die arationalen Strebungen, die gegen sie arbeiten, sind aber dauerhaft da und müssen regelmäßig bezwungen werden. Trotzdem ist dieser Zustand nicht weniger stabil als bei Aristoteles. Dadurch, dass der Philosophenkönig die Idee des Guten geschaut hat, ist sie so präsent und übermächtig in ihm, dass sie alles andere dauerhaft überstrahlt. Wie Sokrates nimmt Aristoteles an, dass sich der ungebildete Mensch an körperlichen Lüsten ausrichtet und deshalb nicht auf das Gute ausgerichtet sein kann. Über Kinder sagt er beispielsweise explizit, dass sie sich an den falschen Lüsten orientierten, weil sie nicht wüssten, was das wahrhaft Gute sei. Auch wenn es bei Aristoteles nicht mehr um einen Leib-Seele-Konflikt geht, wie beim frühen Platon, ist das Körperliche weiterhin präsent, weil es durch den stre­ benden Teil der Seele (das orektikon) repräsentiert wird. Das orektikon ist direkt für Lust- und Leidempfindungen empfänglich, die sich aus körperlichen Erfahrungen ergeben. Die körperlichen Erfahrungen bleiben auch bei Aristoteles erhalten. Allerdings hat sich die Hal­ tung des Menschen zu diesen arationalen Empfindungen verändert. Jemand, der zur Mäßigkeit erzogen wurde, hat immer noch Hunger und verspürt die damit einhergehenden Unlustgefühle. Er kann sich zu diesen Gefühlen aber verhalten und sich dazu entscheiden, nicht zu essen, wenn er etwas anderes (die Gesundheit, die Höflichkeit etc.) für wichtiger hält. Ihm gelingt deshalb die richtige Priorisierung von Gütern, und er kann sie zueinander ins Verhältnis setzen. Diese Verhältnismäßigkeit ist ein gemeinsamer Aspekt von der aristoteli­ schen mit der sokratischen wie auch der platonischen Position. Ein Mensch, der temporär so sehr von einem lustvollen Gegenstand affiziert wird, dass andere Urteile, die ihm ursprünglich wichtiger waren, in den Hintergrund rücken, nimmt diese eine Lustquelle völlig unverhältnismäßig in Bezug zu seinem restlichen Wertesystem wahr. Sie steht temporär in einem zu dominanten Verhältnis zu seinen anderen Interessen. Falls der Akteur dem nachgibt und sich dies in einer Handlung äußert, folgt kurze Zeit später die Reue, weil dann die anderen Werte, die er für gewöhnlich in seinen Handlungen priorisiert, wieder in seinem Denken präsent sind. Es geht somit um die Präsenz von Wertmaßstäben im Akteur. Die Präsenz des Guten

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7. Moralische Motivation

macht den Akteur effektiv darin, das Gute auch in die Tat umzusetzen. Beim historischen Sokrates bedeutet dies, dass körperliche Begierden in den Hintergrund rücken und die Wahrnehmung des Guten als Idee in den Vordergrund rückt. Bei Platon bedeutet dies, dass der vernünftige Seelenteil im Menschen dominant im Gegensatz zu den anderen Seelenteilen ist. Bei Aristoteles wiederum, dass der Mensch sich auch emotional vom Guten angezogen fühlt und deshalb das arationale sowie das rationale Streben auf die gleichen Gegenstände gerichtet sind. Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist somit, dass Aristoteles in gewisser Weise an der Unfreiwilligkeitsthese festhält, insofern er motivationaler Hedonist ist. Im Rahmen der Diskussion der Zuschreibbarkeit und Freiwil­ ligkeit von Handlungen kommt Aristoteles zu dem Schluss, dass auch der Akratiker nicht behaupten könne, dass er von der Lust ›gezwungen‹ werde, etwas zu tun. Auch bei Aristoteles kann sich der Unbeherrschte also nicht der Verantwortung entziehen. Mit Blick auf das Verantwortungsmoment bei Platon ist also auch hier eine Form der Kontinuität zu verzeichnen, auch wenn die aristotelische Position in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig ist. Wie oben bereits bespro­ chen besteht bei Aristoteles grundsätzlich eine Spannung in Bezug auf die Verantwortung des erwachsenen Menschen für seinen eigenen Charakter, weil ein Großteil der charakterlichen Dispositionen in der Kindheit erworben wird und Kinder sich nicht dazu entscheiden, eine bestimmte Erziehung zu genießen, Aristoteles Erwachsene aber in einem hohen Maße dafür verantwortlich hält, welche Menschen sie sind. In Bezug auf die Frage nach verschiedenen motivationalen Kräf­ ten oder Impulsen, zeigt sich eine Nähe zum mittleren und späten, nicht aber zum frühen Platon. Aristoteles räumt sehr wohl ein, dass es in der Seele unterschiedliche Bestrebungen und unterschiedliche Wertmaßstäbe gibt. Während die Kategorien des Lustvollen und Leidvollen für den strebenden Seelenteil (orektikon) ausschlaggebend sind, ist es für den vernünftigen Seelenteil das Gute und Schöne. Die Heilung bzw. Gesundheit der Seele und damit der Idealzustand der menschlichen Psyche bestehen in einer Synchronisation dieser Wertkategorien. Sie sollen so aneinandergekoppelt werden, dass das Gute und Richtige für den guten Menschen zugleich lustvoll ist. Die

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

»Gestalt des Klugen präsentiert […] einen Akteur, bei dem Evaluation und Motivation in vollem Umfang integriert sind.«709 In Aristoteles‹ ethischer Theorie steht deshalb eine veränderte Auffassung von praktischer Vernunft im Mittelpunkt. Für Platon stellt allein die Intensität des Wissens den Grund dafür dar, ob es sich im Handeln des Akteurs niederschlägt oder nicht. Die Intensität ergibt sich aus der Wahrheit des Erkannten und damit seiner ontologischen Nähe zum wirklich Seienden. Bei Aristoteles kommt es allerdings auf die strebensmäßige Verankerung intellektueller Erkenntnisse im Charakter an. Aristoteles behandelt den Begriff des Wissens somit differenzier­ ter. Er unterscheidet praktisches von theoretischem Wissen und kann zudem verschiedene Unterscheidungen dafür vorlegen, auf welche Art und Weise Wissen in der Psyche des Akteurs präsent ist und sich auf dessen Handeln auswirkt, d. h. handlungsrelevant wird. Aristoteles kann somit eine wesentlich differenziertere Erklärung für moralische Motivation liefern.

7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens Aristoteles formuliert in De motu animalium und in Teilen von De anima eine Theorie der animalischen Ortsbewegung. Die Bewegung von Menschen als Lebewesen, die wie alle anderen Lebewesen über Lust und Schmerz bzw. Lust und Unlust (hēdonē kai lypē) verfügen, kann zu großen Teilen analog zu der Bewegung von nicht-vernünfti­ gen Tieren verstanden werden.710 Im Folgenden werde ich die Grundlagen der animalischen Orts­ bewegung bei Aristoteles rekapitulieren und dann erläutern, wie im Rahmen dieser Theorie das vernünftige Streben bzw. das BewegtWerden durch vernünftige Einsicht erklärbar ist. Dies ist der zweite Schritt, der dazu beiträgt, eine metaethische Einordnung der aristote­ lischen Position vorzunehmen. Müller 2009a, S. 138. Hendrik Lorenz vertritt ebenfalls die Auffassung, dass tierische Motivation und menschliche arationale Motivation bei Aristoteles in einer gemeinsamen Theorie fassbar sind. Vgl. Lorenz 2006, S. 113. 709

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7. Moralische Motivation

7.4.1 Die Definition des Begriffs des Strebens (orexis) Streben ist bei Aristoteles eine Relation zwischen dem erstrebenden Lebewesen und einem erstrebten Gegenstand.711 Alle Lebewesen streben nach Dingen, die sie als lustvoll empfinden und meiden Dinge, die sie als schmerzhaft empfinden.712 Ob etwas lustvoll für ein Lebewesen ist oder nicht, lässt sich in Bezug auf die Natur des Lebewesens einerseits und seinen empirischen Ist-Zustand anderer­ seits bestimmen713: Gras als Nahrung ist für ein Pferd in diesem Sinne lustvoll, da es qua Pferd-Sein generell danach strebt, Gras zu verspeisen und nun empirisch konkret hungrig ist. Falls sich das Pferd gerade satt gegessen hat, ist Gras für das Pferd nicht lustvoll, vielleicht sogar im Gegenteil. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass Gras nicht an sich für das Pferd lustvoll ist, sondern nur in der konkreten Situation, in der das Pferd sich im Zustand des Mangels (hier: Hunger) befindet. Aristoteles spricht deshalb in einem solchen Fall von variablen Lüsten (kata symbebēkos), weil es nicht allein in einer intrinsischen Eigenschaft des Grases liegt, ob es lustvoll für das Pferd ist oder nicht, sondern in der Relation, in der sich das Pferd zu dem Gras befindet.714 Solche Lüste sind demnach frei assoziierbar. Immer wieder andere Gegenstände können in anderen Situationen für ein Lebewesen lustvoll sein.715 Die konkreten Gegenstände, die erstrebt werden, werden des­ wegen erstrebt, weil sie geeignet sind, dem Lebewesen Lust zu ver­ schaffen.716 Die Lust/Schmerz-Empfindung setzt einen kognitiven Gehalt voraus, der diese verursacht.717 Im Falle von sehr einfachen Corcilius 2008a, S. 127. Vgl. ebd. S. 66. 713 Vgl. ebd., S. 74. 714 Vgl. ebd. S. 78f. 715 Vgl. ebd. S. 79f. Deshalb lassen sich komplexe Abläufe von Verhalten auch gut durch veränderte Lustempfindungen darstellen. Ein Löwe auf der Jagd wittert die Beute und strebt folglich danach, sie zu erjagen. Ist sie erjagt, strebt er danach, sie zu fressen. Ist er satt, strebt er nicht mehr danach, sie zu fressen, sondern zu ruhen, etc. Da sich sowohl der empirische Ist-Zustand des Löwen wie auch seine Wahrneh­ mungsgehalte permanent verändern, ändert sich stetig, wonach er strebt und so erklärt sich seine Bewegung. Es ist also gar nicht möglich nur einen singulären Strebensge­ genstand zu benennen, der die gesamte Ereigniskette begründen könnte. Vgl. ebd. S. 134f. 716 Vgl. ebd., S. 140. 717 Vgl. ebd. S. 85f. 711

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

Tieren können dies ganz einfache Wahrnehmungsgehalte sein, wie sie zum Beispiel aus dem Tastsinn entstehen. Bei Lebewesen, die zu komplexeren Kognitionen in der Lage sind, können es auch komplexe kognitive Gehalte sein. Bei einem Tier mit rudimentären kognitiven Fähigkeiten wie dem Regenwurm ergibt sich folgendes Bild: Ein Regenwurm strebt ins Nasse einfach aufgrund seiner tastenden Wahrnehmung des Wassers und seiner Natur, ein Regenwurm zu sein. Dabei muss die teleologische Beschreibung ›Der Regenwurm strebt zum Wasser, weil es für ihn lustvoll ist‹ nicht notwendigerweise auch als Aussage über den intentionalen Zustand des Regenwurms verstanden werden. Es ist nicht notwendig, dass der Regenwurm das Wasser als gut für ihn wahrnimmt oder ein Urteil darüber fällt, dass das Wasser gut für ihn sei, um es zu erstreben.718 Entscheidend ist die Relation, in der er zu dem Wasser steht. Die Erklärung des Strebens als relationalem Begriff ermöglicht es Aristoteles, eine gemeinsame Theorie der Ortsbewe­ gung für alle Lebewesen zu entwickeln, obwohl sich deren kognitiven Zustände in der Komplexität stark unterscheiden. Streben ist bei Aristoteles kein eigener Seelenteil und auch nicht das Vermögen eines Seelenteils, sondern die gemeinsame Leistung von Körper und Seele.719 Auch hier liegt eine Innovation im Vergleich zu Platon vor. Aristoteles versteht das Streben als Vermögen, das sowohl in Bezug auf Gegenstände des Denkens wie auch in Bezug auf Gegenstände der Vorstellung oder der Wahrnehmung vorkommen kann. Es ist deshalb ein Vermögen, das sich nicht an den Grenzen von einzelnen Seelenvermögen aufhält. So gibt es strenggenommen nur

718 Vgl. ebd., S. 98: Martha Nussbaum stellt sich in ihrem Kommentar zu De motu animalium die Frage, wie ein Lebewesen denn dann erkennt, dass es einen Gegenstand meiden und den anderen verfolgen soll. Ihre Lösung besteht in der Annahme, dass die Lebewesen, bevor sie Gegenstände meiden oder verfolgen, diese Gegenstände als erstrebenswert wahrnehmen. Diese Grundannahme hat Shermans Erklärung der Habituation beeinflusst, denn sie geht in der Folge davon aus, dass ›etwas erstreben lernen‹ bedeutet, etwas als erstrebenswert wahrnehmen zu lernen. Zur Diskussion dieses Punktes siehe Abschnitt 8.3. 719 Vgl. Corcilius 2008a, S. 50–51. Corcilius macht das an zwei Dingen fest: Einer­ seits bezeichnet Aristoteles orexis wiederholt als ›bewegten Beweger‹ (kinoun kai kinoumenon, vgl. De an. 433b15), während er von der Seele aber bestreitet, dass sie bewegbar sei. Andererseits deutet alles darauf hin, dass er das Streben als Konsequenz aus dem Besitz des Wahrnehmungsvermögens erklärt.

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7. Moralische Motivation

ein Streben, das die gemeinsame Leistung von Seele und Körper ist, aber unterschiedliche Arten von Strebungen.720

7.4.2 Die Arten der Strebung Insgesamt gibt es bei Aristoteles drei Arten der Strebung,721 wobei der Anspruch darin besteht, dass diese exhaustiv sind, d. h., dass jede Form des Strebens unter eine dieser drei Arten fällt.722 Die Arten der Strebung unterscheiden sich durch die Relata, auf die sie sich richten: Die Begierde (epithymia) ist das Streben nach Lust und die Art von Streben, die allen Lebewesen gemeinsam ist. Thymos ist das Streben, das im weitesten Sinne auf ein Anerkennungsverhältnis des Lebewe­ sens zu seinen Artgenossen oder zu äußeren Gegenständen gerichtet ist und erfordert auch komplexe Wahrnehmungen. Es kommt deshalb nur bei Lebewesen vor, die zu komplexen Wahrnehmungen fähig sind.723 Diese beiden Strebungen sind arationale Strebungen und erfordern deshalb kein vernünftiges Erkenntnisvermögen. Sie sind bei einfachen und höherstufigen Lebewesen vorhanden.724 Davon abzugrenzen ist das vernünftige Streben boulēsis, oft mit Wunsch übersetzt, das sich auf intrinsische Güter sowie unerreichbare Güter richtet und nur rationalen Lebewesen zuzuschreiben ist.725

720 Zur aristotelischen Kritik an der Teilung der Seele bei Platon vgl. Corcilius 2008a, S. 48–52. 721 Vgl. beispielsweise EE II 7, 1223a28. 722 Vgl. Corcilius 2008a, S. 56. 723 Vgl. ebd. S. 129. 724 Sehr aufschlussreich ist das Beispiel des Hundes, der von jemandem gestreichelt wird und dies je nachdem, ob es sich um einen Freund oder einen Fremden handelt, dem Streichelnden zürnt oder nicht. Die taktile Empfindung ist jedes Mal die gleiche, das Verhältnis, in dem der Hund zu der streichelnden Person steht, ist allerdings anders. Ob er das Gestreichelt-Werden mit wedelndem Schwanz begrüßt oder ange­ sichts einer unangemessenen Annäherung zornig ist, geht über die bloße Wahrneh­ mung hinaus. Es handelt sich um eine komplexe Wahrnehmung, die sich auf das Ver­ hältnis bezieht, in dem der Hund zu der Person steht. Vgl. Corcilius 2008a, S. 141. 725 Vgl. EN III 4, 1111b19–30.

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

7.4.3 Die normative Bewertung von Strebungen Aristoteles unterscheidet zwischen notwendigen bzw. natürlichen Begierden (physikē epithymia) und solchen, die hinzuerworben wer­ den (epithetos).726 Aus normativer Sicht soll der Mensch nur das Notwendige begehren, wofür es einen objektiv im Körper vorhandenen Mangel­ zustand gibt. Aristoteles hält sowohl das Begehren von Nahrung (also Zustände von Hunger und Durst) sowie das Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr für natürlich.727 Aus normativer Perspektive sind für Aristoteles Begierden nur so weit gerechtfertigt, wie es das Wiederauffüllen von körperlichen Mangelzuständen erfordert.728 »Es sieht also ganz so aus, als beschränke Aristoteles dies auf die im weitesten Sinne lebenserhaltenden körperlichen Funktionen.«729 Die hinzuerworbenen oder auch eigentümlichen (idioi) Begier­ den können entweder tadelnswert sein, weil sie sich auf die falschen Gegenstände beziehen oder weil sie sich zwar auf die richtigen Gegen­ stände beziehen, aber an Intensität und Modalität über das Maß des Gebotenen hinausgehen.730 Daraus ergibt sich, dass die Formung des Strebens zwei Ziele hat: Das erste Ziel besteht darin, das Streben auf die richtigen Gegenstände zu lenken, und das zweite besteht darin, die Intensität und Modalität des Empfindens der Begierden zu regulieren.

7.4.4 Die motivationale Rolle des vernünftigen Strebens Aristoteles‹ Motivationstheorie sieht sich durch die Tatsache ratio­ naler Motivation vor eine erhebliche Herausforderung gestellt.731 Denn es ist im Rahmen seiner Naturphilosophie für Aristoteles nicht einfach, zu erklären, wie die Vernunft zu einer Bewegungsursache werden kann. »Die Natur besteht im Wesentlichen in bewegten Körpern, Vernunft dagegen ist weder bewegt noch körperlich.«732 Aristoteles meistert die Herausforderung jedoch, denn er hat eine 726 727 728 729 730 731 732

Vgl. EN III 13, 1118b8f. EN VII 14, 1154a15–18; EN III 13, 1118b9–12. Vgl. EN III 13, 1118b18. Corcilius 2008a, S. 138. Vgl. ebd., S. 139. Vgl. ebd., Vorwort. Ebd.

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7. Moralische Motivation

naturphilosophische Erklärung dafür, wie das Denken eine Rolle für menschliches Verhalten spielt. Und in dieser Erklärung nimmt der Begriff des rationalen Strebens einen zentralen Platz ein. Aristoteles unterscheidet das Denken danach, auf welche Gegen­ stände es sich richtet. Die Bewegungsunfähigkeit gilt dabei nur für die Art von Denken, die sich auf theoretische Gegenstände richtet, denn dort beschäftig man sich mit Dingen, die invariant sind und »nicht mit Dingen, die man tun oder herstellen kann«733: ἀλλὰ μὴν οὐδὲ τὸ λογιστικὸν καὶ ὁ καλούμενος νοῦς ἐστὶν ὁ κινῶν· ὁ μὲν γὰρ θεωρητικὸς οὐθὲν νοεῖ πρακτόν, οὐδὲ λέγει περὶ φευκτοῦ καὶ διωκτοῦ οὐθέν, ἡ δὲ κίνησις ἢ φεύγοντός τι ἢ διώκοντός τί ἐστιν. Denn die theoretische Vernunft betrachtet nicht den Gegenstand einer Handlung und sie sagt auch nichts über das, was zu meiden oder zu verfolgen ist, die Bewegung dagegen gehört stets entweder zu einem Meidenden oder Verfolgenden. De an. III 9, 432b26–29.734

Das Denken, das auf Dinge bezogen ist, die der Akteur verändern kann, also praktische Zwecke (tōn praktōn telos), kann jedoch durch­ aus Motivation generieren.735 Im Folgenden werde ich zwei verschie­ dene Argumentationen entfalten, die dies verdeutlichen.

7.4.5 Die Möglichkeit des Strebens nach dem Guten aufgrund von Einsicht – Aristoteles’ (schwacher) Internalismus Interpreten, die Aristoteles als Externalisten klassifizieren, betonen, dass Denken und Streben bei Aristoteles auseinanderfallen. Im Fol­ genden möchte ich in zwei kurzen Argumentationen skizzieren, warum dem nicht zuzustimmen ist und inwiefern ein Internalismus bei Aristoteles vorliegt. Das erste Argument, das dafür spricht, dass Aristoteles Interna­ list ist, ist, dass er die Meinung vertritt, dass das Denken des Guten ein Streben nach dem Guten generieren kann, d. h. dass intellektuelle Erkenntnis praktischer Natur handlungsrelevant werden kann. Für diese Interpretation sind zwei Passagen ins Feld zu führen: Met. 1072a26–30 und EN VI 2, 1139a35–1139b5. Corcilius 2008a, S. 173. Übersetzung nach Corcilius. 735 Corcilius bezieht sich in seiner Argumentation auch auf De motu anim. 6, 700b24–28. Zur Handlungsbezogenheit der Klugheit vgl. EN VI 8.

733 734

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

Blicken wir zunächst auf den kausalen Zusammenhang, der besteht, wenn eine arationale Strebung eine Bewegung auslöst: Ein Wahrnehmungsgegenstand trifft auf eine bestimmte körperli­ che Verfassung des Lebewesens und löst dort beispielsweise eine Lust-Empfindung aus, die dann direkt zur Strebung führt.736 Der Wahrnehmungsgegenstand wird dabei als gut wahrgenommen. Es handelt sich um ein variables Gut, da es auch ein anderer Gegenstand sein könnte, der das Streben im Lebewesen auslösen könnte, wenn sich das Lebewesen in einem anderen Zustand befände oder eine andere Natur hätte. Nun stellt sich die Frage, ob der gleiche Mechanismus aus Aristoteles’ Sicht auch für invariable Güter gilt, d. h. für Güter, die aufgrund ihres intrinsischen Gehalts erstrebenswert sind. Corcilius sieht dies in Met. 1072a26–30 gegeben. Hier stellt Aristoteles im Zusammenhang mit der Frage, ob etwas bewegen kann, das selbst nicht bewegt ist, folgende Überlegung an: τὸ ὀρεκτὸν καὶ τὸ νοητὸν κινεῖ οὐ κινούμενα. τούτων τὰ πρῶτα τὰ αὐτά. ἐπιθυμητὸν μὲν γὰρ τὸ φαινόμενον καλόν, βουλητὸν δὲ πρῶτον τὸ ὂν καλόν. ὀρεγόμεθα δὲ διότι δοκεῖ μᾶλλον ἢ δοκεῖ διότι ὀρεγόμεθα· ἀρχὴ γὰρ ἡ νόησις. Auf diese Weise setzen aber der Gegenstand der Strebung (to orekton) und der Gegenstand des Denkens (to noēton) in Bewegung, denn sie setzen in Bewegung, ohne selbst in Bewegung zu sein. Von ihnen sind die primären Gegenstände dieselben: Gegenstand der Begierde ist nämlich das, was gut (kalon) zu sein scheint, und Gegenstand des Wünschens ist primär das, was wahrhaft gut ist (to on kalon). Wir erstreben aber etwas vielmehr deshalb, weil es (gut zu sein) scheint, als dass es (gut zu sein) scheint, weil wir es erstreben, Ausgangspunkt (archē) ist nämlich das Denken (noēsis).737

Corcilius legt diese Stelle so aus, dass Aristoteles hier Gebrauch von seiner Theorie der arationalen Strebung macht.738 Für das arationale Streben und das rationale Streben ist hier ein paralleler Mechanismus zu verzeichnen, bei dem die Kognition eines erstrebenswerten Gegen­ standes das Streben kausal auslöst, wobei es sich beim arationalen Streben um einen Gegenstand handelt, der gut erscheint, während das rationale Streben auf das zielt, was wahrhaft gut ist. 736 737 738

Vgl. Corcilius 2008a, S. 165. Übersetzung nach Corcilius 2008a, S. 166. Vgl. ebd.

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7. Moralische Motivation

»Er (Aristoteles) argumentiert, dass die rationale Strebung sich in der Weise als eine Konsequenz aus dem Denken (on) [sic!] ergibt, in der sich Begierde und Mut als Konsequenz aus der Wahrnehmung (dokei) ergeben: Bei der Begierde bildet die Kognition des begehrten Gegenstandes (das, was gut zu sein scheint) den Ausgangspunkt. [...] Aristoteles macht hier nun Gleiches von den Gehalten der rationalen Strebung geltend. Ausgangspunkt ist jetzt aber nicht mehr die Wahr­ nehmung bzw. der Schein, sondern das Denken und das ihm korrelierte Sein (on): Nicht deswegen, weil wir etwas erstreben, ist es ein Gut, sondern wir erstreben etwas, weil es gut ist.«739

Ausgangpunkt (archē) des Strebens ist also jeweils eine Kognition, wobei es das eine Mal eine einfache Wahrnehmung, das andere Mal das Denken ist. Corcilius formuliert diese These sehr prägnant: »Wenn man die primären Gegenstände der rationalen Strebung denkt, so das Argument, erfolgt die Strebung nach dem gedachten Gegenstand aufgrund des Denkens an sie.«740 Es gibt für Aristoteles demnach Gegenstände, »die, weil sie als das erkannt werden, was sie selber sind, im Denkenden eine Strebung nach ihnen hervorrufen. Das wahrhaft Gute, so die Behauptung, wird deswegen erstrebt, weil es gut ist, und nicht, weil es uns so scheint bzw. von uns als solches empfunden wird.«741

Es wird deutlich, dass Aristoteles ethischer Realist ist. Nach seiner Auffassung gibt etwas, das objektiv gut ist und dies kann von einem denkenden Menschen erkannt werden.742 Infolgedessen wird der Mensch danach streben, genau das Erkannte zur Wirklichkeit zu machen: »Es handelt sich um eine Strebung, die sich allein aus dem kognitiven Bezug zu bestimmten Gegenständen erklärt. […] Aristoteles konzi­ piert die rationale Strebung demnach nach dem gleichen Prinzip wie die arationale Strebung, nämlich als Konsequenz aus einer kognitiven Tätigkeit, sie sich auf ein Gut richtet. Der Gegenstand der kognitiven Tätigkeit ist im Falle der rationalen Strebung ein Gut als Gut.«743

Weitere Evidenz für diese These bietet außerdem eine Passage der Nikomachischen Ethik:. 739 740 741 742 743

Corcilius 2008a, S. 166. Ebd. S. 167. Ebd. Vgl. EN III 6, 1113a25–33. Vgl. Corcilius 2008a, S. 167.

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

διάνοια δ᾿ αὐτὴ οὐθὲν κινεῖ, ἀλλ᾿ ἡ ἕνεκά του καὶ πρακτική· αὕτη γὰρ καὶ τῆς ποιητικῆς ἄρχει· ἕνεκα γάρ του ποιεῖ πᾶς ὁ ποιῶν, καὶ οὐ τέλος ἁπλῶς ἀλλὰ πρός τι καὶ τινὸς τὸ ποιητόν. ἀλλὰ τὸ πρακτόν· ἡ γὰρ εὐπραξία τέλος, ἡ δ᾿ ὄρεξις τούτου· διὸ ἢ ὀρεκτικὸς νοῦς ἡ προαίρεσις ἢ ὄρεξις διανοητική, καὶ ἡ τοιαύτη ἀρχὴ ἄνθρωπος. Das Denken als solches bewegt jedoch nichts, sondern nur dasjenige Denken, das auf einen Zweck bezogen, das heißt praktisch ist. Dieses leitete ja auch das herstellende Denken. Denn jeder, der etwas herstellt, stellt es zu einem Zweck her, wobei Ziel letztlich nicht der Gegenstand des Herstellens ist […], sondern der Gegenstand des Handelns. Ziel ist das gute Handeln (eupraxia), und das Streben richtet sich auf dieses. Daher ist der Vorsatz entweder strebendes Denken oder denkendes Streben, und ein so gearteter Ursprung ist der Mensch. EN VI 3, 1139a35 – 1139b5.

Aristoteles beginnt hier zwar mit der Aussage, dass das Denken nichts bewege, gemeint ist allerdings das Denken, das sich auf theoretische Gegenstände richtet. Denken, das sich hingegen auf praktische Zwe­ cke richtet, ist sehr wohl im Stande, etwas zu bewegen. Aristoteles wählt zur Illustration den Vergleich mit dem herstellenden Denken (poiēsis). Der Tischler zum Beispiel hat ein inneres Bild des Tisches, eine Vorstellung, nach der er dann die Welt verändert, in dem er einen Tisch herstellt. Genauso ist es mit dem praktischen Denken: Wer einen Zweck denkt, hat eine Vorstellung davon, wie sich die Welt verändern sollte, und hat folglich das Bestreben, die Welt in genau dieser Hinsicht zu verändern. Das Denken eines Zweckes generiert demnach ein rationales Streben. Dabei verhält es sich so, dass sich alle Ziele und daher alle Strebungen des phronimos darunter vereinen lassen, dass alles was er tut, mit dem übergreifenden Ziel zu tun hat, dass er ein gutes Leben führen möchte.744 Deshalb fasst Aristoteles die bewusste Entscheidung (prohairesis) als strebendes Denken oder den­ kendes Streben auf. Das zeigt, wie untrennbar Streben und Denken für Aristoteles (beim phronimos) miteinander verbunden sind, und nur beides gemeinsam bewegt zum Guten hin. Es ist ein Spezifikum 744 Diese Formulierung ist zu Recht Gegenstand kontroverser Debatten. Problema­ tisch wäre sicherlich die Auffassung, der phronimos tue alles, was er tue, um ein gutes Leben zu führen und letztlich seine Eudaimonie im Sinne eines Eigeninteresses zu vollenden. Caj Strandberg scheint Aristoteles so zu lesen. Vgl. Strandberg 2000, S. 71. Hier muss sicherlich darauf verwiesen werden, dass der phronimos die guten Handlungen um ihrer selbst willen wählt. De facto leisten sie aber einen Beitrag dazu, dass sein Leben gelingt.

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7. Moralische Motivation

des Lebewesens Mensch genau auf diese Weise, nämlich dadurch, sich zu etwas zu entscheiden, Ursprung von Kausalketten zu sein, die den Weltlauf verändern.

7.4.6 Flexibilität und Innovation: Die Möglichkeit der Reflexion von Zielen Wenn man für Aristoteles ausschließen möchte, dass moralische Urteile Strebungen generieren können, so müsste der Erziehungspro­ zess folgendermaßen beschrieben werden: In der Kindheit würde ein (vollständiges) Set von moralischen Dispositionen erworben, die sich auf das Gute richten. Im Leben des Erwachsenen hätten dann vernünftige Einsichten in das Gute nur noch die Aufgabe, diese bereits in der Psyche des Menschen vorhandenen motivationalen Einstellun­ gen zu bestätigen.745 Der phronimos würde deshalb ein Leben lang tun, worauf er als Kind sozusagen ›abgerichtet‹ wurde. Er wäre ein regelrechter Tugendautomat, für den allerdings kein Lernen und keine Innovation möglich wäre.746 Da dieses Bild nicht überzeugend ist, müssen alternative Interpretationen erwogen werden. Wir müssen uns deshalb der Forschungsdebatte zuwenden, in deren Zentrum Ziele bei Aristoteles stehen, und den weit verbreiteten Irrtum aus dem Weg räumen, dass bei Aristoteles Ziele nicht Gegen­

McDowells Interpretation scheint in diese Richtung zu gehen, wenn er sagt, dass Kinder durch Erziehung in eine bestehende Praxis initiiert würden. Vgl. McDowell 1995, S. 172. In diesem Sinne »konstatiert er ein statisches Moment in der aristoteli­ schen Ethik«, Hoffmann, M. 2010, S. 180. Hoffmann entlarvt jedoch zutreffend, dass McDowell selbst diese Auffassung auch nicht stringent vertritt. Vgl. ebd., S. 180f. 746 Mit dem Vorwurf, die aristotelische Ethik ließe keine Innovation zu, ist die oft vertretene Auffassung verbunden, die aristotelische Ethik bestätige nur die gegebene Praxis und habe daher keinen theoretischen Gehalt. Ein gutes Beispiel für diese Hal­ tung gibt Andreas Graeser. Er ist der Meinung, dass Aristoteles zu jenen Philosophen gehöre, »die bereits vorhandenes ethisches Wissen auf Begriffe bringen«, anstatt nach den eigentlichen Kriterien ethischen Wissens zu fragen. Und er fährt fort: »Für Aris­ toteles steht fraglos fest, daß die sittlichen Werte, die der normale Athener in den sogenannten Tugenden verkörpert sieht, tatsächlich sittlicher Natur sind und keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen oder auch nur ihrer fähig sind. Sokrates hat diese Auffassung nicht geteilt. Weder glaubte er, daß die meisten seiner Mitbürger mora­ lisch richtig handeln, noch meinte er, daß sich das Moralische gewissermaßen von selbst verstehe.« Graeser 1983, S. 96. 745

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

stand der Reflexion sein könnten und deshalb ein und für allemal vorgegeben sein müssten.747 Aristoteles betont wiederholt, dass die Ziele, die ein Mensch in seinem Leben verfolgt, seinem Charakter entspringen, beziehungs­ weise Rückschlüsse auf seinen Charakter zulassen.748 Im Rahmen der Diskussion der prohairesis, in der Aristoteles die Struktur von Ent­ scheidungsprozessen erörtert, sagt er dann, dass sich die Überlegung nicht auf die Ziele selbst richte, sondern auf das, was diese Ziele rea­ lisiere.749 Dass Aristoteles damit allerdings nicht ausschließen muss, dass Ziele reflektiert werden und sich infolgedessen auch verändern können, möchte ich mit einigen wenigen Bemerkungen skizzieren. Ich beginne mit der Begründung, die Aristoteles im gleich folgen­ den Absatz liefert: Der Arzt überlege nicht, ob er heilen soll, ebenso wenig der Redner, ob er überzeugen solle, oder der Politiker, ob er eine gute Ordnung schaffen solle. Ein Arzt ist qua Arzt-Sein auf die Gesundheit als Ziel ausgerichtet. Das ist nicht in Frage zu stellen. Gleiches gilt für den Redner und den Politiker: Aristoteles gibt hier je essenzielle Zielbestimmungen an, die das Leben und Handeln eines Redners bzw. Politikers ausmachen. Der Redner will überzeugen und der Politiker will die gute Ordnung für die Gemeinschaft realisieren. In einem generellen Sinne muss das nicht mehr weiter vernünftig begründet werden. Allerdings erfordert die Realisation dieser Ziele (Gesundheit, Überzeugung, gute Staatsordnung) Überlegungen. Ganz ähnlich ist es mit dem phronimos zu verstehen: Er will das Gute, das steht außer Frage. Wie sich dieses generelle Ziel realisieren lässt, steht allerdings zur Debatte und ist Gegenstand der praktischen Rationalität. Es wird deutlich, dass dann spezifischere Ziele Gegenstand der Überlegung sein können und müssen. Eine überzeugende Argumentation für diese Auffassung liefert auch Mary Louise Gill. Sie argumentiert, dass allgemeine Ziele wie »Tu, was die Tapferkeit von dir verlangt!« immer zu konkreten Zielen herunterge­ brochen werden müssen, die alle Umstände und Einzelheiten sowie die eigenen Fähigkeiten berücksichtigen.750 Eine junge Ärztin, die den Grundsatz verinnerlicht hat ›heile Menschen‹, kommt mit diesem Satz im klinischen Alltag nicht weit. Sie muss in jeder Situation überlegen: Welche Symptome zeigt der Patient? Auf welche Krank­ 747 748 749 750

Siehe meine Diskussion in 4.5. EN III 4, 1111b5f. Vgl. EN III 5, 1112b12ff. Vgl. Gill 2015, S. 102–104.

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7. Moralische Motivation

heit deuten sie hin? Welche medikamentösen Möglichkeiten gibt es? Usw. Ein erstes Ziel wird dann möglicherweise darin bestehen, das Fieber des Patienten zu senken oder eine Röntgenuntersuchung durchzuführen. Es sind solche konkreten Ziele, die in der jeweiligen Situation die Realisation des Ziels ›den Patienten heilen‹ bedeuten können. Eine Ärzt, die auf ein Set fester Ziele wie ›Fieber senken‹ oder ›Röntgenuntersuchung durchführen‹ festgelegt wäre und nicht reflektieren könnte, wann welches dieser Ziele zu erstreben wäre, würden wir kaum als kompetente Ärztin beschreiben. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, inwiefern ein erweitertes Wissen für die kluge Festlegung von konkreten Zielen vonnöten ist. Ein weiteres Argument, das ich kurz skizzieren möchte, stammt von Christof Rapp. Er wendet sich auch gegen das allgemeine Miss­ verständnis, dass aus der aristotelischen These, dass Ziele Sache der Tugend seien, folge, dass Ziele vorgegebenen seien.751 Dieser Einwand stützt sich auf ein sehr starres Verständnis von Zielen auf der einen Seite und Mitteln auf der anderen Seite. Dabei wird die Intention des Textes vernachlässigt: Aristoteles möchte im dritten Buch der Nikomachischen Ethik untersuchen, inwiefern Handlungen Menschen zuschreibbar sind und inwiefern sie für eben­ diese verantwortlich sind. Im Rahmen dieser weiteren Fragestellung untersucht er »die Struktur der Entscheidung«752. Wenn man das tut, muss man von einem gesetzten Ziel ausgehen und dann sagen, wie es zur Handlung kommt. Daraus ist jedoch nicht allgemein zu schließen, dass alle Ziele immer gesetzt seien: »Ein Ziel ist nicht prinzipiell unverfügbar, sondern ist das, was bei einer Entscheidung nicht zur Wahl steht.«753 Gerade mit Blick auf die Frage nach der Verantwortung für menschliche Handlungen, wäre es abwegig, einen Menschen nicht für ein Ziel, das er durch eine Handlung realisiert hat, verantwortlich zu machen, sondern nur für die Handlung selbst. Rapp macht richtig darauf aufmerksam, dass jede Handlung ihr immanente Ziele verfolgt und deshalb »jede Entscheidung für eine bestimmte Handlungsweise zumindest eine Affirmation der Wünschenswürdigkeit ihrer imma­ nenten Ziele dar[stellt].«754 Durch die Art und Weise, wie wir han­ 751 752 753 754

Vgl. Rapp 2010, S. 127. Ebd., S. 128. Ebd. Ebd., S. 130.

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

deln, zeigt sich, welche Ziele wir verfolgen, und darin zeigt sich, welche Art Mensch wir sind. Die aristotelische Überzeugung, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich sind, zeigt, dass Ziele nicht vorgegeben sind, sondern im Rahmen einer reflektierten Lebensfüh­ rung zur Disposition stehen müssen. Der phronimos wird sein Leben nicht nach einem bestimmten Schema gestalten, sondern muss in den jeweiligen Umständen entscheiden, was seinen höherstufigen Zielen am ehesten entspricht.755

7.4.7 Der nicht-beliebige Ausgang der Erziehung Der zweite Aspekt, der m. E. dafür spricht, dass der Zusammenhang zwischen moralischen Urteilen und moralischer Motivation nicht kontingent allerdings auch nicht notwendig ist, wird mit Blick auf den Erziehungsprozess deutlich. Besagter Zusammenhang muss bei Kindern dadurch hergestellt werden, dass das Streben des Kindes auf die moralischen Überzeugungen des Erziehenden hin ausgerichtet wird. Allein die Tatsache, dass der Erziehungsprozess auch misslingen kann, zeigt, dass der Zusammenhang von intellektueller Erkenntnis und kongruenter Strebung nicht notwendig ist. Wäre er notwendig, würden alle Menschen, die die richtigen Einsichten haben, auch richtig handeln. Erziehung würde immer gelingen. Allein dadurch, dass Aristoteles aber annimmt, dass es sowohl Akratiker als auch Enkratiker gibt, also Menschen, deren Strebungen von ihren vernünf­ tigen Einsichten abweichen, bestätigt, dass Aristoteles nicht annimmt, dass eine Erkenntnis, ist sie intellektuell fundiert genug, andere Bestrebungen in der Seele dominieren kann. Aristoteles ist nicht von der These der ›overridingness‹ überzeugt und vertritt somit keinen starken Internalismus.

7.4.8 Die Verknüpfung von rationalen Gehalten mit Lust/LeidEmpfindungen Eine vernunftgeleitete Motivation entsteht dann, wenn rationale Gehalte mit Lust/Leid-Empfindungen verbunden werden. Wie wird dies gewährleistet? Aristoteles ebenso wie der frühe Platon, geht 755

Vgl. Lockwood 2013, S. 28 und Gill 2015, S. 99.

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7. Moralische Motivation

davon aus, dass sich ein Akteur letztlich für die lustvollere Hand­ lungsalternative entscheidet. Dies tut er aufgrund eines hedonisti­ schen Kalküls, also einer Abwägung darüber, welche Lustwerte für die mögliche Handlung eine Rolle spielen. Dass dieses Kalkül aber über­ haupt zustande kommen kann, ist der Affektkontrolle zu verdanken. Der Mensch hat im Gegensatz zum Tier die Möglichkeit, seinem Streben nicht direkt zu folgen, sondern dies zu überdenken und sich gegebenenfalls für eine in der Gesamtperspektive lustvollere Hand­ lungsalternative zu entscheiden, die in der Zukunft liegt. Die mora­ lische Erziehung des Kindes muss deshalb genau hier ansetzen: Das Kind muss lernen, unmittelbaren Impulsen nicht direkt zu folgen. Im Folgenden möchte ich detailliert untersuchen, inwiefern Aristoteles durch die Annahme eines hedonistischen Kalküls an der Unfreiwil­ ligkeitsthese festhält und in welchem Zusammenhang hedonistisches Kalkül und Affektkontrolle stehen.

7.4.8.1 Das hedonistische Kalkül Mit Blick auf De an. 431b1–10 lässt sich erklären, wie nach Aristo­ teles ein hedonistisches Kalkül zustande kommt. In dieser Passage geht es »um die Erklärung der Motivation (bzw. der Konstitution der Strebung) durch solche Wahrnehmungsgehalte, die perzeptiv nicht gegenwärtig sind.«756 Dies ist möglich, indem ein Mensch sich nicht-präsente Wahrnehmungsgehalte durch die Vorstellungskraft (phantasia) vor Augen hält. Aristoteles kommt hier zu dem Schluss, dass der denkende Mensch mithilfe der Vorstellungsgehalte in der Seele in der Lage dazu ist, das Künftige gegen das Gegenwärtige abzuwägen.757 In diesem Kalkül vergleicht er sozusagen gegenwärtige mit potenziellen zukünftigen Lust/Leid-Werten. Daraus ergibt sich folglich ein Streben: »Und wenn man feststellt, dass dort das Lust­ volle oder Schmerzhafte ist, dann meidet oder verfolgt man hier.«758 Aristoteles ist also der Meinung, dass Menschen gegenwärtige Lüste zurückstellen können, und zwar genau dann, wenn sich durch die Gegenüberstellung mit der Aussicht auf zukünftige Lüste ergibt, dass insgesamt ein größerer Lustwert erreicht werden kann, wenn auf die 756 757 758

Corcilius 2008a, S. 186. Vgl. De an. 431b6–8. De an. 431b8–9. Übersetzung nach Corcilius 2008a, S. 187.

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

gegenwärtige Verlockung verzichtet werden kann.759 Corcilius sieht hier die Formulierung eines motivationalen Hedonismus gegeben, worunter er zwei Annahmen vereint: 1.

2.

Erstens die Annahme, »dass […] arationale Strebungen zur effektiven Fortbewegung des Lebewesens notwendige Bedin­ gungen sind und diese nicht anders als durch Lust/Leid-Empfin­ dungen motiviert werden können, und zweitens, dass rationale Gehalte dann Einfluss auf die Handlungsgenese nehmen können, wenn sie mit entsprechend höheren Lustwerten verknüpft sind als konkurrierende Hand­ lungsoptionen.«760

In ähnlicher Weise argumentiert Rapp, wenn er erklärt, wie bei Aristoteles Entscheidungen zustande kommen. Wenn sich ein Akteur zwischen Handlung A und Handlung B entscheidet (A und B müssen echte Alternativen darstellen), dann wird, wenn er sich für A entschei­ det, A immer die lustvollere Alternative dargestellt haben.761 Rapp erläutert überzeugend, dass für Aristoteles ein Für-besser-halten einer Handlungsalternative immer »beinhaltet, daß man die Ausfüh­ rung von A in höherem Maße will oder erstrebt als die Ausführung von B.«762 Er kommt daher zu dem Schluss, dass ein Für-besser-Hal­ ten, das aus der praktischen Erwägung hervorgeht, unmittelbar ein Erstreben beinhaltet.763 Besonders interessant für die vorliegende Untersuchung sind hier zwei Aspekte. Die Abwägung der Lustwerte von Handlungsalter­ nativen erinnert sehr an die von Protagoras als Messkunst bezeichnete Fähigkeit. Des Weiteren scheint auch die Unfreiwilligkeitsthese im Kern erhalten zu bleiben. Wenn der Akteur unter den Umständen, die er überblicken kann, jeweils das Lustvollste wählt, kann er zumindest begrifflich betrachtet auch nicht das Schlechtere dem Besseren vorzie­ hen. Das Schlechtere wird nur dann dem Besseren vorgezogen, wenn er die Umstände nicht völlig überblickt oder einzelne Lustwerte falsch einschätzt, sich sozusagen verkalkuliert. Dafür schützt ihn im Bestfall aber die phronēsis, kraft derer er alles richtig einzuschätzen vermag. 759 760 761 762 763

Vgl. Corcilius 2008a, S. 181. Ebd., S. 188f. Vgl. Rapp 2010, S. 125. Ebd., S. 125. Vgl. Ebd.

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7. Moralische Motivation

Die Fähigkeit, zukünftige Lustwerte mit in die gegenwärtigen Überlegungen mit einzubeziehen, muss dann mit der Frage in den Blick genommen werden, wie sich auf der kausalen Ebene deliberative Erwägungen in die Bewegungsgenese einschalten können. Diese Möglichkeit lässt sich durch Affektkontrolle erklären.

7.4.8.2 Affektkontrolle Bei Tieren gehen Lust/Leid-Empfindungen direkt in eine entspre­ chende Strebung über. In der Regel wird sich das Tier in Bewegung setzen, wenn es den bewegungsrelevanten Gegenstand mit entspre­ chender Intensität erstrebt, der Gegenstand unmittelbar gegenwär­ tig ist und alle übrigen notwendigen Bedingungen gegeben sind. Dieser normale Fall der Bewegungsgenese wird von Aristoteles mit dem praktischen Syllogismus veranschaulicht, in dem Obersatz und Untersatz zusammengenommen die Genese einer Handlung erklä­ ren. Das Standardmodell lässt sich folgendermaßen notieren: – –

Obersatz: eine Strebung mit einem bestimmten Gehalt Untersatz: die Wahrnehmung oder Vorstellung eines Gegen­ standes, der fähig ist, die Strebung zu realisieren »Wenn beide ›Prämissen‹ vorliegen, sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Ortsbewegung gegeben und die Bewegung erfolgt ohne Verzug (vgl. MA 701a7-b1).«764



Bei der praktischen Deliberation eines rationalen Akteurs wird dieser Vorgang, der im Falle des Tieres sozusagen ungebremst abläuft, unter­ brochen. »Wer mit sich zurate geht, unterbricht den natürlichen Ablauf der Bewegungsgenese, um so Raum für Fragen und Überlegung zu schaf­ fen. Tun wir dies nicht, handeln wir – so wie die anderen Lebe­ wesen auch – ohne zu überlegen, d. h. unverzüglich (euthys) und schnell (tachy).«765

In dieses Modell lassen sich Kinder leicht einordnen. Wenn Kinder noch klein sind, dann agieren sie so wie andere höhere Säugetiere: Auf eine Wahrnehmung eines erstrebenswerten Gegenstandes folgt unmittelbar das Streben nach ebendiesem, und unmittelbar darauf 764 765

Corcilius 2008a, S. 190. Ebd.

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7.4 Moralische Motivation im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Strebens

folgt die entsprechende Körperbewegung. Im Laufe des Prozesses der Habituation müssen Kinder nun lernen, diesen Prozess zu sus­ pendieren oder abzubremsen. Sie treten einen Schritt von ihren unmittelbaren Impulsen zurück, woraus sich dann die Gelegenheit des Hinterfragens oder Überdenkens ihres Verhaltens ergeben kann: ›Soll ich das wirklich tun?‹ ›Ist diese Handlung tatsächlich gut?‹ ›Gibt es einen alternativen Weg, dasselbe Ziel zu erreichen?‹ ›Ist dies wirklich ein erstrebenwertes Ziel?‹ Ein Teil des ethischen Lernens besteht also darin, zu lernen, arationale Handlungsimpulse zumindest temporär zu suspendieren, damit vernünftige Überlegungen vor der Handlungsausführung statt­ finden können. Wenn Kinder noch sehr klein sind, sind sie noch nicht zu rationalen Abwägungen in der Lage. Es ist aber eine Möglichkeit, dass sie zum Beispiel mit zunehmendem Vorstellungsvermögen ler­ nen, die Reaktion der erziehenden Bezugsperson zu antizipieren. Die niederstufigen Fragen würden dann eher lauten: ›Würde es akzeptiert werden, wenn ich mich so verhalte?‹ ›Würde ich ein Lob erhalten?‹ ›Entspricht dieses Verhalten dem, was wir geübt haben?‹ Wir sehen, dass es Kindern aufgrund ihrer zunehmenden kognitiven Fähigkeiten möglich sein wird, diese Fragen für sich zu stellen und zu beantworten. Die Lernphase, so Corcilius, ist aber davon geprägt, dass Kindern durch Fremdeinwirkung antrainiert wird, den natürlichen Gang der Bewegungsgenese anzuhalten. Er beschreibt das folgendermaßen: »Handeln in Übereinstimmung mit dem Denken wird bei der Affekt­ kontrolle demnach dadurch möglich, dass aufgrund von Fremdeinwir­ kung zugefügtes Leid (Strafe) bzw. Lust (positive Sanktionierung) die habituelle Verhaltensdisposition antrainiert, in ähnlichen Situationen den natürlichen Gang der Bewegungsgenese zu suspendieren.«766

Diesen Gedanken möchte ich weiter entfalten. Das zugrundeliegende Prinzip für das Lernen ist also weiterhin die Lustmaximierung. Strafe oder Tadel lösen beim Kind Unlustgefühle aus, und Lob sorgt für Lustgefühle. Gemäß dem Prinzip der Lustmaximierung, bzw. des motivationalen Hedonismus, müssen Kinder sich nach Aristoteles so verhalten, dass sie das Verhalten, für das sie getadelt werden, vermeiden, weil es Unlust bringt, und Verhalten, für das sie gelobt werden, verstärkt ausführen. Deshalb sind die Motive, aufgrund derer Kinder und Jugendliche das gewünschte Verhalten an den Tag legen, 766

Corcilius 2008a, S. 193.

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7. Moralische Motivation

als vorrational zu betrachten: »es sind Lob, Tadel und Bestrafungen durch Autoritätspersonen, die also selbst wieder Lust/Leid-Empfin­ dungen«767 auslösen. Denkbar wäre, dass die Affektkontrolle zunächst aktiv dadurch stattfindet, dass die erziehende Bezugsperson das Verhalten des Kindes aufhielte. Wenn man zu Kindern sagt ›Halt, es wird erst gegessen, wenn alle am Tisch sitzen‹ oder ›Stopp, du musst erst fragen, ob du das haben darfst‹, wird ihr Bewegungsablauf aktiv von außen unterbrochen. Das Prinzip der Verinnerlichung besteht dann darin, dass Kinder im Laufe des Habituationsprozesses selbst dazu in der Lage sind, ihre direkten Impulse zu suspendieren, sozu­ sagen innerlich ›Stopp‹ zu sich selbst zu sagen. Durch Gewohnheit verinnerlichen die Kinder und Jugendlichen dann die richtigen Ver­ haltensweisen und verbinden gewohnheitsmäßig richtiges Verhalten mit Lust und falsches Verhalten mit Unlust, sodass diese Art von Ver­ halten dann irgendwann auch ohne Sanktionen auskommt.768 Diese Art der Affektkonditionierung bezeichnet Corcilius als ›repressiv‹, weil unmittelbare Impulse zurückgestellt bzw. temporär unterdrückt werden, bis das heranwachsende Kind bzw. der erwachsene Mensch diese Impulse gar nicht mehr hat. Auf diese Weise werden die richtigen Handlungen mit Lust­ gefühlen besetzt bzw. assoziiert. So wird m. E. auch verständlich, warum rationale Ziele nur auf diese Weise im Lustkalkül abgebildet werden können. Sie müssen sozusagen »immer auf den gemeinsamen ›Nenner‹ von Lustempfindung bzw. Leidvermeidung gebracht werden […], damit die arationale Strebung sich auf sie beziehen kann.«769 Dieser Vorgang ist genau jener, der sich im Habituationsprozess ereignen muss, weil Aristoteles eben diese Form von Hedonismus vertritt. Anders kann nicht erklärt werden, wie rationale Gehalte bewegen könnten. Dieser Prozess ist allerdings nicht mit Zwang verbunden, und auch nicht widernatürlich, ganz im Gegenteil: »Diesem Vorhaben kommt die ›Natur‹ potenziell rational agierender Lebewesen ent­ gegen, deren arational-animalische Seite sich zur Ausübung der 767 Corcilius 2008a, S. 192. Corcilius bezieht sich, um das zu belegen, auf EN II 2, 1104b8–18. Hier hält Aristoteles fest, dass die richtige Erziehung darin bestünde, Lust und Leid auf die richtige Art und Weise zu empfinden. 768 Wie dieser Prozess verläuft, wird in Kapitel 3 und 4 skizzziert.. 769 Corcilius 2008a, S. 197.

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7.5 Abschließende metaethische Einordnung

rationalen Funktionen hingezogen fühlen kann.«770 Denn es macht Freude, die eigene rationale Natur zu entfalten und diese in der ratio­ nalen Aktivität zu betätigen.771 Dazu kommt, dass Aristoteles Dispo­ sitionen, die durch die Gewöhnung erworben wurden, für stabil hält. Wenn die Seele eines rationalen Akteurs einmal so eingerichtet ist, dass eine Harmonie zwischen dem rationalen und dem arationalen Streben besteht, muss nicht bei jeder Handlung erneut ein Kampf ausgetragen werden. Ist einmal eine Grundordnung hergestellt, weiß jeder Teil des Ganzen, was zu tun ist.772

7.5 Abschließende metaethische Einordnung Nach der vorangegangenen Argumentation scheint es eine gut ver­ tretbare Lösung zu sein, Aristoteles einem schwachen oder modifi­ zierten Internalismus zuzuordnen. Die Verbindung von der Einsicht in das Gute und der Motivation, diese Einsicht auch in die Tat umzusetzen, ist bei ihm zwar nicht notwendig, aber auch nicht kontingent. Erstens ist es bei Aristoteles grundsätzlich möglich, dass rationale Einsichten Motivation in Form eines arationalen Strebens generieren können. Allein durch diesen Aspekt ist Aristoteles eher einem Internalismus zuzuordnen. Es gibt aber noch weitere Gründe dafür. Innerhalb der Diskussion der Akrasie im Besonderen wurde deutlich, dass Aristoteles der Meinung ist, dass eine Einsicht, soll sie handlungsrelevant werden und d. h. das Verhalten eines Akteurs dauerhaft und stabil beeinflussen, mit dem Akteur verwachsen sein Corcilius 2008a, S. 197. Vgl. meine Ausführungen zur Entfaltung der rationalen Natur des Menschen in Abschnitt 2.7. 772 Vgl. De motu anim. 10, 703a30–b2. »Denn auf der einen Seite bedarf man, wenn in der Stadt einmal die Ordnung hergestellt ist, in keiner Weise (mehr) eines besonderen Alleinherrschers, der bei jedem einzelnen Geschehnis zugegen sein muss, sondern jeder einzelne (Bürger) erfüllt seine Aufgaben, wie es angeordnet worden ist, und das eine geschieht nach dem anderen, entsprechend den Gepflogenheiten; auf der anderen Seite geschieht in den Lebewesen genau dasselbe. Durch die Natur, und zwar dadurch, daß jeder einzelne (Teil), nachdem die Dinge so eingerichtet sind, von Natur aus imstande ist, seine Aufgabe zu erfüllen, so daß es nicht notwendig ist, dass in jedem einzelnen (Teil) Seele vorhanden ist, die übrigen Teile vielmehr, da sich die Seele im Zentrum des Körpers befindet, durch ihre natürliche Verbindung (mit ihr) leben und ihre (jeweilige) Aufgabe von Natur erfüllen.« Übersetzung nach Jutta Kollesch. Hier scheint der signifikanteste Unterschied zu Platon vorzuliegen. 770

771

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7. Moralische Motivation

muss. Für den Akratiker, der aufsagt, was zu tun richtig wäre, wie ein Betrunkener die Verse des Empedokles aufsagt, bleibt das Richtige in einem gewissen Sinne äußerlich.773 Ein moralisches Urteil zu fällen, heißt für Aristoteles aber nicht nur, etwas zu erkennen, sondern auch, etwas anzuerkennen. Die Handlungsmotivation ist der Erkenntnis somit ein Stück weit inhärent. Gleichzeitig spielt der Aspekt, dass ein Mensch etwas zu lieben lernt, bevor er es völlig versteht, eine Rolle für die Erkenntnis selbst. Positive Emotionen mit etwas Gutem zu verbinden, heißt gleichzeitig, es als gut anzuerkennen. Insbesondere innerhalb der Diskussion der Willensschwäche im siebten Buch der Nikomachischen Ethik und der darin präsentierten intellektualistischen Interpretation, wurde herausgestellt, dass bei dem Akratiker, der nicht motiviert ist zu tun, was er rational für richtig hält, das Wissen um das Richtige auf eine merkwürdige Art und Weise vorliegt, nämlich auf eine Weise, die nicht mit dem Streben in Verbindung steht. Intellektuelle Erkenntnisse praktischer Natur, so Aristoteles, also Erkenntnisse, die sich darauf beziehen, wie die Welt sein sollte, generieren praktische Forderungen an menschliche Handlungen. Genau darin unterscheiden sie sich laut Aristoteles von theoretischen Erkenntnissen über die Welt. Begrifflich bleibt trotzdem zu bemerken, dass man ohne den Begriff des Strebens bei Aristoteles nicht auskommt, wenn man das Zustandekommen von Handlungen erklären möchte. Erst hinrei­ chend, um tatsächlich eine Bewegung auszulösen, ist bei Aristoteles aufgrund seiner Bewegungstheorie nur ein Streben. Vernunfteinsicht in Form eines rationalen Strebens oder die Verbindung von abstrakten Gehalten mit einem arationalen Streben können bewegen. Der Kon­ flikt im Akratiker gestaltet sich somit als ein Konflikt zwischen einem irrationalen und einem rationalen Streben. Gerade weil Aristoteles den Blick auf die Genese moralischer Motivation richtet, steht bei ihm die Formung des Strebens im Mittel­ punkt. Der Mensch hat nicht von Anfang an Erkenntnisse, die sein Handeln leiten könnten, sondern der Mensch hat von Anfang an ein Streben, das sein Verhalten bestimmt. Deshalb muss Erziehung hier ansetzen. Deshalb ergibt sich logischerweise für Aristoteles, dass die Ausrichtung des vorrationalen Strebens auf das Gute ein zentraler 773

Vgl. Corcilius 2008b, S. 167.

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7.5 Abschließende metaethische Einordnung

Bestandteil der Erziehung sein muss, weil nur diese Ausrichtung am Ende sicherstellt, dass derjenige, der zunehmend auch intellektuelle Erkenntnis gewinnt, motiviert ist, dieser Erkenntnis zu folgen. Mora­ lische Motivation ergibt sich somit aus einer erfolgreichen Integration von intellektueller Erkenntnis in das dispositionale Setup eines Men­ schen. In dieser Hinsicht ist der Internalismus bei Aristoteles als schwacher Internalismus zu klassifizieren.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Kinder verfügen genauso wie Tiere über ein Streben (orexis), aller­ dings noch nicht über Einsicht (nous) in praktische Zwecke. Kann bei ihnen also moralisches Streben auch ohne moralische Einsicht vorhanden sein? Wie kann es dann auf das Gute ausgerichtet werden? 774 Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zunächst die in Kapitel 4 erarbeiteten Vorgaben für den Habituationsprozess rekapitulieren und dann mit den Überlegungen zur Motivation aus Kapitel 7 verbin­ den.

8.1 Die Ausrichtung des Strebens des Kindes auf das Gute Das Lernziel, das durch Habituation erreicht werden soll, ist die charakterliche Tugend (aretē ēthikē): Es besteht darin, eine Haltung auszubilden, die es ermöglicht »Lust und Unlust da zu empfinden, wo man soll«775. Die normative Dimension menschlichen Handelns, das Gesollte, soll mit dem motivationalen Setup (Disposition zu Lust und Unlust) des Individuums kongruent gemacht werden. Denn die charakterliche Tugend wird von Aristoteles folgendermaßen definiert: ὑπόκειται ἄρα ἡ ἀρετὴ εἶναι ἡ τοιαύτη περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας τῶν βελτίστων πρακτική, ἡ δὲ κακία τοὐναντίον. Es wird also von uns vorausgesetzt, dass diese Art der Gutheit (die charakterliche) eine Disposition ist, in Bezug auf Lust und Unlust die besten Handlungen zu tun, während das Laster (kakia) eine Disposi­ tion ist, das Gegenteil zu tun. EN II 2, 1104b27–28.

774 Das aristotelische Postulat besteht gerade darin, zu fordern, dass es notwendig ist, das Streben des Kindes auf das Gute auszurichten, bevor es vernünftig wird. Vgl. dazu Pol. VII 15, 1334b14–28. 775 EN II 2, 1104b12.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Aristoteles begründet diese Auffassung mit mehreren Argumenten: Erstens sind die Kategorien von Lust und Unlust Grundprinzipien des menschlichen Lebens, die der Mensch schon von Kindheit an besitzt.776 Zweitens ist es schwierig, diese Tatsache zu ignorieren oder diese Eigenschaft (des Lust-/Unlustempfindens) abzulegen.777 Und drittens begleitet (parakolouthei) das Gefühl von Lust und Unlust alle Beurteilungen der uns umgebenden Gegenstände sowie auch die Handlungen, die wir wählen. Lust und Unlust sind demnach das Grundprinzip menschlichen Lebens und Handelns und bleiben deshalb auch für gutes und tugendhaftes menschliches Handeln von Bedeutung.778 Das Ziel der Erziehung zur charakterlichen Tugend besteht also darin, Lust- und Unlustgefühle auf die richtigen Objekte zu richten, oder auch, das Streben auf diese auszurichten. Der motivationale Hedonismus bei Aristoteles kommt hier deut­ lich zum Vorschein: Lebewesen streben danach, Dinge zu tun, die lustvoll sind und unterlassen bzw. meiden Dinge, die sie als leidvoll oder Unlust-bringend wahrnehmen. Die Gefühle von Lust und Unlust sind daher der Motor für jegliche Art von Bewegung bzw. Handeln und zeigen zugleich, welche Dispositionen ein Tier oder ein Mensch hat. Deshalb versteht Aristoteles sie auch als Indikatoren dafür, ob ein Mensch wirklich tugendhaft ist oder nicht: Σημεῖον δὲ δεῖ ποιεῖσθαι τῶν ἕξεων τὴν ἐπιγινομένην ἡδονὴν ἢ λύπην τοῖς ἔργοις· ὁ μὲν γὰρ ἀπεχόμενος τῶν σωματικῶν ἡδονῶν καὶ αὐτῷ τούτῳ χαίρων σώφρων, ὁ δ᾿ ἀχθόμενος ἀκόλαστος, καὶ ὁ μὲν ὑπομένων τὰ δεινὰ [καὶ] χαίρων ἢ μὴ λυπούμενός γε ἀνδρεῖος, ὁ δὲ λυπούμενος δειλός. Als Anzeichen der Dispositionen müssen wir die Lust und die Unlust nehmen, die die Taten begleitet: Wer sich der körperlichen Lust enthält und sich gerade daran freut, ist mäßig, wer dies aber ungern tut, ist unmäßig. Wer dem Furcht Erregenden standhält und das mit Freude tut oder wenigstens ohne Unlust, der ist tapfer, wer hingegen Unlust empfindet, feige. EN II 2, 1104b3–8.

Wie aber ist es möglich, zu lernen, Lust und Unlust da zu empfin­ den, wo man soll? Wie in Abschnitt 7.4.1 herausgearbeitet wurde, sind Lust- und Unlustgefühle von der Natur eines Lebewesens und Vgl. EN II 2, 1105a1–3 und Pol. VII 15, 1334b22–24. Vgl. EN II 2, 1105a1ff. 778 Vgl. EN II 2, 1105a1ff. Sherman betont, dass die Erkenntnis dieser Tatsache eine Stärke der aristotelischen Philosophie sei, die in der sehr kantisch geprägten Moral­ philosophie oft verdrängt werde. Vgl. Sherman 2004, S. 27.

776 777

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8.1 Die Ausrichtung des Strebens des Kindes auf das Gute

seinem natürlichen Ist-Zustand abhängig. Was ein menschliches Kind von Natur aus als lustvoll empfindet, ist zunächst einmal durch seine menschliche Natur im Sinne einer natürlichen Ausgangslage bestimmt. Wenn das Kind aber zusätzlich oder überlagernd eine neue oder andere Form von Reaktionspotential in Form von Lust und Unlust entwickeln soll, ist deutlich, warum man hier vom Erwerb einer zweiten Natur sprechen kann. Sagen wir, das Kind hat aufgrund seiner ersten Natur N1 Lust an Gegenständen der Art G1. Nun soll es lernen, auch Freude an Gegenständen der Art G2 erhalten. Dies geschieht, indem es eine zweite Natur N2 erwirbt. Weiterhin ist es wichtig, dass das Kind diese Gegenstände G2 nicht infolge eines vernünftigen Urteils als lustvoll empfinden darf. Oben wurde gezeigt, dass vernünftige Einsichten arationale Strebun­ gen generieren können. Es wurde jedoch ebenfalls herausgearbeitet, dass Aristoteles Kinder zu solchen Urteilsbildungen (wenigstens im frühen Kindesalter) nicht fähig hält. Die Quelle der arationa­ len Strebung (gleichbedeutend mit dem Empfinden von Lust oder Unlust), muss also auf andere Weise generiert werden als durch vernünftige Einsicht. Entscheidend für die Erziehung zum phronimos ist somit, dass die richtigen Handlungen mit Lustgefühlen besetzt bzw. assoziiert und falsche, also moralisch verwerfliche Handlungen, mit Unlustgefühlen besetzt werden. Man könnte in einem allgemeinen Sinne davon ausgehen, dass Pro-Einstellungen gegenüber tugendhaftem Handeln ausgebildet werden, bzw. Kinder Freude am richtigen Handeln emp­ finden lernen. Das entspräche dem ersten Teil der Habituation. Der zweite Teil ist etwas komplexer. Bekanntermaßen sind Tugenden für Aristoteles immer verbunden mit bestimmten Emo­ tionen, und zwar in dem Sinne, sich zu bestehenden Emotionen angemessen zu verhalten und bestimmte Emotionen zu empfinden. Tapferkeit ist zum Beispiel eine charakterliche Haltung, kraft derer man sich in angemessener Weise zu seiner eigenen Angst verhält. In diesem Fall geht Aristoteles also davon aus, dass ein Gefühl (zum Beispiel Angst) schon da ist und ein Mensch sich dazu verhalten kann bzw. damit umgehen muss. Mäßigkeit ist beispielsweise eine Haltung zu oder ein Umgang mit den Begierden und Lüsten, die im Menschen aufkommen. Wenn wir genau in den Text sehen, spricht Aristoteles im Grunde genommen von zwei unterschiedlichen Schritten. Bei der Tapferkeit besteht die Tugend darin, Furcht erregende Dinge zu verachten (1) und sich an dieser Verachtung zu freuen (2). Bei der

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Mäßigung besteht die Tugend darin, sich der Lust zu enthalten (1) und dann daran Freude zu empfinden, bzw. dies gerne zu tun (2). Es geht im Grunde genommen also um zwei verschiedene Schritte. Außerdem merken wir auch, dass der Satz ›richtige Handlungen mit Lustgefühlen assoziieren‹ gar nicht so leicht zu verstehen ist. Wenn ein Kind einen Gegenstand (sagen wir ein Kuscheltier) mit Lustgefühlen assoziieren soll, so kann es ausreichen, wenn dieser in einem bekannten, angenehmen Kontext vorkommt, zum Beispiel immer im Bett liegt, wenn das Kind einschläft. Das Kuscheltier ist dabei jedoch lediglich ein Gegenstand, den das Kind unter allen Umständen wiedererkennen wird und welcher im Bestfall immer die gleichen positiven Gefühle auslösen wird. Handlungen sind dagegen keine einfachen Gegenstände, son­ dern komplexe Entitäten, die sich aus verschiedenen Parametern zusammensetzen. Eine Handlung als einen Typ von Handlung wahr­ zunehmen ist bereits eine Fähigkeit, die komplexere Wahrnehmun­ gen erfordert. Zum Beispiel der Typ Handlung ›sich tapfer verhalten‹. Der Grad zwischen Tapferkeit und Tollkühnheit ist sehr schmal, weil er davon abhängt, in welcher Situation man sich befindet.779 Ist die Lage aussichtlos, ist es tollkühn, auf den Feind loszurennen und sinnvoll, den Rückzug einzuleiten. Stehen sich zwei etwa gleich starke Parteien gegenüber, ist es möglicherweise tapfer, auf den Feind loszurennen und feige, den Rückzug einzuleiten. Die richtige Mitte festzustellen, erfordert in jedem Fall Urteilskompetenz in Kriegsfüh­ rung. Je nach Situation erfordert es also schon komplexere Formen der Wahrnehmung und Urteilskraft, Übermaß und Mangel in Bezug auf die Tugend festzustellen. Im Folgenden möchte ich diese Aspekte, also die Assoziation von positiven Gefühlen mit bestimmten Handlungen, die Schulung des Umgangs mit den eigenen Emotionen sowie die Rolle der Wahrnehmungschulung getrennt behandeln.

8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen Es muss auf die in 7.4 dargestellte Motivationspsychologie zurückge­ griffen werden, um zu erklären, wie die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen vonstattengeht. 779

Näheres zu Tapferkeit und Tollkühnheit vgl. EN III 10.

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8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen

Der erste Aspekt, der ins Gewicht fällt, ist das Postulat, dass dies nicht mittels theoretischer Unterweisung über Handlungen vollzogen werden kann, sondern dadurch, dass das Kind selbst handelt, oder besser gesagt, selbst aktiv wird. Dieser Punkt hat sich aus der intensi­ ven Textanalyse in Kapitel 3 ergeben. Da wir zweitens die Forderung haben, dass es sich um richtige und nicht um falsche Handlungen handeln darf, und Kinder noch nicht in der Lage sind, dies durch eigene Vernunftanwendung ausfindig zu machen, muss die Vernunft eines leitenden Menschen eingebracht werden, der das Kind anleitet und dessen Tun begleitet. Damit kommen wir zu dem Konzept, das von Burnyeat als ›advice guided activity‹ bezeichnet wird, also als eine von Ratschlägen begleitete Tätigkeit. Die Forderung, dass das Kind selbst aktiv werden muss, lässt sich auch durch die Intensität des Lerneffekts begründen. Burnyeat beispielsweise unterscheidet einen schwachen und einen starken Sinn von Lernen. Wenn ein Mensch die Information erhält ›Skifahren macht Freude‹, dann hätte er, so Burnyeat, nur in einem schwachen Sinne gelernt, dass Skifahren Freude macht. Um es aber in einem starken Sinne zu lernen, also zu verinnerlichen, dass Skifahren Freude bereitet, muss er es selbst ausprobieren und dabei empfinden, dass es Freude macht: »In the strong sense I learn that skiing is enjoyable only by trying it myself and coming to enjoy it.«780 Der Wissensbegriff, den Burnyeat verwendet, impliziert eine Art Erfahrungswissen. Der Lernende weiß nach diesem Begriff von Wissen nur, was er aus einer eigenen Erfahrung heraus weiß, oder was er zumindest in einer eigenen Erfahrung überprüft hat. Wie aber werden die Lustgefühle tatsächlich mit der Tätigkeit verknüpft? An dieser Stelle kommt der Mechanismus von Lob und Tadel ins Spiel. Aristoteles bringt Tugenden in verschiedenen Kontexten mit Lob und Tadel in Verbindung, vor allem mit Blick darauf, woran tugendhaftes Verhalten erkennbar ist. Lob und Tadel spielen aber auch in der Genese von Tugenden eine Rolle. In EN I 13 vergleicht Aristo­ teles den Seelenteil, der in einem passiven Sinne auf die Vernunft hört, mit einem Kind und den Seelenteil, der selbst aktiv über Vernunft verfügt, mit dem Vater. Der arationale Seelenteil, der in einem pas­ siven Sinne an der Vernunft teilhat, ist analog zum Kind, welches Anteil an der Vernunft des Vaters hat, indem es diesem gehorcht, d. h. die Anleitungen befolgt und auf den Rat des Vaters hört. »Dass 780

Burnyeat 1980, S. 76.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

der Vernunftlose auf gewisse Weise der Vernunft gehorcht, zeigt sich auch in unserer Praxis des Ermahnens und in allen Taten des Tadelns und Ermutigens.«781 Der Mechanismus ist also folgender: Lob löst Lustgefühle aus, und wenn Lob sich auf eine Handlung des Kindes bezieht, wird es angesichts des Lobes in Kombination mit der Handlung Lustgefühle empfinden. Man spricht von einer positiven Sanktionierung. Nega­ tive Sanktionierung spielt ebenfalls eine Rolle: Macht das Kind etwas falsch und wird getadelt, sind demnach Unlustgefühle vorhanden. Da Menschen aber nach dem streben, was lustvoll ist, wird das Kind so dauerhaft ein Streben nach den Handlungen entwickeln, die mit Lustgefühlen verbunden sind, weil es ein positives Feedback in Form von Lob oder Anerkennung erhält. Umgekehrt wird es negative Emo­ tionen mit Handlungen verbinden, für die es getadelt wird. Dies muss jedoch wiederholt und oft geschehen, wie auch im vierten Kapitel herausgearbeitet wurde, damit sich die Dispositionen festigen. Man könnte hier tatsächlich von einer klassischen Konditionierung spre­ chen.782 Das Gelingen dieses Prozesses hat selbstverständlich bestimmte Voraussetzungen und auch Grenzen.783 Die Voraussetzung ist, dass Lob und Tadel tatsächlich Lust und Unlustgefühle beim Kind auslö­ sen. Dies ist nur dann gegeben, wenn dem Kind etwas an der Meinung des Umfeldes oder des Erziehenden liegt. Falls nicht, ist ein Kind in diesem Sinne nicht erziehbar. Und dieser Prozess hat Grenzen: Es wird nicht gelingen, alle möglichen Handlungen mit Lust- und Unlustgefühlen zu verbinden, d. h. das Kind kann (zumindest für Aristoteles) nicht zu beliebigen Handlungen erzogen werden. Deshalb ist das Beispiel des Skifahrens schlecht gewählt, denn es handelt sich um eine recht spezifische EN I 13,1102b33–1103a1. Diese Interpretation wird vielfach vertreten. Vgl. dazu Corcilius 2008a, S. 192f.; Steutel/Spieker 2004. An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass Aristoteles sicherlich einen Einfluss auf die Entwicklung des Behaviorismus hatte. Einer der frü­ hen Behavioristen, Edwin Ray Guthrie, hat sich im Laufe seines akademischen Lebens intensiv mit dem aristotelischen Werk auseinandergesetzt, bevor er The psychology of learning schrieb (Ersterscheinung 1934). Siehe Guthrie 1960. 783 In der Forschung ist außerdem umstritten, ob der Prozess des Lernens selbst lust­ voll ist. Curzer vertritt vehement die These, dass Lernen schmerzhaft sei. Vgl. Curzer 2012, S. 326ff. Dagegen spricht, dass Aristoteles Prozesse des Erkennens für lustvoll hält. Vgl. Met. I 1. 781

782

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8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen

sportliche Tätigkeit, die gar nicht unbedingt analog zu tugendhaftem Handeln zu verstehen ist. Betrachten wir deshalb ein anderes Beispiel. Was ein menschliches Kind von Natur aus als lustvoll empfin­ det, ist zunächst einmal durch seine menschliche Natur bestimmt. Mit Hinblick auf die Funktionen, die es mit anderen Lebewesen gemeinsam hat, stellt für den Menschen das ›Wiederauffüllen‹ oder ›Wiederherstellen‹ seines Ausgangszustandes im Falle von Hunger oder Durst ebenso ein Vergnügen dar, wie für andere nicht-vernünf­ tige Tiere. Nun mag es sein, dass ein Kind es von Natur aus nicht als lustvoll empfindet, mit anderen zu teilen, weil es seine eigenen Bedürfnisse besser erfüllen kann, wenn es nicht teilt, sagen wir, wenn es beispielsweise um Essen geht. Natürlich gegeben ist also zunächst einmal das Streben, selbst so viel zu essen, wie man braucht oder bis man satt ist. Dieses Streben soll nun dahin gehend verändert werden, dass das Kind es als lustvoll empfindet, mit anderen (zum Beispiel Essen) zu teilen.784 Gemäß des oben skizzierten Bildes muss das Kind nun wiederholt in Situationen gebracht werden, in denen es die Gelegen­ heit hat, mit anderen zu teilen und dies mit lustvollen Gefühlen zu verbinden. So gewöhnt sich das Kind daran, zu teilen. Aristoteles schreibt der Gewöhnung genau den besagten Effekt zu. Durch Gewöhnung empfinden wir als lustvoll, was wir vor­ her nicht als lustvoll empfunden haben.785 Wir wollen diese Aus­ sage damit verbinden, dass moralisches Lernen auch mit Lob und Tadel zusammenhängt. Damit sich das Kind so verändert, dass es das Teilen als lustvoll empfindet, müssen lustvolle Empfindungen mit der Aktivität des Teilens assoziiert, d. h. verbunden werden. Das ist dadurch denkbar, dass das Kind ein positives Feedback, d. h. ein Lob durch seine Eltern erfährt, die sein Verhalten wertschätzen. Andererseits wäre auch möglich, dass das Verhalten des Kindes durch die Menschen, mit denen es teilt, positiv gewürdigt würde (verbal oder non-verbal). Damit der gerade skizzierte Veränderungsprozess gelingt, muss jedoch eine Grundbedingung erfüllt sein. Das Kind muss so beschaf­ fen sein, dass das Lob der Eltern oder der Mitmenschen tatsächlich Lustempfindungen in ihm auslöst. Falls ein Kind nicht nach der Aner­ Vorausgesetzt ist hier, dass das Kind grundsätzlich genug zu essen hat und seine Grundbedürfnisse erfüllt sind. Vgl. EN X 9, 1178b33ff. 785 Vgl. Rhet. I 10, 1369b15–18.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

kennung durch seine Eltern oder Gleichaltrige, bzw. nach der sozialen Akzeptanz seines Verhaltens strebt, ist es nicht erziehbar. Hier kommt demnach Aristoteles’ essentialistisches Denken zum Tragen: Der Mensch ist für ihn zōon politikon und d. h., dass er grundsätzlich auf die Gemeinschaft mit anderen angelegt ist. Was diese Gemeinschaft jedoch zusammenhält, ist gegenseitige Akzeptanz. Damit die aristo­ telische Auffassung vom Erwerb moralischer Motivation Sinn macht, muss vorausgesetzt werden, dass Kinder danach streben, sich in die bestehende Gemeinschaft einzugliedern.786 Das Besondere am moralischen Streben ist außerdem, dass es sich auf andere Menschen bezieht, also gerade auf die zwischen­ menschliche Dimension. Der inhärente Zusammenhang zwischen moralischem Streben und moralischer Erkenntnis besteht gerade in der Bezogenheit auf das Zwischenmenschliche. Das Teilen mit ande­ ren wird vom Kind auch positiv erlebt, weil es dies in der Gemeinschaft mit anderen als etwas Gutes erlebt. Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen. Aristoteles ist der Meinung, dass Menschen die Tugenden natürlicherweise erwerben, es also nicht der übermäßigen Anstrengung oder des Zwanges bedarf. Vielmehr sind die Tugenden eine Entfaltung des natürlich angelegten Potentials des Menschen zur Vernunfttätigkeit und zum guten Leben. Und die Aktualisierung eines Potentials eines Lebewesens ist immer mit Vergnügen für dieses Lebewesen verbunden.787 Ein Beispiel dafür sind auch die natürlichen Tugenden.788 Auf einem generellen Niveau denkt Aristoteles, dass moralisches und vernünftiges Handeln der menschlichen Natur entsprechen. Es bedarf aber des Trainings, um dieses der Tugend zugeneigte Potential zu verfestigen. Gleichzeitig geht Aristoteles davon aus, dass Menschen ganz individuell von Geburt an zu bestimmten Dingen neigen.789 Einem 786 Jan Steutel und Ben Spiecker verbinden den Lerneffekt durch positive und negative Stimuli explizit mit dem Verhältnis zwischen Kind und erziehender Bezugsperson. Ihrer Meinung nach stammen die positiven Stimuli nicht nur aus verbal geäußertem Lob, sondern auch aus den emotionalen Reaktionen der erziehenden Bezugsperson. Diese aber stammten vor allem aus dem emotionalen Erleben des Tutors selbst. Weil er sich natürlicherweise freue, wenn das Kind der Tugend entsprechend handle, und beim Gegenteil enttäuscht oder verärgert wäre, hätten seine emotionalen Reaktionen einen direkten Einfluss auf die Emotionen des Kindes. Vgl. Steutel/Spiecker 2004, S. 545. 787 Vgl. Kapitel 3. 788 Vgl. EN VI 13, 1144b4–17 und EE III 7, 1234a28–30. 789 Vgl. EN II 8, 1109a13–14; II 9, 1109b1–3.

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8.2 Die Assoziation von richtigen Handlungen mit Lustgefühlen

Kind, das von Natur aus mehr Risiken eingeht, wird es möglicher­ weise leichter fallen, tapfer zu werden, weil es seinen Übermut nur mäßigen muss, während ein ängstliches Kind wesentlich mehr Training brauchen wird, um mutig zu handeln bzw. zu werden. Das ist aber im Rahmen der Theorie abgedeckt, bzw. untergräbt ihre generelle Gültigkeit nicht. Die allgemeine Idee bleibt also erhalten: Kinder und Jugendli­ che gewöhnen sich an bestimmte Verhaltensweisen, die zunächst äußerlich mit Lust/Leid-Empfindungen besetzt werden bis diese Besetzung/Assoziation sich dann verinnerlicht.790 Das Einzige, das daran problematisch sein könnte, ist, dass es schwer ist, ›Teilen‹ als eine Tätigkeit aufzufassen, die nur akzidentell (kata symbebēkos) gut ist. Falls mit anderen Teilen auch dann gut wäre, wenn ein Mensch auf eine Gegenleistung spekulierte oder sich gut darstellen möchte, wäre die genuin moralische Dimension des Teilens verloren. Teilen muss also intrinsisch lustvoll für die gute Person sein. Es muss sich um einen invarianten Strebensgegenstand handeln. Invariante Strebensgegenstände können aber nur von ratio­ nalen Lebewesen erstrebt werden. Kinder sind davon ausgeschlossen. Folglich kann ein Kind in der aristotelischen Konzeption lernen, das Richtige (in diesem Fall Teilen) zu erstreben, wenn es durch einen Prozess der Habituation mit Lustempfindungen positiv besetzt wird, die sich durch positives Feedback ergeben. Das Kind kann allerdings nicht lernen, dies um seiner selbst willen zu erstreben, denn das können erst Erwachsene. Auch an dieser Stelle kann man vom Konzept des sukzessiven Vernünftig-Werdens Gebrauch machen. Je mehr das Kind über kogni­ tive Fähigkeiten verfügt, die ihm das Beurteilen seines und des Handelns anderer erlaubt, desto mehr wird es eine Einsicht darin haben, warum manche Handlungen besonders erstrebenswert sind und manche nicht. Auch wenn der Begriff des Handelns dem Kind in einem strikten Sinne nicht zugeschrieben werden kann, so liegt es doch beim Kind selbst, ob es sich durch eine Ermutigung traut, etwas zu wagen, oder durch ein Vorbild animiert wird, etwas zu tun, was es vorher noch nie getan hat. Wir müssen deshalb auch für Kinder einen abgeschwächten Begriff des Entscheidens annehmen. 790 So argumentiert auch Corcilius: »Kinder und Jugendliche sollen sich an diese Verhaltensweisen gewöhnen, damit sie diese später auch ohne äußere Anreize von alleine praktizieren.« Corcilius 2008a, S. 192.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

But this is to recognize that even at the more intermediate stages of becoming virtuous, the learner does not simply perform some action-type, as one perhaps does in developing a skill, but reacts to the circumstances, and then decides how to act. This is itself a part of making voluntary, intentional choices. There is judgement and decision, even if not reflective evaluation (or justification) of the choice.791

Dies ist ein Grund dafür, warum das Kind selbst handeln muss und es nicht reicht, ihm eine theoretische Erklärung darüber zu geben, warum Teilen Freude bereitet oder es ein zu rechtfertigendes Risiko ist, vom Beckenrand ins Wasser zu springen.

8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung Wenn ein Kind lernt, eine bestimmte Tätigkeit, wie zum Beispiel das Teilen mit anderen, als lustvoll zu empfinden, könnte man auch davon sprechen, dass sich seine Wahrnehmung des ›Teilens‹ verändert. Die aristotelische Aussage, dass das Streben direkt aus einer Wahrnehmung stammt, hat Sherman dazu veranlasst, den Habitua­ tionsprozess, in dem das Streben geformt werden soll, so zu verste­ hen, dass Kinder lernen sollen, bestimmte Dinge als gut wahrzuneh­ men.792 Diese Annahme hat eine gewisse Plausibilität. Betrachten wir ein Beispiel. Ein Kind soll daran gewöhnt werden, anderen zu helfen. Die Lernausgangslage wäre egoistisches Verhalten. Das Kind sieht nicht ein, warum es anderen helfen sollte, es hat keine moralische Motivation, anderen zu helfen. Der Lehrer, der selbst eine sehr hilfs­ bereite Person ist, würde das Kind nun verbal animieren, jemandem zu helfen. Das Kind würde dies in wiederholten Fällen tun und lernen, dass es Spaß macht, anderen zu helfen, zum Beispiel dadurch, dass es positives Feedback von den Menschen erhält, denen es hilft, oder auch vom Lehrer oder Elternteil, der diesen Prozess begleitet. Nach einer Weile hat das Kind gelernt, Freude am Helfen zu empfinden. Es hat gelernt, Helfen als etwas Positives wahrzunehmen, es betrachtet ›Helfen‹ als etwas Gutes. Vgl. Sherman 1999b, S. 245. Sherman 1999b, S. 242f. Sie folgt damit direkt einer Interpretation ihrer Doktor­ mutter Martha Nussbaum, die ›desiring something‹ als ›perceiving as good‹ auffasst. Vgl. Corcilius 2008a, S. 96. 791

792

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8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung

Diese Interpretation hat auch mit Blick auf die oben genannte Schwierigkeit, dass die Richtigkeit einer Handlung sehr stark von den einzelnen Eigenschaften einer Situation abhängt, eine große Überzeugungskraft. Aristoteles sagt: χαλεπὸν δ᾿ ἴσως τοῦτο, καὶ μάλιστ᾿ ἐν τοῖς καθ᾿ ἕκαστον· οὐ γὰρ ῥᾴδιον διορίσαι πῶς καὶ τίσι καὶ ἐπὶ ποίοις καὶ πόσον χρόνον ὀργιστέον· καὶ γὰρ ἡμεῖς ὁτὲ μὲν τοὺς ἐλλείποντας ἐπαινοῦμεν καὶ πράους φαμέν, ὁτὲ δὲ τοὺς χαλεπαίνοντας ἀνδρώδεις ἀποκαλοῦντες. ἀλλ᾿ ὁ μὲν μικρὸν τοῦ εὖ παρεκβαίνων οὐ ψέγεται, οὔτ᾿ ἐπὶ τὸ μᾶλλον οὔτ᾿ ἐπὶ τὸ ἧττον, ὁ δὲ πλέον· οὗτος γὰρ οὐ λανθάνει. ὁ δὲ μέχρι τίνος καὶ ἐπὶ πόσον ψεκτὸς οὐ ῥᾴδιον τῷ λόγῳ ἀφορίσαι· οὐδὲ γὰρ ἄλλο οὐδὲν τῶν αἰσθητῶν· τὰ δὲ τοιαῦτα ἐν τοῖς καθ᾿ ἕκαστα, καὶ ἐν τῇ αἰσθήσει ἡ κρίσις. Doch gewiss ist das [Treffen der Mitte] schwierig, besonders in den Einzelfällen. Es ist nämlich nicht leicht zu bestimmen, wie, wem, bei welcher Gelegenheit und wie lange man zürnen soll. So loben wir manchmal diejenigen, die zu wenig zürnen, und nennen sie milde, während wir zu anderen Zeiten diejenigen loben, die zornig werden, und sie mannhaft nennen. Wer wenig vom guten Handeln (to eu) abweicht, wird nicht getadelt, ob er nun in Richtung auf das Weniger oder in Richtung auf das Mehr abweicht. Wer hingegen stark abweicht, wird getadelt; denn er bleibt nicht unbemerkt. Doch wie weit und wie viel man abweichen muss, um tadelnswert zu sein, lässt sich schwer durch Überlegung (logos) bestimmen, wie auch alles Übrige, was in den Bereich des Wahrnehmbaren gehört. Solches hängt von den einzelnen Umständen (kath’ hekasta) ab, und das Urteil (krisis) liegt hier in der Wahrnehmung. EN II 9, 1109b14–23.

Aristoteles beschreibt in dieser Passage, dass das aus der Wahrneh­ mung (aisthēsis) und nicht aus der vernünftigen Überlegung (logos) stammende Urteil (krisis) entscheidend für die emotionale Reaktion in einer Situation ist. Mit dieser Wahrnehmung muss der Handelnde die Besonderheiten einer Situation wahrnehmen und sie aufgrund dessen unter einen bestimmten Typ von Situation einordnen. Die Wahrnehmung ist eine kritische Tätigkeit, mit der der Handelnde beispielsweise Ähnlichkeiten von Situationen feststellen oder eine partikulare Situation unter einen Typ von Situation fassen kann.793 Deshalb interpretiert Sherman den Vorgang der Habituation als Prozess der Wahrnehmungsschulung, die darin besteht, auf die mora­ 793 Sehr erhellend zum Unterschied zwischen logos und kritikon vgl. Anton 1996, S. 18–28.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

lische Relevanz bestimmter Situationen aufmerksam zu machen. Indem man die Weltsicht des Kindes unterrichte, indem man es lehre, mehr auf die einen Eigenschaften zu achten und auf andere nicht, werden die Bestrebungen des Kindes fokussiert und in bestimmte Bahnen gelenkt, so Sherman.794 Da sich Strebungen, wie oben gesagt, direkt aus Wahrnehmun­ gen generieren, macht es auch im Sinne der aristotelischen Theorie des Strebens Sinn, zur Formung des Strebens bei der Wahrnehmung anzusetzen. Die Idee, dass der erziehende Mensch das Kind auf bestimmte Eigenschaften einer Situation aufmerksam macht, kann erklären, wie seine Aufmerksamkeit auf bestimmte für ethisches Han­ deln relevante Aspekte gelenkt werden kann. Geht es zum Beispiel darum, das Kind dazu zu animieren, zu teilen, könnte man darauf aufmerksam machen, dass das andere Kind viel weniger habe, oder auch darauf, dass das Kind, das teilen soll, auch satt sein wird, wenn es etwas weniger isst. Problematisch an Shermans Interpretation ist, dass sie sich komplett auf die Rhetorik bezieht. Aus ihrer Sicht hat sich diese methodische Entscheidung logisch ergeben, weil es in der Rhetorik darum geht, wie bestimmte Emotionen im Menschen hervorgerufen werden sollen, allerdings in dem Kontext, dass der Rhetor die Emotio­ nen durch seine Rede im erwachsenen Menschen hervorrufen soll. Das ist aber mit der Formung der Emotionen eines Kindes nicht vergleichbar. Um ihren Ansatz zu kritisieren, muss ich ihn allerdings erst kurz skizzieren. Die intentionale Theorie der Emotionen in der Rhetorik ordnet sich dem generellen Ziel dieser Schrift unter, den Redner mit den Überzeugungen vertraut zu machen, die typischerweise mit unter­ schiedlichen Emotionen verbunden sind.795 Die Hauptthese ist, dass der Redner höchst effektiv darin sein kann, bestimmte Emotionen zu wecken, wenn er die Zuhörer zu den entsprechenden Überzeugungen bringen kann. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er die Dispositionen kennen, die zu den verschiedenen Emotionen gehören, ihre typischen Objekte, und die Art von Umständen und Gelegenheiten, bei denen

Vgl. Sherman 1999b, S. 240. »By tutoring the child’s vision of the world, by instructing him to attend these features rather than those, desires become focused and controlled in specific ways.« 795 Vgl. ebd., S. 241. 794

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8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung

sie sich typischerweise manifestieren.796 Wenn der Redner zum Bei­ spiel Ärger gegen einen Gegner wecken will, so muss er lediglich den Hörer davon überzeugen, dass sein Klient durch die Gegenpartei grundlos gelitten hat. Indem Überzeugung und Wahrnehmung auf diese Weise beeinflusst werden, hofft der Redner, eine bestimmte emotionale Reaktion hervorzurufen. Sherman betont, dass Überzeugungen, Wahrnehmungen oder Vorstellungen (phantasiai) nicht nur Auslöser von Emotionen, son­ dern selbst konstitutive Teile dieser seien.797 Sherman verdeutlicht dies an der aristotelischen Definition von Zorn. Ἔστω δὴ ὀργὴ ὄρεξις μετὰ λύπης τιμωρίας φαινομένης διὰ φαινομένην ὀλιγωρίαν τῶν εἰς αὐτὸν ἢ τῶν αὐτοῦ, τοῦ ὀλιγωρεῖν μὴ προσήκοντος. Zorn ist eine Bestrebung (orexis), die mit Schmerz verbunden ist, in Richtung einer Rache dessen, was man als ungerechtfertigte/grund­ lose Kränkung sich selbst oder seinen Freunden gegenüber auffasst (phainomenēn oligarian). Rhet. II 2, 1378a31–33.

Für Sherman wird daraus klar ersichtlich, dass eine Konzeption von Emotionen als Lust oder Schmerz involvierend nicht unabhängig von Bewertungen, Wahrnehmungen oder Überzeugungen identifiziert werden könne, die konstitutiv für diese Emotionen sind. Abgesehen von Überzeugungen kommen in der Definition einer Emotion auch oft Handlungsauffassungen oder Handlungsantriebe vor, welche mögli­ cherweise wiederum Anlass für ein sekundäres Set von Gefühlen sind.798 Zorn beinhalte so zum Beispiel ein konsequentes Verlangen nach Rache, und die Erwartung (elpis) dieser löse wiederum Lust aus.799 Aristoteles sagt, dass solche konstitutiven Überzeugungen über Ziele oft dazu dienten, eine Emotion von einer anderen abzu­ grenzen. Verachtung (epēreasmos) und Übermut (hypbris) basierten

Vgl. ebd., mit Verweis auf Rhet. II 2, 1378a22–25. Vgl. ebd., S. 240. Sherman verweist hier auf das fünfte Essay in Martha Nuss­ baums Kommentar zu De motu animalium. 798 Vgl. Sherman 1999b, S. 241. 799 Vgl. Rhet. II 2, 1378a31–b2. Sherman verweist auch auf Rhet. I 11, 1370b29 und spricht bei der Erwartung der Rache von phantasia, vgl. Sherman 1999b, S. 241. Im Griechischen steht jedoch ›Hoffnung‹ (elpis). 796 797

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

zum Beispiel beide auf dem Prinzip der Geringschätzung,800 sie könn­ ten jedoch durch ihre Ziele voneinander unterschieden werden.801 Die Feststellungen über den kognitiven Gehalt von Emotio­ nen haben erhebliche Konsequenzen für Shermans Interpretation der moralischen Erziehung. Ihrer Meinung nach sollten wir uns fragen, wie Wahrnehmungen und Einschätzungen, die konstitutiv für Emotionen und letztlich auch für moralische Reaktionen sind, verfeinert werden können. Ihre Antwort auf diese Frage formuliert Sherman in der Beschreibung einer idealen Eltern-Kind-Beziehung. Diese bestehe darin, dass das erziehende Elternteil auf bestimmte Eigenschaften von Situationen aufmerksam mache und dann darüber informiere, welche emotionale Reaktion angebracht wäre: »part of what the parent tries to do is to bring the child to see the particular cir­ cumstances that here and now make certain emotions appropriate.«802 Das Kind soll in derartigen Situationen verbal und mit den Mitteln der Rhetorik davon überzeugt werden, dass es angebracht ist, anders zu fühlen, als es tatsächlich fühlt.803 Allerdings soll das keine Manipulation sein, sondern das Kind soll konstant zum eigenen Nachdenken und zur Selbstständigkeit angeregt werden. Es soll nach dem Warum fragen können und ein Dialog soll möglich sein, auch, wenn das Kind vieles auch ohne Erklärung hinnehmen muss, da es vieles noch nicht verstehen kann.804 Sherman formuliert so eine intellektualisierende Auffassung von Habituation, da sie als Hauptmittel der Charakterformung die ver­ bale Kommunikation zwischen Kind und erziehender Bezugsperson annimmt und die Gefühle ihrer Meinung nach dadurch aktiviert und geformt werden, dass das Kind Informationen erhält, bzw. auf Infor­ mationen, die man einer Situation entnehmen kann, aufmerksam gemacht wird. Kritisch zu betrachten ist außerdem ein romantischer Schwenk bei Sherman. Von dem Dialog zwischen Eltern und Kind sollen die Eltern nämlich auch lernen, weniger rational zu sein und Vgl. Rhet. 1378b10f. Vgl. Sherman 1999b, S. 241. Bösartigkeit ziele zum Beispiel darauf, die Absichten eines anderen zu durchkreuzen, ohne dabei einen besonderen Vorteil für sich selbst zu erlangen (vgl. Rhet. 1378b18–20), während Hybris darauf ziele, das eigene Selbst­ bild zu erhöhen, indem man sich selbst durch Boshaftigkeiten beweist, dass man selbst überlegen oder mächtiger sei (vgl. Rhet. 1378b27ff.). Vgl. Sherman 1999b, S. 241. 802 Ebd., S. 242. 803 Vgl. ebd., S. 242. 804 Vgl. ebd., S. 243. 800 801

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8.3 Ethisches Lernen als Wahrnehmungsschulung

emotionaler zu reagieren, so wie das Kind. Sie sollen die Welt quasi wieder mit Kinderaugen sehen.805 Das folgert Sherman aus der Passage Rhet. 1389a32–5, der sie auch entnimmt, dass Aristoteles vor der Verbitterung im Alter warnt, in der man nicht mehr auf seine Gefühle hört.806 Die Verbindung von Nikomachischer Ethik und Rhetorik ist an dieser Stelle problematisch. In der Rhetorik scheint Aristoteles eher Allgemeinplätze über die Lebensalter anzuführen, anstatt sich kon­ zise über das emotionale Verhalten von Menschen in verschiedenen Altersstufen zu äußern, wie es in der Nikomachischen Ethik der Fall ist. Meiner Meinung nach hat Shermans Konzeption deshalb zwei Probleme. Das erste Problem besteht darin, dass Sherman übersieht, dass Aristoteles Habituation und Instruktion voneinander unter­ scheidet. Es ist deshalb nicht überzeugend, den Prozess der Habitua­ tion hauptsächlich durch informierende verbale Kommunikation zu erklären. Dennoch ist es zutreffend, dass der Prozess der Habituation nicht ohne verbale Kommunikation auskommt. Wie gezeigt wurde, ist neben Ermahnung, Lob, Tadel und Ermutigung auch die Selbstaus­ kunft der Bezugsperson über die eigenen Gefühle und Motivationen ein wichtiger Bestandteil des Prozesses der Habituation. Schlichtweg die Gewichtung von verbalen Erklärungen (z.B. vollständige Situati­ onsanalysen), die Sherman hier vornimmt, ist zu stark. Das zweite Problem der Interpretation Shermans ist die Frage der Effektivität: Wenn das Kind darin unterrichtet wird, diese oder jene Emotion wäre angebracht, heißt das noch nicht, dass es diese tatsächlich empfindet. Sherman kann nicht überzeugend erklären, ob diese Vorgehensweise tatsächlich funktionieren würde. Trotzdem muss man Sherman zugestehen, dass sie einen wichti­ gen Aspekt betont: Handeln heißt nicht nur, etwas (Sichtbares) zu tun, eine Handlung zu vollziehen. Aller Anfang von Handeln ist ein Wahr­ nehmen, und zwar das Wahrnehmen einer Situation, die Handeln erfordert oder Handlungsoptionen eröffnet.807 Da Wahrnehmung der kausale Auslöser des Strebens ist, ist Sherman darin zuzustimmen, dass Wahrnehmungsschulung durch verbale Hinweise sicherlich ein Teil des Lernens durch Anleitung sein muss.

805 806 807

Sherman 1999b, S. 243. Vgl. ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 247.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Die veränderte Wahrnehmung kann auch so gedeutet werden, dass die positiven und negativen Gefühle, die Menschen haben, durch Erziehung neue ›Objekte‹ erhalten und Kinder sozusagen neue Glaubenssätze erwerben.808 Das erste Objekt unserer Wahrneh­ mung, das mit negativen Gefühlen verbunden ist, ist körperlicher Schmerz. Im Laufe der moralischen Erziehung kann ein Mensch aber beispielsweise lernen, dass ein ehrbarer Tod wertvoller ist, als ein in Schande gelebtes Leben und so eventuell körperlichen Schmerz auf andere Weise in Kauf nehmen. Das Beispiel ist sehr drastisch, aber deshalb auch sehr anschaulich: Durch die moralische Erziehung verändert sich die Wahrnehmung der Alternativen von ehrbarem Tod und schandvollem Leben, sodass am Ende die Abneigung gegenüber einem in Schande gelebten Leben größer ist, als die Angst vor dem Tod.809 Der ehrenhafte Tod, auch wenn er mit der Aufgabe der körperlichen Persistenz verbunden ist, ist dann mit anderen Gefühlen besetzt als zuvor. Diese Veränderung der Wahrnehmung von Leben und Tod ermöglicht es dem Tapferen, je nach Situation, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen und als erstrebenswerter zu betrachten als das Überleben in Schande. Dieses Beispiel von Rosalind Hursthouse zeigt zugleich, dass eine Wahrnehmungsveränderung dieser Art nicht (allein) Gegen­ stand von Habituation sein kann, sondern auf die Dauer und mit fort­ schreitender Komplexität von Handlungsoptionen mit dem gezielten Lehren auf intellektueller Ebene verbunden sein muss.810 Dies ver­ deutlicht sie anhand eines weiteren Beispiels: zu lernen, Sexualität als Ausdruck von Liebe im Rahmen einer lebenslangen Partnerschaft wahrzunehmen, und wertzuschätzen. Es ist zunächst klar, dass dies nichts ist, was Kinder lernen können oder sollten. Der eigentliche Punkt ist aber, dass diese Einsicht keine ist, die durch wiederhol­ ten Geschlechtsverkehr innerhalb einer lebenslangen Partnerschaft gelernt wird, sondern eine Einsicht, die durch Unterrichtung erwor­ ben und dann im Leben manifestiert werden muss. Die Wahrnehmungsschulung kann mit zunehmendem vernünf­ tigen Einsehvermögen durch vernünftige Belehrungen angereichert und erweitert werden. Eine geschulte Wahrnehmung verwandelt sich langfristig in eine zuverlässige Urteilskraft (orthos logos). Diese 808 809 810

Vgl. Hursthouse 1988, S. 215. Vgl. Ebd. Vgl. ebd., vor allem die Argumentation in Fußnote 15.

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8.4 Die Ausbildung einer mittleren Haltung zu den eigenen Emotionen

ermöglicht es dem Individuum auch in komplexen Situationen zu erkennen, welche Handlungen eine Situation erfordert. Dabei geht es nicht nur darum, Situationen und Kontexte gut einzuschätzen, son­ dern auch, sich selbst zu kennen. Gill macht dies anschaulich am Bei­ spiel einer lernenden Ärztin: Diese muss nicht nur lernen, die Symp­ tome der Patientinnen und Patienten richtig zu analysieren und daraufhin die richtige Diagnose zu stellen. Sie muss auch entscheiden, ob die Heilung in ihrem eigenen Kompetenzbereich liegt, oder ob sie an eine andere Stelle verweisen muss.811

8.4 Die Ausbildung einer mittleren Haltung zu den eigenen Emotionen Die Natur von Gefühlen scheint es nicht einfach zu machen, zu erklären, wie sie gelernt werden. Für tugendhaftes Verhalten kommt es Aristoteles auf beides an: das richtige Handeln sowie die richti­ gen emotionalen Reaktionen. Da das Erleiden und Empfinden für Aristoteles genauso zur Person gehört wie ihr Handeln, ist seine Moraltheorie nicht nur eine Theorie des guten Handelns, sondern auch des guten Empfindens.812 Die Erziehung der emotionalen Reak­ tionen ist deshalb eine zentrale Frage der aristotelischen Moralphilo­ sophie. Und damit stellt sich ein grundsätzliches Problem: Handeln (poein, prattein) auf der einen Seite ist etwas, wozu der Mensch sich kraft der prohairesis aktiv entschließt, und Erleiden oder Empfinden (paschein) ist etwas Passives, d. h. etwas, das ihm widerfährt.813 Diese Bereiche befinden sich in einer Asymmetrie.814 Während Handeln prohairetisch ist, d. h. Absichtlichkeit, Freiwilligkeit und bewusste Entscheidung impliziert, so kann sich niemand dazu entschließen, dieses oder jenes Gefühl zu haben.815 Gefühle bzw. Emotionen (pathē) sind aprohairetos, also nicht mit Entschluss, Wahl oder Absicht verbunden. »Ferner empfinden wir Zorn und Furcht ohne Vorsatz. Sie gehören also nicht zu dem, 811 812 813 814 815

Vgl. Gill 2015, S. 104. Vgl. Kosman 1999, S. 263. Vgl. ebd., S. 262. Vgl. ebd., S. 263. Vgl. ebd., S. 263.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

was in unserer Macht liegt (eph’hēmin).«816 Im Begriff der ethischen Tugend treffen beide Bereiche aufeinander. Für Aristoteles ist die ethische Tugend eine »hexis prohairetikē«817, d. h. ein bestimmter charakterlicher Zustand, aus dem heraus bestimmte Handlungen absichtlich gewählt und bestimmte Gefühle unabsichtlich empfunden werden. Wie passt das zusammen? Aristoteles argumentiert, wie bereits besprochen, in EN III 7 dafür, dass Menschen für ihren Charakter verantwortlich seien, weil sie die Handlungen wählten, die ihre charakterlichen Eigenschaften manifestieren. Aryeh Kosman rekurriert auf diese Passage, um zu behaupten, dass Menschen infolgedessen auch für ihre Handlungen verantwortlich seien.818 Kosman formuliert aufgrund seiner Überlegungen zum Lernen durch Handeln eine etwas paradoxe Lösung für die Asymmetrie zwischen Handeln und Fühlen. Menschen könnten sich zu bestimm­ ten Handlungen entschließen und gewännen dadurch einen Einfluss darauf, welche Fähigkeiten sie durch das jeweilige Handeln ausbilden wollten.819 Durch diese absichtlich gewählten Handlungen, veränder­ ten sie ihre emotionalen Dispositionen. Insofern könnten auch diese als absichtlich gewählt gelten: »[…] why should we not be prepared to say that such a person has chosen those feelings? Nowhere, I believe, Aristotle says this. What we would like, but do not find, is an extension of the theory of deliberation and practical reasoning to account for the ways in which virtuous persons might be said to have the proper feelings which they have by prohairesis.«820

Kosman möchte Aristoteles’ Theorie der Absichtlichkeit auch auf Emotionen ausweiten. Dabei macht er aber einen Denkfehler. Kos­ man geht nämlich davon aus, dass der Lernende Handlungen bewusst mit dem Ziel wählen würde, seinen eigenen Charakter zu verän­ dern. Auch wenn Aristoteles diese Möglichkeit für Erwachsene disku­ tiert,821 ist sie nicht auf Kinder anwendbar. Wie meine Interpretation versucht zu verdeutlichen, wählen Kinder Handlungen nicht absicht­ 816 817 818 819 820 821

EN II 4, 1106a2–4. Vgl. EN II 6, 1106b36; EE I 10, 1227b8. Vgl. Kosman 1999, S. 271. Vgl. ebd. Kosman 1999, S. 273. Vgl. dazu meine Diskussion zur Verantwortung für den Charakter in 7.3.4.

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8.4 Die Ausbildung einer mittleren Haltung zu den eigenen Emotionen

lich, um bestimmte Dispositionen zu entwickeln, sondern es sind die Erziehenden, die sie zu bestimmten Handlungen anregen, um ihre erzieherischen Ziele zu verwirklichen. Aristoteles geht außerdem nicht davon aus, dass Menschen die Gefühle wählen könnten, die sie gerne haben möchten. Wenn Gefühle durch die Vernunftentschei­ dung gewählt werden könnten, dann würde sich die Frage der mora­ lischen Formung durch Habituation gar nicht stellen. Man könnte junge Erwachsene, die bereits über Vernunft verfügen, mittels einer vernunftgeleiteten Rede davon überzeugen, welche Gefühle man in welchem Fall empfinden sollte, und dann könnten die jungen Erwachsenen sich jeweils dafür entscheiden, das richtige Gefühl zu haben. Weil es gerade aber nicht so ist und das Kind schon Gefühle hat, ohne vernünftig sein zu können, müssen diese noch vor und ohne die entwickelte Vernunft geschult werden. Die Lösung des Problems kann also nicht darin bestehen, Gefühle zu kognitiveren, indem man sie als absichtlich gewählt annimmt. Es muss also eine bessere Lösung gefunden werden, um zu erklären, wie die richtigen emotionalen Reaktionen gelernt werden können. Eine davon wurde bereits diskutiert, nämlich jene, bei der positive Emotionen mit den richtigen Handlungen bzw. negative Emotionen mit den falschen Handlungen assoziiert werden. Ein weiteres Lernziel der Habituation besteht darin, in Bezug auf die Emotionen, die man hat, eine mittlere Haltung zu entwickeln. Jeder Mensch hat von Natur aus eine andere Ausgangslage mit Hinblick auf die Möglichkeit, tugendhaft zu werden. Die einzige Mög­ lichkeit, sich zur Tugend zu formen besteht darin, den menschlichen Impulsen, die zum Schlechten neigen, entgegenzuwirken: σκοπεῖν δὲ δεῖ πρὸς ἃ καὶ αὐτοὶ εὐκατάφοροί ἐσμεν ἄλλοι γὰρ πρὸς ἄλλα πεφύκαμεν τοῦτο δ᾿ ἔσται γνώριμον ἐκ τῆς ἡδονῆς καὶ τῆς λύπης τῆς γινομένης περὶ ἡμᾶς εἰς τοὐναντίον δ᾿ ἑαυτοὺς ἀφέλκειν δεῖ· πολὺ γὰρ ἀπάγοντες τοῦ ἁμαρτάνειν εἰς τὸ μέσον ἥξομεν· ὅπερ οἱ τὰ διεστραμμένα τῶν ξύλων ὀρθοῦντες ποιοῦσιν. Man muss sehen, zu welchen Dingen wir uns selbst leicht bewegen lassen, neigen doch verschiedene Menschen von Natur aus zu Ver­ schiedenem. Das lässt sich erkennen an der Lust und Unlust, die sich in uns regt. Dann müssen wir uns selbst in die entgegengesetzte Richtung wegziehen. Indem wir uns nämlich von der Verfehlung weit entfernt halten, werden wir zum Mittleren kommen, gerade so, wie diejenigen es machen, die gekrümmtes Holz gerade richten. EN II 9, 1109b1–7.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Um also eine mittlere Haltung zu finden, welche in der aristotelischen Sicht die beste Haltung ist, muss jedes Kind angesichts der natürlich angelegten Neigungen entweder zu einem Mehr oder einem Weniger erzogen werden. Ein gutes Beispiel ist die Tapferkeit, die den richtigen Umgang mit Angst bezeichnet. Ein ängstliches Kind braucht viel Ermutigung und Gelegenheiten, etwas zu wagen. Ein risikofreudiges Kind hingegen braucht Ermahnung zur Vorsicht. So wird plausibel, wie die Praxis des Ermutigens und des Ermah­ nens daran beteiligt ist, eine mittlere Haltung zu den eigenen Gefüh­ len zu erlernen. Die Gefühle sind dabei die Ausgangslage, denn jeder Mensch hat von Anfang an eine Neigung, bestimmte Dinge als lustvoll und andere als weniger lustvoll zu empfinden. Der Weg zur mittleren Haltung besteht darin, den eigenen Neigungen gegenteilige Handlungen auszuführen. Das bedeutet für ein ängstliches Kind, dass es lernen muss, etwas zu wagen und für ein risikofreudiges Kind, dass es lernen muss, abzuwarten oder etwas noch einmal zu überdenken. Dies verdeutlicht, warum Aristoteles der Meinung ist, dass Erziehung am erfolgreichsten ist, wenn sie individuell auf das Kind abgestimmt ist.822

8.5 Lernen durch Nachahmung (mimēsis) Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der für das Lernen durch Handeln unentbehrlich ist: Das Lernen durch Nachahmung (mimēsis). Ἐοίκασι δὲ γεννῆσαι μὲν ὅλως τὴν ποιητικὴν αἰτίαι δύο τινὲς καὶ αὗται φυσικαί. τό τε γὰρ μιμεῖσθαι 5σύμφυτον τοῖς ἀνθρώποις ἐκ παίδων ἐστὶ καὶ τούτῳ διαφέρουσι τῶν ἄλλων ζῴων ὅτι μιμητικώτατόν ἐστι καὶ τὶς μαθήσεις ποιεῖται διὰ μιμήσεως τὰς πρώτας, καὶ τὸ χαίρειν τοῖς μιμήμασι πάντας. σημεῖον δὲ τούτου τὸ συμβαῖνον ἐπὶ τῶν ἔργων· ἃ γὰρ αὐτὰ λυπηρῶς ὁρῶμεν, τούτων τὰς εἰκόνας τὰς μάλιστα ἠκριβωμένας χαίρομεν θεωροῦντες, οἷον θηρίων τε μορφὰς τῶν ἀτιμοτάτων καὶ νεκρῶν. αἴτιον δὲ καὶ τούτου, ὅτι μανθάνειν οὐ μόνον τοῖς φιλοσόφοις ἥδιστον ἀλλὰ καὶ τοῖς ἄλλοις ὁμοίως, ἀλλ᾿ ἐπὶ βραχὺ κοινωνοῦσιν αὐτοῦ. διὰ γὰρ τοῦτο χαίρουσι τὰς εἰκόνας ὁρῶντες, ὅτι συμβαίνει θεωροῦντας μανθάνειν καὶ συλλογίζεσθαι τί ἕκαστον, οἷον ὅτι οὗτος ἐκεῖνος· ἐπεὶ ἐὰν μὴ τύχῃ προεωρακώς, οὐχ ᾗ μίμημα ποιήσει τὴν ἡδονὴν ἀλλὰ διὰ τὴν ἀπεργασίαν ἢ τὴν χροιὰν ἢ διὰ τοιαύτην τινὰ ἄλλην αἰτίαν. 822

Vgl. EN X 10, 1180b7ff.

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8.5 Lernen durch Nachahmung (mimēsis)

Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachah­ men selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maß zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen (manthanein) bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen versuchen (syllogizesthai), was ein jedes Ding sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle. Poet. 4, 1448b4–19.

In diesem Kapitel der Poetik wird mimēsis als angeborene Eigen­ schaft des Menschen ausgewiesen, welche ihn, im Gegensatz zu anderen Lebewesen, in besonderer Weise auszeichnet. Aristoteles ist der Meinung, dass der Mensch sowohl in besonderem Maße zu Nachahmung fähig ist als auch, dass der Mensch seine ersten Erkenntnisse durch Nachahmung gewinnt. Des Weiteren bereitet das Lernen durch Nachahmung jedem Menschen Freude. Sie ist deshalb ein geeigneter Begriff, das Lernen im Kindesalter zu erklären. Man spricht in der modernen Psychologie von Beobachtungslernen. Doch was bezeichnet die Fähigkeit der Nachahmung? Mimetisches Verhalten ist ein Zugang zur Welt des Menschen, durch den er etwas lernt (manthanein). Sie ist eine Form des Erschließens und Verstehens (syllogizesthai), das dadurch bewirkt wird, dass der Natur Merkmale entnommen und dann künstlerisch oder theatral dargestellt werden. Wenn Menschen sich an Bildern erfreuen, dann liegt das daran, so Aristoteles, dass sie in diesen Bildern etwas wiedererkennen, das mit der Wirklichkeit korrespondiert. Hallvard Fossheim hat eine sehr interessante Interpretation vorgelegt, die erklären möchte, wie ethisches Lernen durch mimēsis geschehen soll. Die mimēsis ist dabei mit einem Vorgang der Abs­ traktion vergleichbar, da sie etwas wie eine mentale Repräsentation erzeugt. Wenn man zum Beispiel eine Blume zeichnerisch nachahmt, müsse man etwas hinreichend Charakteristisches von der Blume

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

abstrahieren, um sie zu reproduzieren.823 Diese Eigenschaft der Nach­ ahmung überträgt Fossheim auf das Nacheifern eines Charakters im Schauspiel. Das schauspielende Kind jedoch gehe den umgekehrten Weg wie der Dichter: Der Dichter leite die mimēsis aus dem ab, was er schon hat, nämlich aus seinem Charakter.824 Das Kind hingegen realisiere seinen Charakter eben durch die mimēsis.825 Und dazu, so Fossheim, brauche es eine Persönlichkeit, die es nachahmen könne, ein Vorbild und den Willen, ein Charakteristikum oder eine Handlung dieser Person nachzuahmen: »The general idea, then, is this. Children and young people develop their character by actively engaging in mimēsis (ibid.) of others who function as models for them. The child does as others do and learns to become a certain sort of person by emulating the actions and manners of others.«826

Indem das Kind in der Nachahmung sozusagen das Wesentliche dieser Person abstrahiert, um es zu reproduzieren, lerne es durch Han­ deln und quasi non-kognitiv, was tugendhaftes Sein und Handeln ist. Ein Aspekt, der den aufmerksamen Leser allerdings zögerlich machen könnte, ist, dass Lernen am Vorbild in der Nikomachischen Ethik eigentlich keine textliche Basis hat. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass der Begriff der mimēsis nicht mehr relevant für diese Schrift ist, weil sie sich an diejenigen richte, die die Phase der Nachahmung schon durchlaufen haben – so die Vermutung Fossheims.827 Magdalena Hoffmann verweist darauf, dass es in der Nikomachischen Ethik nur einen Kontext gibt, in dem von mimēsis die Rede ist, und das sind Fälle von Täuschung.828 In diesen Passagen geht es einerseits um den Prahler, der die Tapferkeit nachahmt, und andererseits um die Reichen, die den Stolzen nachahmen. Hoffmann bezweifelt die Eignung dieser Stellen als Grundlage für ein pädago­ gisches Modell der Nachahmung.829 Allerdings hat die Passage, in der es um den Prahler geht, nicht die Bedeutung für das Thema mimetischer Aktivität, die Hoffmann ihr beimisst. Laut Stephen 823 824 825 826 827 828 829

Vgl. Fossheim 2006, S. 110. Vgl. Poet. 4, 1448b20ff. Vgl. Fossheim 2006, S. 111. Ebd. Vgl. ebd., S. 112. Vgl. Hoffmann, M. 2012 sowie EN Ⅳ 8, 1124b2ff. und EN Ⅲ 10, 1115b29–32. Vgl. ebd., S. 67.

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8.5 Lernen durch Nachahmung (mimēsis)

Halliwell verwendet Aristoteles sein mimetisches Vokabular in einem engen und in einem weiten Sinne.830 Im engen Sinne ist es auf künstlerische Darstellung wie Dichtung, Malerei, Skulptur, Musik und Tanz bezogen.831 Im weiteren Sinne bezieht Aristoteles sich auch auf nicht-künstlerisches Verhalten von Tieren und Menschen, wie zum Beispiel auf optische Ähnlichkeit832, Analogie833 und behavio­ ristisches Nachhamen oder täuschendes Nachahmen.834 Als Beispiel für eben solches nennt Halliwell außerdem die von Hoffmann ange­ führte Stelle (EN III 10, 1115b30f.). Aristoteles’ Beschreibung der kindlichen mimēsis im vierten Kapitel der Poetik falle aber nicht in den Gebrauchsbereich des Begriffes ›mimēsis‹, um Täuschungen zu bezeichnen, dies betont Halliwell ausdrücklich.835 Es muss daher auf zwei andere Quellen zurückgegriffen werden. Es gibt zwei Passagen in der Politik, die die These stützen, dass mimetisches Handeln eine Rolle für den Habituationsprozess spielt. Gegen Ende des achten Buches der Politik wird das kindliche Spielen als ›Nachahmung‹ des späteren wirklichen Lebens beschrieben.836 Aristoteles weist dem Nachahmen von Handlungen aus dem Leben zu, dass sie auf das echte Leben vorbereiten können. Die zweite Passage, die für die Frage des Lernens durch Nachah­ mung eine Rolle spielt, ist Pol. 1340a1–40. In dieser Passage geht es um die Wirkung der Musik (mousikē) auf die Seele (psychē). Aristoteles knüpft an das Thema der emotionalen Edukation an, indem er daran erinnert, dass sich Tugend darauf gründet, »dass man die richtige Freude und die richtige Liebe und den richtigen Hass empfindet.«837 Danach kommt er darauf zu sprechen, dass für die Ausbildung solcher affektiven Dispositionen vor allem Gewöhnung und das Ausführen edler und guter Handlungen (ēthesi kai tais kalais praxesin) beitrügen.838 Dann aber heißt es, dass Rhythmus und Melo­ Vgl. Halliwell 2002, S. 152. Vgl. ebd., S. 152. 832 Vgl. Hist. anim. I 8, 502b9–10. 833 Vgl. Hist. anim. IX 7, 612b18ff. beschreibt menschliches und tierisches Verhalten als analog, auch Hist. anim. VIII 1, 588a16ff. 834 Vgl. Halliwell 2002, S. 153 mit Verweis auf Hist. anim. VIII 12, 597b23–26; EN III 10, 1115b32. 835 Vgl. Halliwell 2002, S. 152f. 836 Vgl. Pol. VII 17, 1336a33–34. 837 Pol. VIII 5, 1340a15. 838 Vgl. Pol. VIII 5, 1340a15ff. 830 831

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

die auch Abbilder (homoiotata) oder Nachahmungen (mimēmata) von Emotionen oder Charaktereigenschaften seien (genannt werden Zorn, Sanftmut, Tapferkeit, Enthaltsamkeit und ihre Gegenteile), und dass deshalb die Musik in der Lage sei, unsere seelische Konstitution zu verändern (metaballomen gar tēn psychēn).839 Thematisch knüpft die Passage also direkt an die Überlegung der Nikomachischen Ethik an, dass ein Teil der Tugend darin bestehe, das menschliche Empfinden von Lust und Schmerz zu verändern. Musik scheint hier neben Habituation und Instruktion als drittes Mittel angesehen zu werden, den gewünschten Erziehungseffekt zu erzeugen.840 Auch wenn die theoretische Basis dieser Annahme nur angedeutet wird,841 ist sie bedeutsam für die Frage der emotionalen Edukation. Musik kann den Hörer in verschiedene Stimmungen versetzen. Mithilfe musikalischer Erziehung können so verschiedene emotionale Reaktionen ›eingeübt‹ werden: »Wer sich aber bei den Abbildern daran gewöhnt, auf richtige Weise Freud und Leid zu empfinden, ist nahe daran, sich diesem Wirklichen gegenüber ähnlich zu verhalten; [...]«842 Aristoteles geht offenbar davon aus, dass Melodien und Rhyth­ men etwas enthalten, das Charaktereigenschaften (ēthē) ähnlich sei (homoiomata).843 Musikalische mimēsis wird von Aristoteles also so verstanden, dass sie über eine intrinsische Kapazität verfügt, affektive Dimensionen des Charakters zu enthalten und zu (re)prä­ sentieren.844 Das Erleben von Musik hat aber gleichzeitig noch die Eigenschaft, Gefühle bzw. affektive Reaktionen hervorzurufen und dies ist letztlich eine Frage von Bewegung (kinēsis).845 Derartige Veränderungsprozesse beschreibt Aristoteles auch an anderer Stelle als Bewegungen der Seele.846 Es liegt also in der Natur, d. h. es ist eine intrinsische Eigenschaft der Musik, auf die Seele einzuwirken und diese zu verändern.847 Der Effekt, den Aristoteles beschreibt, ist allerdings nur temporär und nicht dauerhaft. Musik bzw. Rhythmen Vgl. Pol. VIII 5, 1340a18ff. Hitz ist der Meinung, dass die Erziehung durch Musik in der Lage sei, zu erklären, wie im Laufe des Habituationsprozesses äußere Anreize zu inneren Impulsen werden. Vgl. Hitz 2012. 841 Vgl. Brüllmann 2005, S. 371. 842 Pol. VIII 5, 1340a22–25. 843 Vgl. Halliwell 2002, S. 155. 844 Vgl. ebd., S. 159. 845 Vgl. ebd. mit Verweis auf Pol. VIII 5, 1340b8–10. 846 Vgl. ebd., S. 160. 847 Vgl. ebd. mit Bezug auf Pol. VIII 5, 1340a22–23. 839

840

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8.6 Lernen am Vorbild

und Melodien sind zwar geeignet, im Hörer temporär Emotionen auszulösen, aber es ist nicht rekonstruierbar, wie das Hören von Musik dauerhafte Veränderungen im dispositionalen Setup einer Per­ son hinterlassen sollte. Die Musikerziehung wird von Aristoteles leider nicht ausführ­ licher behandelt als in diesem Abschnitt. Da man davon ausgeht, dass das in den Büchern VII und VIII der Politik dargestellte Erzie­ hungsprogramm nur unvollständig überliefert ist,848 ist es durchaus möglich, dass Aristoteles eine umfangreichere Theorie des Lernens durch Musik vertrat, die uns nicht vorliegt.849 Das Lernen durch Geschichten und Theaterspiel ist aber durchaus als eine Ergänzung zur Habituation zu verstehen.850 Rekapitulieren wir die wesentlichen Aspekte zum Lernen durch Nachahmung. Mimēsis ist dem Menschen laut Aristoteles sowohl eine instinktive Aktivität von Kindheit an als auch eine natürliche Quelle von Vergnügen. Deshalb muss das Lernen am Vorbild – im Sinne von mimēsis – Grundlage für alles menschliche Lernen sein. Theater und Schauspiel, aber auch viel informellere Formen des Spielens, geben dem Kind die Gelegenheit, sich mit Handlungen und Persönlichkeiten der Erfahrungswelt zu beschäftigen, in die es hineinwächst. Diese Aktivitäten haben deshalb einen Platz im Rahmen der Erziehung, sind aber nicht ihr Hauptbestandteil.

8.6 Lernen am Vorbild Die Rolle der erziehenden Bezugsperson ist so wichtig, dass wir noch einmal explizit auf ihre Rolle und die Frage zurückkommen sollten, ob Aristoteles eine Konzeption des Lernens am Vorbild vertritt. Es gibt mehrere Autoren, die Aristoteles eine solche Konzeption

Vgl. Flashar 1983, S. 314; Düring 1966, S. 489 und meine Ausführungen in Abschnitt 1.2.2. 849 In dem erhaltenen Corpus nimmt die Musik innerhalb der Erziehung jedoch keine so prominente Rolle wie bei Platon ein. Es ist außerdem möglich, dass gerade in der Politik noch ›Überreste‹ von Platonreferaten zu finden sind, da diese Schrift als Frühwerk gilt und auch in anderen Punkten eine erstaunliche Nähe zu Platons Spätwerk aufweist. 850 Vgl. Steutel/Spiecker 2004, S. 533. 848

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

zuschreiben.851 Es gibt tatsächlich mehrere gute Gründe, die dafür sprechen, das Lernen am Vorbild als einen integralen Bestandteil des aristotelischen Modells von Erziehung und Bildung zu betrachten. Sowohl Sherman als auch Wolfgang Kersting heben darauf ab, dass gerade eine Tugendethik eine ethische Normfigur mit Modellcharakter entwerfen müsse. Nach Kersting muss Lernen durch Handeln so verstanden werden, dass der Lernende »einem Vorbild nach[…]eifer[t]«852, was er als »exemplarisches Üben«853 versteht. Seiner Meinung nach ist diese spezielle Form des Lernens – und nur diese – einer Tugendethik angemessen. Da sie nicht Entschei­ dungsregeln aufstellen könne, könne sie auch nicht tradieren, indem sie Regelwissen vermittelte, »sondern muss auf die vorbildhaften Menschen zeigen.«854 Eben dieses Fingerzeigmodell, also die Idee, dass Kinder durch die Nachahmung herausragender Persönlichkeiten ihren Charakter formen, kritisiert Hoffmann. Sie hält es für problematisch, dass das Fingerzeigmodell einerseits impliziert, dass Tugend sichtbar sei, und andererseits, dass der Lernende sie sehen und nachahmen, bzw. sei­ nem Vorbild nacheifern könne.855 Ihrer Meinung nach sei tugendhaf­ tes Verhalten nicht sichtbar im Sinne der sinnlichen Beobachtung, weil dazu auch die innere Haltung gehöre, aus der heraus die Handlung vollzogen werde.856 Entscheidend für die moralische Entwicklung ist für Hoffmann die Gewöhnung, die sie als eigenes Einüben versteht und nicht als Imitieren einer herausragenden Persönlichkeit.857 Dies müssen aber nicht Alternativen sein, die sich gegenseitig ausschlie­ ßen. Wenn das Kind jemandem nacheifert, bedeutet das nicht, dass es seine eigene Persönlichkeit aufgibt und so werden möchte, wie ein anderer Mensch. Es kann auch bedeuten, dass es einen bestimmten Aspekt an einer bewundernswerten Person herausgreift und versucht, diesen für sich zu realisieren. Wir haben gesehen, dass die mimetische Fähigkeit genau diese Form der Interpretationsleistung ermöglicht.

851 Dies sind neben Fossheim (Fossheim 2006) zum Beispiel Kersting (Kersting 2005) und Kristjánsson (Kristjánsson 2007). 852 Kersting 2005, S. 34. 853 Ebd. 854 Ebd. 855 Vgl. Hoffmann, M. 2012, S. 66. 856 Vgl. ebd. 857 Vgl. ebd., S. 67.

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8.6 Lernen am Vorbild

Der Einwand der mangelnden Sichtbarkeit lässt sich außerdem leicht durch die Konzeption des von Anleitungen und Erklärungen geleiteten Lernens entkräften. Indem sich eine erwachsene Vorbild­ figur dem Kind erklärt und das eigene Handeln begründet, kann sie ihm eine Einsicht in ihre inneren Handlungsmotivationen und moralischen Auffassungen gewähren, die mit ihren Handlungen zusammenhängen. Mit zunehmendem Alter kann das Kind diese aufgrund seiner sich sukzessiv entwickelnden aktiven und passiven Logosfähigkeit immer besser verstehen. So wird es in die Praxis des Gebens und Verstehens von Gründungen eingeführt.858 Neben dem fortwährenden Dialog zwischen erziehender Bezugs­ figur und dem lernenden Kind, muss auch hier noch einmal die emotionale Beziehung zwischen diesen erörtert werden. Liebe und Bewunderung für die Vorbildfigur seitens des Kindes sind die emo­ tionale Voraussetzung für die Motivation, das Verhalten des Vorbil­ des nachzuahmen.859 Sherman sieht die Beziehung zwischen erziehender Bezugsper­ son (in ihrer Interpretation die Mutter) als geradezu archetypische Beziehung für alle anderen Beziehungen, die das Kind auf gesell­ schaftlicher Ebene eingehen wird: »The relationship she [the mother] forms with the child thus becomes a model of what is to become psychologically and emotionally vulnerable to others. In addition to a capacity for attachment, she teaches a sense of reliance on others, a sense of loyalty and intimacy, and a sense of co-operation [sic] and care which the virtuous person will need for forming friendships as well as for acting virtuously in general.«860

Die Erfahrung von Loyalität und Kooperation, die das Kind in der Beziehung mit der erziehenden Bezugsperson und seinem Vorbild erfährt, ist die Grundlage für Beziehungen mit anderen Menschen, die sich auf Loyalität, Vertrauen und Kooperation gründen. Des Weiteren kann das Lernen am Vorbild auch erklären, wie komplexe emotionale Reaktionen erlernt werden können. Gerade Gerechtigkeit (dikaiosynē) oder beispielsweise die berechtigte Entrüs­ tung (nemesis) lassen sich schwer dadurch erklären, dass die emotio­ nalen Reaktionen, die ein Kind hat, nur durch Lob und Tadel geformt werden könnten. Echtes Interesse an den Bedürfnissen und Rechten 858 859 860

Curren 2000, S. 211f. Vgl. Abschnitt 4.4 und 6.1. Sherman 1989, S. 154.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

anderer Menschen müssen einem Kind vorgelebt werden und in die tägliche Praxis miteinbezogen sein, in die das Kind hineinwächst, damit es diese dauerhaft verinnerlichen und so verstehen kann.

8.7 Scham als Tugend des Lernenden Scham spielt eine wichtige Rolle beim Tugenderwerb. Angemessene Scham ist die Reaktion von wohlerzogenen Jugendlichen, wenn sie schändliche Handlungen begehren oder vollzogen haben.861 Für Aris­ toteles gleicht die Scham eher einem Affekt (pathos) als einer Haltung (hexis), weil sie oft auch mit einer körperlichen Reaktion wie dem Erröten des Gesichts zusammenhängt. Sie wird definiert als Furcht vor Unehre.862 Insofern ist sie geeignet, den Lernprozess der Habituation positiv zu beeinflussen.863 Der Lernende macht Fehler und schämt sich danach. Da Scham unangenehm ist, strebt der Lernende danach, sie zu vermeiden. Sukzessive wird er nur noch selten Scham empfinden, weil er kaum noch Fehler machen wird.864 Wie herausgestellt wurde, muss die Meinung, die die erziehende Bezugsperson vom Kind hat, für das Kind von Bedeutung sein. So ist die Funktion der Scham untrenn­ bar mit der Beziehung zwischen dem Kind und seinem Vorbild verbunden: Wenn das Kind von seinem Vorbild abweicht, wird es enttäuscht oder wütend sein und sich schämen; wenn es diesem hingegen gleichkommt, Stolz und Zufriedenheit empfinden.865 Zena Hitz unterstützt diese Argumentation, indem sie herausarbeitet, dass die Scham des Lernenden nicht als Angst vor öffentlicher Bloßstellung verstanden werden darf, sondern eher als innere Reaktion verstanden werden muss.866

Vgl. EN IV 15, 1128b15ff. Vgl. EN IV 15, 1128b10ff. 863 Eine umfassende Untersuchung der Scham als Tugend des Lernenden liefert Jimenez 2020. Da Jimenez’ Buch jedoch erst erschien, als die inhaltliche Konzeption dieses Manuskripts bereits abgeschlossen war, kann ich hier nur auf ihre Arbeit verweisen, ohne sie genauer zu besprechen. 864 Vgl. Burnyeat 1980, S. 79. 865 Vgl. ebd. 866 Vgl. Hitz 2012, S. 282–283. 861

862

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8.8 Die Harmonie der Seelenteile

Aristoteles sagt explizit, dass die Scham die natürliche Tugend der Besonnenheit (sophrosynē) befördere,867 und dass Scham etwas für junge Menschen, nicht für alte Menschen sei.868 Das liegt daran, dass der gute Mensch keinen Anlass mehr haben wird, sich zu schämen, weil er in allem richtig urteilt. Es ist nicht leicht zu sagen, wie hoch Scham auf einer kognitiven Skala anzusiedeln ist. Burnyeat ist der Meinung, dass Aristoteles die Scham in Anlehnung an Platon im strebenden und nicht im vernünfti­ gen Seelenteil ansiedele,869 was begründe, dass die moralische Erzie­ hung, solange die Scham ihr Motor sei, vorrational sein müsse.870 Dennoch räumt Burnyeat auch ein, dass evaluative Einstellungen einen intentionalen Gehalt haben: »something is desired as noble or just, something inspires shame because it is thought of disgraceful.«871 Eine gewisse Art des gedanklichen Urteils ist also notwendig, um Scham zu empfinden. Zu Beginn des Lernprozesses ist die Scham also eher eine Art Impuls oder Gefühl, das auf die Wahrnehmung einer missbilligenden Reaktion der erziehenden Bezugsperson folgt. Mit wachsenden kognitiven Fähigkeiten kann sich das Gefühl der Scham aber auch aus Urteilen über komplexe Zusammenhänge spei­ sen. Wenn der Lernprozess abgeschlossen ist, ist die Scham nicht mehr notwendig.

8.8 Die Harmonie der Seelenteile Im guten Menschen gibt es drei verschiedene Wertekategorien, die in Einklang miteinander sind. Von Natur aus empfindet der Mensch bestimmte Objekte und Handlungen als lustvoll oder schmerzhaft, aus der Gewöhnung heraus als nützlich oder als schädlich, und aus der Vernunft heraus als gut bzw. wertvoll oder als verabscheuenswert.872 Der Lernende, der auf dem Weg zur moralisch vollkommenen Person ist, macht manchmal Fehler dadurch, dass er übereifrig handelt oder teilweise Handlungen nicht richtig einschätzen kann. Ist das jedoch der Fall, schämt er sich und versucht, sein Verhalten zu ändern. Der 867 868 869 870 871 872

Vgl. EE III 7, 1234a30–33. Vgl. EN IV 15, 1128b15ff. Vgl. Burnyeat 1980, S. 79. Vgl. ebd., S. 80. Ebd. Vgl. EN II 2, 1104b30ff.

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

Maßlose hingegen kennt nur die Lust als einzige Kategorie, hand­ lungstheoretisch befindet er sich deshalb auf dem Niveau eines Tieres oder Säuglings. Der Akratiker wiederum kann wegen mangelnder Erziehung sein natürliches Lustempfinden nicht auf seine rationalen Einschätzungen hin ausrichten und handelt deshalb wider besseres Wissen lustgesteuert. Der gute Mensch hingegen muss sich zwischen diesen Werte­ kategorien nicht entscheiden. Er hat (emotional und vorrational) gelernt, Lust gegenüber Objekten und Handlungen zu empfinden, die für ihn als werthaft gelten und von denen er auch durch vernünftige Überlegung weiß, dass sie zu erstreben sind. Der Akratiker hat das nicht gelernt. Obwohl er von bestimmten Dingen auf der Vernunft­ ebene weiß, dass sie erstrebenswert sind, erstrebt er sie (emotional) nicht. Sein Wissen vom Guten bleibt ihm deshalb letztlich äußerlich, weil es nicht mit seinen Dispositionen in Verbindung steht. Seine Wertekategorien stehen in Konflikt zueinander. Der Gute hat jedoch die existierenden Wertekategorien in sich synchronisiert, weshalb er keinerlei Konflikten ausgesetzt ist. In ihm befinden sich physis, ethos und logos in Harmonie: »And with all three categories in harmony, then, and then only, nothing will tempt or lure him so much as the temperate or brave action itself. Nothing else will seem as pleasurable. That is how Aristotle can assert (VII.10 1152a6–8) that the fully formed man of virtue and pratical wisdom cannot be acratic. Quite simply, he no longer has reason to be.«873

Wenn wir nun auf den Erziehungsprozess zurückkommen, ist klar, warum in diesem die einzelnen Phasen einzuhalten sind. Der Mensch erweitert in jeder Erziehungsphase sein Wertesystem um eine weitere Wertkategorie, die mit der oder den bisher bestehenden synchroni­ siert werden muss. Von Natur (physis) aus verfügt der Mensch nur über die Kategorien ›Lust und Schmerz‹. In diesem Stadium befinden sich Tiere, Säuglinge und Kleinkinder. In der zweiten Natur gewinnt der moralisch geformte Mensch die Kategorie ›nützlich-schädlich‹ hinzu, indem er lernt, das Nützliche zu lieben und zu erstreben und sich angesichts des Schädlichen zu schämen oder zu erzürnen. Dies erfährt er durch die Habituation (ethos). Wenn nun die Vernunftfähig­ keit hinzukommt, hat er Einsicht in das Gute und Schlechte. Diese 873

Burnyeat 1980, S. 88.

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8.8 Die Harmonie der Seelenteile

sollten die bisher angewöhnten Kategorien von nützlich/schädlich im Bestfall bestätigen, sodass sich angewöhnte Reaktions- und Moti­ vationsmuster auch vernünftig begründen und erklären lassen. Der vernünftige Mensch empfindet so am Ende des Erziehungsprozesses Lust an edlem Verhalten, was er gleichzeitig auch aus rationalen Gründen für gut erachtet und hat deshalb auch nicht mehr die Nei­ gung, sich anders zu verhalten.874 Fossheim meldet Zweifel daran an, dass dies gelingen kann, weil er eine Lücke oder eine Kluft zwischen rudimentären Gefühlen von Lust und Unlust am Anfang des Prozesses und einer Liebe für das Edle am Ende des Prozesses sieht. Er fragt deshalb, wie die einfachen Empfindungen von Lust und Schmerz in komplexe Handlungsimpulse (motivations) umgewandelt werden: »But it is hard to see how motivations based only on pleasures and pains can magically transmute into anything essentially different from themselves. Hence, mere association cannot bridge the gap between pleasure and the noble, and a ›hooking up‹ of the good and the noble by associative training cannot be enough to give the learner access to the noble as a motivation in its own right.«875

Es findet aber keine »magische Mutation« (»magically transmute«) zwischen diesen Wertkategorien statt. Gefühle von Lust und Unlust werden nicht in andere Gefühle umgewandelt. Das Empfinden von Lust und Unlust an sich verändert sich nicht. Was sich allerdings verändert, sind die Wahrnehmungsgehalte, die sie auslösen. Die Art der Gegenstände, auf die der Mensch seine Emotionen richten kann, verändert sich im Laufe seiner Entwicklung. Mit zunehmendem Verständnis und Aufmerksamkeitspotenzial kommen im Laufe der menschlichen Entwicklung neue kognitive Gehalte hinzu, die mit Lustgefühlen verknüpft werden können. Auch der erwachsene Mensch hat immer noch seine natürlichen Strebungen, wie jedes andere Tier auch. Er hat aber durch seinen wachsenden Verstand und die charakterliche Formung zusätzliche Kategorien hinzugewonnen. Deshalb sind moralische Erziehung und zunehmendes Abstraktions- und Einsehvermögen so eng miteinan­ der verbunden. Je genauer ein Mensch die einzelnen Aspekte einer Situation wahrnehmen, analysieren und miteinander ins Verhältnis setzen kann, desto differenzierter und angemessener seine emotio­ Vgl. Young 2009, S. 444 mit Verweis auf EN VII 9, 1151b32–1152a3. Es muss aber gemeint sein: VII 11, 1151b34–1152a3. 875 Fossheim 2006, S. 108. 874

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8. Die Formung des Strebens beim Kind: Die Entstehung moralischer Motivation

nalen Reaktionen. Je genauer sein Verständnis von der Welt und den Menschen darin, desto besser die Planung und Umsetzung sei­ ner Auffassung von richtigen Haltungen in konkrete Handlungen. Deshalb gibt es einen starken inneren Zusammenhang zwischen der zunehmenden Rationalität im Laufe der natürlichen Entwicklung eines Menschen und seinem moralischen Lernen durch Habituation: sie bedingen sich gegenseitig.

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

Die Fragestellung dieser Arbeit war, wie ein guter Mensch nach Aristoteles entsteht. Ein guter Mensch zeichnet sich für Aristoteles durch eine Exzellenz aus, die sowohl affektive Reaktionspotentiale wie auch kognitive und intellektuelle Fähigkeiten umfasst. Die Tugend des arationalen Seelenteils, die aretē ēthikē , und die phronēsis sind deshalb untrennbar. Aristoteles macht jedoch eine begriffliche Unter­ scheidung zwischen diesen beiden Formen von Tugend und weist ihnen unterschiedliche Entstehungsmechanismen zu. Der arationale Seelenteil wird durch den Prozess der Habituation (ethos, ethismos) geformt, der rationale Seelenteil durch einen Prozess der Instruktion (logos, didaskalia). Das bedeutet jedoch nicht, dass der Prozess der Erziehung aus zwei voneinander getrennten Phasen verläuft, in der die erste Phase als eine Art mechanische Konditionierung durch äußere Stimuli (Lob und Tadel) verstanden werden müsste, die kei­ nerlei Kognition oder vernünftiges Denken auf Seiten des Lernenden involviere, wie es in der Forschungsgeschichte oft der Fall war. Ich konnte vielmehr zeigen, dass der Prozess der Habituation durch die Hinweise und Ratschläge einer anleitenden Bezugsperson begleitet werden muss, die aufgrund ihrer eigenen Tugend und vernünftigen Einsicht in der Lage ist, das Kind zu begleiten. Diese Begleitung besteht in verschiedenen Tätigkeiten. Die erziehende Bezugsperson leitet durch Anweisungen und Ermutigungen das Kind dazu an, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Diese vollzieht es zwar nicht im eigentlichen Sinne des Handelns, weil es sich noch nicht selbst zum Handeln entscheiden kann, aber es ist dennoch wichtig, dass das Kind selbst aktiv ist und eigene Erfahrungen macht, damit die Charakterformung stattfinden kann. Ein Teil dieses Prozesses ist als Wahrnehmungsschulung zu verstehen, weil es für das rich­ tige Handeln darauf ankommt, die partikularen Eigenschaften von Situationen zu erfassen, um angemessen zu reagieren. Es ist keine Vorlesung über das Gute, die Kinder zu guten Menschen macht und auch keine rhetorisch überzeugende Rede. Es ist die eigene Einübung

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

des Kindes in die richtigen Verhaltensweisen, die den gewünschten Gewöhnungseffekt erzeugt. Meine Analyse des Konzepts der Kindheit hat das Ergebnis, dass das Kind bei Aristoteles nicht Objekt, sondern Subjekt der Erziehung ist. Da seine emotionalen und kognitiven Fähigkeiten zumindest basale Formen der Urteilsbildung ermöglichen und das Kind sukzessive immer mehr am logos der Erwachsenen teilhat, indem es Sprache versteht und selbst die Fähigkeit ausbildet, zu sprechen, wurde gezeigt, dass der Prozess der Habituation verbale Instruktionen beinhalten darf. Ich kann so die Interpretation, dass sich zunehmen­ des Abstraktionsvermögen und moralisches Lernen bei Aristoteles gegenseitig bedingen876 mit zusätzlicher Evidenz untermauern. Es wurde außerdem dafür argumentiert, dass das Gelingen des Prozesses maßgeblich von der Beziehung von erziehender Bezugsper­ son und Kind abhängt. Damit das Kind die gebotenen Ratschläge verbindlich nimmt, ist vorausgesetzt, dass es die erziehende Bezugs­ person respektiert und deren Meinung wertschätzt. Nur so können Lob und Tadel sowie non-verbale Reaktionen der Bezugsperson im Kind die Lust-und Unlust-Gefühle auslösen, die mit dem richtigen Verhalten assoziiert werden sollen. Im Laufe des Prozesses wird das Kind die dem richtigen Handeln zugrundeliegenden Prinzipien verin­ nerlichen. In meiner Analyse wurde deutlich, dass die theoretischen Annahmen, die Aristoteles über diesen Prozess in der Physik und in De motu animalium macht, mit den konkreten Überlegungen, die sich aus Ethik und Politik ableiten lassen, übereinstimmen. Habituation ist deshalb ein Veränderungsprozess im Kind, der verändert, welche Handlungen und Gegenstände es als lustvoll wahrnimmt. Auf diese Weise wird das Streben des Kindes auf das Gute gerichtet. Es wurde außerdem nachgewiesen, dass Kinder einen aktiven Anteil an diesem Prozess haben und deshalb auch in einem gewissen Maße für das Gelingen dieses Prozesses verantwortlich sein müssen. Auch wenn Kinder keine bewussten Entscheidungen darüber treffen können, in welche Familie sie hineingeboren werden, und mit welchen Personen sie in Kontakt kommen, können Kinder sich im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend entscheiden, welchen Personen sie nachei­ fern wollen und welche Ratschläge sie für sich als verbindlich nehmen. Mit zunehmendem Abstraktionsvermögen und Verständnis für ihr Umfeld und die darin lebenden Menschen gewinnen sie mehr Anteil 876

Vgl. Burnyeat 1980, S. 71.

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

an ihrem eigenen Lernprozess. Gleichzeitig hat die Beteiligung des Kindes auch Grenzen. Kinder sind nicht für ihre natürlichen Anlagen verantwortlich. Außerdem hält Aristoteles es für sehr schwierig und äußerst unwahrscheinlich, dass jemand in einer völlig korrumpierten Gesellschaft zu einem guten Menschen werden kann. Sein Modell der Erziehung ist also weder völlig deterministisch noch völlig frei zu verstehen. Kinder werden nicht automatisch gute Menschen, wenn sie gute Anlagen haben und eine gute Umgebung vorfinden, aber es ist sehr wahrscheinlich. Ist ein Mensch aber erst einmal zum guten Menschen geworden, ist es relativ unwahrscheinlich, dass er diese festen Dispositionen wieder verliert. Die Kindheit ist für Aristoteles ein Zeitfenster, in dem der Mensch besonders formbar, lernfähig und aufnahmefähig ist, und insofern betrachtet er es als gesellschaftliche Verantwortung, Kinder in dieser Zeit zu guten Menschen zu erziehen. Ist dieses Zeitfenster geschlossen, ist es zwar nicht unmöglich, aber äußerst schwierig und unwahrscheinlich, noch zum guten Menschen zu werden. Es konnte gezeigt werden, dass sich die Erklärung des Erwerbs moralischer Motivation, wie er aus den ethischen Schriften von mir rekonstruiert wurde, problemlos in eine allgemeine Theorie der Motivation von Lebewesen aus den naturphilosophischen Schriften des Aristoteles eingliedern lässt. Die moralische Motivation des guten Menschen speist sich dabei aus zwei Quellen. Einerseits sind die in der Kindheit erworbenen Dispositionen immer noch wegweisend für den erwachsenen Akteur. Andererseits erhält er aus seiner intellektuellen Einsicht in das Gute zusätzliche Motivation. Der aristotelische phron­ imos ist deshalb kein Tugendautomat, der auf das Gute konditioniert wurde. Er reflektiert sein Verhalten. Trotzdem gibt es bestimmte Grundentscheidungen, über die er nicht mehr nachdenken muss, sondern die er so verinnerlicht hat, dass er sie nicht mehr überdenken muss. Dazu gehört die Frage, ob er das Gute tun möchte. In dieser Hinsicht ist es verständlich, dass Aristoteles sagt, dass die praktische Vernunft nur noch die Mittel ausfindig macht, mit denen der gute Mensch die Ziele umsetzt, die er durch die Charakterformung erwor­ ben hat. Die vorliegende Arbeit hat insofern versucht, einen Mittel­ weg zwischen intellektualisierenden und nicht-intellektualisierenden Interpretationen des Tugenderwerbsprozesses zu formulieren. Der Prozess der Habituation muss von Anleitungen und Erklärungen begleitet sein, aber es handelt sich nicht um eine rhetorische Überzeu­

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

gung des Kindes, wie Sherman behauptet. Gleichzeitig ist Habituation keine Konditionierung des Kindes, die ohne kognitive Aktivitäten des Kindes auskommen könnte. Gerade der Aspekt der Wiederho­ lung muss in einem kreativen Sinne verstanden werden. Ein Kind lernt tugendhaftes Handeln nicht durch das Wiederholen der immer gleichen Handlung, so wie ein Tänzer eine Drehung perfektioniert, indem er sie immer wieder wiederholt. Kinder müssen bestimmte Eigenschaften von Situationen wahrnehmen und sie in anderen Situa­ tionen wiedererkennen und dann ein Verhalten an den Tag legen, das der neuen Situation entspricht. Dafür müssen ihnen kognitive Prozesse zugeschrieben werden, die über die Kognition eines Tieres hinaus gehen. Mit einem graduellen Begriff der Kindheit kann gezeigt werden, dass dies möglich ist. Es wurde außerdem gezeigt, dass die Fähigkeit, mit der Kinder die Ähnlichkeit von Situationen feststellen können, die mimetische Fähigkeit ist, die Aristoteles für eine Grundfähigkeit der Welterfas­ sung hält, die jedem Menschen zu eigen ist. Es wird immer wieder deutlich, dass es nach Aristoteles in der Natur des Menschen liegt, zum guten Menschen zu werden, bzw. dass er durch Erziehung erst das Potential voll entfaltet, das in ihm angelegt ist. Insofern stützt die hier durchgeführte Analyse des Naturbegriffes bei Aristoteles die Ergebnisse der Gesamtuntersuchung. Des Weiteren wurde dafür argumentiert, dass die Entwicklung des Kindes analog der scala naturae verläuft. Natürliche Entwicklung und erzieherische Einflüsse bedingen sich dabei gegenseitig. Die wachsende Teilhabe an vorsprachlicher und sprachlicher Kommunika­ tion ist für Aristoteles die Voraussetzung dafür, in die (familiäre und dann politische) Gemeinschaft hineinzuwachsen. Während Kleinkin­ der noch nicht selbst über Sprache und komplexe Kognitionen ver­ fügen, haben sie auf passive Weise am logos der Erwachsenen teil, die sie erziehen. Außerdem stehen sie zu diesen in Beziehung. Die Tatsache, dass das moralische Lernen und das Verstehen moralischer Kategorien sowohl von der wachsenden Teilhabe des Kindes am logos als auch von der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Kind und erziehender Bezugsperson abhängt, zeigt, dass die zōon politikon-Natur des Menschen und die zōon-logon-echon-Natur sich nicht nur im erwachsenen Menschen gegenseitig bedingen, sondern schon in der Genese des guten Menschen. Aristoteles richtet sich gegen den motivationalen Monismus des historischen Sokrates und frühen Platons, indem er annimmt, dass es

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

in der Seele unterschiedliche Strebungen oder Impulse gibt, die sich an unterschiedlichen Wertmaßstäben orientieren und somit diachrone und synchrone innerseelische Konflikte entstehen lassen können. Der Idealzustand für Aristoteles ist wie bei Sokrates die Herrschaft der Vernunft. Diese Herrschaft wird bei ihm aber nicht als Dominanz oder größere Intensität des präsenten Wissens verstanden, die alle anderen Bestrebungen innerhalb der Seele überwiegt, beherrscht oder überstrahlt, sondern als eine Harmonie der verschiedenen Strebun­ gen in der Seele gedeutet, die dadurch entsteht, dass alle Strebungen auf das Gleiche ausgerichtete sind: das wahrhaft Gute. Im phronimos gibt es daher keine innerseelischen Konflikte mehr; seine arationalen Bestrebungen sind in der Kindheit erfolgreich auf das Gute ausgerich­ tet worden. Wie Sokrates nimmt auch Aristoteles an, dass der ungebildete Mensch sich an körperlichen Lüsten ausrichtet und deshalb nicht auf das Gute ausgerichtet sein kann. Über Kinder sagt er beispiels­ weise explizit, dass sie sich an den falschen Lüsten orientierten, weil sie nicht wüssten, was das wahrhaft Gute ist. Auch wenn es bei Aristoteles nicht mehr um einen Leib-Seele-Konflikt geht, wie im frühen Platon, ist das Körperliche weiterhin präsent, weil es durch das orektikon repräsentiert wird. Das orektikon ist direkt für Lust- und Leidempfindungen empfänglich, die sich aus körperlichen Erfahrungen ergeben. Die körperlichen Erfahrungen bleiben auch bei Aristoteles erhalten. Allerdings hat sich die Haltung des Menschen zu diesen arationalen Empfindungen verändert. Jemand der zur Mäßig­ keit erzogen wurde, hat immer noch Hunger und verspürt die damit einhergehenden Unlustgefühle. Er kann sich zu diesen Gefühlen aber verhalten und sich dazu entscheiden, nicht zu essen, wenn er etwas anderes (die Gesundheit, die Höflichkeit etc.) für wichtiger hält. Ihm gelingt deshalb die richtige Priorisierung von Gütern und er kann sie zueinander ins Verhältnis setzen. Diese Verhältnismäßigkeit ist ein gemeinsamer Aspekt der aristotelischen mit der sokratischen wie auch der platonischen Position. Jemand der temporär so sehr von einem lustvollen Gegenstand affiziert wird, dass andere Urteile, die ihm ursprünglich wichtiger waren, in den Hintergrund rücken, nimmt diese eine Lustquelle völlig unverhältnismäßig in Bezug zu seinem restlichen Wertesystem wahr. Sie steht temporär in einem zu dominanten Verhältnis zu seinen anderen Interessen. Moralische Motivation ist somit eine Frage der Präsenz von Wertmaßstäben im Akteur.

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9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtung

In Aristoteles‹ ethischer Theorie steht deshalb eine veränderte Auffassung von praktischer Vernunft im Mittelpunkt. Das Wissen vom Guten muss für Aristoteles mit dem Streben des Menschen vermittelt sein, um handlungsrelevant zu werden. Etwas als hand­ lungsverbindlich zu erkennen, ebnet den Weg dafür, es als gut zu erkennen. Etwas als gut zu erkennen, impliziert aber, es auch tun zu wollen. Meine Analyse der Genese moralischer Motivation zeigt deshalb, dass sich für Aristoteles die Erkenntnis des Guten und die Motivation zum Guten gegenseitig bedingen, und zwar sowohl im Laufe des Tugenderwerbsprozesses als auch an dessen Ende, im vollkommenen, moralischen Akteur.

290 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

10. Literaturverzeichnis

Siglen und Abkürzungen Die Werke des Aristoteles werden nach der kanonischen Seitenzäh­ lung der Bekker-Ausgabe von 1831 zitiert. Die griechischen Zitate im Fließtext sind der Online-Version der Loeb Ausgaben entnommen, die von der Harvard University Press zur Verfügung gestellt wird: https://www.loebclassics.com/search?defaultView=loebSearch&pa geSize=10&q=aristotle&sort=relevance&t1=author.aristotle Zum besseren Verständnis des Inhalts oder für Zwecke der genauen Interpretation habe ich bei manchen Passagen die Übersetzung selbst vorgenommen oder eine von mir zitierte Übersetzung modifiziert. Dies ist kenntlich gemacht. Die von mir verwendeten Übersetzungen sind im Literaturverzeichnis angegeben. Für Aristotelische Werke werden folgende Abkürzungen verwendet: Anal. post.

Analytica posterioria

Cael.

De caelo

Cat.

Kategorien

De an.

De anima

De gen. anim.

De generatione animalium

De mem.

De memoria et reminiscentia

De motu anim. De motu animalium De part. anim. De partibus animalium De sensu

De sensu et sensibilius

EE

Eudemische Ethik

EN

Nikomachische Ethik

Hist. anim.

Historia animalium

Met.

Metaphysik

291 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

10. Literaturverzeichnis

MM

Magna Moralia

Parva nat.

Parva naturalia

Phys.

Physik

Poet.

Poetik

Pol.

Politik

Rhet.

Rhetorik

Platons Werke werden nach der Stephanus-Zählung zitiert. Es werden folgende Abkürzungen verwendet: Leg.

Nomoi

Men.

Menon

Prot.

Protagoras

Rep.

Politeia

Soph.

Sophistes

Tim.

Timaios

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302 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

11. Glossar

aidōs

Scham, Schamgefühl

aisthēsis

Wahrnehmung

aitia

Ursache

akrasia

Akrasie; Willensschwäche

alogon

unvernünftig, vorvernünftig, arational

aretē

Tugend, Bestform, Exzellenz

aretē ēthikē

ethische Tugend, charakterliche Tugend

boulēsis

Wollen, Wünschen, rationales Streben

didachē, didaskalia Belehrung, Instruktion dynamis

Vermögen, Fähigkeit, Möglichkeit, Potential

eidos

Art, Form

energeia

Tätigsein, Am-Werk-Sein, Verwirklichung

enkrateia

Beherrschtheit

enkratēs

der Beherrschte

entelecheia

Entelechie, Vollendung

epagōgē

Induktion

epistēmē

Wissen

epithymia

Begierde, (An-)Trieb

ergon

Ergon, Werk, Funktion

ethismos

Gewöhnung, Habituation

ethos

Gewöhnung, Habituation

eu zēn

gutes Leben, gelungenes Leben

genesis

Entstehung, Genese, Werden

hexis

Haltung, Disposition

kinēsis

Bewegung, Veränderung

303 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

11. Glossar

logos

Vernunft(-fähigkeit), Sprache, Lehre, Wort, Argu­ ment, Urteil

logismos

Überlegung; Überlegen

mesotēs

Mitte

mimēsis

Nachahmung

nous

Einsehvermögen, (rationale) Einsicht

oikos

das Haus, die Hausgemeinschaft

ousia

Wesen

orexis

Streben, Strebevermögen

paideia

Erziehung

philia

Liebe, Freundschaft

phronēsis

Klugheit, praktische Vernunft, praktische Rationalität

phronimos

der Gute, der Kluge

physis

Natur, natürliche Anlage

polis

Polis, Staat, Stadtstaat, staatliche Gemeinschaft

prohairesis

Vorsatz, Entscheidung

scala naturae

die Skala des Natürlichen, Stufenleiter des Lebendigen

sophrosynē

Mäßigung, Besonnenheit

spoudaios

der Gute, der Tüchtige

symphōnia

Harmonie

technē

Kunstfertigkeit

telos

Ziel

zōon politikon

das auf Gemeinschaft ausgelegte Lebewesen

zōon logon echon

das auf die Vernunft ausgelegte Lebewesen

304 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Register

Abstraktionsvermögen 17, 18, 67, 115, 168, 221, 233, 244, 273, 274, 283, 286 Affekt/e 32, 33, 83, 120, 156, 161, 173–178, 205, 218, 244, 246– 248, 280, 289 affektiv 32, 39, 182, 185, 200, 201, 210, 216, 275, 276, 285 agathon 69, 70, 139, 167, 180 aidōs 173 aisthēsis 80, 127, 134, 167, 263 aitia 124, 126, 127 akrasia 43, 190–193, 195, 197, 198, 200–204, 209–211, 217, 219 Akrasie 188, 190, 195, 198, 199, 201–204, 206, 249 Akratiker 43, 68, 150, 160, 192, 193, 196, 198, 203–209, 211– 213, 222, 225, 226, 230, 243, 250, 282 Akteur 17, 40, 43, 63, 69, 95, 96, 131, 139, 141, 142, 150, 156, 183, 189, 192, 195, 196, 199, 202, 209, 210, 214, 225, 228– 231, 236, 244–246, 249, 287, 289, 290 alogon 36, 147 Alter 38, 66, 67, 84, 85, 107, 109, 114, 130, 144, 147, 151–153, 155, 156, 158–162, 165, 166, 169, 173, 177, 178, 181, 182, 185, 223, 225–227, 241, 247, 248, 255, 261, 267, 271, 273, 281 Aneignung 135, 142, 143

angeboren 45, 48, 61, 66, 71, 77– 80, 85, 86, 88, 90, 91, 94, 95, 111, 113, 117, 174, 273 Angenehme, das 44, 167, 168, 256, 280 Anleitung 18, 43, 44, 65, 108, 111, 112, 135, 138, 154, 155, 169–171, 182–184, 223, 257, 267, 279, 285, 287 Anthropologie 22, 40, 42, 167 aratioanl/e 245 arational 14, 15, 18, 43, 67, 74, 100, 102, 150, 155, 165, 190, 214, 218, 219, 226, 229, 230, 234, 237, 238, 247–250, 255, 257, 271, 285, 289 arational/e 38, 190 aretē 13, 18, 23, 28–30, 49, 70–72, 82, 104, 118–120, 159, 206 aretē ēthikē 14, 73, 76, 79, 83, 253, 285 Argumentrezeptivität 171, 175, 176, 178 Art; Form 45–49, 52, 54, 59, 67, 70, 72, 113 Begierde/n 36, 66, 67, 71, 157, 193, 194, 198–200, 202, 205, 210, 212, 213, 218, 220, 230, 234, 235, 237, 238, 255 Beherrschte, der 190, 193, 205, 206, 212 Belehrung 30, 32, 33, 38, 39, 57, 65, 66, 71, 76, 77, 123, 129–131, 144, 169, 171, 174–177, 201, 268

305 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Register

Bestform 29, 49, 61, 69, 70, 104, 118, 119 Bestheit 13, 18, 23, 69, 71, 72, 112, 191, 285 Bewegung 38, 43, 47, 49, 54, 56, 57, 78, 79, 87, 88, 90, 107–110, 161, 189, 201, 213, 214, 231– 233, 236, 237, 246, 247, 250, 254, 276 Beziehung; Eltern-Kind-; MutterKind-; Vater-Kind- 41, 137, 138, 149, 179–181, 184, 260, 266, 279, 280, 286, 288 Bezugsperson 43, 108, 109, 111, 134, 138, 143, 178, 179, 182, 183, 185, 247, 266, 277, 279–281, 285, 286, 288 Bildung 24, 25, 34, 39, 41, 53, 58, 147, 185, 200, 278 boulēsis 36, 67, 153, 213, 214, 234 Charakterformung 41, 42, 57, 69, 73, 84, 85, 89, 93, 94, 106, 109, 125, 130, 140, 141, 151, 157, 160, 172, 174, 175, 178, 217, 223–226, 266, 271, 274, 278, 282, 285, 287 Charakterschulung 38, 41, 177 Deliberation 150, 153, 155, 156, 192, 246, 270 Denken 21, 27, 35, 51, 93, 96, 112, 119, 144, 163, 164, 172, 177, 233, 236–239, 244, 247, 260, 266, 272, 287 Determinismus / determinis­ tisch 63, 223, 225–227, 287 Dianoetische Tugend/en 27, 57, 74–76, 123, 130, 213, 216 didachē 14, 32, 82, 83 didaskalia 14, 76, 123, 285 Disposition/en 14, 17, 32, 39, 40, 68, 69, 73, 76, 82, 84–86, 88, 90, 92–94, 103, 105, 109, 118,

119, 131, 135, 138, 143, 144, 175, 178, 188–190, 192, 204, 215, 217, 225, 230, 240, 249, 251, 253, 254, 258, 264, 270, 271, 275, 277, 287 dynamis 46, 55, 56, 80, 81, 90, 110, 116, 117, 198 eidos 47, 54, 57, 64, 105, 206 Einsehvermögen 36, 62, 67, 155, 268, 283 Eltern 30, 41, 43, 101, 105, 114, 143, 149, 153, 169, 178–181, 184, 223, 225, 259, 262, 266 Emotion/en; emotional 17, 32, 40–42, 92, 95, 97, 101, 133, 134, 136, 137, 144, 158, 174, 176, 179, 180, 185, 195, 230, 250, 255, 256, 258, 263–267, 269–271, 275–277, 279, 282–284 Endziel; höchstes Ziel 23, 24, 27, 30, 31, 33, 36, 37, 45, 47, 53, 55, 56, 59–63, 67, 71, 140, 200, 208, 209, 217, 219, 221, 228, 239–243 energeia 28, 37, 49, 50, 54–56, 72, 80, 81, 83, 84, 88, 90, 110 enkrateia 193, 194, 206, 220 enkratēs 190, 194 entelecheia 46, 50, 54, 55, 116, 117 Entelechie 48, 49, 54, 55 Entscheidung 28, 66, 93, 97, 109, 112, 142, 155, 156, 170, 210, 215, 217, 218, 222, 228, 239, 241, 242, 244, 245, 269, 271, 278, 282, 285, 286, 289 Entwicklung 17, 36, 42, 48, 66, 67, 103, 126, 147–149, 151, 152, 154, 160, 169, 172, 228, 278, 283, 288 Entwicklung, kognitive 17, 144, 147, 153, 165, 247, 261, 281, 283

306 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Register

Entwicklung, menschliche 17, 18, 38, 98, 101, 102, 151, 165, 283 Entwicklung, natürliche 14, 18, 42, 45, 53, 54, 58, 65–69, 76, 80, 117, 154, 284, 288 Entwicklungspotential 153, 160, 165 Entwicklungsprozess/e 18, 42, 47, 53, 54, 58, 61, 80 Entwicklungsschritt/e; -stufe/ n 14, 151, 153, 159, 267 epagōgē 127, 134 Epistemologie 42, 124, 125, 196 epistēmē 19, 28, 128, 207, 218 epithymia 36, 66, 67, 198, 213, 234, 235 Erfahrung/en 59, 76, 115, 116, 125, 128, 130, 132, 153, 177, 229, 257, 273, 277, 285, 289 Erfahrungswissen 59, 257 ergon 23, 49, 50, 52, 71, 104 Ergon-Argument 37, 100, 104, 129 Erkenntnis 100, 111, 112, 125, 126, 129, 131, 134–136, 188– 191, 194, 196, 197, 200, 205, 215, 217, 218, 220, 221, 231, 234, 236, 243, 250, 251, 260, 273, 290 Ermutigung 105, 170, 258, 261, 272, 285 Erwachsen/e/r 16, 40, 43, 59, 67, 105–107, 109, 117, 142, 144, 147, 149, 152, 154, 156, 160, 163, 165, 169, 171, 172, 179, 225–228, 248, 261, 264, 270, 271, 279, 283, 286–288 Erziehung, ethische 42, 96, 97, 102, 125, 160, 178, 181, 226, 255, 272, 284, 287, 288 Erziehung, frühkindliche 152, 181, 223, 224, 226

Erziehung, mangelnde 150, 178, 282 Erziehung, moralische 95, 132, 189, 190, 244, 266, 268, 281, 283 Erziehung, schlechte 191, 201, 222 Erziehungsphase/n 16, 17, 38, 112, 143, 225, 227, 282 Erziehungsprogramm 24, 25, 34, 200 Erziehungsprozess/e 15, 42, 53, 56, 58, 71, 101, 109, 119, 130, 147, 155, 160, 200, 225, 240, 243, 282, 283 Erziehungsziel/e 15, 16, 21, 30, 32, 33, 37, 39, 42, 55, 59, 97, 109, 123, 133, 139, 160, 174, 176, 183, 191, 235, 271, 276 Ethik 13, 14, 19, 22, 23, 31, 34, 35, 42, 45, 53, 63, 77, 78, 96, 100, 103, 117, 127, 129, 142, 147, 148, 155, 165, 177, 210, 211, 215, 221, 231, 286, 287 ethismos 14, 128, 134, 135, 285 ethos 14, 18, 19, 29, 31, 32, 40, 42, 58, 60, 65, 68, 73, 74, 76, 77, 79, 86, 119, 218, 282, 285 eu zēn 22, 28, 150 eudaimonia 22–24, 27–31, 35, 37, 39, 60, 158 eupraxia 239 Fähigkeit 18, 37, 43, 45, 54, 55, 59, 61, 67, 68, 76, 77, 79–86, 91, 94–96, 105, 106, 109, 111, 113, 114, 117, 131–133, 136, 144, 147, 150, 153, 155, 159, 160, 164–167, 169, 171, 172, 182, 183, 217, 233, 241, 245–247, 256, 261, 270, 273, 278, 281, 285, 286, 288 Fehlentwicklung 63, 64, 180

307 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

Register

Fehlverhalten 92, 141, 191, 196, 198, 204, 205, 212, 224, 225, 229, 248, 255, 257, 271, 280 Frau 167, 181–183, 185 Freundschaft 23, 84, 179–182, 184, 228, 265 Geburt 36, 46, 48, 66, 67, 69, 113, 139, 151, 155, 171, 172, 176, 180, 181, 223, 226, 260, 286 Gefühl/e; fühlen 21, 91, 105, 120, 137, 138, 168, 174, 216, 220, 229, 247, 248, 254–256, 259, 265–272, 276, 280, 281, 283, 286, 289 Gemeinschaft; gemeinschaft­ lich 23, 58, 59, 99, 167–169, 181–184, 241, 260, 288 Genese 38, 47, 57, 94, 149, 151, 180, 207, 246, 250, 257, 288, 290 genesis 36, 62, 63, 76 Gerechtigkeit 39, 81, 83, 105–107, 111, 114, 124, 132, 133, 136, 167, 168, 200, 215, 216, 279 Gesund; Gesundheit 48, 169, 172, 199, 200, 202, 211, 216, 229, 230, 241, 289 Gewohnheit/en 14, 16, 36, 62, 73, 85–89, 91–93, 101, 128, 175, 224, 248 Gewöhnungseffekt 80, 84, 286 Gewöhnungsprozess 14, 15, 73, 79, 85, 91–93, 107, 109, 118 Glück 19, 20, 24, 27, 28, 31, 32, 37, 48, 56, 150, 155, 157–159, 180 Gute, das 20, 33, 35, 43, 50, 69– 71, 125, 129, 131, 138, 144, 167, 168, 173–176, 178, 188, 191– 193, 196, 200, 203–205, 214, 217, 220, 221, 226, 228–230, 236, 238, 240, 241, 249, 250, 253, 282, 285–287, 289, 290

Gute, der 14, 28, 53, 64, 84, 94, 95, 104, 133, 157, 182, 191, 197, 201, 205, 206, 215, 219, 220, 222, 236, 280–282, 287 habit 14, 73 Habituation 14–16, 18, 33, 38, 40, 42, 43, 57, 65, 73, 74, 76, 91, 92, 94, 100, 101, 108, 109, 117, 123, 124, 126, 131, 132, 134–137, 139–144, 147, 153, 157, 160, 174, 176–178, 188, 219, 220, 226, 253, 255, 261, 263, 266– 268, 271, 276, 280, 282, 284– 286, 288 Habituationsphase 133, 144, 176 Habituationsprozess/e 15–17, 41, 85, 135, 137–139, 145, 148, 174, 183, 247, 248, 253, 262, 275, 286, 287 Haltung/en 82–85, 111, 120, 133, 139, 217, 227–229, 253, 255, 269, 271, 272, 278, 280, 284, 289 Handeln, ethisches 224, 264 Handeln, gutes 20, 43, 81, 93, 105, 106, 108, 109, 111, 130, 133, 135, 141, 144, 183, 188, 192, 194, 197, 200, 202, 204, 214, 215, 217, 219–222, 225, 226, 230, 239, 243, 247, 248, 253– 257, 260, 263, 269, 271, 274, 285, 286 Handeln, moralisches 134, 209, 216 Handeln, pädagogisches 32, 35, 42, 53, 61, 185 Handeln, tugendhaftes 43, 44, 107, 111, 132, 134, 135, 137, 138, 159, 174, 255, 259 Handlungsmotivation 250, 279 Handlungstheorie 42, 215 Handlungsweise; -muster 84, 101

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Harmonie 35, 44, 101, 114, 200, 205, 213, 220, 221, 228, 249, 281, 282, 289 Hedonismus; hedonistisch 230, 244, 245, 247, 248, 254 hexis 36, 76, 82–84, 90, 91, 118– 120, 270, 280 Hören 32, 33, 75, 80, 81, 112, 113, 124–126, 169–176, 178, 277 hylē 51, 58, 61, 64, 65 Idealstaatsentwurf 24, 26–28, 30 Idealziel 42, 64, 100, 191, 228, 230, 289 Impuls/e 47, 58, 88, 95, 96, 100, 102, 106, 113, 197, 212–214, 218, 221, 222, 227, 228, 230, 244, 247, 248, 271, 281, 283, 289 Induktion 127, 128, 134, 135 Instruktion 14, 15, 42, 73, 117, 123, 124, 143, 160, 175, 267, 276, 285, 286 Intellektualismus 20, 187, 188, 222 Kindheit 40, 43, 67, 84, 130, 140, 144, 148, 149, 151, 152, 159, 164, 165, 190, 222–227, 229, 230, 240, 254, 273, 277, 286, 287, 289 kinēsis 43, 46, 54, 55, 107, 116, 276 Kleinkind 164–166, 185, 228, 246, 247, 282, 288 Klugheit 75, 112, 157, 171, 216, 217, 219, 220, 231, 242 Kognition; kognitiv 15, 16, 41, 59, 105, 134, 135, 144, 147, 165, 169, 180, 194, 201–203, 209, 210, 226, 232, 233, 237, 238, 247, 261, 266, 271, 274, 281, 283, 285, 288

Kommunikation 148, 167–169, 171–174, 199, 259, 262, 266, 267, 288 Konditionierung 15, 16, 18, 91, 115, 147, 201, 247, 248, 258, 287, 288 Konflikt, innerseelischer 191, 198, 199, 204, 205, 211, 213, 228, 229, 250, 282, 289 Körper; körperlich 36, 48–50, 61, 67, 72, 95, 108, 113, 118, 120, 152, 153, 157, 163–165, 169, 171, 174, 176, 190, 193, 194, 196, 199–202, 216, 220, 229, 230, 233, 235, 237, 247, 254, 268, 289 Kunstfertigkeit 81–84 Leben, das gute 19, 22, 24, 27, 31, 57, 60, 70, 97, 130–132, 140, 143, 150, 153, 157, 158, 163, 209, 217, 239 Lehrende 82–85, 108, 109, 113, 124 Leiden 229, 230, 243–248, 254, 261, 276, 289 Lernen am Vorbild 273, 274, 277, 278 Lernen durch Handeln 14, 81–84, 106, 111, 112, 135, 137, 270, 272 Lernen, ethisches 15, 17–19, 31, 106, 132, 143, 144, 247, 259, 262, 273, 286 Lernende 15, 32, 33, 91, 108, 109, 112–114, 116, 117, 120, 123, 124, 129, 131–138, 143–145, 174, 176, 257, 269, 270, 278– 281, 285 Lernprozess 14, 58, 84, 105, 107, 108, 112, 125, 136, 144, 174, 280, 281, 287 Lernziel 132, 133, 253, 271

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Liebe 23, 138, 159, 174, 179, 180, 182, 184, 195, 197, 250, 268, 275, 283 Lieben 282 Lob und Tadel 65, 75, 76, 134, 171, 179, 247, 248, 257–259, 263, 279, 286 logismos 36, 67, 155, 156, 204, 205, 213 logos 18, 19, 22, 29, 31, 36, 37, 57, 58, 60, 62, 66, 68, 75, 83, 95, 112, 119, 124, 156, 158, 166–169, 171, 172, 178, 263, 268, 282, 285, 286, 288 Lust 20, 21, 32, 35, 50, 68, 70, 83, 100, 120, 137–139, 150, 151, 155, 157, 168, 172–174, 176, 178, 193, 195–197, 201, 203, 205, 210, 212–214, 216, 219, 220, 222, 229–232, 234, 237, 243– 248, 253–259, 261, 265, 271, 276, 282, 283, 286, 289 lustvoll 20, 50, 70–72, 120, 138, 176, 193, 195, 196, 213, 214, 229, 230, 232, 233, 244, 245, 254, 255, 258, 259, 261, 262, 272, 281, 286, 289 Lustvolle, das 44, 50, 70, 150, 152, 173, 193, 195, 212, 214, 230, 244, 245 Mäßigung 13, 17, 81, 83, 106, 107, 132, 136, 157, 158, 192, 196, 219, 220, 224, 229, 235, 254–256, 260, 261, 282, 289 Mensch, guter 23, 30, 32, 40, 41, 84, 133, 142, 160, 192, 199, 203, 227, 230, 281, 285, 287, 288 mesotēs 13, 118, 129 mimetisch 273–275, 278, 288 mimēsis 272–274, 276–278 Mitte 13, 219, 220, 256, 269, 271, 272

Monismus 194, 198, 202–204, 206, 213, 228, 288 Moralerziehung 41 Moralische Motivation 20, 33, 42, 43, 94, 121, 134, 136–138, 141, 173, 176, 187–189, 192, 201, 203, 204, 210, 221, 231, 243, 250, 251, 253, 260, 262, 287, 289, 290 Moralphilosophie 20, 41, 269 Moralpsychologie; moralpsycho­ logisch/e 41 Musik 34, 55, 81–85, 108, 110– 114, 137, 275–277 Mutter 182, 184, 279 Nachahmung 18, 44, 138, 272– 278, 286 Natur 29, 30 Natur, erste 45, 85, 95–103, 255 Natur, menschliche 14, 22, 23, 30, 36, 37, 45, 52, 53, 57, 60–64, 68, 77, 79–81, 85, 96, 99, 102, 104, 116, 118, 137, 153, 159–161, 164, 167, 168, 174, 191, 224, 240, 255, 259, 260, 271, 273, 281, 282, 288 Natur, zweite 45, 85, 86, 88, 90, 91, 95–103, 109, 255, 282 Naturbegriff 42, 45, 46, 52, 54, 61, 62, 71, 72, 78, 86, 96, 98, 99, 118, 288 Naturphilosophie 190, 235, 287 Nikomachische Ethik 13, 17, 20, 22, 31, 42, 53, 65, 73–75, 85, 111, 119, 123, 124, 127, 129–131, 135, 142, 147, 148, 150, 156, 157, 169, 172, 177, 206, 210, 214, 216, 223, 238, 242, 250, 267, 274, 276 Normativität; Norm; normativ 13, 54, 56, 63, 64, 66, 71, 95, 96, 98, 100, 103, 202, 235, 253, 278 nous 36, 62, 67, 155, 163, 253

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noēsis 237 oikos 23, 50 Ontologie; ontologisch 40, 42, 61, 107, 110, 124, 128, 137, 231 orektikon 214, 229, 230, 289 orexis 35–37, 178, 232, 253, 265 ousia 47, 54, 57, 64, 79 paideia 14, 17, 19, 21, 23–33, 35, 38, 40, 42, 45, 52, 53, 56–59, 61–65, 71, 72, 179 pathos 33, 120, 173, 174, 176, 205, 218, 269, 280 phantasia 244, 265 philia 23, 179, 182, 184 Philosophie, praktische 21–23, 30 Philosophie, theoretische 21, 142 phronimos 13, 14, 63, 101, 102, 150, 160, 191, 209, 215, 219– 222, 224, 229, 239–241, 243, 255, 287, 289 phronēsis 16, 17, 34, 69, 75, 77, 98–100, 102, 130, 131, 139, 140, 142, 153, 171, 172, 183, 204, 209, 215–217, 219, 220, 228, 245, 285 physis 18, 19, 29, 31, 32, 42, 45– 48, 51, 52, 54, 61, 66, 69, 79, 85, 86, 119, 282 Platon; platonisch 20, 24, 34, 71, 124, 181, 184, 187–191, 194, 196–204, 206, 213–216, 220, 221, 226, 228–231, 233, 243, 277, 281, 288, 289 Polis 23, 24, 26, 28, 167 Potential 42, 46, 49, 55, 56, 61, 66, 67, 69, 71, 78–80, 82, 90, 102, 104, 116, 117, 123, 147, 155, 160, 260, 288 prohairesis 28, 105, 156, 209, 215, 239, 241, 269, 270 psychē 37, 226, 275, 276

Rationalität 18, 95, 96, 98, 101, 102, 104, 143, 155, 156, 204, 241, 284 Regelmäßigkeit; regelmäßig 13, 20, 84, 87–91, 229, 258 Rhetorik 41, 86–88, 264, 266, 267, 285, 287 scala naturae 57–59, 151, 152, 288 Scham; Schamgefühl 173, 174, 280–282 Schmerz 21, 32, 151, 152, 168, 194, 201, 212, 231, 232, 244, 265, 268, 276, 281–283 Seelenteile 14, 35–38, 60, 62, 65– 67, 74, 75, 77, 100, 120, 123, 150, 153–155, 169, 170, 184, 190, 194, 198, 201, 205, 206, 211, 213, 214, 218, 219, 229, 230, 233, 249, 257, 281, 285, 289 Situation 13, 32, 44, 93, 114–116, 132, 133, 135, 141, 143, 145, 192, 194, 208–210, 221, 232, 241, 247, 256, 259, 263, 264, 266– 269, 283, 285, 288 Sokrates; sokratisch 18, 20, 184, 187, 188, 190–192, 194, 195, 197–200, 202–206, 210, 215, 218, 221, 222, 226, 228–230, 288, 289 Sophisten 110, 184 sophrosynē 75, 219, 220, 281 Spielen 38, 153, 157, 274, 275, 277 spoudaios 13, 17, 28, 119, 150, 157 Sprache 286 Sprache; Sprachlichkeit 33, 75, 97, 105, 147, 164, 165, 168, 169, 171–176, 266, 267, 288 Staatsbürger 24, 27, 29, 39, 149, 173, 181, 183, 202 Stimme 113, 167, 199

311 https://doi.org/10.5771/9783495996614 .

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Strafe 130, 166, 173, 174, 201, 247, 248, 258 Strebevermögen 36, 66, 108, 155, 170, 181, 189, 234 Syllogismus, praktischer 207– 209, 215, 246 symphōnia 35 Tadel, Lob und 174, 235, 247, 258, 263 Tapferkeit; Mut 81, 83, 106, 111, 132, 141, 216, 238, 241, 254– 256, 261, 268, 272, 274, 276 Tätigkeit 24, 27, 31, 35, 37, 49, 50, 56, 60, 72, 80, 81, 83, 89, 94, 104, 106, 111–113, 158, 207, 220, 228, 238, 257, 259, 261– 263, 285 Tätigsein 23, 32, 49, 50, 55–57, 81, 82, 84, 90, 92, 108, 219 technē 53, 81, 82, 84, 115 Teleologie; teleologisch 35, 37, 45–51, 61, 62, 69–72, 90, 98, 100, 233 telos 47, 48, 53, 55, 60, 62, 69, 71, 149 Tier/e 43, 49, 51, 52, 57–60, 70, 72, 87, 92, 96, 103, 104, 115, 144, 147, 150, 152, 153, 155– 158, 162–165, 167, 168, 193, 231–233, 244, 246, 253, 254, 259, 273, 275, 282, 283 tierisch/e 33, 61, 96, 100–102, 152, 177, 231, 248, 288 Triebe 20, 33, 35, 102, 177, 221 trophē 38, 152, 179 Tugend, ethische 14, 15, 17, 34, 57, 73–75, 77, 78, 84, 94, 107, 108, 114, 119, 120, 123, 215, 216, 218, 219, 221, 253, 254, 270 Tugenderwerb 14, 17, 20, 23, 55, 57, 73, 81–84, 91–94, 100, 105, 107, 114–118, 123–125, 130,

139, 147, 153, 185, 190, 216, 221, 257, 260, 280, 287, 290 Tugendethik 13, 41, 278 Überlegung; Überlegen 36, 37, 67, 87, 91, 93, 94, 101, 115, 136, 140, 142, 155, 156, 162, 203–205, 210, 213, 214, 217, 219, 220, 241, 246, 247, 263, 282 Übung, Training (askēsis) 16, 19, 31, 86, 112, 114, 135, 136, 144, 228, 260, 278, 285 Unbeherrschtheit; Unbeherrscht/ er 43, 150, 160, 166, 178, 190, 192, 200–206, 209, 210, 212– 214, 217, 230 Unlust 20, 120, 137, 138, 173, 196, 197, 205, 212–214, 216, 219, 220, 229, 247, 248, 253–255, 258, 268, 271, 283, 286, 289 unvernünftig 36, 37, 67, 68, 147, 151, 154, 159, 160, 165, 248 Ursachen 32, 46–48, 51, 54, 57, 61, 64, 69, 87, 88, 124–127, 171, 179, 180, 201, 210, 273 Urteilskraft 13, 16, 18, 38, 59, 136, 138, 141, 156, 219, 221, 256, 268, 281 Urteilsvermögen 155, 158 Vater 75, 170, 179, 184, 257 Veränderung 14, 30, 42, 45–47, 53–57, 64, 73, 84, 85, 106, 107, 113, 116–118, 120, 160, 175, 176, 224–226, 239, 259, 268, 270, 276, 277, 283, 286 verantwortlich 16, 17, 30, 46, 76, 87, 126, 156, 160, 177, 180, 182, 222–224, 227, 228, 242, 270, 286 Verantwortung 42, 60, 97, 204, 210, 211, 222, 223, 225, 230, 242, 287

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Verhalten, tugendhaftes/ richti­ ges/ gewünschtes 15, 18, 82, 114, 142, 143, 247, 248, 257, 269, 276, 278, 283, 286 Verhaltensänderung 78, 106, 109, 114, 170, 173, 211, 222, 225, 247–249, 281, 283, 288, 289 Verhaltensdisposition 86, 91, 92, 247 Verhaltensweise; -muster 14–16, 18, 32, 36, 59, 60, 64, 73, 78, 79, 83, 87, 88, 109, 153, 176, 228, 248, 261, 283, 286 Vermittlung 112, 147, 171, 189, 217, 278, 290 Vermögen 18, 37, 46, 55, 56, 66, 80, 102, 113, 115, 162, 219, 233 Vernunft, praktische 75, 85, 95, 99, 140, 142, 204, 228, 231, 287, 290 Vernunftfähigkeit 43, 66, 68, 99, 101, 102, 104, 112, 123, 144, 150–157, 159, 164–170, 172, 183, 249, 257, 282, 288 vernunftgeleitet 40, 72, 150, 159, 160, 243, 271 Vernunftgründe 15, 16, 32, 33, 96, 97, 99, 101, 109, 124, 133, 136, 140, 143, 144, 171, 176, 241, 279, 283 Vernunfttätigkeit 35–37, 39, 57, 60, 81, 95, 144, 152, 220, 223, 226, 228, 257, 260, 271, 289 Verstärkung, positive 90, 94, 170, 247, 256, 258, 259, 262 Verstehen 15, 29, 32, 42, 124–126, 129, 131, 136, 142–145, 169, 175, 176, 266, 273, 279, 288 Vertrauen 112, 136–138, 171, 179, 182, 184, 279

Vervollkommnung 24, 46, 48, 50, 57, 76, 102, 118–120, 149, 154, 155, 290 Vollendung 28, 39, 45, 46, 48, 50, 52–55, 58, 61, 63, 118, 119, 149, 154, 219 Vorbild 18, 44, 106, 109, 182, 183, 185, 228, 261, 274, 277–279 Vorsatz 16, 51, 70, 111, 155, 156, 239, 269, 270 Vorstellung/en 115, 167, 173, 233, 239, 244, 246, 247, 265 vorvernünftig; vorrational 149, 165, 250, 281, 282 Wahrnehmung 43, 79–81, 113, 125, 127, 128, 130, 133, 134, 136, 151, 157, 161, 163, 167, 168, 172, 196, 197, 209, 229, 230, 233, 234, 237, 238, 244, 246, 256, 262–268, 281, 283, 288, 289 Wahrnehmungsschulung 136, 262, 263, 267, 268, 285 Werte 33, 138, 141, 142, 150, 168, 176, 213, 228–230, 281– 283, 289 Wertesystem 193, 204, 205, 229, 282, 289 Wertmaßstab; -stäbe 138, 154, 193, 228–230, 279, 289 Wesen 27, 35, 47, 57, 79, 99, 215 Willensschwäche 43, 191, 192, 194, 196, 198, 199, 209, 211, 225, 250 Wissen 20, 28, 43, 77, 81, 98, 108, 110, 111, 125, 127–129, 132–136, 139, 143, 178, 187, 191, 194–198, 201, 202, 204, 206– 211, 215, 217, 218, 221, 228, 231, 242, 250, 257, 278, 282, 289, 290 Wissensbegriff 127, 187, 204, 206, 215, 217, 221, 231, 257

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Wollen 18, 36, 54, 67, 71, 109, 134, 143, 155, 156, 227, 228, 290 Zeit; zeitlich; temporal 18, 36, 37, 39, 58, 59, 61, 67, 76, 80, 81, 84– 86, 90, 94, 114, 126, 130, 144, 147, 151, 152, 159, 161, 164, 165, 169, 173, 175, 178, 181, 182, 184, 191, 196, 198, 207, 212, 219, 221, 226, 227, 229, 240, 244, 246, 267, 268, 279, 287, 289, 290 Ziel der Erziehung 32, 35–37, 43, 97, 193, 194, 205, 254

zōon logon echon 57, 167, 288 zōon politikon 22, 167, 168, 260, 288 Zorn 83, 136, 195, 197, 263, 265, 269, 276, 282 Zwang 33, 79, 87, 88, 108, 176, 177, 197, 211–214, 222, 230, 248, 260 Zweck 26, 27, 30, 34, 50, 69, 87, 140, 167, 217, 236, 239, 253 Zweckmäßigkeit 49, 51

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