Die ontologische Option: Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes 9783110835908, 9783110068139

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Die ontologische Option: Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes
 9783110835908, 9783110068139

Table of contents :
Vorwort
Die ontologische Option
Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre
Schellings Hegel-Kritik
Der Wahrheitsbegriff in Hegels „Phänomenologie des Geistes“
Register

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Die ontologisdie Option

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Die ontologische Option Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes Herausgegeben von Klaus Hartmann mit Beiträgen von Friedhelm Schneider, Klaus Brinkmann und Reinhold Aschenberg

1976 Walter de Gruytet · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen Bibliothek

Die ontologisdie Option: Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings HegelKritik u. Hegels Phänomenologie d. Geistes / hrsg. von Klaus Hartmann mit Beitr. von Friedhelm Schneider... - Berlin, New York : de Gruyter, 1976. ISBN 3-11-006813-3 NE: Hartmann, Klaus [Hrsg.]; Schneider, Friedhelm [Mitarb.]

© 1976 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl. J. Trübner · Veit 8c Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Hofmann-Druck KG, Augsburg Buchbindearbeit: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die im vorliegenden Band vereinigten Abhandlungen sind ausführende Analysen zu einigen Problemen und Problemlösungen der Hegelschen Philosophie. Einem Kreis verwandter Geister entstammend, sind sie mehr oder weniger auf eine gemeinsame Interpretation Hegels gegründet, die eine ,kategoriale' Interpretation genannt werden kann. Die Aufgabe des einleitenden Aufsatzes ist es, die den drei Abhandlungen zugrundeliegende philosophische Position etwas näher zu bezeichnen und damit auch die mit ihnen verbundenen philosophischen Plädoyers auf einen Nenner zu bringen. Die an Hegel herangetragene kategoriale Interpretation sieht in Hegels Philosophie eine ,ontologische Option', d. h. die Bemühung, eine begründende (und sich selbst letztbegründende) Kategorienlehre an die Stelle einer existenzsetzenden Metaphysik zu setzen, aber auch eine Bewußtseinsphilosophie transzendentalen Typs durch eine solche Kategorienlehre ersetzt zu denken. Diese ontologisdie Option wird im einleitenden Aufsatz an einigen zentralen Problemstücken - Begriff und Kategorie, Dialektik, Logik und Realphilosophie und einigen anderen - sowie an einer Reihe möglicher Einwände und Mängel verdeutlicht1. Die Abhandlung F. Schneiders, „Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre", behandelt Hegels ontologische Option gegenüber der Kantisdien Ethik, d. h. eine Umsetzung der Kantischen Pflichtenlehre in eine ontologische Lehre von affirmativen Gestalten, die auf die Rechtsphilosophie vorausweist und sich doch noch den Kantischen Pflichtenstandpunkt zueignen kann. Im 1. Cursus der Hegeischen Propädeutik läßt sich, gemäß der genannten Interpretation, die Hegeische ontologische Option besonders adäquat studieren. Die Abhandlung ist, soweit sich sehen läßt, die erste philosophische Arbeit, die die Hegeische Propädeutik in ihrem philosophischen Gehalt mit theoretischem Akzent näher untersucht2. K. Brinkmanns Abhandlung „Schellings Hegel-Kritik" stellt sich dem Problem, ob Schellings Kritik an Hegel, wonach Hegel von einer Logik (als einer metaphysica generalis, einer ,negativen Philosophie') deduzierend übergehe zu einer metaphysica specialis mit Existenzset-

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Vorwort

zung (so im Fall der Naturphilosophie und besonders im Fall der christlichen Offenbarung), triftig ist. Es ergibt sich eine Zurückweisung der Schellingschen Kritik, insofern die Hegeische Philosophie im Sinne einer Kategorienlehre interpretierbar ist (womit sich eine Kritik an Hegels Aufnahme der Offenbarung in die Philosophie des Geistes verbindet). Der Rückgang auf Ontologie, die Option für sie, auch im Fall der Realphilosophie, bleibt von Schellings Kritik unberührt. Die Abhandlung von R. Aschenberg, „Der Wahrheitsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes'", schließlich beleuchtet das Problem, wie der erkenntnistheoretische Gegensatz von Subjekt und Objekt in ontologisdier Perspektive überwunden werden kann. Audi hier wird eine ontologische Option Hegels und des Autors sichtbar. Die Abhandlung berücksichtigt in starkem Maße bisherige Interpretationsvorschläge und kann vielleicht eine abschließend zu nennende Klärung bringen3.

Tübingen, im Juli 1976 1

K. Hartmann

Dem Aufsatz ist ein englischsprachiger Aufsatz vorausgegangen („Hegel: A NonMetaphysical View", Hegel. A Collection of Critical Essays, ed. by A. Maclntyre, New York, 1972, Anchor Books). Abgesehen von Überlegungen zur Ontologie, die jetzt etwa weiterentwickelt sein mögen, ist ohnehin für deutschsprachige Leser eine etwas andere Behandlung der Probleme und die Berücksichtigung zum Teil anderer Literatur erforderlich. * Dabei übersehen wir natürlich nicht Gerhart Schmidts Buch Hegel in Nürnberg, Tübingen, 1960. — Von Interesse wird sein, ob die kürzlich gemachten neuen Funde von Manuskripten zur Propädeutik (siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. XII. 75) audi neue Nuancen für die von Schneider behandelte Thematik erbringen. ' Weitere ausführende Analysen zur Hegeischen Philosophie in kategorialer Interpretation könnte man sich denken und sind wünschenswert, liegen indessen in einigen Beispielen schon vor. Η . T. Engelhardt, Mind-Body: A Categorial Relation, Den Haag, 1973, T. Bole, Hegel's Science of Logic as a Transcendental Ontology, Diss. Austin, Texas, 1973, R. Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, Bonn, 1973, J. Heinrichs, Die Logik der Phänomenologie des Geistes, Bonn, 1974, F. Schneider, Systemtheoretische Soziologie und dialektische Sozialphilosophie, Meisenheim, 1976. Vgl. auch K. Hartmann, „On Taking the Transcendental Turn", Review of Metaphysics XX, 2, 1966, ders., „Zur neuesten Dialektik-Kritik", Archiv für Geschichte der Philosophie, 55,2, 1973, ders., „Systemtheoretische Soziologie und kategoriale Sozialphilosophie", Perspektiven V, Frankfurt, Klostermann, 1973), ders. „Ideen zu einem neuen systematischen Verständnis der Hegeischen Rechtsphilosophie", Perspektiven der Philosophie 2, Rodopi, 1976, ders., „Gesellschaft und Staat - Eine Konfrontation von systemtheoretischer Soziologie und kategorialer Sozialphilosophie", Akten des Stuttgarter Hegelkongresses 1975, erscheint demnächst, und ders., „Analytic versus Categorial Thought", Oxford International Symposium: Contemporary Aspects of Philosophy, Oriel Press, London, erscheint demnädist.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Klaus Hartmann: Die ontologisdie Option

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Friedhelm Schneider: Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre .

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Klaus Brinkmann: Schellings Hegel-Kritik

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Reinhold Aschenberg: Der Wahrheitsbegriff in Hegels „Phänomenologie des Geistes"

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Die ontologische Option Eine im folgenden vertretene Grundüberzeugung ist, daß in der Philosophie - auch heute - Platz ist für eine ontologische Deutung der Wirklichkeit. Vielfach haben ,bescheidenere' Positionen die Oberhand gewonnen - eine auf kategoriale und Wesenserkenntnisse verzichtende positivwissenschaftliche Einstellung, wie sie sich etwa in K. Poppers Werken resümiert, eine soziologische Orientierung, die Sozialphilosophie verdrängt, ein Strukturalismus, der sich an die Stelle einer Hermeneutik setzt, oder auch ein Desinteresse an Fragen der Erkenntnis zugunsten eines Interesses an Praxis. Erkenntnisdesiderate in Richtung auf eine Kategorienlehre bestehen jedoch fort, nur bedarf es einer sorgfältigen Trennung solcher Desiderate von denen einer Metaphysik, so sehr deren Existenzsetzungen von letzten transzendenten Gründen ihre Bedeutung für intellektuelle und existentielle Befriedigung behalten mögen. Ist die Gültigkeit einer Metaphysik immer wieder bestreitbar, so wird sich Ontotogie als Kategorienlehre mit dem begründungstheoretischen Desiderat einer Rechtfertigung von Geltungsansprüchen verbinden müssen und, wie wir meinen, auch können. Sie wird die begriffliche Diagnose dessen, was ist, geben im Rahmen eines Verfahrens, das sicherstellt, daß die Diagnose als gültig anerkannt werden kann 1 . Die Konzeption von Ontologie, die hier gemeint ist, steht den Grundkonzeptionen Hegels nahe. Insofern handelt es sidi im folgenden denn audi um eine ontologische Deutung Hegels, eine Deutung, die den hier gemeinten Sinn von Ontologie geltend macht. Vieles von Hegels Philosophie wird sich, so meinen wir, der angesonnenen Interpretation fügen, wie umgekehrt Hegel ja erst die hier vertretene Konzeption von Ontologie eröffnet hat. Manches in Hegels Philosophie wird indessen einer Kritik zu unterziehen sein. 1

Die hier bejahte Position unterscheidet sich also von der ebenfalls als Kategorienlehre oder Kategorialanalyse zu bezeichnenden Philosophie von Nicolai Hartmann, insofern dieser eine intuitive, sich vielfach nicht von Metaphysik abhebende Lehre aufgestellt hat, während wir eine methodisch in ihrem Geltungsanspruch zu sichernde Kategorienlehre im Auge haben. Wichtiger als N . Hartmann werden für uns reflektierte, transzendentale Positionen wie die der beiden modernen transzendentalen Systematiker, Hans Wagner und Wolfgang Cramer, sein.

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Die ontologisdie Option

Kategorialität Die Hegeische Philosophie kann in ihren systematischen Werken (Phänomenologie des Geistes, Propädeutik, Logik, Enzyklopädie, Rechtsphilosophie) als eine Kategorienlehre bezeichnet werden. Sie nimmt den Anspruch des Denkens ernst, das was ist, in Begriffen fassen zu können. Damit ist die Kantisdie Restriktion solchen Anspruchs auf Erscheinungen bestritten, deshalb aber nicht schon einer Metaphysik, wie Kant sie kritisiert, das Wort geredet. Der Anspruch besagt zunächst, daß sich denken und sagen läßt, was etwas ist und was ist. Hegels Affirmation der Geltung des Begriffs von dem, was etwas ist und, umfassend, von dem, was ist, ist eins mit dem spekulativen Standpunkt', der es gestattet, eine Begriffsuntersuchung als Seinsuntersuchung anzusehen, ohne eine das Erkenntnisergebnis mitbestimmende Beziehung zwischen faktischem Subjekt und Objekt - den ,Gegensatz des Bewußtseins' - in Rechnung stellen zu müssen2. Dazu muß der Begriff allerdings als Einheit seiner selbst und des Seienden in Anspruch genommen werden können. Begriffe, deren ,Fassung' als Einheit von Sein und Begriff gelingt, wären Kategorien. Philosophie ist die Bewußtmadiung von Kategorien, die ohne sie unbewußt blieben3. Suchen wir das Verständnis von ,Kategorie' noch einmal kurz historisch auf. Für Aristoteles waren Kategorien Begriffe, die der Ersten Philosophie angehörten, einer philosophischen Dimension, die Prinzipien behandelt, die in den Einzelwissenschaften (oder regionalen Philosophien) vorausgesetzt werden. Sie stehen also unter dem Gesichtspunkt, sowohl allgemeine Seinsprinzipien wie Prinzipien für regionale Wissenschaften zu sein4. Die einzelnen Kategorien — die die Seinsprinzipien nicht zu erschöpfen scheinen, wie die Vier-Prinzipien-Lehre zeigt5 - sind von Aristoteles außerhalb eines die einzelnen Kategorien verbindenden Begründungsverfahrens aufgestellt. Für Kant sind Kategorien gegenstandskonstitutive Begriffe, die Gegenstände, als Erscheinungen, erfahrbar machen. Sie sind, zwecks Begründung, mit Urteilssynthesen in Verbindung gebracht, die, als vollständig überschaubar angenommen, die Absteckung des Bereichs kate-

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Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. Lasson ( = Logik), Bd. I, 30 f., 32, 43. Logik I, 13. Metaphysik, Buch Γ, Kap. 1 und 2. Metaphysik, A 982b24 ff.; B, Kap. 2.

Kategorialität

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gorialer Begriffe gewährleisten sollen®. Sie sind aber nicht aus dem Prinzip der transzendentalen Apperzeption als Prinzip der Kategorialität hergeleitet und bleiben auf Anschauung bezogen. Als Ergebnisse von Setzungen des Ichs werden Kategorien bei Fichte gefaßt; die Bemühung um einheitliche Prinzipiierung ist offenkundig und bedeutet die wesentlichste Korrektur gegenüber Kant beim frühen Fichte. Das Wechselspiel von Kategorien und Anschauung bleibt bestehen, ist aber in einheitlicher Prinzipiierung noch begründet 7 . Für Hegel sind, wie wir schon sahen, Kategorien Begriffe, deren Anspruch Einheiten von Sein und Begriff zu sein, dargetan werden kann. Sie wären Erkenntnisansprüche dahingehend, daß Sein so ist, wie sie sagen. Der kategoriale Anspruch beinhaltet einen transzendentalen Anspruch : für Kategorien ist die Geltung gezeigt (vorausgesetzt, daß das rechtfertigende Verfahren gelingt), und so werden sie Geltungsgründe, Prinzipien, für nicht bis auf kategoriale Rationalität des Seins zurückgehende Erkenntnisansprüche sein8. ,In letzter Instanz', in Allgemeinheit, ist Sein so, wie sie sagen; andere Erkenntnisansprüche werden ,auf der Ebene' liegen, für die die Kategorie schon ein Prinzip, d. h. eine Rationalität, bereitgestellt hat. Sollen solche Erkenntnisansprüche hauptsächlich Erkenntnisansprüche der Erfahrung und der ihnen zugeordneten Wissenschaften — begründet sein, so werden sie auf eine kategoriale Prinzipienbegründung verweisen. (Dabei müßte das Unterstellungsverhältnis solcher anderer Erkenntnisansprüche unter Kategorien als Prinzipien sich noch kategorial ,abbilden' lassen, etwa so, das Kategorien von Erfahrungsgegenständen unter höherere Kategorien ,fallen'). Der Kreis der kategorialen Begriffe, ihr Inbegriff, im Unterschied zu anderen Begriffen, bemißt sich nach der Möglichkeit, sie in einen Systemzusammenhang, in ein begriffsverbindendes Verfahren, einzustellen, das seinerseits aus dem Anspruch der Kategorialität dieser Begriffe, nämlich

• I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 70 im Verhältnis zu A 80. 7 Vgl. J. G. Fidite, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1974), Hamburg, 1961, Deduktion der Vorstellung, 146 ff. 8 Wir neigen zu einem weiten Sinn von »transzendental', der unter dem Gesichtspunkt der Geltungsbegründung auch Hegels .spekulative' Begründungsart, ja auch die Marxsche im Kapital mitumfaßt. Zu Marx, siehe K. Hartmann, Die Marxscbe Theorie, Berlin, 1970. Dies weite Verständnis ist auch in die in diesem Band versammelten Abhandlungen und in die zum Vorwort angemerkten Schriften eingegangen. Hegel selbst teilt dies weite Verständnis nicht. Vgl. Logik I, 46. - Wir sind uns ferner der Tatsache bewußt, daß Hegel den Ausdruck .Kategorie' sich nur für die .objektive' Logik zueignet. Wir glauben aber, daß ein weiteres Verständnis vertretbar ist.

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Die ontologische Option

Einheiten von Sein und Begriff zu sein, entwickelt ist. Gewisse Begriffe führen unter den noch zu schildernden Bedingungen des Verfahrens Hegel sagt: „in einem wissenschaftlichen Fortgang" 9 — zu weiteren Begriffen. Der Ausgangsbegriff muß so gewählt sein, daß er keine Voraussetzungen enthält, die auf erst noch zu erschließende Begriffe rekurrieren10. (Die Komplikation, daß audi am Anfang eine Reflexion auf den Abschluß vorliegen muß, um überhaupt weiterzukommen, ist dabei Gegenstand subtiler Überlegungen und einer subtilen Wortwahl Hegels)11. Der Fortgang muß den Kategorienbestand durchlaufen und im übrigen so geordnet sein, daß die Prinzipfunktion gewisser Begriffe für konkretere, für Begriffe der Erfahrung und der Einzelwissenschaften, innerkategorial noch ,abgebildet* werden kann durch eine entsprechende Rangierung (wie wir dies schon andeuteten). Der Abschlußbegriff muß einer sein, der die Einheit von Sein und Begriff in vollkommener Weise beinhaltet, Erfüllung der Kategorialität des Begriffs an ihm selbst darstellt. (Hier ist der Singular ,Begriff' für alle kategorialen Begriffe gerechtfertigt). Der abschließende Begriff wird ein Absolutes sein, das - als Resultat der Begriffsprogression, aus der es sich ergibt - Unterpfand, Geltungsgrund dafür ist, daß die Begriffe, die in der Progression vorkamen, kategoriale Begriffe sind. Der spekulative Standpunkt steht mit dem Absoluten als gerechtfertigt da. Die begriffsverbindende Progression des Systemzusammenhangs ist eine Rekonstruktion aller kategorialen Begriffe unter der Voraussetzung und sdiließlichen Demonstration ihrer Kategorialität. Der abschließende Grund der kategorialen Begriffe ist die Kategorialität selbst als Fülle der kategorialen Unterscheidungen, die zu seiner Aufstellung in ihn eingegangen (in ihm ,aufgehoben') sind. Sein Name bei Hegel ist ,absolute Idee'12. Die Transzendentalität der kategorialen Begriffe erscheint innerkategorial gewährleistet durch ihr

» Logik I, 35. Vgl. Logik I, 60. 11 Logik I, 5 1 - 6 4 („Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?"). Für die moderne Reflexion auf diese Sachlage vgl. D . Henrich, „Anfang und Methode der Logik", Hegel im Kontext, Frankfurt, 1971, 73-94. 11 Logik II, 483. - Zur Frage, ob die absolute Idee eine Fülle oder eine Abstraktion sei, vgl. K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, Meisenheim, 1969, 127 ff., und meine Rezension, Hegel-Studien Bd. 7, 1972, 303-307. Vgl. audi L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, Hegel-Studien Beiheft 10, 1973, 224 ff. Vgl. ebenfalls H . Wagner, Philosophie und Reflexion, München, 1959, 127 ff. Wagner denkt an ein Absolutes als Ergebnis einer durchlaufenen Gattungs- und Art-Dialektik, in der die Gattungen reicher sind als ihre Arten, und in der entsprechend der Abschluß der Gattungs- und Art-Dialektik, das Absolute, Fülle ist (ebda. 110 ff.). Wenn wir vom Absoluten als .Kategorialität' spre10

Kategorialität

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Gedachtsein durch ein abschließendes Subjekt, das Denken als kategoriales oder als absolute Idee. Dies ist die spekulative Fassung des transzendentalen Gedankens13.

chen, so meinen wir ein durch die Fülle der Antezedentien dargetanes Fazit. Im Zusammenhang mit der späteren Fichteschen und Schellingschen Fassung des Absoluten als Einheit von Sein und Freiheit, oder Sein und Wissen (Fidite, Wissenschaftslehre von 1801, § 8 ff.; Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Sämtliche Werke Abt. 1/7, 301 ff.) ist zu sagen, daß die kategoriale Ontologie solche metaphysischen Rätselgründe, die ihrerseits subsistierend - die treibende Kraft für die Genesis von Begriffen und Existenzen sein sollen, in eine kategoriale Genealogie einordnen kann, was für einen kategorialen Standpunkt genügt. - Man könnte in diesem Zusammenhang die Kritik am Idealismus aufgreifen, die Fichte und Schelling geltend gemacht haben in der Absicht, für eine Vereinigung von Idealismus und Realismus zu plädieren, mit einem Absoluten der erwähnten Art. Uns scheint indessen nicht, daß eine solche Metaphysik rational möglich ist. Es ist zuzugeben, daß bei Fichte und Schelling ein Refugium andersgearteter, nicht-kategorialer Letztbegründungstheorie liegt, die eine Alternative zu der hier vertretenen kategorialen Ontologie darstellt. Siehe hierzu die Abhandlung von K. Brinkmann in diesem Band und die dort angegebene Literatur. Vgl. ferner die neuere Sekundärliteratur zu Fichte, so insbesondere L. Siep, Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804, Freiburg-München, 1970, K. Schuhmann, Die Grundlage der Wissenschaftslehre in ihrem Umrisse, Den Haag, 1968, W. Janke, Fichte, Berlin, 1970, und die Sammelrezension von J. Heinrichs, „Fichte, Hegel und der Dialog", Theologie und Philosophie, 47,1, 1972, 90-131. 18

Man kann der Meinung sein, daß hier nur ein vorurteilsvolles Vertrauen auf die Erkenntniskraft (oder Kategorialität) des Denkens vorliege, und daß die transzendentale Instanz in ein endliches Subjekt verlegt werden müsse. Abgesehen davon, daß eine Einschätzung der Endlichkeit doch den absoluten Standpunkt verlangt (bei Kierkegaard sowohl wie bei Heidegger und Sartre), scheint es, daß eine Geltungstheorie ohnehin auf absolutem Boden aufgebaut sein muß, audi wenn sich dann Gelegenheit bieten wird, das faktische Subjekt in die Theorie einzuordnen. Vgl. H. Wagner, Philosophie und Reflexion, 328, 336-338. Bei Wagners Kritik der endlichen Fundamentalontologie, die gleichzeitig eine Adaptation und Einordnung in seinen absoluten Standpunkt ist, scheint uns allerdings das Problem zu bestehen, daß eine Verknüpfung von absolutem Geltungsstandpunkt und endlicher Fundamentalontologie illegitim zum Gedanken einer Komplementarität von Faktizität und Geltung führen kann. Wagner bejaht denn auch den Gedanken, daß das endliche Subjekt in seinen Aktvollzügen seine Unbedingtheit dann erreicht, wenn es gültige Gehalte hat. Was wäre eine solche Unbedingtheit? Kann ein Aktleben unbedingt werden durch einen gültigen Gehalt, oder nur ein kategorial gefaßtes endliches Sein durch ein ideell gewordenes Anderes? Die faktizitätstheoretische Adaptation scheint nicht zu gelingen. - Eine eigene Frage wäre, wie sich die moderne Sprachphilosophie mit der kategorialen Ontologie arrangieren kann, sei es, daß man von Nietzsche her argumentiert, der den Absolutheitsanspruch transzendentaler (von Kant her verstandener) Begründung und, mit sprachlicher Wendung, unsere herrschende Grammatik bestreitet (vgl. hierzu J. Simon, „Grammatik und Wahrheit", Nietzsche-Studien Bd. I, 1972, 1-26, und W.-G. Jankowitz, Philosophie und Vorurteil, Meisenheim, 1974, zu Hegel 131 ff., 268 ff., zu Nietzsche

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Die ontologische Option

Es ergeben sich Fragen wie die, ob die Kategorien durch das Verfahren allererst gewonnen werden — so daß das Verfahren Deduktion sein müßte und wie das Verfahren näher zu kennzeichnen ist. Zur ersteren Frage ist zu antworten, daß das Verfahren, oder die Methode, nicht deduktiv ist im Sinne einer Erzeugung von Kategorien, näher: im Sinne einer Erzeugung von reicheren Kategorien aus ärmeren. Vielmehr ist die Methode eine Rationalisierung von Vorgefundenem; sie ist, wie schon gesagt, Rekonstruktion14. Diesen Standpunkt kann Hegel nur einnehmen, weil er ansetzt, daß die Philosophie seiner Zeit mit ihm selbst eine Entelechie erreicht habe15, eine vollkommene Bekanntschaft mit kategorieverdächtigen Bestimmungen, die sich in einem stringenten Verfahren ordnen und begründen lassen. Die Griechen hätten mit ihrem Kategorien- und Prinzipienbestand eine ärmere und anders disponierte Rekonstruktion gegeben16. Will man hieraus eine relativistische Lehre ziehen, so müßte man zeigen, daß die Entelechie Hegels überschritten ist, daß heute andere Kategorien maßgebend, gewisse Kategorien ausgefallen oder irrtümlich angesetzt worden sind. Dieser Nachweis scheint bisher nicht geführt worden zu sein. Kann er aber geführt werden, so tritt Hegels dictum von der Eule der Minerva ein; dann muß eine neue Philosophie her, die, wenn sie streng ist, die gewünschte neue Rekonstruktion leistet17.

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134 ff.), sei es, daß man das Absolute in der gegenseitigen Anerkennung und Verständigung der Individuen sieht. (Vgl. hierzu J . Simon, „Vom Namen Gottes zum Begriff", Der Name Gottes, hrsg. H . v. Stietencron, Düsseldorf, 1975, 2 3 0 - 2 4 2 . Vgl. allgemein ders., Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart, 1966. Logik I, 19. „Nachbildung" ist Hegels Ausdruck in der Enzyklopädie (1830), § 12. Diese Deutung ergibt sich aus der Anlage von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, aber audi etwa aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Auflage der Jubiläumsausgabe, hrsg. H . Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1964 ( = Rechtsphilosophie), 36. Es wäre zu erwägen, ob Piatos Parmenides und Sophistes, oder auch Proklos und Plotin, hier angeführt werden können. Die Disparatheit der aristotelischen Philosophie und deren ontologischer Begriffe scheint einer Rekonstruktion fernzustehen. Aber eine prinzipiell Hegeische Rekonstruktion der aristotelischen Metaphysik nach ihren wesentlichen Systemteilen ist möglich. Einen Hinweis hierzu in meiner Rezension von W . Becker, Hegels Phänomenologie des Geistes, und Werner Marx, Hegels Phänomenologie des Geistes, Hegel-Studien Bd. 8, 1973, 198. Vgl. unten Anmerkung (42). Vgl. Rechtsphilosophie, Vorrede, 37. - Zur Idee einer fortbestehenden Erkenntnisaufgabe, was Kategorien anbelangt, vgl. N . Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl., Berlin 1949, 3 7 8 - 3 8 0 . Vgl. audi H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 184, J . Simon, „Das Neue in der Geschichte", Philosophisches Jahrbuch, 2. Halbband, 1972, und W.-G. Jankowitz, Philosophie und Vorurteil, 259 ff., 268.

Dialektik

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Dialektik Zur Frage, wie das Verfahren näher beschaffen sein muß, auf daß es die genannten Forderungen erfüllt, ergibt sich das folgende. Es ist ein Verfahren, das der Rekonstruktibilität von Begriffen unter dem Gesichtspunkt, daß Kategorien als Einheiten von Sein und Begriff denkbar sein müssen, entspricht. Es ist weiter ein Verfahren, das die Beziehungen zwischen Kategorien unter eine Wahrheits- (Geltungs-)bedingung stellt: ein so und so rekonstruierter Begriff kann nicht stehen bleiben, muß als nicht-abschließend, als relativ unwahr und daher weiterverweisend darstellbar sein, bis der abschließende Begriff der Kategorialität erschienen ist. Diese Notwendigkeit ist erfüllbar durch das Verhikel, das auch für die Rekonstruktion eines Begriffes als so und so bestimmt in Frage kommt: die Negation. Die Negation kann aufgefaßt werden als Ausschluß von Anderem, so daß ein Begriff bestimmter ist, insofern er anderen Begriffsinhalt ausschließt (gemäß einer positiven Funktion des Limitationsprinzips)18. Diese Deutung von Bestimmtheit kann nun, wie gesagt, auch für das Verfahren der Theorie der kategorialen Begriffe insgesamt dienen: es ist kraft einer Negation, die einen Begriff mit seinem Gegenbegriff verbindet, daß ein Begriff nicht stehen bleiben kann. Er kann nicht gleichermaßen gelten wie der andere; beide schließen sich aus als die ganze oder gemeinsame Wahrheit von etwas. Zwar wird auf dem spekulativen Standpunkt, den Hegel einnimmt, keine besondere Referenz eines Begriffes angesetzt, aber doch nach Wahrheit des Begriffs — ist Sein so? — gefragt. Es gilt also, daß der gegenseitige Ausschluß von Begriffen angesichts eines vom Denken zu fordernden Wahren aus logischen Gründen nicht stehen bleiben kann. Die Dialektik ist somit ein Verfahren der Begriffsbestimmung, das die Vermeidung des Widerspruchs (die Negation der Negation) einspannt, um durch Negation gedeutete Bestimmtheit von Begriffen weiterverweisen zu lassen — damit also eine Progression, eine Rekonstruktion, aller Kategorien zu liefern - , bis hin zu einem Begriff, der übergegensätzlich ist, der für die Kategorialität von Begriffen, oder des Begriffs überhaupt steht (die absolute Idee, das Absolute als Fülle). Er ist — in einer Gegenläufigkeit der Prinzipiierung — Prinzip für die Prinzipien, die zu seiner Aufstellung dienten. Es ergibt sidi weiter, daß mit den Denkmitteln des Seins und der Negation die Kategorialität des Begriffs zureichend bestimmt werden kann: das Nichtfremdsein des Seins gegenüber dem Begriff ist dargestellt in der Negationsbeziehung zwischen Begriff und Sein, das durch Negation der Negation zur Einheit zurückgeführt wird. So ergibt sich schließ-

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lidi eine noch nähere Bestimmung der Dialektik. Sie ist nicht nur ein begriffsverbindendes Verfahren (also der Verbindung von Begriffen inter se), und zwar durch Einspannung der Negation, sondern sie ist auch ein der Kategorialität der in sie eintretenden Begriffe geltendes Verfahren, indem sie nur Denkmittel verwendet, die zur Rekonstruktion von Kategorialität dienen können, nämlich Sein und Negation. Sie verknüpft Begriff und Begriff und Sein und Begriff, und beide Verknüpfungen miteinander.

Einwände Die Einwände, die gegen Hegels Dialektik gemacht worden sind, betreffen — wenn wir von populären Mißverständnissen absehen, wie sie etwa von K. Popper vertreten werden19 - zunächst die Einsetzung der Negation zur Darstellung von Bestimmtheit durch Ausschließung von Anderem. Hier sind näher zwei Einwände zu unterscheiden. Einmal der Einwand, daß zur Konstitution eines logischen Gegenstandes ein irreduzibel Anderes schon immer gehöre, das nicht durch Negation gedeutet werden könne (der Rickertsche ,heterothetische' Einwand)20; erst die Fortbestimmung eines solchen Anfangs beim logischen Gegenstand lasse sich denken durch Begriffe, die ihrerseits zu ihrer Bestimmtheit eine Negation zu ihrem Gegenbegriff implizieren; Prädikation könne also in dialektischer Rekonstruktion gedacht werden, nicht aber ihr Ausgangspunkt beim logischen Gegenstand21. Der andere Einwand betrifft die

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Siehe H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 103 £., 1 0 6 - 1 1 3 . Vgl. R . Kroner, Von Kant bis Hegel Bd. II, Tübingen, 1924, 3 1 9 - 3 6 1 . Vgl. auch K . Hartmann, „Zur neuesten Dialektik-Kritik", Archiv für Geste der Philosophie, 55,2, 1973, 220-241. Popper sieht zwar eine Nähe der Hegeischen Dialektik zu seiner eigenen Deutung des wissenschaftlichen Fortschritts („What is Dialectic?", Conjectures and Refutations, London, 1972, 313 f.; ähnlich auch eine der grundlegenden Thesen in Objective Knowledge, Oxford U . P., 1972, passim), meint aber, daß Hegel den Widerspruch gebilligt habe (Conjectures and Refutations, 316, 327 f.). Im übrigen versteht er Hegels Dialektik als eine Realdialektik der Geschichte (ebda., 316, 322 und bes. 3 2 9 : „If reason and reality are identical and reason develops dialectically (as is so well exemplified by the development of philosophical thought) then reality must develop dialectically too".) D a ß eine kategoriale Dialektik eine Realdialektik nicht impliziert, hat Popper nicht gesehen. Siehe H . Rickert, Das Eine, die Einheit und die Eins, 2. Aufl., Tübingen, 1924, 8 if., bes. 1 8 - 2 3 . Siehe W . Flach, Negation und Andersheit, München, 1959, 48 ff.

Einwände

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Bestimmtheitstheorie der Dialektik, auch insofern sie Begriffe durch Negation bestimmt sein läßt. Der Vorwurf wäre, daß hierin konträrer und kontradiktorischer Gegensatz in eines gesetzt seien22. Man kann das Hegeische dialektische Verfahren rechtfertigen unter dem Gesichtspunkt der Rationalität: wenn wir Anderes verstehen wollen, müssen wir es rekonstruktibel machen durch Negation. Dann läßt sich Bestimmtheit als solche allererst verständlich machen (so in Hegels Progression von Sein zu Dasein), und läßt sich weiter - auf der Ebene von Bestimmtheit angekommen - verstehen, wie ein Begriff bestimmter Begriff ist. Hinzuzunehmen ist, daß eine Genealogie, die von Sein und Negation ausgeht, dem Einwand, mit dem konträren Moment des dialektischen Gegensatzes würden empirische Inhalte erschlichen, entgehen kann. Die durch limitativen Gegensatz bestimmten Begriffe sind - so sehr sie im Rahmen einer Rekonstruktion bekannter Kategorien stehen und damit inhaltlich sind — eben in eine Genealogie der Prinzipiierung eingestellt. Wenn Hegel nun meint, man müsse zu einem neuen Begriff übergehen, um den Widerspruch zu vermeiden, ergibt sich dann nicht, daß mit solcher dialektischen Begriffsbewegung kein Prädikat mehr feststünde und kein Gegenstand mehr etwas Bestimmtes wäre? H . Wagner sucht das Problem so zu lösen, daß er die Letztbegründungstheorie vom Urteil (näher vom Prädikationsbegriff des Urteils) her anbahnt und ein X durch ein ρ (das seinerseits in Widerspruch zu seinem Gegenbegriff steht) bestimmt sein läßt. Das X hat dann nur ein ρ (das eine oder das opponierte andere Prädikat). Damit wäre der Unterschied der Begriffsbewegung von einer Prädikation festgestellt; die Gefahr eines Widerspruchs 22

So schon A. Trendelenburg, Logisdie Untersuchungen, Leipzig, 1840, Bd. I, 31 ff. Eine moderne Kritik in der genannten Richtung findet sich bei W. Becker, Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus, Stuttgart, 1969, 50-62. Vgl. meine Rezension, German Studies, Philosophy and History, vol. III, 2, 1970, 1 3 1 134, und den Aufsatz, „Zur neuesten Dialektik-Kritik", Archiv für Geschichte der Philosophie 55,2, 1973. R. Kroner, der das logische Problem einer Ineinssetzung zweier Gegensatzarten durchaus sieht, bejaht die Rolle der Negation bei Hegel als eine, die den konträren Gegensatz zu einem kontradiktorischen „schärft" (Von Kant his Hegel Bd. II, 341). H . Wagner bejaht den Widerspruchsausschluß für die Prädikation und den erforderlichen Widerspruch für die Begriffsbestimmtheit, und bringt beide im Limitationsprinzip zusammen (Philosophie und Reflexion, 101 ff., 106 ff.) Siehe auch das folgende. - Eine feinsinnige Kritik der Negation als Vehikel der Wesenslogik (siehe hierzu weiter unten) findet sich bei D. Henrich („Hegels Logik der Reflexion", Hegel im Kontext, 95 ff., bes. 149). Wir glauben aber, daß der Gedanke der Rekonstruktion zusammen mit dem der architektonischen Prinzipiierung dem Einwand begegnen kann, daß die Negation kein Schlüssel zur Rekonstruktion der ganzen Logik sein könne.

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Die ontologische Option

in der Prädikation oder, andernfalls, einer Seinsbewegung entsprechend einer Begriffsbewegung, fiele fort 23 . Der Vorschlag bleibt allerdings hinter dem spekulativen Standpunkt darin zurück, daß eine besondere Referenz der Begriffe eingeführt wird, was Hegel vermeiden möchte. Damit ist der Weg offen, kategoriale Begriffe als bloße Essenzen von etwas dem Begriff gegenüber Anderem, aber Bestimmtem, anzusehen. Es bestünde ein Anwendungsverhältnis von Begriff und Sache. Transzendental liegt hier ein Problem, nämlich daß die Kategorie erst für Bestimmtheit aufkommt (was Wagner formuliert als: X ist p). Aber wenn dennoch der Gegenstand als Designat erscheint, so handelt man sich die (im kategorialen Bereich) paradoxe Situation ein, daß die nicht begriffene Vorbestimmtheit des Gegenstands mit dem Begriff übereinstimmen soll. Die Hegeische Auffassung ist demgegenüber, daß eine kategoriale Begriffsbestimmungstheorie, wie schon gesagt, ohne besondere Referenz auskommen muß. Sein wird als im Begriff enthalten angesetzt, aber gerade auf Grund seiner allgemeinen Referenz auf Sein impliziert der Begriff nach dem spekulativen Standpunkt nicht, daß eine besondere Referenz (ein bestimmter Gegenstand, auf den Begriffe angewandt gedacht werden) widersprechenden Prädikaten unterliegt oder daß ein Gegenstand sich in einer Begriffsprogression bewegen muß. Die begrifflidie Progression stellt ein Sein der und der Bestimmtheit auf - Hegel kann von Einem und Anderem, und nicht nur von Einheit und Andersheit sprechen entwickelt die Unverträglichkeit der Bestimmtheit, und wendet sich einer neuen Bestimmtheit des Seins (nicht: eines verwandelten, sich bewegenden Seienden) zu. Gleichsam daneben kann ein ,Anwendungsverhältnis' von Begriffen in der Prädikation (A ist p, S ist p) statthaben 24 . Die Progression der Dialektik ist in sich komplex. Zwar ist (von H . Wagner) die Meinung vertreten worden, sie sei die Progression einer Gattungspyramide, von den Arten her gelesen: unvereinbare Arten verweisen auf eine höhere Gattung, unvereinbare Gattungen verweisen auf eine höhere Gattung usw., bis sie in einem als übergegensätzlich Angesetzten, einem Absoluten, terminieren, das Bestimmtheit hat nicht mehr durch eine opponierte Gattung, sondern durch ein von ihm Begründetes, das absolute Prädikat 25 . Es scheint aber, daß die Hegeische Dialektik so nicht zureichend begriffen ist. Nach Hegel müssen wir, gemäß den Kautelen der Voraussetzungslosigkeit, die einen Rückgriff auf noch nicht Be-

,a

Vgl. H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 108. Vgl. H . Wagners Deutung der Kopula, Philosophie und Reflexion, " H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 112 f., 114-131, 132-136. u

95 f.

Einwände

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griffenes verbieten, beim Unbestimmten, beim Sein, anfangen, das wir zunädist bis zu einer ersten Bestimmtheit (zu Dasein als bestimmtem Sein) verfolgen. Sein wird also, indem es als Unbestimmtes begriffen wird, fortbestimmt zu Bestimmtheit. Bestimmtes bestimmt sich weiter durdi Opposita, durch ein Negat des Bestimmten. Solche Bestimmtheitsprogression ist nicht vom Gattungs- und Art-Typ, denn die Dialektik spielt nicht zwischen beliebigem Artbegriff und seinem Komplement als einem anderen Artbegriff 26 , sondern deutet den logischen Gegensatz in eins als einen zwischen Begriff und Begriff und zwischen Sein und Begriff, oder zwischen (relativ) unbestimmt begriffenem Sein und Bestimmtheit im Begriff. Die Oppositionen, die auf diese Weise erschlossen werden, sind andere, als sie in einer Gattungs-und-Art-Dialektik vorkommen, wiewohl auch das Gattungs-und-Art-Verhältnis an gegebener Stelle Beispiel für dialektische Opposition sein kann, und so sehr auch im abschließenden Begriff (absolute Idee, Kategorialität, Sichbestimmen des Denkens oder wie auch immer) eine Konvergenz beider Dialektiken sichtbar ist. Bei Hegel findet sich aber in einer unilinearen Begriffsprogression Anfang, Entfaltung und Rüdekehr zum Grund, während eine Gattungsund-Art-Dialektik von beliebigen Arten zum übergegensätzlichen Grund aufsteigt, ohne sicherstellen zu können, daß es nur eine verbindliche Weise des Aufstiegs gibt. Es gäbe viele ,Kegel', die, sich verjüngend, auf den übergegensätzlichen Grund zugehen. Die Gattungs-und-Art-Deutung der Dialektik für Zwecke einer Letztbegründungstheorie betrifft somit auch die Disposition einer solchen Theorie. Das Absolute ist ein aus der Fülle der Bestimmtheiten zu Erreichendes, von dem dann, in Umkehrung der Hegeischen Abfolge, wieder zu ontologischen Begriffen herabgestiegen werden soll27. Der Hinweg zum Absoluten über die Gattungs- und Art-Pyramide bleibt dabei letztlich programmatisch, ohne daß die Reihe von Arten über Gattungen zum

" Wenn Arten (und entsprechend Gattungen) in ein a und non-a-Schema gebracht werden, so fragt sich, welche Art ich zum Ausgangspunkt mache; eine beliebige, so daß alles übrige ins non-a fällt? Solches non-a ist vielfach nicht eine Art, oder nur eine künstliche Art gegenüber einer Mehrheit von koordinierten Arten. N u r ein Sein-Negation-Schema, das Kategorialität zum Grundgedanken hat, kann die Dualität, derer die dialektische Progression bedarf, sicherstellen. (Hier liegt allerdings auch für Hegel eine Grenze für eine Dialektisierung der Natur in einer Naturphilosophie. Vgl. Logik I, 42. 17 Diese Begriffe oder Prinzipien ergeben sich als Gegensatzpaare von hödisten Begriffen, die in einer vollständigen Disjunktion das absolute Prädikat erschöpfen. H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 132-137. Die Konzeption entspricht Kants ens realissimum, Kritik der reinen Vernunft, A 575 f.

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Die ontologische Option

Grund eindeutig, und nicht nur in einem Beispiel, vorgeführt würde. Der Rückweg vom Absoluten hat die Besonderheit, daß ein ,Gefüge', eine Symploke von kollateralen Bestimmungen vor uns steht, die nicht methodisch durchlaufen werden 28 . Uns scheint, daß die Hegeische Disposition der Letztbegründungstheorie vorzuziehen ist, kann sie doch Kategorialität, Dialektik und Einholung der Methode der Rekonstruktion im Resultat miteinander vereinbaren, und zwar in durchführender Diskursivität, ohne Programmatik. Gerade an eine solche begriffsimmanent dargetane Kategorialität knüpft sich ein letzter Einwand, den wir schon unter dem Motto der Endlichkeit angesprochen haben 29 . So etwa findet sich eine frühe Kritik am ontologischen Immanenzstandpunkt bei Feuerbach, der darin eine petitio sieht 30 . Der Einwand, daß die Hegeische Ontologie nur ein Spiel des Denkens mit sich selbst sei, wird sinngemäß audi in den modernen transzendental-spekulativen Positionen von W . Cramer und H. Wagner gemacht. Der zentrale Gedanke beider Positionen ist, daß eine letztbegründende Philosophie dafür aufkommen müsse, daß das Denken Sein als nicht von ihm gesetzt setzt 31 . Cramer versucht, diesem ,Transzendenzbewußtsein* in einer Subjektivitätphilosophie nachzuleben und diese in

28

29 30

31

So sehr H. Wagner von einer „Konstruktion" des gemeinten Gefüges spricht. Philosophie und Reflexion, 136. Dürfte man, um sie zu leisten, doch noch, nachdem das Absolute gesichert ist, den Weg der Hegeischen Logik gehen? - Anzuknüpfen wäre hier die Position von W. Cramer, die sich aus einer früheren Position - in Grundlegung einer Theorie des Geistes, basierend auf dem Werk Die Monade und einer späteren Position - in Das Absolute und das Kontingente und in weiteren Spätschriften — zusammensetzt. Siehe Anmerkung (13). Siehe L. Feuerbach, „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie", Sämtliche Werke Bd. II, hrsg. F. Jodl, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1959, 158 if., bes. 183: „Eben darum, wiederhole ich, ist der Beweis, die Vermittelung der absoluten Idee nur eine formelle. Die Idee er- und bezeugt sich nicht durch ein wirklich Anderes, welches Anderes nur die empirisch-concrete Verstandesanschauung sein könnte, sie erzeugt sich aus einem formellen scheinbaren Gegensatz. Das Sein ist an sich die Idee." W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Abschnitt 67 und ff. Abschnitt 70: „Der Gegenstand ist in der Immanenz als transzendent konstituiert. Das Transzendente ist nicht konstituiert, nicht in der Immanenz. Das Immanente ist Erzeugnis, das Transzendente nicht." H. Wagner, Philosophie und Reflexion, 129: „Der Gegenstand ist das als Gegenstand gesetzte Seiende: er ist einerseits Seiendes, andererseits gesetzt. Wäre der Gegenstand nur das vom Denken Gesetzte (ohne also gesetztes Seiendes zu sein), so wäre er ein Moment des Denkens selbst und nicht vom Denken wirklich unterschieden.. Denken ist Setzung, aber Setzung eines Seienden: Denken ist .Transzendenz in der Immanenz'..

Einwände

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einer Philosophie vom Absoluten her zu ergänzen 32 . Wagner versucht, erst einen Hinweg zum Absoluten als Grund einer Bestimmtheitstheorie von Begriffen anzusetzen, andererseits aber doch Raum, ja die Notwendigkeit dafür zu schaffen, daß eine Angewiesenheit des Denkens auf Anderes aus ebendiesem Standpunkt resultiert. Wir beschränken uns im folgenden hauptsächlich auf die Wagnersche Position. Wagner will im Abschlußbegriff der Bestimmtheitstheorie der Begriffe, im Absoluten als Denken, die Bestimmtheit durch Anderes, durch den Gegenstand, gelegen sehen33. Andererseits handelt es sich doch nur um eine Bestimmtheitstheorie von Begriffen, deren Kategorialität gerade nicht das Verfahren der Bestimmtheitstheorie bestimmt (geht es doch um eine Gattungs- und-Art-Dialektik). Nach dieser Dialektik soll das Absolute ein Bestimmtes sein, was es aber nur durch ein von ihm begründetes absolutes Prädikat sein kann. Dieses wiederum kann nur bestimmt sein durch interne Disjunktionen von Begriffen, so daß die vollständige Disjunktion der Disjunktionen das Absolute in seiner Absolutheit erschöpfen kann. Kann man von hier aus weiterschließen, daß die Bestimmtheit der Begriffe, die im absoluten Prädikat beschlossen sind, ihrerseits eines Anderen bedürfen, um bestimmt zu sein? Wobei dies Andere nunmehr ein real Anderes sein müßte? Die Begriffsbestimmtheitstheorie scheint geschlossen. Wagner meint aber, daß die das Denken bestimmenden Begriffe (logische Bedingungen der Gedanken) - als primär-konstitutive Apriorität - Anweisungen auf einen Gegenstand beinhalten, die

82

Eine Darstellung der - in sich zwiefachen - Cramerschen Position würde uns hier zu weit führen. Nur so viel sei angedeutet. D a Cramer die Leistung des Subjekts, ein Transzendenzbewußtsein zu erzeugen, im Sein des Subjekts gelegen sieht (Grundlegung einer Theorie des Geistes, Abschnitt 31: „Die transzendentale Leistung der Subjektivität ist ihrerseits aus der ontologischen Konstitution der Subjektivität zu begreifen"), ergibt sich das Desiderat einer Ontologie, in der u. a. die Kategorie, ,νοη' der das Subjekt ist, hergeleitet werden kann. (Das Verhältnis der Subjekttheorie und der Ontologie erinnert an das von Hegels Phänomenologie des Geistes und System). Diese Ontologie gibt Cramer in der Form einer Metaphysik des Absoluten, von dem her nicht nur Kategorien, sondern audi die plurale I n s t a l l ierung von Kategorien verständlich werden soll (vgl. Das Absolute und das Kontingente, 74-82, 83-90; der Ansatz entspricht dem Fichteschen der Wissenschaftslehre von 1801). Es besteht der Anspruch einer stringenten Herleitung vom Absoluten herab, aber wir vermögen nicht zu sehen, daß ein metaphysischer Begriff des Absoluten angängig ist, noch auch, daß die Herleitung von Kategorien und Kontingenten streng ist. Vgl. im übrigen H . Wagners Cramer-Kritik, „Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?", Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für W o l f gang Cramer, Frankfurt, 1966.

33

Philosophie

und Reflexion,

129.

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Die ontologische Option

in weiteren Prinzipien, denen der ,sekundär-konstitutiven Apriorität', eingelöst werden müssen34. Diese nun wieder sollen das Ansichsein des Gegenstandes erkennbar machen (also Theoretisierung des Cramerschen Transzendenzbewußtseins sein), das Ansichsein des Gegenstandes soll aber andererseits erst gewährleistet sein, wenn ein über das in Begriffen Gesetzte hinausgehendes Irrationales angesetzt wird 35 . Wir sehen nicht, daß diese These aus einem Ansatz beim Absoluten des Denkens und des absoluten Prädikats hervorgeht. Das, was als Anderes bezeichnet wird, wechselt von innerbegrifflichem Anderen (zur Bestimmtheit der Begriffe innerhalb des absoluten Prädikats), über ein real Anderes (als Bedingung der wahren Bestimmtheit des erkennenden Gedankens) zum irrationalen Anderen (als Unterpfand dafür, daß Raum gelassen ist für ein Ansichsein, das sich meldet). Eine nicht von vornherein kategorial angelegte Begriffsbestimmtheitstheorie mag eine solche Implikation wünschenswert machen, eine kategoriale Ontologie bedarf ihrer nicht. Was in einer kategorialen Ontologie ein Anderes ist, dessen Ansichsein im Begriff erfaßt

M

JS

A.a.O., 163 f.: „Noch innerhalb der primär-konstitutiven Apriorität liegt also die tiefste Bedingung für die Tatsache, daß der Gedanke Selbstbeziehung auf den Gegenstand und Selbstbestimmung durch diese Gegenstandsbeziehung ist. Aber diese in der primär-konstitutiven Apriorität liegende tiefste Bedingung ist gleichwohl noch nicht die zureichende Bedingung. Sie besagt nur, daß der Gedanke ohne solche auf den Gegenstand bezogene Selbstbestimmung nicht wahrhaft absolut ist." Weitere Bedingungen sind unerläßlich: „Ihren Inbegriff wollen wir die Prinzipen der sekundär-konstitutiven Apriorität nennen." - Es zeigt sich weiter, daß es bei Wagner zwei Bestimmtheitstheorien gibt, je nachdem wie wir Andersheit fassen, als Gegenbegriff zu einem Begriff und als Andersprinzipiiertes. Dieser Gedanke (Philosophie und Reflexion, 184) entspricht N . Hartmanns Idee einer nur partiellen Identität von Seins- und Erkenntniskategorien (Metaphysik der Erkenntnis, 370 ff.). Der Gedanke ist aber nur ein Kriteriumsgedanke, wie man sich dadurch des Ansichseins vergewissern könne, daß ein Begriff von ihm ihm nicht entspricht, vielmehr geändert werden muß, weil sich das Ansichsein meldet. Der Gedanke steht für ein Falsifikationsprinzip und widerspricht damit dem Begriff der Kategorie. Er kann nicht ein Argument gegen eine Position wie die kategoriale Ontologie in Hegelscher Fassung sein, die die Erfassung des Ansichseins im Begriff zum Ausgangspunkt nimmt. Man kann durchaus zugeben, daß es Unbegriffenes und noch zum Begreifen Aufgegebenes gibt. Im Fall von kategorialen Erkenntnisfortschritten kann man sich fragen, ob eine Modifikation der kategorialen Ontologie reicht, oder ob eine neue Rekonstruktion erfolgen muß. Allerdings können wir nicht zustimmen, daß man einen solchen irrationalen Rest einerseits als kategoriale Aufgabe faßt, wie N . Hartmann, andererseits aber die Sinnlichkeit als Beleg für das Gemeinte anführt. Sinnliche Irrationalität und kategoriale sind doch zweierlei (vgl. Philosophie und Reflexion, 184 im Verhältnis zu 187). Das Problem ist im übrigen eines, das zur Realphilosophie gehört und an dieser Stelle antizipiert ist.

Architektonik

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sein soll, wird durch den Gedanken der Rekonstruktion eines zugestandenen Kategorienbestandes genügend berücksichtigt36. Wie schon gesagt, wird der Kategorienbestand nicht mehr zugestanden, so ist eine neue rekonstruktive Philosophie fällig.

Architektonik In der gegebenen Charakterisierung der Dialektik liegen PrinzipiierungsVerhältnisse: Weisen der Integration von Sein und Begriff lassen sich unterscheiden und als Prinzipien für Prinzipate formulieren37. Erste Integrationsgestalten des Seins (von Hegel unter .qualitatives Sein' behandelt) dienen als Prinzipien für explizite Fassungen dieser Gestalten in unterschiedlichen ,Sphären'. Die dialektische Progression gelangt zunächst zu einer Seinslogik, innerhalb derer ein Oppositum außerhalb der Bestimmtheit des anderen Oppositums zu liegen, von außen herangebracht zu sein scheint, geht dann über zu Begriffen, denen das Oppositum inhäriert, sogenannten Wesensbegriffen, die einer Wesenslogik angehören, und gelangt schließlich zur Überwindung des Oppositionsver-

*· Vgl. Enzyklopädie, §§ 7, 12, insbesondere den Vergleich des Denkens mit dem Essen. - Das Problem der Voraussetzung einer Philosophie der Kategorialität scheint gelöst, wenn man zwischen Rekonstruktion und Zugestandenem unterscheidet. Anders denkt Konrad Cramer, der sidi unter dem Gesichtspunkt der »formalen Struktur' der Hegeischen Philosophie mit dem Problem der Voraussetzung befaßt („Zur formalen Struktur einer Philosophie nach Hegel, die als Kritik soll auftreten können", Hermeneutik und Dialektik, Festschrift Gadamer, Bd. II, Tübingen 1970, 147-179). Der Gedanke ist, daß das Verschwinden der Voraussetzung in der Hegeischen Reflexion abzulehnen sei 167, 172), daß vielmehr eine Voraussetzung anzuerkennen sei, was andererseits den Selbstbegründungsdiarakter der Philosophie nicht hindere (173). Mit dieser Auffassung rekurriert K. Cramer auf die Intentionalität des Bewußtseins und auf die These, daß das Bewußtsein in der philosophischen Reflexion nicht aufklärbar sei (165, 178) und daher eine Voraussetzung bleibt, auf die nur verwiesen werden kann. Wir können uns dieser These nicht anschließen; wir meinen, daß eine reflexionslogische Deutung des Bewußtseins und damit in eins auch der Anspruch auf gelingende Rekonstruktion, eine Einholung der Voraussetzung des Bewußtseins, zu Recht bestehen können. Interessant ist bei K. Cramer, daß der Einwand gegen Hegel immanent, aus einer Prüfung der Hegelschen Reflexion, die letztlich leer bliebe, gewonnen ist. " Wir haben diesen Punkt unter Vorgriff auf realphilosophische Verhältnisse schon berührt, als davon die Rede war, daß der Prinzipdiarakter von Kategorien für Erkenntnisansprüche in der Erfahrung sidi innerhalb der Kategorienlehre .abbilden' lassen müsse. M Hegels Unterscheidung der verschiedenen .Logiken': Logik I, 47.

16

Die ontologische Option

hältnisses im Begriff in einer Begriffslogik. Diese Sphären sind architektonisch-durch Prinzipien des qualitativen Seins—geordnet, prinzipiiert 38 . Die Denk- oder Begrifisbewegung durchläuft Stufen der Kategorialität des Begriffs, und diese Stufung ist nicht in einer Dialektik vom Gattungs- und Art-Typus, die architektonisch unstrukturiert wäre, unterzubringen. Es ist eine architektonische Stufung, die ihrerseits im Rahmen einer Rekonstruktion ontologischer Einheitsverhältnisse oder Kategorien mit Hilfe von Sein und Negation durch prinzipielle Einheitsverhältnisse formulierbar ist. Die Stufung enthält innerhalb der Logik Sein, Wesen und Begriff, und in dieser Hinsicht kann die dialektische Progression eine ,transsphärische' Progression heißen. (Wir können auch von einer ,vertikalen' Ordnung sprechen). Innerhalb jeder Sphäre stellt sich ebenso eine Bestimmungsaufgabe, nämlich von nicht haltbaren (nicht abschließenden) zu weiteren, besser haltbaren, aber immer noch nicht abschließenden Kategorien zu kommen, in einer Progression, die wir ,innersphärische' Progression nennen können. (Wir können auch von ,horizontaler' Ordnung sprechen). Die Dialektik muß die architektonische Sphärenverknüpfung und die innersphärische Progression in eins linear durchlaufen; dabei ist es klar, daß die ,Übergänge' im einen und im anderen Fall verschiedene ,lineare' Kontinuität und Plausibilität haben 39 . Der Grund für die Dialektik ist eine Subjektivität - das Absolute als absolute Idee - , von dem her die Antezedentien zu seiner Aufstellung gerechtfertigt sind. Damit ist die subjektive Immanenz der Kantischen und Fichteschen Transzendentalphilosophie beibehalten, gleichzeitig aber eine nicht vom endlichen Subjekt bedingte Ontologie ermöglicht, die sich gegen Alternativvorschläge verteidigen läßt. Die Subjektivität - die endliche erkennende wie die des Systems — wird ontologisch eingeholt und damit der Geltungsgrund der kategorialen Ontologie. Kurz, wir meinen, daß die grundsätzlichen Gedanken der Hegeischen Begründungstheorie der Ontologie nach wir vor haltbar sind, eben dann, wenn sie als Grundlagen einer kategorialen Ontologie verstanden werden.

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Vgl. zu diesem Thema K. Hartmann, „Hegel: A Non-Metaphysical View", Hegel. A Collection of Critical Essays, 104-112. Vgl. audi meine Rezension zu Wolfgang Marx, Hegels Theorie logischer Vermittlung, Archiv für Geschichte der Philosophie 58, 1976 (erscheint demnächst). — Es zeigt sich in unserer Deutung, daß die Hegelsche Dialektik durchaus Strenge besitzt, entgegen der Meinung von J. N . Findlay. Siehe dessen Hegel: A Re-Examination, London, 1958, 23 f., 79.

Ontologie {Logik) und Realphilosophie

Ontologie (Logik) und

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Realphilosophie

Hegel teilt den überkommenen (und von ihm noch erweiterten und differenzierten) Kategorienbestand auf auf Logik und Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes, oder auf Logik und Realphilosophie. Hierin liegt eine bedeutsame Maßnahme. Hegel versucht mit dieser Aufteilung einen Bereich der Ontologie im Sinne einer (herkömmlich so genannten) metaphysica generalis (aber mit Einschluß einer Begriffs- und Subjekttheorie = subjektive Logik) von dem einer Realphilosophie zu unterscheiden, bei der man fragen kann, inwieweit sie eine metaphysica specialis ist. Daß sie mit der Ontologie zusammengenommen werden muß, entspricht dem aristotelischen Desiderat, daß die Erste Philosophie ihre eigenen Prinzipien und die, die in den Einzelwissenschaften nicht begründet werden, aufstellt 40 . Der Grund der Unterscheidung von Ontologie (im Sinne der Hegeischen Logik) und Realphilosophie hat sich gegenüber der Tradition — die sich von Aristoteles her an Gott als letztem Grund, oder, wie in der Spätscholastik und bei Kant an drei obersten Themen: Welt, Seele und Gott orientiert - resümiert in der Äußerlichkeit, in die die Kategorien der Logik versetzt gedacht werden und aus der die Kategorien der Logik weitere kategoriale Bestimmtheit erhalten. Hiermit ist der Andersartigkeit der Realität gegenüber dem Begriff über die Logik hinaus - aber durch die Logik verständlich gemacht, insofern sie Äußerlichkeit prinzipiieren kann - Rechnung getragen. Auch die Realphilosophie ist zur Ontologie geworden. Wir finden Bestimmungen wie Raum und Zeit, Bewegung, Mechanik usw., aber, wichtiger noch, eine Rationalisierung der konkreten Subjektivität (in der Philosophie des Geistes): eine Lehre vom Einzelgeist (subjektiver Geist), die überführt zu einer Soziallehre (Philosophie des objektiven Geistes, Rechtsphilosophie), und zu einer Lehre vom absoluten Geist, für den die Äußerlichkeit - oder Pluralisierung der Gestalten - nicht mehr konstitutiv, sondern nur noch Erscheinung ist. Die Hegeische Aufteilung ist ein eigentümlicher Lösungsversuch für das Verhältnis von metaphysica generalis und specialis; sie unterscheidet klar zwischen allgemeinen und (um mit Husserl zu reden) Regionalen', Natur oder Äußerlichkeit voraussetzenden Kategorien, vindiziert aber gleichzeitig schon der metaphysica generalis - oder ,Logik' - einen Kategorienbestand, in dem Themen der metaphysica specialis (Geist, Gott, 40

Für eine moderne Fassung dieses Desiderats siehe H. Wagner, Philosophie Reflexion, 215 ff.

und

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Die ontologisdie Option

Natur) in allgemeiner Vorform vorkommen 4 1 . Wir denken das Hegelsche Ordnungsschema nach den Begriffen prinzipielle Kategorialität' (Logik), ,relative Kategorialität' (Naturphilosophie, subjektive und objektive Stadien der Philosophie des Geistes) und ,absolute Kategorialität' (absoluter Geist in der Philosopie des Geistes) 42 . Es ergibt sich eine Reihe von weiteren Gesichtspunkten und Folgerungen. Man kann der Ansicht sein, bei der Realphilosophie handle es sich nicht oder nicht nur um Kategorienlehre, sondern um existenzsetzende Metaphysik. Man kann der Ansicht sein, in der Realphilosophie müsse (abgesehen von prinzipientheoretischen Bindungen an eine abstraktere Apriorität) Rekurs genommen werden auf ein Andersprinzipiiertes, das sich nur partiell in Kategorien einfangen lasse. Nach unseren obigen Ausführungen zu W. Cramer und insbesondere zu H . Wagner ist es aber klar, daß kein Einwand gegen eine wiederum immanente, kategoriale Durchlaufung der Realsphäre zu machen ist. Es wäre vorstellendes Denken zu meinen, es müsse ein ,wahrhaft' Anderes, als den Begriff Bestimmendes, in die Deutung der Bestimmtheit des Begriffs vom Realen aufgenommen werden. Die Rekonstruktion, die verlangt ist, kann nur begriffenes Anderes als den Begriff bestimmend einführen, und damit sind wir schon beim Hegeischen Standort 4 3 .

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45

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Es erhebt sich die Frage, ob Hegel in der Logik nicht schon auf Regionales ausgreift (etwa wenn er Ding und Erscheinung, Substanz, Kausalität und Wechselwirkung behandelt und also Kantische Kategorien und Konzeptionen in der Wesenslogik verarbeitet). Vgl. T. Litt, Hegel, Heidelberg, 1953, 248 ff. Unbetroffen bleibt die Absicht der Hegeischen Einteilung in Logik und Realphilosophie, die eine innerkategoriale ,Abbildung' der Prinzipiierungsfunktion der obersten Kategorien gestattet. Auch ein Problem wie die Disparatheit und doch aufgegebene Ordnung der aristotelischen Metaphysikentwürfe (etwa Buch Γ im Verhältnis zu Buch Ζ, Κ und Λ) kann von hier aus eine harmonisierende Deutung erfahren, indem die von der nachfolgenden Tradition gemachte Unterscheidung in metaphysica generalis und metaphysica specialis im angegebenen Sinne gedeutet und auf Aristoteles zurückbezogen wird. Vgl. hierzu demnächst K. Brinkmann, Diss. Tübingen. W. Cramer mit seinem Transzendenzbewußtsein und H. Wagner mit seinem Andersprinzipiierten haben beide ganz recht, wenn sie meinen, daß Erkenntnis die Setzung von Gegenständen als nicht-gesetzten ist. Aber das hindert nicht, daß eine Kategorienlehre das als nidit gesetzt, also als an sich, Gesetzte setzen muß. Das Problem des Transzendenzbewußtseins oder des Andersprinzipiierten fällt in der Kategorienlehre auf die Seite des Zugestandenen, das rekonstruiert werden soll. Die Rekonstruktion hat diese Voraussetzung im Rücken oder, gleichsam als Gegessenes, im Magen. - Es besteht allerdings das Problem, daß, wenn Kategorien, die andere Kategorien betreffen (ζ. B. Prozessualität), eingeführt werden, die ,Symploke' dieser Kategorie mit anderen in der Hegeischen Realphilosophie nur so dargestellt werden kann, daß eine solche Kategorie in den ihr folgenden ,aufge-

Ontologie (Logik) und Realphilosophie

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Hegel selbst hat die ihm hier angemutete strenge Auffassung von Realphilosophie - die Realphilosophie und Philosophie des Absoluten heißen müßte - durchbrochen, indem er die christliche Offenbarung, die Menschwerdung Christi, mitdialektisiert, also in der Kategorienlehre die Existenzsetzung eines Individuums einbezieht, wie Hegel denn auch einen Existenzbeweis für Gott als metaphysisches Individuum, für das die Welt ideell und das für die Welt ideell ist, anerkennt 44 . Hier ist der kategoriale Standpunkt, der keine besondere Referenz, keine Existenz setzt oder auszeichnet, sondern nur verlangt, daß der kategoriale Titel nicht leer sei, verletzt, ja in Metaphysik übergegangen. Die metaphysische Wendung wird allerdings im Abschlußgedanken des Systems, der Philosophie, die kein Individuum ist, wieder zurückgenommen. Gott erscheint als das Absolute im Modus der Vorstellung, das in eins mit der religiösen Gemeinde kategorisierbar ist, aber überschritten wird auf eine letzte Idealität hin, die man ,Weltkategorialität' nennen möchte 45 . Hegel hat die realphilosophische Ausweitung seines Systems über die Logik hinaus noch rechtfertigen wollen durch einen syllogistischen Zu-

hoben', d. h. in ihnen relevant ist. Es tut sich hier ein Kreis von Fragen unter den Stichworten .Symploke' und .Linearität' auf, die wir hier nicht zureichend behandeln können. So könnten ζ. B. f ü r die Naturphilosophie Konkretheitsbedingungen in kategorialen J u n k t i m s ' liegen, die u. U. der Symplok£-Gedanke, schwerlich aber eine lineare Theorie erfassen kann. Audi für die Faktizität des subjektiven Geistes liegen hier eigene Probleme (vgl. oben Anmerkung [13]). Andererseits ist nur Linearität (und an ihrem Anfang linear begründete Architektonik) strenge Begründungsordnung. Für die Philosophie des objektiven Geistes werden wir unten auf die Linearitätsproblematik eingehen. - Ein Weiteres: wenn man die These von der Andersprinzipiiertheit des Seienden wie H . Wagner durchführt, so ergibt sidi das Problem, daß die Realphilosophie nicht aus einer .Logik' (oder primär- und sekundär-konstitutiven Apriorität) hergeleitet werden kann (in einer linearen Verfolgung der Prinzipiierung), sondern nur nach ihrer Aufstellung in einem Inbegriff auf diese Aprioritäten zurückbezogen werden kann, in einer .Reduktion' auf diese (Philosophie und Reflexion, 221). Damit hat man aber nur die Subsumtion des Spezielleren unter ein Allgemeineres vollbracht, oder eine Art .mathesis universalis' auf Bestimmungen der Realphilosophie angewandt. Was an den letzteren anders ist, ist nicht kategorial begriffen. 44

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Hier hat denn auch Schelling, der Hegels Logik als .negative Philosophie' interpretiert, Anstoß genommen. Siehe hierzu die Abhandlung von K. Brinkmann in diesem Band. - Zur Offenbarung: Enzyklopädie, §§ 564 ff. Zum ontologischen Gottesbeweis: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Jubiläumsausgabe, hrsg. H . Glockner, Stuttgart, 1928, Bd. II, Anhang, 535 ff., 546 ff. Wir glauben im übrigen nicht mit Theunissen (Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin, 1970, 387 ff.), daß die Gemeinde f ü r Hegel, oder überhaupt, einen Zukunftsbegriff von gelingender Sozialität darstellt. Vgl. meine Rezension in German Studies, Philosophy and History, IV, 2, 1971, 174-176.

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Die ontologisdie Option

sammenschluß seines Systems46. Danach implizieren die drei Systemteile (Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes) sich gegenseitig, indem jedes als ,Mitte' eines Schlusses fungiert, in einer Anordnung, nach der die abschließende ,Mitte' Resultat der früheren ,Mitten' ist: die Logik ist das Vermittelnde der anderen Systemteile, aber da sie ihrerseits durch die anderen vermittelt ist, ergibt sich eine allseitige Interdependenz mit teleologischem Resultat: nur mit der Logik kann man eine Philosophie aufbauen, die eine Realphilosophie enthält, die ihrerseits die Rolle der Logik (im Abschluß ,Philosophie') verifiziert. Die Realphilosopie hätte die Logik zur Voraussetzung und zum Resultat, und bewahrheitete sie so. Für eine kategoriale Analyse liegt hierin kein Anstoß, wenn man nicht mit einem realphilosophisch Unbegriffenen rechnet. Fruchtbar ist die Hegeische Philosophie des Geistes besonders im Bereich des pluralen, d. h. des objektiven Geistes, der - vor aller Äußerlichkeit - in der Logik noch nicht vorkommen konnte. Jetzt gelingt es, was sonst Aggregate von Subjekten wären, unter Kategorien als EinheitsbegrifFen zusammenzufassen, die ein ,konkretes Allgemeines' beinhalten 47 . Damit ist ein ontologischer Nominalismus im Sozialbereich überwunden: der Bereich des objektiven Geistes umfaßt Gestalten von sozialer Affirmativität 48 . Seine Kategorisierung ist wiederum zu differenzieren nach einer Pluralisierung der Subjekte gegenüber einer Sache (Vertrag) und gegenüber einander (Sittlichkeit mit ihren Stufen Familie, Gesellschaft, Korporation und Staat) 49 . 48

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Enzyklopädie, §§ 575-577. Vgl. hierzu M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, 308-322. Vgl. auch L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, 45-47. Der Ausdruck ist schon in der Logik der Enzyklopädie im Zusammenhang mit dem Zweckbegriff eingeführt (§ 210). - F. Fulda bestreitet die Koinzidenz von objektivem Geist und Pluralität (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, 1974, Bd. 3, Sp. 194), da auch die Moralität zu ihm gehöre. Der Einwand ist aber dadurch zu heben, daß Moralität die nichtgelingende Objektivität darstellt. Für die Ineinssetzung von Kategorie und Gestalt, gilt, was oben zu Einem und Anderem im Unterschied zu Einheit und Andersheit gesagt wurde. Einen interessanten Einwand zur Hegeischen Ontologie des Sozialen macht J. Heinrichs, wenn er meint, daß bei Hegel der Andere als gegenständliches Negat erscheine, das zu überwinden sei (vgl. „Fichte, Hegel und der Dialog", Theologie und Philosophie 47,1, 1972, 128-131, neuerdings näher durchgeführt in einer Vorlesung zur Sozialphilosophie in St. Georgen, Frankfurt, Manuskript, S. 19). Die Schwierigkeit des dagegengestellten ,dialogischen' Ansatzes ist, daß es nun nicht mehr ohne weiteres möglich ist, über Dualität hinausgehende personale Verhältnisse zu begreifen. (Vgl. auch M. Theunissen, der in seinem Buch Der Andere, Berlin, 1965, das eine Sozialontologie zum Gegenstand hat, sich auf duale Verhältnisse beschränkt). Der Hauptvorteil der Hegeischen Philosophie im sozialen Bereich ist doch gerade die Erfassung verschiedener Gestalten oder Gebilde, die das duale

Ontologie (Logik) und Realphilosophie

21

Die Konzeption des konkreten Allgemeinen ersetzt Forderungen an Einzelne, also ein ethisches Sollen, durch die Aufstellung von ontologisch diagnostizierbaren Gestalten oder relationalen Sachverhalten50, ähnlich wie es Aristoteles in seiner Politik (und anders Plato in seinem Staat) nicht-kategorial tun. Damit sind allerdings nicht alle Probleme einer solchen ontologischen Konzeption auf realphilosophischer Ebene aus der Welt geschafft. Wohl das wichtigste Problem ist der Sinn einer (kategorial dargetanen) Inklusion der vorangegangenen Sozialgebilde im Staat und der Sinn der darin liegenden Teleologie, die den Staat favorisiert, zum Zweck macht. Hier sind einläßliche Klärungen nötig, die in unserem Zusammenhang - bis auf die im folgenden noch zu machenden Bemerkungen - nicht gegeben werden können 51 .

Verhältnis überschreiten. Die Negatthese, die sich am ehesten in der Phänomenologie des Geistes (etwa bei ,Herr und Knecht') aufdrängt, ist denn audi durch begriffslogische Einheitsverhältnisse, so sehr auch diese duch Negation rekonstruiert werden, überhöht und überwunden. - Heinrichs versucht die Beschränkung auf Dualität durch Anwendung eines (Kantischen) Kategorienschemas auszuweiten (etwa: ,duopersonal', ,multipersonal' und .universal'), aber eine solche Ausweitung müßte konstruiert werden und nicht durch Anwendung von Quantitätskategorien Zustandekommen. Der nominalistische Charakter der Position scheint so nicht überwindbar. - Hingewiesen sei auf ein weiteres Denkmittel dieser Position, die Idee nämlich, Reflexionsstufen zwischen Ich und Anderem vorzusehen: Zu-sich-Zurückkehren aus der Beziehung zum Anderen, Innewerden dieser Beziehung, Vergewisserung dieses Innewerdens, und schließlich Feststellung, daß weitere Reflexionsschritte nichts Neues mehr eröffnen (nach H . Wagner, Philosophie und Reflexion, 40 f.). Hiermit läßt sich eine Theorie faktischer Normen entwickeln, ähnlich wie in der systemtheoretischen Soziologie T. Parsons' und N . Luhmanns, die Normen durch Erwartungen und Erwartungen von Erwartungen dartun. Auch von hier aus wäre ein mehr als ,duopersonaler' Bereich erschließbar, indem eben die Personen zu einem Sozialgebilde gehören, die in die Reflexions- oder Erwartungsbezüge einbezogen sind. Allerdings bleiben auch diese Bestimmungen formal, so sehr Heinrichs den Reflexionsstufen auch Werte zuordnet. Es wird interessant sein, die weitere Ausbildung dieses Konzepts zu verfolgen. 50 51

Hier ist der Ort für F. Schneiders Abhandlung zu Hegels Propädeutik. Für die spezielleren Fragen der Teleologie des Staates im Verhältnis zur Gesellschaft siehe K. Hartmann, „Praxis: A Ground for Social Theory?", Journal of the British Society for Phenomenology, 1,2, 1970, 47-58, bes. 53 und 57 f., „Systemtheoretische Soziologie und kategoriale Sozialphilosophie", Perspektiven Bd. V, „Ideen zu einem neuen systematischen Verständnis der Hegeischen Rechtsphilosophie, Perspektiven der Philosophie Bd. 2, „Gesellschaft und Staat - Eine K o n f r o n tation von systemtheoretischer Soziologie und kategorialer Sozialphilosophie", Akten des Stuttgarter Hegel-Kongresses 1975 (erscheint demnächst). Vgl. auch R. Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, und F. Schneider, Systemtheoretische Soziologie und dialektische Sozialphilosophie. — Wir übergehen hier H . Wagners Konzept für den sozialen Bereich. Wagner denkt an axiotische Geltungsbereiche (Ethisches, Ästhetisches, Ökonomisch-Soziales), die er durch Einführung des Wertgedankens theoretisiert (Philosophie und Reflexion, §§ 25—28).

22

D i e ontologische Option

Wenn wir einen solchen kategorialen Aufriß Hegels - als Aufriß einer normativen Ontologie - verteidigen, so sind wir auf den Vorwurf der Antiquiertheit gefaßt. Haben nicht Max Weber und V. Pareto, um nur diese zu nennen, ein solches schönes Bild ersetzt durch eine soziologische Theorie idealtypisch faßbarer Handlungsrationalität bzw. der Elitenbildung und Elitenherrschaft:? Ist der Staat nicht Machtapparat? Muß nicht das Interesse Erscheinungen wie der Bürokratie (so Max Weber) gelten, oder dem Legitimationsdefizit des Staates gegenüber der Gesellschaft (so Habermas)? Oder muß man nicht zumindest die Rolle des Staates als Exponent von gesellschaftlichen Interessengruppen beklagen (so Forsthoff) ? Diese verschiedenen Anschnitte mögen interessant und wichtig, mögen audi ein ernster Hinweis auf empirische Gewichtsverlagerungen sein (wobei etwa Forsthoff den kategorialen Rahmen immer noch anerkennt). Sie tangieren aber nicht die hier vertretene These, daß auch der Sozialbereich in einer normativen Ontologie kategorial ordenbar ist und daß zu kurz gegriffen wird, wenn man ihn soziologisch (oder, allgemeiner: nominalistisch) sieht52. Es ergibt sich für uns denn auch nicht, daß die moderne soziale Situation nur noch eine Theoretisierung von soziologischen Begriffen aus gestatte 53 .

Linearität

Der Hegeischen Philosophie, und auch der hier erwogenen, an sie angelehnten kategorialen Ontologie, inhäriert, methodologisch betrachtet, ein besonderes Problem, das kurz beleuchtet sei. Die Hegeische dialektische Methode beinhaltet - unter dem Gesichtspunkt der Voraussetzungslosigkeit, nach der noch nicht Begründetes nicht in Anspruch genommen werden darf - eine lineare Durchlaufung aller rezipierten

u

Insofern Wagners Durchführung nicht kategorial, sondern axiologisdi orientiert ist, können wir uns ihr nicht anschließen. - Bei W. Cramer ist der soziale Bereich, soweit wir sehen, nur in ethischer und rechtlicher Weise theoretisiert, so daß sich wiederum ein Eingehen unsererseits erübrigt. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Abschnitte 91-96, 97-98. Instruktiv ist eine nominalistische Kritik am Gedanken des konkreten Allgemeinen und seiner kategorialen Differenzierung, wie sie sich in J.-P. Sartres Critique de la raison dialectique, Paris, 1960, findet (vgl. etwa ebda. 381). Vgl. hierzu K. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie, Berlin, 1966, 135 ff., bes. 140-144. Eine solche Theoretisierung kann - als Bestandsaufnahme — auf Entfremdungsthesen, normativ gewendet jedoch auf Demokratisierungskonzepte für alle sozialen Ebenen hinauslaufen.

Linearität

23

Kategorien. Nun gilt, zumindest für die Sozialgebilde, die in der Philosophie des Geistes, näher in der Rechtsphilosophie, vorkommen, daß sie einerseits so linear geordnet werden müssen, daß die Unvollkommenheit eines antecedens logisch weiterführt zu einem consequens (abstraktes Recht zu Moralität, diese zu Sittlichkeit, innerhalb dieser Familie zu Gesellschaft, diese zu Korporation und Staat) 54 . Andererseits muß aber entgegen dem linearen Verfahren gelten, daß die realiter koexistierenden Gebilde verschieden hoher Kategorisierung von einander betroffen sind: ζ. B. Familie ist anders im Staat, Gesellschaft ist anders im Staat. Die Vorwegnahme des Korrektivs ist aber auf der gegebenen Stufe methodologisch nicht erlaubt, da ja die Defizienz der Stufe gerade weiterführen soll (wiewohl Hegel öfters gegen die Linearität sündigt, etwa bei der Behandlung der Stände oder der Institutionen)55. Es gelingt also nicht, diese Antezedentien so zu zeigen, wie sie in einer Darstellung des Konkreten zu sein haben. Oder, es gelingt nicht, die Rückeinflüsse vom Ende her zu zeigen, Interdependenzen und relative Eigenständigkeit (etwa Subsidiarität und ein Kompositverhältnis wie das Gemeinwohl) zu theoretisieren. Die kategorialen Einsichten zu Familie, Gesellschaft und Staat bleiben richtig, nur ist die Darstellung des Konkreten, oder die Sachtheorie (in die Hegel oft etwas unvorsichtig übergeht) mit einem Mangel behaftet, der eine ergänzende Reflexion auf die Koexistenz von verschieden hoch Kategorisiertem verlangt56. An dieser Stelle vielleicht zu spezielle Überlegungen wären anzustellen, um im Rahmen einer kategorialen Position in dieser Frage weiterzukommen. Wir denken an die Aufgabe, gleichsam in einem - zu liefern44

Hegel hat immerhin das Fiditesche Einheitstheorem vom absoluten Staat (in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters) wie auch das nachfolgende Marxsche Theorem vom Gattungsleben vermieden. Die kategoriale Artikulation in Familie, Gesellschaft, Korporation und Staat ist neben der Konzeption des konkreten Allgemeinen überhaupt der eigentliche Gewinn, was auch immer die anschließenden Probleme sein mögen. - Zu Marx vgl. K . Hartmann, Die Marxsche Theorie, 49, 146-149, 1 7 4 - 1 7 6 . Zu Cieszkowski, der nicht unähnlich wie Fichte ein Wirklichwerden der Philosophie umgekehrt auf der obersten kategorialen Ebene vorsieht, vgl. ebda., 5 2 - 5 5 .

"

Vgl. K . Hartmann, Die Marxsche Theorie, 107 ff., und „Ideen zu einem neuen systematischen Verständnis der Hegelsdien Rechtsphilosophie", passim. Hier ist der Ort, Hegels Rechtsphilosophie mit der modernen systemtheoretischen Soziologie in Beziehung zu setzen. Vgl. F. Schneider, Systemtheoretische Soziologie und dialektische Sozialphilosophie und weitere in Anmerkung (51) angegebene Literatur. Man wird, so zeigt ein näherer Blick auf die Sachlage, nicht gezwungen sein, die kategoriale Differenzierung und Rangierung, die im Staat — als einem Ganzen, das anders Kategorisiertes inkludiert - kulminiert, als Fehler abzutun (etwa unter dem Motto der .anomalen Menge', das N . Luhmann zur Kritik verwendet. Soziologische Aufklärung, Opladen, 1971, 138).

54

24

Die ontologisdie Option

den - zweiten Teil der Rechtsphilosophie das Koexistenzproblem aufzunehmen. Hier wäre die Abwandlung aufzuzeigen, die sich ergibt, wenn man neben der kategorialen Hierarchie des Sozialbereichs die Interdependenzen berücksichtigt und in einer nicht mehr linearen (progressiven) Dialektik, die man eine ,statische* nennen könnte, vorzuführen. Dies hätte seine Berechtigung darin, daß der Staat die abschließende Kategorie der Realphilosophie ist, so daß für solche Realität eine terminierende (nicht mehr in der Realität weiterverweisende, sondern nur noch in die Irrealität des absoluten Geistes weiterverweisende) Dialektik legitim wäre. Hegel hat selbst die Idee einer (von uns so genannten) statischen' Dialektik, wenn er den politischen Staat theoretisiert. Berücksichtigt man, daß Hegel nicht berechtigt ist, den Staat nur als politischen Staat näher zu theoretisieren, sondern auf der politischen Ebene gerade den Gesamtstaat in seiner Konkretion hätte theoretisieren müssen, so ergäbe sich, daß die dortige statische Dialektik (oder ein limitatives Relationssystem) zur Theoretisierung des Gesamtstaats im Verhältnis zu den politischen Vielen wie zu Gesellschaft und Familie und Einzelnen hätte herangezogen werden müssen. Entsprechend ergäben sich Forderungen zur Erreichung des Gemeinwohls und einer Affirmation des Staates durch die Vielen und Einzelnen, die geschichtlich eingelöst werden können durch Herstellung von Verhältnissen, die eine Affirmation des Staates durch die befriedigten Einzelnen (Lorenz von Stein würde sagen: durch die Hebung der niederen Klassen) gestattet. Hier böte sich ein geschichtlicher ,Realabschlußc der kategorialen Ontologie (neben dem Abschluß beim Absoluten der Philosophie), der verschieden ist von der Hegeischen Systematisierung einer Ideengeschichte von Volksgeistern in der Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie.

Hegels Phänomenologie des Geistes Einen von Logik und Enzyklopädie verschiedenen Zugang zu einem Teil des überkommenen (und von Hegel erweiterten) Kategorienbestandes hat Hegel in der Phänomenologie des Geistes erschlossen. Hier geht er vom Bewußtsein aus und durchläuft verschiedene Stadien der Identifizierung zwischen Subjekt und Objekt (sinnliche Gewißheit und das Dieses, Wahrnehmung, Verstand, Vernunft, und - noch einmal höher kategorisiert in sozialer Konkretion - Sittlichkeit, Aufklärung, Anarchie, Moralität), bis hin zum spekulativen Standpunkt (absolutes Wissen), der den Anschluß an die Logik herstellt. Der mit der Phänomenologie

Hegels Phänomenologie

des Geistes

25

des Geistes bezeichnete Anschnitt hat die Besonderheit, eine Voraussetzung — die des Bewußtseins als dem Gegenstand opponiert - zunächst zu machen, sie dann zu reflektieren und in Fortbestimmung spekulativ aufzulösen. Die dialektische Deutung des thematischen Bewußtseins ist ,für es' nidit schon einsichtig, sondern nur ,für uns', die wir dialektische Einheitsverhältnisse verstehen. Die Logik, oder Ontologie, der Phänomenologie, die den Gang des Bewußtseins oder ,erscheinenden Geistes' zu gehen gestattet, kann daher nicht in der Phänomenologie thematisiert werden; das Subjekt erreicht ja erst am Schluß den Standpunkt, auf dem Ontologie betrieben werden könnte. Von daher kann die Phänomenologie keine vollständige Philosophie mit Letztbegründungscharakter sein57. Das hindert nicht, daß die Phänomenologie als partielle Kategorienlehre zu lesen ist58. Das Problem der Phänomenologie des Geistes, inwieweit sie als Einleitung zur Logik Element des Systems ist, oder inwieweit ihre Thematisierung etwa des sozialen Bereichs ihr Recht hat, kann hier nicht zureichend angesprochen werden59. Es mag genügen, sie als eine Einleitung zur Logik zu betrachten, die entbehrlich ist; vielmehr ist es möglich, ihren Standort in die Ontologie unter subjektiven Geist' einzuordnen, wie Hegel es in der Enzyklopädie getan hat. Insofern sie andererseits einen in sich geschlossenen Gang geht, der die Konkretion der Philosophie des Geistes mitumschließt, ist eine Betrachtung auf Konvergenzen und Divergenzen zur Geistphilosophie des Hegeischen Systems weiterhin aufgegeben (man denke etwa an die von der Rechtsphilosophie abweichende Deutung und Plazierung von Sittlichkeit und Moralität). Uns scheint bei allen Komplikationen, daß die fertige Gestalt der Hegeischen Philosophie mit der Logik und der Enzyklopädie (einschließlich der Rechtsphilosophie als partieller Langfassung), die wir als Kategorienlehre lesen, gegeben ist. Nur hier ist Voraussetzungslosigkeit, Letztbegründung und Methode rein verwirklicht.

57

58

69

Es ist nidit möglich, die subtilen Untersuchungen zu Theorie und Thema der Phänomenologie des Geistes, zu ,für uns* und ,für es', von G. A. Gabler bis zu Werner Marx hier zu berücksichtigen. Die entscheidende Klärung der in der Phänomenologie notwendigerweise latenten Logik oder Ontologie sehen wir in dem Buch von J. Heinrichs, Die Logik der Phänomenologie' des Geistes. Zu Werner Marx vgl. meine Rezension in Hegel-Studien Bd. 8, 1973, 199-201. Vgl. meine Rezension zu J. Loewenberg, Dialogues on the Life of Mind, Journal of the History of Philosophy, VI, 1, 1968, 91-95. Wir müßten denn sonst die subtilen Untersuchungen hierzu, von R. Kroner über T. Haering zu O. Pöggeler und L. B. Puntel würdigen oder doch in repräsentativer Vollständigkeit anmerken.

26

Die ontologische Option Geicfo'ckie

und

kategoriale

Philosophie

Ein weiteres Problem bei Hegel und also auch für die kategoriale Lesart seiner Philosophie ist die Geschidite. Ein Aspekt des Problems ist schon angesprochen worden, nämlich, daß Hegel einen Entdeckte Standpunkt einnimmt, der besagt, daß ein Kategorienbestand abschließend rationalisiert werden kann. Damit ist die Hegeische Philosophie in einem Sinn geschichtlich, wenn auch nicht einfach relativ auf die Geschichte, so sehr Hegel eine solche Relativität in seinem Dictum von der Philosophie, die die „Zeit in Gedanken erfaßt" sei, suggeriert60. Diese Relativität ist eine besondere, die nur dann relevant ist, wenn die Entelechiefestlegung gestürzt werden sollte. Aber die Hegeische Philosophie ist gesdiiditlich nodi in einem anderen Sinn. Hegel hat in seiner Geschichtsphilosophie, aber auch in seiner Philosophiegeschichte und auch in der Religionsphilosophie und in der Ästhetik, die zeitliche Progression des,Geistes' in der Geschichte - als Progression des Staates, der philosophischen Erfassung der Wirklichkeit, des Verhältnisses von Mensch und Gott und des Verhältnisses von Mensch und Kunstwerk - dialektisch zu deuten versucht. Damit würde etwa die üec^iip^i/osop^ie als Resultat einer geschichtlichen Dialektik abhängig von eben dieser Dialektisierung der Geschichte. Ähnliches gilt für die anderen Vorlesungszyklen: die Religion wird geschichtlich zur Philosophie, die Kunst durchläuft Gattungen als geschichtliche Stadien und hat mit Hegels Zeit ihr Ende erreicht, wobei im übrigen die Gegenläufigkeit eines Abstiegs mit der Romantik (der viele Künste betrifft) und einer Erreichung des Höhepunkts in der Poesie, die eine romantische Kunstform ist, ihrerseits Probleme aufwirft. Generell zur Geschichtlichkeit der Hegeischen Philosophie in diesem letzteren Sinne ist zu sagen, daß eine Dialektisierung der geschiditlichen Progression und damit der geschiditlichen Zeit (nicht als Begriff von Zeit, sondern als Verlauf von Zeit) nicht mehr Kategorienlehre ist, sondern Metaphysik. Hier werden (mit gewissen Ausnahmen für die Ästhetik) aufeinander folgende Ereignisse, Vorkommnisse von Staatsformen, philosophische Konzeptionen, Religionen oder Kunstausübungen, also Existenzsetzungen, als begründbare Ideenprogression behandelt: die zeitliche Progression hält sich auf der jeweiligen kategorialen Ebene (Staat, Philosophie, Religion, Kunst; die Dialektisierung betrifft also eine Alterierung einer Kategorie, bei der Religion allerdings bis hin zu ihrem ·· Rechtsphilosophie,

Vorrede, 34.

Geschichte und kategoriale Philosophie

27

Übergang in Philosophie), führt aber nicht, wie die systematische Dialektik, durch eine Reihe von Kategorien zum Abschluß als Geltungsgrund von Kategorien. Für diese Fassung der Dialektik gibt es keine Rechtfertigung derart, wie sie die kategoriale Philosophie gestattet, so sehr wir sehen, daß eine Ideenprogression bei geeigneter Auswahl und Verknüpfung ein dialektisches Schema erfüllen kann (etwa im Sinne des Dictums in der Ge$c&ic&is/?/?i/oso/>&ie ,Einer frei, einige frei, alle frei') 61 . Befremden muß jedoch wiederum die programmatische Progression von Staatsideen (oder Volksgeistern) und der Abschlußgedanke, den Hegel in der Geschichtsphilosophie — als Abschlußgedanken für die Philosophie des objektiven Geistes - beruft: der Weltgeist. Er ist eine metaphysische Instanz (mit der Pointe, gerade das Ideelle der geschichtlichen Erscheinungen, aber eben doch ein Individuum, für das die Welt ideell ist, zu sein), so sehr diese Instanz auch als ein normatives Element aufgefaßt werden kann, das die geschichtlichen Gestalten in ihrer Geltung relativiert und so als Korrektur des Hegeischen Rechtspositivismus im Staatsrecht verstanden werden mag. Wir haben schon oben angedeutet, wie wir uns eine andere geschichtliche Artikulation der Hegeischen Philosophie des objektiven Geistes denken. Es bleibt nur, soweit wir streng kategorial und nicht metaphysisch vorgehen wollen, und in Hegels systematischer Philosophie auch ein solches Vorgehen erkennen, sich von einer solchen metaphysischen .Anwendung' der Dialektik zu distanzieren, wie denn auch das Hegeische System, als systematische, aber eben terminierende Philosophie keine Fortschreibung seiner selbst oder seiner Festlegungen in die Zukunft gestattet62. 41

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hrsg. T. Litt, Stuttgart, 1961 (= Geschichtsphilosophie), 61. Ein nicht-konstitutives, sondern, wenn man will, vermeintlich regulatives Verständnis soldier Geschiditssystematisierung kann allerdings, als Herstellung von Verständnis von Geschichte, attraktiv sein. So verschiedene Denker wie T. W. Adorno und K. Ulmer sind ihm verpflichtet, Adorno in seiner reaktiv von Hegel abhängigen Kritik der Geschichtsphilosophie ( N e g a t i v e Dialektik, Frankfurt, 1966, 307 ff.), Ulmer in seinem Geschichtsentwurf (Philosophie der modernen Lebenswelt, Tübingen, 1972, 383), so sehr in beiden Fällen das Ende der Metaphysik für gegeben erachtet wird. Zu Adorno, vgl. meine Rezension in German Studies, Philosophy and History, I, 2, 1968, 147-149, zu Ulmer meine Rezension im Philosophischen Jahrbuch 83/1, 1976. - Wenn das Geschichtsverständnis einmal nicht stimmt, so kann man sich mit Fichte trösten: „Ob nun das Ihren Augen gegenwärtige wirkliche Leben also aussieht, wie dasjenige, welches mir α priori... aus dem Prinzip erfolgt, diese Beurteilung f ä l l t . . . Ihnen anheim . . . Habe ich es nach Ihrem Urteile getroffen, so ist das recht und gut; habe ich's nicht getroffen, so haben wir doch wenigstens p h i l o s o p h i e r t . . G r u n d z ü g e des gegenwärtigen Zeitalters, Hamburg. 1956, 22.

• 2 Der Gedanke einer Fortschreibung der Hegeischen Philosophie, soweit sie den ob-

28

Die ontologische Option

Die Idee der Rekonstruktion einer Entelechiesituation bleibt leitend, so daß bei grundsätzlichen Abweichungen vom Rekonstruierten eine neue Philosophie her muß, gemäß dem Dictum von der Eule der Minerva, die erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt. Einige kritische Bemerkungen zu Marx mögen noch angefügt werden. Beschränken wir uns auf zwei Punkte: die Übernahme der geschichtlichen Version der Hegeischen Philosophie und die kategoriale Umkehrung der Hegeischen Philosophie als systematischer. Zum ersteren Punkt: Marx entwickelt Progressionen der Selbstwerdung des Menschen (in den Pariser Manuskripten, in der Deutschen Ideologie, im Kapital), worin geschichtliche Entwicklungen systematische Bedeutung haben 63 . Die Mixtur von Systematik und Geschichte ist typisch für Marx. Ein weiterer, hier nicht näher anzusprechender Punkt, ist, daß Marx die Hegeische Dialektik (nach den Pariser Manuskripten und der Deutschen Ideologie) benutzt nicht für die Aufstellung einer abschließenden Affirmation, sondern zur Kritik. Seine Theorie ist eine Kritiktheorie. Dann tritt allerdings das Problem ein, daß die Gründe für die Unhaltbarkeit des (kritikwürdigen) Resultats (des Kapitals) sich nicht rechtfertigen können durch das Resultat (wie es in der affirmativen Systemanlage bei Hegel der Fall ist), da es ja falsch ist64. Zum anderen, schon angesprochenen Punkt: für Marx gilt eine Feuerbachsche Umkehrung der Umkehrung. Hegel habe die Prioritäten von Sein und Begriff umgekehrt zugunsten des Begriffs, und dies sei wieder umzukehren. Entsprechend realphilosophisch: der Staat wäre eine Entfremdung zugunsten des Geistes, die - geschichtlich/systematisch - rück-

jektiven Geist betrifft, findet sich bei den Junghegelianern, besonders bei A. Rüge, „Zur Kritik, des gegenwärtigen Staats- und Völkerrechts", Hallische Jahrbücher, N o . 151-156, Leipzig, 1840-1842. Vgl. dazu K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, 55-67. - Ein moderner Versuch, die Fortschreibung der Hegeischen Rechtsphilosophie schon bei Hegel selbst anzusetzen, findet sich bei K.-H. Ilting in den Einleitungen zu Band 1 und 4 seiner Ausgabe der Hegeischen Rechtsphilosophie (Hegel, Rechtsphilosophie, Edition Ilting, Stuttgart, 1973 ff.), wo unter dem Motto der Liberalität Unterschiede in der Hegeischen Rechtsphilosophie bei ihrem mündlichen Vortrag in den Jahren 1818/19, 1822/23 und 1824/25 im Vergleich zur Druckfassung von 1820 analysiert werden. Wir glauben, daß diese Unterschiede sehr gering sind und die These einer über die Druckfassung der Rechtsphilosophie hinausgehende, einer Fortschreibung der Rechtsphilosophie gleichkommende - oder eine Fortschreibung in Aussicht stellende - Liberalisierung nicht gerechtfertigt ist. Vgl. hierzu meine Rezensionen zu den Bänden 1 und 2, und 3 und 4 der Ilting-Ausgabe, German Studies, Philosophy and History, 7,2, 1974, 137-143, und 9,1, 22-27. β3

Vgl. Κ. Hartmann, Die Marxsche «4 Ebda., 176-184, 248-251, 574 ff.

Theorie,

218 f.

Geschichte und kategoriale Philosophie

29

gängig zu machen ist zugunsten eines - kategorial nach unten nivellierten, paradoxen — Gemeinwesens als Gattungsleben. Die hierin liegende Kritik an Hegel ist vom kategorialen Standpunkt her abzulehnen (soweit von Marx nicht immanent Mängel, wie der Ständestaat, angegriffen werden). Eine kategoriale Betrachtung der Welt kann nicht von daher kritisiert werden, daß man, wie Marx, meint, das Denken sei nur eine Spezialproduktion des Seins, d. h. des Menschen und der Gesellschaft, die Mensch und Gesellschaft entfremde. Dies ist ein anthropologisches Mißverständnis der kategorialen Intention 65 . Die kategoriale Ontologie ist immun gegen eine solche auch ideologiekritische Kritik, die überhaupt die kategoriale Begriffsbildung relativiert, indem sie etwa den Begriff - als ,Aneignung' - für den bürgerlichen Eigentumsstandpunkt reklamiert66. Die kategoriale Ontologie theoretisiert das, was in einer Letztbegründungstheorie der angegebenen Art dargetan werden kann und ist nicht - wegen dieses Unternehmens — schon ideologisch kritisierbar. Es würde zu weit führen, auch moderne, neomarxistische Positionen hier aufzugreifen unter dem Gesichtspunkt, daß sie die kategoriale Ontologie Hegels zu unterlaufen versuchen67. Klar ist, daß auch hier kategoriale Einsichten zu Gesellschaft und Staat (etwa im Gedanken der Kommunikationsgemeinschaft) verletzt sind. Daß ein generelles Desinteresse an Theorie (gerade auch sozialer Theorie) zugunsten der Praxis vor der kategorialen Ontologie nicht bestehen kann, ergibt sich aus der Überlegung, daß diese ja affirmative Verhältnisse theoretisiert, so daß ein Hinausgehen aus ihr — wie es etwa Marx im Wirklichwerden der Philosophie denkt - , entbehrlich ist. Die kategoriale Ontologie übergreift immer schon die Wirklichkeit, die für jene Position erst durch Praxis zu konstituieren wäre. Eine Kritik am Bestehen muß kategorial geleitet sein, sie darf nicht empirische Kritik mit kategorialem Umsturz oder kategorialer Skepsis gleichsetzen68.

• 5 Ebda., 120-124. " Vgl. H. Marcuse, Reason and Revolution, N e w York 1954, 189-191. 91 Zu Staat und Gesellschaft siehe J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt, 1973, passim, zur Kommunikationsgemeinschaft ders., „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz", Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschungf (mit N . Luhmann), Frankfurt, 1971, 101-141. Vgl. auch ders., Rede aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises, J. Habermas, D. Henrich, Zwei Reden, Frankfurt, 1974. • 8 Vgl. zu einem solchen Quidproquo von empirischer und apriorischer (kategorialer) Kritik K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, 231-234, 463, 568.

30

Die ontologische Option

Scbluß Die vorstehende Interpretation der Hegeischen Philosophie als kategoriale Ontologie - oder die Interpretation der kategorialen Ontologie als prinzipiell Hegeische Philosophie - pointiert die Gedanken der Kategorialität, der Dialektik als Begründungsmethode, eine so mögliche systematische Hermeneutik und die damit wiederum mögliche diagnostische und kritische Funktion. Die Bedeutung der kategorialen Ontologie ist in dem Bereich, der der Hegeischen Logik entspricht und Letztbegründungsfragen enthält, eher nur von fachphilosophischem, im Bereich des Sozialen jedoch auch von allgemeinerem Interesse. Sie bietet eine Handhabe zur Beurteilung von Sozialkonzepten, und durchaus audi dann, wenn die genuin Hegeische Ausführung Mängel aufweist. Wir versprechen uns von dieser philosophischen Disziplin eine erneute und fortdauernde Fruchtbarkeit.

Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre von Friedhelm Schneider

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung II. Der Ansatz beim Bewußtsein 1. Die ontologisdie Bestimmung des praktischen Bewußtseins 2. Exkurs zum Begriff einer ontologischen Theorie 3. Der Gegensatz des Bewußtseins in der Praxis 4. Das theoretische Bewußtsein

35 40 40 43 47 49

III. Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Kants

55

IV. Rückblick und Ausblick

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V. Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre 1. Der Begriff des Rechts und das Eigentum 2. Der Staat 3. Die Pflichtenlehre 4. Die Religionslehre VI. Die Propädeutik und das Problem einer Einleitung in das ontologische System Literaturverzeichnis

70 70 77 94 101 105 115

I. Einleitung Am 15. November 1808 wurde Hegel zum Rektor des Nürnberger Ägidiengymnasiums und zum Professor der philosophischen Vorbereitungswissenschaften an dieser Schule ernannt. Er hatte die Schüler der vier oberen Klassen in der Philosophie und in der Religionslehre zu unterweisen. Im Unterricht pflegte er nach eigenen Manuskripten zu diktieren, die er anschließend erläuterte. Aus diesen Nachschriften und den Originalheften Hegels stellte erstmals Rosenkranz die „Philosophische Propädeutik" zusammen. Bis zu seiner Berufung an die Heidelberger Universität im Jahre 1816 blieb Hegel in Nürnberg. In dieser Zeit arbeitete er an der „Wissenschaft der Logik", die 1812 erschien, und entwarf auch schon den Plan zur „Enzyklopädie", die er dann nach kurzem Aufenthalt in Heidelberg 1817 veröffentlichte. Während er mit der Propädeutik den, neben der „Phänomenologie des Geistes" von 1807, zweiten Versuch unternahm, in sein System einzuführen, wurde so dies System selbst entwickelt und ausgeführt, - sieht man von den Jenenser Schriften ab —, und zum Teil finden sich audi inhaltlich gleiche Philosopheme in beiden. Diese drei Tatsachen - die Gleichzeitigkeit der Entwicklung von Propädeutik und System, der Gedanke, daß jene ja in dies einführen will, und schließlich die Ubereinstimmung beider in einzelnen Teilen — lassen uns an der „Nürnberger Propädeutik" weniger ein biographisch-philologisches Interesse nehmen als vielmehr ein systematisches. Da sie in das System Hegels, wie es in der Logik und der Enzyklopädie vorliegt, einführen soll, kommt ihr selbst systematische Bedeutung zu, zumal sie selbst systematisch verfährt. Die Propädeutik enthält drei Kurse für die Oberstufe des Gymnasiums. Eine Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse, eine Phänomenologie des Geistes und eine Logik für die Mittelklasse und schließlich Begriffslehre und philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse. - Nachdem die Schüler den ersten Kursus — wir werden später auf ihn zu sprechen kommen - durchlaufen haben, sollen sie anhand der Phänomenologie, Hegels erstem Versuch einer Einführung, den Standpunkt des Systems erlernen. Sie werden nun den Weg der Erfahrung des Bewußtseins geführt, das sich über die Stadien der sinnlichen Gewißheit,

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Einleitung

der Wahrnehmung, des Verstandes und des Selbstbewußtseins zu der vernünftigen Einsicht erhebt, daß seine Gewißheit Gewißheit der Wahrheit ist, d. h. es erhebt sich zum Wissen der „Einheit der Gewißheit und des Seins oder der Gegenständlichkeit" 1 . Mit dem Kapitel „Vernunft" bricht die Phänomenologie der Propädeutik ab, sie schreitet nicht wie die große Phänomenologie zu den konkreten Gestalten des Geistes - wie Sittlichkeit und Religion - fort, die Einsicht der Vernunft genügt ihr, um den Standpunkt der Logik verständlich zu machen. Ebenso fehlt in ihr dem erfahrenden Bewußtsein die Leitung und der Kommentar des wissenden Bewußtseins, die doppelte Theorieführung des „für uns" und des „für es" wird aufgegeben. Es mag sein, daß Hegel diese Rolle im Unterricht selbst übernommen hat, wir wissen das nicht, jedenfalls stimmt die uns vorliegende Gestalt der Propädeutik in diesen Abweichungen von der großen Phänomenologie mit der Phänomenologie der Enzyklopädie überein, die dort als Theorem der Philosophie des subjektiven Geistes erscheint. Hier allerdings soll sie ja ihren Charakter als Hinführung zur Logik behalten, und da gereicht ihr das Fehlen des wissenden und kommentierenden Bewußtseins wohl zum Nachteil. Der Standpunkt der Identität von Gewißheit und Wahrheit, der Kongenialität von Denken und Sein wird innerhalb der nun folgenden Logik als Standpunkt der Freiheit, als Standpunkt des Denkens, das sich selbst auf „autonomische Weise" 2 zum Inhalt hat, neuerlich erläutert. So soll verständlich werden, daß in der Immanenz des Denkens Seinsbestimmungen aufgestellt werden können, weil das Denken bei sich ist auch im anderen seiner selbst. Dies ist ebenso der Grundgedanke der Enzyklopädie des dritten Kurses, die die Logik noch einmal wiederholt, darüber hinaus aber noch einen realphilosophischen Zyklus der Natur und des Geistes bietet, „die angewandte Wissenschaft, als das System der realen oder besonderen Wissenschaften, zum Unterschiede von der reinen Wissenschaft oder der Logik" 3 . Diese Enzyklopädie des dritten Kurses wird vorbereitet durch eine Begriffslehre, durch eine etwas ausführlichere Wiederholung des dritten Teils der Logik des zweiten Kurses. Die wesentliche Verstehenshilfe sowohl für die Logik wie auch für die Enzyklopädie bleibt aber der Gedanke der Freiheit. Die gedankliche Entwicklung innerhalb der Logik und der Enzyklopädie selbst bringt Hegel kaum zur Sprache, sie sind — sieht man von kleineren Abweidlungen ab: so fehlt

1

P P zweiter Kursus § 42 erste Abteilung. * P P zweiter Kursus, zweite Abteilung § 1. s PP dritter Kursus, zweite Abteilung § 11.

Einleitung

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etwa in der Enzyklopädie der Propädeutik die bürgerliche Gesellschaft und das Abschlußtheorem bildet die Wissenschaft, nicht die Philosophie — wesentlich Abbreviaturen der entspredienden großen Werke, und es ist ihnen vornehmlich darum zu tun, die Stoffülle der Langfassungen aufzunehmen. Es bleibt zweifelhaft, ob sie wirklich geeignet sind, zum System hinzuführen, zumal sich das Verhältnis des zweiten und dritten Kurses zum System wohl auch nicht eindeutig bestimmen läßt. Geben sie selbst schon das System - Logik und Enzyklopädie sind ja in ihnen vorhanden, und jeder Kursus hat einen eigenen Einleitungsteil - , oder führen sie als ganze zum System hin, was man doch erwarten sollte, da sie als ganze ja die Propädeutik ausmachen? Wir wollen uns mit diesen Problemen nicht weiter beschäftigen. Es war uns nur darum zu tun, einen kurzen Blick auf Inhalt und Methode der beiden Kurse zu werfen, da wir sie im folgenden nicht weiter behandeln werden. Wir wollen uns vielmehr dem ersten Kursus zuwenden, der schon durch seine Stellung als Fundament ausgezeichnet ist und der in eben den Gedanken der Freiheit einführt, den die beiden anderen Kurse als Argument und Verstehenshilfe beanspruchen. Brachten der zweite und der dritte Kursus im Grunde vertraute Themen und eine vertraute Disposition des Stoffes in der Abfolge von Phänomenologie, Logik und Enzyklopädie, so steht dem der erste Kursus gegenüber, der, und das ist neu bei Hegel, durch die Theorie eines Sachgebiets, der praktischen Philosophie, ins System einführen will. Einleitend entwickelt er eine Theorie des praktischen Bewußtseins, die den Begriff der Freiheit als den affirmativen Fall einer Beziehung von Ich und Gegenstand exponiert 4 ; komplettiert wird diese Grundlegung durch Ausführungen zum theoretischen Bewußtsein. Als zwei einander koordinierte Themen folgen darauf die Rechts- und die Pflichtenlehre, die Lehre von Recht und Staat, und die Lehre von Pflichten gegen sich, von Familienund Staatspflichten, und von Pflichten gegen andere. Hegel folgt hier also nicht der Systematik seiner Rechtsphilosophie, die den Staat als den Bereich der Sittlichkeit der Moralität überordnet, sondern nähert sich der Disposition der „Metaphysik der Sitten" Kants, die sich ja auch in eine Rechtslehre und eine Tugendlehre teilt, d. h. das, was in späteren Werken Hegels in eine offensichtliche und ausdrückliche dialektische Ordnung gebracht wird, erscheint hier zunächst einander gleichgeordnet, in eine Form gebracht, die Schülern vielleicht eher zugänglich ist.

* s. dazu etwa P P erster Kursus Einleitung § 12.

Einleitung

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Dennoch meinen wir, daß darüber hinaus auch hier schon eine gedankliche Progression anzutreffen ist, und Dialektik zumindest angedeutet wird. So leitet etwa der Gedanke der Realisierung des Begriffs den Übergang vom Redit zum Staat 5 und von der Rechtslehre zur Pflichtenlehre 6 . Audi macht sidi Dialektik geltend im Grundbegriff der Freiheit als Bei sich sein im anderen seiner selbst, der Hegel eine kategoriale Diagnose und ontologische Bestimmung des Willens ermöglicht, schon hier kann er - anders als Kant - Trieb und Willkür als frei ansprechen7. So gelangt er dann audi - wieder im Unterschied zu Kant — zu einem positiven Rechtsbegriff, zu einer Fassung des Eigentums etwa, die dies als Freiheit im Gegenstand erscheinen läßt, als einen „Act des freien Willens, der etwas Absolutes in sich selbst ist" 8 . Und schließlich zeigt audi das Abschlußtheorem, die Religionslehre, in der Hegel den Gedanken des Absoluten, des Affirmativen, als Resultat aus der Pflichtenlehre dartut, daß der erste Kursus zumindest unterschwellig auch von einer dialektischen Disposition geleitet wird. Nicht also allein der Vergleich mit Kant wird unsere Aufgabe sein, sondern ebenso der Vergleich mit der ausgeführten kategorialen Theorie Hegels, namentlich mit der Rechtsphilosophie. Es scheint uns, als oszilliere der erste Kursus zwischen beiden Theorien, einerseits bemüht um Verständlichkeit für Schüler, denen ein ausdrückliches Eingehen auf Dialektik wohl nicht zuzumuten ist, andererseits bemüht eben um das Erlernen dieser Weise des Philosophierens. So wie, nach unserer Meinung, die Propädeutik beide Momente in sich enthält, wird auch unsere Arbeit auf beide aufmerksam zu machen haben. Daß sich dabei mitunter Doppeldeutungen ergeben werden, versteht sich darum von selbst. So kann etwa die Koordination von Rechts- und Pflichtenlehre im Sinne der kantischen Systematik ausgelegt werden, aber auch als ein Fehlen, bzw. Versetzen der Differenzstufe Moralität im Ubergang von Redit zu Sittlichkeit im Sinne der Rechtsphilosophie, was dann vielleicht ein bezeichnendes Licht darauf werfen könnte, wie Dialektik hier wirksam ist, und wie Hegel den Schülern Dialektik beizubringen suchte. Wenn wir so die gedankliche Progression betonen, die Theorie als einen eigenständigen systematischen Entwurf der praktischen Philosophie nehmen, wird dies den Text vielleicht etwas verfremden, wir hoffen aber, in einem Schlußkapitel diesen Eindruck, der entstehen könnte, richtigzustel-

5

PP * PP 7 PP 8 PP

erster erster erster erster

Kursus Kursus Kursus Kursus

Rechtslehre § 22. Pflichtenlehre § 34. Einleitung § 5 und Erläuterungen zur Einleitung § 19. Rechtslehre § 11.

Einleitung

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len und zu einem begründeten Urteil darüber zu gelangen, wieweit der erste Kursus seine Aufgabe, ins System einzuführen, erfüllt. Der erste Kursus der Propädeutik behandelt - vom entwickelten System her gesehen, aber auch nach seinen eigenen Worten 9 - Geistthemen wie Recht, Moralität, Familie, Staat und Religion, thematisiert diese Inhalte jedoch vom Begriff des Bewußtseins her. Diesen Ansatz gilt es zunächst zu verstehen. Schon hier werden wir bemerken, wie sich unter der thematischen Koordination der Begriffe eine dialektische Progression geltend madit. • s. dazu PP erster Kursus Einleitung § 1.

II. Der Ansatz beim Bewußtsein 1. Die ontologiscbe Bestimmung des praktischen

Bewußtseins

Das Bewußtsein bestimmt Hegel als die Beziehung von Ich und Gegenstand aufeinander 1 . Diese kann zweifach sein 2 : im einen Falle ist das Ich passiv und der Gegenstand Ursache von Bestimmungen in mir, das Ich ist insofern theoretisches Bewußtsein, im anderen Falle werden die Bestimmungen des Ich, seines Vorstellens und Denkens, Ursache für eine Veränderung der Gegenstände, das Ich ist hier praktisches Bewußtsein. In diesem praktischen Bewußtsein läßt sich nun aber ein ausgezeichnetes Verhältnis namhaft machen, es ist nicht nur Beziehung des Ich auf einen Gegenstand, vielmehr ist darin das Ich zugleich mit sich selbst befaßt. „Der Inhalt seiner Bestimmungen gehört ihm an und es erkennt sie für die seinigen" 3 , oder: das Ich qua praktisches Bewußtsein ist Selbstbestimmung, die Bestimmungen, die es trägt, sind seine eigenen, nicht die äußerlich gegebener Gegenstände wie im Falle des theoretischen Bewußtseins. Diese Selbstbestimmung wird — wie schon zuvor der Begriff des Bewußtseins - wiederum dichotomisch differenziert 4 , Hegel unterscheidet Trieb und „eigentlichen Willen", niederes und höheres Begehrungsvermögen. Aber in dieser Dichotomie setzt sich das trichotomische Verhältnis von Trieb 5 , Willkür 6 und Wille7 durch, und dies wird nun dialektisch artikuliert, d. h. von einer diäretischen Gleichordnung der Begriffe geht Hegel über zu ihrer dialektischen Genese, die wir nun aufzeigen wollen. Im Trieb ist der Mensch unmittelbar, von Natur, durch Bedürfnisse und Begierden bestimmt, er muß essen, trinken, schlafen etc., und er sucht die Gegenstände auf, die sein Verlangen befriedigen. Er hat auch

1

PP erster Kursus (im folgenden beziehen sich alle Zitate und Verweise aus PP auf den ersten Kursus) Einleitung § 2. 51 ebda. § 3. 3 ebda. § 4. * ebda. § 5 f. * PP Erläuterungen zur Einleitung § 10. * ebda. § 19. 1 ebda. § 20.

Ontologisdie Bestimmung des praktischen Bewußtseins

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den Trieb als den seinen, als eigene innere Bestimmtheit, die von sich ausgeht, aber er hat ihn ohne sein Wissen und Wollen und ist darum in dieser natürlichen Selbstbestimmtheit ebensowohl frei wie unfrei. Er verfolgt darin sein durch die Bestimmtheit des Triebs beschränktes Ziel, ohne einen Gedanken an seinen Zweck, an die Folgen seines Tuns und an die Mittel zu verschwenden. Er erwartet, daß der Gegenstand, der ihn befriedigt, ihm begegnet, und ist auch insofern einer ihm fremden Notwendigkeit unterworfen, die Erfüllung seiner Triebe bleibt zufällig. - Aber der Mensch erhebt sich in der Reflexion über seine natürliche Bestimmtheit und über die Naturnotwendigkeit 8 ; er macht sich Gedanken über sein Tun, untersucht die Tauglichkeit der Mittel zu seinem Zweck, betrachtet auch ihren Wert, ob es tunlich ist, sie seinem Trieb aufzuopfern, und wägt schließlich auch die verschiedenen Zwecke ab, die ihm seine Triebe setzen, vergleicht sie, entschließt sich zur Befriedigung des einen und unterdrückt den anderen. Diese Reflexion geht zwar über die unmittelbare Bestimmtheit durch einen Trieb hinaus, bleibt aber in der Sphäre der Triebe, bezieht sich neuerlich auf ein beschränktes, endliches Ziel. Erst die „praktische absolute Reflexion"9 erhebt sich gegenüber jener praktischen relativen über diesen gesamten Bereich. In ihr ist sich der Mensch nicht mehr als so und so von Natur bestimmter Gegenstand, vielmehr bezieht sich das Ich hier rein auf sich selbst, es ist nicht mehr mit Fremdem befaßt, sondern nur noch mit sich selbst, und es ist insofern unendlich, als ihm nichts mehr äußerlich ist. Das Ich hat so keinen weiteren Inhalt mehr als diese absolute Reflexion auf sich, es ist das „rein unbestimmte"10. Es hat darin nun aber zugleich die Möglichkeit, jede Bestimmtheit, die ihm im Trieb unmittelbar von Natur gesetzt war, mit Wissen und Wollen zu seiner Bestimmtheit zu machen, sich zu diesem oder jenem zu entschließen. Sofern der Wille in der absoluten Reflexion von allem Besonderen abstrahiert, ist er allgemeiner Wille und ist darin frei, sofern er aber im Entschluß etwas will, entschließt er sich wiederum zu Besonderem und gerät so in Ungleichheit zu seiner allgemeinen Form11. Der Wille ist insofern Willkür, die Fähigkeit des Ich, alles zu dem seinigen machen zu können, aber um den Preis, seine unendliche Bestimmtheit darin aufgeben zu müssen, d. h. die Willkür ist nur relativ frei. Es läßt sich nun aber auch ein absolut freier Wille denken12, ein Wille, der sich seine Allgemeinheit, seine Frei8

PP Erläuterungen zur Einleitung § 11. • PP Erläuterungen zur Einleitung § 12. 10 ebda. § 13. 11 ebda. § 19. 12 ebda. § 20.

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Der Ansatz beim Bewußtsein

heit zum Zweck setzt; ein Wille, der natürlich zwar auch etwas will, aber nicht weil er es im Entschluß zu dem seinigen gemacht hat, sondern weil er darin seine Freiheit realisieren will. Denn nur dies ist sein Wille, „daß seine Freiheit zu Stande komme und erhalten werde" 13 , d. h. er will, daß Freiheit nicht nur die Form der absoluten Reflexion des Ich ist, sondern zugleich sein Inhalt. Die Theorie wird zeigen müssen, ob sie fähig ist, solche Inhalte darzustellen. Vorerst bemerken wir eine Anlage der Theorie, die wir „ontologisch" nennen möchten. In der Selbstbestimmung, in Trieb, Willkür und Wille setzt sich die Freiheit vermöge der endlichen und absoluten Reflexion, vermöge des Denkens, durch bis hin zum wahren Willen. Oder, wie es später die Rechtsphilosophie sagen wird - wir halten diesen Ausdruck für vorzüglich geeignet, eine erste Vorstellung von der ontologischen Theorie zu vermitteln —: „Das Selbstbewußtsein, das seinen Gegenstand, Inhalt und Zweck bis zu dieser Allgemeinheit reinigt und erhebt, tut dies als das im Willen sich durchsetzende Denken."14 Dieser wahre Wille stellt daher sowohl für die Selbstbestimmung wie für das Denken den gelingenden Fall dar, in dem beide mit nichts Fremdem mehr befaßt sind, in dem das Denken seine Wahrheit hat - es denkt ja einen ihm gemäßen Gegenstand - und die Selbstbestimmung ihre Freiheit, denn sie wird von nichts, was ihr äußerlich wäre, mehr bestimmt. Von dieser affirmativen Gestalt der Selbstbestimmung im wahren Willen aus lassen sich auch allererst Trieb und Willkür als frei bestimmen; wie sollte man sonst von der Freiheit des Triebs sprechen, wenn die Hinsicht auf den gelingenden Fall der Selbstbestimmung nicht schon leitend wäre und der Gedanke des Triebs als ein Vorbegriff dazu bestimmt werden könnte? Er erschiene ja dann andernfalls einseitig als naturbestimmt, als unfrei und heteronom wie in der kantischen Philosophie. Der freie Wille ist zwar Resultat der Reflexion, aber so, daß er als Entelechie das Denken schon bei der Bestimmung des Triebes leitet und es daher ermöglicht, auch diesen als frei zu fassen, d. h. der Trieb läßt sich als frei ansprechen, weil er als erste Gestalt in einem kontinuierlichen Fortschritt des Denkens steht, dessen Resultat der wahre Wille und die wahre Freiheit ist. Eine solche Wirklichkeit, die sich als vernunftgemäß, als denkkongenial, fassen läßt, nennt Hegel „Geist", und insofern kann das sich selbst bestimmende praktische Bewußtsein eine geistige Wirklichkeit heißen. Die Theorie, die uns leitet, solche Sachverhalte zu verstehen, nennen wir eine ontologische Theorie; aber wir tun

13

PP Erläuterungen zur Einleitung § 21. " R Ph § 21.

Exkurs zum Begriff einer ontologisdien Theorie

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wohl gut daran, noch näher auf den Begriff einer solchen Theorie einzugehen, da wir ihn im folgenden immer wieder in Anspruch werden nehmen müssen.

2. Exkurs zum Begriff einer ontologisdien

Theorie

Die Ontologie betrachtet die Bestimmungen, die dem Seienden als Seiendem, dem ens qua ens, zukommen. Quantität, Qualität, Relation und Modalität mit den ihnen weiter zugeordneten Begriffen etwa sind für Kant solche Bestimmungen. Mit ihnen verstehen wir Sein, in ihnen wird Sein dem Denken zugänglich, sie heißen darum Kategorien (άγορεύω anzeigen, ansprechen, verraten). Für Aristoteles sind sie in der Sprache niedergelegt (καταγορεύω — sprechen), für den späteren Philosophen in schon vorhandenen ontologischen Theorien, d. h. die Seinsbestimmungen sind zugestanden, die Ontologie nimmt sie auf, bringt sie auf Begriffe und in eine einsehbare Ordnung. Neben diese metaphysica generalis tritt die metaphysica specialis, treten regionale Ontologien wie Theologie, Kosmologie und Psychologie, die ein schon näher Bestimmtes behandeln vor aller einzelwissenschaftlichen Erfassung. Auch das Denken kann Thema einer solchen regionalen Ontologie werden als ein eigener Seinstyp, als das Seiende, das, in Bezug auf ein anderes Seiendes, dies erkennt. Darüber hinaus hat das Denken aber noch eine weitere Bedeutung für die Ontologie, und diese in die Theorie einzubeziehen, ist das Ausgezeichnete der Logik Hegels. Das Denken ist ja die Instanz, die die Kategorien aufstellt und sich über ihre Rationalität Rechenschaft geben muß; es ist das, was die Bestimmungen, in denen wir Sein verstehen, noch wieder verstehen und begründen will. Das Denken ist so nicht nur Seiendes einer Region, sondern das, was in der Ontologie sich als diese Theorie denkend und begründend begreifen will. Die Logik Hegels stellt daher nicht nur eine Abfolge von Seinsbestimmungen dar, sondern vollzieht darin zugleich die Reflexion des Denkens auf sich, sie erfaßt nicht nur die Fortbestimmung des Seins, sondern in eins damit das Sich-selbst-Begreifen des Denkens, das dem Fortschritt der Theorie Rationalität sichert. Sie faßt jede kategoriale Gestalt als Stufe der Auseinandersetzung von Denken und Sein, sieht zu, wieweit das Denken auf jeder Stufe fähig ist, seine Selbstbestimmung in der Bestimmung des Seins zu denken und nimmt danach ihren Fortgang. Die Logik kann so auch ein Prinzip der Ordnung ihrer Begriffe namhaft machen: jede Kategorie repräsentiert eine gewisse Höhe der Integration von

44

Der Ansatz beim Bewußtsein

Denken und Sein und erhält demgemäß ihre Stelle im System zugewiesen. Hegel kennt drei solche Integrationstypen: Sein, Wesen und Begriff. Das Sein bleibt gleichgültig gegen seine Bestimmtheit, sie ist ihm Bestimmung durch ein selbständiges, fremdes Anderes. Im Falle des Wesens erscheint das Bestimmende als das Negative des Wesens selbst, es hat nicht mehr Selbständigkeit ihm gegenüber, sondern ist von ihm gesetzt. Begründetes und Grund, Akzidenz und Substanz sind soldie Wesensverhältnisse, die Hegel Reflexionsbestimmungen nennt. Es ist ein Seinstyp, der der Selbstbestimmung, dem Falle der Integration des Seins in den Begriff, schon recht nahe kommt. Er terminiert in der Behandlung der Substanz und der Weisen, in denen sie sich auf sich selbst bezieht und darin bestimmt, im Gedanken der Kausalität und der Wechselwirkung. Damit wird eine neue kategoriale Ebene erreicht, eine Gestalt, die ihre Bestimmtheit als Resultat ihrer Selbstbestimmung hat, sich in sich differenziert und darin mit nichts Fremdem mehr befaßt ist. Einen solchen Seinstyp nennt Hegel Begriff. Das praktische Verhalten des Menschen ist dieser Art, darüber hinaus aber audi all das Sein, das als Bezug auf sich gefaßt werden kann, das Subjektsstruktur hat, etwa das Leben. Zuhöchst jedoch erfüllt das Denken selbst den Begriff. Es erscheint nun, wo es thematisch wird, als Resultat der ontologischen Theorie, d. h. es wird vom Sein her angebahnt, kann nun aber darum zugleich als das begriffen werden, was in der Immanenz seiner Selbstbestimmung Sein zu bestimmen fähig ist. Das Denken erscheint als der Fall, in dem sowohl die Fortbestimmung des Seins zur Ruhe kommt, das Sein als Selbstbestimmung in den Begriff integriert gedacht werden kann, wie auch als der Fall, in dem die Reflexion des Denkens auf sich im Anderen gelingt, das Andere sich als das Denken selbst erweist. Damit ist nidit nur ein affirmativer Seinstyp erreicht, sondern zugleich die ontologische Theorie selbst gerechtfertigt, denn diese nahm ja schon dort, wo es noch nicht thematisch war, das Denken als Grund ihres Fortschritts in Anspruch. Die Dialektik rationalisierte etwa im Falle des Seins die Bestimmtheit durch ein fremdes irreduzibles Anderes als bestimmte Negation und konnte so die gleichgültige Opposition von Seiendem auflösen in einem höheren Einheitsverhältnis, d. h. Negation ist die Weise, zu Zwecken der Erklärung Bestimmtheit als Selbstbestimmung des Denkens zu fassen. Jedes Oppositionsverhältnis durchläuft so in der Dialektik selbst wiederum die drei Stadien von Sein, Wesen und Begriff. Die Opposita erscheinen einander zunächst seinsmäßig konfrontiert, dann ineinander reflektiert und schließlich fortbestimmt zu einer neuen höheren Einheit von Denken und Sein, zu einem neuen Inhalt, einer neuen Kate-

Exkurs zum Begriff einer ontologisdien Theorie

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gorie. Dies kategoriale Novum verständlich zu machen, dazu dient die Dialektik. Sie ist in jedem ihrer Schritte orientiert an der affirmativen Einheit des Begriffs und ist darum ebenso Voraussetzung wie Methode der Logik, aber eine Voraussetzung, die gerechtfertigt wird im Resultat der Theorie, und eine Methode, die sich daher als der Sache angemessen erweist. Die Logik sieht ab von der Wirklichkeit in Raum und Zeit. Es ist nun aber These Hegels, auch hier eine ontologische Theorie geben, die Bestimmungen der Wirklichkeit in einem System der Realphilosophie als Vernunftinhalte darstellen zu können. Es wird hier wiederum die Bewegung des Sich-selbst-Begreifens des Denkens durchlaufen, aber in einer Wirklichkeit, die dem Denken zunächst äußerlich ist. Das erste, was von hierher in den Blick kommt, ist die Natur. Sie entspricht dem „Sein" der Logik, d. h. sie ist dem Denken unmittelbar konfrontiert und kann nicht als in den Begriff integriert gedadit werden. Sie wird bestimmt als das Sichäußerlich-sein der Idee selbst, d. h. „die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist" 15 . Der Geist, dessen Theorie sich an die Naturphilosophie anschließt, ist die Aufhebung dieser Entäußerung in der Natur, das, was die Äußerlichkeit seiner Gestalten als vom Denken gesetzt und in es integriert begreifen kann, d. h. „der Geist hat sich als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben, deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist" 16 . Freiheit, Selbstbestimmung ist darum sein wesentlicher Charakter. Sie wird zunächst entwickelt in einer Theorie des subjektiven Geistes, die im Begriff des freien Willens terminiert. Hegel meint nun aber, darüber hinaus auch im Bereich sozialer Pluralität vernunftgemäße Sachverhalte namhaft machen zu können etwa Familie, Gesellschaft und Staat - , die, den Einzelnen übergreifend, sich als Realisationen des Vernunftinhalts „Freiheit" begreifen lassen. Es ist dies die Sphäre des objektiven Geistes. Die Logik ist Prinzip für den realphilosophischen Zyklus, d. h. dessen Kategorien erscheinen als Prinzipiate, als konkretere Fortbestimmungen und Selbstdifferenzierungen des Begriffs der Logik, und wie diese mit dem Gedanken des Denkens abschloß, so ist der absolute Geist, näher die Philosophie, die das Wirkliche als das Vernünftige, als Geist, weiß und sich als die Reflexion der Vernunft auf sich, Resultat des realphilosophischen Systems. Diesen kategorialen Standpunkt einzunehmen, ist einem Bewußtsein unmöglich, für das Erkenntnis Erforschung eines fremden Gegenüber ist, 15

Ε § 247. " Ε § 381.

46

Der Ansatz beim Bewußtsein

eines Gegenstandes, der in seiner Selbständigkeit als Oppositum des Denkens beharrt. Bestimmtheit gilt ihm als Bestimmung durch „ Andersheit" so Werner Flach17 die irreduzibel ist und nicht durch Negation ersetzt werden kann; Andersheit geht nach dieser Position der Negation logisch voraus, sie muß schon vorliegen, damit ein Bestimmungsfortschritt überhaupt möglich wird. Die Negation, die Dialektik, dient zur Bestimmung nur, wenn der Gegenstand zuvor schon als Einheit von Einem und Anderem gedacht wurde, d. h. ein heterothetisch gedachter Gegenstand ist Prinzip, Negation allenfalls Weiterentwicklung. Wie dieser Ubergang von heterothetischer Letztbegründung zu homogener dialektischer Fortbestimmung jedoch möglich ist, bleibt bei Flach unklar. Ein Hinterdenken von Bestimmtheit, wie es in Hegels Logik im Anfangstheorem eines unbestimmt unmittelbaren Seins vorliegt, um der Vollständigkeit der kategorialen Bestimmungen versichert zu sein, muß diese Position ablehnen. Sie macht die Opposition von Bewußtsein und Gegenstand zum Grundsatz. Aber dieser Gegensatz des Bewußtseins ist ja unverstanden und bedarf seinerseits allererst einer Erklärung in der ontologischen Theorie; und gerade der Anfang beim Unbestimmten in der Logik sowohl wie die Negation dienen der Rationalität der Theorie, werden eingeführt zu Zwecken der Erklärung, wogegen der Ansatz bei einem heterothetischen Gegenstand, bei Bestimmtheit durch Andersheit, ein unverstandenes Moment in den Bestimmungsfortschritt einführt. Vor dem Hintergrund des Gegensatzes des Bewußtseins läßt sich wohl auch Werner Beckers18 Einwand gegen Hegels Logik diskutieren. Er kritisiert, daß ihr der Bereich der Anwendung fehle. Nun ist aber eine Kategorie keine formallogische Variable, keine Leerstelle, die mit Inhalt erst noch gefüllt werden müßte; die Kategorie inkludiert prinzipiell das Sein und läßt sich in Auseinandersetzung mit ihm fortbestimmen. Dabei kennt sie aber durchaus innerhalb ihrer selbst ein Oppositionsverhältnis von Denken und Sein; überall dort, wo Sein nicht in den Begriff integriert gedacht werden kann, tritt der Gegensatz von Begriff und Seiendem auf, aber innertheoretisch, eingebunden in eine Bewegung des Verstehens, die in einem Affirmativen terminiert. Der Gegensatz des Bewußtseins kann sich in den mannigfaltigsten Weisen geltend machen — wir haben hier nur zwei Positionen erwähnt, die sich auf die Logik beziehen —, und wir werden im Verlauf dieser Arbeit noch oft Gelegenheit finden, auf seine verschiedenen Erscheinungen 17 18

„Negation und Andersheit". „Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus".

Der Gegensatz des Bewußtseins in der Praxis

47

aufmerksam zu machen. Die Propädeutik will ja dies Bewußtsein in das ontologische System einführen und muß es so auch in ihr zur Geltung bringen. So findet sich auch schon in der ontologischen Bestimmung der Freiheit, wie sie der erste Kursus in seiner Einleitung vorführt, daneben dies Moment des Gegensatzes des Bewußtseins.

3. Der Gegensatz

des Bewußtseins

in der

Praxis

Wir haben die Bestimmung des praktischen Bewußtseins, die Selbstbestimmung, im Ansatz des ersten Kursus ontologisch gedeutet; wir fanden hier eine gewisse Typik der Gedanken wieder, wie sie auch für das ausgeführte System maßgebend ist. Nun müssen wir aber auf zwei Momente hinweisen, die Propädeutik und System unterscheiden. Hegel geht in der Propädeutik neben der ontologischen Betrachtung der Selbstbestimmung auch ein auf das Problem der Verwirklichung dessen, wozu sich das praktische Bewußtsein bestimmt, das in der ontologischen Betrachtung der Propädeutik wie der Rechtsphilosophie abgeblendet wird. Im Handeln aber bleibt das Bewußtsein, auch wenn es sich vernunftgemäß bestimmt, also Geist ist, einem Fremden konfrontiert. Der Gegensatz des Bewußtseins, auch des geistigen Bewußtseins, erscheint in der Frage der Verwirklichung erneut, d. h. nur die Selbstbestimmung konnte ontologisch gefaßt werden, wird aber ihre Verwirklichung einbezogen, so muß auch der Gegensatz des Bewußtseins wieder auftreten. Hegel redet bezeichnenderweise auch nur gelegentlich der Selbstbestimmung vom Geist, und als das praktische Verhalten des Geistes gilt ihm das, wodurch er in seine Unbestimmtheit eine Bestimmung oder an die Stelle in ihm ohne sein Zutun vorhandener Bestimmungen andere aus sich selbst setzt.. ."19, d. h. Selbstbestimmung ist die Praxis des Geistes. Wird aber der Bezug des Handelns auf eine äußerliche Gegebenheit thematisch, so spricht er vom Bewußtsein, d. h. es ist das praktische Verhalten des Bewußtseins, „wenn die Bestimmungen des Ich nicht nur Bestimmungen seines Vorstellens und Denkens sein, sondern in ein äußerliches Dasein treten sollen"20. Wir sehen hier noch nicht, ob und wie sich auch diese Äußerlichkeit als vernunftgemäß wird begreifen lassen, sie erscheint hier zunächst noch einseitig als das Oppositum der Praxis, nicht eingefaßt unter den System19 10

PP Einleitung § 1. ebda. § 3.

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Der Ansatz beim Bewußtsein

begriff des objektiven Geistes wie in der Rechtsphilosophie. Diese sieht vom Verhältnis des Bewußtseins in der Praxis ab, denn dies macht vom kategorialen Standpunkt der Identität von Denken und Sein, von Vernunft und Wirklichkeit, aus gesehen „die Seite der Erscheinung des Willens aus, welche hier nicht mehr für sich in Betrachtung kommt" 21 . Die Konsequenz des Erscheinens des Gegensatzes in der Theorie der Praxis, wie sie die Propädeutik gibt, liegt am Tage: der wahre Wille, die ontologische Qualifikation des praktischen Bewußtseins wird zur Forderung an dies Bewußtsein, seine Bestimmungen sollen äußerlich werden 22 . Der allgemeine Wille, im Handeln erneut einem Besonderen konfrontiert, wird so selbst ein besonderer, der allgemein nur sein soll, oder: die ontologische Qualifikation, das Sein wird zum Sollen, die Vernunft zur Norm; und zwar ist dies ein perennierendes Sollen, das durch die immer erneute Konfrontation mit Fremdem, Besonderem, nie sich in einem ihm gemäßen erfüllen kann. Wir begnügen uns hier mit einem Hinweis auf dies Dilemma von ontologischem Standpunkt und Standpunkt des Bewußtseins schon im Ansatz der Propädeutik; es wird immer wieder Thema werden. Noch auf einen weiteren Unterschied von Propädeutik und System müssen wir aufmerksam machen, der mit dem eben erwähnten eng verbunden ist. Wir sagten, daß sich Freiheit vermöge des Denkens in der Selbstbestimmung durchsetze. Aber dies geschieht unmittelbar für die Theorie, ohne daß sie sich zuvor des Denkens, d. h. seiner objektiven Genealogie, wie sie die Logik bietet, versichert hätte. Wir sind nicht im Besitz einer Logik, wenn wir Selbstbestimmung ontologisdh begreifen, einer Logik, die es ermöglicht, das Denken als Prinzipiensphäre zu einer Theorie der Freiheit zu verstehen; das „Sichdurchsetzen" des Denkens wird nicht im Denken erfaßt, sondern neuerlich vom Bewußtsein her. So erscheint das Denken auch vornehmlich als Tätigkeit des Bewußtseins, das relativ oder absolut reflektiert, wenn daneben auch auf die unmittelbare Konfrontation der Triebe, ihr Gesetztsein durch das Bewußtsein und schließlich auf die affirmative Gestalt der Selbstbestimmung im wahren Willen als auf ontologische Gestalten verwiesen wird. Wir können diesen Standpunkt wohl zu redit intuitiv nennen, denn die Vernünftigkeit der Selbstbestimmung in der Freiheit ist für ein Bewußtsein. Schon Fidite konnte von seinem intuitiven Vernunftbegriff her — er verlangt, daß die Nachkonstruktion des Ich durch den Philosophen mit der Selbstanschauung dieses Ich muß zusammenstimmen können — den Trieb als

" R Ph § 8. " PP Einleitung § 3 u. § 4.

Das theoretische Bewußtsein

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einen Fall der Selbstbestimmung thematisieren, sofern schon der Trieb subjektive Gestalt hat. „Im Begriffe eines Triebes liegt 1. daß er in dem inneren Wesen desjenigen gegründet sei, dem er beigelegt wird; also hervorgebracht durch die Kausalität desselben auf sich selbst, durch sein Gesetztsein durch sich selbst"23 und im „System der Sittenlehre": „Selbstbestimmung ist der Begriff, vermittelst dessen ein Trieb sich denken läßt." 24 — Dies intuitive Moment in der Propädeutik trägt aber schon — von der Frage der Verwirklichung ganz abgesehen - in den ontologischen Charakter der Selbstbestimmung prinzipiell den Gegensatz des Bewußtseins, denn dieser ist im freien Ich, das sich intuitiv als Geist weiß, allenfalls für das Bewußtsein selbst überwunden, d. h. seine Uberwindung ist noch nicht objektiv gesichert. Das Dilemma des praktischen Bewußtseins hat sich uns damit als Problem des Rechtsgrundes der Theorie herausgestellt. Naturgemäß sind wir darum nun an Hegels Behandlung des theoretischen Bewußtseins interessiert, einmal, um unser Wissen vom Bewußtsein zu komplettieren, zum anderen, weil wir uns von ihr Aufschlüsse über die Theorieproblematik erhoffen.

4. Das theoretische

Bewußtsein

In der Einleitung werden theoretisches und praktisches Bewußtsein dichotomisch als Verhältnisse von Ich und Gegenstand eingeführt. Sie unterscheiden sich nach der Weise, in der Kausalität in ihnen herrschend ist. Im Falle des praktischen Bewußtseins „bestimme ich die Dinge oder bin die Ursache von Veränderungen der gegebenen Gegenstände" 25 . Im theoretischen Bewußtsein dagegen ist das Ich „als passives und der Gegenstand als die Ursache von Bestimmungen in mir" 26 . Ich bin hier dadurch bestimmt, „daß unmittelbar vorhandene Gegenstände auf mich einen Eindruck machen"27. In der Einleitung, die sich zur Frage des theoretischen Bewußtseins sehr kurz faßt, begreift Hegel Erkenntnis so einseitig vom Gedanken der Rezeptivität her. Dies geht so weit, daß er in dem Doppelsinn der Sprache sogar mit einem mechanischen Verständnis der Kausalität spielt. Erst die Erläuterungen zur Einleitung werden " GW S. 204 f. " SS S. 109. 28 PP Einleitung § 3. " ebda. 17 ebda.

50

Der Ansatz beim Bewußtsein

diesen Standpunkt korrigieren und auch den Gedanken der Spontaneität zur Geltung bringen. In den Erläuterungen zur Einleitung setzt Hegel nun ein mit einer Reflexion auf Erkenntnis; leitend ist die Frage, wie ich zu allgemeinen und notwendigen Einsichten gelange. Zur Sprache kommen dabei Erkenntnisvermögen wie Anschauung, Wahrnehmung, Vorstellen, Denken und Themen wie abstrakt, konkret, vermittelt, unmittelbar usw. - In der Anschauung bin ich unmittelbar einem konkreten Gegenstand konfrontiert, den ich - so Hegel jetzt — nicht rein passiv empfange, sondern auf den ich meine Aufmerksamkeit richte28, und mit dessen Anschauung ich in der Einbildungskraft spontan andere Anschauungen verknüpfen kann 29 . Erfasse ich den Gegenstand in einzelnen seiner Bestimmungen oder bloß als Ding, so verhalte ich midi wahrnehmend 30 . Erfasse ich diese Bestimmungen nicht mehr unmittelbar, sondern vermittelt durch die Abstraktion von anderen Bestimmungen, so gelange ich zu abstrakten Bestimmtheiten, die nicht mehr allein diesem Gegenstand eigen sind, und zur abstrakten Vorstellung eines Dings ohne alle besonderen Bestimmtheiten. Die eigentliche Erfahrung beginnt aber erst mit der wiederholten Wahrnehmung und mit dem Festhalten von Gleichem, von Regelmäßigkeiten in diesen Wahrnehmungen, d. h. „die Erfahrung enthält vornehmlich Gesetze"31. Aber die Erfahrung solcher Gesetze besitzt nur komparative Allgemeinheit, ich erfahre nur, daß dies oder das immer wieder so ist, nicht aber, warum es so ist und so sein muß. Dazu bedarf es des Begriffs, des Denkens, das die Sache in ihrem Wesen betrachtet, indem es von Zufälligem abstrahiert. Es hat einen allgemeinen Gegenstand, dessen Inhalt ihm zwar gegeben und „unabhängig von ihm für sich vorhanden" 32 ist - darum steht es unter dem Primat der Praxis, die auch ihren Inhalt in der Selbstbestimmung frei setzt - , dessen Form, die Form der Allgemeinheit, ihm aber selbst angehört. Es faßt darum einen Zusammenhang der Dinge, welcher allgemein und notwendig ist, etwa im Begriff der Kausalität. Der Begriff einer Sache lehrt mich so, warum sie so ist und sein muß. Es ist also audi für die Erkenntnis von Recht, Pflidit und Religion notwendig, deren Begriff zu geben, auch hier reicht die Er-

18

PP Erläuterungen zur Einleitung § 4. «« ebda. § 5. 30 ebda. § 1. 81 ebda. § 2. 32 PP Erläuterungen zur Einleitung § 6.

Das theoretische Bewußtsein

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fahrung nicht zu. Der „Weltlauf" 33 belehrt midi nicht, was gut oder böse ist, für jede beliebige Ansicht über Recht und Unrecht lassen sich in ihm Belege finden, und auch die innere Erfahrung, das Gefühl, verschafft mir keine gesicherte Erkenntnis, es ist bald so, bald anders und nur Bestimmung meiner besonderen Individualität, nicht objektiv, nicht allgemein. Sehen wir also zu, wie Hegel diesen Begriff von Recht, Pflicht und Religion gibt, wie er ihn einführt und seine Bestimmtheit verständlich macht. Wir sind damit an den Punkt gelangt, wo die Ausführungen zum theoretischen Bewußtsein unmittelbar relevant werden für die Theorie des praktischen Bewußtseins. In dieser Theorie des praktischen Bewußtseins bemerkten wir schon einige Male Dichotomien — theoretisches und praktisches Bewußtsein, niederes und höheres Begehrungsvermögen. Ein solches Verfahren der Diärese, Begriffe zu geben und zu verstehen, wird nun theoretisch explizit eingeführt. - Will ich wissen, was etwas ist, will ich einen Begriff verstehen, so muß ich zum nächst höheren Begriff aufsteigen. Die Rose etwa ist eine Art der Gattung Pflanze, der niedere Begriff eine besondere Bestimmung des höheren, der mir den Grund für die Bestimmtheit der Art gibt; auf unser Thema übertragen heißt dies: Recht, Pflicht und Religion sind „besondere Bestimmungen von dem Bewußtsein, welches ihr allgemeiner Grund ist" 34 . Da nur aus ihm Recht, Pflicht und Religion verständlich werden können, haben wir damit - so scheint es doch offensichtlich zu sein - die Rechtfertigung für den Ansatz beim Bewußtsein und die Sicherstellung der Rationalität der Theorie. Zugleich vermissen wir jedoch ein Eingehen auf die Dialektik in diesem Zusammenhang, denn wir sahen ja, wie sich in der Trichotomie von Trieb, Willkür und Wille eine dialektische Genealogie durchsetzte, die diese Begriffe gerade nicht als Arten einer Gattung verständlich machte, sondern als Gestalten, die hingeordnet sind auf den affirmativen Fall des wahren Willen, als auf ihre Entelechie. Diärese und Dialektik sind also nicht identisch, d. h. der dialektische Bestimmungsfortschritt kann wohl nicht als eine Gattung Art Bewegung gedeutet werden, wie es Hans Wagner in „Philosophie und Reflexion" unternimmt. Zwar ist - so Wagner - das dialektische Prinzip „Prinzip der Begründungsverhältnisse im Bereich der Begriffe" 35 , aber diese Verhältnisse sind nicht die von Gattung und Art, denn den Ubergang von dieser zu jener verstehe ich gerade nicht, der höhere Begriff bleibt immer ein Fund. Zwar ist dies audi in der Dialektik so, aber durch 38 84 85

ebda. § 2. PP Erläuterungen zur Einleitung § 2. S. 118.

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Der Ansatz beim Bewußtsein

das Mittel der Negation kann sie mir auch diesen Fund noch verständlich machen, indem sie den höheren Begriff als begründetes Resultat eines vorangegangenen Konflikts erscheinen läßt. Die Dialektik kann so audi ein Ordnungsprinzip ihrer Begriffe namhaft machen: sie sind Resultate der Auseinandersetzung von Denken und Sein und ordnen sich nach Einheitsverhältnissen, die beide eingehen, während ich mich in der Diärese in einem nicht weiter differenzierten Bereich von Gattung und Art bewege. Die Diärese schreitet fort zu immer größerer Abstraktion und gelangt zu einem Letzten, Absoluten, das sie zwar konkret meint, dessen Reichtum sie aber nicht an ihm selbst dartun kann. Anders die Dialektik: sie schreitet von begrifflich abstrakten Prinzipien zu konkreteren Prinzipiaten fort, zu einem explizit konkret bestimmten Absoluten, das als gelingendes, affirmatives Verhältnis von Denken und Sein zugleich die Rationalität der Prinzipien sicherstellt, aus denen es gewonnen wurde. - Wir möchten so der Gattungsdeutung der Dialektik nicht zustimmen und bezweifeln zudem, ob die Diärese, wie sie Hegel hier als Verstehensgrund der Begriffe in Anspruch nimmt, der Theorie Rationalität sichert, wie es die Dialektik tut, es bleiben in ihr Verstehensdesiderate. Noch ein weiterer Einwand, speziell gegen die Diärese, die Hegel hier gelegentlich von Recht, Pflicht und Religion aufstellt, läßt sich vorbringen. Damit wir die Bestimmtheit des Artbegriffs verstehen können, muß auch der Gattungsbegriff durchgängig bestimmt sein, d. h. ich muß auch ihn wieder als Art einer Gattung auffassen können. Dies tut Hegel aber im Falle des Bewußtseins nicht, er nimmt einen anderen Rechtstitel für den Begriff des Bewußtseins in Anspruch. Dieser als das Verhältnis von Ich und Gegenstand wird nicht weiter diäretisch begründet. Er wird aber auch nicht dialektisch verstanden, wie dies die Enzyklopädie 36 tut, die das Selbstbewußtsein als die Wahrheit des Bewußtseins anspricht, als die kategoriale Gestalt, in der das Bewußtsein sich sein Oppositum erstmals angeeignet hat. Zwar spricht Hegel vom „Bewußtsein des Bewußtseins"37, aber er vermeidet auffälligerweise den Begriff des Selbstbewußtseins. Wir wollen diese Stelle für unsere Deutung nicht übermäßig beanspruchen, aber es scheint doch so, als optiere Hegel hier für den intuitiven Standpunkt: der Begriff des Bewußtseins wird gegeben, indem wir uns seines Inhalts im Bewußtsein versichern. Dies erscheint uns als der eigentliche Rechtstitel der Theorie, denn sowohl diäretisch wie dialektisch bleibt das Bewußtsein unverstanden.

39 87

Ε § 424. PP Erläuterungen zur Einleitung § 3.

Das theoretische Bewußtsein

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Auch die theoretische Reflexion hat uns also nicht aus dem Dilemma des praktischen Bewußtseins hinausgeführt. Gewissermaßen via negationis, durch die Frage: Was ist zuerst, das Dilemma des praktischen Bewußtseins oder das Dilemma der Theorie des praktischen Bewußtseins? werden wir erneut auf die Frage nach dem Primat von Theorie oder Praxis gestoßen. Die Selbstbestimmung erhielt den Vorzug, weil in ihr Form und Inhalt vernunftgemäß sind, „aufhören, fremde Bestimmungen zu sein" 38 , während dem Erkennen ein Gegenstand gegeben werden muß. Dieser Deutung der Erkenntnis, die wir bisher vorgetragen haben, steht jedoch auch die ontologische These von der Identität der Denk- und Seinsbestimmungen gegenüber, die wir bisher verschwiegen haben. Ursache und Wirkung, Inneres und Äußeres, Wesentliches und Unwesentliches sind Bestimmungen, in denen sich diese Identität manifestiert. „Diese Bestimmungen sind Formen des Denkens. Der Geist setzt sie nur aus sich selbst, aber es sind zugleich Bestimmungen des Seienden." 39 Wir finden also auch in den Ausführungen zum theoretischen Bewußtsein die Andeutung eines ontologischen Gedankens. Was uns hindert, diese Identität von Denken und Sein zu fassen, ist wiederum das Bewußtsein. Es nimmt einerseits etwa Kausalität als seinsmäßig vorhanden, als gegeben hin, ist sich nicht bewußt, daß diese Bestimmungen in der Freiheit des Denkens setzbar, d. h. denkkongenial sind, projiziert aber andererseits — auf die Unerfahrbarkeit von so etwas wie Kausalität aufmerksam geworden diese Begriffe in eine intelligible Welt 40 , die so selbst den Status der Besonderheit neben der empirischen Welt erhält; d. h. die ontologischen Bestimmungen sind für das Bewußtsein nicht der Wirklichkeit einbildbar, ebenso wie Freiheit zum Sollen wurde, werden sie zu einer besonderen Welt. Diese intelligible Welt erscheint als ein eigener Gegenstand für das Bewußtsein, zu dem — so scheint es wegen der Parallelität zur sinnlichen Welt — auch ein anschauendes, intuitives Verhältnis möglich ist. Wie diese Position die Reflexion der Theorie auf sich unmöglich macht, zeigt sich wiederum am Begriff der Kausalität. Wird diese als intelligible Bestimmung gedacht, so läge es doch nahe, in einer Reflexion auf den Ansatz, auch das Bewußtsein als kausal bestimmtes Verhältnis von Ich und Gegenstand intelligibel zu fassen. Dies tut Hegel jedoch nicht, das Bewußtsein bleibt letzte Instanz. - Das gleiche gilt natürlich auch und vorzüglich für den Begriff der Freiheit. Er verhalf dem prak-

38 M 40

ebda. § 7. ebda. § 6. PP Einleitung § 2.

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Der Ansatz beim Bewußtsein

tischen Bewußtsein ja zum Primat. Daß aber Freiheit als sich in der Selbstbestimmung durchsetzendes Denken erschien, wird nicht reflektiert. Freiheit wird erneut vom Gegensatz des Bewußtseins als gesollte Freiheit verstanden, nicht als Sache des Denkens. Geschähe dies, würde dem Denken - wie in der Logik - der Primat über Theorie und Praxis erteilt, so wäre auch der Theorie der Propädeutik zu größerer Rationalität verholfen. Unsere Kritik und unsere Forderungen - systemtheoretisch vielleicht berechtigt - erscheinen jedoch ungerecht angesichts einer Theorie, die ein Verständnis für ontologische Rationalität allererst bei Schülern wecken will. Sie bietet ihnen - wir werden später näher darauf eingehen - eine für sie faßbare Freiheitslehre, die ihren Standpunkt, den Standpunkt des Bewußtseins, einnimmt. Gleichzeitig weist sie ihnen unterschwellig aber auch immer schon den Weg eines ontologischen Verständnisses. — Wir haben uns bemüht, diese verschiedenen, innig miteinander verflochtenen Momente der Theorie des Bewußtseins systematisch zu analysieren, und wir bemerkten ein Wechselspiel von ontologischem Standpunkt und Standpunkt des Bewußtseins, deren Gegensatz Hegel hier nie aufbrechen läßt, sondern durch den intuitiven Standpunkt zu vermitteln sucht. Es wird nun unsere Aufgabe sein, ähnlich wie bei Hegel, auch bei Kant die Grundlegung seiner Sittenlehre und seinen Freiheitsbegrifif zu untersuchen; die system theoretischen Aspekte, die wir bei der Betrachtung der Propädeutik gewonnen und dargestellt haben, werden uns dabei sehr zustatten kommen.

III. Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Kants Die Philosophie Kants stellt den klassischen Fall dar, Freiheit als Sollen zu begreifen. Wir dürfen uns so von ihr einen näheren Aufschluß über den Typ von Theorie versprechen, der im ersten Kursus der „Philosophischen Propädeutik" vorliegt. Und in der Tat werden wir dort eine ganz ähnliche Konstellation der Gedanken bemerken wie hier: Freiheit wird zunächst ontologisch - kosmologisch gefaßt als absolute Spontaneität. Diese Idee wird ethisch, Freiheit wird zum Sollen, wo ein Bewußtsein zu ihr hinzutritt, dem sie ein Gegenstand seiner Erfahrung wird. Kants Begriff der Freiheit gerät so in ein ähnliches Dilemma zweier Theoriestandpunkte, wie wir es schon bei Hegel bemerkten. Wir wollen diesen Weg der Theorie im folgenden nachzeichnen und untersuchen, ob es Kant gelungen ist, mit der Postulatenlehre und der Religionsschrift, die den Gedanken des Freiseins wieder aufnehmen, dies Dilemma zu überwinden. Der Begriff der Freiheit wird eingeführt in der Ideenlehre der „Kritik der reinen Vernunft", in der transzendentalen Dialektik. Nach den Formen der Anschauung und den Regeln des Verstandes ist nun das Vermögen Thema, dessen Kritik der Titel des Werks verspricht: Vernunft. Ihr Beitrag zur Erkenntnis wird kritisch gesichtet. - So wie die logische Funktion des Verstandes in Urteilen 1 Leitfaden für die Aufstellung der Kategorientafel, für die reinen Verstandesbegriffe, war, so leitet uns die logische Funktion der Vernunft an, einen Begriff dieses Vermögens aufzustellen, der in abstrakter Form - aufgrund der Identität der Vernunft — auch ihre Bestimmungen in ihrem reinen Gebrauch enthält 2 . Die logische Funktion der Vernunft ist der Schluß3. Durch Subsumption unter ein Allgemeines bestimme idi ein Besonderes: Alle Menschen sind sterblich. Gaius ist ein Mensch. Also ist Gaius sterblich. Die Vernunft ist so das Vermögen, aus Begriffen zu erkennen, oder sie ist - wie Kant audi sagt - „das Vermögen der Prinzipien" 4 . 1 2 8 4

KrV A 70 Meiner S. 110. KrV A 299, Meiner S. 339. ebda. KrV A 299 Meiner S. 339.

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Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Kants

Denn der Begriff des Menschen etwa ist der Grund dafür, Gaius als sterblich zu bestimmen, d. h. die Erkenntnis, daß Gaius sterblich ist, wird aus einem Obersatz als Prinzip abgeleitet, aus einem Begriff erkannt. Es ist dies ein Vermögen, welches das des Verstandes übersteigt, der Erkenntnis nur aus Gegebenem, Angeschautem gewinnen kann und immer darauf bezogen bleibt5. Die Vernunft dagegen geht nie unmittelbar auf das Gegebene in der Anschauung, sondern auf den Verstand, um dessen Erkenntnissen eine Einheit unter Prinzipien zu geben. Diese Prinzipien stellen also eine höhere Einheit dar, als es die des Verstandes war. Es fragt sich nun, ob es Vernunfteinheiten gibt, die an sich selbst, nicht nur in ihrer Funktion im Schluß, Prinzipien sind, d. h. es fragt sich, ob es neben dem logischen Gebrauch der Vernunft noch einen reinen, transzendentalen gibt, ob Vernunft „ein eigener Quell von Begriffen und Urteilen"6 sein kann. Andernfalls wäre sie ja lediglich das Vermögen, Verstandeserkenntnisse nach ihrer komparativen Allgemeinheit zu ordnen, „wodurch die Verstandeserkenntnisse nur einander und niedrige Regeln anderen höheren (deren Bedingung die Bedingung der ersteren in ihrer Sphäre befaßt) untergeordnet werden" 7 . Abstrakte Bestimmungen solcher Vernunftprinzipien lassen sich vorweg aus dem logischen Gebrauch der Vernunft im Schluß anführen: Eine solche Vernunfteinheit wäre nicht Einheit einer möglichen Erfahrung, d. h. sie ist nicht wie der Verstand auf Gegebenes bezogen. Sie ist also auch von der transzendental-kritischen Forderung, daß ihr Inhalt Erfahrung muß möglich machen können, unberührt 8 . Weiterhin faßte eine solche Vernunfteinheit „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte" 9 . - Solche Vernunfteinheiten nennt Kant Ideen. Eine objektive Deduktion solcher Ideen wie Kant sie für die Kategorien geben konnte und mußte — ist nicht möglich, da sie nicht als Konstituentien möglicher Gegenstände und der Erfahrung dieser Gegenstände ausweisbar sind, eben weil sie Ideen sind, die außerhalb dieser Forderung stehen10. Die Inhalte der Idee sind nicht auf einen in der Anschauung gegebenen Gegenstand zu beziehen, ihr objektiver Gebrauch wäre jederzeit metaphysisch-dogmatisch. Wohl aber kann gewissermaßen eine subjektive Deduktion der Ideen gegeben werden, in-

5

KrV A • KrV A 7 ebda. 8 KrV A 9 KrV A 10 KrV A

301 Meiner S. 340. 305 Meiner S. 343. 307 Meiner S. 344 u. A 308 Meiner S. 345 f. 307 Meiner S. 345. 336 Meiner S. 366.

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dem sie ja die Antwort auf die Frage nach dem Unbedingten geben, auf die die Vernunft unvermeidlich verfällt. Kant spricht gerne davon, daß diese Vernunfteinheiten „nur"n Ideen seien, d. h. es sind Begriffe, die zu seinem Geschäft, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung aufzuzeigen, zunächst nichts beitragen. Man kann dies, sieht man es vom Gedanken einer ontologisch-spekulativen Theorie her - und unter diesem Aspekt betrachten wir ja die Idee aber durchaus auch begrüßen: Die Vernunft stellt mir Inhalte, Erkenntnisse dar, deren Quell sie selbst ist, die unabhängig von aller Erfahrung gewonnen werden und die auch nicht die Anweisung auf Anwendung in der Erfahrung bei sich tragen. Zwar kann man audi schon den Kategorien einen spekulativen Sinn beilegen, insofern sie Bedingungen möglicher Gegenstände und Bedingungen möglicher Erfahrung dieser Gegenstände sind, aber ihr Rechtsgrund, der uns ihrer Gültigkeit versichert, ist das Bewußtsein, das nur mit ihnen in der Anschauung Gegebenes erkennen kann und auf Gegebenes sie anwenden muß. Erst mit der Idee kann ein Inhalt aufgestellt werden, der dieses Rechtstitels nicht bedarf, der außerhalb der Dimension der Anwendung steht. Ein solcher Inhalt ist der Begriff der Freiheit. In ihm ist „die unbedingte Kausalität der Ursache"12, ihre „absolute Spontaneität" 13 , gedacht, als die Bestimmtheit einer Ursache, die von keiner anderen dazu bestimmt wird, Ursache zu sein. Es ist hier noch gar nicht auf Freiheit in einem moralischen Sinne abgestellt, sondern auf die kausale Verfassung der Welt, d. h. es handelt sich um Freiheit „im kosmologischen Verstände"14. - Dies Theorem — eine unbedingte Ursache zu denken - steht jedoch in Widerspruch mit dem Gedanken, daß alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschieht15, daß ich jede Ursache als Wirkung einer anderen Ursache auffassen muß. Es ist dies die dritte Antinomie, in die die Vernunft gerät. Ihre Auflösung findet auf dem schon vorgezeichneten Weg mit Hilfe der Unterscheidung von in der Erfahrung Gegebenem und in ihr nicht Gegebenem, von Erscheinung und Ding an sich, statt: Es ist eine falsche Disjunktion zu meinen, eine Wirkung in der Welt müsse entweder aus Natur oder aus Freiheit geschehen16. Nach der allgemeinen Bestimmung der Idee kann Freiheit sich gar nicht auf ein in der Erfahrung " KrV 12 KrV 13 KrV 14 KrV 15 KrV " KrV

A A A A A A

336 419 446 533 445 536

Meiner Meiner Meiner Meiner Meiner Meiner

S. S. S. S. S. S.

366. 447. 463. 523. 462. 525.

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Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Kants

Gegebenes - auf Ersdieinung, wie Kant sagt - beziehen, wie es doch Naturkausalität tut. Freiheit kann nicht verstanden werden als die Verfassung des in der Anschauung Gegebenen, sondern als die Verfassung des die Erfahrung Gebenden, des Dings an sich, d. h. Freiheit wird bestimmt als intelligibler Charakter der Ursache17. Zwar wird die Antinomie so mit dem prekären Gedanken eines Grenzbegriffs der Erfahrung, des Dings an sich, gelöst, mit einem Gedanken also, der eine Zweiweltentheorie, wie wir sie schon bei Hegel fanden, urgiert, aber der Gedanke, das Ding an sich ontologisch als Freiheit zu fassen, überwindet zunächst die Dimension der Erfahrung des Bewußtseins und verschafft dem Ding an sich als Vernunfteinheit selbst größere Rationalität 18 . Kosmologische Freiheit ist so als intelligibler Charakter der Ursache gedacht, als ein vernünftiger Inhalt, dessen ich mich im Denken versichern kann. Das Denken des Unbedingten, das unbedingte Denken, die Vernunft, hat sich also als fähig erwiesen, für sich selbst zu Erkenntnissen zu gelange, indem sie das Unbedingte in der kausalen Verfassung der Welt als Freiheit, als absolute Spontaneität, begreift. Der Gegensatz des Bewußtseins - will man diesen Hegeischen Terminus hier benutzen - , der Anwendung auf mögliche Erfahrung und Gegebenheit in möglicher Erfahrung verlangt, ist überwunden. Aber Kant verfolgt diesen spekulativen Gedanken, daß es vernünftige Inhalte gibt, und Vernunft für sich fähig ist, diese Inhalte aufzustellen, nicht weiter, er wird ihm nicht zum Anlaß einer ontologischen Theorie, in der die Ideen in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden könnten, der uns über ihre Vernünftigkeit zur Genüge aufklären würde. Der einzige systematische Gedanke bleibt der Leitfaden der formal-logisch schließenden Vernunft, der dem spekulativen Inhalt der Ideen nicht gerecht werden kann. So gelangt Kant auch nicht zu Weiterungen der Freiheit, zu einer konkreteren Bestimmung ihres Begriffs in neuen Inhalten. Vielmehr ist er bemüht - , gemäß dem transzendentalkritischen Prinzip, daß sich jeder Begriff in möglicher Erfahrung muß bewähren können19 - die Relevanz der Idee für Erfahrungserkenntnis darzutun. Der „Standpunkt des Bewußtseins"20 verschafft sich hier erneut Geltung, der in der transzendentalen Deduktion sowohl das Fundierende 17 18 19 20

KrV A 539 Meiner S. 528. s. dazu MdS S. 206. Hier indentifiziert Kant Vernunftinhalt und Ding an sidi. KrV A 489 Meiner S. 490. Wir übernehmen hier und im folgenden diesen Begriff Hegels, um damit nun bei Kant Sachverhalte zu bezeichnen, die wir schon anläßlich der Propädeutik charakterisierten.

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war, das Prinzip der Deduktion der Kategorien: nur vermittelst ihrer kann ich Gegenstände, die in der Ansdiauung gegeben sind, denken 21 , als auch das Fundierte: ich darf die Kategorien nur auf Gegebenes anwenden. Diese Auskunft ist nun für die Relevanz der Vernunftbegriffe in der Erfahrungserkenntnis versperrt, da ihr Begriff ja diesem transzendentalkritischen Prinzip direkt widerspricht: der Standpunkt des Bewußtseins ist nicht konstitutiv für ihre Aufstellung, sie sind nicht konstitutiv für mögliche Erfahrung. Da Kant aber diesem transzendental-kritischen Gedanken seine absolute Geltung erhalten will, die Ideen jedoch nicht wie die Formen der Ansdiauung und die Regeln des Verstandes als konstitutive Prinzipien fassen kann, faßt er sie als regulative Prinzipien der Erfahrung und stellt sie so - wie es uns scheint - unter das Verdikt des Gegensatzes des Bewußtseins. Die Idee der Freiheit wird für das Vermögen der Regeln, den Verstand, zu einer Regel, in der Reihe der Bedingungen aufzusteigen zum Unbedingten; welche Reihe aber, da das Unbedingte nie gegeben sein kann, prinzipiell unabschließbar ist22. Es fragt sich jedoch, ob es zu dieser Regel, von Bedingung zu Bedingung fortzuschreiten, einer Vernunftidee bedarf, denn es war ja schon das Prinzip des Verstandes, Prinzip der Naturkausalität vom Bedingten zur Bedingung fortzuschreiten, d. h. der synthetische Grundsatz der Vernunft, daß, wenn das Bedingte gegeben ist, auch das Unbedingte gegeben sein muß 23 , trägt als regulatives Prinzip nichts Weiteres zur Erfahrungserkenntnis bei als der analytische Satz des Verstandes, daß, wenn das Bedingte gegeben ist, auch die Bedingung gegeben sein muß, zu der aufzusteigen ist. Die theoretische Vernunft könnte sich so sehr wohl audi ohne die Idee der Freiheit behelfen, nicht jedoch die praktische, d. h. es ist Kant im folgenden weniger um ontologisch-kosmologisch gedachte Freiheit zu tun als um die moralische Freiheit des Subjekts 24 , die mit seiner Naturbestimmtheit vereinbar gedacht werden soll. Ich kann das Subjekt qua intelligibel als frei ansprechen, die Wirkungen seiner Tat aber dennoch auf ihre empirischen Bedingungen hin untersuchen. Wir wollen diesen Gedanken der moralischen Freiheit hier in der „Kritik der reinen Vernunft" zunächst nicht weiter verfolgen, er wird unser Thema bei einer Betrachtung der „Kritik der praktischen Vernunft" sein.

21 22 23 24

KrV KrV KrV KrV

A A A A

93 Meiner S. 134. 508 ff Meiner S. 504 ff. 409 Meiner S. 440. 538 ff Meiner S. 527 ff.

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Der Begriff der Freiheit - sowohl in seinem kosmologischen wie in seinem engeren moralischen Sinn - bleibt in der transzendentalen Dialektik problematisch, da Kant gemäß dem transzendental-kritischen Prinzip zur Assertion des Begriffs ein Gegebenes verlangt, das er erst in der „Kritik der praktischen Vernunft" aufweisen zu können glaubt. Hier ist der Begriff der Freiheit vorerst „nur" ohne Widerspruch denkbar. Nun kann aber ein Vernunftinhalt - das war ja schon festgestellt worden nicht als ein anschaulich Seiendes dem Bewußtsein gegeben werden. — Wie aber dann? - Wir erinnern uns hier an Hegel. Auch dort wurde ja die Freiheit, die zuvor ontologisch gefaßt war, in der Frage nach ihrer Verwirklichung vom Standpunkt des Bewußtseins aus erneut thematisiert. Sie erschien dann nicht mehr als Seinstyp, sondern als Sollen, als Anspruch an das Bewußtsein, d. h. nur als unbedingte Norm war die ontologische Qualifikation für das Bewußtsein erfaßbar. Ganz ähnlich verhält es sich nun auch bei Kant. Der in der transzendentalen Dialektik problematische Begriff der Freiheit wird erst für ein Bewußtsein assertorisch, das sich als Adressat eines unbedingten „Du sollst" erfährt, welches von ihm verlangt, unabhängig von aller seiner sonstigen, empirischen Bestimmtheit, d. h. unbedingt wollen zu sollen. Der Vernunftinhalt Freiheit - zur Norm geworden - erscheint als ein „Faktum der Vernunft" 25 für das Bewußtsein, das, eben weil es Faktum ist, keiner weiteren Aufklärung seiner Herkunft fähig ist, ihrer aber audi - so Kant - nicht bedarf, während wir uns für die ontologische Freiheit sehr wohl eine Erklärung, eine Darstellung ihrer Genese in einer ontologischen Theorie wünschen. Der Vernunftbegriff der Freiheit, der in der „Kritik der reinen Vernunft" letztes war, ist nun als Faktum des Gesetzes erstes für die „Kritik der praktischen Vernunft", die von diesem Grundsatz aus allererst zu weiteren Bestandstücken der Theorie fortschreitet. Sie prozessiert also in einer der „Kritik der reinen Vernunft" entgegengesetzten Richtung26, da vom Standpunkt des Bewußtseins aus keine Genese moralischer Freiheit möglich ist, ohne deren unbedingte Normativität preiszugeben. Sehen wir nun zu, wie diese moralisdie Freiheit, die Freiheit als unbedingtes Sollen, näher bestimmt wird. Da jeder Inhalt für das Bewußtsein entweder ein gegebener, d. h. empirisch aufgegriffener sein muß, oder ein solcher, der die Bedingungen von Gegebenheit für ein Bewußtsein faßt, kann das Gesetz, das ja unbedingte Vernunfteinheit ist, mir solche " KpV S. 36 audi ebda. S. 106. «· KpV S. 17 f.

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Inhalte nicht gebieten, es wäre sonst von Empirie betroffen, d. h. das Gesetz kann mir keinen weiteren Vernunftinhalt gebieten als eben die Form dieser Normativität und Gesetzmäßigkeit selbst. Für das Bewußtsein ist die Form des Gesetzes das einzig Vernünftige an dem Vernunftinhalt Freiheit. Das Gesetz verlangt also, daß so gewollt werde, wie immer gewollt werden kann, es verlangt, daß die Maxime der Handlung zum Gesetz für alle möglichen Handlungen muß werden können. - Aber damit ist dem Gedanken der Vernünftigkeit des Gesetzes noch nicht genüge getan, die Wirklichkeit der Vernunft in diesem Faktum noch nicht zureichend gedacht. Soll die Wirklichkeit der Vernunft im Faktum eines das Handeln gesetzmäßig bestimmenden Sollens gesichert sein, so muß das Gesetz nicht nur die Gesetzmäßigkeit des Handelns fordern, sondern auch verlangen, daß die Handlung um des Gesetzes willen gewollt werde, d. h. daß Vernunft der alleinige Bestimmungsgrund meines Willens sei, denn nur so kann ihr unbedingte Kausalität zugesprochen werden27. Es gelingt von dieser Position aus nicht mehr, Trieb und Willkür, die doch auch subjektive Gestalt haben, als natürliche Formen der Selbstbestimmung zu fassen, wie Hegel und Fichte es tun, sie erscheinen einseitig als vernunftfremde Bestimmungen, d. h. auch dieser Inhalt geht der Theorie als bloß empirisch verloren28. Der Gedanke einer gesollten Freiheit ist vollends hermetisch geworden, alle Inhalte sind aus ihm entfernt, und in keinem Inhalt kann sich diese Freiheit erfüllen, das Sollen ist perennierend. Sogleich gerät dieser Gedanke aber damit in einen Konflikt mit sich selbst, der sich neuerlich als Konflikt von Vernunftstandpunkt und Standpunkt des Bewußtseins auslegen läßt. Fasse ich Freiheit als absolutes Sollen, und kann ich nur so - von der „Kritik der reinen Vernunft" her gesehen — dem Gedanken einer unbedingten Kausalität der Vernunft für ein Bewußtsein Geltung verschaffen, wobei aber alle Inhalte als empirisch, als vernunftfremd abgewiesen werden, so gerate ich in ein striktes Paradox: handle ich, wie es vom Gesetz gesollt ist, so handle ich frei, handle ich aber unsittlich, d. h. gebe ich der Vernunft keine Kausalität für meinen Willen, so bin ich auch nicht frei. Die Identifikation des Vernunftinhalts Freiheit mit der absoluten, inhaltslosen Normativität des „Du sollst" macht eine Zurechnung des " KpV S. 84. Wenn Kant in der „Metaphysik der Sitten" (S. 30) die Willkür als frei anspricht, so können wir dort doch dann erklärtermaßen nicht mehr wissen, in welchem Sinne wir hier von Freiheit reden, sie ist bloßer Ausdruck des Faktums, daß wir entgegen dem Sittengesetz handeln, ohne dessen Möglichkeit begründen zu können. Wir werden später darauf zu sprechen kommen.

28

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Unsittlichen unmöglich. Darüber hinaus wird dem Subjekt auch die gesamte sittliche Jurisdiktion genommen. Das Bewußtsein ist zwar des Sollens als eines Faktums versichert, es kann aber im gegebenen Fall der Sittlichkeit seines Wollens nie gewiß sein, da im gegebenen Fall immer inhaltlich gewollt wird, wozu die Motivation im empirischen Charakter gesucht werden muß, d. h. „unsere Zurechnungen können nur auf den empirisdien Charakter bezogen werden" 29 , der doch von der sittlichen Forderung unberührt ist. Auch will das Subjekt ja, wenn es unsittlich will, nicht qua intelligibler Charakter, daß seine unsittliche Maxime Gesetz wird, dies zu wollen ist unmöglich, d. h. das intelligible Ich kann nicht Täter des Bösen sein30. Es ist so vom Problem der Zurechnung her gesehen nicht mehr zu verstehen, in welchem Sinne das Subjekt Adressat des unbedingten Sollens soll sein können, damit wird aber zugleich die absolute Norm selbst unverständlich: qua intelligibles Wesen kann ich nicht Adressat des Sittengesetzes sein, denn das Gesetz formuliert als Gesetz der Autonomie ja gerade diese Intelligibilität und verleiht ihr Wirklichkeit für ein Bewußtsein, ebensowenig aber qua empirisches Wesen, denn dies ist notwendig und unaufhebbar durch Naturkausalität bestimmt. Den Begriff einer homogenen Subjektivität zu bilden, d. h. das Subjekt in allen seinen Gestalten als frei zu denken, gelingt Kant aber nicht, es kann ihm auch nicht gelingen, wenn der Gedanke der Wirklichkeit der Freiheit in einer absoluten Normativität beibehalten werden soll. Audi die Postulatenlehre - so meinen wir - gibt hier keine weitere Auskunft. Sie zieht lediglich das Fazit aus der für ein Bewußtsein wirklichen Freiheit im absoluten Sollen und erlaubt es mir, mich „in notwendig praktischer Rücksicht"31 qua intelligibles Wesen als wirklich frei zu nehmen, welche Wirklichkeit begreifbar aber eben nur als unbedingtes Sollen ist. Das Postulat kann eingestandenermaßen nicht erklärt wer-

89 so

11

KrV A 551 Meiner S. 536. GMdS S. 46 und MdS S. 30. Kant schwankt allerdings in diesem Punkte in der Frage der Zurechnung. So ist das Unsittliche in der Religionsschrift und in der „Metaphysik der Sitten" (S. 146) nidit Ausnahme vom Gesetz, sondern wird selbst als Maxime betrachtet, unter die der Gesetzbrecher subsumiert wird, da er sie qua intelligibles Wesen als allgemeines Gesetz gewollt habe. Wie dies aber mit dem Gedanken einer gesollten Freiheit in der „Kritik der praktischen Vernunft" zusammenstimmen könne, kann nicht erklärt werden. Die widersprüchlichen Positionen Kants in dieser Frage zeigen gerade, daß dies Problem von seinem Ansatz aus kaum zu lösen ist. KpV S. 152.

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den32, und erklärt uns auch nicht den Konflikt von seiender und seinsollender Freiheit, da vielmehr das unverstandene Faktum des Sollens sein Rechtsgrund ist33, also gerade das, was wir verstehen wollen. Ebensowenig kann wohl auch die Weiterentwicklung des Gedankens der Freiheit in der Religionsschrift unser Bedürfnis nach Erklärung befriedigen. Kant nimmt hier das Problem einer Zurechnung des Bösen, wovon audi wir ausgingen, zum Anlaß, Freiheit erneut zu thematisieren. Er sieht, daß nach seinen Voraussetzungen das Böse nur zuzurechnen ist, wenn es gelingt, auch dieses in der Autonomie zu fundieren, d. h. „in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d. i. in einer Maxime" muß „der Grund des Bösen liegen"34. Dies ist aber wiederum mit dem Begriff der Freiheit als Sollen nicht vereinbar. Kant muß so, um die Freiheit zum Bösen zu begreifen, gewissermaßen eine Freiheit zur Freiheit, bzw. zur Unfreiheit einführen, einen Gebrauch der Freiheit, der vor jeder sittlichen oder unsittlichen Tat liegt35. Wie dieser möglich sein soll, ist uns vollends uneinsichtig, Richard Kroner gar bezeichnet den Gedanken, daß sich das Subjekt seine moralische Bestimmtheit in einer intelligiblen Wirklichkeit verschaffe — und dies liegt hier ja auch vor - als Mystizismus36. Kant erklärt diesen Gebrauch der Freiheit nicht, und um seine Unerklärbarkeit zu artikulieren, bezeichnet er sein Produkt - den Hang zum Bösen - als angeboren37. Er kann seiende Freiheit nicht begreifen und drückt sie als Naturtatsache aus, mit der reservatio mentis, sie dennoch als Produkt seinsollender Freiheit zu erklären. Die Glieder dieses Komplexes von Spontaneität und Naturkausalität, Autonomie und Heteronomie, Gut und Böse, sucht John R. Silber88 in ein anderes Verhältnis zueinander zu bringen, als wir es getan haben. Gingen wir davon aus, daß die ontologisch-kosmologisch gedeutete absolute Spontaneität, wie sie die „Kritik der reinen Vernunft" einführt, für Kant nur wirklich ist im absoluten „Du sollst", so bleibt sie dagegen für Silber objektive, seiende Bestimmtheit des handelnden Menschen. Er meint, daß Kant nur in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" das freie Handeln und das sittliche Handeln identifiziert habe, mit all 31 33 M i5 34 37 39

KpV KpV R S. R S. „Von R S. „The

S. 141. S. 151 f. 19. 20. Kant bis Hegel", 1. Band S. 200. 20. Ethical Significance of Kant's Religion".

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den Konsequenzen, die sich daraus ergeben39, in der „Kritik der praktischen Vernunft" 40 aber, und namentlich in der Religionsschrift, die eine freie Willkür kennt 41 , darüber hinausgehe und zu einem komplexeren Begriff des Willens gelange. Silber betont dabei Kants Gedanken, daß seiende Freiheit ratio essendi der gesollten Freiheit, ihrer ratio cognoscendi, ist42. Der Wille wäre hier im Besitz einer Freiheit, die ihn ermächtigt, das Sittengesetz auch zu verwerfen 43 , d. h. Heteronomie ist jetzt ein Modus von Freiheit44, eine Potentialität, die die Person ebenso realisieren kann wie die Autonomie45. Damit wird aber der kategorische Imperativ - wie Silber selbst sieht - hypothetisch46, er ist nicht mehr Bedingung des Seins und der Freiheit des Willens, dieser ist vorweg frei und nur wenn er moralisch sein will, muß er dem Gesetz gehorchen; Autonomie ist ein erfüllter, Heteronomie ein defizienter Modus von Spontaneität 47 . Wir meinen, daß Silber hier in die Nähe einer Deutung rückt, die die kantische Ethik als die Verpflichtung zur Vervollkommnung der Person faßt, denn der Gedanke der Selbstrealisation ist dann wohl das Motiv, autonom zu handeln. Aber dies ist nicht entscheidend, entscheidend ist Silbers Ansatz, Spontaneität als ontologisches Fundament für Autonomie und Heteronomie, für Rationalität und Irrationalität zu begreifen: „Inasmuch as spontaneity constitutes the power of both freedom and reason, heteronomy and irrationality no less than autonomy and rationality are possible modes of their expression."48 Diese Kant-Deutung ist sicher richtig - auch wir vertreten ja den ontologischen Ansatz - , aber wir meinen, daß Kant diesen ontologischen Gedanken eben nicht weiter verfolgt, daß es ihm nicht gelingt, Heteronomie von der Autonomie her zu begreifen und Irrationalität von der Rationalität her, wie Silber meint. - Hat Silber Zurechnung so zwar prinzipiell begründet, so muß er doch audi daran festhalten, daß die Sittlichkeit einer Tat im gegebenen Fall nie zu erkennen ist49, denn er sieht, daß Kant intelligible und empirische Welt streng

3i

S. LXXXII " S. LXXXIII 41 S. CXXVII f. « S. LXXXIII « ebda. " ebda.

" s. xc « " « «

S. S. S. S.

LXXXV XCIII XCII XCVI

Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Kants

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getrennt halten will, postuliert selbst aber - völlig zu Recht - die notwendige Vermittlung beider, d. h. von sittlichem Handeln läßt sich Zeitlichkeit, Äußerlichkeit nicht völlig abhalten. Ob aber diese Vermittlung im Gedanken einer prästabilierten Harmonie und in der Kategorie der Wechselwirkung — wie Silber vorschlägt50 — zureichend gedacht ist, muß fraglich bleiben. Im ganzen gesehen stimmt Silbers Kant-Deutung mit der unseren überein. Nur wenn bei uns sdion der ontologische Gedanke Mittel der Kritik ist, so meint Silber noch Ansätze zu seiner Durchführung bei Kant zu finden; er sieht aber, daß es zu seiner Deutung einer Weiterentwicklung von Kants Theorie bedarf 51 und daß seine Deutung nur einen Teil der kantischen Gedanken deckt, den er dann betont. Wir haben die andere Seite hervorgehoben — die der Identifikation von Spontaneität und Gesetz - , meinen aber, daß das Resultat unserer Untersuchung kaum von Silber abweicht. Fest steht, daß wir ebenso wie bei Hegel in der Propädeutik so auch bei Kant eine Rivalität zwischen seiender und seinsollender Freiheit, zwischen ontologischem Standpunkt und dem Standpunkt des Bewußtseins finden, die der Rationalität der Theorien abträglich ist. M

S. XCVIIIf " S. X C I X

IV. Rückblick und Ausblick Das Paradox des Sollens, das wir verschiedentlich artikuliert haben, erscheint uns nicht nur als ein innertheoretischer Widerspruch, sondern darin zugleich als Konflikt zweier Theorieformen: einer — wie wir sagen ontologischen Theorie und einer Theorie, die den Standpunkt des Bewußtseins als ihren Rechtsgrund einnimmt. In der „Nürnberger Propädeutik" wird der Gedanke der Freiheit ontologisch eingeführt als ein durch Denken sich in Trieb, Willkür und Wille durchsetzender vernünftiger Inhalt, und zwar geschieht dies dialektisch, in einer durch Negation vermittelten Diagnose von Stufen des Freiseins, in einer Form also, die den Gedanken einer ausgeführten ontologischen Theorie nahelegt. Jedoch gerät dieser Gedanke in der Frage nach der Verwirklichung dessen, wozu sich der Wille in Freiheit selbst bestimmt, erneut in den Gegensatz des Bewußtseins. Die ontologische Qualifikation wird zum unbedingten Sollen. Audi bei Kant bedarf der Gedanke der Freiheit als eines Inhalts, in dem Vernunft mit nichts Fremden mehr befaßt ist, der ontologischen Grundlegung in der Idee absoluter kosmologischer Freiheit. Wie Vernunft allerdings fähig ist, für sich einen Inhalt aufstellen zu können, d. h. etwas als vernünftig zu begreifen, diese Frage beantwortet uns Kant nicht. Gab uns Hegel mit dem Ansatz zu einem dialektischen Gedanken zumindest den Begriff einer Theorie, die Inhalte als vernünftig dartun kann, so beruft sich Kant dazu lediglich auf den logischen Gebrauch der Vernunft in Schlüssen und auf ihr Bedürfnis, das Unbedingte, von nichts der Vernunft Fremden mehr Bestimmte, zu denken. Im Verlangen, diesem Vernunftinhalt eine Wirklichkeit fürs Bewußtsein zu geben, wird die ontologische Bestimmung der Freiheit zum abstrakten, bloß formalen Sollen. Wir haben uns bemüht, die Widersprüche, in die diese Position gerät, aufzuzeigen. Es ist nicht nur ein beliebiges Bedürfnis, auf der Ebene vernünftigen Wollens auch vernunftgemäße Inhalte dargetan zu bekommen, vielmehr ist offensichtlich auch die Rationalität der Theorie davon abhängig, die Freiheit als Sollen begreifen will. In einer ontologischen Theorie könnte diese Freiheit selbst wiederum als ein Seinstyp gefaßt werden, wie Hegel dies in der Rechtsphilosophie tut. Sie wäre in eine

Rückblick und Ausblick

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einsehbare Abfolge von Gestalten der Freiheit eingeordnet, deren affirmatives Resultat, das konkrete Allgemeine, das uneingeschränkt als vernunftgemäße Wirklichkeit angesprochen werden kann, auch ihr Rationalität zusicherte. Nun sind beide Positionen, die wir betrachtet haben, die Hegels in der Propädeutik und die Kants, Grundlegungen zu einer Theorie weiterer Bestimmungen, zu einer Theorie von Recht, Pflicht und Religion im Falle Hegels und zu einer „Metaphysik der Sitten" im Falle Kants. Zwar versucht Kant in der Typik, in de«: Lehre vom höchsten Gut und in Gedanken eines Reiches der Zwecke schon innerhalb der „Kritik der praktischen Vernunft" zu einer inhaltlichen Bestimmung der Freiheit zu gelangen, aber erst die „Metaphysik der Sitten" ist das in einer Theorie ausgeführte Resultat dieses Versuchs. Gab die „Kritik der praktischen Vernunft" die Prinzipien der Möglichkeit von Freiheit und Verpflichtung, die Bestimmung ihres Umfangs und ihrer Grenzen 1 , so erstellt die „Metaphysik der Sitten" „ein System der Erkenntnis apriori aus bloßen Begriffen" 2 , das System der Gesetzgebung praktischer Vernunft. Prinzip der Einteilung dieses Systems ist „der Akt der freien Willkür" 3 . Er wird dichotomisch differenziert nach den Weisen, in denen er zur Erfüllung des Gesetzes, „welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt" 4 verbunden wird. „Diejenige (sc. Gesetzgebung), welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist juridisch" 5 . Dabei schließt die ethische, die innere Gesetzgebung, die äußere juridische ein - sie macht die Befolgung des Rechts zur Pflicht - , d. h. sie „geht auf alles, was Pflicht ist"®, ähnlich wie die Anschauungsform des inneren Sinnes - die Zeit - auch die des äußeren Sinnes - den Raum umschließt. Vom Gedanken dessen, was Pflicht ist, her teilt sich die „Metaphysik der Sitten" in eine Lehre von den Rechtspflichten und in eine Lehre von den Tugendpflichten. Die Rechtslehre teilt sich wiederum in privates und öffentliches Recht; dort werden Fragen des Erwerbs und des Eigentums, aber auch schon Fragen der ehelichen und häuslichen Le1 2 8 4 5 β

KpV MdS MdS ebda. MdS ebda.

S. 9. S. 18. S. 20. S. 21.

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Rückblick und Ausbilde

bensgemeinschaft erörtert, hier steht der rechtliche Zustand, der Staat, im Mittelpunkt, wobei der Ubergang aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande zum Staat erneut als Pflicht gedacht wird 7 . - Auch die Tugendlehre teilt sich in zwei Teile, in die Lehre von den Pflichten gegen sich und in die Lehre von den Pflichten gegen andere, die nun, über die formale und äußere Gesetzgebung des Rechts hinaus, im Gedanken eines Vernunflzwecks Inhalte in die Sittenlehre einführen. Alle Teile bleiben auf den Gedanken der Pflicht bezogen und differenzieren sich von ihm her. Hegels Propädeutik kommt dieser Disposition der „Metaphysik der Sitten" denkbar nahe: sie teilt sich in eine Rechtslehre und eine Pflichtenlehre, die der Tugendlehre Kants entspricht, sie unterscheidet hier Pflichten gegen sich und gegen andere, und faßt dort Familie und Staat als Rechtsinstitute auf - wir finden sie jedenfalls unter dem Titel der Rechtslehre - , all dies verhält sich wie bei Kant, aber anders als in Hegels Rechtsphilosophie8. - Bei aller am Tage liegenden Nähe der Propädeutik zu Kant dürfen wir aber nicht über ihre Eigenheiten hinwegsehen und Hegel ohne weiteres eine Adaption des kantischen Pflichtgedankens beilegen. Die Propädeutik lehrt so etwa keinen nur formalen, negativen Rechtsbegriii, sie kann vielmehr schon das Eigentum als Freiheit im Gegenstand begreifen, wie es die Rechtsphilosophie tut. Auch thematisiert sie Familie und Staat in der Pflichtenlehre noch einmal, wo diese Gemeinschaften, den Einzelnen übergreifend, ihn in Pflicht nehmen, d. h. sie erscheinen als eine sittliche Wirklichkeit, die verbindlich ist für das Subjekt; Kant dagegen drückt den sittlichen Charakter menschlicher Gemeinschaft nur ganz am Rande im Begriff der Freundschaft aus. Die Pflichtenlehre Hegels weist überhaupt eine andere Orientierung auf als die Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten", galt es hier als Pflicht, seine natürliche und moralische Vervollkommnung zu befördern, so ist es dort die vornehmste Pflicht gegen sich selbst, sich zum Allgemeinen zu bilden, der Beruf eines Menschen erfährt von hierher eine neuartige Deu-

7 8

MdS Rechtslehre § 42 S. 128. Karl Larenz („Hegels Nürnberger Schriften in ihrer Bedeutung für die Entwicklung seiner Rechts- und Staatsphilosophie" S. 364 ff) weist auf die Nähe des Staates der Propädeutik zum Staatsbegriff Kants hin. Ebenso Franz Rosenzweig („Hegel und der Staat" Bd. II S. 17): „ . . . wie seinerzeit Kants Metaphysik der Sitten so bringt auch sie die Staatsphilosophie in der Rechtslehre...", zugleich weist er aber auf die Besonderheit der Propädeutik hin: „Es liegt nun natürlich nicht so, als ob der Staat hier von Hegel rein und ausschließlich als Rechtsinstitut gefaßt würde; das Verhältnis des Menschen zum Staat behandelt Hegel auch jetzt als ein sittliches."

Rückblick und Ausblick

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tung9. Auch der Abschluß der Rechts- und Pflichtenlehre in einer Religionslehre, im Begriff des Absoluten, läßt vorweg auch einen Unterschied zu Kant vermuten; und schließlich legt die Entwicklung der Propädeutik unter dem Titel einer Realisierung des Begriffs den Gedanken einer Theorieprogression nahe, die nicht einseitig am Pflichtbegriff orientiert bleibt, sondern durchaus so etwas wie sittliche Wirklichkeiten kennt. Wir meinen, daß die aufgezählten Unterschiede begründet sind in einem ontologischen Moment der Theorie der Propädeutik. Schon in ihrer Einleitung sahen wir, wie sich dieser Standpunkt neben dem des Bewußtseins geltend machte, und wir wollen uns bemühen, auch jetzt wieder das Ineinander beider Gedanken aufzuzeigen. Hegels Rechtsphilosophie dient uns dabei neben der „Metaphysik der Sitten" als ein Mittel, den Standort der Propädeutik zu bestimmen. Sie begreift als Philosophie des objektiven Geistes die Wirklichkeit der Freiheit in der Äußerlichkeit. In einer dialektischen Progression ordnet sie Moralität und Recht dem Bereich der Sittlichkeit, dem Bereich freier menschlicher Gemeinschaft, wie er sich in Familie, Gesellschaft und Staat differenziert, als der vollkommenen Gestalt der Freiheit unter. Sie ist so nicht am Pflichtbegriff, an der gesollten Freiheit, orientiert, sondern an der seienden Freiheit und vermag von hier aus auch noch das Sollen als einen Seinstyp zu begreifen und ihm Rationalität zu verleihen. Die Rechtsphilosophie soll uns helfen festzustellen, wie weit und in welcher Art sich ontologische Gedanken, zu denen die Propädeutik ja hinführen will, in ihr selbst sich schon geltend machen. Erst wenn wir diese Aufgabe einer Theoriediagnose erfüllt haben werden, werden wir beurteilen können, ob und wie die Propädeutik in das System Hegels einführen kann. — • Allerdings kennt Hegel audi das moralische Ziel der Vollkommenheit PP Erläuterungen zur Einleitung § 25.

V. Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre 1. Der Begriff des Rechts und das Eigentum Wir erfahren das Recht, das in allen drei Theorien (»Metaphysik der Sitten«, »Propädeutik« und »Rechtsphilosophie«) das Anfangstheorem bildet, — mit Kant zu reden — als ein äußeres Gesetz1. Es stammt nicht aus einer »inneren Gesetzgebung«2, ist nicht Gesetz meiner Selbstbestimmung und dennoch Gesetz, das mich zu seiner Erfüllung verbindet und diese durch einen äußeren Zwang, durch die »Befugnis zu zwingen«3 sicherstellen kann. Es abstrahiert von meiner sittlichen Freiheit und nimmt mich dennoch als frei, als ein Wesen, dem das Unrecht zugerechnet werden kann. Ja, es erhebt sogar den Anspruch, gegen meine wohlverstandene Freiheit selbst im Zwang nicht zu verstoßen; d. h. der Begriff des Rechts beruft sich auf Freiheit als seinen Grund, ohne doch diese Freiheit allein in der Selbstbestimmung des Menschen qua innere Gesetzgebung begründen zu können oder audi nur zu wollen. Es verlangt vielmehr, Freiheit als in einer äußeren Gesetzgebung wirklich zu denken. Wir erwarten so von einer Theorie des Rechts, wie sie Kant und Hegel geben, daß sie uns eine Freiheit in der Äußerlichkeit und eine äußere Verpflichtung begreifen lehrt. Dies Problem zu lösen, geht Hegel in der Propädeutik den Weg einer ontologischen Bestimmung des Rechts. Schon in der Theorie des praktischen Bewußtseins dadhte er ja eine Vermittlung von Freiheit und Äußerlichkeit, er kannte schon dort den freien Trieb und die freie Willkür, Freiheit, die Freiheit in der Natur des Menschen ist, äußere Freiheit. So faßt er nun das Recht als die Äußerlichkeit des allgemeinen Willens, d. h. »der Grundsatz des Willens ist also, daß seine Freiheit zu Stande komme und erhalten werde«4 und dieser positive Grundsatz ist Prinzip audi des Rechts, der Gesetze, die wesentlich verbietend, negativ, sind. Dieser onto-

1

MdS S. 28. » MdS S. 23. 8 MdS S. 37 Rechtslehre § E. * PP Erläuterungen zur Einleitung § 21.

Der Begriff des Rechts und das Eigentum

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logisdi gedeutete, objektive Wille ist unabhängig von Absicht, Überzeugung und Gesinnung5, er begegnet im Recht als die Forderung, daß der allgemeine Wille geschehe, ganz abgesehen davon, ob der Handelnde ihn zur Maxime seines Willens macht6. Es ist so für Hegel möglich, Freiheit und Äußerlichkeit zusammen zu denken im Begriff des Rechts, äußere Gesetzgebung in einem positiven Freiheitsprinzip zu fundieren. Auch bei Kant bemerken wir den Ansatz zu einer ontologischen Diskussion des Rechts. In der »Kritik der praktischen Vernunft« hatte er Freiheit ja vorzüglich als gesollte Freiheit gefaßt, die ihr Bestehen im inneren Gesetz des »Du sollst« hat und im Wollen um dieses Gesetzes willen. Hier nun in der »Metaphysik der Sitten« führt er - der Gedanke des Rechts verlangt dies - auch eine seiende Freiheit ein, eine Freiheit, die nicht mehr bloß in der inneren Gesetzgebung liegt, sondern in der äußerlichen Handlung. Er spricht die Willkür als frei an 7 . Dies ist begründet aber nur in dem Desiderat, das Recht zu verstehen, einen weiteren Grund für die Freiheit der Willkür gibt Kant nicht. Wir sehen vielmehr, wie der Gedanke der Freiheit selbst eingestandenermaßen8 in das Dilemma gerät, das wir anläßlich der »Kritik der praktischen Vernunft« formulierten. Ist Freiheit nur im Willen, im Vermögen der Gesetzgebung für die Maxime der Handlung, so können wir die Freiheit der Willkür in der äußerlichen Handlung nicht verstehen; muß diese aber als Adressat einer äußeren und doch freien Gesetzgebung eingeführt werden, so wissen wir nicht mehr, welchen Sinn die Freiheit des Willens hat. »Freiheit« gerät in die Gefahr, ein äquivoker Begriff zu werden: verschiedenes scheint gemeint, wenn Kant von der Freiheit des Willens und wenn er von der Freiheit der Willkür spricht. Die Erklärung des Rechts durch die Bestimmung seines Adressaten, der freien Willkür, erscheint uns problematisch, sehen wir sie auf dem Hintergrund der »Kritik der praktischen Vernunft«, die diese positive Vermittlung von Freiheit und Äußerlichkeit eigentlich nidit zuläßt. Stimmiger erscheint uns von hierher Kants Bestimmung des Prinzips einer äußeren Gesetzgebung in einem negativen Rechtsbegriff: Das Recht regelt die äußeren Verhältnisse der Menschen zueinander9 dadurch, daß es die Freiheit des Menschen einschränkt auf die Bedingung, mit der Freiheit anderer Menschen zusammenzustimmen. »Das Recht ist also der Inbegriff der Bes β 7 8 9

ebda. § 22. PP Rechtslehre § 2. MdS S. 13 und S. 29 f. MdS S. 29 f. MdS Rechtslehre § Β S. 34.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

dingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« 10 Kant denkt die Vermittlung von Freiheit und Äußerlichkeit im Recht so wesentlich negativ, d. h. aus der Verbindung der Freiheit mit der Äußerlichkeit erwächst das Recht nicht als ein neuer Inhalt, der als ihre positive Einheit gedeutet werden könnte, vielmehr macht sich der Vernunftinhalt »Freiheit« als Einschränkung der Willkür, der äußeren Freiheit, geltend. Kant betont den verbietenden Charakter der juridischen Gesetzgebung, und auch Hegel bringt in der Propädeutik diesen negativen und formalen Aspekt des Rechts zur Geltung, auf dem Hintergrund allerdings seiner ontologischen Deutung des Rechts, das er prinzipiell unter dem Aspekt der Realisierung der Freiheit sieht. - Auf der Stufe des Rechts kann dem allgemeinen Willen noch kein adäquater Inhalt gegeben werden, d. h. das Recht gebietet keinen eigenen Zweck, in dem sich die absolute Freiheit in der Äußerlichkeit erfüllen könnte. So wie es von der konkreten Bestimmtheit des Menschen abstrahierte und ihn lediglich als freies Wesen überhaupt, als Person, nahm, so abstrahiert es auch von den besonderen Zwecken der Willkür, nimmt diese Inhalte aber in ihrer abstrakten Qualifikation, die »Meinen« zu sein, Besitz zu sein, auf und urteilt, ob dieser fähig ist, rechtlicher Besitz, Eigentum, zu werden. Das Recht, der allgemeine Wille in seiner Äußerlichkeit, der hier noch keinen adäquaten Inhalt hat, erscheint darum, weil er sich auf besondere Inhalte in ihrer abstrakten Bestimmtheit bezieht, auch bei Hegel als Gesetz, und zwar als Gesetz, das verbietet, daß die besonderen Zwecke dem allgemeinen Willen widersprechen. Das Recht verhindert so, daß die Willkür, die alles zu dem Ihren macht, zum allgemeinen Gesetz wird, es ist Einschränkung der Willkür. Hegel kann so zwar das Recht ontologisch als Freiheit in der Äußerlichkeit artikulieren, muß aber sogleich hinzufügen, daß diese Freiheit selbst nur formell ist - darum kann uns auch Kants negativer Rechtsbegriff das Recht verständlich machen - , weil sie keinen adäquaten Inhalt hat; in dieser Rücksicht ist sie mit ihr Fremdem befaßt.So faßt die Rechtsphilosophie das Recht als die unmittelbare11 Realisierung, als das Dasein12 der Freiheit, und verweist damit auf Weiterungen, in denen der Vernunftinhalt »Freiheit« eine adäquate Gestalt in der Wirklichkeit er10

ebda. § Β S. 34 f. RPh § 34. » RPh § 32. 11

Der Begriff des Rechts und das Eigentum

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hält, von der aus dann auch allererst die Rationalität der ontologischen Artikulation des Rechts einsichtig wird. Vom Gedanken dieser Weiterungen, vom Begriff einer affirmativen Gestalt der Freiheit, eines konkreten Allgemeinen, aus, als dessen Prinzip das Recht verstanden wird, kritisiert Hegel hier Kants negativen und formellen Rechtsbegriff, wonach »der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger, der Geist nicht als wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll«13. Er wehrt sich dagegen, Vernunft, Freiheit »nur (von mir hervorgehoben) als ein äußeres, formelles Allgemeines«14 zu fassen und sucht, das Moment der Negativität, Formalität und Äußerlichkeit des Rechts innerontologisch, geleitet von dem positiven Rechtsbegriff des Daseins der Freiheit, zu begreifen, während für Kant dies Moment Anlaß zu einem negativen Rechtsbegriff ist, der - betrachtet man das Redit isoliert - dies auch durchaus verständlich madien kann. - Dennoch tritt auch bei Kant ein ontologisches Moment immer wieder hervor, wir sahen es schon im Begriff der freien Willkür, wir werden es wiederfinden in seiner Theorie des Besitzes. Etwas Äußeres als das Meine zu haben, ist für Kant zunächst widersprüchlich15, da Besitz ihm hier qua empirischer Besitz nur als körperliche Inhabung einer Sache gilt; so kann ich dann allerdings — gebe ich die Sache aus der Hand - nicht in meiner Freiheit verletzt werden, wenn sie ein anderer gegen meinen Willen gebraucht. Wird die Äußerlichkeit so als bloß empirisch angesprochen, d. h. als eine Wirklichkeit, in der die Vernunft nicht ist, dann muß es auf der anderen Seite einen reinen Vernunftanspruch an eine Sache geben, einen intelligiblen Besitz. Der Rechtsgrund dieses Begriffs ist das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft. Dies verlangt16, daß ich das, was ich körperlich besitze, auch rechtlich besitzen können muß, da es sonst keinen Gegenstand meiner äußeren Freiheit, der Willkür, gäbe, ich von dieser mithin keinen Gebrauch machen könnte. Die ontologische Einheit macht sich hier als Postulat wieder geltend und führt zu einem Begriff des intelligiblen Besitzes, für den die empirischen Bestimmungen, Äußerlichkeit also, mit konstitutiv sind. Dieser hat nämlich zunächst keinen weiteren Inhalt als der Begriff eines empirischen Besitzes, er bestimmt sich lediglich durch Abstraktion von Raum- und Zeit-

18

RPh § 29. ebda. " MdS Rechtslehre § 1 S. 51 f. 14 MdS Rechtslehre § 2 S. 52 f. 14

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

bedingungen, wenn etwa an die Stelle der physischen Inhabung das »in der Gewalt haben«17 tritt, das Besessene ist aber empirisch wie intelligibel identisch die äußerliche Sache, die Kant demgemäß auch als »Sache an sich«18 anspricht. Scheint so für Kant im Eigentum einerseits eine gegenständliche Einheit von Freiheit und Äußerlichkeit, von Empirie und Intelligibilität, vorzuliegen, so sucht er doch andererseits auch wiederum, diese Intelligibilität von seinem negativen Rechtsbegriff her zu denken im Gedanken der Rechtlichkeit des Eigentums durch wechselseitige Anerkennung der Personen im bürgerlichen Zustand. Zur Verbindlichkeit des Eigentums »wird ein allseitiger, nicht zufällig, sondern apriori, mithin notwendig vereinigter und darum gesetzgebender Wille erfordert; denn nur nach diesem seinem Prinzip ist Übereinstimmung der freien Willkür eines jeden mit der Freiheit von jedermann, mithin ein Recht überhaupt und also audi ein äußeres Mein und Dein möglich«19. Nur der allgemeine Wille kann verbindlich sein — dies ist auch bei Hegel so —, aber anders als er denkt Kant diesen Willen als den vereinigten Willen der freien Einzelnen, die sich wechselseitig verbinden.20 Aus dem Verhältnis einer Person zu einer Sache im Besitz wird »das Verhältnis einer Person zu Personen«21. Kant bringt so schon gelegentlich des Eigentums - in Hegels Sprache zu reden — ein kategorial Höheres zur Sprache, den bürgerlichen Zustand. Der Gedanke, daß das Eigentum unmittelbar die Freiheit in der Sache ist, tritt demgegenüber zurück, ebenso wie die Konstitutivität der Äußerlichkeit für diesen Eigentumsbegriff. Dies zeigt sich vorzüglich in dem merkwürdigen »episodischen Abschnitt von der idealen Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der Willkür« 22 . Als Fälle solchen Erwerbs gelten ihm Ersitzung (Verjährung), Beerbung und das Recht auf einen guten Ruf nach dem Tode. In allen diesen Fällen begründet nicht ein Vorgang in der Zeit, ein zeitliches in Besitz Nehmen den Rechtsanspruch an eine Sache, sondern gerade das Aufhören zeitlicher Bestimmtheit dessen, der im Besitz war, ja, das Recht auf einen guten Ruf nach dem Tode wird erst dadurch erworben, daß der Besitzer nicht mehr in der Zeit ist, »mithin die Gelangung zum Besitz eine bloße

17

MdS MdS " MdS t0 MdS " MdS " MdS 18

Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre

§ 7 S. 61. § 5 S. 56. § 14 S. 75. § 8 S. 64. § 17 S. 80. §§ 32-35 S. 109-115.

Der Begriff des Rechts und das Eigentum

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praktische Idee der Vernunft ist«23. - Audi Hegel kennt - wenn man so will - in der Theorie des Vertrages24 einen idealen Erwerb. Der allgemeine Wille, das Prinzip des Rechts, wird sich hier selbst gegenständlich, äußerlich als Identität der im Vertrag übereinkommenden einzelnen Willen. Nicht also im Zurückdrängen der Äußerlichkeit liegt in der Rechtsphilosophie das Ausgezeichnete, wie bei Kant, sondern gerade im Gegenständlichwerden eines höheren Vernunftinhalts. Unter diesem ontologischen Aspekt begreift Hegel auch in der Propädeutik den Besitz. Er gilt ihm als die unmittelbare Vergegenständlichung und Verwirklichung des Willens in einer Sache, die so als äußerliche die im kantischen Sinne intelligible Bestimmung trägt. War für Kant die Formierung, die Bearbeitung einer Sache „nichts weiter als ein äußeres Zeichen der Besitznehmung, welches man durch viele andere, die weniger Mühe kosten, ersetzen kann" 25 , so ist sie dagegen für Hegel die vollkommene Art der Besitzergreifung gegenüber der „körperlichen Ergreifung" und der „Bezeichnung"24. In der Formierung „ist die Form des Meinigen unmittelbar mit dem Gegenstande verbunden" 27 , d. h. sie gilt Hegel als ein tätiges Einbilden des Willens in die Sache, was dem Prinzip des Besitzes am angemessensten ist. So ist der Besitz darum rechtlich, weil er die Vergegenständlichung des Willens ist, d. h. Eigentum läßt sich als Sphäre der Freiheit begreifen, als die erste Gestalt, in der sich der allgemeine Wille realisiert, sich - wenn auch noch auf eine natürliche, dingliche Weise — gegenständlich wird; seine Freiheit kommt hier, wie es sein Grundsatz war 28 , zu Stande. Der Wille, der so in eine Sache gesetzt wird, bedarf nicht einer erst noch hinzutretenden Anerkennung durch andere, deren Besitz er eigens anerkennen müßte, er handelt ja qua allgemeiner Wille und ist eben darum auch schon anerkannter Wille und der Besitz so Eigentum, oder - wie Hegel sagt - : „Anerkennen hat nicht den Grund der Gegenseitigkeit."29 Begreift Hegel so in der Propädeutik wie in der Rechtsphilosophie das Eigentum ontologisch, so fehlt doch dort die ausdrückliche ontologische Artikulation dieses Themas, die wir hier finden. Der Vertrag 30

" " " " "

MdS Rechtslehre § 32 S. 108. RPh § 72 ff. MdS Rechtslehre § 15 S. 77. PP Rechtslehre § 10. ebda. t8 PP Erläuterungen zur Einleitung § 21. " PP Rechtslehre § 11. ,0 ebda. § 15.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

etwa erscheint nicht als eine höhere, vernünftigere Wirklichkeit des allgemeinen Willens, sondern lediglich als eine besondere Art des Erwerbs, die in der Möglichkeit der Veräußerung des Äußerlichen gründet. Es ist ein mittelbarer Erwerb, ohne daß doch diese Mittelbarkeit als Vermittlung der einzelnen Willen aufgrund der Allgemeinheit des Willens gedacht würde, die sich im Vertrag gegenständlich wird, und sich so als eine angemessenere Gestalt der Freiheit in der Äußerlichkeit darstellen könnte. - Auch finden wir in der Propädeutik nicht den strikten Ausdruck für den ontologischen Sachverhalt des Besitzes - nämlich, daß er der Wille in der Sache sei - sondern Hegel spricht davon, daß der Wille „eine Sache unter sich subsumiert"31. Er vermeidet also die dialektische Diagnose des Eigentums als des unmittelbaren Daseins der Freiheit und behilft sich stattdessen mit einem Terminus, der der formalen Logik entlehnt ist. Er nähert sich damit wieder Kant, dem er ja in der Rechtsphilosophie32 die Reduktion des Vernünftigen im Recht auf den formallogischen Satz vom Widerspruch vorwarf. Auch bei ihm erscheint jetzt der allgemeine Wille, die Freiheit, - auch wenn er an einem positiven Rechtsbegriff festhält - als abstrakter Begriff, durch den die Realisierung der Freiheit im Eigentum nur als Subsumption ausgedrückt werden kann. Nähert sich Kant in einigen Punkten einer ontologischen Deutung des Rechts, so finden wir umgekehrt bei Hegel in der Propädeutik Anklänge an einen formellen, abstrakten Freiheitsbegriff. Die Rechtsphilosophie zeigt uns, wie beide Momente im Recht selbst begründet sind: Das Eigentum stellt zwar eine Einheit von Freiheit und Äußerlichkeit dar, aber eine Einheit in ihrer ersten unmittelbaren Form, zwar einen ersten Fall realisierter Vernunft, einen Inhalt, der aber letztlich der Freiheit nicht kongenial ist, — erst wo der Wille den anderen Willen zum Gegenstand hat, im Bereich des Sozialen, wird dies erreicht sein — und so behält das Recht selbst noch das Moment des Negativen und Formellen an sich, das nur äußerlich gebietet, und auch von hierher kann es verstanden werden, wie Kant dies tut. Das Recht bleibt so in gewissem Sinne immer auch indifferent gegen die Alternative von ontologischem Standpunkt und Standpunkt des Bewußtseins, der an der Opposition von Vernunft und Wirklichkeit und an einem formellen Allgemeinen festhält, wie wir früher sahen33. Erst in der Folge wird diese Alternative different werden für die Theorie; ihren Weiterungen, der Lehre vom Staat und von der Familie wollen wir nun nachgehen. 31

PP Rechtslehre § 8. « RPh § 29. 83 S. 53 unserer Arbeit.

Der Staat

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2. Der Staat Das Recht — so die Propädeutik 34 - ist zwar Gesetz, aber Gesetz der Freiheit, nicht Naturgesetz, d. h. der Mensch als ein freies Wesen kann gegen das Recht handeln, nicht äußere Einwirkung kann die Erfüllung des Gesetzes verhindern, sondern die innere Selbstbestimmung des Menschen. — Das Redit gebietet, den Anderen als Person zu respektieren, jeder Rechtsbrudi ist so Eingriff in die Freiheitssphäre des Anderen. Dieser Eingriff kann zweifach sein. Im einen Falle bestreite ich einer einzelnen Person das besondere Recht auf eine Sache und wähne mich im Recht darauf. Das Recht überhaupt, damit aber auch die Personalität des Kontrahenten ist hier anerkannt, aber es ist strittig, wer im Recht ist; Zivilrecht und ziviler Rechtsstreit resultieren hieraus. Im anderen Falle negiere ich das Recht qua Recht, bestreite einer Person nicht nur den besonderen Rechtstitel auf eine Sache, sondern verhalte mich zu ihr in meiner Handlung - etwa der Gewalttat — gar nicht als zu einer Person, d. h. ich spreche ihr die Freiheit ab; Kriminalrecht und Strafprozeß resultieren hieraus. In beiden Fällen bedarf es eines Richters35, der einmal den Rechtsstreit entscheidet - ohne zu strafen, da die Person nicht verletzt wurde —, der zum anderen in der Zuteilung der Strafe das negierte Recht wiederherstellt. Der Verbrecher hat gegen den allgemeinen Willen gehandelt, Unrecht getan, qua vernünftiges Wesen hat er aber in seiner Tat ein allgemeines Gesetz aufgestellt, das in der Strafe auf ihn selbst angewandt wird; leitend für die Strafbemessung ist also das Gesetz der Wiedervergeltung, das ius talionis. Diese Wiedervergeltung darf aber nicht Rache sein36, d. h. sie darf nicht mit dem besonderen Willen dessen, dem Unrecht geschehen ist, verknüpft werden, sondern eine Gewalt muß sich ihrer annehmen, die das Recht um des Rechts willen wiederherstellt, die sich den allgemeinen Willen selbst zum Zweck setzt. - Diese Macht ist der Staat: „Der Rechtsbegriff als die Gewalt habende, von Triebfedern der Einzelheit unabhängige Macht hat nur in der Staatsgesellschaft Wirklichkeit." 37 Leitend ist so bei dem Übergang vom Recht zum Staat der Gedanke der Realisierung des Begriffs, mithin eine ontologische Perspektive. Das, was zuvor nur als gebietendes, bzw. verbietendes Prinzip Wirklichkeit hatte, gewinnt nun ein Bestehen in der Wirklichkeit, das seiner

M 35 88

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PP PP PP PP

Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre

§ § § §

17. 18. 21. 22.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

Allgemeinheit angemessen ist; der vernünftige Wille, der im Recht Gesetz war, wird eine wirkliche Macht, d. h. seine Freiheit ist hier zu Stande gekommen, wie Hegel zuvor gefordert hatte 38 . Damit erscheint das ontologische Desiderat, die Vernunft in der Äußerlichkeit zu denken, eine gegenständliche Gestalt der Freiheit namhaft zu machen, zunächst erfüllt: Der Staat wird als die Wirklichkeit angesprochen, in der Äußerlichkeit in die Vernunft integriert ist. - Für unsere Deutung spricht es auch, daß dem Staat als der „Gesellschaft von Menschen unter rechtlichen Verhältnissen" 39 die „natürliche Gesellschaft"40 der Familie vorgeordnet wird. Wie der Staat stellt auch sie — anders als bei Kant, wie wir sehen werden — eine Geisteinheit dar, ein „organisches Ganzes" 41 , das den Einzelnen übergreift; indem er sein Bestehen hat nur in der erfüllten Beziehung zu anderen. Aber anders als der Staat ist die Familie diese Einheit noch unmittelbar, d. h. diese Einheit wird von ihren Gliedern noch nicht gewußt und gewollt, sie gehören ihr durch „Gefühl und Trieb" 42 von Natur an. Der Staat dagegen faßt die Menschen nicht nach ihrer natürlichen Bestimmtheit, sondern umfaßt sie in seiner Einheit als freie Wesen, als Personen. Gleichwohl, trotz seiner ontologischen Artikulation als organischer Einheit, kommt der Staat hier in der Propädeutik - ganz wie bei Kant unter dem Titel der Rechtslehre, im Bereich einer äußeren Verpflichtung also, zu stehen. Dies zwingt uns zu einer Modifikation unserer Deutung. Der Staat erscheint nicht wie in der Rechtsphilosophie als affirmatives Resultat auch der Moralität, des Bereichs innerer Freiheit, vielmehr wird die Pflichtenlehre hier ihm nachgeordnet. Auch darin folgt Hegel Kant; aber anders als er nimmt er im Gedanken der Familien- und Staatspflichten beide Themen der Rechtslehre wieder auf. Der Begriff des Staates steht also in der Mitte zwischen dem Bereich äußerer Verpflichtung und dem innerer Verpflichtung, er hat Teil an beiden, jedoch nicht nur nach dem abstrakten Grundsatz Kants, daß äußere Pflichten auch innere Pflichten sind, er führt vielmehr zu konkreten Staatspflichten und geht darin über Kant hinaus. Neben den ontologischen Begriff des Staates tritt so zwar seine Deutung vom Pflichtbegriff her, aber nur weil er audi als Geisteinheit, als konkretes Allgemeines, gefaßt wird, kann er als so und so bestimmter Inhalt verpflichtend sein, d. h. gerade darin - so meinen 38

PP Erläuterungen zur Einleitung § 21. PP Rechtslehre § 24. " PP Rechtslehre § 23. 41 PP Rechtslehre § 23. " ebda. 38

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wir - , daß er sowohl äußerlich wie innerlich verpflichtend ist, macht sich ein ontologisches Moment wieder geltend. Dies Ineinander von Pflichtenstandpunkt - dem Standpunkt des Bewußtseins - und ontologischem Standpunkt darf uns nicht verwundern, — wir haben es bei anderer Gelegenheit in anderer Form schon beobachtet denn schließlich soll dies Bewußtsein ja die Ebene des Hegeischen Systems erreichen. Wir werden später erörtern, ob und wie die Propädeutik ihm dazu hilft. Vorerst müssen wir die Verflechtung beider Standpunkte näher untersuchen, uns fragen, warum Hegel den Staat in einer Rechts- und Pflichtenlehre behandelt und auch wiederum gewissermaßen eine ontologische Verpflichtung kennt. D a z u wollen wir zunächst die ontologische Theorie der Rechtsphilosophie betrachten. Dort vollzieht sich der Übergang vom Unrecht nicht zum Staat, sondern zur Moralität 4 3 . Im Unrecht setzte sich der einzelne Wille gegen den allgemeinen, der ihm als äußeres Gesetz begegnete. D a m i t ist der Begriff einer Freiheit aufgestellt, die ihre Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar im Recht hat, sondern im einzelnen Willen, der sich als frei nimmt. Freiheit ist nun im Bereich der Moralität nicht mehr die Freiheit der Person, sondern die Freiheit des Willens, der auf seine Personalität qua Freiheit reflektiert, sie ist Freiheit des Subjekts, das sich selbst in innerer Selbstbestimmung Gesetz ist; damit wird gegenüber der äußeren Wirklichkeit der Freiheit ihre innere Wirklichkeit thematisiert. Der Wille ist in dieser inneren Selbstbestimmung ein besonderer, er befindet sich in Differenz zum allgemeinen Willen, der ihm als Sollen begegnet, wie auch zur äußeren Wirklichkeit 44 . Das Sollen wiederum findet keinen adäquaten Inhalt in der Wirklichkeit, so daß auch diese und das Allgemeine different sind. Es ist ein abstrakter Formalismus. Das Subjekt verlangt aber zugleich, daß die gegenüber dem Formalismus der Selbstbestimmung äußerliche Handlung, ihr empirisch-konkreter Inhalt, ihm nicht fremd sei, daß auch dieser seiner Besonderheit in der Äußerlichkeit gerecht werde, d. h. es verlangt, daß die Handlung seinem Wohl diene 45 . Aber auch dies Wohl bleibt abstrakt, das Subjekt kann es in Beliebiges setzen. Erst der Begriff des Guten 4 6 scheint diese Abstraktheit zu überwinden, er faßt den dem Gesollten adäquaten Inhalt und ist konkret gemeint. Sofern aber der allgemeine Wille, das Prinzip der Bestimmung des Guten, auf der Stufe der

« « « "

RPh § 104, E § 503. E § 505. E S 507 ff.

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Moralität selbst bestimmungslos ist, kann audi dieses nicht bestimmt werden. Wurde Freiheit in der Moralität zunächst als Sollen, als Prinzip der Selbstbestimmung, gedacht, so verkehrt sich dieser Gedanke nun in sein Gegenteil. Der abstrakt allgemeine, inhaltslose Wille kann nicht Bestimmungsgrund der Subjektivität und des Guten sein, vielmehr setzt sich deren Selbstgewißheit nun als Prinzip der Freiheit und im Gewissen als Richter über das Gute; dies bestimmt, was gut ist, da das Allgemeine bestimmungslos ist. Der allgemeine Wille wird darin für das Subjekt selbst zu einem Besonderen, seine Freiheit, seine Selbstbestimmung kommt außerhalb dieses Allgemeinen zu stehen und ist so Freiheit zum Bösen, d. h. es ist zufällig, ob sich das Subjekt zum Guten, zur Verwirklichung der Freiheit, des allgemeinen Willens, oder zum Bösen entschließt. So wie das Bestehen der Freiheit in der Subjektivität zufällig ist, so ist auch ihre Wirklichkeit in der diesem Subjekt korrespondierenden Äußerlichkeit ein einziges Reich des Zufalls 47 . Es ist zufällig, ob das Gute und das Wohl harmonieren, zufällig, ob das Gute unter den Bedingungen der Äußerlichkeit realisiert werden kann, und zufällig, ob der Gute glücklich ist. Die Bestimmtheit der Äußerlichkeit, die die Verwirklichung des Gesollten ermöglicht, kann wiederum nur als Postulat gefaßt werden: die Welt soll so sein, daß sich das Gute in ihr verwirklichen läßt. Weder in der Selbstbestimmung des Subjekts noch in der ihr korrespondierenden Äußerlichkeit kann so eine adäquate Wirklichkeit der Freiheit gedacht werden, ihr Bestehen bleibt zufällig. Will man dem Gedanken der Allgemeinheit der Freiheit gerecht werden und eine Gestalt in der Wirklichkeit namhaft machen, die diese inhaltlich erfüllt, so darf man sie nicht als abstraktes Sollen gegenüber einem Subjekt festhalten. Man muß vielmehr einen Bereich namhaft machen, den man als prinzipiiert durch Freiheit verstehen kann, in dem nicht nur das Recht, sondern auch die Selbstbestimmung ein Bestehen hat, in dem das Recht Macht und das Gute wirklich ist; in dem sich schließlich auch der Einzelne wahr gegenständlich wird, sich als ein freier besitzt. Hegel findet dies in der Sphäre der Sittlichkeit, deren vorzügliche Gestalt der Staat ist. Hier ist Freiheit in einem affimativen, emphatischen Sinne wirklich. Diese Stufe der Moralität im Ubergang vom Recht zum Staat fehlt jedoch in der Propädeutik; wir wollen versuchen, dies auf seinen Grund zurückzuführen. — War der Gedanke des Rechts, wie wir uns zu zeigen bemühten, noch in gewissem Sinne indifferent gegen die Alternative von ontologischem Standpunkt und Standpunkt des Bewußtseins, weswegen 47

Ε § 510.

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ihn die Rechtsphilosophie als das unmittelbare Dasein der Freiheit faßte, „so tritt hier (sc. in der Moralität) auch der Standpunkt des Bewußtseins ein"48, d. h. der Gegensatz des Bewußtseins erscheint in der ontologischen Theorie selbst. Lag schon im Begriff des Rechts die Notwendigkeit, es als Freiheit in der Äußerlichkeit zu verstehen, Freiheit und Äußerlichkeit hier in eins zu denken, um den Preis allerdings, diese Einheit selbst wieder als nur äußerlich anzusprechen, da sie letztlich dem allgemeinen Willen nicht adäquat sein konnte, so finden wir hier genau das Gegenteil: in der Moralität kommt eine solche Einheit gar nicht erst zustande, der einzelne Wille, der sich in sich reflektiert, steht in Differenz zum allgemeinen und gibt sich zu ihm das Verhältnis des Sollens, dessen Verwirklichung in der Äußerlichkeit ein Zufall bleibt. Erst im Durchgang durch diesen Bereich, der das Moment der Reflexion, der Subjektivität, des bewußten Wollens und Willens exponiert, gelangt Hegel in der Rechtsphilosophie zum Begriff einer umfassenden Wirklichkeit der Freiheit, die auch diese Äußerlichkeit integriert, zu einer Einheit, der nichts mehr äußerlich, vernunftfremd, ist, und zu der es auch kein äußerliches Verhältnis mehr gibt, wie noch im Recht, in der der Einzelne vielmehr seine eigene Wirklichkeit anschaut. Leitend aber sowohl für die Rechtsphilosophie wie für die Propädeutik ist der Gedanke der Realisierung des Begriffs, der Gedanke, der Freiheit eine adäquate Wirklichkeit zu finden. Die Stufe der Differenz, des Zufalls, der Vermittlung, oder welchem Ausdruck man sonst den Vorzug geben will, in der sich der Gegensatz des Bewußtseins geltend macht, fehlt jedoch in der Propädeutik. Sie begreift den Gegensatz des Bewußtseins nicht innerontologisch, wie es die Rechtsphilosophie tut, sondern macht ihn im Gedanken der Pflicht zu ihrem eigenen Standpunkt — sie folgt darin Kant nach —, der aber in der Rechts- und in der Pflichtenlehre mit dem ontologischen Gedanken des Staates verbunden wird. — Wollen wir uns diese Anlage der Theorie erklären, so können wir nur, wie schon zuvor bei der Grundlegung der Freiheit im praktischen Bewußtsein, das Fehlen einer ontologischen Disposition dafür verantwortlich machen. Denn die Logik stellt den Begriff der Wirklichkeit bereit - als einer Einheit, „in welcher Existenz oder Unmittelbarkeit, und das Ansichsein, der Grund oder das Reflektierte schlechthin Momente sind" 49 - , der fordert, den Gegensatz des Bewußtseins in die ontologische Theorie aufzunehmen, der es zugleich aber erlaubt, diesen Gegensatz auch zu überwinden. Zwar " RPh § 108. " L II S. 170.

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ist der logische, spekulative Gedanke schon für die Artikulation des Rechts leitend - auch in der Propädeutik, wie wir gesehen haben — qua unmittelbare Realisierung der Freiheit aber war für es noch keine objektive ontologische Genealogie notwendig, ja es konnte, wie Kant dies tut, auch durch einen negativen Rechtsbegriff verständlich werden. Wo aber in der DifTerenzstufe der Moralität das Denken sich gegen das Bewußtsein wendet, verlangt, daß dessen Standpunkt überwunden wird, müßte der logische Gedanke selbst explizit und der Konflikt beider offen ausgetragen werden. Es wäre dies gewissermaßen eine innerontologisdie Einführung in den Systemgedanken Hegels, eine Einführung, die selbst schon Dialektik in Anspruch nimmt. - Wir dürfen wohl annehmen, daß solch ein Lernen entlang des Systems selbst für Schüler zu schwierig gewesen wäre; darum wohl versucht Hegel, den ontologischen Gedanken mit dem Pflichtenstandpunkt zu verknüpfen. Wir werden dies später genauer verfolgen müssen. Vorerst müssen wir feststellen, daß der Staat, trotz seiner ontologischen Fassung im Ansatz, nicht als die totale, affirmative Wirklichkeit gedacht werden kann, wie dies die Rechtsphilosophie tut, eben weil das Moment der Subjektivität, der Reflexion, des Gegensatzes des Bewußtseins in ihm noch nicht gedacht ist. Sein Begriff ist, wie der des Rechts, gewissermaßen unmittelbar ontologisch und so, auch von hierher gesehen, wiederum offen für den Pflichtenstandpunkt, wie das Redit selbst. Unsere Analyse wird bestätigt durch die Disposition des Kapitels über die Staatsgesellschaft. Die Staatsgesellschaft, das ist nicht nur der Staat, sondern ihm thematisch vorgeordnet ist - wir sahen dies bereits die Familie, in der Propädeutik wie in der Rechtsphilosophie. Die Sphäre der Sittlichkeit hier ist der Bereich des Sozialen. Die Freiheit als der allgemeine Wille, der sich selbst will, findet in ihm, wo das Subjekt das andere Subjekt will, d. h. ihm das andere seiner selbst wieder als Subjekt begegnet, ihre affirmative Gestalt. Solche sozialen Einheiten haben so selbst Subjekts-, Fürsichseinscharakter, sie sind Geisteinheiten, fassen das Beisidisein der Vernunft in der Äußerlichkeit. Sie übergreifen den Einzelnen, und doch findet der Einzelne in ihnen sein eigenes Wesen, sie entschränken ihn, sofern sie das Subjekt mit Eigenem, mit Subjekten, befaßt sein lassen. Die unmittelbare, natürliche Gestalt soldier sozialen Geisteinheiten ist - wie schon erwähnt — die Familie. In der Propädeutik nun folgt der Staat unmittelbar auf sie. Sowenig wie anläßlich des Rechts - trotz seines grundsätzlich ontologischen Begriffs — im Detail die Folge von Eigentum und Vertrag dialektisch gedeutet wurde, so wenig geschieht dies hier. Familie und Staat werden einander beigeordnet und durch die Vorstel-

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lung einer Erweiterung der Familie zur Nation verknüpft: „Wenn eine Familie sich zur Nation erweitert hat und der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist dies ein großes Glück." 50 Es ist aber auch ein Zufall, ob dies geschieht, und ein glücklicher Zufall, weil so die ontologische Dignität des Staats, die durch ein Argument hier nicht gesichert werden kann, durch die Vorstellung eines Realvorgangs plausibel gemacht wird. Audi die Rechtsphilosophie bedient sich einer solchen Vorstellung die Kinder entwachsen der Familie 51 - , um den Übergang zu höheren sozialen Gestalten zu rechtfertigen, sie bringt aber darüber hinaus in der Thematisierung der bürgerlichen Gesellschaft noch ein Argument für den Ubergang zum Staat. Sprach die Propädeutik die Entwicklung der Familie zum Staat als einen glücklichen Zufall an, so vermag die Rechtsphilosophie auch diesem Übergang noch Rationalität zu verleihen, indem sie das Reich des Zufalls in ihre Theorie einbegreift. Die bürgerliche Gesellschaft stellt die Differenzstufe im Bereich des Sittlichen, in der Sphäre sozialer Gebilde, dar und wird ganz ähnlich bestimmt wie zuvor die Moralität. "Wie der Einzelne sich dort als Prinzip der Freiheit setzte, so nimmt er nun sich als Selbstzweck in seiner individuellen Bestimmtheit 52 . Das Allgemeine ist demgegenüber nur als Verhältnis der Vielen untereinander wirklich, die, weil ihnen das Allgemeine so äußerlich ist, eben nur als Besondere in der bürgerlichen Gesellschaft sind und sich ihre Besonderheit zum Zweck setzen. Hegel spricht dies auch als „äußeren Staat" 5 3 an und als „System der Atomistik" 54 , weil das Soziale hier nicht übergreifende Einheit ist, sondern Aggregat der vielen Einzelnen. War die Besonderheit in der Sphäre der Moralität das Wohl des Subjekts, so machen hier, ganz ähnlich wie dort, seine Bedürfnisse seine Besonderheit aus. Die bürgerliche Gesellschaft ist so „das System der Bedürfnisse" 55 . Die Befriedigung dieser Bedürfnisse wird vermittelt durch den Tausch von Gütern, in deren Besitz der Einzelne ist und durch die Produktion austauschbarer Güter, durch die Arbeit. Die bürgerliche Gesellschaft ist so wesentlich ökonomisch bestimmt. In der Vervielfältigung der Bedürfnisse und der ihr entsprechenden Teilung der Arbeit stellt sich die Abhängigkeit des Einzelnen vom gesamtgesellschaftlichen Zusamso

PP Rechtslehre § 24. RPh § 177. « Ε § 523. " ebda. M ebda. « Ε § 524. 51

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menhang her, er ist angewiesen auf die vielen anderen, besonderen Glieder der Gesellschaft. Damit wird die Befriedigung seiner Bedürfnisse aber selbst zufällig. Das Allgemeine ist hier ja nicht selbst Zweck, nicht die Macht, die das Bestehen des Einzelnen sichert. Nicht die Befriedigung der Bedürfnisse aller ist Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der Einzelne macht sein besonderes Bedürfnis zu ihrem Prinzip und Zweck und gerät so in eine absolute Abhängigkeit von der Gesellschaft, deren Allgemeinheit äußere Notwendigkeit für ihn wird und die ihn in der Erwartung der Befriedigung seiner Bedürfnisse unter Umständen enttäuscht. Gegen seinen Willen sieht er sich so dem Zwang und dem Zufall ausgesetzt, der sich doch gerade dadurch konstituierte, daß er seinen besonderen Willen zum Prinzip der Gesellschaft machte. Erst der Staat kann das Wohl des Einzelnen garantieren. Wie in der Familie ist in ihm das Allgemeine Zweck, worin der Einzelne sein Bestehen hat, wie in der bürgerlichen Gesellschaft aber ist er gewußte Allgemeinheit; der Einzelne weiß das Allgemeine, nun aber nicht mehr als eine äußere Notwendigkeit, sondern als sein inneres Wesen, das zugleich wirklich ist. - Ebenso wie in der Großgliederung die Differenzstufe der Moralität im Übergang zum Staat in der Propädeutik fehlte, so fehlt in der Detailgliederung nun auch die bürgerliche Gesellschaft. Wir haben dies früher auf die Unmöglichkeit, in einer Einleitungsschrift den Gegensatz des Bewußtseins innerontologisch zu fassen - auch wenn sonst durchaus ontologische Bestimmungen auftreten zurückgeführt und auf den daraus resultierenden Pflichtenstandpunkt. Hier nun finden wir unsere Deutung bestätigt: die Differenzstufe der bürgerlichen Gesellschaft bleibt in der Propädeutik ontologisdi unfaßbar und kann aber auch vom Standpunkt der Pflicht aus nicht begriffen werden, da es Gesellschaftspflichten nicht geben kann, jeder ist ja in der bürgerlichen Gesellschaft Egoist. Wir sehen so, wie Hegel ontologische Bestimmungen nur einführt, soweit sie sich auch durch den Pflichtenstandpunkt plausibel machen lassen, soweit sie als den Einzelnen verpflichtend gedacht werden können. So kann einerseits der Pflichtenstandpunkt selbst nicht ontologisdi thematisiert werden und andererseits auch die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft nicht. Bisher haben wir den Ubergang zum Staat und diesen selbst mehr oder weniger unter systemtheoretischen Aspekten betrachtet. Der Sachverhalt, den wir dabei feststellen, hat natürlich aber auch Folgen für die Inhalte der Theorie. Der Staat, der in der Propädeutik unmittelbar aus dem Recht herkommt - die Gründe dafür haben wir darzulegen versucht - erscheint selbst wesentlich als Rechtspflege, als der Zustand, in

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dem das Recht Macht ist. Doch war dies auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft der Rechtsphilosophie zu fassen. Recht und bürgerliche Gesellschaft kommen darin überein, daß die Allgemeinheit in ihnen nur formell ist; das Recht qua allgemeiner Wille bezog sich als äußerer Zwang auf die Willkür der Personen, es war in dieser Rücksicht mit etwas befaßt, was selbst noch nicht in den allgemeinen Willen integriert ist, und das Allgemeine in der bürgerlichen Gesellschaft ist nur als äußerer Zusammenhang der vielen Einzelnen und ihrer besonderen Zwecke wirklich. Sie vermag so durchaus diesen Zusammenhang unter Rechtsgesetzen zu fassen, d. h. sie hat - da das Recht wesentlich vom Eigentum her gedacht wird - die Möglichkeit einer rechtlichen Zuteilung des Mein und Dein und darin die Möglichkeit eines Schutzes der Person. Die bürgerliche Gesellschaft gibt sich so selbst Rechtsinstitute, sie ist äußerer Staat. Wird der Staat - wie in der Propädeutik — als Rechtsinstitut gefaßt, wenngleich dies nur eine Seite seiner Bestimmung ausmacht, so rückt er in dieser Hinsicht auch in die Nähe der bürgerlichen Gesellschaft56. Gewisse Anzeichen in der Propädeutik weisen ebenfalls in diese Richtung. So erscheint der Staat hier unter dem Oberbegriff der Gesellschaft, und zwar als „Gesellschaft von Menschen unter rechtlichen Verhältnissen" 57 , in der aber der allgemeine Wille, das Recht, immer Zweck bleibt. Demgegenüber erscheint die Familie als natürliche Gesellschaft. Wir messen dieser gewissen Nähe des Staates der Propädeutik zur bürgerlichen Gesellschaft aber keine allzu große Bedeutung bei, zumal Hegel die konkrete Allgemeinheit des Staats immer wieder betont, und auch den Staatsvertragsgedanken etwa ablehnt, d. h. die Gesetze beruhen auf der Erkenntnis „was die Wahrheit und das Wesen eines rechtlichen Verhältnisses ist" 58 , nicht auf Übereinkunft der Vielen. Im übrigen faßt sich Hegel zur Frage der Staatsverfassung sehr kurz, wir werden später darauf noch einmal eingehen, wollen jetzt aber zunächst den Staatsgedanken Kants betrachten und untersuchen. Fanden wir bei Hegel in der Propädeutik die Identifikation von Staat und bürgerlicher Gesellschaft nur angedeutet, so wird sie dagegen in Kants „Metaphysik der Sitten" ausgeführt. Der Staat gilt ihm als

58

57 58

Manfred Riedel („Studien zu Hegels Rechtsphilosophie", S. 155) betont dies als Identifikation beider und weist in seiner historischen Untersuchung zum Begriff der bürgerlichen Gesellschaft dem Begriff der Staatsgesellschaft eine Zwischenstellung im Denken Hegels zu, wo „ihm der alte Begriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr und der von ihm neu geprägte noch nicht zur Verfügung stand". PP Rechtslehre § 24. PP Rechtslehre § 27.

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Aggregat, als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" 59 . Wie in der Propädeutik vollzieht sich auch hier der Übergang vom Gedanken des Rechtsstreits her. In einem Zustand, wo das Recht nicht „äußere machthabende Gesetzgebung" 60 ist, kann dieser nicht geschlichtet werden; der Besitz in einem solchen Zustand bleibt provisorisch, er ist zwar rechtens, aber das Recht kann im Falle des Konflikts nicht durchgesetzt werden. Dies kann erst in dem diesem Naturzustand entgegengesetzten bürgerlichen Zustand, im Staat, geschehen. Der Staat ist so wesentlich das Institut der Rechtspflege, austeilende, „distributive Gerechtigkeit" 61 , Sicherung des Mein und Dein. Er selbst wird aber nicht ökonomisch gedacht - Ökonomie wäre ja der Bereich kommutativer Gerechtigkeit - , denn die Verteilung der Dinge, die besessen werden können, hat - ähnlich wie bei Hegel 62 - schon im Naturzustand stattgefunden. Tausch und Arbeit hingegen, die in der Rechtsphilosophie die bürgerliche Gesellschaft als die Sphäre allseitiger, ökonomischer Abhängigkeit begründen, kommen Kant nicht in den Blick. Am ehesten noch spricht er demgegenüber die natürliche Gesellschaft, die Familie63, bzw., da zu ihr auch das Gesinde gehört, die Hausgemeinschaft, wie Aristoteles, als ökonomisch an. Diese wird nicht ontologisch als eine den Einzelnen übergreifende Einheit gedacht, sondern als eine vertragliche Erwerbung, d. h. Frau, Kinder und Gesinde sind rechtliches Eigentum, und die Familie wird so lediglich als Rechtsinstitut gefaßt unter dem Titel eines dinglich-persönlichen Rechts. - Auch für die Konstituierung des Staats gewinnt dieser Vertragsgedanke Bedeutung. Das leitet aber schon über zu der Frage, was der Staat ist, nicht nur sofern er lediglich als aus dem Recht resultierend vorgestellt wird, sondern sofern man ihn an sich selbst betrachtet in den Bestimmungen und Inhalten, die ihm neu zukommen, d. h. es leitet über zum Problem der Staatsverfassung. Wir können drei Weisen namhaft machen, in denen sich der Gegensatz des Bewußtseins in einer Theorie geltend machen kann; zwei davon finden wir in Hegels Propädeutik. Das Recht erschien hier als eine unmittelbare, noch äußerliche Einheit von Freiheit und Äußerlichkeit, derge-

·» MdS Rechtslehre § 45. audi § 43. · · MdS Rechtslehre § 44. " ebda. " E S 524. ·» MdS Rechtslehre § 24 ff. Manfred Riedel („Studien zu Hegels Rechtsphilosophie" S. 129) betont die ökonomische Qualifikation der Familie bei Kant, im Unterschied zu Hegel, der sie durch den „sentimentalen Familienbegriff des späten 18. Jahrhunderts" ersetzte.

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stalt, daß im Vernunftbegriff der Freiheit selbst ein Rest blieb, der keine adäquate Realisierung in der Wirklichkeit fand, der Allgemeinheit des Gesetzes blieben die besonderen Zwecke der Willkür äußerlich. — Im Falle des Staats nun - so können wir sagen - war es eine Seite der Äußerlichkeit, der entsprechend kein Vernunftinhalt gedacht wurde, die Hegel nicht ontologisch faßte, es erwies sich als unmöglich, die Entscheidung gegen das Allgemeine, innere Gesetzgebung im Gedanken der Subjektivität innerontologisch zu denken, wie es die Rechtsphilosophie unter dem Titel der Moralität tut. Den dritten Typ des Gegensatzes des Bewußtseins, gewissermaßen dessen elementare Form, wie sie auch die Rechtsphilosophie faßt, finden wir bei Kant. Wir sahen schon, wie er im Gedanken des Rechts, dem auch er mit dem Begriff der freien Willkür ein ontologisches Moment zusprach, die erreichte Einheit wieder aufzulösen und die Konstitutivität der Äußerlichkeit zurückzudrängen strebte, d. h. er neigte zu einer Isolierung von Freiheit und Äußerlichkeit, die dann wieder durch bestimmte Verhältnisse, etwa das der Anwendung des Begriffs des intelligiblen Besitzes auf den empirischen Besitz, überbrückt werden mußte. Bei ihm macht sich so der Gegensatz des Bewußtseins als der Standpunkt des Verhältnisses von Vernunft und Äußerlichkeit geltend. Ausgeprägt finden wir dies in seiner Lehre von der Staatsverfassung. Die Sphäre zwar rechtlichen, aber provisorischen, weil ungesicherten Erwerbs, spricht er als Naturzustand 64 an, in dem das Recht noch nicht geltende Macht geworden ist. Dies geschieht erst, wenn vom Privatrecht zum öffentlichen Recht übergegangen, wenn der Naturzustand zugunsten des bürgerlichen Zustands verlassen wird. Einen ähnlichen Gedanken fanden wir audb bei Hegel; der Übergang vom einen zum anderen war dort aber immer auch geleitet von dem ontologischen Bedürfnis, der Freiheit eine adäquatere Gestalt zu finden als sie das Recht darstellt. Als solches war die soziale Pluralität des Staats gedacht. Geleitet also von einem vorweg gedachten Begriffsmoment kam Pluralität hier in den Blick, die so als eine höhere Einheit von Freiheit und Äußerlichkeit artikuliert werden konnte. Sie ging so nicht analytisch aus dem Begriff hervor, vielmehr wurde der Staat - unter dem Titel der Realisierung des Begriffs - synthetisch gedacht, d. h. er wurde zum Träger kategorial neuer Bestimmungen. Anders verhält es sich mit dem Ubergang bei Kant. Der Gedanke des Staats geht „analytisch aus dem Begriffe des Redits im äußeren Verhält-

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MdS Rechtslehre § 42.

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nis im Gegensatz der Gewalt 65 hervor; und es wird wiederum als Pflicht, als „Postulat des öffentlichen Rechts"66, angesprochen, den natürlichen Zustand zugunsten des rechtlichen zu verlassen. Pluralität erscheint so nicht als vorweg synthetisch in den Begriff integriert, sondern tritt von außen allererst hinzu. Der Staat kann so nicht als eine die Vielen übergreifende Einheit neuen Typs gedacht werden, wie Hegel dies tut, vielmehr wird er begründet gedacht in einer wechselseitigen Vereinigung aller, „sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen" 67 . Der Staat wird so - mit Hegel zu reden - zum äußeren Staat der bürgerlichen Gesellschaft, da das Allgemeine in ihm nur als äußeres Allgemeines, als rechtliches Verhältnis der Vielen, ist, d. h. das Allgemeine erhält hier den Charakter der Gegenseitigkeit. Nicht mehr das Recht qua allgemeiner Wille verbindet, die Sphäre der Freiheit des Anderen nicht zu verletzen, sondern nurmehr die Gewißheit, daß auch der Andere mich im Besitz läßt, d. h. „niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde ebendieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten" 68 . Diese Gegenseitigkeit als Grund des Staates denkt Kant im Begriff des „ursprünglichen Kontraktes" 69 , durch den alle ihre Freiheit im Naturzustand aufgeben, um sie in einem bürgerlichen Zustand wiederzugewinnen. So wie der Übergang vom Recht zum Staat als Postulat gedacht wurde, so kann diese Bestimmung des Staates nun nur als Idee gefaßt werden, als die Vorstellung eines Aktes, „wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert" 70 . Zwar kann uns dieser Vertragsgedanke die Legitimität des Staates plausibel machen, er tut dies aber nicht wie Hegel - durch den Begriff einer vernünftigen Wirklichkeit, er trennt vielmehr Vernunft und Wirklichkeit und sanktioniert den Staat durch einen fiktiven Akt aller. Vernunft und Wirklichkeit, deren Einheit so nicht gedacht wird, werden darum - wir werden das später sehen - auch in Konflikt miteinander geraten. Der im ursprünglichen Vertrag konstituierte „allgemein vereinigte Wille" 71 - man beachte die Duplizität des Ausdrucks - faßt drei Gewalten in sich72: die Herrschgewalt, die Souveränität als die Gewalt des Ge85

ebda. " ebda. 17 MdS Rechtslehre «8 Mds Rechtslehre MdS Rechtslehre 70 ebda. 71 MdS Rechtslehre 72 ebda.

§ 44. § 42. § 47. § 45.

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setzgebers, die vollziehende Gewalt als Regierung und die rechtsprechende Gewalt. Diese drei Gewalten machen die Vollständigkeit der Staatsverfassung aus73, sie ergänzen einander, sind aber zugleich scharf voneinander getrennt, damit dem Einzelnen, das ist ja das Prinzip des Staates, sein Recht werden kann. Gesetzgebend kann darum nur der vereinigte Wille aller sein74, weil nur in dem, was alle über sich selbst beschließen, niemandem Unrecht geschehen kann. Fähig zur Teilnahme an der Gesetzgebung ist der Staatsbürger; Staatsbürger sind jedoch nun nicht alle Glieder eines Volkes, sondern nur die ökonomisch Unabhängigen, die in eigener Regie Waren produzieren. Frauen, Diener in der Hausgemeinschaft, Gesellen eines Handwerkmeisters sind keine, oder - wie Kant sagt - nur „passive Staatsbürger"75. Auch hier zeigt sich also eine Identifizierung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wobei diese aber noch gewissermaßen vorindustriell gesehen wird. Die Regierung kann nicht gesetzgebend sein, weil sie ihrerseits unter dem Gesetz steht und von dem Souverän verpflichtet wird; beide können nicht die rechtsprechende Gewalt innehaben, weil dem Rechtsuchenden als dem machtlosen von beiden Gewalten Unrecht geschehen könnte, das Volk richtet vielmehr vermittels einer eigens von ihm gewählten Jury 76 . Prinzip der Gewaltenteilung ist es so, den Rechtsanspruch des Einzelnen sicherzustellen, wie dies ja auch Prinzip der gesamten Staatsverfassung war. - Je nach der Weise, wie sich die Souveränität inkorporiert, unterscheidet Kant drei Formen der Staatsverfassung77: die Autokratie, in der einer gebietet, die Aristokratie, in der dies einige tun, und die Demokratie, in der alle über sich selbst gebieten. Die Republik als der Staat, in dem eine demokratische Verfassung herrscht, gilt ihm als die ideale Staatsform, weil sie dem Gedanken des ursprünglichen Vertrags am angemessensten ist. Sowohl der Gedanke der Republik wie auch der des ursprünglichen Vertrags bleiben aber ein Ideal, eine Norm, die dem Staat sagt, wie er sein soll. Es wundert uns so nicht zu sehen, daß der Staat in der Idee und der wirkliche Staat in Konflikt miteinander geraten, denn einerseits wird er an der Idee gemessen, andererseits aber erhält die staatliche Organisation überhaupt die Sanktion des Idealen. Einerseits ist es kategorisch

73 74 75 78 77

MdS Reditslehre MdS Reditslehre ebda. MdS Rechtslehre MdS Rechtslehre

§ 48. § 46. § 49. § 51.

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geboten, nach dem idealen Staat zu streben78, andererseits aber ist es verboten, diesem Gebot zu gehorchen und sich gegen den bestehenden Staat aufzulehnen, seine Zustimmung aus dem ursprünglichen Vertrag zurückzuziehen79, da dadurch gerade die Rechtmäßigkeit eines jeden bestehenden Staates fundiert wird, Widerstand gegen diesen rechtlichen Staat also immer Unrecht wäre. - So wenig dem Einzelnen ein Widerstand erlaubt ist, ist es auch dem Volk insgesamt80. Ist das Volk in der Idee souverän, so ist es in der Wirklichkeit Untertan, was in der Idee als Zustand allgemeiner Freiheit konzipiert war, erweist sich in der Wirklichkeit als ein Zustand allgemeinen Zwanges: „der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-) Pflichten"81. Es bleibt jedoch die Forderung, die Verfassung der Idee des ursprünglichen Vertrags angemessen zu machen, die Republik zu etablieren. Ist dies auf dem Wege der Revolution unrecht - wenn auch der durch die Revolution begründete staatliche Zustand nach Kant 82 wieder rechtmäßig ist —, so sollte man meinen, sei vielleicht der Weg beständiger Reformen die Weise, dem Gebotenen zu genügen. Und in der Tat schlägt Kant dies vor. Aber auch diese Reformen können keinen Übergang in eine neue Verfassung, die der Republik, begründen83, sie können nur die Wirkungen der alten dieser idealen Verfassung angleichen. Denn der Monarch etwa, der beschlösse, die Republik einzuführen, könnte damit, obwohl er Souverän ist, nun doch dem Willen des Volkes unrecht tun, das diese Verfassung vielleicht nicht will. Ohne den Willen des Volkes kann es so keine neue Verfassung geben, mit seinem Willen aber auch nicht. Im einen Falle wird ihm die Souveränität zugesprochen, die ihm am anderen Falle gerade aberkannt wurde. - Mit diesen Widersprüchen verstrickt sich Kant - so meinen wir in die Konsequenzen des vorstellenden Denkens, des Gegensatzes des Bewußtseins, der bestimmend ist für die Idee des Staates, aber nicht bestimmend sein soll für seine Wirklichkeit. Zwar steht jede Theorie, die Staatlichkeit grundsätzlich als legitim gesichert hat, vor dem Problem, damit auch den gegebenen positiven Staat — sei er wie er wolle — sanktioniert zu haben, bei Kant aber — so scheint uns - ist dies nicht nur ein Konflikt von grundsätzlicher Legitimität und möglicherweise faktischer „Unrechtmäßigkeit" des Staates, der der Idee nicht angemessen ist, sondern der

78 79 80 81 82 8S

MdS MdS MdS MdS MdS MdS

Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Rechtslehre Reditslehre Rechtslehre

§ 49. S. 142. S. 144. S. 143. S. 147. S. 169 f § 52.

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Konflikt liegt schon im Prinzip der Legitimität selbst; d. h. die Legitimität des Staates kann in der Idee eines ursprünglichen Vertrages nicht zureichend gedacht werden, denn letztlich legitim ist hier immer nur die Freiheit der Einzelnen, die Legitimität des Staates ist von ihnen geliehen und doch gedacht als ein Bereich eigener Legitimität unabhängig von der Freiheit des Einzelnen. Der Konflikt von wirklichem Staat und Staat in der Idee, wie wir ihn dargestellt haben, ist so schon Konflikt in der Idee des Staates selbst. Kant nimmt diese Idee in der ontologischen Bedeutung, die Vernunft in der staatlichen Wirklichkeit zu sichern, Wirklichkeit affirmativ zu fassen, ohne daß sie das doch in der Form, die sie bei ihm hat, leisten könnte. Dies gelingt erst Hegel und seiner Fassung des Staats vom ontologischen Standpunkt aus in der Rechtsphilosophie. Die Personalität, Individualität des Staats, die sich bei Kant 84 nur im Völkerrecht, im Außenverhältnis der Staaten, geltend machte, wird bei ihm zur Grundbestimmung des Staates. Das Moment der Subjektivität einer pluralen Einheit, das in der bürgerlichen Gesellschaft, die wesentlich als Aggregat verstanden wurde, mit der Rechtspflege nur angedeutet war, erhält hier eine eigene Wirklichkeit, der Staat wird gedacht „als sich auf sich beziehender Organismus"85. Er erscheint so als eine höhere Einheit, die die Gesellschaft übergreift. Vom Gedanken her, dem Allgemeinen, der Freiheit, eine adäquate Gestalt in der Wirklichkeit zu finden, kommt so die soziale, nun politisch artikulierte, Pluralität des Staats in den Blick. Und nur nach Maßgabe dieses Allgemeinen wird nun Pluralität als bestimmend gedacht für den Begriff, insofern nämlich der Staat die Geisteinheit der Vielen darstellen soll. Die Allgemeinheit des Willens, das Prinzip der Freiheit, seine Besonderheit, wie sie das Recht im Begriff der Person und der Willkür faßte, und seine Einzelnheit, wie sie als Subjektivität die Moral bestimmte, sind die Momente des Begriffs, die nun als bestimmend für die Pluralität des Staates gedacht werden und von dieser differenziert auf der Ebene der Konkretion in einer neuen, jeweils eigenen Wirklichkeit realisiert werden. Das Allgemeine des Staates, als konkretes Allgemeines und kategoriales Novum, stellt sich in dieser Bewegung her86. Der Staat wird als Organismus gedacht, der sich in seinen Verfassungsorganen besondert, d. h. er verleiht allen seinen Momenten selbständige Wirklichkeit, diese bleiben aber audi immer in ihn integriert, so „daß sie, weil

M 85 M

MdS Rechtslehre § 53. RPh § 259. RPh § 269.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

sie den Unterschied des Begriffs ausdrücken, schlechthin in seiner Identität bleiben und nur ein individuelles Ganzes ausmachen" 87 , nur in ihm gesetzt sind. Nicht also vom Gedanken des Schutzes der bürgerlichen Freiheiten her denkt Hegel eine Trennung der Gewalten, sondern von der sich differenzierenden und darin realisierenden Allgemeinheit des Staates. Sehen wir jedoch näher zu, so sind wir von der Durchführung dieses Prinzips enttäuscht. Wir finden einen Staat, in dem der Monarch Souverän ist, die Rechtsprechung der Exekutive zugeschlagen wird und so keine wirksame Kontrolle ausüben kann, in dem schließlich das Parlament eine Ständeversammlung ist, die dem Willen des Monarchen applaudiert und von der man nicht einmal sicher sein kann, ob sie durch Wahlen zustande gekommen ist. Das Moment der Individualität des Staates verkörpert sich im geborenen Monarchen, und die Vielen, deren Anknüpfung an den Staat doch im Moment der Allgemeinheit, der Legislative, gedacht werden soll, dürfen sich nur als schon gefiltert durch ein relativ Allgemeines, die Stände, geltend machen. — Wir sehen in beiden Fällen eine Uberbeanspruchung des kategorialen Standpunkts, mit der sich Hegel der Sachtheorie nähert. Es ist nicht einzusehen, warum sich Individualität, die doch eine ontologische Charakteristik darstellt, in einem natürlichen Individuum verkörpern muß. Hegel bringt dafür das Argument der Unmittelbarkeit der Individualität, aber nach unseren bisherigen Erfahrungen und auch seiner eigenen Disposition zufolge 88 , die er allerdings in der Ausführung umkehrt 89 , ist ja das Moment der Allgemeinheit das unmittelbare. Mit der Verkörperung der Individualität des Staates im Monarchen wird diese - so müssen wir sagen - auf eine niedere kategoriale Ebene projiziert. - Ähnlich verhält es sich mit dem Gedanken der Repräsentation der Vielen, auch hier plädiert Hegel für natürliche Unterschiede. Die Vielen werden nicht als Aggregat zur Legislative zugelassen, sondern nur vermittelt durch ihre ständische Organisation in der Gesellschaft. Es ist aber ungerechtfertigt, ein relativ Allgemeines der bürgerlichen Gesellschaft auf das Allgemeine des Staates zu übertragen, eine Begriffsverwandtschaft zur Affinität raier Verhältnisse zu machen. Das Allgemeine des Staates wird durch die Stände allenfalls selbst besondert, d. h. die Stände setzen sich ja nicht das Allgemeine zum Zweck, sondern vertreten dann im Staat ihre besonderen Interessen, sie machen sich als Lobby geltend.

87 88 89

RPh § 272. RPh § 273. RPh § 275.

Der Staat

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Läge es da nicht näher - wir können diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen, wollen aber wenigstens darauf hinweisen — und wäre es nicht auch angemessener, die Legislative als das abstrakt, unmittelbar Allgemeine des Staats zu fassen, das in einer Wahldemokratie seinen Ausdruck fände. An die Stelle der gesellschaftlichen Stände träten dann politische Parteien, in denen die Vielen nicht wahllose Masse sind, sondern schon politisch vorweg bestimmt, durch die Vielfachheit politischer Meinung könnten so die Vielen an den Staat angeknüpft werden; in der Delegation an ein Parlament gäben sie sich selbst eine höhere Einheit. Es ließe sich so denken, daß gerade die parlamentarische Demokratie dem Hegeischen Staatsprinzip gemäß ist, indem sie Delegation „von unten" und Bestimmung „von oben" zu vereinen vermag. Nachdem wir so das Problem der Staatsverfassung in der „Metaphysik der Sitten" und in der Rechtsphilosophie erörtert haben, können wir nun wieder auf die Propädeutik zu sprechen kommen. Sie faßt sich zu diesen Fragen sehr kurz. Ihr fehlt der ausdrückliche ontologische Standpunkt, und sie erliegt auch nicht der Versuchung, eine Sachtheorie geben zu wollen. Sie läßt die Frage der Staatsform offen, plädiert allerdings audi für die Monarchie, jedoch gerade mit dem Argument, daß in ihr die bürgerliche Freiheit aufgrund der notwendig werdenden Delegation der Macht besser geschützt sei90. Aber Hegel macht diesen Gedanken nicht wie Kant zum Prinzip der Gewaltenteilung. Die verschiedenen Gewalten gelten ihm vielmehr als Äußerung der Individualität des Staates. Sofern dieser sich das Allgemeine selbst zum Zweck setzt, „der thätige und verwirklichende Wille" 91 ist, hat er die Struktur der Subjektivität, ist Reflexion des Allgemeinen auf sich. Hegel hält zwar gegenüber Kant an diesem Prinzip der Individualität des Staats fest, aber ebensowenig wie er gelegentlich des Rechts den strikten Ausdruck für das Eigentum als Realisierung der Freiheit fand, so wenig entwickelt er hier die Verfassungsorgane aus jenem Prinzip. Die verschiedenen Gewalten werden ihm lediglich subsumiert und kurz aufgezählt. Die Individualität des Staats wird so zwar behauptet, aber nicht eigentlich dargetan. Dies beruht — so meinen wir — darauf, daß die Propädeutik den Gedanken der Subjektivität selbst noch nicht entwickelt hat. In der Rechtsphilosophie war er Prinzip der Differenzstufe der Moralität, die die Freiheit des Subjekts erörterte, aber darin zugleich Subjektivität und Reflexion selbst als ontologische Charakteristik, als Momente des Begriffs · · PP Rechtslehre § 28. " PP Rechtslehre § 27.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

der Freiheit dartun konnte; dies wurde so zum bestimmenden Prinzip auch des Staates. Die Propädeutik dagegen ordnet diese Sphäre unter dem Titel einer Pflichtenlehre dem Staat, wie er erstmals in der Rechtslehre zur Sprache kommt, nach. Wir werden von dieser Pflichtenlehre, die ja den Gedanken des Staats wieder aufnimmt, also nicht nur eine Komplettierung der Ethik, wie sie in der Propädeutik vorliegt, erwarten, sondern auch eine nähere Bestimmung des Staatsbegriffs, und damit eine deutlichere Einsicht in den Theoriecharakter der Propädeutik überhaupt.

3. Die Pflichtenlehre Das Recht ist der Bereich äußerer Verpflichtung, d. h. „was nach dem Recht gefordert werden kann, ist eine Schuldigkeit" 92 ; es verbindet mich zur rechten Handlung, nicht aber auch zur rechten Gesinnung, oder wie die Propädeutik sagt - : „Das Recht läßt überhaupt die Gesinnung frei." 9 3 Erst die Moralität bezieht auch diese ein, ihr Gesetz verlangt, „daß die Handlung aus Achtung vor der Pflicht geschehe"94. Damit übergreift sie zugleich den Bereich rechtlichen Handelns, der Mensch gilt in ihr nicht mehr nur als abstrakte Person, sondern als freies Wesen auch in seinen besonderen Bestimmungen, d. h. sie bezieht sich auf ihn „nach den allgemeinen und nothwendigen Bestimmungen seines besonderen Daseins" 95 ; in dieser Rücksicht ist die Moralität gebietend und nicht bloß verbietend wie das Recht. Neben diesem Argument der Einbeziehung weiterer Themenkreise aus dem Bereich innerer Verpflichtung finden wir jedoch auch noch den Anschein einer ontologischen Begründung der Pflichtenlehre. So wie der Ubergang vom Recht zum Staat soll in Analogie dazu audi der Übergang von der abstrakten Person zum besonderen Dasein als Realisierung des Begriffs verstanden werden.« Zum wirklichen Menschen gehört auch, und zwar nach seiner praktischen Seite, der Begriff und die Realität des Begriffs. Zu jenem gehört die reine Persönlichkeit oder die abstrakte Freiheit, zu diesem die besondere Bestimmung des Daseins und das Dasein selbst." 96 Während aber der Staat als konkretes Allgemeines vom Begriff her artikuliert als Verwirklichung eines im Recht nicht realisierten Ver92

PP Pfliditenlehre ·* PP Pfliditenlehre 94 ebda. ®s PP Pflichtenlehre »· PP Pflichtenlehre

§ 32. § 33. § 35. § 34.

Die Pfliditenlehre

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nunftinhalts ersdieinen konnte, so ist dagegen das besondere Dasein zwar die Realität des Menschen, jedoch als besonderes ist es ja gerade nodi nicht die Realität der Freiheit, es ist diese nicht, es soll sie allererst werden, oder — wie Hegel sagt —: „Zwar ist in diesem (sc. dem Dasein) ein Mehreres, als im Begriff enthalten, aber zugleich muß es diesem gemäß und durch ihn bestimmt sein."97 Sehen wir diesen Sachverhalt einseitig ontologisch, so enthält der Begriff der Person ja gerade nicht die Anweisung, ihn im besonderen Dasein des Menschen realisiert zu denken, vielmehr stellte die Rechtsphilosophie dazu ja den Staat bereit, in dem sidi der Einzelne, vermittelt durch seine moralische Subjektivität, wahr gegenständlich wurde. Hier in der Propädeutik dagegen bemerken wir eine innige Verbindung von ontologischem Standpunkt und Pflichtenstandpunkt: die Realisierung des Begriffs - vermittels dieses Titels dachte die Rechtsphilosophie ja objektive Gestalten der Freiheit - wird selbst als Pflicht angesprochen. Die Pflichten, die daraus resultieren, werden so wesentlich gewissermaßen „ontologische Pflichten" sein, d. h. es wird die Pflicht des Subjekts sein, objektiv zu werden. Das Sollen selbst erhält so in der Propädeutik eine spezifisch andere Stellung als es sie in der Rechtsphilosophie innehatte. Sofern sich in ihm der Gedanke der Selbstgesetzgebung Geltung verschaffte, galt es dort einmal als die innere Wirklichkeit der Freiheit im Gegensatz zur bloß äußeren des Rechts, zum anderen aber, indem es dem Allgemeinen in der Subjektivität einen bewußten Titel verschaffte, als die Seite der Realität überhaupt. Es galt dort als die Sphäre, in der verbindliche Inhalte gerade nicht dargetan werden konnten — dies blieb dem Bereich der Sittlichkeit vorbehalten —, es war dagegen wesentlich formal bestimmt und die ihm korrespondierende Äußerlichkeit erschien als das Reich des Zufalls. Dies Moment der Formalität und der Zufälligkeit wird nun in der Propädeutik dem Trieb98 zugeschlagen. Der Trieb ist formell, weil er unangesehen des Inhalts, bloß auf die Ubereinstimmung seiner inneren Bestimmtheit mit der äußeren Gegebenheit, auf Glückseligkeit aus ist. Meine Glückseligkeit nun, mein Vergnügen, kann ich in dies oder das legen, es bleibt so zufällig, wie die Befriedigung des Triebes selbst; ich muß den Gegenstand, der ihm genüge tut, finden oder ich muß ihn selbst produzieren, wobei es zufällig bleibt, ob das Produkt, die Folgen meiner Handlung, auch auf mich zurückkommen. In jedem Falle bin ich mir hierin als Einzelner selbst Zweck, der Trieb ist nur subjektiv. — Die Vernunft hin•7 ebda. • 8 PP Pfliditenlehre § 36 f.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

gegen „lehrt in Rücksicht auf den Inhalt das Allgemeine und Wesentliche des Begehrenswerten kennen, in Rücksicht auf die Form oder Gesinnung aber das Objektive oder das Handeln um der Sache selbst willen" 99 . Sie hatte sich ja schon in der Rechtslehre als fähig erwiesen, in Familie und Staat solche Inhalte aufzustellen. Das Besondere des Menschen, soweit es fähig ist, Gegenstand moralischer Gesetzgebung zu werden, d. h. soweit es selbst allgemein ist, wird so in sein Verhältnis zu anderen Menschen gesetzt100, das als bestimmter Inhalt, als Familie und Staat, in die Pflichtenlehre eintritt und hier, in der Späre der Moralität, erneut behandelt wird. Die Pflichten, die der Mensch gegen sich selbst hat, bestehen daher darin, sich zum Allgemeinen zu bilden, „sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben" 101 , d. h. eines Handelns fähig zu werden, das diesen Allgemeinen gerecht zu werden vermag 102 . Der Mensch hat so gewissermaßen die Pflicht - und dies ist nur ein anderer Ausdruck für das, was wir „ontologische Pflicht" nannten sich zur Verpflichtbarkeit durch ein objektives Allgemeines zu bilden. — Hegel unterscheidet theoretische und praktische Bildung: Sachlichkeit, Objektivität des Urteilens 103 rät er in theoretischer Hinsicht an, Mäßigung in der Befriedigung der Bedürfnisse und deren Aufopferung zu höheren Zwecken in praktischer. Wesentlicher Zweck für den Einzelnen ist sein Beruf 104 . Sagten wir, daß aus der bürgerlichen Gesellschaft keine Pflichten resultieren können, so macht hier Hegel - und das ist neu bei ihm - auch im Bereich der Ökonomie einen verpflichtenden Inhalt namhaft, der gewissermaßen Vorbildung zur sozialen Allgemeinheit des Staates ist. Der Beruf „ist mit Freiheit zu ergreifen und mit solcher auszuhalten und auszuführen", d. h. „die Form eines äußerlichen Daseins" 105 an ihm ist aufzuheben. Hat sich das Subjekt zur Objektivität in seinem Handeln gebildet, so kann es sich vom Allgemeinen der Familie und des Staates verpflichtet erkennen. Diese werden nun erneut thematisiert und erhalten Bestimmungen, die denen in der Rechtsphilosophie denkbar nahe kommen. Der Staat erscheint nicht mehr nur als Gesellschaft unter Rechtsgesetzen, sondern als ein „moralisches Gemeinwesen", das „die Einigkeit in Sitten, 98

loo ιοί 102 loa ίο« los

PP pp pp pp pp pp pp

Pflichtenlehre Pflichtenlehre Pflichtenlehre Pflichtenlehre Pflichtenlehre Pflichtenlehre Pflichtenlehre

§ § § § § § §

38. 39. 41. 46. 42. 44 f. 44.

Die Pflidhtenlehre

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Bildung und allgemeiner Denk- und Handlungsweise (indem Jeder in dem Andern seine Allgemeinheit geistiger Weise anschaut und erkennt)" 10 ® vermittelt. Er ist der „Geist eines Volkes" 107 , der für den Einzelnen das Allgemeine seines Tuns, „seine geistige Substanz" 108 , ist, in der er sich wahr gegenständlich wird. Er ist der allgemeine, substantielle Wille, der nicht durch einen Vertrag zustande kommt 109 , sondern als solcher für den Einzelnen verbindlich ist. Der Staat ist so nicht nur Rechtsinstitut, etwas, das äußerlich verpflichtet, er macht vielmehr zugleich Anspruch auf die Gesinnung seiner Glieder, die wiederum im staatlichen Verhältnis untereinander, ihre Freiheit darin objektiv besitzen können. — „Die Gesinnung des Gehorsams gegen die Befehle der Regierung, der Anhänglichkeit an die Person des Fürsten" — unter der Hand optiert Hegel hier wieder für die Monarchie - „und an die Verfassung und das Gefühl der Nationalehre sind die Tugenden des Bürgers jedes ordnungsmäßigen Staates" 110 , d. h. zu ihnen verpflichtet das „moralische Gemeinwesen" des Staats. Sind die Glieder des Staates selbständige Individuen, so sind sie dagegen in der Familie auf diese Einheit als auf eine Person verwiesen, d. h. „die Familienglieder sind nicht Personen gegeneinander" 111 . Sich selbst nur in dieser Einheit zu besitzen, ist die pflichtgemäße Gesinnung, die der Familie entspricht; einander zu lieben, zu vertrauen und treu zu sein, sind die Tugenden in der Familie. Audi sie kann nun, wo neben ihren rechtlichen Charakter ihre moralische Bedeutung tritt, als eine sittliche Wirklichkeit gelten. Die Pflichtenlehre ist getragen, nicht nur ein das Subjekt angemessen Verpflichtendes zu denken, sondern - so meinen wir - darin zugleich von dem Bemühen, die - im ontologisdien Sinne - sittliche Bestimmtheit von Familie und Staat darzutun, d. h. nicht nur dient der ontologische Gedanke, einen Inhalt der Pflicht zu denken, vielmehr soll er darin selbst vom Pflichtenstandpunkt aus erhellt werden. Der Staat verpflichtet zwar als substantielles Allgemeines, als die Wahrheit der Freiheit auch des Einzelnen, aber als „moralisches Gemeinwesen", als sittliches Subjekt und Wirklichkeit des Allgemeinen gewinnt er sein Bestehen nur, indem seine Glieder, verpflichtet durch ihn, in staatlicher Gesinnung handeln. Auch ioe p p Pflichtenlehre § 54. 107 p p Pflichtenlehre § 55. ebda. 109 p p Pflichtenlehre § 58. no p p Pflichtenlehre § 57. in p p Pflichtenlehre § 49. 108

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

der Staat der Rechtsphilosophie ist angewiesen auf die Gesinnung seiner Bürger, seine Sittlichkeit aber wird auch gedacht im Gedanken, daß er selbst sittliches Subjekt, Täter und damit Wirklichkeit des Allgemeinen, ist, und sich selbst eigene Organe - Regierung, Legislative etc. - zur Realisierung der Freiheit verschafft. Als seine wesentliche Bestimmung in Rücksicht auf den Einzelnen gilt so die Identität von Rechten und Pflichten112. Die Pflicht ist nicht bloße Verbindlichkeit gegen das Allgemeine, nicht nur Sollen, sondern ist Recht, ist Dasein meiner besonderen Freiheit, das der Staat verbürgt. Dieser Gedanke kann vom Pflichtenstandpunkt aus nidit erfaßt werden, d. h. der vollgültige ontologische, sittliche Charakter des Staats - das gleiche gilt entsprechend auch von der Familie — ist in ihm nicht zu denken. Zwar kann Hegel in der Propädeutik den Staat als das substantielle Allgemeine bestimmen, nicht aber auch als Subjekt, d. h. als dessen Wirklichkeit, denn Täter des Allgemeinen bleibt für den Standpunkt der Pflicht das einzelne verpflichtete Subjekt. Die Sittlichkeit des Staates kann nicht ontologisch gesichert werden als wirkliche Gestalt der Freiheit, sie herzustellen erscheint vielmehr selbst als Pflicht seiner Bürger. - Der Staat der Pflichtenlehre bildet darum auch nicht das Abschlußtheorem des ersten Kursus der Propädeutik, dieser setzt sich noch fort in einer Religionslehre, die dem Subjekt den Gedanken eines Affirmativen eröffnet, was die Pflichtenlehre letztlich nicht kann. Die Anpassung Hegels an den Pflichtenstandpunkt Kants wird vorzüglich deutlich in der Lehre von den Pflichten gegen andere. Sie komplettiert die Pflichtenlehre, sofern diese vom Einzelnen handelt, der sich in zufälligen Verhältnissen zu anderen befindet. Als Verpflichtendes gilt nicht mehr ein ontologisch vorweg artikuliertes Allgemeines, sondern der Einzelne als freies Wesen in seinem besonderen Dasein. Es ist jedem geboten, die Anderen, die qua freie Wesen ihm gleich sind, „auch in ihrer Besonderheit sich selbst gleich zu halten, ihr Wohl und Wehe als das seinige zu betrachten und dies durch thätige Hülfe zu beweisen"113, sie dabei aber immer als freie Wesen zu respektieren. So wie bei Kant ist auch hier das oberste Gebot, die Rechtspflichten gegen andere einzuhalten, und „unter den besonderen Pflichten gegen die Anderen ist die Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln die erste"114, aus der sich alle anderen ableiten lassen. Hegel gibt hier im folgenden ein Florilegium des Wohlverhaltens und der Lebensklugheit, in dem auf die Delikatesse des Helfens und die

112

RPh § 2 6 1 . 113 p p Pflichtenlehre § 59. i n p p Pflichtenlehre § 61.

Die Pflichtenlehre

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Höflichkeit größter Wert gelegt wird, ein größerer fast als auf die Pflicht des Helfens selbst. Das Allgemeine der Freiheit, das verpflichtet, wird bei Hegel als Familie und Staat ontologisch gedacht, d. h. inhaltlich bestimmt; es ist ein objektives Allgemeines und kann als solches das Subjekt verbinden, dessen wesentliche Bestimmung es ist, sich zu diesem Allgemeinen zu bilden und für es tätig zu werden. Das Allgemeine der Freiheit bei Kant hingegen, der kategorische Imperativ, wie ihn auch die „Metaphysik der Sitten" faßt, ist formell115, es verlangt, daß sich die Maxime der Handlung zum allgemeinen Gesetz qualifiziere, und es ist darum subjektiv, sofern es sein Bestehen im Wollen um seiner selbst willen hat. In Rücksicht auf mögliche Zwecke ist es eben darum auch ein negatives Prinzip. Gebot das Recht, daß die Willkür im äußeren Verhältnis zu anderen dem Gesetz der Freiheit nicht widerstreite, ohne dabei Maxime und Zweck der Handlung zu berühren, so gebietet das moralische Sollen lediglich die Maxime, läßt aber Zweck und Handlung unberührt. Soll jedoch sittliches Handeln möglich sein, so darf sich auch der Zweck, der ja zu jeder Handlung gehört, nicht völlig jedem moralischen Gebot entziehen, „denn da es freie Handlungen gibt, so muß es auch Zwecke geben, auf welche als Objekt jene gerichtet sind"116. Der Zweck wäre sonst bloß Mittel zu anderen Zwecken und so fort, und dies widerspräche der Maxime der Handlung, die das Allgemeine um seiner selbst willen wollen soll. Das Allgemeine muß sich so in bestimmte Inhalte auslegen lassen, in einen „Zweck, der zugleich Pflicht ist"117. Als Zweck an sich selbst hatte die „Kritik der praktischen Vernunft" 118 den Menschen, das Subjekt des Sittengesetzes, angesprochen; diesen Gedanken nimmt die „Metaphysik der Sitten" auf und bestimmt das moralische Subjekt als das, was zu Zwecken verbindet. Diese Zwecke sind die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit119. Es sind dies die Tugendpflichten, sie haben — anders als die Rechtspflichten - eine „weite Verbindlichkeit", sie sind „unvollkommene Pflichten" und „die Erfüllung derselben ist Verdienst"120. Der Mensch hat die Pflicht, seine verschiedenen Vermögen zu kultivieren, „sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierwelt (quoad actum) immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor-

115

MdS Tugendlehre Einl. VI. S. 229. " · MdS Tugendlehre, Einl. III. S. 225. 117 ebda. 118 KpV S. 151. " e MdS Tugendlehre Einl. IV S. 225. uo MdS Tugendlehre Einl. VII S. 231.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

zuarbeiten" 1 2 1 . Es gehört zur Würde des Menschen, dies selbst tun zu sollen, aus eigenem nach der Vollkommenheit zu streben, d. h. es ist „ein Widerspruch, eines anderen Vollkommenheit mir zum Zweck zu machen" 1 2 2 , wohl aber soll ich mir seine Glückseligkeit angelegen sein lassen, die wiederum keine Pflicht gegen mich selbst sein kann, da jeder erlaubterweise ohnehin danach strebt. - Neben den unvollkommenen kennt K a n t auch vollkommene Pflichten gegen sich selbst und gegen andere, die eine enge Verbindlichkeit haben, aber eben darum auch - wie das Recht eine lasterhafte Handlung bloß verbieten; Selbstmord, Lüge, Geiz etc. gehören hierher, und im Verhältnis zu anderen: Hochmut, böse Nachrede und Verhöhnung anderer. Das, was mich als Zweck verpflichtet, ist Subjektivität. Sofern diese sich aber in ein Ich und in die Anderen dirimiert, die qua reale Subjekte irreduzibel sind und sich nicht — wie es die Rechtsphilosophie zeigt und die Propädeutik intendiert — in höheren pluralen Einheiten gegenständlich werden, hat es an einigen Stellen der „Metaphysik der Sitten" den Anschein, als erhielte das Allgemeine nun selbst den Grund der Gegenseitigkeit 1 2 3 : weil ich will, daß mir im Falle der N o t geholfen werde, muß ich es mir zur Maxime machen, anderen zu helfen, und ebenso wird die Pflicht zur Achtung des Anderen begründet; weil der Andere dazu nur durch die Allgemeinheit der Maxime verbunden werden kann, bin ich gehalten, mir dieses Handeln zum Gesetz zu machen. Dies widerspricht zwar Kants Kritik an dem Satz „quod tibi non vis fieri usw." 1 2 4 , wir wollten mit diesem Hinweis aber auch nur sagen, daß K a n t - sobald Pluralität thematisch wird — versucht ist, das Allgemeine als Gegenseitigkeit zu fassen. Lediglich kurz erwähnt K a n t die Freundschaftspflichten, Pflichten gegen den anderen, die aus dem besonderen Verhältnis, in dem ich zu ihm stehe, resultieren, aber auch hier kann diese Einheit eben nur als Verhältnis gedacht werden. Hegel konnte mit dem Gedanken der Familie und des Staats ein objektives, inhaltlich bestimmtes Allgemeines als verpflichtend in die Ethik einführen. Es ist fraglich, ob K a n t dies mit dem Begriff des Zwecks eigener Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit auch gelingt. Diese Inhalte sind ja nicht aus dem Begriff der Freiheit selbst entwickelt, nicht als ihr adäquat, als inhaltliche Bestimmtheiten der Freiheit, dargetan, die sich

121 122 123 ,M

MdS MdS MdS GMS

Tugendlehre Einl. V S. 227. Tugendlehre Einl. I V S. 226. Tugendlehre Einl. V I I I S. 235. S. 53.

Die Religionslehre

101

in ihnen realisiert. Ja, sie sind - sieht man genauer zu - eigentlich selbst nur formelle Bestimmungen, denn in gewissem Rahmen bleibt es zufällig, worin man Vollkommenheit und Glückseligkeit setzt, erst empirisch können sie inhaltlich näher bestimmt werden. So befriedigt uns die kantische Weise, Inhalte in die Ethik einzuführen, letztlich wohl nicht.

4. Die

Religionslehre

Die verbindlichen Inhalte, die Hegel mit der Familie und dem Staat dartun konnte, bleiben Pflichten für ein Subjekt. Sie sind zwar im Ansatz ontologisch konzipiert als wirkliche Gestalten der Freiheit, ohne daß doch die Propädeutik diese ihre Wirklichkeit - selbst Täter des Allgemeinen zu sein - entwickeln könnte. Sie brauchte dazu die ausgeführten begrifflichen Mittel der Dialektik, die es ihr erlaubten, Subjektivität als umfassende ontologische Charakteristik, als Moment der Realisierung des Begriffs, zu denken, die Wirklichkeit des Staates als Subjektivität zu fassen. Subjektivität bleibt für sie auf dem Pflichtenstandpunkt die Bestimmtheit des moralisch verpflichteten einzelnen Subjekts, für das alle es übergreifenden Inhalte eben nur substantielle Allgemeine sind, denen es Wirklichkeit allererst verleihen soll. Der Staat als konkretes Allgemeines ist so letztlich nicht zu begreifen. Aber solch ein Affirmatives will Hegel namhaft machen, er will die Pflichtenlehre auch mit solch einem ontologischen Gedanken verbinden, in dem der Gegensatz des Bewußtseins und das Sollen überwunden gedacht werden kann, d. h. bei aller Nähe zu Kant, an dessen Theorie er sich angleicht, will er doch immer auch seinem eigenen spekulativen Prinzip Geltung verschaffen schon innerhalb der Propädeutik. Dies führt ihn zu einer Religionslehre 125 . Die im Sollen für ein Subjekt gebotene Realisierung des Allgemeinen im Besonderen ist endgültig nicht zu leisten, das Sollen wird immer erneut einem Besonderen konfrontiert, unsere Individualität bleibt dem „ewigen Vernunftgesetz" 126 unangemessen. Nicht der Mangel der Freiheit - ontologisch gesehen - , die als Sollen gefaßt wird, leitet weiter, nicht der Gedanke, daß Sollen der Freiheit nicht angemessen ist, sondern die Erfahrung, daß das Subjekt dem Gesetz nicht genügen kann. Dies 124

Wir glauben nicht wie Gerhard Schmidt („Hegel in Nürnberg" S. 109), daß die Einführung der Religionslehre in diesem Zusammenhang allein auf Niethammers Normativ zurückgeht, wir meinen vielmehr, dafür audi ein Argument geltend machen zu können. PP Relegionslehre § 71.

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Die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre

führt dazu, das Gesetz als ein eigenes, höheres Wesen zu sehen, seine Subjektivität als ein reales Individuum, als Absolutes, als Gott, anzusprechen. Insofern dieser die Geisteinheit ist 127 , der Täter des Allgemeinen, als welcher der Staat letztlich nicht verstanden werden konnte, trägt er nun Bestimmungen, die in der Rechtsphilosophie der Staat erhält: er verwirklicht das Allgemeine, erhält den Einzelnen darin, gibt ihm Raum für seine Wirklichkeit und bringt ihn doch immer zum Allgemeinen zurück 128 . Ist so einmal die Freiheit als Geist affirmativ gefaßt, kann nun auch sich die Freiheit geltend machen, die sich gegen das Allgemeine stellt, d. h. das Böse wird nun thematisch. Böse ist der Einzelne, der sich in sich reflektiert, der „absolut für sich zu sein strebt" 1 2 9 und sich darin Gott entfremdet. War das Böse in der Rechtsphilosophie die Konsequenz der Freiheit, die ihr Bestehen im Sollen hat, was dazu führte, Subjektivität mit der Objektivität zusammenzuschließen und den Staat als die angemessene Realisierung der Freiheit zu fassen, so resultiert es hier — und dies ist ja auch die traditionelle Lösung — aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott, in dem das Sollensgesetz als reales, aber jenseitiges Wesen vorgestellt wird, d. h. in dem die Wirklichkeit der Freiheit vorweg gesichert ist. Aber diesem Wesen haftet Äußerlichkeit gerade nicht mehr an, in ihm kann Freiheit zwar affirmativ gedacht werden, aber nicht als Geisteinheit einer Pluralität in Raum und Zeit, wie es die Rechtsphilosophie im Gedanken des Staates vermochte. — Wir werden später sehen, wie das Sein Gottes näher bestimmt wird; hier genügt es uns zunächst festzustellen, daß Hegel um den Preis einer affirmativen Gestalt der Freiheit die Äußerlichkeit aufgibt, in der wir jene doch zu finden hofften; d. h. - um es anders zu sagen - der Gegensatz des Bewußtseins ist nur dadurch überwunden, daß der Bereich, in dem er herrschend ist, schlicht verlassen wird. Dennoch ist es berechtigt - Hegel betont dies in der Enzyklopädie 1 3 0 -, vom Gedanken der Freiheit zum Gedanken Gottes fortzuschreiten; und die Rechtsphilosophie 131 behandelt ausführlich das Verhältnis von Staat und Religion, in ihren Ausführungen zeigt sich deutlich die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen einem „Absoluten", einer Freiheit in der Äußerlichkeit — dem Staat - und dem Absoluten, der Freiheit, die im Gedanken Gottes gedacht wird, zu bestimmen. Einerseits genießt der Staat als Geist127 128 129 130 1S1

P P Religionslehre § 76. P P Religionslehre § 77. P P Religionslehre § 78. Ε § 552 S. 431. R P h § 270.

Die Religionslehre

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gestalt die Sanktion des göttlichen Willens132, sofern er aber „als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist"138 ist, die Religion dagegen nur den abstrakten Gedanken des Geistes ausspricht, bleibt er andererseits ihr übergeordnet. Der Staat hat eine höhere Dignität auf der Stufe des objektiven Geistes, des Geistes in der Äußerlichkeit, die Religion eine niedere Dignität in der höheren Sphäre des absoluten Geistes, sofern sie sich aber als kirchliche Institution in die Äußerlichkeit begibt, steht sie unter dem Gesetz des Staates. Ihm, der das Allgemeine weiß und tut, entspricht nicht eigentlich die Religion, in der das Absolute nur geglaubt und vorgestellt wird, sondern die Wissenschaft als die affirmative Gestalt des absoluten Geistes. Dennoch ist es legitim — wir sagten das bereits — Gott vom Begriff der Freiheit her zu denken, wie auch Kant 134 dies tut, und Hegel135 gibt ihm hierin durchaus recht. Audi Kant faßt Gott als die Macht, die die Diskrepanz zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen überwindet, als das tätige Allgemeine, das das hödiste Gut, die Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit gewährleistet, die der reine Vernunftbegriff des Sollens alleine nicht sicherstellen kann. Da wir das höchste Gut realisieren sollen, es aber nicht vermögen, sind wir gehalten, die Existenz Gottes zu glauben. Dieser Glaube erweitert jedoch nicht unsere Erkenntnis, da sein Gegenstand nicht gegeben ist, er gilt lediglich in praktischer Absicht, er ist untrennbar mit dem Sollen verknüpft und so selbst nur Postulat. Ist der Gegensatz des Bewußtseins im Gedanken Gottes als einer vernünftigen Wirklichkeit scheinbar überwunden, so stellt er sich doch wieder her, indem diese Wirklichkeit wiederum selbst nur als gesollte gewußt werden kann. Dies kritisiert Hegel hier in der Enzyklopädie. Er weiß sich also offensichtlich im Besitz einer Rationalität für die ontologische Theorie, die den Gedanken Gottes auch in theoretischer Hinsicht von einem — nun umfassender verstandenen - Begriff der Freiheit her zu fassen vermag, und in der Tat sehen wir ja in der Propädeutik wie in der Enzyklopädie136 die Religionslehre auf die Lehre vom Staat folgen. Wir erinnern uns: Freiheit galt als das Beisichsein im anderen seiner selbst, als das Sein, das durch nichts Fremdes mehr bestimmt ist, und sie wurde in der Theorie des praktischen Bewußtseins bestimmt als das Sich132 133 1M 13ί 130

RPh § 270. ebda. KpV S. 143. Ε § 552 S. 431. Allerdings konnte die Enzyklopädie, da in ihr der Gegensatz des Bewußtseins prinzipiell überwunden ist, sdion den Staat affirmativ fassen.

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Die Redits-, Pflichten- und Religionslehre

durchsetzen des Denkens in der Selbstbestimmung. Ihre Kongenialität mit der Vernunft ermöglicht es so einmal, eine vom Begriff geleitete Theorie der Freiheit in der Äußerlichkeit zu geben, was Hegel auch in der Propädeutik bis zu einem gewissen Grade tut, zum anderen legt sie den Gedanken nahe, Freiheit nicht mehr nur in der Äußerlichkeit zu suchen, sondern in dem Denken selbst, durch das und in dem sich das Subjekt als frei begreift. Wir gelangten so zu einem Bereich, in dem das Denken, dessen Sein das Sichwissen ist, Thema einer Ontologie werden kann und zur affirmativen Gestalt dieses Denkens im Begriff und in der Philosophie. Eine solche Theorie begründete sich selbst, indem ihr Resultat das Denken ist, das auch die Gestalten der Freiheit in der Äußerlichkeit dachte. Die Enzyklopädie führt diesen Systemgedanken aus, und die Propädeutik sucht sich ihm mit dem Begriff des absoluten Wesens zumindest zu nähern. Dieser kann — wie wir sahen — zwar nicht als Abschluß einer ontologischen Theorie der Freiheit in der Äußerlichkeit gelten, wohl aber als Hinweis auf die Realisierung der Freiheit im absoluten Wissen, dessen Begriff die Propädeutik einführt in der Religionslehre 137 . Sie kehrt in einem anderen Sinne als die Enzyklopädie an ihren Ausgangspunkt zurück: so wie sie mit dem Gedanken der Freiheit als Denken begann, ohne doch dies Denken entwickelt zu haben und ohne sich daher dieser Identität versichern zu können, so schließt sie mit der Vorstellung eines absoluten Wesens, das diese Identität als Gegenstand für ein Bewußtsein ist, ohne doch auch hier diese Identität zu entwickeln, zu denken. Es bleibt vielmehr bei der Forderung nach der Erkenntnis Gottes, „dies Wissen muß sich näher bestimmen und nicht inneres Gefühl, Glauben an das unbestimmte Wesen überhaupt, bleiben, sondern ein Erkennen desselben werden" 138 . - Mit dieser Aufforderung werden wir auf den vorzüglichen Charakter der Propädeutik verwiesen, die ja mit den Gedanken, die sie entwickelt, vor allem zu diesem absoluten Wissen hinführen will. Wie sie dies tut und ob ihr dies gelingt, werden wir nun erörtern müssen.

IST p p Religionslehre § 73. PP Religionslehre § 74.

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VI. Die Propädeutik und das Problem einer Einleitung in das ontologische System Unsere Arbeit war bisher der Versuch einer Theoriediagnose des ersten Kursus der Propädeutik. Wir haben uns bemüht, ihre oszillierende Bewegung zwischen dem kategorialen Standpunkt, wie er uns in der Rechtsphilosophie begegnet, und dem Standpunkt des Bewußtseins, dem Pflichtenstandpunkt, wie er bestimmend ist für die „Metaphysik der Sitten", darzustellen. Wir deuteten wohl auch schon - geleitet von dem Gedanken der erforderten Rationalität der Theorie - eine mögliche Kritik an der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre an, aber eine solche Kritik wäre zumindest voreilig. Das System der Propädeutik und das ontologische System Hegels lassen sich zwar als zwei verschiedene Theorien durchaus miteinander vergleichen, sie stehen darüber hinaus aber noch in einem bestimmten Verhältnis zueinander: jenes will in dies einführen; d. h. wir sind gehalten, das, was die Propädeutik von der Rechtsphilosophie unterscheidet, bestimmter als die Charakteristik ihres Versuchs zur Einleitung in das spekulative Prinzip aufzufassen. Die ontologische Theorie nimmt einen Standpunkt ein, auf dem das Denken sich versichert weiß, Sein erfassen zu können, auf dem es dessen Bestimmtheit als Resultat seiner immanenten Selbstbestimmung zu denken vermag. Das Bewußtsein, das Opposition zu einem anderen seiner selbst ist, dem Bestimmtheit so immer als Fremdbestimmung erscheint, kann diesen Standpunkt nicht ohne weiteres einnehmen. Es vermag zwar wohl in der Immanenz des Denkens der Logik den ontologischen Gedanken zu lernen, da das Denken ja auf Argumenten beruht, aber es wäre dies ein Lernen auf Kredit, ein Lernen, das darauf vertraut, daß ihm am Ende erst das das Ganze erhellende Argument geboten wird. Das Bewußtsein verlangt darüber hinaus aber zu Recht — und Hegel betont dies Recht auf einen „Allen dargebotenen und für Alle gleichgemachten Weg zu ihr (sc. der Wissenschaft")1 - , von seinem eigenen Standpunkt aus in die Immanenz des Denkens eingeführt zu werden. - Drei Versuche hat Hegel unternommen, dies zu leisten: in der „Phänomenologie des Geistes" von 1

PhG S. 17.

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1807, in der Einleitung zur „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" von 1817 und in der Propädeutik der Nürnberger Zwischenzeit; wir wollen sie im folgenden betrachten. Die verschiedenen Weisen, in denen die Einleitung unternommen wird, ihre spezifische, näher bestimmte Stellung zum System und schließlich das Problem einer Einleitung überhaupt werden uns dabei beschäftigen. Die Phänomenologie, die Lehre also von der Erscheinung des Geistes, ist näher — so sagt es der zweite Titel des Werks - die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns" 2 , d. h. das, worin der Geist erscheint, sind die verschiedenen Weisen, in denen sich Ich und Gegenstand zueinander verhalten. Der Titel der Schrift enthält so eine These und ein Programm: das Bewußtsein ist als vom Geist gesetzt zu verstehen, und seine Erfahrung wird so artikuliert werden müssen, daß an ihrem Ende der Geist selbst als das Wesen des Bewußtseins erfahrbar wird. Die Phänomenologie stellt so den Prozeß der Selbsterkenntnis des Bewußtseins dar, in allem, worauf es sich bezieht, bezieht es sich zugleich auf sich - „ist einerseits Bewußtsein des Gegenstandes, anderseits Bewußtsein seiner selbst" 3 - , und mit der Fortbestimmung dieses Selbstbezugs ändert sich ihm auch sein Gegenstand. Der Philosoph, der das Wesen des Bewußtseins weiß, des absoluten Wissens schon versichert ist, begleitet kommentierend seine Selbsterfahrung und leitet es zu diesem Resultat. Das Bewußtsein ist zunächst einer ihm fremden äußerlichen Welt konfrontiert. Dieser Welt, zu der es sich als sinnliche Gewißheit, als Wahrnehmung und als Verstand verhält, will es sich als des Wahren versichern, d. h. es ist ihm „das Wahre etwas anderes als es selbst" 4 . Aber dies andere ist nur für es, und dies erfährt das Bewußtsein, wenn es Selbstbewußtsein geworden ist. Die Welt ist nun nicht mehr ein gleichgültiges, fremdes Äußeres, sondern das, in dem das Bewußtsein bei sidi selbst sein und sich realisieren will. Es ist Begierde 5 , die sich erfüllt, indem sie ihren Gegenstand negiert und aufhebt. Als angemessenes Korrelat dieser Stufe der Erfahrung erscheint nun nicht mehr die fremde Welt, sondern der Gegenstand, der „ebensowohl Ich wie Gegenstand"® ist, das andere Selbstbewußtsein. Soziale Verhältnisse - wie das von Herrschaft und Knechtschaft - werden hier thematisiert und der Gedanke der Freiheit des Selbstbewußtseins in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit PhG PhG 4 PhG β PhG • PhG 1 8

S. S. S. S. S.

61. 72. 133. 135. 140.

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den anderen. Im Kampf, in der Negation, hat diese Freiheit ihr Bestehen. War dem Bewußtsein die Welt das Wahre, Positive, so ist sie dem Selbstbewußtsein das Unwahre, das er negiert, um die Wahrheit, die es ist, zu betätigen7. Erst als Vernunft lernt das Bewußtsein, im anderen seiner selbst bei sich zu sein, sich darin bestätigt zu finden, denn die Vernunft begreift die Wirklichkeit als ihre Realisierung. Auf dem Wege der Erkenntnis als beobachtende Vernunft bewährt sie diese Einsicht, und sie bestimmt auch das praktische Verhalten des Bewußtseins: Sitte und Gesetz eines Volkes8, die sittliche Welt, sind die realisierte Vernunft, sind Geist. Im absoluten Wissen verständigt sich der Geist über dieses sein Wesen, alle Realität zu sein, und spricht es als Begriff aus. Die Immanenz des Denkens, die nicht mehr Erscheinung des Geistes ist, sondern er selbst wie er als sich wissender Geist ist, wird so erreicht, die Phänomenologie ist an ihr Ziel gekommen. Die Logik nimmt diese Genese des Begriffs als ihre Voraussetzung in Anspruch, als „den Beweis der Wahrheit des Standpunkts, der das reine Wissen ist"9, und die Phänomenologie bezeichnet diesen Weg zur Wissenschaft selbst schon als Wissenschaft10. Dies erscheint uns durchaus verständlich, denn wir können die Phänomenologie ja als eine ontologisdie Theorie des Bewußtseins und seiner Erfahrung lesen. Audi Hegel sieht sie in der Logik so: „Ich habe in der Phänomenologie des Geistes ein Beispiel von dieser Methode (sc. der Logik) an einem konkretem Gegenstande, an dem Bewußtsein, aufgestellt" 11 . Von einer Entelechie aus - dem gelingenden Fall der Identität von Ich und Gegenstand - thematisiert sie die Verhältnisse des Bewußtseins. Sie bedient sich dazu der Dialektik, d. h. sie nimmt - im Kommentar und in der Leitung des wissenden Philosophen, des „für uns" - den Standpunkt der Immanenz des Wissens ein. Dies ist jedoch nur die eine Seite, andererseits prätendiert die Phänomenologie ja nicht allein Wissenschaftlichkeit, sie will zugleich Einführung in diese Wissenschaftlichkeit, in die Immanenz des Denkens, sein. Der Gegensatz des Bewußtseins ist so nicht nur Thema der Theorie, sondern immer auch ihr Standpunkt, von dem aus sie den ontologischen Standpunkt allererst ja erreichen will. Die Theorie der Phänomenologie wird so zwiespältig: jede Form des Bewußtseins ist nie nur kategoriale

* PhG S. 175 f. 8 PhG S. 319. • L I S . 53. " PhG S. 74. " L I S . 35.

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Gestalt, sondern immer audi ein Gegenstand der Erfahrung für dies Bewußtsein, d. h. der Gang der Dialektik und der der Erfahrung sollen identisch sein, Kategorialität erfahrbar werden. Es liegt nicht nur eine Rationalisierung der Erfahrung vor, vielmehr soll Rationalität selbst erfahrbar werden. Die Dialektik ist nicht nur Methode des Verstehens, sie bestimmt zugleich den Prozeß der Erfahrung so, als bewege sich das Bewußtsein selbst dialektisch fort. Ist es aber so - wie wir zu zeigen versuchten - , daß Dialektik nur dort statt hat, wo sich das Denken seiner Identität mit dem Sein versichert weiß, in Kategorien, und nur zum Zwecke ihrer Erklärung, so ist ihre Anwendung auf Erfahrung ungerechtfertigt. Die Dialektik als das Verfahren, Kategorien in eine einsehbare Abfolge zu bringen, verschleiert in ihrem linearen Progress gerade den Hiatus zwischen dem — ontologisch gesprochen — im Gegensatz des Bewußtseins bloß erscheinenden Geist und dem sich im absoluten Wissen als Geist wissenden Geist, wenn sie die grundsätzliche Differenz beider Standpunkte, die in der Phänomenologie ja gerade behandelt werden soll, schon ontologisch faßt und sie in eine kategoriale Abfolge bringt. Beides zu vereinigen erscheint kaum möglich. Lesen wir die Phänomenologie als ontologisdie Theorie des Bewußtseins, so erfüllt sie nicht den Zweck einer Einführung in diese Theorie, nehmen wir sie aber als solche, so ist sie nicht stringent, denn die Dialektik wäre dann allenfalls eine Lizenz. In der Enzyklopädie zieht Hegel selbst die Konsequenz aus dieser Einsicht, die Phänomenologie - allerdings nur bis zur Gestalt der Vernunft - ersdieint dort dann als Teil einer Philosophie des subjektiven Geistes. Die Enzyklopädie selbst unternimmt in der Einleitung einen anderen Versuch, zum System hinzuführen, d. h. sie gibt sich ein anderes Verhältnis zum Bewußtsein als es die Phänomenologie, die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins", tat. „In Beziehung auf unser gemeinsames Bewußtsein zunächst hätte die Philosophie das Bedürfnis ihrer eigentümlichen Erkenntnisweise darzutun oder gar zu erwecken" 12 , d. h. den ontologischen Standpunkt will die Enzyklopädie als das verständlidi machen, was das Bedürfnis der Vernunft befriedigt. Das Denken erscheint dabei als ein eigener Zugang zu den Dingen neben anderen, neben Gefühl, Anschauung, Vorstellung etc., als ein Vermögen des Menschen, und die Philosophie erscheint demgemäß als die „denkende Betrachtung der Gegenstände" 13 . So wie die Anschauung Sinnliches, die Phantasie Bilder, der 11

Ε § 4. " Ε § 2.

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Wille Zwecke zum Gegenstand hat, so ist es das Bedürfnis des Denkens, audi zu einem ihm gemäßen Gegenstand zu gelangen, den Gegenstand als denkbar, als denkkongenial, zu begreifen14. Die Philosophie ist daher Rekonstruktion des Gegebenen im Denken, d. h. sie gibt den zugestandenen Inhalten „die wesentlichste Gestalt der Freiheit (des Apriorischen) des Denkens und die Bewährung der Notwendigkeit, statt der Beglaubigung des Vorfindens und der erfahrenen Tatsache, daß die Tatsache zur Darstellung und Nachbildung der ursprünglichen und vollkommen selbständigen Tätigkeit des Denkens werde" 15 . Ob und wie eine solche Theorie möglich ist, das kann dieser Einleitungsgedanke der Befriedigung des Bedürfnisses der Vernunft nicht beweisen, d. h. er kann nicht - will aber auch nicht - den ontologischen Standpunkt vorweg begründen, wie es die Phänomenologie versuchte; dazu werden wir vielmehr auf die ausgeführte Theorie der Enzyklopädie selbst verwiesen, die sich selbst begründen muß. Wir sehen aber soviel, daß wir den ontologischen Standpunkt einnehmen müssen, wollen wir dem Denken gerecht werden. Versucht die Enzyklopädie durch den Gedanken, dem Bedürfnis der Freiheit des Denkens genüge tun zu müssen, ins System als dessen Befriedigung einzuführen, so will dagegen die Propädeutik durch eine Theorie der praktischen Freiheit diese Freiheit des Denkens begründen, d. h. sie will durch eine Ethik, eine Pflichtenlehre - in der umfassenden kantischen Bedeutung - das Bewußtsein auf die Ebene des spekulativen Standpunktes erheben. Hegel betont eindringlich die Vorzüge der Ethik zu diesem Geschäft: „Wenn die Frage gemacht würde: ob dieser Lehrgegenstand passend sei, den Anfang der Einleitung in die Philosophie zu machen? so kann ich dies nicht anders als bejahend beantworten." 16 Denn „das Recht, das Selbstbewußtsein, das Praktisdie überhaupt, enthält schon an und für sich selbst die Prinzipien oder Anfänge davon . . ."17, nämlich von einer spekulativen, geistigen Einheit. Die Ethik ist zudem — was man von der Phänomenologie, die Dialektik ja schon in Anspruch nimmt, wohl nicht sagen kann - auch für Schüler leicht faßlich: „Die Begriffe dieser Lehren sind einfach, und haben zugleich eine Bestimmtheit, die sie für das Alter dieser Klasse ganz zugänglich macht; ihr Inhalt ist durch das natürliche Gefühl der Schüler unterstützt, er hat eine Wirklichkeit im Innern derselben; denn er ist die Seite der innern Wirklichkeit selbst."18 Beides, die 14

Ε § 11.

15

Ε § 12.

18

NS S. 436. " NS S. 447. 18 NS S. 436.

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Eignung der Ethik zur Einführung ins System und ihre leichte Faßlichkeit, beruht darauf, daß ihr Gegenstand „ohne vorhergehende Anatomie, Analyse, Abstraktion usw., sdion Gedanke ist. Es wird also in diesen Lehren (sc. der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre) in der Tat mit dem Verlangten, dem Wahrhaften, dem Geistigen, Wirklichen angefangen" 19 . Dies tun denn auch die Einleitung zum ersten Kursus der Propädeutik und die Erläuterungen zu dieser Einleitung. Sie fassen die Freiheit der Praxis als die in der Selbstbestimmung sidi durchsetzende Freiheit des Denkens und begründen jene in dieser. Den Anfang der Theorie bildet so diese spekulative Einsicht, die zu vermitteln sie sich zugleich auch zum Ziel gesetzt hat; sie wird fundierend gedacht für die Ethik und macht sidi auch innerhalb der ausgeführten Rechts-, Pflichten- und Religionslehre wie wir gesehen haben — immer wieder geltend. Man kann die Propädeutik so schlicht als eine Einübung der Ontologie lesen, wobei der ontologische Gedanke immer unterfangen bleibt von einer leiditer verständlichen Deutung durch den Gedanken der Pflidit. Wir meinen darüber hinaus aber noch eine bestimmtere Progression der Propädeutik als Einleitung zu bemerken, d. h. es gibt in der Abfolge ihrer Themen eine wachsende Annäherung an den ontologischen Standpunkt, die vom Pflichtenstandpunkt aus dargetan wird. Der spekulativen Einsicht der Einleitung kann sidi das Bewußtsein nicht im Denken selbst, in das ja eingeführt werden soll, sondern nur intuitiv, versichern; Sie wurde so - wir wir sahen - nicht zum Grund einer ontologischen Theorie der Freiheit, sondern zum Grund des Sollens, des Pflichtenstandpunkts. Der erste Kursus führt nun das Bewußtsein den Weg, diese spekulative Einsicht durch eine Pflichtenlehre wieder zu gewinnen, sie dadurch zu vermitteln, d. h. - wir sagten es schon - er will die Freiheit des Denkens durch die praktische Freiheit verständlich machen, die er zuvor in jener schon begründete. Die Stadien dieses Wegs sind die Rechts-, Pflichten- und Religionslehre. Beide Freiheiten — die praktische und die ontologische gehen in ihnen jeweils bestimmte Verhältnisse ein; sie müssen wir jetzt untersuchen, denn nach ihnen bestimmt sich der Fortschritt der Einleitung. In der Rechtslehre macht sich der ontologisdie Gedanke als das geltend, was die Verpflichtung der Person begründet, d. h. Hegel lehrt anders als Kant einen positiven Rechtsbegriff des Zustandekommens und der Erhaltung der Freiheit, ihrer Realisierung. Bestimmte, der Allgemeinheit der Freiheit angemessene Inhalte können hier noch nicht dargetan » ebda.

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werden, und so haftet dem Recht immer auch das Moment der Formalität an, das - wie wir sahen - Kant betont. Wir bemerkten eine gewisse Konvergenz beider Standpunkte, eine gewisse Indifferenz dagegen, ob das Recht als unmittelbares Dasein der Freiheit oder als Bereich äußerer Verpflichtung gefaßt wird, d. h. auch der ontologische Gedanke - so wenig wie Kants negativer Begriff — begründet im Bereich des Redits nodi keinen adäquaten Inhalt der Freiheit, sondern eine Verpflichtung und kann so in eine Rechtslehre eintreten, die, wie die Propädeutik, immer auch den Pflichtenstandpunkt einnimmt. Oder - um es noch anders zu sagen —: der ontologische Gedanke der Rechtslehre verlangt den Schülern noch kein ausgeführtes dialektisches Denken ab, sie können sich seiner auch vom Pflichtenstandpunkt aus als Grund der Pflicht versichern. - Nicht viel anders verhält es sich zunächst mit dem Staat. Er wird zwar als eine weitergehende Konkretion der Freiheit, als die Realisierung des Rechtsbegriffs, angesprochen, aber seine Charakteristik — Täter des Allgemeinen zu sein —, seine Subjektivität, ist nicht dargetan, er verbleibt vielmehr im Bereich äußerer Verpflichtung. Wir wissen noch nicht, wie er die „von Triebfedern der Einzelheit unabhängige Macht" 2 0 sein kann. Dies wird uns erst die Deutung des Staates in der Pflichtenlehre der Propädeutik zeigen. Hier in der Pflichtenlehre gehen beide Standpunkte ein anderes, innigeres Verhältnis ein als in der Rechtslehre. Der ontologische Gedanke ist nicht mehr nur Grund der Verpflichtung, vielmehr wird das Ontologische gewissermaßen selbst Pflicht, „ontologische Pflichten" verbinden das Subjekt: es soll allgemein und objektiv werden. Das, was die ontologische Theorie der Rechtsphilosophie als Realisierung des Begriffs ausspricht, erscheint hier in der Propädeutik als sittliche Tat des Menschen. So wird auch der Staat nur sittlicher Staat, „moralisches Gemeinwesen"21, indem seine Bürger sich zur Allgemeinheit und Objektivität gebildet haben und sich in das objektive Allgemeine des Staats fügen. Er ist die „von Triebfedern der Einzelheit unabhängige Macht" 22 dadurch, daß seine Bürger ihre Triebfedern reinigen, objektives Subjekt nur, weil sie sich zu objektiven Subjekten gemacht haben. Der ontologische Gedanke wird hier expliziter als in der Rechtslehre, weil er sich nicht mehr nur als Grund der Verpflichtung geltend macht, sondern weil das sittlich verpflichtete Subjekt gewissermaßen Ontologisches selbst ins Werk zu setzen hat; durch

10

" 12

PP Rechtslehre § 22. PP Pflichtenlehre § 54. PP Rechtslehre § 22.

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die Tat versichert es sich so der Philosophie des spekulativen Standpunkts. Wir bemerken, wie die Ethik hier aufs allerengste mit dem Geschäft der Einleitung ins System verbunden ist. Aber auch einen Weg zum Denken des ontologischen Gedankens weist Hegel in der Propädeutik, und zwar mit der Religionslehre. So wie das Subjekt das Allgemeine verwirklichen sollte, diese Aufgabe aber nie völlig erfüllen konnte, so erwächst ihm daraus die Vorstellung eines Absoluten, das diese Wirklichkeit des Allgemeinen, das Freiheit ist. Beide Freiheiten - die praktische Freiheit und die Freiheit des Denkens - sind in ihm identisch, die Freiheit des Denkens, des Sichwissens, ist sein Tun und sein Sein. „Gott ist der absolute Geist, d. h. er ist das reine Wesen, das sich zum Gegenstande macht, aber darin nur sich selbst anschaut; oder in seinem Anderswerden schlechthin in sich selbst zurückkehrt und sich selbst gleich ist." 23 Der Gedanke Gottes komplettiert so nicht nur die Ethik, sondern soll auch die Einleitung ins System an ihr Ziel bringen, den ontologischen Gedanken, die Freiheit des Denkens vom Pflichtenstandpunkt, vom Begriff praktischer Freiheit aus zu erhellen. Mit der Forderung an das Subjekt, das Absolute zu erkennen, schließt der erste Kursus der Propädeutik, d. h. Erkenntnis ist das Ziel der Ethik, die sie vorführt. Das, was die praktische Freiheit begründete — die Freiheit des Denkens - , dessen Erkenntnis erscheint nun als Desiderat einer Ethik, einer Theorie der praktischen Freiheit, die den ontologischen Gedanken immer schon in Anspruch nimmt, ihn einübt, zugleich ihn aber audi durch eine Pflichtenlehre vermitteln will. Fragen wir uns, ob diese Vermittlung von praktischer Freiheit und Freiheit des Denkens, von Pflichtenstandpunkt und ontologischem Standpunkt der Propädeutik gelingt, ob sie das System begründen kann. Der erste Kursus will die ursprüngliche spekulative Einsicht, daß die Freiheit des Denkens die praktische Freiheit begründet, wiedergewinnen in einer Pflichtenlehre, und diese terminiert so in der Forderung nach Erkenntnis des Absoluten, nach absoluter Erkenntnis, die sie aus der Ethik herleitet. So weit gelingt das Geschäft der Einleitung ohne Zweifel. Aber die Propädeutik vermag nicht, die Freiheit des Denkens als Grund der praktischen Freiheit vom Pflichtenstandpunkt aus darzutun, d. h. die Ethik führt zwar zur Vorstellung eines absoluten Denkens - im Gedanken Gottes - , aber sie vermag nicht, sich darin als begründet zu erkennen, und gerade dies war ja die ursprüngliche spekulative Einsicht. Die Notwendigkeit dieses Sachverhalts leuchtet unmittel" PP Religionslehre § 76.

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bar ein: die Propädeutik ist Einleitung in das ontologische Denken, sie kann sich also nicht als durch das begründet erkennen, was sie allererst begründen will. Wir stehen damit vor dem grundsätzlichen Dilemma, dem jede Einleitung in das Hegeische System konfrontiert sein muß. Jede Einleitung muß Gründe für das ontologische Denken beibringen, als deren Grund sich aber in dem System dies ontologisch gedeutete Denken selbst begreift, d. h. sie muß Gründe anführen, die selbst allererst in der umfassenden ontologisdien Theorie begründet werden müssen. Wollte man dies paradox und überspitzt formulieren, so könnte man sagen, daß das System zwar die Theorien der verschiedenen Einleitungen begründen kann, die Einleitungen aber nie das System. Wir sehen jedenfalls soviel, daß jede Einleitung, die ab extra geschieht - und sie muß ja ab extra geschehen - , eben darum vor einer prinzipiellen Schwierigkeit steht, die sie nicht überwinden kann, will sie Einleitung, Hinführung zum System bleiben. Jede Einleitung gerät — denkt man sie weiter - in einen Zirkel des Begründens, d. h. man muß ihr, will man durch sie den ontologisdien Standpunkt lernen, den gleichen oder einen noch größeren Kredit geben als dem System selbst, wenn man anhand seiner lernt. Auch das System ist ja ein Zirkel, erst sein Resultat ist sein Grund, wir verstehen es erst am Ende, und gerade daraus erwuchs ja das Bedürfnis einer Einleitung ins System. Während jedoch das System die Gründe, die es in Anspruch nimmt, innerhalb seiner rechtfertigen kann, sich selbst begründet, so kann das dagegen eine Einleitung nie, will sie nicht selbst schon zum System werden. Fast erscheint es uns so, als sei das Lernen auf Kredit entlang dem System selbst leichter als das Lernen durch eine Einleitung, zumindest ist es angemessener. Dies prinzipielle Dilemma darf uns aber nicht über die Vorzüge der Propädeutik hinwegtäuschen. Es ist ein den ontologisdien Standpunkt vorzüglich erhellender Gedanke Hegels, das Prinzip seines Systems — die Freiheit des Denkens24 - durch eine Theorie der praktischen Freiheit verständlich zu machen, wenn dies auch nicht durch ein strenges Argument geschehen kann. Der Pflichtenstandpunkt ist offen - wie wir sahen — für ontologische Bestimmungen, ohne daß diese doch - wie es die Phänomenologie tut — in einer ausgeführten dialektischen Theorie vorgetragen werden müßten, da die Freiheit unmittelbar Gedanke ist, d. h. die Propädeutik kann in der Ethik immer auch einen Bezug zum ontologisdien "

A u d i M a n f r e d Riedel in seiner Einleitung zur Studienausgabe Hegels (Bd. betont diesen systematischen Grundgedanken.

III)

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Standpunkt herstellen. Wir würden ihr so den Vorzug vor der „Phänomenologie des Geistes" geben; und sie auch der Einleitung der Enzyklopädie vorziehen. Denn will man es dieser — aufgrund des unvermeidbaren Dilemmas jeder Einleitung - nicht als Tugend anrechnen, daß sie auf Theorie überhaupt verzichtet, so hat die Propädeutik den Vorteil, ihren Grundgedanken - dem Bedürfnis der Freiheit des Denkens Befriedigung zu verschaffen - in der Pflichtenlehre durch den Gedanken praktischer Freiheit selbst näher zu explizieren, und zu ihm in einer Theorie noch hinzuführen.

Literaturverzeichnis Kant „Kritik der reinen Vernunft" (KrV), (Ausg. A), ed. Raymund Schmidt, Hamburg 1956. Kant „Kritik der praktischen Vernunft" (KpV), ed. Karl Vorländer, Hamburg 1959. Kant „Metaphysik der Sitten" (MdS), ed. Karl Vorländer, Hamburg 1959. Kant „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (R), ed. Karl Vorländer, Hamburg 1961. Kant „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (GMS), ed. Karl Vorländer, Hamburg 1962. Fichte „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (1974) (GW), ed. Fritz Medicus, Hamburg 1961. Fichte „Das System der Sittenlehre" (SS), ed. Fritz Medicus, Hamburg 1963. Hegel „Philosophische Propädeutik" (PP) in Sämtliche Werke Bd. 3 Jubiläumsausgabe, ed. Glockner, Stuttgart 1940. Hegel „Nürnberger Schriften" (NS), ed. Hoffmeister, Leipzig 1938. Hegel „Phänomenologie des Geistes" (PhG), ed. Hoffmeister, Hamburg 1952. Hegel „Wissenschaft der Logik" (L), ed. Georg Lasson, Leipzig 1951. Hegel „Enzyklopädie der philosophischen Wissensdiaften" (E), ed. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 1959. Hegel „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (RPh), ed. Hoffmeister, Hamburg 1955. Werner Becker „Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus", Stuttgart 1969. Werner Flach „Negation und Andersheit", München/Basel 1959. Richard Kroner „Von Kant bis Hegel", Tübingen 1961. Karl Larenz „Hegels Nürnberger Schriften in ihrer Bedeutung für die Entwicklung seiner Rechts- und Staatsphilosophie", in Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie Bd. XXI, Berlin 1937/38. Manfred Riedel „Studien zu Hegels Rechtsphilosophie", Frankfurt a. M. 1969. Manfred Riedel, Einleitung in Hegel Studienausgabe Bd. 3, Frankfurt a. M. 1968. Franz Rosenzweig „Hegel und der Staat", München/Berlin 1920. Gerhard Schmidt „Hegel in Nürnberg" Tübingen 1960. John R. Silber „The Ethical Significance of Kant's Religion", Introduction Part II in: Immanuel Kant „Religion within the Limits of Reason Alone", New York 1960. Hans Wagner „Philosophie und Reflexion", München/Basel 1967.

Schellings Hegel-Kritik von Klaus Brinkmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Schellings Spätphilosophie 1. Der Ansatz der Spätphilosophie und seine Entfaltung zur Potenzenlehre 2. Anfang und Ende der negativen Philosophie 3. Die Ekstase der Vernunft als Ermöglichung der positiven Philosophie 4. Das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie II. Darstellung der Hegel-Kritik . . . . 1.Der Anfang der Logik 2. Die Methode der Logik 3. Die Entgegensetzung von Logik und Natur und das ,leere Logische' 4. Logik und scholastische Metaphysik 5. Der Ubergang von der Logik zur Naturphilosophie . . .

121 123 124 129 137 140 143 143 151 161 172 176

III. Prüfung der Kritik 1. Rückblick auf Schellings Einwände 2. Die Hegeische Theorie a) Das reine Sein und die Potenzenlehre am Anfang der negativen Philosophie b) Induktive Methode und Hegeische Dialektik . . . . c) Der spekulative Standpunkt der Logik und der Ubergang zur Naturphilosophie

188 189 192

IV. Ontologie oder positive Philosophie?

204

Literaturverzeichnis

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Einleitung Ein Interesse an der Hegel-Kritik des späten Schelling ist mehrfach gerechtfertigt. Zunächst einmal stehen sich in den Theorien Hegels und des späten Schelling zwei philosophische Positionen gegenüber, die beide beanspruchen, Letztbegründung für die Philosophie und ihre Inhalte zu geben. Die Letztbegründung kann selbst nur eine sein. Sofern die eine Position berechtigte Kritik an der anderen üben kann, berührt sie damit deren Anspruch, die behauptete Letztbegründung tatsächlich geliefert zu haben. Schellings Kritik an Hegel ist nun in der Tat so fundamental, daß, wenn ihr stattgegeben werden sollte, man die Hegeische Theorie als erledigt zu betrachten hätte. Kritik von einer solchen Tragweite rechtfertigt eine ausführlichere Analyse. Dies ist das systematische Interesse an einer Darstellung, Klärung und Prüfung der an Hegel geübten Kritik. Es kann daneben ein mehr historisches Interesse bestehen, insofern Schelling entscheidende Kritikpunkte vorwegnimmt, die in der nachhegelianischen Epoche zur Geltung gekommen sind, etwa bei Marx, Feuerbach und Kierkegaard. Schelling kann daher durchaus als der „erste Hegelkritiker von Rang und Einfluß" gelten1. Tatsächlich ist es so, daß eine ganze Reihe von Einwänden, die auch heute noch nichts von ihrer Zugkraft eingebüßt zu haben scheinen, bereits von Schelling exemplarisch formuliert wurden. In der neueren Schelling-Literatur, die vor allem durch die Arbeiten von H. Fuhrmans angeregt und befruchtet worden ist und die wir mit der Veröffentlichung seines ersten Schelling-Buches im Jahre 1940 beginnen lassen möchten, wird weiterhin die Auffassung vertreten, daß Schellings Auseinandersetzung mit Hegel entscheidenden Einfluß auf die Konzeption der Spätphilosophie gehabt habe2. Wenn dies richtig ist, so 1

J. Habermas, Das Absolute und die Geschichte, Diss. Bonn 1954 (zit.: J. Habermas, Das Absolute) 35. * Fast alle Arbeiten H . Fuhrmans' legen hiervon Zeugnis ab. Vgl. aber auch W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings [Stuttgart-Köln 1955] (zit.: W. Schulz, Die Vollendung) 102, 104, 124; W. Schulz, Das Verhältnis des späten Schelling zu Hegel, in: Zeitschrift für philosophische Forschung (ZfphF) 8 (1954) 336-352 (zit.: W. Schulz, Schelling - Hegel) hier: 343; J. Habermas, Das Absolute 87.

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Einleitung

könnte das Verständnis der Spätphilosophie auch durch eine Betrachtung der Hegel-Kritik vertieft und abgerundet werden. Und schließlich kann die Beschäftigung mit der Schellingschen Kritik durch ein Ungenügen an der Schelling-Literatur bedingt sein, von der man weithin in dem Punkte der Kritik an Hegel eine verständnisvollere und eindringlichere Beleuchtung der Hegeischen Position erwarten könnte. Die Hegel-Kritik ist nur auf dem Hintergrund der Spätphilosophie angemessen darstellbar und kann nur vom Standpunkt des späten Schelling aus in ihrer Motivation und ihrer Bedeutung zureichend verstanden werden. Eine Skizze des Gangs der Spätphilosophie ist daher zunächst erforderlich, wobei jedoch — auch wegen der Fülle des Stoffs - eine Beschränkung vorgenommen werden muß. Wir haben deshalb einen Gedanken zum Leitfaden der Überlegungen gemacht, der sich um einen systematischen Aspekt der Spätphilosophie bemüht. Wir gehen davon aus, daß das Vorhaben des späten Schelling deutlich erkennbar von einer Letztbegründungsabsicht bestimmt ist. Diesem Fundierungsgedanken soll hauptsächlich nachgegangen werden. Die eigentliche Rechtfertigung für dieses Vorgehen wird die Arbeit selbst geben müssen. Nach Darstellung und Analyse der Hegel-Kritik soll eine Prüfung der Schellingschen Argumente versucht werden. Es wird gefragt, was vom Hegeischen Standpunkt aus sich dieser Kritik entgegenstellen ließe und mit Hilfe welcher Gründe, die die Hegeische Theorie selbst bietet, Schellings Einwände möglicherweise abgewiesen werden könnten. Die so weit vorangetriebene Gegenüberstellung Schelling — Hegel soll dann eine abschließende Beurteilung der Hegel-Kritik ermöglichen und zugleich zu einer Abwägung beider Theorien, der Schellingschen und der Hegeischen, gegeneinander führen. Damit kommt noch einmal der systematische Kern der Auseinandersetzung Schelling - Hegel zur Sprache, der sonst audi unter philosophiegeschichtlidiem Gesichtspunkt als eine der großen Auseinandersetzungen innerhalb des deutschen Idealismus von Interesse ist.

I. Schellings Spätphilosophie Schellings Spätphilosophie1 ist durch ein Doppeltes gekennzeichnet: sie soll einen letzten Grund für das Denken ausmachen und in diesem Sinne Letztbegründung für die Vernunft leisten - und sie soll diesen letzten Grund als Gott, und zwar als den Gott des Christentums denken und insofern eine „philosophische Religion" verwirklichen, die Schelling überhaupt als der Zweck des philosophiegeschichtlichen Prozesses gilt 2 . Diese doppelte Charakteristik drückt die Schellingsche Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie aus3, deren Gang wir — immer schon im Blick auf die folgende Darstellung der Hegel-Kritik - in großen Zügen skizzieren wollen. Im Gedanken zweier Philosophien, einer negativen und einer positiven, liegt das Originelle der Konzeption des späten Schelling. Es liegt darin zugleich ihr Problem: das Problem des Verhältnisses, in dem negative und positive Philosophie zueinander stehen sollen. Anders ausgedrückt ist dies die Frage nach der systematischen Einheit Wir setzen den Beginn der Spätphilosophie im engeren Sinn mit H. Fuhrmans um 1826/27 an, d.h. mit Beginn des zweiten Münchener Aufenthalts Schellings und dem Vortrag seiner Ges