Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken 3959481519, 9783959481519

Wenn Selbsterkenntnis nicht ohne Selbstwiderspruch in bloß wissenschaftsbezogener, verobjektivierender Perspektive zu vo

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Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken
 3959481519, 9783959481519

Table of contents :
Cover
Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort - Claudia Bickmann
Hegels Philosophie des Geistes zwischen Sein und Idee - Claudia Bickmann
Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes - Gaetano Basileo
Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘: zwischen ‚Sein und Nichts - ‘Ryosuke Ohashi
Einkehr – Abkehr – Rückkehr:
zum Anfang der Seinslogik - Dominik Hiob
Von der Substanz zum Begriff. Hegels Einstieg in die Begriffslogik - Lars Heckenroth
Hegels Geistbegriff in seiner ‚Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften‘ - Florian Bohde
Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit - Christian Krijnen
Die Ambivalenz des Endlichen: Hegel und die Moderne - Klaus E. Kaehler
Literatur

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Weltphilosophien im Gespräch

Hegels Philosophie des Geistes - Claudia Bickmann (Hrsg.)

Band 14

ISBN 978-3-95948-151-9

Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken

Claudia Bickmann (Hrsg.) unter Mitarbeit von Florian Bohde, Lars Heckenroth & Dominik Hiob

Verlag Traugott Bautz GmbH

   

 



Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken







WELTPHILOSOPHIEN IM GESPRÄCH BAND 14

   

 

WELTPHILOSOPHIEN IM GESPRÄCH Herausgegeben von



Claudia Bickmann und Markus Wirtz

Band 14

Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Rainer Enskat Prof. Dr. Theo Kobusch Prof. Dr. Wenchao Li Prof. Dr. Joo Kwang-Sun Prof. Dr. Ram Adhar Mall Prof. Dr. Ryosuke Ohashi Prof. Dr. Heiner Roetz Prof. Dr. Georg Stenger Prof. Dr. Walter Schweidler Prof. Dr. Guo Yi

   

 

Claudia Bickmann (Hrsg.) unter Mitarbeit von Florian Bohde, Lars Heckenroth & Dominik Hiob

Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken



Traugott Bautz Nordhausen 2016

   

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2016 Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-95948-151-9 www.bautz.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Claudia Bickmann

7

Hegels Philosophie des Geistes zwischen Sein und Idee Claudia Bickmann

13

Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes Gaetano Basileo

29

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘: zwischen ‚Sein und Nichts‘ ¯ Ryosuke Ohashi ¯

43

Einkehr – Abkehr – Rückkehr: zum Anfang der Seinslogik Dominik Hiob

63

Von der Substanz zum Begriff. Hegels Einstieg in die Begriffslogik Lars Heckenroth

73

Hegels Geistbegriff in seiner ‚Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften‘ Florian Bohde

89

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit Christian Krijnen

101

Die Ambivalenz des Endlichen: Hegel und die Moderne Klaus E. Kaehler

119

Literatur

143

Vorwort

Wenn Selbsterkenntnis nicht ohne Selbstwiderspruch in bloß wissenschaftsbezogener, verobjektivierender Perspektive zu vollführen ist, dann gilt es, die Formen und Prinzipien zu erkunden, die in unsere Anschauung, unser Denken und Handeln eingelagert sind, ohne jedoch im Angeschauten, Gedachten oder den vollzogenen Handlungen bereits zu Bewusstsein gekommen und durchsichtig geworden zu sein: Die notwendige reflexive Wende, durch die mit dem Angeschauten und Gewussten auch die Formbedingung des Anschauens und des Wissens zu Bewusstsein gebracht werden können, hatte Kant in einer transzendentalen Analyse und Hegel unter dem Titel des ‚Sich-Wissens im Wissen’, des ‚Sich-bestimmens’ im Denken und Handeln zur Sprache gebracht, – um damit zugleich erkenntlich zu machen, dass eine rein ver-objektivierende Perspektive die dem Menschen eigene Wesensnatur geradezu verfehlen muss.1 Es ist darum, so Hegel, die Aufgabe des Geistes, im Angeschauten und Gedachten auch die Formbedingungen des Denkens und Anschauens zu Bewusstsein zu bringen. In Hegels Werk sind es drei aufeinander bezogenen Analyse1

Vgl. dazu: Bickmann, Claudia. „Hegels Prinzip des Geistes“. In: Hegel Jahrbuch (2010). Hrsg. von A. Arndt, J. Zovko und M. Gerhard, S. 22–27; Bickmann, Claudia. „Hegels Weg in die Moderne: Zwischen endlichem und absolutem Denken“. In: Hegel Jahrbuch (2012). Hrsg. von A. Arndt, J. Zovko und M. Gerhard, S. 34–42.

Claudia Bickmann schritte, in denen das Prinzip des Geistes als Prinzip der Vermittlung fungiert: 1. Hinführend auf dem Wege des Bewusstseins zum reinen Wissen – in der Phänomenologie des Geistes, 2. kategorien-entfaltend im Denken des Denkens in der Wissenschaft der Logik sowie 3. realitätsbezogen in den Manifestationen des Prinzips in der Sphäre des Endlichen – in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Die seit Platon leitende Methexis-Frage, die Frage nach der Art der Teilhabe, – sei es bezogen auf die Mittelbegriffe von Subjektivität und Objektivität, von Denken und Sein oder von Natur und Geist, – wird dabei in allen drei Werken zum Leithorizont der Annäherung. Hegels Antwort: ohne eine spekulative Begriffsform, die nach der Einheit der Gegensätze fragt, muss die Art ihrer Teilhabe aneinander unverständlich bleiben. Sein Geistbegriff ist darum eine Antwort auf Platons MethexisFrage, die Frage nach der Art der Teilhabe der jeweiligen Extreme aneinander. Sie lautet: Wie soll das Selbst oder die Seele des Menschen im Akte der Selbsterkenntnis mit dem Prinzip von Allem so zu vermitteln sein, dass sich in und durch seine Selbsterkenntnis zugleich das gesamte kosmische Seinsgeschehen lichte und in den Grund seiner Möglichkeit zurückzuführen lasse? Denn erst im sich bestimmenden und sich in Freiheit setzenden Wesen Mensch gewinnt das Prinzip des Geistes als ‚Sich-Wissen’ und ‚Sich-in-Freiheit-Setzen’ seine ihm gemäße Gestalt.2 2

Vgl. Henrich, Dieter. Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion. Hegel Studien Beiheft 18. Bonn: Bouvier, 1978; Brandom, Robert. Wiedererinnerter Idealismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014; Dangel, Tobias. Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles. Berlin/Boston: De Gruyter, 2013; Peperzak, Adriaan Theodoor. Selbsterkenntnis des Absoluten. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1987; Halfwassen, Jens. Geist und Selbstbewußtsein. Mainz: Franz Steiner, 1994; Düsing, Klaus. Das Seiende und das göttliche Denken. Hegels Auseinandersetzung mit der antiken Ersten Philosophie. Paderborn: Schöningh, 2009; Quante, Michael. Die Wirklichkeit des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011; Halbig, Christoph. Objektives Denken. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 2002; Bickmann, Claudia. „Der Geist-Begriff im Platonismus und Idealismus: Hegels systemtragendes Prinzip jenseits von Subjektivität und Objektivität“. In: Platonismus im Idealismus. Die platonische

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Vorwort Darum kann das leitende Prinzip seiner Philosophie auch nicht die absolute Substanz mehr sein, in deren Attributen Freiheit erlischt, sondern einzig ein Prinzip, das sich um willen der menschlichen Freiheit in Natur und Geist frei setzen und als Prinzip auch zu begreifen vermag. Ein solches Prinzip hat Hegel – ganz aristotelisch – ‚Geist’ genannt. In den drei Werken der Phänomenologie, Logik und Enzyklopädie wird darum das Prinzip Sich-bestimmen und Sich-setzen zunächst als erscheinendes Prinzip, dann als sich wissendes und sich bestimmendes Prinzip – als apriorische Formensprache allen Wandels und Werdens – explizit gemacht, um schließlich in Natur und Geist als frei sich setzendes und veräußerndes Prinzip das Telos seiner Gesamtbewegung zu erreichen: d.h. die Idee einer vernünftig gewordenen Wirklichkeit und eine Vernunft, die sich in allen Sphären der endlichen und der unendlichen Welt auch einen ihr angemessenen Ausdruck verleihen soll. Die Phänomenologie des Geistes legt dabei in einem ersten Schritt den sich erscheinenden Geist als das unskeptische Fundament der sich vollführenden Skepsis frei, und zeigt auf diese Weise die Teilhabe des Bewusstseins am Prinzip Sich-Wissen im Wissen. Die Wissenschaft der Logik erkundet dieses ‚Sich-Wissen-im-Wissen’ als Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Prinzips. Schließlich weist die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in der realphilosophischen Entäußerung des Prinzips der Selbsterkenntnis des Menschen ihren systematischen Ort als ‚Springpunkt der Freiheit’ in der Natur zu: Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. von B. Mojsisch und O. F. Summerell. München und Leipzig: De Gruyter, 2003, S. 195–211; C.B.: „Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel: Widersacher im eigenen Lager?“ In: Das Selbst und sein Anderes. Hrsg. von M. Pfeiffer und S. Rapic. Freiburg/München: Alber, 2009, S. 136–161.

9

Claudia Bickmann In diesem Werk wird deutlich, wie und auf welche Weise das Prinzip Sich-bestimmen und Sich-setzen als Grund und Prinzip der Entfaltung des Seinsganzen in der Spanne zwischen Selbstentfremdung in der Natur und Sich-bestimmen und Sich-erkennen im menschlichen Geiste die extremen Orte seiner Selbstbewegung und Selbstvermittlung gewinnt: Selbsterkenntnis verstanden sowohl als Rückkehr aus der entfremdeten bewusstlosen Natur als auch als Lichtung der Natur im Wesen der menschlichen Freiheit: beides sind auch für Hegel nurmehr zwei irreduzible Seiten der einen kosmischen Ordnung, deren Bestimmungsgrund Geist und dessen integrales Prinzip: Idee genannt werden kann.3 Die Beiträge des Bandes bringen Hegels Philosophie des Geistes mit Blick auf die Gesamtanlage des Werkes zur Sprache. Ist Hegels ¯ ¯ Geistbegriff, so lautet die Frage, sich sehendes Sein (Ryosuke Ohashi), das in seinem Insich-sein ‚Leben’ genannt werden kann und das sich in seinem Sich-begreifen und Sich-in-Freiheit-Setzen das ‚höchste Gute’ zum Maß und Ziel seiner Entfaltung nimmt? (Claudia Bickmann) Kann das Prinzip des Geistes als sich selbst sehendes Sein in seiner intensivsten Gestalt sich wissendes und wollendes Leben genannt werden? (Gaetano Basileo) Ist Geist nichts als werdendes Leben und als Bewusstwerden des Lebendigen? (Florian Bohde) Hat sich das Prinzip des ‚Geistes’ darum in seinen natürlichen Erscheinungen nur noch nicht recht verstanden, um sich allererst in Anschauung Vorstellung und Begriff durchsichtig zu werden, in Familie, Gesellschaft und Staat zu verobjektivieren und schließlich in Kunst, Religion und Philosophie sich frei zu setzen? (Christian Krijnen) Betrachtet man von diesem Orte, dem Orte der Genesis des Prinzips im Werden 3 Bickmann, Claudia. „Spekulation und Erfahrung. Hegels Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Seinsfrage“. In: Erfahrung und Urteilskraft. Hrsg. von R. Enskat. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 83–111.

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Vorwort und Entfalten des Lebendigen, den Geist als Prinzip der Rückkehr in den Grund von allem (Dominik Hiob) sowie als das Movens des Lebendigen – auf dem Wege zur Selbstdurchsichtigkeit des Seinsganzen, so wird innerhalb der Wissenschaft der Logik nur das Prinzip in seinem eigenen Selbstsein, in seinen eigenen Formbegriffen thematisch. (Claudia Bickmann) Im Begriff des Begriffs erreicht das Sein dann eine Selbstbeziehung, in der es sich urteilend und schließend auch in seiner durchgängigen Bestimmung zu begreifen vermag. (Lars Heckenroth). Welches Verhältnis von Endlichem und Absolutem wird durch das Prinzip des Geistes als das Prinzip von ‚Alles in Allem’ zur Sprache gebracht? (Klaus E. Kaehler)

Köln, im Juli 2016

Claudia Bickmann

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Claudia Bickmann

Hegels Philosophie des Geistes zwischen Sein und Idee

Zwei Begriffe, so legt der Titel meiner Ausführung nahe, sind für die Grundlegung der hegelschen Logik zentral: Sein und Idee. Während der Seinsbegriff die Kontinuität einer Tradition erwarten läßt, die vorkritisch, vorkantisch die Rede vom Seienden, insofern es ist, noch als Kernproblem der Metaphysik begriff, so klingt im Ideenbegriff platonisches Erbe an. Die These: Hegel wird das Sein nicht mehr aristotelisch, insofern es ist, sondern, im Sinne Kants, insofern es durch Freiheit möglich ist, zur Sprache bringen: Von Kants kopernikanischer Wende inspiriert, ist Hegels Seinsgedanke darum nur vom Begriff der Idee als Prinzip der Zwecke, als Prinzip von Freiheit sowie als intelligiblem Bestimmungsgrund der Seinsordnung her aufzuschließen. Damit wird Hegels Idee der Substanz als Bestimmungsgrund alles Bestimmbaren, nicht allein subjektiviert, sondern auf ein höchstes Worumwillen, auf die Idee einer Zweckordnung bezogen, in der Kants Transformation des platonischen Ideengedankens zugleich als Maß und Ziel der Annäherung gilt. Ein solches Maß aber ist nicht allein auf die Idee der Freiheit

Claudia Bickmann als subjektivem Bestimmungsgrund, sondern zugleich auf die Idee einer Ordnung insgesamt bezogen, in die Freiheit auch integrierbar sein muss. Am Ende der Wissenschaft der Logik wird sich der Seinsgedanke darum nicht nur als mit Freiheit kompatibel, sondern auch als durch Freiheit gesetzt und durch sie allererst möglich erweisen. Es ist dies Hegels Idee einer Vernunftordnung, deren Wahrheitsgehalt sich zugleich am Maß der Realisierung des höchsten Guten, d.h. am Maß der Idee der höchstmöglichen Übereinstimmung von subjektiven Bestimmungsgründen und einer vernünftigen Ordnung aus Zwecken entscheidet. An der Verobjektivierung dieser höchsten Idee des Guten in einer sittlichen und rechtlichen Ordnung wie in den freien Sphären der Kunst, der Religion und der Philosophie ist Hegel gelegen und nicht an einem, wie er es Kant zum Vorwurf macht, bloß Formellen, bloß einem Subjektiven. Hegel sucht einen Seinsgedanken zu entfalten, dem Freiheit als Maß und Telos eingeschrieben ist. Dies ist die Leitfrage, vor deren Bewährung sich das hegelsche Unternehmen gestellt sieht. Damit ist, wie wir sehen werden, Hegels Philosophie von Kants ‚Ideal der reinen Vernunft’, d.h. von der Idee einer in all ihren Teilen durchgängig bestimmten Seins- und Sollensordnung, deren regulativer Leithorizont die Idee des höchsten Guten ist, gar nicht weit entfernt. Vielmehr vollführt auch Hegel Schellings Diktum, nach dem die nachkantische Philosophie wesentlich von Kants ‚Ideal der reinen Vernunft’ ihren Ausgang genommen habe. Nun aber manifestiert sich die Form der Selbstdurchsichtigkeit eines solchen mit Freiheit kompatiblen Seinsgedanken nicht in allen Sphären des Sinnlichen und Übersinnlichen auf gleiche Weise – vielmehr unterscheiden sich die einzelnen Seinssphären je nach dem Grad der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Freiheit und Selbstbestimmung: Erst im Begriff des Begriffs soll die höchste Form der Selbstbestimmung und Freiheit allen Seins zu erreichen sein, indem 14

Hegels Philosophie des Geistes erst in der Begriffslogik die Sache des Begriffs der Begriff selber ist und der Begriff des Begriffs zugleich das im höchsten Maße sich selbst durchsichtig gewordene Sein genannt werden kann. Darum ist es die Aufgabe der Philosophie, den inneren Zusammenhang wie die Bewegung zwischen Sein und Setzen, zwischen dem reinen Sein zu Anfang der Seinslogik und der Idee der Freiheit als Prinzip Sichbestimmen, Sich-setzen begreiflich zu machen. Das höchste Maß an Freiheit wird darum auch weniger in Natur oder Gesellschaft oder aber in Kunst oder Religion seinen angemessenen Ausdruck finden, sondern erst in einem Medium, in dem Begriff und begriffene Sache ihre höchstmögliche Einheit gefunden haben. Ich möchte nun einen Zugang zu dieser Problemstellung in drei Schritten mit je drei Unterpunkten versuchen:

I. Hegels Idee des ‚Begriff des Begriffs’1 1. Aus dem Bisherigen folgt, dass Hegels Begriff des Begriffs nicht bloß auf den Gedanken ‚Begriff’, d.h. nicht bloß auf die propositionale Gestalt der im Denken des Denkens in Gedanken gefassten Gehalte zielt, sondern im Begriff des Begriffs der Ausdruck der Wahrheit der Gehalte selber gewonnen sein soll.2 Denn nicht nur Seinsgedanken, sondern das Sein selbst in seinen wesentlichen Bestimmungen soll im Begriff des Begriffs eine angemessene Form erhalten und erst in dieser Form zu verstehen, ergründen und zu begreifen sein. Die 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (im Folgenden zit. als WdL II), S. 270. 2 Vgl. ferner: Bickmann, Claudia. Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Hamburg: Meiner, 1996.

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Claudia Bickmann Wahrheit des Seins selbst, so die Annahme, ist begriffsförmig3 : Als Form des durchgängig bestimmten (Seins-)Ganzen ist der Begriff nicht ein abstrakt Allgemeines, dessen Verhältnis zum unbegriffenen Einzelnen, zu einem möglichen Seienden oder den ‚realen Verhältnissen’, unbegreiflich bleiben müßte, sondern in ihm ist vielmehr das wesensbestimmende Allgemeine des Einzelnen wie der Ordnung insgesamt in ihrem wahren In-sich-sein angezeigt.

2. Dieses In-sich-Sein des Seins aber, so der Gedanke, ist wissendes Selbstverhältnis, ist Denken des Denkens.4 Denn indem im Denken des Denkens das Gedachte zugleich das Denken und das Denken ein Gedachtes, mithin also selbst ein Seiendes ist, ist hier – und allein hier – die höchste mögliche Einheit von Denken und Sein erreicht: In ihm sind Subjekt und Objekt des Denkens dasselbe; das Sein – im Gedanken in seine eigene DurchLichtung gebracht. In diesem ist es nicht mehr bloß unbewusstes An-sich wie in der Natur, ein ‚Sich-darstellen’ wie in der Kunst, oder ein Sich-Vernehmen und Verbesondern wie in der Religion, sondern es ist ein Sich-selbst-begreifen und Verstehen des Seins, wie dies, so Hegel, nur der Philosophie möglich ist. In dieser ontisch-ontologischen Doppelstruktur des Begriffs ist das Seinsganze dann erst in der Philosophie nicht nur gesetzt und einem vernehmenden Bewusstsein gegeben, sondern als Gesetztes auch verstanden und dies zugleich 3 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von K. M. Michel. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973 (im Folgenden zit. als PhG): „Sein erstes Aussprechen ist nur dieses abstrakte leere Wort, daß alles sein ist. Denn die Gewißheit, alle Realität zu sein, ist erst die reine Kategorie“. 4 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (im Folgenden zit. als WdL I), S. 68.

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Hegels Philosophie des Geistes so, dass der Seinsgedanke in seinem An-und-für-sich, d.h. in seinem reinen Inne-sein als wissendes Selbstverhältnis begreiflich wird. Dieses sich-wissende Selbstverhältnis, in dem das Sein sowohl Subjekt als Objekt seiner selbst ist, ist aber dasjenige, das von Aristoteles bis Hegel: ‚Geist’ genannt wird.5 Denn Geist ist eben – darin folgt Hegel dem aristotelischen Geistbegriff – dieses wissende Selbstverhältnis nicht in einem bloß subjektiven Sinne, sondern als ein Seiendes, das sich selbst setzt, verobjektiviert und sich in seinem Sich-setzen und Sich-bestimmen zugleich sieht und begreift.

3. Somit ist Hegels Begriff als ‚Wahrheit der Substanz’ nicht nur ein Gedanke in der Gestalt propositionaler oder inferentieller Reden über den Begriff der Substanz, – sondern die Rede von der Wahrheit der Substanz vermeint, die Formbedingungen der Wahrheit des Seienden an und für sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist die Wahrheit der Substanz das sich im Begriffe lichtende, zu sich kommende Seinsganze, das in all seinen Teilen, bis in seine freie Selbstartikulation hinein, durchgängig bestimmt ist. Dieses ‚Alles in Allem’ oder Hegels ‚hen-kai-pan’, das als An-und-für-sich-sein sich bestimmendes und begreifendes Sein, mithin also Geist genannt werden kann, gewinnt seine ihm gemäße Gestalt darum auch erst im ‚Sich-urteilen’ des Begriffs im Rahmen der Wissenschaft der Logik.6 In dieser erscheint das Sein sowohl als objektiver, an-sich-seiender Begriff, mithin also als seiende und wesensbestimmte Substanz, als auch als Begriff des Begriffs – als sich-setzendes und sich-bestimmendes Sein, mithin also als das Sein, das in seinem reinen In-sich-sein zu5 6

Vgl. PhG, S. 29; ferner WdL I, S. 17 ff. Vgl. ebd., S. 56.

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Claudia Bickmann gleich subjektiv genannt werden kann. In diesem reinen Inne-Sein erkennt und weiß sich die Substanz zugleich in ihrem absoluten Anund-für-sich-Sein. Das solchermaßen sich als Subjekt setzende Sein ist als sich verstehendes Sein sich-wissendes Selbstverhältnis, das im Für-sich-Sein des Begriffs in Begriff, Urteil und Schluss seine ihm angemessene freie, doch zugleich bloß subjektive Gestalt gewinnt, die erst in ihren objektiven Manifestationen im Prinzip ‚Sich-bestimmen‘ in allem Lebendigen – in Mechanismus, Chemismus und Teleologie – zum Begriff auch des in sich bewegten, durchgängig bestimmten Seinsganzen geworden ist.

II. Erscheinender, sich bestimmender und sich verobjektivierender Geist Indem darum dieses Sich-manifestieren und Sich-begreifen nur mehr zwei komplementäre Bewegungen der zu sich gekommenen Idee als der sich in Freiheit bestimmenden Substanz sind, so sind in ihr auch der theoretische und praktische Vollzug wie Sich-wissen und Sich-manifestieren untrennbar eins und einig. Diese Bewegung nun sucht Hegel in den drei Teilen seines Werkes als Bewegung des sich erscheinenden, sich setzenden und sich wissenden und in den realen Verhältnissen sich zugleich auch manifestierenden Geistes zu entfalten.

1. Als sich erscheinender Geist ist die Phänomenologie des Geistes das allgemeine individuelle Bewusstsein auf dem Wege zu seiner eigenen Geistwerdung, indem es seine immanenten Beschränkungen in sukzessiver Selbsterhellung aufzusprengen sucht: In der sinnlichen Ge18

Hegels Philosophie des Geistes wissheit, in der Wahrnehmung, in Kraft und Verstand begreift es sein Sich-Wissen im Wissen. Als Selbstbewußtsein weiß es jedoch zugleich, nicht alle Realität zu sein. Darin ist seine Beschränkung nur zugunsten einer Seite des Verhältnisses ‚aufgesprengt’. Erst in der Vernunft ist die Einheit mit dem objektiven Wissen erreicht. Doch trägt auch sie noch alle Züge des einseitig ‚subjektiven Wissens’. Erst im Geiste ist sie dann objektives Selbstverhältnis, in welchem – als von allen Beschränkungen befreites Sich-bestimmen und Sich-wissen – auch die Vernunft allererst ‚Realität’ gewinnt, mithin ein Bewusstsein ‚alle Realität’ zu sein.7

2. Mit diesem Geistwerden des Bewusstseins der Phänomenologie des Geistes ist bereits die ‚Deduktion’ der Kategorien8 verbunden. Die Analyse der „logische[n] Natur, die den Geist beseelt, in ihm treibt und wirkt, zum Bewußtsein zu bringen“9 dies ist die Aufgabe der Wissenschaft der Logik: In einer radikalen Umwendung des Blickes erreicht das Bewußtsein darin seine eigenen Voraussetzungen, die als absolute Formen zugleich die Formbestimmungen des an-undfür-sich-selbst-bestimmten Geistes sind. In diesem findet das von allem Relativen und Kontingenten gelöste, aber sich zugleich nur in diesen manifestierende Absolute erst sein eigenes Element. So ist das reine Wissen zugleich reine Kategoriengenese. Darin erst hat das Prinzip des Geistes, das Absolute – oder die absolute Idee – auch die ihm gemäße, von allem Relativen befreite Gestalt. In den reinen 7

Vgl. PhG, S. 184 f. Vgl. WdL I, S. 43: „Der Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduktion wird in gegenwärtiger Abhandlung also insofern vorausgesetzt, als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die Deduktion desselben ist.“ 9 Ebd., S. 27.

8

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Claudia Bickmann Kategorien in Seins-, Wesens- und Begriffslogik manifestiert es sich darum als Prinzip, das nicht allein ist, sondern sich in seinem Sein auch versteht und begreift und sich als Prinzip Sich-bestimmen, – auch in Freiheit setzt. Im reinen, absoluten Kategoriendenken der ‚formellen Wissenschaft’ denkt somit der Geist sein eigenes Sein, seine eigene Genese wie auch den Grund seiner Möglichkeit. Diesen aber findet er erst – in sich selbst zurückgewandt – in der absoluten Idee:

3. So macht die Kategoriengenese der Wissenschaft der Logik nur explizit, was der Phänomenologie des Geistes wie auch den Realwissenschaften der Enzyklopädie bereits eingelagert ist – oder in ihnen bloß ‚instinktartig’ tätig ist. Die Wissenschaft der Logik kann darum auch nicht bereits „diejenige Realität“ enthalten, welche erst „Inhalt weiterer Teile der Philosophie, der Wissenschaften der Natur und des Geistes“10 ist. Mit dem Weg in die Realphilosophie wie ihren beiden substantiellen Bereichen des Geistes und der Natur werden darum die realen Manifestationen dieser reinen substantiellen Formen allererst greifbar.

III. Idee als Prinzip: Kant und Hegel 1. Alle drei Teile bilden darum nur in ihrem Zusammenhang jenes Ganze, dessen Kern, so die These, das Prinzip der Integration von Form und Formal-Bestimmtem, Hegels Begriff der Idee ist. Erst die Idee, so Hegel,11 ist wie Platons höchstes Prinzip, aber auch Kants ‚Ideal der 10 11

WdL II, S. 264. Ebd., S. 258.

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Hegels Philosophie des Geistes reinen Vernunft’ der Fluchtpunkt der Bewegung, auf den die entgegengesetzten Pole im Sich-setzen und Sich-bestimmen des Geistes zurückgebogen sind; mithin also derjenige Ort ihrer Ineinsbildung, der als leitendes Telos seiner Bewegung die gesuchte Übereinstimmung der Pole von fern her lenkt. Rückkehr in den Grund hatte Hegel darum auch ganz platonisch-neuplatonisch das Movens der Annäherung genannt, als deren Agens nicht das differenzfreie Eine, sondern der Geist als in sich bewegte lebendige Substanz gelten soll.12 Integrierendes Prinzip des Geistes aber ist die Idee: Durch diese wird das substantielle Sein auf einen freien Grund gestellt, so wie sie zugleich das Prinzip Freiheit und Sich-bestimmen in allen Sphären des Wirklichen objektiviert. Diese Substanz als Subjekt ist darum Hegels Begriff des Geistes, dessen einheitsstiftendes Prinzip, die absolute Idee – gegen den Neuplatonismus – zugleich als Einheit in der Differenz, als Identität der Identität und Nichtidentität bestimmt ist. Diese innere Reduplikation der Identität, oder, mit Schelling, die Duplizität in der Identität, vermag allererst der Einheit von Sein und Setzen, Substanz und Subjekt, Unmittelbarkeit und Vermittlung, der Form-MaterieEinheit allen Seins eine ihm gemäße Gestalt zu verleihen. Als in sich finalisierter Größe, deren Telos Freiheit und Sichbestimmen ist, wohnt der hegelschen Substanz darum zugleich ein Worum-willen inne. Als Einheit sich widersprechender Eigenschaften ist sie zunächst – als passive Substanz – Grund und Quelle ihrer Akzidenzien (Kausalität) sowie in der Wechselwirkung all ihrer Teile (wie auch der Substanzen untereinander) ein durchgängig bestimmtes Ganzes. Darin aber ist noch nicht Freiheit als Bestimmungsgrund allen Seins auch frei gesetzt. Zur freien Manifestation wird die passive Substanz 12

Vgl. PhG, S. 325.

21

Claudia Bickmann erst in der Verhältnisweise des Begriffs, der als „die Wahrheit der Notwendigkeit“13 die aktive Substanz allererst als eine dem Geiste gemäße Gestalt erscheinen läßt.

2. Von der passiven Substanz ist die aktive Substanz dann – als sich durchlichtender Geist – durch die Einsicht in den Grund der Möglichkeit seines Gesetztseins – im Akt des freien Setzens – unterschieden: ein Akt, den Hegel in Kants Einheit der Apperzeption systematisch verankert sieht. Das bloße An-sich der Substanz wird darin in seinem Wesen – d.h. in seinem Für-sich-sein erst durch freie Setzung und Selbstsetzung auch in seiner Freiheit erkannt. Das reine Sein erweist sich darum erst in der ‚Begriffslogik’, in der Idee freier Selbstbestimmung in seiner Wahrheit als durch Freiheit gesetzt. Doch nicht allein das sich im Begriffe frei setzende, sondern sich in diesem Setzen zugleich auch begreifende Sein ist das Ziel. Dieses aber enthüllt sich erst als Prinzip Sich-bestimmen im reinen Medium des Begriffes, d.h. in der Philosophie. Hier erst ist der Ort des intelligibel durchlichteten Seins, mithin eines Seins, das sich selbst versteht und sich in Freiheit auch – in den Sphären von Natur und Geist – frei setzen kann. Aktive Substanz und Begriff des Begriffs konvergieren somit in ihrem Gehalt: als sich in Freiheit setzende und verstehende Substanz sowie als Prinzip ‚Sich-bestimmen’ und ‚Sich-setzen’. So erweist sich erst die subjektgewordene Substanz als der Begriff der Substanz, in der, so Hegel gegen Spinoza, Freiheit nicht in ihren Attributen erlischt, sondern zum Bestimmungsgrund des Prinzips selber geworden ist. 13

WdL II, S. 246.

22

Hegels Philosophie des Geistes Dies bedeutet somit, den Begriff zugleich als das wesensbestimmende Allgemeine der Substanz selbst zu begreifen: als ‚Universalia in rebus’, die sowohl die ‚begriffene Sache’ wie auch das Allgemeine, das Bestimmende der Sache selbst genannt werden können. Hegels Begriff des Begriffs ist jedoch über Kants formalen Begriff der Einheit der Apperzeption hinaus nicht mehr nur verstandesbezüglicher Begriff, der Grund der Einheit des Gedachten, sondern zugleich der intelligible Ausdruck einer Zweckordnung, die in freier Selbstgesetzgebung das Seinsganze auf einen zureichenden Grund zu bringen vermag. Darin ist das Telos der in sich gefügten lebendigen Seinsordnung, die als Einheit aus Mechanismus, Chemismus und Teleologie in der Begriffslogik ihren formalen – objektivierten – Ausdruck gewinnt, noch durch die Ideen des Wahren und Guten umgriffen und auf den Weg der Idee eines Ganzes aus freien Zwecken gebracht:

3. Näher bedacht ist Hegel jedoch auch in dieser Zielsetzung von Kants Vollendung der transzendentalen Analyse sogenannter quasi-schematisierter Ideen nicht gar so weit entfernt: Denn auch für Kant ist mit seinem Prinzip der ‚Einheit der Apperzeption’ nicht bereits das Prinzip der Bestimmbarkeit eines Einzelnen wie der Ordnung insgesamt auch in einem materialen Sinne erreicht. Für die auch der Materie nach durchgängige Bestimmbarkeit eines Einzelnen wie der Ordnung insgesamt werden die auf es zutreffenden von den nicht-zutreffenden Prädikaten zu unterscheiden sein. Mit der darum vorausgesetzten Idee des Alls aller möglichen Prädikate, die Gegenständen überhaupt zugesprochen werden können, ist Kants ‚Ideal der reinen Vernunft’ 23

Claudia Bickmann gesetzt, das als ‚Idee in individuo’14 den systematischen Ort der durchgängigen Bestimmung auch in einem ontologischen Sinne d.h. auch eines der Materie nach zureichenden Begriffs eines möglichen Gegenstandes – als Einzelnem wie der Ordnung insgesamt – begreiflich machen kann. Kants ‚Idee in individuo’, sein Ideal der reinen Vernunft, ist dem einheitsstiftenden Prinzip von Hegels Philosophie, der absoluten Idee als Fluchtpunkt und Ort der Ineinsbildung von subjektiver und objektiver Sphäre, Sein und Sollen, dem Wahren und dem Guten, darum wesens-verwandt: Kants bloß regulativ aufgefasstes ‚Ideal der reinen Vernunft’, das die Einheit unserer Verstandeshandlungen zur Bestimmung eines durchgängig bestimmten Einzelnen möglich macht, wird in Hegels spekulativer Begriffsform zwar um die Dimension eines objektiven Korrelates komplettiert. Doch auch Kants Verstandeshandlungen sind durch eben jene objektivitätsverbürgenden Vernunftideen komplettiert, durch die allererst das transzendentale Prinzip der zweckmäßigen Übereinstimmung aller Momente in einem Ganzen und damit die Systematizität der Verstandeshandlungen begreiflich zu machen ist. Und wenn im Sinne Kants die Idee des Seinsganzen zugleich mit Freiheit kompatibel sein, d.h. aus Vernunftideen möglich sein soll, macht die Idee der inneren Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst es gleichwohl erforderlich, den Bereich des Denkbaren vom erfahrungsgebundenen Erkennbaren wie das Noumenale von der phänomenalen Sphäre zu unterscheiden, wenn eine aus Freiheit mögliche Ordnung auch objektive Realität gewinnen soll. Diese kontextbezüglichen Differenzierungen gilt es im Auge zu behalten, wenn Hegels Begriff des Begriffs, d.h. die Idee der Über14

Kant, Immanuel. Kritik der reinen Vernunft. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von : Bd. 1-22: Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 3. Berlin, 1900 ff. A 568/B 596.

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Hegels Philosophie des Geistes einstimmung der subjektiven und der objektiven Sphäre, mithin also seine Idee der Substanz als Subjekt vorgestellt wird, dem das Prinzip Sich-bestimmen der theoretischen und das Sich-setzen der praktischen Vernunft innewohnt. Zuletzt (nämlich) müssen wir den Schlussstein auch der kantischen Philosophie darum nicht im Prinzip des bloß formalen Begriffs eines Gegenstandes überhaupt, als vielmehr in jenem Höheren suchen, in dem selbst Kant die Integration von theoretischer und praktischer Vernunft verortet hat: in der ‚Idee des höchsten Guts’. Um das höchste Gut in der endlichen Welt als regulativen Horizont zu realisieren, setzt Kant die Idee eines in all seinen Teilen durchgängig bestimmten Ganzen, die ‚Idee in individuo’ voraus, die nicht bloß Idee, ein bloß Allgemeines, sondern vielmehr der Gedanke eines in all seinen Teilen mit sich übereinstimmenden Einzelnen in einer zu realisierenden moralischen Welt genannt werden kann.15 Bedenkt man somit, dass Kants Selbsterkenntnis der Vernunft auch die Idee einer aus moralischen Zwecken möglichen Seinsordnung im Auge hat, die durch freie Selbstgesetzgebung auf Gründe gebracht werden soll, so wird der Abstand zu Hegels absoluter Idee geringer: Denn auch Hegel läßt das reine Sein selbst am Ende der Wissenschaft der Logik als allein aus einer Idee heraus begreiflich werden, deren Bestimmtheit zu Beginn der Logik allein negiert, noch nicht in ihrem eigenen Inne-Sein entfaltet und durch Freiheit gesetzt ist. Und darum ist auch das Werden dem Wesen wesentlich, damit das Sein als wesentlich durch Freiheit gesetzt und im Begriffe in sein wissendes Selbstverhältnis gebracht werden kann. So steht am Anfang wie am Ende der Wissenschaft der Logik ein 15

Ebd., A 568/B 596.

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Claudia Bickmann Akt der Freiheit: Das reine unbestimmte Sein wird durch den freien Akt der Negation dieser Negation auf den Weg der freien Selbsterkenntnis gebracht, so dass am Ende dann all diejenigen Kategorien gewonnen sind, die der durchgängig bestimmten Idee, als der ‚Idee in individuo’, als dem durchgängig bestimmten durch Freiheit möglichen Seinsganzen, auch gemäß sind. In einem zweiten freien Akt wird die freie, absolute Idee Ausgang und Fluchtpunkt der Genese der Sphären des Endlichen, durch die Natur und Geist auf ein Telos bezogen sind, durch das sie in je unterschiedlichen Graden an der Freiheit der sich selbst bestimmenden absoluten Idee partizipieren. Bewegung und Bewegtes darum nach dem Modell eines sich selbst bewegenden und organisierenden Urprinzips, als sich denkendes Denken, mithin also als Geist auszulegen, ist somit Hegels Beitrag bezogen auf die Grundlegung des Seinsgedankens: Demnach ist selbst das philosophische Denken und sein Medium, der Begriff, von diesem Prinzip noch zu umklammern, wenn es sich im Begriffe selbst noch auf Gründe bringen soll. Sowenig darum das Ur-Prinzip als ein bloß Objektives, (Parmenides’ Sein, Platons ‚Gutes’, Plotins ‚Eines’, Spinozas absolute Substanz oder Leibniz´ Urmonade), diesem sichbestimmenden Prinzip Rechnung tragen kann, sowenig kann es umgekehrt als ein bloß subjektives Prinzip im Sinne Descartes´, Kants und Fichtes ausgelegt werden. Erst die im Begriffe sich-urteilende Idee indifferenziert und überwindet die Gegensätze, indem in ihr das anfänglich unbestimmte Leere, das Prinzip Bestimmbarkeit als bloßes Apeiron in der Begriffslogik durch das Bestimmtheitsprinzip der Subjektivität auch in Freiheit gesetzt und sich im Sich-verstehen des Begriffs dann als intelligible Form allen Seins auch selbst noch zu durchlichten vermag. Prinzip und Prinzipiiertes sind somit im Sich-Vernehmen und 26

Hegels Philosophie des Geistes Begreifen des absoluten Prinzips derart vereint, dass die sukzessive freie Entfaltung des Prinzips dem Prinzipiierten zugleich das Telos seiner eigenen Bewegung verleiht: Als Prinzipiiertes wird es sich dem Prinzip gemäß erweisen müssen, indem es dieses zur Darstellung und Erfüllung bringt: Nach dem Muster des platonischen Theaitetos gilt darum auch für Hegel: nooteinai, Geistwerden als das eigentliche Telos des philosophierenden Ich, als geglückte Anähnlichung an das in ihm zuvor nur unbewußt – instinktartig – wirkende Ur-Prinzip. Empirisches und philosophisches Ich sind in ihm vereint, und verwirklichen so – darin ist Hegel der kopernikanischen Wende der kantischen Philosophie verpflichtet – das im Menschen je bereits angelegte, bloß schlummernde Potential freier Selbstbestimmung und Selbstsetzung. In dieser hegelschen Idee der Selbstbestimmung und Selbstsetzung – nicht nur der individuellen, sondern auch intelligiblen und verobjektivierten menschlichen Natur nicht dasjenige zu erkennen, das wir noch heute als Quelle gelingenden Lebens begreifen können, hieße, die regulative Kraft einer allein aus Ideen möglichen Einheit von sinnlichen und sittlichen Kräften im Menschen zugunsten einer der beiden Seiten aufzusprengen. Und während Hegel noch nach dem Prinzip der inneren Übereinstimmung aller Sphären sucht, wird die nachhegelsche Philosophie in ihrer fünffachen Antithese zu seiner spekulativen Philosophie (als Naturalismus, Empirismus, Pragmatismus, Existentialismus und Phänomenologie), insofern sie den Ideenbegriff quittiert, dieser Gefahr der Reduktion nicht entrinnen können.

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Claudia Bickmann

Literatur Bickmann, Claudia. Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Hamburg: Meiner, 1996. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von K. M. Michel. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. — Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. — Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. Kant, Immanuel. Kritik der reinen Vernunft. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von : Bd. 1-22: Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 3. Berlin, 1900 ff.

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Gaetano Basileo

Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes

1. In der Phänomenologie des Geistes hat Hegel seine Idee einer absoluten Metaphysik – d.h. die Idee einer systematischen und vollständigen Selbsterkenntnis des Absoluten durch Vernunft – zum ersten Mal nach einer dialektischen Methode konzipiert. In diesem Ansatz ist eine Umwandlung bezüglich der Konzeption des Absoluten impliziert, die Hegel in seinen Frühjahren (1797-1800) vertreten hatte. Damals dachte Hegel, das Absolute oder, was für ihn dasselbe war, das Leben, welches er als immanentes Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit bestimmte, könne nicht vom endlichen Denken gewusst werden; der junge Hegel war damals der Auffassung, dass Leben – oder das Absolute – nicht durch Vernunft erkennbar ist, noch der Vernunft gleich.1 1

Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Frühe Schriften II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von W. Jaeschke. Bd. 2. Hamburg und Düsseldorf: Meiner, 2014, S. 251. In dieser Stelle behauptet der junge Hegel, dass man sich über das unendliche Leben oder das Göttliche nur in der „Begeisterung“ äußern könne. An anderen Stellen spricht er auch von einer intellektuellen, „mystischen“, Anschauung (vgl. ebd., S. 257.) Im sogenann-

Gaetano Basileo Allerdings kann das Wissen nicht dem Absoluten gegenübertreten und es gleichsam von einem äußerlichen Standpunkt thematisieren, was unmittelbar der Definition des Absoluten widerstreitet. Schon vom Anfang der Jenaer Zeit an entwickelte Hegel also die Idee, das Absolute sei nicht ein Jenseitiges und Überreflexives und (in dem zweiten Teil seiner Jenaer Zeit) gar die Idee, dass „die Genesis des Wissens dasselbe sein sollte wie die Genesis der im Wissen enthaltenen Sache oder des sich inhaltlich entfaltenden [. . .] Geistes“2 In der Phänomenologie versucht Hegel dann, den Gegensatz von Sein und Denken durch die Entwicklung des Geistes zusammenzuführen, d.h. durch die Darstellung (für das Bewusstsein) des notwendigen und ewigen Prozesses, in dem der Geist teleologisch zu dem Wissen seiner selbst gelangt. Im Rahmen dieses Aufsatzes versuche ich, einige Folgen jener Wandlung im philosophischen Ansatz Hegels zu erklären und insbesondere zu bestimmen, welche systematische Funktion der reife Hegel dem Begriff des Lebens zuerkennt. Um dieses Ziel zu erreichen, werden im Folgenden die einleitende Seite des Kapitels ‚Selbstbewusstsein‘ der Phänomenologie des Geistes interpretiert und die Beziehung zwischen Leben und Geist herausgestellt, die Hegel in diesem Text erörtert. Zuerst wird der Begriff des Lebens näher bestimmt. Daraufhin wird dargelegt, aus welchen Gründen das Leben für Hegel noch eine mangelhafte Beten Systemfragment von 1800 vertritt Hegel dann die Position der Überordnung der Religion über die Philosophie (vgl. Hegel (2014), S. 344) Vgl. zu diesen Themen bes. Düsing, Klaus. Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. 3. Aufl. Hegel Studien Beiheft 15. Bonn: Bouvier, 1976 und Düsing, Klaus. „Jugendschriften“. In: Hegel. Einführung in seine Philosophie. Hrsg. von O. Pöggeler. Freiburg und München: Alber, 1977, S. 28–42. 2 Bloch, Ernst. Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel. In: Gesamtausgabe. Bd. 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1962, S. 67.

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Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes stimmung darstellt und warum er den Versuch unternommen hat, den Begriff des Geistes zu gewinnen. Am Ende sollte es klarer sein, welche Unterschiede aber auch welche Beziehungen es gibt, zwischen dem lebendigen und dem geistigen Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem.

2. Mit dem hegelschen Begriff des Lebens verbindet sich zunächst der Gedanke einer in sich gegliederten und prozesshaften selbstbezüglichen Einheit; als solche ist die lebendige Einheit nicht als eine vorgebildete und fixierte Unmittelbarkeit oder als eine starre Identität zu denken, sondern vielmehr als eine Struktur, in der Einheit und Unterschied nicht abstrakt unterschieden werden können. Hegel versucht nämlich zu zeigen, dass diese Bestimmungen im Leben dialektisch verbunden sind: Die Einheit ist zugleich Unterschied und der Unterschied zugleich Einheit. Somit ist das Leben das (absolute) Wechseln von Identität und Differenz, welches als die immanente Beziehung entgegengesetzter Glieder zu verstehen ist.3 In der Darstellung der Bewegung des Lebens zeigt Hegel also zuerst, dass die Allgemeinheit nicht als starre Substanz zu verstehen ist, sondern als „negative Einheit“, die mit dem Aufgehobensein der Unterschiede, d.h. der Besonderheiten selbst eins ist. Das bedeutet aber auch, dass die Allgemeinheit (Hegel sagt in diesem Zusammenhang: „die allgemeine Flüssigkeit“4 ) mit den in ihr selbst aufgehobenen Unterschieden wesentlich verbunden ist. 3

Vgl. Vinci, Paolo. Coscienza infelice e anima bella. Commentario della Fenomenologia dello spirito di Hegel. Mailand: Guerini e Associati, 1999, S. 100–101. 4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Bd. 9. Hamburg: Meiner, 1980 (im Folgenden zit. als PhG), S. 105.

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Gaetano Basileo Dies gilt aber umgekehrt auch für die Unterschiede; das Fürsich-sein der Unterschiede ist nämlich so bestimmt, dass sie mit der Allgemeinheit unmittelbar verbunden sind: Denn der Prozess, in dem die Besonderheit entsteht und sich realisiert, ist derselbe durch den sie wieder in die Allgemeinheit aufgehoben wird.5 Hieraus folgt, dass es möglich ist, die Momente des Lebens zusammenzuschließen: Dementsprechend wird das Leben als „das sich entwickelnde, und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze“6 bestimmt, das sich nicht in irgendeinem seiner Momente erschöpft. Diese Einheit, die aus der Bewegung des Ganzen hervorgeht, wird von Hegel zweifach charakterisiert; erstens sei sie „reflectirte Einheit“7 : es geht hier nämlich um „ein sich aus der Mannigfaltigkeit der seienden Unterschiede in sich zurückbeugendes und in den Unterschieden als sich Selbstgleichheit ver-haltendes Sein“8 . Gerade aus diesem Grund ist eine solche Einheit zweitens auch als „einfache Gattung“9 gekennzeichnet – denn ein Sein, das in allen Unterschieden sich selbst gleichbleibt und sich als ein solches sich selbst gleichbleibendes neu generiert, hat die Philosophie seit jeher als Gattung bestimmt [. . .]. Eine Gattung verwirklicht sich als eine sich in sich einigende Einheit der unterschiedlichen Gestalten, in die sie sich besondert hat, ohne sich durch diese Besonderung aufzulösen.10 5 Vgl. PhG, S. 106: „die Auflösung der Entzweyung ist ebensosehr Entzweyen oder ein Gliedern“. Anders gesagt: Dadurch, dass die individuelle Gestalt den Anderen aufzehrt und in sich setzt, hebt sie ihre eigene Einfachheit, ihr eigenes Wesen (als Individuum) auf und realisiert sich als eine neue Individualität. 6 Ebd., S. 107. 7 Ebd., S. 107. 8 Marcuse, Herbert. Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1975, S. 267. 9 PhG, S. 107. 10 Marx, Werner. Das Selbstbewusstsein in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1986, S. 42-43.

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Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes

3. Dieses dynamische Beziehungsgefüge, das aus sich Relationen und Relata hervorbringt, stellt für uns schon die Struktur des Absoluten dar. In der Einleitung zum Kapitel ‚Selbstbewusstsein‘ aber ist Leben nur der Ausgangspunkt für die Erreichung des Begriffes des Geistes. Um zu verstehen, inwiefern das Leben noch eine mangelhafte Bestimmung darstellt, ist es nötig zu beachten, dass Hegel zwischen dem Vermittlungsprozess, der das Leben ausmacht, und dem Wissen dieses Prozesses selbst (welcher noch nicht für es, für das Leben ist) eindeutig unterscheidet. Wie erwähnt, ist Hegel schon seit dem Anfang der Jenaer Zeit klar, dass das Wissen nur einem Relativen äußerlich gegenübertreten und es in einer äußeren Relation thematisieren kann, von der das Thematisierte und das Wissen jeweils für sich seiende Teile bilden. Aber das Absolute kann offenbar nicht Teil einer Relation sein, noch kann das Wissen es äußerlich thematisieren. In diesem Fall würde das Absolute sich als unüberwindlichen Gegenpol des Selbstbewusstseins und des Wissens erweisen, weil der äußerliche Versuch des Wissens, sich des Absoluten zu bemächtigen „eine Formierung und Veränderung mit ih[m]“ notwendigerweise vornimmt11 . Hegel muss also zeigen, dass das Denken, welches das Absolute thematisiert, nur als ein Moment des Absoluten zu verstehen ist. Genauer: Er muss zeigen, dass die Aufhebung der Unterschiede in die Einheit nicht nur den Prozess des Lebens, sondern auch den des Wissens kennzeichnet. Die dialektische Entwicklung vom Leben über das einzelne Selbstbewusstsein bis hin zum Geist muss also die strukturelle Isomorphie von Leben und Geist, Wissen und Sein aufzeigen. Nur so ist es möglich, dass der Übergang zum Geist und 11

Vgl. PhG, S. 53.

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Gaetano Basileo zur Selbsterkenntnis des Absoluten nicht das Erreichen einer vom Leben völlig unterschiedenen Bestimmung impliziert. Hegel zeigt, anders gesagt, dass die Struktur, die dem Bewusstsein erstmalig im Leben gegenübertritt, in unterschiedlichen Stufen, in unterschiedlichen Intensitätsgraden erscheint, bis sie teleologisch zum Wissen ihrer selbst gelangt. Dass das Moment des Wissens bei dem Leben als der einfachen Gattung nicht erreicht wird, hängt nun davon ab, dass in diesem Fall die Vereinigung der Unterschiede und die Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit noch nicht vollständig sind. Denn diese Momente sind gewissermaßen noch wechselseitig frei und gleichgültig; anders gesagt ist die einfache Gattung dadurch gekennzeichnet, dass eine Zersetzung zwischen den sie konstituierenden Momenten noch bestehen bleibt. In der Bewegung des Lebens wird der Gegensatz dieser zwei Momente immer erneut gesetzt und aufgehoben, aber das impliziert, dass das Leben in eine Art von schlechter Unendlichkeit verfällt. In diesem Resultat „verweist das Leben auf ein anderes, als es ist, nemlich auf das Bewußtseyn, für welches es als diese Einheit, oder als Gattung, ist“.12 Die Einzigartigkeit des Selbstbewusstseins und des Geistes besteht nun darin, dass sie nicht nur derselbe dynamische Prozess wie das Leben sind, sondern sie sind auch in der Lage, immer besser dieses Prozesses inne zu sein. Das liegt daran, dass im Selbstbewusstsein und im Geist reflexive Wendungen der Struktur des Lebens auftreten, die für das Bewusstsein besser und besser die Selbstbestimmung des Absoluten und die Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit darstellen. In der Bestimmung des begehrenden Selbstbewusstseins wie12

PhG, S. 107.

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Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes derholt sich die Struktur des Lebens: Das Moment der abstrakten Flüssigkeit wird jetzt als (abstrakte) Identität des Ich mit sich selbst gefasst und der Prozess der sich auf Kosten des allgemeinen Lebens erhaltenden Individualität wird als Begierde konkretisiert. Begierde ist also der Name für die Bewegung, in der die dem Ich immanente Unterscheidung in die Einheit des Selbstbewusstseins aufgehoben wird. Diese Bewegung hat nicht nur die Negation der Andersheit oder deren Aneignung zur Folge; in derselben Bewegung kommt das Ich vielmehr auch zu sich selbst. Indem das Bewusstsein sich den Gegenstand aneignet, hebt es ihn als Gegenstand auf und erlangt eine Gleichheit mit sich selbst, welcher nichts mehr entgegensteht.13 In der Bewegung der Begierde wird aber die Vermittlung zwischen Allgemeinheit und Besonderheit nur noch mangelhaft und formell realisiert. Wie gesehen kommt das Selbstbewusstsein als Begierde nur dadurch zustande, dass es die Gemeinschaft mit dem Anderen ausschließt und versucht, sich als die Wahrheit der Substanz zu zeigen. Anders gesagt: Das begehrende Selbstbewusstsein realisiert sich selbst nur, indem es versucht, den Anderen zu zerstören und zu zeigen „an kein bestimmtes Daseyn geknüpft, an die allgemeine Einzelnheit des Daseyns überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu seyn“14 . Wie bereits Kojève hervorhob, gewinnt ein jedes Ich nur in diesem Abstrahieren-können sein eigenes positives Sein und gar die Möglichkeit, sein Leben nicht einfach zu leben, sondern bewusst zu leben.15 Allerdings bleibt das Leben für dieses Selbstbewusstsein ein Anderes, welchem es nur noch objektivierend gegenübertritt. Leben und Selbstbewusstsein sind eo ipso noch nicht vollständig vermittelt. 13

Vgl. ebd., S. 107. Ebd., S. 111. 15 Kojève, Alexandre. Introduction à la lecture de Hegel. Paris: Gallimard, 1947. 14

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Gaetano Basileo Die Mangelhaftigkeit dieser Gestalt der Phänomenologie wird auch darin offenbar, dass das begehrende Selbstbewusstsein nichts anderes als ein vorläufiges Selbstgefühl erreichen kann – welches aber noch keine Selbsterkenntnis ist. Hegel zeigt, dass es unmöglich ist, in der Befriedigung, die als Folge der materiellen Negation des Anderen entsteht, den Bestimmungsgrund des einzelnen Selbstbewusstseins zu finden. Denn für das Erreichen der Befriedigung ist die Beziehung zu einer Andersheit, die das begehrende Selbstbewusstsein aufheben kann, wesentlich.16 Das begehrende Selbstbewusstsein sucht allein die Beziehung zu sich selbst und doch ist es gezwungen, eine Beziehung zum Anderen aufzubewahren; dieses Selbstbewusstsein bleibt so in einer schlechten Unendlichkeit, d.h. in einem Zwang zum unendlichen Wiederholen, dessen Folge es ist, dass dieses Selbstbewusstsein nie diejenige Stabilität und Selbstständigkeit erreichen kann, die von jeher Voraussetzungen alles wahren Wissens sind. Die Notwendigkeit, über diese mangelnden Formen der Einheit und des Wissens hinüber zu gehen, liegt nun dem Voranschreiten der phänomenologischen Darstellung zugrunde; in der kommenden Station, d.h. in der Anerkennung, welche den wechselseitigen Prozess darstellt, in dem zwei Selbstbewusstsein sich durch eine wechselseitige Vergegenständlichung ihrer selbst zusammenbilden, ersteht nämlich eine vollständigere Form der Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit.17 Das wird dadurch klar, dass der Anerkennungs16

Vgl. PhG, S. 107: „daß diß Aufheben sey“, dass also das begehrende Selbstbewusstsein selbst sei, „muß diß Andere sein [das aufzuheben ist, G.B.]“ 17 Unter den Auslegungen der Bewegung des Anerkennens s.: Bodei, Remo. „Macchine, astuzia, passione: per la genesi della società civile in Hegel“. In: Filosofia e società in Hegel. Hrsg. von L. Lugarini, M. Riedel und R. Bodei. Trient: Verifiche, 1977, S. 61–89; Cortella, Lucio. „Originarietà del riconoscere. La relazione di riconoscimento come condizione di conoscenza“. In: Giornale di Metafisica XXVII (2005), S. 145–156; Honneth, Axel. Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992; Kojève (1947); Siep, Ludwig. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg: Alber, 1979;

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Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes prozess nach Hegel die logische Form eines Schlusses annimmt. Denn diese logische Form drückt nicht nur den Prozess der Entzweiung oder der Selbstunterscheidung aus, sondern auch die Aufhebung der Unterscheidung selbst. Um das Anerkennungsverhältnis zu schildern, schreibt also Hegel zunächst, dass das Selbstbewusstsein „sich in die Extreme zersetzt, und jedes Extrem ist die Austauschung seiner Bestimmtheit, und absoluter Uebergang in das entgegengesetzte“18 . Jedes Selbstbewusstsein muss sein eigenes Fürsichsein im Fürsichsein des Anderen wiederfinden; denn nur dadurch, dass dem Ich seine Struktur in einem Anderen erscheint, kann sie (die Struktur) Stabilität, Identität und Unterschiedenheit erhalten, also alle Voraussetzungen seiner Erkenntnis. Nur in dieser Vermittlung über das jeweilig andere Entgegengesetzte werden die zwei (sich noch bildenden) Selbstbewusstsein zugleich für sich. Dies bedeutet aber, dass jedes Extrem nur über und mittels der Beziehung zum Anderen sich auf sich selbst bezieht und seine eigene Identität erreicht; so findet eine Art von Verbindung der verschiedenen Selbstbewusstsein statt, welche nicht von außerhalb erwirkt wird, sondern vielmehr die immanente Beziehung zweier selbstständiger, für sich seiender Glieder darstellt.19 Wie im Begriff des Lebens zeigt Hegel also auch in diesem Fall, wie eine ursprüngliche Einheit sich entzweit und somit eine Dualität entsteht, welche jedoch wieder in die Einheit aufgehoben wird. Die ganze Bewegung ist aber jetzt auch für die Glieder, für die einzelnen darin verwickelten Selbstbewusstseine. Diese Form der Verbindung, „diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freyheit und Vgl. ebenso Düsing, Edith. Intersubjektivität und Selbstbewußtsein: Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorie bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln: Dinter, 1986, insbesondere S. 291-372. 18 PhG, S. 110. 19 Ebd., S. 110.

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Gaetano Basileo Selbstständigkeit ihres Gegensatzes [. . .] die Einheit derselben ist“20 , nennt Hegel Geist.

4. Bisher hat es sich ergeben, dass der Begriff des Geistes in einer Vertiefung derjenigen Verbindung von Allgemeinheit und Besonderheit besteht, die im Leben erstmalig für uns denkbar wurde. Im Kapitel „Geist“ der Phänomenologie hat Hegel aber auch die Bewegung dargestellt, in der der Geist sich in einer Geschichte entwickelt. In dieser Geschichte expliziert er seinen lebendigen Inhalt nur um ihn aufzuheben und damit zu erkennen. So behauptet Hegel, der Geist müsse „zum Bewusstseyn über das, was er unmittelbar ist, fortgehen, das schöne sittliche Leben aufheben, und durch eine Reihe von Gestalten zum Wissen seiner selbst gelangen“21 . Wie Hegel zuvor zwischen dem Vermittlungsprozess, der das Leben ausmacht, und dem Wissen dieses Prozesses selbst unterschied, so unterscheidet er jetzt zwischen dem bloßen Begriff des Geistes und der Bewegung der Realisierung desselben. In dieser Geschichte des Geistes werden die verschiedenen Gestalten derjenigen Vermittlung von Einzelheit, Allgemeinheit und Besonderheit, die im Allgemeinen Geist genannt werden können, nach dem teleologischen Prinzip eines zunehmenden Wissens des Geistes seiner selbst systematisch und kohärent entwickelt. Aber es ist gerade in Zusammenhang mit der Idee einer Realisierung des Geistes, dass es möglich ist, von einem Leben bzw. Lebendigkeit des Geistes zu sprechen;22 was Hegel damit meint, lässt sich vielleicht verstehen, wenn man bedenkt, dass die Erreichung des 20

PhG, S. 108. Ebd., S. 240. 22 Ebd., S. 27, S. 165.

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Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes Selbstbewusstseins des Geistes nicht von der Bewegung des Geistes unabhängig ist, und dass diese Bewegung, welche die Entzweiung des Begriffes des Geistes und dann die Rückkehr desselben in sich ausmacht, erneut der Struktur des Lebens gleich zu sein scheint. Aus diesem Grund ist es möglich, anzunehmen, dass dem Leben auch eine systematische Bedeutung zukommt, indem es nicht nur die Struktur verschiedener Bestimmungen, sondern auch deren Auftreten im Gang der Darstellung bestimmt. Wenn es so ist, dann bilden Leben und Geist nicht zwei verschiedene Bereiche der Realität, noch kann das Problem ihrer nachträglichen Vermittlung sich stellen; sondern es ist der eine Prozess, der sich auf unterschiedlichen Stufen, in unterschiedlichen Intensitätsgraden für ein Bewusstsein manifestiert. Das Telos einer vollständigen Angleichung an die Idee dieses Vermittlungsprozesses steuert vom Inneren den Gang der Phänomenologie. Und weil es sich ergeben hat, dass dieser Prozess das Moment des sich Wissens implizieren muss, kann man behaupten, dass die grundlegende Struktur der Phänomenologie die Teleologie ist, in der ein An-sich für sich wird.23 Alle Realisierungen des Vermittlungsprozesses sind letztendlich nur im Ganzen dieser Bewegung verständlich und auf ein Selbstwissen gegründet, das sie als Momente seines Selbstverständnisses begreift. Man könnte sagen: Sie sind gegründet auf der Selbstbewegung des Geistes, in der dieser sich selbst als Leben auch begreifen kann. 23 Vgl. Pöggeler, Otto. „Selbstbewusstsein als Leitfaden der Phänomenologie des Geistes“. In: G.W.F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von D. Köhler und O. Pöggeler. Berlin: Akademie Verlag, 2006, S. 138.

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Gaetano Basileo

Literatur Bloch, Ernst. Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel. In: Gesamtausgabe. Bd. 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1962. Bodei, Remo. „Macchine, astuzia, passione: per la genesi della società civile in Hegel“. In: Filosofia e società in Hegel. Hrsg. von L. Lugarini, M. Riedel und R. Bodei. Trient: Verifiche, 1977, S. 61–89. Cortella, Lucio. „Originarietà del riconoscere. La relazione di riconoscimento come condizione di conoscenza“. In: Giornale di Metafisica XXVII (2005), S. 145–156. Düsing, Edith. Intersubjektivität und Selbstbewußtsein: Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorie bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln: Dinter, 1986. Düsing, Klaus. Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. 3. Aufl. Hegel Studien Beiheft 15. Bonn: Bouvier, 1976. — „Jugendschriften“. In: Hegel. Einführung in seine Philosophie. Hrsg. von O. Pöggeler. Freiburg und München: Alber, 1977, S. 28–42. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Frühe Schriften II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von W. Jaeschke. Bd. 2. Hamburg und Düsseldorf: Meiner, 2014. — Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede. Bd. 9. Hamburg: Meiner, 1980. Honneth, Axel. Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992. Kojève, Alexandre. Introduction à la lecture de Hegel. Paris: Gallimard, 1947. Marcuse, Herbert. Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1975. 40

Leben und Geist in der Phänomenologie des Geistes Marx, Werner. Das Selbstbewusstsein in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1986. Pöggeler, Otto. „Selbstbewusstsein als Leitfaden der Phänomenologie des Geistes“. In: G.W.F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von D. Köhler und O. Pöggeler. Berlin: Akademie Verlag, 2006. Siep, Ludwig. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg: Alber, 1979. Vinci, Paolo. Coscienza infelice e anima bella. Commentario della Fenomenologia dello spirito di Hegel. Mailand: Guerini e Associati, 1999.

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¯ Ryosuke Ohashi ¯

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘: zwischen ‚Sein und Nichts‘

Lassen Sie mich zuerst zwei kleine Bemerkungen vorausschicken. Die erste ist eine allgemeine: Es gibt bisher kaum einen Kommentar zur Wissenschaft der Logik im Ganzen, wobei das Anfangs-Kapitel ausnehmend häufig diskutiert wurde.1 Wenn ich aber im Folgenden den Anfang der hegelschen Logik in Betracht ziehe, so setze ich zwar zunächst diese Forschungslage voraus. Aber es handelt sich nicht nur um den Anfang der „Lehre des Seins“, sondern um den Anfang der Logik im Ganzen, und zwar im Hinblick auf drei Kontexte, dem immanenten Kontext der Logik, dem philosophiegeschichtlichen Kontext, in dem die Tragweite des Anfangs der Logik angesehen werden soll, und dem interkulturellen Kontext, in dem der Anfang der Logik vom Gesichtspunkt des östlich-buddhistischen Gedanken des Nichts betrachtet wird. Dieser dritte Kontext kann im Rahmen dieser Arbeit ohne thematische Ausführung nur angekündigt werden. 1

Dazu vgl. Anmerkung 3 auf Seite 42 in der Schrift des Verfassers, Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik. Zur Idee einer Phänomenologie des Ortes. Freiburg i.Br.: Alber, 1984. Der Hinweis dort auf die Diskussionslage zum Problem des „Anfangs“ beschränkt sich allerdings auf die Literatur zur Zeit des Erscheinens der genannten Schrift, angegeben vor allem von Dieter Henrich.

¯ ¯ Ryosuke Ohashi Die zweite Bemerkung betrifft die unabgeschlossen gebliebene Überarbeitung dieses Werkes durch Hegel selbst. Hegel befand die Darstellung der ersten Fassung der Wissenschaft der Logik für unvollkommen, so dass er sie zu überarbeiten nötig fand, wobei das Ergebnis dieser Überarbeitung nur im ersten Buch, der „Lehre des Seins”, nicht aber in den weiteren Büchern, der „Lehre des Wesens“ und der „Lehre des Begriffs”, unternommen wurde. Für den Vollzug der Überarbeitung bis zum dritten Buch endete das Leben Hegels wegen der Epidemie etwas zu früh. Er hätte die Zeit dazu heiß gewünscht.2 Solange man aber die Themen in der „Lehre des Seins“, somit auch das Problem des „Anfangs“, in Betracht zieht, darf man die jetzt vorgegebene zweite und überarbeitete Fassung zum festen Ausgangspunkt machen, ohne fragen zu müssen, ob Hegel bei seiner unabgeschlossenen Überarbeitung einiges hätte anders formulieren wollen, etwa wie bei der Betrachtung des „Lebens“.3 2

Vgl. die Vorrede zur 2. Auflage der Wissenschaft der Logik. Hegel schreibt, Platon habe seine Bücher über den „Staat“ siebenmal umgearbeitet, er wünsche aber die freie Muße, sein Werk siebenundsiebzigmal durchzuarbeiten (5, 33). Die Zitate aus der Wissenschaft der Logik werden im Folgenden aus Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff. Bd. 5 und 6 entnommen, und jeweils mit der Bandzahl und Seitenzahl angegeben. 3 Hegel beginnt die Betrachtung des „Lebens“ im dritten Abschnitt des dritten Buchs mit dem Satz: „Die Idee des Lebens betrifft einen so konkreten und, wenn man will, reellen Gegenstand, daß mit derselben nach der gewöhnlichen Vorstellung der Logik ihr Gebiet überschritten zu werden scheinen kann.“ Ob Hegel diese vorsichtige Stellung in seiner Darstellung der Logik restlos beibehalten hat, oder er die Darstellung in der ersten Fassung doch weiter umarbeiten wollte, ist eine Frage. Dieses Bedenken kann ernst genommen werden, da die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Fassung der „Lehre des Seins“, wie der Herausgeber der Wissenschaft der Logik anmerkt, „so groß [sind], daß ihnen nur durch eine synoptische Ausgabe Rechnung getragen werden könnte” (6, 575). Zum Problem des „Lebens“ in der Wissenschaft der Logik vgl. den Verfasser, „Das Problem des ‚Lebens‘ in der Hegelschen Logik“. In: Hegel Jahrbuch 1 (2015): Hegel gegen Hegel I. Hrsg. von A. Arndt, J. Zovko und M. Gerhard, S. 514–521. Übrigens meinte Kierkegaard, dass das im letzten Kapitel der hegelschen Logik behandelte Thema „die Wirklichkeit“ das Problem ist, das die Logik nicht selber „verdauen“

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Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘

1. Dass für Hegel das Problem des Anfangs innerhalb der Logik von besonderer Bedeutung war, zeigt sich darin, dass vor dem Beginn mit der Darstellung des „Seins“ als der ersten logischen Kategorie der Abschnitt „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ steht. Hegel spricht in der Vorrede zur ersten Ausgabe (1812) von der „notwendige[n] Ausdehnung, welche die Logik für sich erhalten mußte“ (5, 18). Hegel erörtert nicht, in welcher Hinsicht die Ausdehnung gemacht werden soll und wo die Notwendigkeit liegt. Wir müssen dies selber suchen, indem wir die faktische Ausdehnung der Logik im Vergleich mit der „Kleinen Logik“ in der Enzyklopädie und den anderen Entwürfen wie den Jenenser Systementwürfen, der Nürnberger Propädeutik, usw. untersuchen. Die erste „Ausdehnung“ ist offensichtlich der genannte Abschnitt mit der Frage nach dem „Womit“ der Wissenschaft. Dieser Abschnitt ist nicht als Reflexion über den Anfang zu verstehen. Denn so wäre der Anfang der Logik diese Reflexion, die den Anfang voraussetzt. Hegel schreibt in der Einleitung, „Allgemeiner Begriff der Logik“: „Es fühlt sich bei keiner Wissenschaft stärker das Bedürfnis, ohne vorangehende Reflexionen, von der Sache selbst anzufangen“ (Hervorhebung durch Verf.) (5, 35). Der genannte Abschnitt wird deshalb als die notwendige Ausdehnung der Logik geschrieben, weil mit ihr der Anfang der Logik als solcher in Gang kommen soll. Die im Titel enthaltene Frage nach dem „Womit“ der Logik soll die Erschließung dieses absoluten Anfang sein. Es geht zuerst um den Zusammenhang kann (vgl. Kierkegaard, Sören. Der Begriff Angst. Vorworte. In: Gesammelte Werke. 11./12. Abt. Bd. 7. Simmerath: Grevenberg, 2003, S. 6f.). Seine Bemerkung deckt sich mit der Ansicht des Verfassers über das Problem des Lebens in der Logik. Allerdings wird das Problem der „Wirklichkeit“ nicht am Ende der Logik, wie Kierkegaard meint, sondern am Ende der „Wesenslogik“ behandelt.

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¯ ¯ Ryosuke Ohashi des Anfangs mit dem Womit des Anfangs. Die Struktur des Anfangs bleibt solange dunkel, als dieser Zusammenhang geklärt wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Struktur keine formale ohne Inhalt ist, da die Logik von der Sache selbst anzufangen ist. Nach Hegel ist diese „Sache“ der Logik die Darstellung Gottes, „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ (5, 44). Wenn dieser Satz in unseren Ohren als allzu „spekulativ und theologisch“ klingt, so kann er mit einem anderen ergänzt werden, der sagt, dass der Inhalt der Logik „die an und für sich seiende Sache, der Logos, die Vernunft dessen, was ist, die Wahrheit dessen, was den Namen der Dinge führt“ (5, 30) ist. Der Gott in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes heißt die Vernunft dessen, was ist, oder dessen, was den Namen der Dinge führt. Es geht um das logische Begreifen des Seins der Dinge, um die logischen Kategorien von Sein, Wesen und Begriff, die in der Logik als „Lehre des Seins“, die „Lehre des Wesens“ und die „Lehre des Begriffs“ entfaltet werden. Die „Lehre des Seins“ vor allem, die „objektive Logik“, ist also die Ontologie. „Wenn wir auf die letzte Gestalt der Ausbildung dieser Wissenschaft Rücksicht nehmen, so ist [es] erstens unmittelbar die Ontologie, an deren Stelle die objektive Logik tritt, – der Teil jener Metaphysik, der die Natur des Ens überhaupt erforschen sollte;” (5, 61).

2. Hier erhebt sich aber gleich die Frage, woher diese Metaphysik bzw. Ontologie den Namen „Logik“ erhalten muss. Wir, die Heutigen, verstehen unter der Logik die formale Logik, die transzendentale Logik, die mathematische Logik, die sprachanalytische Logik, usw. Diese können aber nicht als gleich mit der Metaphysik bzw. On46

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ tologie bezeichnet werden. Dem Begriff der Logik bei Hegel liegt seine Auffassung des „Logischen“ zugrunde, die in der folgenden Darstellung im Auge behalten werden muss. Hegel sagt: „So sehr natürlich ist ihm (dem Menschen) das Logische, oder vielmehr: dasselbige ist seine eigentümliche Natur selbst.“ (5, 20). Die Ontologie als die Selbstentfaltung der Vernunft dessen, was ist, und der Wahrheit dessen, was den Namen der Dinge führt, ist das Grundanliegen des Menschen, dessen Wesensnatur das Logische ist. Deshalb erhält die Metaphysik bzw. Ontologie den Namen „Logik“. Hier ist erneut die Frage nach dem Anfang dieser Logik zu stellen. Es handelt sich nicht um einen formal-logischen Anfang mit Sätzen. Wir folgen ein Stück dem Gedankengang Hegels. „Logisch ist der Anfang“, so sagt Hegel, „indem er im Element des frei bei sich seienden Denkens, im reinen Wissen gemacht werden soll.“ (5, 67) Das reine Wissen soll dasjenige Wissen heißen, in dem kein anderes Element als das des Wissens enthalten ist. Bei gewöhnlichem Wissen kann dies nicht gesagt werden, weil ihm der zu wissende Gegenstand gegenübersteht. Es ist das empirische Wissen, nicht aber das reine. Es wird nicht dadurch erreicht, dass der Wissensakt durch die phänomenologische Epoché sich als das vorgegenständliche Feld, als die reine cogitatio im „ego cogito“, als die transzendentale Subjektivität fasst.4 Statt alle Urteilsakte mit Epoché in Klammern zu setzen und von allen Gegenständen zurückzuziehen, soll das Wissen bei Hegel vielmehr alle Gegenstände als Element seiner selbst fassen und keinen ihm fremden Gegenstand mehr vor sich haben, 4

Vgl. Husserl, Edmund. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. In: Husserliana. Hrsg. von S. Strasser. Bd. 1. 1991, S. 8ff. Von diesem „reinen ego“ ausgehend eröffnet sich bei Husserl die „reine Egologie“, die von Husserl allerdings als die transzendentalsolipsistische Wissenschaft bzw. für die unterste Stufe der Phänomenologie gehalten wird. Husserl selbst versucht von hier aus, das „cogitatum“ auf dessen „Intentionalität“ hin zu interpretieren und durch die Intentionalitätsanalyse das Weltphänomen zu erschließen.

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¯ ¯ Ryosuke Ohashi somit von nichts bedingt sein und frei für sich sein. Dieses Wissen ist das Resultat der „Phänomenologie des Geistes“ als der Bildung der Erfahrung des Bewusstseins. Es ist das reine Wissen im hegelschen Sinne, das deshalb seinerseits nicht eine bloß unmittelbare Sache ist. In ihm ist der ganze Prozess der Bildung des Bewusstseins vermittelt enthalten. Was heißt dies im Hinblick auf die Frage nach der Struktur des Anfangs der Logik? Dieser Anfang ist das reine Wissen, das die in sich mit der vollen Bildung des Bewusstseins erfüllte, somit mit sich vermittelte Sache ist, die aber als solche die unmittelbare Sache ist, wodurch es, das reine Wissen, zugleich das „Womit“ des Anfangs sein kann. Der Anfang und das Womit des Anfangs sind in diesem Sinne dasselbe. Die Darstellung zum Anfang ist weder die Reflexion über den Anfang, noch die von einer Kraft außer ihm zustande gebrachte Bewegung, sondern der absolute Anfang, d. h. der Anfang, der in sich und mit sich vermittelt ist, aber von sich als der unmittelbaren Sache anfängt. Aber die Unmittelbarkeit und die Vermittlung ist in Wahrheit nur der Unterschied der Aspekte der einen und derselben Sache, „so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt“ (5, 66).

3. Es ist immer noch nicht klar, wie dieses vermittelt-unvermittelte Selbe, der Anfang und das Womit des Anfangs, in die Bewegung des Anfangens kommt. Es muss noch ein drittes Element geben, damit der Anfang als Anfang zustande kommt. Dieses dritte Element ist das „Anfangende“. Der Anfang, das Womit des Anfangs und das Anfangende bilden die drei-einige Struktur des Anfangs. Vom dritten Element, dem Anfangenden, redet Hegel zwar nicht thematisch, aber 48

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ doch hie und da. Das Anfangende ist das Unmittelbare (6, 555), das im Anfang der Logik, wo noch keine inhaltliche Bestimmung gegeben wird, ist, und zugleich noch nicht ist (5, 73). In diesem „ist und zugleich ist nicht“ kündigt sich schon die Eigentümlichkeit der Bewegungsart des Anfangenden an. So ist das reine Wissen jetzt als das Anfangende in dessen Unmittelbarkeit zu betrachten. Hegel sagt: „Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten. In ihrem wahren Ausdruck ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Sein.“ (5, 68) Die Selbigkeit von reinem Wissen und reinem Sein wird nicht zufällig im Anfang der Seinslogik formuliert. Dass sie als die Sache der Logik durch den ganzen Prozess der logischen Bewegung hindurch beibehalten und entwickelt wird, ist darin zu sehen, dass die letzte Form des Logischen, die „Idee“, wie sie im letzten Abschnitt der Logik dargestellt wird, als die Einheit des Begriffs und der Realität bestimmt wird. „Sein hat die Bedeutung der Wahrheit erreicht, indem die Idee die Einheit des Begriffs und der Realität ist“ (6, 465). Die Selbigkeit vom Wissen bzw. Begriff und vom Sein zeigt uns weiterhin, welche philosophiegeschichtliche Tragweite das Problem des Anfangs hat. Denn hier wird man erinnert an die bekannte parmenideische These, die lautet: „to gar auto noein estin te kai einai“. Dasselbe ist das reine Wissen und das reine Sein. Diese Erinnerung wird gerechtfertigt, wenn daran gedacht wird, dass die hegelsche Logik die eigentliche Metaphysik als Ontologie ist. Die Tragweite des Anfangs der Logik ist die der Metaphysik als solcher, in deren weitem Anfang die parmenideische These steht. Es ist hinzuzufügen, dass in diesem „to auto“, dem „Selben“ von Denken und Sein, ein Geheimnis liegt, das bei Parmenides als das „Eine“ (to hen) und bei Hegel als die Sache des Logischen, als der Anfang des 49

¯ ¯ Ryosuke Ohashi Logischen als der Wesensnatur des Menschen, das philosophische Denken bewegt. Das Geheimnis ist hier darin zu sehen, dass das „to auto“ vom reinen Wissen und dem reinen Sein das Anfangende der Logik ist, das in sich und durch sich und von sich, somit ohne Voraussetzung anfängt. Es ist deshalb noch ein Geheimnis, weil es noch nicht klar ist, wieso das reine Wissen als das reine Sein das „Anfangende“ ist. Es genügt nicht, nur festzustellen, dass in der danach folgenden Darstellung gezeigt wird, dass dieses reine Sein die reine Unbestimmtheit ohne Inhalt und leer ist, somit das reine Nichts, so dass das reine Sein zum Nichts übergeht, genauer gesagt, ins Nichts übergangen ist. Das reine Sein ist seiner Bestimmung nach in sich schon diese Bewegung als Übergang zum reinen Nichts. Es genügt aber wiederum nicht, nur diese Bewegung festzustellen. Denn die Frage ist, wie diese Bewegung überhaupt in Gang kommt. Die fundamentale Bewegungsart des Gedankengangs in der „Lehre des Seins“ ist das „Übergehen“, das in der jeweiligen Seinskategorie je und je enthalten ist als deren Bewegung, so dass eine Seinskategorie in sich schon in die nächste übergangen ist. Diese Bewegung ist aber nicht die von außen her beobachtete Bewegung. Sie muss die in sich, durch sich und von sich bewegte absolute Bewegung sein. Jede Seinskategorie muss selbst das Sich-Bewegende, das Anfangende selbst sein. Aber wie kommt dieses Anfangende selbst überhaupt in Bewegung?

4. Zu diesem logisch noch nicht bestimmten dunklen Anfang sagt Hegel einen entscheidenden Satz, der lautet: „Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß 50

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.“ (5, 68) Hiermit wird das Geheimnis des Anfangs der Logik gezeigt, wenn auch nicht erklärt. Hegel selber gesteht, dass der von ihm gemeinte „Entschluss“, das Denken als solches betrachten zu wollen, für eine „Willkür“ angesehen werden könnte. Dieses Wollen in Form des Entschlusses liegt aber dem Ganzen der Wissenschaft der Logik zugrunde als das Anfangende, das seinerseits nicht wiederum logisch erklärt werden kann. Um uns in diesen dunklen Ort des Anfangs in Form des Entschlusses des Logischen einzulassen, ist die Bewegung des Logischen erneut aufzureißen: Der Anfang ist als das Anfangende das, was mit sich anfangend und sich mit sich selbst vermittelnd letztlich sich als das Unmittelbare schlechthin, als das reine Sein begreift. Diese Bewegung der Vermittlung mit sich selbst ist ein Kreislauf, der sich in sich abschließt, somit sich in Form des „Schlusses“ vollzieht. Diese Form durchzieht das Ganze der Logik, was im Kapitel „Der Schluß“ in der „Lehre vom Begriff“ letztlich ausdrücklich wird. Im Anfang wird er noch verborgen und nur angekündigt, indem vom „Entschluß“ gesprochen wird, das Denken als solches betrachten zu wollen. Die logisch-ontologische Form des Schlusses kommt dadurch zustande, dass das Logische sich durch seinen eigenen Ent-Schluss aufschließt und sich als das reine Wissen betrachten will, und sich als das reine Sein begreift, das in sich selbst die Bewegung des Übergegangen-Seins ins reine Nichts ist. Um diese Bewegungsart in ihrem Grundcharakter eingehender zu sehen, ist die Art und Weise der Bewegungen der Logik im Ganzen kurz zu überblicken. Die Bewegungsart des „Seins“ ist, wie gesagt das 51

¯ ¯ Ryosuke Ohashi „Übergehen“ ins Andere. Das andere, in das das Sein übergegangen ist, ist das „Wesen“, in dem alle Bestimmungen des „Seins“ in sich „scheinen“ und „reflektieren“. Alle Seinsbestimmungen wiederholen sich hier in der Weise dieser Reflexion. Es gibt deshalb keine neu hinzukommende Kategorie in dieser Sphäre des „Wesens“. In dieser Wesenssphäre werden die unmittelbaren Bestimmungen des Seins reflektiert, um „begriffen“ zu werden. Dem „Begriff“ als die dritte Sphäre des Logischen geht es um die Entwicklung der in der „Lehre des Wesens“ reflektierten Seinsbestimmungen. Die „Entwicklung“ ist also die Bewegungsart der „Lehre des Begriffs“. Diese drei Bewegungsarten – Übergehen, Reflexion, Entwicklung – sollen aber in einem einheitlichen Grundcharakter verstanden werden. Dieser lässt sich als die „Vermittlung“ bezeichnen. Zwar ist dies innerhalb der Logik am ausdrücklichsten der Wesenslogik zuzuschreiben, da Hegel selbst die Sphäre des „Wesens“ als die der Vermittlung bezeichnet (5, 58). Aber die Vermittlung im weiteren Sinne wird von Hegel sowohl in der Enzyklopädie wie auch in der Phänomenologie des Geistes dargestellt. In der Enzyklopädie wird gesagt, dass die Vermittlung „ein Anfangen und ein Fortgegangensein zu einem Zweiten [ist], so daß dies Zweite nur ist, insofern zu demselben von einem gegen dasselbe Anderen gekommen worden ist.“ (8, 55) Der Ausdruck „ein Anfangen und ein Fortgegangensein zu einem Zweiten“ gilt, wie schon gesehen, eben von der Bewegungsart der Seinskategorien. In der Phänomenologie des Geistes findet sich eine noch eingehendere Bestimmung der „Vermittlung“. Ein Satz lautet dort: „Denn die Vermittlung ist nichts anderes als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das einfache Werden.“ (3, 25) Das gemeinte „einfache Werden“ ist deshalb das einfache, weil es die reine 52

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ logische Bewegung ohne empirische Inhalte ist, was der allgemeine Charakter der Bewegung der Logik im Ganzen ist. Die Vermittlung in diesem weiteren Sinne durchzieht somit das Ganze der Logik. Um der folgenden Darstellung willen sind die einzelnen Bestimmungen der „Vermittlung“ in diesem Satz eingehender zu sehen. Allerdings ist um der leichteren Sichtbarkeit der Züge des Gedankengangs willen hier nur auf die mittlere Bestimmung, „das Moment des fürsichseienden Ich“, zu fokussieren, und die anderen Bestimmungen in der Anmerkung darzulegen.5 Die Vermittlungsbewegung als die Reflexion in sich ist „das Moment des fürsichseienden Ich“. Das hier gemeinte fürsichseiende Ich ist in der Logik das Logische selbst als die Wesensnatur des Menschen. Dieses Ich kommt zu sich selbst durch die Vermittlungsbewegung als die Reflexion in sich. Es kommt hier auf das Wort „Moment“ an. Dieses ist zuerst ein Terminus in der Mechanik, in der z. B. bei einem 5

Die Vermittlung ist zuerst die sich bewegende „Sichselbstgleichheit“, also die Bewegung, in der sich das Gesetzte als das Setzende selbst ergibt und dieses mit sich gleich wird. Wir achten hier auf die Struktur des „mit“ im Ausdruck: mit sich selbst gleich. Die Vermittlungsbewegung des Geistes ist immer die Vermittlung des Geistes „mit“ sich. Dies heißt, dass die zu vermittelnden Glieder erst von der ursprünglichen Einheit her zu verstehen sind und nicht umgekehrt. Diese ursprüngliche Einheit, das „to auto“ von Wissen und Sein, kommt dadurch zum logischen Ausdruck, dass es nicht die einfache Substanz, sondern das Subjekt ist, das sich entäußert und erst in dieser entäußerten Gestalt sich selbst begreift, d. h. sich zur Gleichheit „mit“ sich selbst bewegt. Hieraus verstehen sich die ersten beiden Sätze im Zitat: Die Vermittlung sei „die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst“. Die Reflexion als solche ist im strengen Sinne des Wortes das re-flectere, das Zurückkommen auf sich selbst. Die genannten beiden Sätze besagen also dasselbe. Was die übrigen drei Bestimmungen betrifft, nämlich: „das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder [...] das einfache Werden“, so ist es zunächst die letztere, das einfache Werden, das Werden zu sich selbst, d. h. zum Ich, das den Gegenstand in sich setzt, somit „für sich“ ist. Die Bestimmung führt so zu den letzten beiden Charakterisierungen, „das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität.“ Hier ist nur die letztere Bestimmung aufzugreifen. Die Vermittlung ist deshalb die reine Negativität, weil die beiden zu vermittelnden Glieder als solche negiert, oder besser, aufgehoben werden. Etwas wird aufgehoben, heißt, dass es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist.

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¯ ¯ Ryosuke Ohashi Hebel Gewicht und Entfernung trotz aller Verschiedenheit dieselbe Wirkung besitzt. Aber in der logischen Vermittlung geht es um die Bewegung des Logischen, das sich entschließt, das reine Wissen als solches zu betrachten. Dieser Entschluss als der Anfang der logischen Bewegung ist nicht „das Moment“ in der Vermittlungsbewegung, sondern „der Moment“, der Augenblick, in dem und mit dem die logische Bewegung in Gang kommt. Dieses „der Moment“ geschieht nicht nur im und als der Anfang der Logik, der mit der Weiterentfaltung der logischen Bestimmung hinter sich gelassen wird. Der Anfang im wesentlichen Sinne ist das, was das danach Folgende begleitet und prägt im Sinne des Griechischen „Archê“. Wenn z. B. das reine Sein ins reine Nichts übergeht bzw. übergegangen ist, und dieses Übergehen zur dritten Seinskategorie, zum „Werden“, führt, so ist zwar das reine Sein sowie das reine Nichts zunächst je „das Moment“ des Werdens. Aber genau betrachtet, ist das reine Sein ins Nichts und das Nichts ins Werden, je übergegangen. Dieses Übergegangen-Sein ist je „der Moment“. Jedes „das Moment“ in der logischen Bewegung ist zugleich „der Moment“, in dem diese Bewegung stattfindet. Das Ganze der logischen Bewegung findet in der Augenblicksstätte des anfänglichen „Entschlusses“ statt, und diese Stätte gehört nicht selber dem Prozess der logischen Bewegung an.

5. Die Aufmerksamkeit auf die Augenblicksstätte, die Mitte der Vermittlungsbewegung der Wissenschaft der Logik, verweist erneut auf die vorhin beschriebene philosophiegeschichtliche Tragweite des „Anfangs“ der Logik. Vorhin wurde gesehen, dass die von Hegel 54

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ aufgestellte Selbigkeit von Wissen und Sein eine weitertreibende Wiederholung der parmenideischen These von der Selbigkeit von Denken und Sein ist. Bei der Entfaltung der logischen Struktur dieses Selben in Form der Logik bzw. der dialektischen Vermittlung, gilt die Mitte der Vermittlung als die Augenblicksstätte, die als sie selbst sich dem Prozess dieser Bewegung entzieht. Im großartigen platonischen Dialog Parmenides, in dem das „Eine“ (to hen) als das Selbe von Denken und Sein in dessen logischen Bestimmungen radikal überprüft wird, taucht dieselbe Sachlage auf. Es wäre nicht unnütz, einen flüchtigen Blick auf diesen platonischen Dialog zu werfen, da Hegel selbst in Form einer Anmerkung auf den Gedanken Parmenides’, aufmerksam macht, und zwar im Hinblick auf das Problem der Negation als den Kernpunkt der Vermittlung (vgl. 5, 84). Die logische Überprüfung des „to hen“ findet im weiten und schwer zu durchfahrenden „Meer des Logos“ (pelagos logôn) statt.6 Die Überprüfung zeigt, dass das „to hen“ sowohl in dem Fall, dass es ist, wie auch in dem Fall, dass es nicht ist, sich jeder logischen Bestimmung entzieht. Dies zeigt sich vor allem in der Betrachtung des Einen im Hinblick auf das Problem der Bewegung. Die Bewegung findet in der und mit der Zeit statt. Wenn das „to hen“ ist, so muss es ein Sein haben, und dies heißt, dass es in irgendeiner Weise an der Zeit teilhaben muss. Diese Teilhabe der ousia an der gegenwärtigen Zeit („methexis ousias meta chronou tou parontos“, 151 e 8) ist der geheime Punkt der platonischen Ideenlehre überhaupt. Die Ideenwelt und die Phänomenwelt, diese zwei Welten sind nicht die voneinander getrennten zwei, sondern durch das Band der Teilhabe miteinander verbunden. Aber logisch ist diese Teilhabe gar nicht 6 Platon. Parmenides. In: Platonis Opera. Hrsg. von J. Burnet. Bd. II. Oxford: Clarendon, 1900-1907, 137 a 7. Die weiteren Zitate werden im Text und nicht in der Anmerkung angegeben.

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¯ ¯ Ryosuke Ohashi leicht zu begreifen. Das Problem wird im Phänomen der „Bewegung“ sichtbar gemacht. Was sich in der Zeit befindet, ist entweder in Ruhe oder in Bewegung. Wann geht aber der Zustand der Ruhe zu dem der Bewegung über? Das Zwischen von Ruhe und Bewegung gehört weder der Ruhe noch der Bewegung. Es ist „to atopon“ (156 d 1), das Schleiermacher mit dem „Wunderbaren“ übersetzt, aber auch das Vernunftwidrige bedeuten könnte, und jedenfalls wörtlich: das Ortlose bedeutet, das auch der „Augenblick“ (to exaiphnês) (156 d 3) genannt wird. Der Augenblick ist die Mitte zwischen Bewegung und Ruhe (156 d 7). Das „to hen“ findet sich weder in der Bewegung noch in der Ruhe, wohl aber in diesem „atopon“, was allerdings nur angedeutet wird. Jedenfalls gelingt es in der logischen Überprüfung des „to hen“ nicht, die „Teilhabe“ logisch zu erklären. Dies heißt, dass der logische Entwurf der Ideenlehre scheitert. Nach dem Dialog „Parmenides“ beginnt wie bekannt die Spätphilosophie Platons, in der auf die logische Erklärung der ousia bzw. idea verzichtet wird, und die Redeweise der Mythologie im spezifischen Sinne beginnt. Hegel ging aber nicht in die Richtung der Mythologie. Er sah sich in seiner logischen Erklärung der Selbigkeit von Wissen und Sein bzw. Begriff und Realität gar nicht als gescheitert an. Der Wissenschaft der Logik folgten die Philosophie der Natur und des Geistes. Hegel schätzte zwar den Platonischen Dialog hoch und erkannte diesen als das „Dokument und System des echten Skeptizismus“ (Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten, 2, 228). Der echte Skeptizismus ist nach Hegel der radikale Vollzug der Negation. Hegel konnte aber die Negativität als „die negative Seite der Erkenntnis des Absoluten“ (a.a.O.), um es mit dem Wort in der „Logik“ zu sagen, als die „Negation der Negation“ (vgl. 5, 108 und 123), ins Positive umwenden. 56

Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ Ob diese Umwendung bei Hegel als gelungen zu betrachten sei, ist die Interpretationsfrage. Statt auf diese Frage direkt einzugehen, ist hier auf eines hinzuweisen, nämlich, dass die genannte Augenblicksstätte, deren erste Form der anfängliche „Entschluss“ des Logischen war, in der Entfaltung der logischen „Schlussstruktur“ am Ende diese Struktur von innen her aufbrechen muss. Hegel legt gegen Ende der Wissenschaft der Logik dar, wie die Triplizität des Schlusses auch als eine Quadruplizität verstanden werden kann (5, 564). Zwar ist der Schluss das Dreifache, das vom unmittelbar Allgemeinen beginnt, durch die Vermittlung im Besonderen hindurch geht, und im Resultat sich im Einzelnen begreift. „Wie das Anfangende das Allgemeine, so ist das Resultat das Einzelne, Konkrete, Subjekt“ (6, 565/6). Dabei ist das mittlere Stadium das Vermittelnde als das Negative, das das Unmittelbare als solches negiert, in sich aufhebt, somit in sich schließt. „Dies zweite Unmittelbare ist im genauen Verlaufe, wenn man überhaupt zählen will, das Dritte zum ersten Unmittelbaren und zum Vermittelten. Es ist aber auch das Dritte zum ersten oder formellen Negativen und zur absoluten Negativität oder dem zweiten Negativen; insofern nun jenes erste Negative schon der zweite Terminus ist, so kann das als Drittes gezählte auch als Viertes gezählt und statt der Triplizität die abstrakte Form als eine Quadruplizität genommen werden“ (6, 564). Zwar bemerkt Hegel, dass die Zahlform abstrakt ist. Aber sie macht auf „das wesentliche, dialektische Moment, die Negativität“ (6, 565) aufmerksam. Das dialektische Moment der Negativität ist deshalb wesentlich, weil erst in ihm die Vermittlungsbewegung stattfindet. „Das Moment“ ist als die Stätte des „der Moment“ die Augenblicksstätte für die Vermittlungsbewegung. Wenn diese Stätte eigens gezählt wird, ergibt sich die triplizitäre Form des Schlusses als quadruplizitär. An dieser Augenblicksstätte wird die triplizitäre 57

¯ ¯ Ryosuke Ohashi Schlussform aufgeschlossen, was ursprünglich schon am allerersten Anfang der Logik als der Entschluss des Logischen geschehen war. In diesem Zusammenhang muss bemerkt werden, dass dieser Entschluss am Ende der Logik nochmals vorkommt, und zwar wiederum im entscheidenden Kontext, nämlich, dass und wie die Wissenschaft der Logik den „Anfang einer anderen Sphäre und Wissenschaft“ (6, 572) ausmacht. Die gemeinte andere Sphäre ist die „Natur“. Hegel sagt dazu: „Indem die Idee als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität setzt, somit in die Unittelbarkeit des Seins zusammennimmt, so ist sie als die Totalität in dieser Form – Natur“. (6, 572) Dies ist nach Hegel kein „Übergang“ zur Natur, sondern das freie Entlassen der Idee ihrer selbst in die Natur, was hier auch der „Entschluß der reinen Idee“ genannt wird. (6, 573) Schelling hat Schwierigkeit mit diesem Gedankengang gehabt.7 Darauf gehen wir hier nicht ein. Es genüge hier nur darauf hinzuweisen, dass dieser „Entschluss der absoluten Idee“ am Ende der Logik dem „Entschluss“ des Logischen am Anfang der Logik korrespondiert als die voll entfaltete Form des letzteren. Mit diesem Entschluss wird der Schluss der Logik in die Natur aufgeschlossen. Kierkegaard hat in Der Begriff der Angst darauf hingewiesen, dass in der hegelschen Logik der „Übergang“, die „Negation“ und die „Vermittlung“ ohne Erklärung ihrer Stelle innerhalb des Systems 7

Vgl. dazu Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. Zur Geschichte der neueren Philosophie. Müchnener Vorlesungen. In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke. Erste Abteilung. Zehnter Band. Stuttgart und Augsburg: J.G. Cotta’scher Verlag, 1861, S. 151ff. Allerdings verstand Schelling diesen Gedankengang durch seine kurzschließende Zusammenfassung als das „Entlassen der Natur“ durch die Idee. Hegel selbst schreibt aber, „daß die Idee sich selbst frei entläßt“ (6, 573), und nicht, dass die Idee die Natur entlässt. Durch die freie Entlassung ihrer selbst bestimmt nämlich die reine Idee sich als äußerliche Idee, d.h. als Natur. Es handelt sich nicht um ein quasi physikalisches Entlassen der Natur aus der Idee, wie Schelling verstand, sondern um die durchaus logische Bewegung der Idee, die sich in Form des „Schlusses“ entfaltet, um am Ende durch ihren „Entschluss“ sich zur Natur aufzuschließen .

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Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘ verwendet werden, obwohl sie das innerste Geheimnis des systematischen Gedankens ist. Er nennt deshalb diese drei Bewegungsprinzipien die „drei vermummte[n], verdächtige[n] Geheimagenten“.8 Er hat zwar nicht ganz Recht, da Hegel die Vermittlung doch als die das ganze System begleitende und bewegende „Negativität“ hie und da erklärt. Aber Kierkegaard hat Recht in seinem Hinweis darauf, dass es beim System um die „Durchsichtigkeit“ und „Innenschau“ geht, somit das „zentrale Nichts“ ins Auge zu fassen sei.9 Er bezieht diese Bemerkung auch auf den „Augenblick“, wie er ihn im platonischen „Parmenides“ sieht.10 Das Problem des Augenblicks ist für Kierkegaard nicht nur ein logisches, sondern auch und vor allem ein existenzielles Problem, das auch nach Kierkegaard in der „Philosophie des Lebens“ und der „Existenzphilosophie“ weiter übernommen wurde. Der bisherige Gedanke ist zum Schluss im Hinblick auf drei Kontexte zusammenzufassen: Erstens durchzieht das Problem des „Anfangs“ im Kontext der hegelschen Logik das Ganze dieses Werkes, und zwar so, dass der „Entschluss“ als die Augenblicksstätte des Logischen am Anfang zum „Entschluss“ der absoluten Idee als der vollen Entfaltung des Logischen entfaltet wird, so dass in dieser Augenblicksstätte sich die andere Sphäre „Natur“ aufschließt. Zweitens geht dieser Anfang mit der These der Selbigkeit von Wissen und Sein im philosophiegeschichtlichen Kontext bis auf den Anfang der abendländischen Metaphysik bei Parmenides und Platon zurück. Das in diesem „Anfang“ versteckte Problem des vor-logischen „Augenblicks“ wird als ein existenzielles Problem nach Hegel über 8

Kierkegaard (2003), S. 83. Ebd., S. 82. 10 Ebd., S. 84f. Allerdings fügt Kierkegaard hinzu, dass der „Augenblick“ bei Platon noch als das atomistische Abstraktum bleibt, und der „Augenblick“ erst durch das Christentum genügend verständlich wird (ebd., S. 85). 9

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¯ ¯ Ryosuke Ohashi Kierkegaard hinaus bis in die Existenzphilosophie des 20. Jahrhundert weiter behandelt. Drittens, und was im vorliegenden Vortrag nicht erwähnt werden konnte, fordert der „Anfang“ der hegelschen Logik in einem interkulturellen Kontext von uns in der Nachwelt ein anderes Nachdenken zum Sein und Nichts. Wie gesagt wird das reine Sein wegen der inhaltslosen Unbestimmtheit auch das „Nichts“, somit das „Leere“ genannt (5, 82). Hegel wusste, dass im Buddhismus eine andere Ansicht zum Nichts und der Leere überliefert wird. „In orientalischen Systemen, wesentlich im Buddhismus, ist bekanntlich das Nichts, das Leere, das absolute Prinzip.“ (5, 74) Hegel befindet aber diesen buddhistischen Gedanken für abstrakt, und schätzt in diesem Zusammenhang Heraklit höher. „Der tiefsinnige Heraklit hob gegen jene (d. h. die orientalische) einfache und einseitige Abstraktion den höheren totalen Begriff des Werdens hervor.” (5, 84) Hegels Verständnis vom Buddhismus war allerdings von den damaligen Materialien bedingt, die von den christlichen Missionaren mitgebracht worden waren. Aber gerade deshalb gilt es, die hegelsche Ansicht zum Nichts und zum Leeren im Dialog mit dem mahayanabuddhistischen Gedanken neu zu beleuchten und einen neuen Dialog zu eröffnen.11 Dies ist aber die Aufgabe, die einen anderen Rahmen benötigt, und im vorliegenden Aufsatz nur erwähnt werden kann.

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Als Voraussetzung zu diesem Dialog wäre nicht nur der Blick auf das „Logische“ bei Hegel, sondern auch der auf das „Sinnliche“ unentbehrlich, wie es Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, wenn auch nicht thematisch, entwickelt. Dazu vgl. den Verfasser, Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion. 1. Aufl. Freiburg i.Br.: Alber, 2009.

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Hegels Anfang der ‚Seinslogik‘

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff. Husserl, Edmund. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. In: Husserliana. Hrsg. von S. Strasser. Bd. 1. 1991. Kierkegaard, Sören. Der Begriff Angst. Vorworte. In: Gesammelte Werke. 11./12. Abt. Bd. 7. Simmerath: Grevenberg, 2003. Ohashi, Ryosuke. „Das Problem des ‚Lebens‘ in der Hegelschen Logik“. In: Hegel Jahrbuch 1 (2015): Hegel gegen Hegel I. Hrsg. von A. Arndt, J. Zovko und M. Gerhard, S. 514–521. — Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion. 1. Aufl. Freiburg i.Br.: Alber, 2009. — Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik. Zur Idee einer Phänomenologie des Ortes. Freiburg i.Br.: Alber, 1984. Platon. Parmenides. In: Platonis Opera. Hrsg. von J. Burnet. Bd. II. Oxford: Clarendon, 1900-1907. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. Zur Geschichte der neueren Philosophie. Müchnener Vorlesungen. In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke. Erste Abteilung. Zehnter Band. Stuttgart und Augsburg: J.G. Cotta’scher Verlag, 1861.

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Dominik Hiob

Einkehr – Abkehr – Rückkehr: zum Anfang der Seinslogik

Einleitung Geschrieben steht: »Im Anfang war das W o r t !« Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Goethe: Faust I Dieses kleine Zitat aus Goethes Faust beschreibt die gleiche Schwierigkeit, vor der die Wissenschaft der Logik steht. Die erste Frage, die dort gestellt wird, ist die nach Inhalt und Methode. „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“, fragt Hegel. Die Antwort auf diese Frage fällt überraschend aus: Das reine Sein soll zum Anfang der Logik dienen. Aber wie gehen Denken und Sein zusammen? Wie ist ein Anfang ausgerechnet der Logik mit dem reinen Sein zu machen? Man könnte auch fragen: Ist mit diesem Anfang der Logik im Sein nicht fast eine faustische Verwirrung verbunden? Müsste nicht eigentlich das Denken, müsste nicht der Begriff seinen eigenen Anfang erst in der Einkehr zu sich selbst finden?

Dominik Hiob In diesem kurzen Aufsatz möchte ich einige Kernfragen mit Blick auf den Anfang der Logik diskutieren: 1. Was heißt ‚logisch‘? 2. Was heißt ‚Anfang‘? 3. Wie deutet Hegel das Verhältnis von Denken und Sein? Das Ziel dieser Gedanken ist es dabei, die Spannung, die im Begriff ‚Seinslogik‘ enthalten ist, teils nah an Hegels Text zu durchleuchten. Abschließend möchte ich dann einen kurzen Ausblick geben, insbesondere auch auf das letzte Kapitel der Wissenschaft der Logik, die absolute Idee. Zunächst möchte ich aber die Frage stellen, was ein Anfang der Logik wäre, wozu die beiden Fragen geklärt werden müssen, was eigentlich ‚logisch‘ heißt und was ‚Anfang‘ heißt.

Was heißt ‚logisch‘? Hegel sucht nach der Möglichkeit, in der Wissenschaft (überhaupt) einen Anfang zu machen. Spezifischer geht es ihm um eine Wissenschaft der Logik, eine Wissenschaft also, die sich mit dem Denken beschäftigt. Wie dieses Denken aufzufassen ist, und worin sich der Bezug zum Anfang ergibt, erläutert Hegel so: Logisch ist der Anfang, indem er im Element des frei für sich seienden Denkens, im reinen Wissen gemacht werden soll. Vermittelt ist er hiermit dadurch, daß das reine Wissen die letzte, absolute Wahrheit des Bewußtseins ist.1

Es ist also die Frage des Denkens, für die ein Anfang gefunden werden soll. Das Denken darf hier in zweifacher Hinsicht verstanden 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (im Folgenden zit. als WdL I), S. 67.

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Einkehr – Abkehr – Rückkehr werden: Einerseits ist nach ihm gefragt, andererseits ist es selbst das Fragende, das Betrachtete und Betrachtende. Als solches ist es für sich, indem es sich nämlich selbst bewusst wird. Dieses reine Wissen ist das frei für sich seiende Denken. In ihm ist bereits diejenige Selbstbezüglichkeit angelegt, die Bedingung aller praktischen Absicht ist. Insofern ist im Anfang bereits der Begriff („Im Anfang war das Wort“). Auch wenn er in der Form des reinen Wissens noch nicht zu sich gekommen ist. Von entscheidender methodischer Bedeutung ist aber vor allem, dass der Anfang nicht, wie etwa beim frühen Schelling, bloß unmittelbar gemacht wird. Hegel zeigt deutlich auf, dass der Anfang im reinen Wissen nach dem Durchgang durch die Phänomenologie des Geistes als vermittelt begriffen werden muss. Und tatsächlich ist eine Analyse des Denkens der Wissenschaft der Logik vorgeschaltet: In der Vorrede zur ersten Ausgabe rekapituliert Hegel auf einer knappen halben Seite die Darstellung des Bewusstseins aus der Phänomenologie des Geistes. Danach finden sich im Denken drei Momente: das des Verstandes, der bestimmt und die Bestimmungen festhält, einerseits. Anderseits das Moment der Vernunft, die die Bestimmungen des Verstandes negativ auflöst, zugleich damit aber das Allgemeine erzeugt und das Besondere darin begreift. Diese als positiv (oder negativ) bestimmte Vernunft muss aber nun zunächst als eine begriffen werden. Ebenso können die beiden Momente Verstand und Vernunft nicht als bloß getrennt bestimmte aufgefasst werden, sondern müssen ihrerseits reflexiv vernünftig erfasst und begriffen werden. So ergibt sich als Wahrheit von Verstand und Vernunft drittens Geist, „der höher als beides, [der] verständige Vernunft oder vernünftiger Verstand ist.“2 2

Ebd., S. 17.

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Dominik Hiob Für die Frage des Anfangs ist diese Vorbemerkung deshalb wichtig, weil Hegel das ‚reine Wissen‘, von dem die Rede war, in das reine Sein überführen wird. Dieses reine Sein ist dasjenige, das bekanntermaßen das erste Moment der Trias Sein–Nichts–Werden bildet. Die Transformation (von reinem Wissen in reines Sein) darf eine strukturelle Isomorphie zwischen Denken und Sein aber nicht schon als gegeben voraussetzen, sondern muss diese allererst begründen. Andererseits: Weil Hegel die Struktur des Denkens voraussetzt (nämlich so, wie sie in der Phänomenologie des Geistes dargestellt wird), kann nach der Transformation bereits auf die Struktur des Seins geschlossen werden, deren Darstellung die Wissenschaft der Logik ist. ‚Logisch‘ verweist also auf die Struktur des Denkens, die sich selbst transparent werden soll. Damit sind sowohl Inhalt als auch Methode der Wissenschaft im Denken selbst angelegt und müssen sich systematisch entfalten. Dass dieser „sich selbst konstruierende Weg“3 für uns eines Anfangs bedarf, ist allerdings ebenso klar. Was kann ‚Anfang‘ noch bedeuten, wenn der Weg sich selbst konstruieren soll?

Was heißt ‚Anfang‘? Es ist deutlich, dass es Hegel um eine Wissenschaft des Denkens, man könnte auch sagen, um eine Begriffswissenschaft geht. Gleichzeitig ist aber die besondere Schwierigkeit, vor der er steht, nicht die bloße Darstellung eines in sich kohärenten Ganzen. Die spezifische Schwierigkeit betrifft vielmehr die Aufgabe, in dieses Ganze hinein allererst einen Weg zu finden. Galt das Augenmerk im Vorigen dem Anfang der Logik, so soll es nun auf den Anfang der Logik gerichtet werden. Im Abschnitt „Womit 3

WdL I, S. 17.

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Einkehr – Abkehr – Rückkehr muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ analysiert Hegel selbst den Begriff des Anfangs und zeigt, dass ein reiner Anfang als bloßes Resultat bereits zu spät kommt: Aber auch die bisher als Anfang angenommene Bestimmung des Seins könnte weggelassen werden, so daß nur gefordert würde, daß ein reiner Anfang gemacht werde. Dann ist nichts vorhanden als der Anfang selbst, und es wäre zu sehen, was er ist. [. . .] Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts, – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.4

Dieser Anfang, als Anfang des Denkens soll nach Hegel „ganz abstrakt, ganz allgemein, ganz Form ohne allen Inhalt“5 sein, und „somit gar nichts als die Vorstellung von einem bloßen Anfang als solchem.“ Immerhin ist auch dieser Anfang des Denkens, als Vorstellung, auf das Denken bezogen. Allerdings ist dieses Denken noch nicht gegenständlich, es soll bloß die Form des Anfangs haben, inhaltlich bleibt es leer. Dieses Nichts ist damit, wie Hegel bemerkt, nicht das reine Nichts, das aus dem reinen Sein hervorgeht, sondern ein Nichts, das bereits in einer Beziehung auf ein davon ausgehendes Etwas zu denken ist: Der Begriff des Anfangs weist auf ein „Nichtsein“, das aber doch auf ein Sein „bezogen ist“.6 „Das Anfangende“, so Hegel, „ist noch nicht“, zugleich aber lässt sich davon sagen, dass „das, was anfängt“ schon ist.7 Sein und Nichts sind also im Begriff des Anfangs bereits verbunden, aber nicht so, wie Hegel selbst anfangen wird. Der Anfang 4 5 6 7

Ebd., S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73.

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Dominik Hiob ist, der eigenen Begriffsanalyse nach, bloß vermitteltes Resultat. Als solches kann der Begriff des Anfangs gerade nicht Anfang der Wissenschaft sein. Um noch einmal zusammenzufassen: Die hegelsche Analyse des Begriffs des Anfangs enthüllt diesen als bloßes Resultat, indem in ihm Sein und Nichtsein immer schon aufeinander bezogen sind. Der Begriff des Anfangs darf eben deshalb nicht als primitiv vorausgesetzt werden, weil allererst Inhalt und Methode der Wissenschaft selbst gegründet werden müssen. Was ist nun gewonnen? – Es soll ein Anfang der Logik gemacht werden, ein Anfang also, der im „Element des frei für sich seienden Denkens“ gesucht wird. Andererseits: Der Anfang, genauer: das Anfangende muss die Einheit von Sein und Nichts aus sich selbst hervorbringen, er muss das Sein als Werdendes vorstellen. Inwiefern nun kann das für sich seiende Denken das Sein als Werdendes vorstellen? Oder, anders gefragt, wie ist eine Seinslogik möglich?

Wie deutet Hegel das Verhältnis von Denken und Sein? Der logische Anfang ergibt sich nach der Phänomenologie des Geistes unter „Beiseitsetzung aller Reflexionen, aller Meinungen“, man braucht nur „aufzunehmen, was vorhanden ist.“8 Vorhanden ist aber bloß reines Wissen. Dieses transformiert Hegel in schneller Folge zu seinem Anfang, dem reinen Sein: Das reine Wissen, als in diese Einheit [von Subjekt und Objekt, D.H.] zusammengegangen, hat alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unterschiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden. 8

WdL I, S. 68.

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Einkehr – Abkehr – Rückkehr Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten. In ihrem wahren Ausdrucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Sein. Wie das reine Wissen nichts heißen soll als das Wissen als solches, ganz abstrakt, so soll auch reines Sein nichts heißen als das Sein überhaupt; Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung.9

Die kurze Passage schlägt, so darf man wohl sagen, die Brücke von der Phänomenologie des Geistes hin zur Wissenschaft der Logik. Sie schlägt aber überdies, was hier wichtiger ist, die Brücke zwischen Sein und Logik. Wohl aus diesem Grund stellte sie auch in der Erstausgabe der Wissenschaft der Logik von 1812 die einleitenden Absätze des Abschnitts „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ dar. (Später musste sie stärker philosophiegeschichtlichen Betrachtungen weichen und rückte weiter nach hinten. Trotzdem blieb die Passage aber ohne textliche Veränderung wichtiger Bestandteil des Abschnitts über den Anfang.) Zunächst möchte ich nun die einzelnen Schritte der Transformation nachvollziehen, danach aufzeigen, warum ich sie als wegweisend für das weitere Vorgehen Hegels erachte. Reines Wissen ist nicht mehr Wissen von etwas. Es ist Wissen, das nicht mehr in der Teilung von wissendem Subjekt und gewusstem Objekt verbleibt, sondern beide zur Einheit bringt, indem es nämlich sich selbst als Wissendes weiß. Es (das reine Wissen) ist also die bloße Selbstbezüglichkeit, die keine weitere Vermittlung mehr erlaubt und damit auch keinen Unterschied kennt. Damit ist reines Wissen in der Tat das Unterschiedslose, das nur noch unzutreffend mit dem Namen ‚Wissen‘ bezeichnet werden kann. Das Unterschiedslose ist als solches einfach. So stellt es also die einfache Unmittelbarkeit 9

Ebd., S. 68.

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Dominik Hiob dar. Un-mittelbarkeit bezieht sich aber auf den Unterschied zum Mittelbaren, zum Vermittelten. Insofern ist der Reflexionsausdruck ‚Unmittelbarkeit‘ bereits Ausdruck einer analytischen Vereinseitigung, die aber eine vorgängige synthetische Einheit voraussetzt. Diese Einheit ist die völlige Leere des reinen Seins. Welche Art der Denkbewegung finden wir in diesen Transformationen vor? Das reine Wissen wird zunächst so betrachtet, wie es an sich ist, ohne alle Bestimmung. Diese Negation aller bestimmten Qualität ist es, die das reine Wissen ins reine Sein umschlagen lässt. Dass das Wissen affin ist zum Denken, überrascht nicht. Da das reine Wissen aber selbst ins reine Sein umschlägt, muss auch im reinen Sein selbst die Struktur des Denkens bereits vorgezeichnet sein. Zusammen mit der Bemerkung, dass das reine Wissen nur eine andere Hinsichtnahme auf das frei für sich seiende Denken ist, ist damit das Verhältnis von Denken und Sein begründet. Diesen Schritt halte ich deshalb für wichtig, weil er die hegelsche Überzeugung vom alten parmenideischen Gedanken, dass Denken und Sein dasselbe seien, nicht als unhinterfragtes Diktum erscheinen lässt. Vielmehr muss sich auch dieser Schritt mit Hegel selbst konstruieren können. Andernfalls liefe man Gefahr, die hegelsche Begründung der Wissenschaft als unvollständig erklären zu müssen. Aber auch systemintern ist Hegels Anfang ohne die angeführte Affinität des reinen Seins zur Struktur des Denkens kaum nachvollziehbar: Der Übergang von reinem Sein und reinem Nichts vollzieht sich nämlich immer über das Element des Denkens. Soll dieser Übergang nun nicht in äußerlicher Reflexion, sondern ausschließlich aus dem Sein selbst hervorgehen, so muss der Bezug zum Denken schon vorgängig enthalten sein. Die Transformation von reinem Wissen ins reine Sein muss also dem Anfang der Wissenschaft in der Tat vorgelagert werden. Der 70

Einkehr – Abkehr – Rückkehr Grund dafür liegt gerade darin, dass nur so darstellbar ist, inwiefern reines Sein in sich bereits einen Bezug zum Denken hat.

Ausblick Tatsächlich, so könnte man sagen, ist im Anfang der Wissenschaft der Logik bereits – unentwickelt – die gesamte Wissenschaft der Logik enthalten. Denn das hegelsche System enthält bereits im inhaltlichen Anfang, dem reinen Sein, auch die Methode, der Hegel in der Wissenschaft der Logik folgt. Auf diese Weise umspannt das Thema des Anfangs dann auch tatsächlich die gesamte Wissenschaft der Logik; in ihrem letzten Teil, der absoluten Idee, vervollständigt sich der Kreis wieder hin zum Anfang. Ist der sich selbst konstruierende Weg des hegelschen Systems damit ein reiner Progress – oder auch ein reiner Rückgang in den Grund? Er kann weder bloß das Eine noch bloß das Andere sein. Denn die Einkehr des Begriffs (und damit des Denkens) in sich, das reine Zu-sich-kommen, beinhaltet nicht nur die Abkehr des jeweils Gedachten von sich, es besteht nur aus ihr und in ihr. Die Einkehr ist also überhaupt nichts anderes als die Abkehr und die Abkehr von der Abkehr. Hegel bezeichnet sein System zurecht als „Kreis von Kreisen“, es ist die Darstellung der Rückkehr des Denkens zu sich. Auf diese Weise ist es, daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, daß somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmten desselben, ineinanderfällt und dasselbe ist. Die Methode, die sich hiermit in einen Kreis schlingt, kann aber in einer zeitlichen Entwicklung es nicht antizipieren, daß der Anfang schon als solcher ein Abgeleitetes sei; für ihn in seiner

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Dominik Hiob Unmittelbarkeit ist es genügend, daß er einfache Allgemeinheit ist.10

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. — Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985.

10 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 570.

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Lars Heckenroth

Von der Substanz zum Begriff. Hegels Einstieg in die Begriffslogik

Vorbemerkung Ziel meiner Darlegung ist es, die Entwicklung der Substanz zum subjektiven Begriff in Hegels Wissenschaft der Logik darzustellen. In Hinblick auf die interne Entwicklung des Werkes markiert der Übergang von der Substanz zum Begriff zugleich den Übergang von der Wesenslogik zur Logik des Begriffes. Die ursprüngliche Genese des Prinzips ‚Subjekt‘ hat nicht nur für die Architektonik der ‚großen‘ Logik von 1812-16, sondern mithin auch für das enzyklopädische System zentrale und im strengen Sinne grund-legende Bedeutung. Das Übergehen der objektiven Logik in die subjektive Logik lässt den Übergang von der Substanz zum Begriff des Begriffes somit zugleich als wirkungsmächtige Umbruchstelle in der Gesamtanlage des hegelschen Systems in den Fokus der Untersuchung rücken. Es stellt sich dabei insbesondere die Frage, inwiefern die Substanz – unter Berücksichtigung ihrer Strukturbestimmungen von Kausalität und Wechselwirkung – die unmittelbare logische Voraussetzung für die genetische Erschließung des Begriffes darstellt.

Lars Heckenroth Das Fundament und mithin der Ermöglichungsgrund dieser Entwicklung ist, wie Hegel selbst bemerkt, der ganze Gang, den das sich selbst explizierende Denken des Denkens vom Beginn der Wissenschaft der Logik an, von der Dialektik von Sein, Nichts und Werden über die Reflexions- oder Wesenslogik absolviert und durchlaufen hat.1 Eben als dieses Resultat des Seins und des Wesens, als welches sie die Bestimmungen von Unmittelbarkeit und Vermittlung in deren vollständigem Bezug aufeinander in sich bewahrt, steht die Substanz am Ende der Wesenslogik als absolute, sich-unterscheidende Macht, als Reflektiertheit-in-sich. Das basale In-sich-sein der Substanz ist dabei zunächst das Resultat einfacher Negation. Gemäß des dialektischen Dreischrittes von Setzen, Entgegensetzen und Synthesis ist die Substanz so in einfacher Identität-mit-sich sowohl gesetzt als auch sich selbst entgegengesetzt. Ausgehend von jener einfachen Negation und der Fassung der Substanz als in-sich-differenzierter Einheit zweier Pole, als Einheit von aktiver und passiver Substanz, markiert der Übergang zum Begriff die Anhebung der dialektischen Bewegung, des IneinanderÜbergehens jener identischen Pole. Die Betrachtung dieser Bewegung durch das philosophische Bewusstsein und die damit einhergehende gedankliche Fixierung der Substanz als Bewegungsgestalt ist dabei, wie die ganze Logik im Allgemeinen, ein spekulatives Unternehmen: Das Geschäft des Spekulativen überhaupt sowie das Wesen der Dia1

Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (im Folgenden zit. als WdL II), S.245 „Der Begriff ist von dieser Seite zunächst überhaupt als das Dritte zum Sein und Wesen, zum Unmittelbaren und zur Reflexion anzusehen. Sein und Wesen sind insofern die Momente seines Werdens; er aber ist ihre Grundlage und Wahrheit als die Identität, in welcher sie untergegangen und enthalten sind. Sie sind in ihm, weil er ihr Resultat ist, enthalten, aber nicht mehr als Sein und als Wesen; diese Bestimmung haben sie nur, insofern sie noch nicht in diese ihre Einheit zurückgegangen sind.“

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Von der Substanz zum Begriff lektik, so Hegel, ist das „Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit“.2 Im Verlauf der folgenden Ausführungen wird zu zeigen sein, wie Hegel jene Aufhebung des Widerspruches einer in sich differenzierten Substanz – gefasst im Sowohl-als-auch von Identität und Differenz, von Unmittelbarkeit und Vermittlung – vollzieht; denn die Negation der Negation ist es, die den Weg zur Einheit des Begriffs, d.h. zu seiner einheitlichen Selbstbewegung erschließt. Ferner ist zu untersuchen, wie sich die Konsequenzen der Negation der Negation und die damit einhergehende Transformation des Substanzprinzips darstellen – oder genauer: Was ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Begriff als Substanz am Schluss der Wesenslogik und dem Begriff als Begriff , der Gegenstand der Begriffslogik ist? Der Kern dieses Unterschiedes wird, wie im Folgenden gezeigt werden muss, in der Subjektivität selbst gewurzelt sein. Schließlich eröffnet sich erst im Übergang von der Substanz zum Begriff des Begriffes, so Hegel, der Weg in den freien Selbstbezug und in die Bewegung des freien Sich-bestimmens. Entsprechend dieser Entwicklung resultiert die Selbstbezüglichkeit der Substanz in der Bewegung des freien Sich-bestimmens und die Betrachtung endet somit im Begriff in seiner Bestimmung als dem logischen Subjekt.

Der Ausgang von der Substanz: Kausalität und Wechselwirkung Die Genese des Begriffs des Begriffes nimmt ihren Ausgang von der Substanz als der unmittelbaren logischen und methodischen Voraussetzung des zu gewinnenden Begriffsprinzips. Als „die letzte Einheit 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (im Folgenden zit. als WdL I), S. 52.

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Lars Heckenroth des Wesens und des Seins“,3 ja als „das Sein in allem Sein“4 bestimmt Hegel zum Ende der Wesenslogik die Substanz. Die Substanz ist bestimmt als „Identität des Seins in seiner Negation mit sich selbst.“5 Das Resultat der Negation ist die Identität des Seins mit sich, welches so Substanz ist. Das Wesen, so Hegel, ist als Substanz absolute Notwendigkeit geworden, „Sein schlechthin als Reflexion“,6 ist somit einfache Vermittlung in sich. Die Substanz ist das Absolute, das an und für sich seiende Wirkliche, – an sich als die einfache Identität der Möglichkeit und Wirklichkeit, absolutes, alle Wirklichkeit und Möglichkeit in sich enthaltendes Wesen, – für sich diese Identität als absolute Macht oder schlechthin sich auf sich beziehende Negativität.7

Als jene Identität mit sich ist die Substanz unmittelbare Wirklichkeit, absolutes Reflektiert-sein und an-und-für-sich-seiendes Bestehen. Im Zuge der logischen Betrachtung zerfällt die mit sich identische Substanz – bereits in der Wesenslogik – in einen aktiven und einen passiven Pol. Als Identität mit sich ist die Substanz gemäß ihrer aktiven und passiven Funktion Setzendes und Gesetztsein, und zugleich Ursache und Wirkung ihrer selbst. Im Bezirk der Lehre vom Wesen, die in Hinblick auf die Gesamtanlage des hegelschen Systems noch der objektiven Logik zugehörig ist, bleiben aktive und passive Substanz als nur in innerer Notwendigkeit und blinder Wechselwirkung sich zu einander verhaltende Pole. Das Verhältnis der Substanz zu sich verbleibt hier, so Hegel, im Dunkel der Kausalverhältnisse8 und erhebt sich noch nicht zum Bei-sich-sein-im-Anderen, nicht zum freien Für-sich-sein des Begriffes. Das Gegenüber der beiden identischen 3 4 5 6 7 8

WdL II, S. 219. Ebd., S. 219. Ebd., S. 217. Ebd., S. 217. Ebd., S. 246. Vgl. ebd., S. 251.

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Von der Substanz zum Begriff Substanzen erweist sich an dieser Stelle vielmehr als Unmittelbarkeit und als Schein, der sich erst im Übergang zur subjektiven Begriffslogik in die höhere Gestalt des freien Sich-auf-sich-beziehens aufheben wird. Die Selbstbezüglichkeit der Substanz ist gemäß ihrer Entwicklung durch die relationskategorialen Bestimmungen von Kausalität und Wechselwirkung die Einheit von Wirkung und Gegenwirkung, ist folglich die Rückwirkung einer Substanz auf sich. Die einfache Substanz, welche sich in ihrer Entwicklung noch nicht zum freien Sein der Begriffssphäre erhoben hat, ist aber keine verstehende Ursache ihrer selbst, Grund und Begründetes, Ursache und Wirkung – obwohl wechselseitig und in innerer Notwendigkeit aufeinander bezogen – sind hier noch nicht sich-verstehend ineinander übergegangen. Das Moment des Sich-verstehens bleibt der in dunkler und blinder Kausalität und Wechselwirkung verharrenden Substanz verwehrt. Ein freier Selbstbezug also, der das Verhältnis innerer Notwendigkeit transzendiert, vermag dort, wo die Substanz lediglich als Substanz begriffen wird, nicht anzuheben. Die von Hegel an dieser Stelle selbst in Gebrauch genommene Licht- und Lichtungsmetaphorik9 wird unter Berücksichtigung des logischen Moments des Scheins im Folgenden näher untersucht werden. Die Entwicklung des Substantialitätsverhältnisses – und somit die fortschreitende Bestimmung der Selbstbezüglichkeit der Substanz – durch die logischen Instanzen von Kausalität und Wechselwirkung soll dazu im Folgenden knapp beschrieben werden. Im Verhältnis der Kausalität stehen sich aktive und passive Substanz, Ursache und Wirkung als Substantialitäten gegenüber: Die Ursache geht in die Wirkung über. Es ist das Zurückbeugen der Wir9

Ebd., S. 251.

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Lars Heckenroth kung auf die mit ihr selbst identische Ursache, welches die Wirkung gleichsam zur Ursache erhebt und die einfache Kausalität in das Verhältnis der Wechselwirkung übergehen lässt. In der Wechselwirkung als dem wechselseitigen Sich-bedingen beider Substanzpole ist die Notwendigkeit nicht schlechtweg negiert, sondern aufgehoben in der Bewegung des Zurückbeugens der Wirkung auf sich: Nach wie vor erwirkt die Ursache notwendig die Wirkung, jedoch bleibt die Bewegung nicht bei jenem kausalen (negativen) Hervorbringen stehen und die Wirkung selbst wirkt – eben aufgrund der Identität beider Momente – auf den Grund und die Ursache ihrer selbst zurück. Es ist das Wesen der Wechselwirkung – und dies unterscheidet sie von dem ihr logisch vorgängigen Verhältnis der Kausalität –, dass ein jedes der beiden Momente (ursprünglich gefasst als aktive und passive Substanz) wechselseitig Ursache und Wirkung ist. Aufgrund des Umstandes, dass beide Substanzen so aktiv und passiv zugleich sind, ihren Grund als auch ihr Begründetes zugleich an sich haben, ist ihre Abhängigkeit von ihrem Anderen offenbar: In der Wechselwirkung ist ein jeder Substanzpol nur als die Wirkung seines ihm identischen Gegenübers; und jenes Gegenüber ist wiederum nur als Wirkung des von ihm Erwirkten (jetzt als Ursache). Die einander identischen Glieder der in-sich differenzierten Substantialität gehen, so der Gedanke und der Anspruch Hegels, im Ausgang von der Wechselwirkung schließlich sich-verstehend ineinander über. Dies bedeutet: Da ein jedes Moment sowohl Grund als auch Begründetes ist, ist mit diesem In-eins von Ursache und Wirkung auf Seiten einer jeden der beiden Substanzen das Bewusstsein der Abhängigkeit von sich selbst gewonnen. Als gedoppeltes und in-sich-entzweites Sein hat die Substanz in Gestalt eines jeden ihrer Momente ihren Grund einzig an sich selbst; Grund ist hier je das Gegenüber der Substanz, und dies ist wesentlich gefasst als ein ihr Identisches. 78

Von der Substanz zum Begriff Die Notwendigkeit des ursächlichen Hervorbringens des Begründeten durch seinen Grund manifestiert sich, sie erscheint und begründet so „die Reflexion des Scheins als Scheins in sich.“10 Die Substanz als passive Substanz, d.h. als Schein und Gesetztsein, versteht sich in letzter Konsequenz ihrer Fassung als Identität-mit-sich als Schein und als Gesetztsein; da die Substanz als Gegenstand der Wechselwirkung Ursache und Wirkung zugleich ist, ist sie Wirkung ihrer selbst (d.h. ein einzig durch sich selbst Gesetztes) und realisiert sich als dasjenige, das von sich selbst abhängig, und somit schlechthin nichts Absolutes, sondern wesentlich Schein seiner selbst ist. Die Substanz, so lässt sich demnach festhalten, ist als auto-poietisches Prinzip wesentlich ein In-sich-scheinen. Ausgehend von der Wechselwirkung ihrer noch separaten Glieder ist die Selbstbezüglichkeit der Substanz somit als in-sich-scheinende Einheit, als „Reflexion des Scheins als Scheins in sich [Hervorhebung, L.H.]“11 zu konzipieren. Es ist die Einheit der Glieder, das Bei-sich-sein von Aktivität und Passivität, die, so Hegel, im Fortgang über das Verhältnis der Wechselwirkung hinaus nicht nur faktisch, sondern auch gewusst werden muss; dann nämlich, wenn der Schein sich wirklich als Schein zu sich selbst verhalten soll.12 Vor dem Hintergrund des logischen Moments des Scheins und dessen Bedeutung für die Genese des Begriffes erschließt sich nun auch Hegels Verwendung der Lichtungsmetaphorik, die in erster Linie im Verweis 10

WdL II, S. 239 Ebd., S. 239. 12 Auf keinen Fall soll der Übergang der Wechselwirkung in das Denken und zur Subjektivität nur postuliert und vorausgesetzt werden. Ich möchte den vorliegenden Beitrag jedoch dahingehend begrenzen, die innere Notwendigkeit der Substanz als notwendige Bedingung für den sich-wissenden Selbstbezug herauszustellen und zugleich Hegels eigenen Anspruch an den systematischen Übergang der objektiven in die subjektive Logik zu unterstreichen. Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die konstitutive Bedeutung der spekulativen Methode für die Entwicklung ihrer Gegenstände, insbesondere für den Übergang der Substanz zum Begriff, noch weiter zu bedenken ist. 11

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Lars Heckenroth auf die Entwicklung der substantiellen Selbstbezüglichkeit – von der Dunkelheit des Kausalverhältnisses hin zur sich selbst durchsichtigen Klarheit – prominent zu Tage tritt.13 So meint auch die Rede von der Enthüllung bzw. der Manifestation der Notwendigkeit den Übergang von kausaler Notwendigkeit zu der wechselseitigen Notwendigkeit des Sich-bedingens, in welcher der betrachtete Gegenstand sowohl Ursache als auch Wirkung ist; wahrhaft zugleich Ursache und Wirkung seiner selbst zu sein, dies bedeutet so, sich als dasjenige zu wissen, das allein durch sich gesetzt und hervorgebracht ist. Notwendigkeit und Kausalität sind in Gestalt dieses sich-wissenden Seins folglich nicht schlechthin negiert, sondern die Substanz erhält Einsicht in sich als die Ursache, durch die sie selbst notwendig hervorgebracht ist.14 Jene reflexive Einsicht der Substanz in den eigenen Grund ist ihr Selbstverständnis als sich-erscheinendes Sich-selbst-setzen: Die Substanz versteht sich als Grund ihrer selbst, sie erscheint sich als Schein, d.h. als ein Gesetztsein, welches durch sich selbst gesetzt ist. Die Freiheit als dasjenige Prinzip, welches aus der sich-bewegenden und durch sich bewegten Selbstbezüglichkeit der Substanz logisch gewonnen ist, gründet demnach in dem wechselseitigen Verhältnis (d.i. in der Wechselwirkung), in welchem aktive und 13

WdL II, S. 251. Friedrich Engels hat auf dieses Freiheitsverständnis Hegels hingewiesen. Vgl. hierzu Engels, Friedrich. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring). In: Marx, K. und Engels, F. Werke. Bd. 20. Berlin: Dietz, 1962, S.106 „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. [. . .] Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“ Die Einsicht der Substanz in den Umstand, aufgrund der eigenen notwendigen und kausalen Wirktätigkeit hervorgebracht zu sein, d.h. Resultat ihrer selbst zu sein, begründet ihr freies Sich-zu-sich-verhalten, das die Notwendigkeit nicht zerstört, sondern erstlich ermöglicht, sich jener Notwendigkeit gemäß zu verhalten und die Setzung des Wesens durch sich selbst gezielt und frei zu lenken. Das freie Handeln wird so zur Spontaneität, zum Handeln nach frei gesetzten Zwecken. 14

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Von der Substanz zum Begriff passive Substanz als je in sich übergehende Momente der Bewegung zueinander stehen. Das Verhältnis der Substanz zu sich ist nun folglich keine bloße Notwendigkeit im Sinne des kausalen Wirkverhältnisses mehr und ihre unterschiedenen Glieder stoßen sich nicht mehr als Notwendigkeit voneinander ab,15 sondern die Bewegung der Unterscheidung durch Negativität ist in letzter Konsequenz dieser logischen Anlage als die selbstbezügliche Bewegung des freien Sich-von-sich-unterscheidens und Sich-setzens zu verstehen. Die Genese der Freiheit ist in diesem Sinn der Wandel von bewusstloser Notwendigkeit hin zur Bewusstwerdung der sich-setzenden Tat. Mit der Substanz, die sowohl die einfache Kausalität als auch die Wechselwirkung, in welcher sich die Pole der Bewegung blind gegeneinander verhalten und voneinander abstoßen, in sich aufgehoben hat und zur sich-verstehenden Ursache ihrer selbst erwachsen ist, steht die logische Betrachtung bereits mit beiden Beinen auf dem Boden der subjektiven Logik. Subjekt zu sein, dies bedeutet in basaler Bestimmung jenes Prinzips, frei sich zu sich zu verhalten und sich in Freiheit selbst zu setzen und setzend hervorzubringen.

Die Genese des Begriffes: Die Negation der Negation Die freie Selbstsetzung, insofern sie frei ist, ist die Aufnahme des Gesetzten in das setzende Moment. Diese Aufnahme aber ist Zurücknahme und Einkehr in den eigenen Grund. Die zuvor nur in der Dunkelheit einfacher Negativität bestehenden Substanzen finden sich nun als gleichberechtige Pole des In-einander-übergehens wieder. Dies ist die Negation der Negation. Als Momente der Bewegung sind die beiden Pole sowohl Beharrliche als auch wesentlich: in-einander15

WdL II, S. 240.

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Lars Heckenroth übergehend. Die Aufhebung des Unterschiedes und Widerspruches der beiden Substanzen ist so eine Aufhebung im besten Sinne, ist Bewahrung der Differenz (Negation) in der höheren Form ihrer Einheit (Negation der Negation). Im Zuge der rückkehrenden Einkehr in das Identische nimmt die – nun befreite – Substanz die Andersheit des Gegenübers in sich zurück, beide Pole gehen so in ein gegenseitiges Gesetztsein über. Im Begriff, so Hegel, ist die Substanz sich selbst durchsichtig geworden; auf dem Grunde von simultaner Identität und Differenz der sich gegenseitig durchdringenden Substanzpole hebt die lebendige Bewegung des In-sich-zurückkehrens an. Das Wesen des Begriffes als die Klammer von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit ist aus der Selbstbezüglichkeit der insich-geteilten Substanz gewonnen. Als Ursprünglichkeit, welche sichvon-sich-unterscheidend nur in das Sich-gleiche ein- und zurückkehrt, ist die Substanz erstens Allgemeinheit; sie ist so, so Hegel, „einfaches Ganzes, das sein Gesetztsein in sich selbst enthält und als identisch darin mit sich gesetzt ist: das Allgemeine [. . .].“16 Jene Bestimmung der Substanz als Zusammenschluss zweier in wechselseitiger Negativität entgegengesetzter Pole verbürgt zweitens zugleich das Moment der Einzelheit; als Zusammenschluss der niederen Substanzen (d.i. aktive und passive Substanz) in ihrer Identität miteinander ist die Substanz „als die mit sich identische Negativität gesetzt“17 und somit ist sie „das Einzelne.“18 Im Hinblick auf ihre setzende Tatkraft und unterscheidende Macht ist die Substanz drittens Besonderheit: sich-von-sichunterscheidend besondert die Substanz sich in zwei gleich-gültige und in wechselseitiger Begründung stehende Glieder, welche den Grund der lebendigen Bewegung des Ineinander-übergehens stellen. 16

WdL II, S. 240. Ebd., S. 240. 18 Ebd., S. 240.

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Von der Substanz zum Begriff Die Besonderheit, so Hegel, ist diese Identität, „welche vom Einzelnen das Moment der Bestimmtheit, vom Allgemeinen das Moment der Reflexion-in-sich in unmittelbarer Einheit enthält.“19 Mit den drei Momenten (d.i. Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit) entbirgt sich die selbstbezügliche Substanz in ihrer „negativen Beziehung auf sich“,20 als „vollkommen durchsichtigen Unterschied.“21 Das Sichunterscheiden der Substanz ist – gefasst als jenes Sich-durchsichtigsein – die Unterscheidung in „die bestimmte Einfachheit oder in die einfache Bestimmtheit, welche ihre eine und dieselbe Identität ist.“22 Die sich-durchsichtige Selbstbezüglichkeit der Substanz, die die wechselseitige Bewegung des sich-wissenden Ineinander-übergehens ihrer identischen Momente zu ihrem Wesen hat, ist gleichsam das Wesen sowohl des Prinzips des Geistes als auch des Begriffes als Gegenstand der Begriffslogik. Das Sich-durchsichtig-werden der Substanz als letzte Konsequenz von Kausalität und Wechselwirkung eröffnet dem philosophischen Bewusstsein somit „das Reich der Subjektivität oder der Freiheit“23 und lässt die logische Betrachtung im Ausgang von der Substanz in den dritten Teil der Wissenschaft der Logik, in die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff übergehen. Dem Gegenstand der Wesenslogik, so kann festgehalten werden, kommt zwar eine Differenzierung in sich und somit eine gewisse Innerlichkeit zu,24 er bleibt jedoch wesentlich ein blindes Bestehen. Auch die Selbstbezüglichkeit der Substanz, die letzter Gegenstand der Wesenslogik ist, bleibt ein Verhältnis von innerer Notwendigkeit. Erst in der Begriffslogik kann die Substanz ihr bloßes Bestehen 19

Ebd., S. 240. Ebd., S. 240. 21 Ebd., S. 240. 22 Ebd., S. 240. 23 Ebd., S. 240. 24 WdL I, S. 58. 20

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Lars Heckenroth überwinden und sich als sich selbst setzendes Prinzip und als ein in Freiheit tätiges setzendes Moment realisieren. Erst hier begreifen sich die Pole von aktiver und passiver Substanz als Identische, der Übergang des Setzenden in das Gesetze wird als Einkehr und Rückkehr in ein Gleiches, als Rückkehr zu sich selbst gefasst. Die Substanz, so Hegel, ist hier zu ihrer Wahrheit und Vollendung gelangt, sie entsteigt dem Dunkel der Kausalverhältnisse, welches das bloß äußerliche Nebeneinander ist, und entlässt sich in das „Reich der Subjektivität oder der Freiheit.“25 Gleichwohl, so gesteht Hegel zu Beginn der Begriffslogik ein, sei das Resultat der Vollendung der Substanz im Sich-durchsichtig-werden „nicht mehr die Substanz selbst, sondern ein Höheres, der Begriff , das Subjekt.“26 Deutlich wird hier auch, inwiefern das Unternehmen der hegelschen Logik – systematisch verstanden als Prozessontologie – den Begriff in seiner Entwicklung, und genauer: in seinem Zu-sich-kommen, abbildet: Während die Seins- und Wesenslogik zuvor das An-sich der Substanz behandelte, richtet die Logik des Begriffs nun den Blick auf die Substanz als an-und-für-sich-seiende Selbstbezüglichkeit. Jener Übergang des Substantialitätsverhältnisses, so Hegel, vollziehe sich „durch seine eigene immanente Notwendigkeit und ist weiter nichts als die Manifestation ihrer selbst, daß der Begriff ihre Wahrheit [d.i. die Wahrheit der Substanz, L.H.] und die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit ist.“27

25

WdL II, S. 240. Ebd., S. 249. 27 Ebd., S. 249.

26

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Von der Substanz zum Begriff

Freiheit und Selbstbewusstsein: Der Begriff als Subjekt Die vom Dunkel des An-sich zum Für-sich-sein befreite Substanz, so Hegel, ist der Begriff. Diesem kommt als sich-bewusste Selbstbezüglichkeit die Form des einfachen Selbstbewusstseins zu: „Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewusstsein.“28 In Rückgriff auf Kant fasst Hegel das Ich denke bzw. die Einheit der Apperzeption als Wesen des absoluten Begriffes. Die Selbstbezüglichkeit der Substanz, die sich durch Kausalität und Wechselwirkung zum Verhältnis des In-sich-scheinens und Sich-erscheinens entwickelt hat, wird nun verstanden als die wissende Rückkehr zu sich und somit als Selbstbewusstsein. Das Prinzip Ich ist nichts anderes als sich auf sich zurückbeugende Einheit. Als freie Selbstsetzung ist die Substanz – zum Begriff befreit – Subjekt geworden und nimmt das Ich als Struktur ihres Bezuges auf sich in Gebrauch: Begriff und Sein sind in der zum Begriff erhobenen Substanz – dem sich durchdringenden Subjekt – als gleichberechtigte Pole des Setzens und Gesetztseins zu ihrer Einheit gelangt. Die Terminologie der Begriffslogik fasst die Differenzierung von aktiver und passiver Substanz (als Momente der dialektischen Substanzbewegung und ihrer Reflexion in sich selbst) anhand der Unterscheidung in Subjektivität und Objektivität. Der subjektive Begriff setzt aufgrund seiner Einzelheit und Besonderheit, d.i. seiner Bestimmtheit, Objektivität. So wird Hegel von der Realität sprechen, die der Begriff sich selbst gibt.29 Die an-und-für-sich-seiende Substanz, wenn auch in der Betrach28 29

Ebd., S. 253. Ebd., S. 258.

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Lars Heckenroth tung der Bewegung in aktive und passive Substanz zerfallen, erschließt den Weg zur Einheit des Begriffes. Die beiden Glieder sind Einheit, da aktive und passive Substanz – sowohl identisch als auch different – immer schon ineinander übergegangen sind. Das Ineinander-übergegangen-sein ist die höhere Einheit der Momente. So ist die Einheit der beiden Substanzen in ihrer zum Begriff befreiten Gestalt nicht länger unmittelbare Einheit, sondern die Substanz ist hier vielmehr als mit sich selbst vermittelt realisiert. Als freie Selbstbezüglichkeit also ist die Substanz – in der begriffslogischen Betrachtung – sich selbst setzendes Subjekt geworden. Als in-sich unendliche Subjektivität ist die Identität der Substanz mit sich im Begriff zur lebendigen Bewegung des Sich-bestimmens übergegangen. Das im Zuge einfacher Negation sich entgegengesetzte und gedoppelte Sein hebt im In-eins von Veranderung und Rücknahme der Veranderung die Negation immer schon auf: Die lebendige Bewegung des sich-wissenden und sich-lichtenden Selbstbezuges kommt im Begriff so zu seiner reinen Gestalt. Der Begriff als zu sich zurückgekehrte und ewig zurückkehrende Identität nimmt sich, wie gezeigt worden ist, die Form des Selbstbewusstseins zu seinem Wesen: Das reflexive Verhältnis der Subjektivität ist die Einheit von Sich-bestimmen und Sich-erkennen, ist das In-eins von a) der Produktion des Selbst und b) der Rücknahme seiner Andersheit. Diese beiden Aspekte der subjektiven Selbstbezüglichkeit in ihrer notwendigen Einheit und als gleichursprünglich zu denken, dies macht die dialektische Methode zum einen notwendig und enthüllt zum anderen das einzigartige Vermögen des dialektisch-spekulativen Denkens. Bei-sich-sein-im-Anderen, das freie Selbstverhältnis, besteht demnach eben darin, sich selbst im Anderen zu erkennen und im Zuge dieses Erkennens das Andere allererst und ursprünglich hervorzubringen. 86

Von der Substanz zum Begriff Mit der Bewegung des Sich-bestimmens als dem Resultat der Relationskategorien von Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung ist am Ende der Wesenslogik dasjenige Fundament gewonnen, aus dem heraus das Verhältnis der wechselseitig sich-bedingenden Sphären von Subjektivität und Objektivität einzig wird begreifbar werden können. Dieses Verhältnis bleibt – bis in den letzten Einheitsort der beiden Sphären, bis in die Idee – der ganze Gegenstand der Begriffslogik.

Literatur Engels, Friedrich. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring). In: Marx, K. und Engels, F. Werke. Bd. 20. Berlin: Dietz, 1962. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. — Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985.

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Florian Bohde

Hegels Geistbegriff in seiner ‚Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften‘

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.1

Jede der ersten drei Fragen Kants ist eine spezifische Art, danach zu fragen, was der Mensch ist. Was kann die direkte Frage nach dem 1 Kant, Immanuel. Logik. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von : Bd. 1-22: Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 9. Berlin, 1900 ff. S. 25.

Florian Bohde Menschen dann noch bedeuten? Sie lässt sich nicht so einfach in diese Reihe eingliedern, in ihr stellt der Mensch sich selber in Frage. Die Frage nach dem Menschen ist in zweifacher Hinsicht auch die Frage nach der Frage selbst. Zum einen zielt sie über die ersten drei hinaus, indem sie fragt: „Was ist das für ein Wesen, das dieses Wissen, diese Taten und diese Hoffnungen in sich vereint?“ Zum anderen fragt sie hinter diese zurück, indem sie fragt: „Was ist das für ein Wesen, das in der Lage ist, Fragen zu stellen?“ Es ist verlockend, diese letzte Hinsicht der Frage mit einem Verweis auf eine reale Entwicklungsstufe des Menschen beantworten zu wollen. Dann aber stellt der Mensch sich nicht selbst in Frage, sondern einen Vorfahren, ein Objekt des theoretischen Wissens. Wenn die beiden Hinsichten ein und derselben Frage angehören sollen, kann man die Frage nach der Möglichkeit dieses Fragens und dem integralen Endpunkt desselben nicht strikt voneinander trennen. Die erstere muss immer schon vor dem Hintergrund und mit dem Ausblick auf die letztere gestellt werden. Anthropologie ist dann nicht die Wissenschaft, die die vierte kantische Frage beantwortet, sondern der Anfang, der ein Feld für ihre Beantwortung eröffnet. Wenn man diesen Anfang zugleich auch als die Bewegung auf das Ziel, den Endpunkt der Fragestellung verstehen können soll, muss in ihm schon ein Prinzip wirksam sein, das sich bis zum Schluss durchzieht. Hegels Anspruch und Aufgabe im dritten Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften – der Philosophie des Geistes – ist es, einen solchen Anfang zu machen. Mich beschäftigt hier die Frage, wie dieser Anfang im Kontext seines Systems und vor allem im Anschluss an die Naturphilosophie beschaffen sein muss. Denn was die Anthropologie zum ‚Gegenstand‘ hat, ist nichts mehr als das Prinzip des Lebens wie es die Naturphilosophie als Ergebnis gewonnen hat, nämlich die Seele. Es muss also gezeigt werden, wie 90

Hegels Geistbegriff dieses Prinzip nun in einer neuen Hinsicht, als erste Stufe des Geistes betrachtet werden kann.

Umfang und ‚Gegenstand‘ der Anthropologie Gleich zu Beginn des dritten Teils der Enzyklopädie weist Hegel darauf hin, wie die „Erkenntnis des Geistes“ zu verstehen sei, nämlich als „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich“. (Enz. III, § 377, S.9)2 ‚Erkenntnis des Geistes‘ zeigt hier nämlich die gleiche gedoppelte Struktur wie etwa auch ‚Kritik der reinen Vernunft‘, bei der man jeweils den genitivus subiectivus wie obiectivus gleichermaßen berücksichtigen muss. Der Geist ist in dieser Wissenschaft also nicht nur der Gegenstand, sondern auch das Subjekt der Untersuchung. Konkreter heißt das: Es wird nicht nur nach dem Wahrhaften des Menschen (also dem Menschen als Geistigem) gefragt, sondern er selbst muss diese Untersuchung auch führen und zwar immer schon als geistiger Akteur, also indem er das schon in Gebrauch nimmt, wonach er fragt. Die Wissenschaft vom Geist ist also wesentlich Selbsterkenntnis in dem umfangreichen und überindividuellen Sinne, dass der Mensch sich als Geist erkennen muss. Und das ist auch die Art und Weise, in der man ‚Anthropologie‘ bei Hegel verstehen muss, sie ist nicht die Erkenntnis über den Menschen, sondern Erkenntnis des Menschen in dem oben beschriebenen doppelten Sinn. Es wird nämlich überhaupt kein bloßer Gegenstand untersucht, der zu den bisherigen Gegenständen der Natur hinzutritt. Gefragt wird vielmehr nach dem 2

Im Folgenden werden Schriften Hegels im Text zitiert nach: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff. Dabei werden folgende Kürzel verwendet: WL = Wissenschaft der Logik; Enz. = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.

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Florian Bohde Prinzip, welches selbst die Erkenntnis über Naturgegenstände zu leisten vermag. „Anthropologie verlangt also nicht bloß eine Erweiterung, sondern eine Umorientierung der Ontologie“.3 Statt danach zu fragen, was der Mensch ist, wird nach dem Sein des Menschen gefragt, das heißt nach der Art der Verbindung des Menschen zum Sein. Die von Lohmar angesprochene Umorientierung ist eine Umorientierung des Blickpunktes bzw. der Blickrichtung. Es ist nicht der Blick auf einen spezifischen Gegenstand (den Menschen) sondern der Blick auf den menschlichen Blick. Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn Lohmar wenig später zu dem Schluss kommt: „Die bisherigen Überlegungen zeigen: will man Hegels Anthropologie rekonstruieren, so muß über den ‚Anthropologie. Die Seele’ genannten ersten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes hinausgegangen werden.“4 Der Blick auf den menschlichen Blick kann sich nicht auf eine Entwicklungsstufe beschränken, in der gerade erst der Grund des Übergangs zum Bewusstsein thematisch ist. Mit in den Fokus genommen werden müssen immer auch schon Vernunft, Kunst, Philosophie und all die anderen Stufen, die den Blick des Menschen wesentlich prägen. Nichtsdestotrotz muss man auch dem Fakt Rechnung tragen, dass Hegel eben nur jenem ersten Teil die Überschrift ‚Anthropologie‘ gegeben hat. Es ist hier nicht am Platz zu untersuchen, inwieweit Hegel sich mit diesem engeren Feld des Begriffes an eine Tradition anschließt, die ihn in dieser Weise verwendet. Stattdessen soll versucht werden, der Verwendung einen systematischen Platz zu geben, der beides rechtfertigt: die Restriktion auf einen Bereich des subjektiven Geistes, sowie die Notwendigkeit über diesen hinauszugehen. 3 Lohmar, Achim. Anthropologie und Vernunftkritik: Hegels Philosophie der menschlichen Welt. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997, S. 20. 4 Ebd., S. 21.

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Hegels Geistbegriff Dieser systematische Ort ist ein Punkt des Umschlagens: Der Geist gelangt in diesem Teil zu einem Verhältnis zu seinem Inhalt, also einer Art seiner Bestimmtheit, die auch in den höheren Stufen charakteristisch bleiben wird. Es ist die erste Stelle, an der der Geist menschlich wird, die geistige Genese des Menschen. Genauso gut könnte man aber auch sagen, der Mensch werde geistig, das Lebewesen, das er ist, entwickelt einen ersten Selbstbezug. In einer ähnlichen Weise wird ja auch in der heutigen Anthropologie nach einem Umschlagpunkt gesucht, an dem von einem Übergang vom Tier zum Menschen gesprochen werden kann. Dogmatisch wird eine solche Untersuchung immer nur dann, wenn dieser Weg in einseitiger Richtung ohne die Voraussicht auf das Wesen dessen, was man durch diese Rückwendung eigentlich untersuchen wollte, vonstatten geht. Um diesen Umschlag richtig zu verstehen, muss ein wenig auf die Art und Weise eingegangen werden, wie der Geist überhaupt zu seiner Bestimmtheit gelangt.

Manifestation „Als für sich seiend ist das Allgemeine sich besondernd und hierin Identität mit sich. Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation.“ (Enz. III, § 383, S. 27) Dieser Schritt ist ungemein komprimiert, weshalb es vielleicht von Vorteil ist, sich den Übergang von Allgemeinheit zu Besonderheit in der Begriffslogik ins Gedächtnis zu rufen. Hier erläutert Hegel das Allgemeine als schöpferische Macht: „Es ist als solche das Unterscheiden in sich, und dieses ist Bestimmen dadurch, daß das Unterscheiden mit der Allgemeinheit eins ist.“ (WL II, S. 279) Die Bestimmtheit kommt also durch einen immanenten Prozess im Allgemeinen zustande. Die Logik geht hierin auch noch den 93

Florian Bohde entscheidenden Schritt weiter: Das Unterscheiden (oder Besondern) kommt im Allgemeinen nicht lediglich vor, es ist eins mit dem Allgemeinen. Allgemeinheit ist das eigene Sich-unterscheiden, weshalb es bei diesem Prozess Identität mit sich ist. Diese prozessuale Identität kann aber eben dadurch nicht der bloße Ausdruck für etwas bereits Bestehendes sein; was sich gleich bleibt, ist nur das Unterscheiden als solches. Die Manifestation ist ein solches Verhältnis des Geistes zu sich selbst, welches nicht darin besteht, dass die eine Seite bloß etwas äußert, was in der anderen schon implizit enthalten war.5 Anders ausgedrückt: Geist hat keinen Inhalt, der nur noch ‚hinaus‘ in die Welt müsste, „so daß er nicht etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst.“ (Enz. III, §383, S. 27) Bezüglich der Manifestation betrachten wir also überhaupt nicht eine Seite der Relation, sondern das Verhältnis selbst. In Hinblick auf das Wissen drückt Lohmar diese Beziehung so aus: „Die reflexionslogische Unterscheidung zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Wissens greift im Hinblick auf dieses selbst zu kurz: sie ist nur eine Unterscheidung an dem beide Aspekte übergreifenden Wissen, dem in diesem Verhältnis manifesten Allgemeinen.“6 Geist kann in gewissem Sinne nicht verborgen bleiben, es gibt ihn nicht als bloße Potentialität. Deshalb ist seine Möglichkeit auch „unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit“. (Enz. III, §383 S. 27) Die Wirklichkeit des Geistes besteht eben darin, Unterschied in sich 5

Vgl. Brandom, Robert. Making it Explicit: Reasoning, Representing and Discursive Commitment. Cambridge: Cambridge University Press, 1998, bes. S. 75ff. Der Unterschied zwischen dem hier vorgestellten Prozess und der Konzeption Brandoms besteht nicht sosehr darin, dass er dem Impliziten schon einen Inhalt gibt, der nur noch aufgewiesen werden müsste, sondern darin, dass er sich auf propositional content auf der einen und discursive practice auf der anderen Seite beschränkt, wodurch die ontologische Seite wegfällt. 6 Lohmar (1997), S. 221.

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Hegels Geistbegriff zu setzen, und indem er die Möglichkeit in sich setzt, leistet er genau das. Die Verwirklichung ist in diesem Akt also unmittelbar enthalten. Unendlich ist die Wirklichkeit deshalb, weil die dahinterstehende Kraft unendlich ist, es gibt keine Grenze, die das Trennen in immer weitere Bestimmungen aufhalten könnte (vgl. „die unendliche Kraft des Verstandes“ WL II, S. 286). Schließlich ist die Wirklichkeit absolut, weil dieser Prozess rein immanent, ohne Abhängigkeiten von außen, abläuft. Hier ergibt sich bezüglich des Aufbaus der Anthropologie aber scheinbar eine Schwierigkeit: Den Abschluss der hier besprochenen Paragraphen bildet die ‚wirkliche Seele‘, und der Weg dorthin kann durchaus als ihre ‚Verwirklichung‘ betrachtet werden. Die vorhergehenden Stufen behandeln die Seele also in einem Stadium, in dem sie noch nicht wirklich ist; dennoch werden hier aber schon interne Strukturen beschrieben, die auf eine solche Verwirklichung ausgerichtet sind. Außerdem kann die Folge der Entwicklungsstufen des Geistes keine zufällige sein; wenn die höchste Stufe immer schon antizipierend mit einbezogen wird, kann sie nicht das Ergebnis eines zufälligen Prozesses sein. Eine solche Zielgerichtetheit muss die vorigen Stufen als defizitär erscheinen lassen. Wie aber kann man einen solchen Ablauf ohne die Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit denken? Die Möglichkeit steht für das noch nicht Geäußerte, noch nicht Offenbare, die Wirklichkeit hingegen für die Äußerung oder Offenbarung. Wenn diese beiden im Geiste nun ein und dasselbe sind, so bedeutet das dennoch nicht, dass die Offenbarung in einem, ohne jeglichen Verlauf, vor sich geht. Auf diesen Gedanken kommt man lediglich, wenn man immer noch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit als zwei ‚Zustände‘ unterscheidet und den unmittelbaren Übergang lediglich mit einem instantanen Wechsel gleichsetzt. Wenn 95

Florian Bohde man hingegen die Identität oder Einheit zwischen beiden in ihrer vollen Radikalität nimmt, so kann die Offenbarung eben auch ein Prozess sein. Insbesondere ist dann auch nicht gesagt, dass das Offenbaren selbst nicht verschiedene Formen und Ausprägungen annehmen könnte. Indem der Geist wesentlich ein Sich-ausdifferenzieren ist, welches sich in dieser Differenz dennoch gleich bleibt, wird er im Laufe dieses Werdens seiner selbst in immer neuen von ihm selbst geschaffenen Verhältnissen zu diesem seinem Inhalt stehen. Was dabei jedoch nicht schon mit enthalten ist, ist eine Gerichtetheit auf ein Ziel hin, durch das die Stufen erst eine systematische Ordnung erhalten können. Dies muss aber geklärt sein, bevor man anfangen kann, die Stufen in der Anthropologie als zu einem System gehörig vorzustellen.

Antizipation Zusammenfassend könnte man die Beziehung zwischen den verschiedenen Stufen wie folgt beschreiben: Es ist nicht so, dass die höhere jeweils schon ‚da‘ ist, sich aber noch nicht ‚zeigt‘, sondern so, dass sie noch nicht da ist, aber dennoch den Horizont der Entwicklung der aktuellen Stufe darstellt. In § 380 wird diese Konstellation in Abgrenzung einer Betrachtung der Natur beschrieben: „Die Bestimmungen und Stufen des Geistes dagegen sind wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen.“ (Enz. III, § 380, S. 16 f.) Eine Bestimmung als Moment zu fassen heißt aber immer schon darüber hinaus zu sein. So ist ein Modus gefordert, der den Blick auf die bestimmte Stufe um den Blick auf das Ganze erweitert; diesen Modus nennt Hegel ‚Antizipation‘: Aber zugleich wird es, indem niedrigere Stufen betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerklich

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Hegels Geistbegriff zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet (z.B. beim natürlichen Erwachen das Bewußtsein, bei der Verrücktheit den Verstand usf.). (Enz. III, § 380, S. 17)

Die Verrücktheit ist ein Zustand eines vernünftig/verständigen Wesens, bei der Betrachtung derselben muss also systematisch vorgegriffen werden auf eine höhere Stufe. Dieser systematische Vorgriff ist aber zugleich in der empirischen Existenz, dem Erscheinen dieser Stufe, eine Erinnerung. Und hieran zeigt sich etwas, was für den ganzen Stufenbau des Systems gilt: Stufen sind niemals gedacht als zeitliche Abfolgen. Selbst in der Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, wo die Idee in ihrer Entäußerung vorliegt, darf man also nie die Stufenfolge mit der Reihenfolge ihres Erscheinens verwechseln. Wie kann man aber dieses ‚noch nicht‘ denken, ohne ein einfaches, zeitliches Fortschreiten im Sinn zu haben? Die Antizipation verweist nicht nur auf etwas Jenseitiges, sie ist eine bestimmte Sichtweise auf den Gegenstand als solchen. Wenn dieser Gegenstand der Begriff ist, ist sie eine Sichtweise auf die Stufe seiner Entwicklung. Wie wir gesehen haben, ist die Manifestation ein zielgerichteter Prozess, der selbst nicht zeitlich, sondern Bedingung der Möglichkeit für Zeitlichkeit ist. Wenn nun eine Stufe der Manifestation des Geistes betrachtet wird, kann man an dieser Stufe den Entwicklungsstand von der Entwicklung selbst unterscheiden. Der Entwicklungsstand ist das statische Bestehen einer Stufe des Prozesses, wobei von dem Prozess abstrahiert wird. Diese Abstraktion ist eine notwendige Bedingung für das Erkennen. Dieses tritt dennoch erst dann ein, wenn die abstrakte Sicht auf die betrachtete Stufe überwunden ist und eingesehen wird, dass sie in sich selbst den Keim zum Übergang trägt. Mit dieser Wende des Blickpunktes auf die Bewegung selbst ist immer auch der Blick auf das Ziel dieser Bewegung verbunden. Eine 97

Florian Bohde zielgerichtete Bewegung ist nämlich in jedem Moment (und zwar zeitlich wie logisch genommen) schon Bewegung zu ihrem Ziel hin. Es kann keinen Punkt geben, ab dem es möglich wird, von der Bewegung zu diesem Ziel hin zu sprechen, es sei denn die Bewegung würde einen schlechthin nicht einholbaren Sprung beschreiben. Ein solcher Sprung würde alle Entwicklung und damit auch unsere Erfahrung unintelligibel machen und wird durch deren Faktum widerlegt. Das heißt nicht, dass der Anfang schon hinreichend wäre, um den gesamten Verlauf daran abzulesen. Wenn aber einmal eine gewisse Stufe erreicht ist, erkennt man von Anfang an die Richtung der Bewegung als die Richtung zu dieser Stufe hin. Bezüglich der Anthropologie heißt das, man erkennt sich bereits in den Stufen der Seele, weil sie schon Spuren ihrer Befreiung erkennen lassen, einer Befreiung, die wir als Menschen immer schon vollziehen. Hegel selbst spricht von ‚antizipieren‘, wenn er bestimmte Erscheinungsformen vorwegnehmen muss, um Ausprägungen einer Stufe zu beschreiben, an denen diese Erscheinungsformen noch gar nicht vorkommen. Solche Antizipationen sind von vielen Interpreten problematisiert worden, sie sahen darin, wenn nicht gar einen Fehler im System, so zumindest eine Unsauberkeit in der Darstellung. Das hieße aber, in der Antizipation einen Behelf zu sehen, der bei jeder Anwendung eigens einer neuen Rechtfertigung bedürfte. Stattdessen ist es bezogen auf das gesamte System, welches die Enzyklopädie darstellen soll, ratsam, der Antizipation einen wesentlichen Platz einzuräumen. Die Einheit des Systems ist nur dann gegeben, wenn sein Endpunkt, die Idee, wiederum Prinzip ist. Die Selbsterkenntnis, von der anfangs die Rede war, ist nicht bloßes Ergebnis in dem Sinne, dass die höchste Stufe ein in sich ruhendes Ganzes wäre. Ganzes im eigentlichen Sinne ist die Idee nur dadurch, dass sie sich in ihrem gesamten Weg als gegenwärtig weiß. Die Idee darf 98

Hegels Geistbegriff nicht bloß in ihrem Ergebnis, also als Idee erkannt werden, sondern auch in ihren Bestimmungen: „[S]o hat sie verschiedene Gestaltungen und das Geschäft der Philosophie ist, sie in diesen zu erkennen“. (WL II, S. 549) In der Philosophie des Geistes ist dieses Verhältnis sogar besonders einsichtig: Ihre höchste Stufe ist die Philosophie; aber selbstverständlich sind nicht nur die mit diesem Titel überschriebenen letzten 20 Seiten der Enzyklopädie Philosophie, sondern bereits die ersten Zeilen. Letztere sind aber nur darum bereits Philosophie, weil sie von dem am Ende erreichten Standpunkt aus als solche erkannt werden. Eine Abwendung von dem, was hier Antizipation genannt wird, bedeutet die Beschränkung auf einen einfachen Fortgang, wie er etwa in der Evolution gedacht wird: Hier sind die Übergänge und Transformationen auseinander verständlich, wir können die Veränderung der Arten als einen Fortgang denken. Aber an diesem Zuwachs an Komplexität ist nichts zu erkennen, was als schon immer wirksam betrachtet werden müsste. Die höhere Stufe ist nirgendwo das Prinzip der niedrigen, so dass es keinen Rückgang gibt und keine evolutionäre Selbsterkenntnis im hegelschen Sinne.

Literatur Brandom, Robert. Making it Explicit: Reasoning, Representing and Discursive Commitment. Cambridge: Cambridge University Press, 1998. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft III. In: Gesammelte Werke. Bd. 10. Suhrkamp. — Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff.

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Florian Bohde Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Wissenschaft der Logik I. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. — Wissenschaft der Logik II. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. Kant, Immanuel. Logik. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von : Bd. 122: Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 9. Berlin, 1900 ff. Lohmar, Achim. Anthropologie und Vernunftkritik: Hegels Philosophie der menschlichen Welt. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997.

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Christian Krijnen

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit

1. Das Enigma der Freiheit Freiheit ist nicht nur das große Thema der modernen Philosophie, sondern speziell der deutsche Idealismus hat sich angeschickt, Freiheit zum Alpha und Omega der Philosophie zu modeln. Während Kant im Zuge seiner transzendentalen Denkungsart Natur und Freiheit, theoretische und praktische Vernunft noch in dualistischer Weise konzipierte, kam es den nachkantischen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel auf einen ebenso fundierenden wie durchgehenden Freiheitsbegriff an.1 Gerade Hegel hat sich nicht bloß programmatisch der Freiheit verschrieben, sondern auch was die Durchführung des Programms betrifft, Freiheit als Anfang, Weg und Ende der Philosophie als eines Systems in sich begründeter Gedanken begriffen. Insofern kann man es angesichts der gegenwärtigen Hegel-Renaissance in der Debatte über ‚Anerkennung‘ nur begrüßen, dass Klaus Vieweg unlängst die Relevanz der Logik für Hegels Rechtsphi1 Vgl. dazu eingehend: Krijnen, Christian. „Freiheit als ursprüngliche Einheit der Vernunft. Hegels begriffslogische Lösung eines Kantischen Problems“. In: Natur und Geist. Hrsg. von W. Neuser und P. Stekeler-Weithofer. Würzburg: Könighausen & Neumann, im Erscheinen.

Christian Krijnen losophie unterstrichen hat.2 Axel Honneth hingegen, der Frankfurter Erneuerer Hegels, schiebt den Gedanken, der Logik und damit einhergehend dem System der Philosophie komme eine fundierende und maßgebende Rolle für eine gegenwärtige, von Hegel inspirierte Anerkennungsphilosophie zu, als ‚metaphysisch‘ beiseite.3 Eine systemirreferente Deutung von Hegels Begriff des objektiven Geistes muß freilich auf grundlegende Bestimmungsstücke des hegelschen Philosophiebegriffs verzichten. Hegel versteht seine Rechtsphilosophie zweifelsohne als eine Ausarbeitung der Philosophie des objektiven Geistes, und damit des Systems der Philosophie.4 Der Logik kommt dabei eine tragende Rolle zu, methodisch wie bezüglich der spezifischen Inhalte.5 Gleichwohl unterschätzt sogar Vieweg die Relevanz der Logik für die Rechtsphilosophie in einer entscheidenden Hinsicht: Auf den spekulativen Begriff als den bestimmten Ursprung von Freiheit geht er nicht nur nicht ein – vielmehr komme das „Prädikat“ ‚frei‘ nur dem Willen zu; Freiheit sei „nur im Paradigma des Willens“ zu denken; erst in der Rechtsphilosophie werde „expliziert und erwiesen“, dass Freiheit eine „immanente Bestimmtheit der Idee ist“.6 Hegel scheint da jedoch eine andere Position zu vertreten: „Der Begriff ist das Freie“; und das und wie der Begriff das Freie ist, ist das Ergebnis 2

Vieweg, Klaus. Das Denken der Freiheit. München: Fink, 2012. Honneth, Axel. Leiden an Unbestimmtheit. Stuttgart: Reclam, 2001. 4 E § 487 A, vgl. §§ 483-552. – Hegel wird wie folgt zitiert: Hegel 1951a = Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Hg. von Georg Lasson = I; Hegel 1951b = Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Hg. von Georg Lasson = II; Hegel 1991 = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg = E; Hegel 1988 = Phänomenologie des Geistes. Hg. von Hans-Friedrich Wessels, Heinrich Clairmont und Wolfgang Bonsiepen = PG; Hegel 1955 = Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hg. von Johannes Hoffmeister = R; Hegel 1971 = Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel = TWA. (A = Anmerkung; Z= Zusatz). 5 Vgl. etwa R §§ 2 inkl. Z mit 31, vgl. noch §§ 7 A, 24 A, 26 A, 33 A 6 Vieweg (2012), S. 44. 3

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Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit einer „immanenten Deduktion“, welche die „Genesis des Begriffs“ ist.7 Nimmt man diesen Gedanken ernst, und damit die Struktur des hegelschen Systems, dann wird man sich zudem vor der weitverbreiteten Sitte hüten, Hegels Sittlichkeitslehre als ‚praktische Philosophie‘ aufzufassen. Sie ist es nämlich nicht. Und die Gründe dafür nicht in Rechnung zu stellen, führt zwangsläufig zu einer Preisgabe hegelscher Rechtfertigungen, Systemstrukturen und damit einhergehender Bestimmungen der verhandelten Sache.8 So gerät Hegels subtiles Freiheitskonzept aus dem Blick und damit auch dessen Ausprägung im Sittlichen, d. i. die spezifische Freiheit des Sittlichen. Dergestalt bewerkstelligte ‚Aktualisierungen‘ Hegels scheiterten – an Hegel selbst. Wenn ich recht sehe, bestünde die eigentliche Herausforderung mit Blick auf die Aktualität des hegelschen Konzepts spekulativer Sittlichkeit in der Auseinandersetzung mit Kants Konzept transzendental-metaphysischer Sittlichkeit. Diese Auseinandersetzung muß einer umfangreicheren Arbeit vorbehalten bleiben. Vorerst kommt es auf die pünktliche Fassung der Freiheit in einer hegelsch konzipierten Sittlichkeit an. Ich gehe im Folgenden aus von Überlegungen zum Begriff als der logischen Grundlage der Freiheit. Sodann kommt die Freiheit des Sittlichen zur Sprache.

2. Der Begriff ist das Freie Hegel folgt radikal Kants kritischer Forderung nach „Selbsterkenntniß“ der Vernunft (KrV A XI), überwindet dabei jedoch logisch wie geistphilosophisch Kants am Gegensatz ‚theoretisch – praktisch‘ ori7

E § 160 mit II 214 und 218. Vgl. Krijnen, Christian. „Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm“. In: Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge. Hrsg. von C. Krijnen. Leiden/Boston: BRILL, 2014, S. 99–127. 8

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Christian Krijnen entierte Vernunftarchitektonik.9 Er hebt die Beschränkungen des theoretischen Erkennens unter der Idee des Wahren sowie des praktischen Erkennens unter der Idee des Guten durch eine Lehre von der absoluten Idee auf und das theoretische und praktische Agieren des Geistes durch eine Lehre vom freien Geist. Der logischen Ideenlehre aber geht die Lehre des Begriffs voran. Hier exponiert Hegel den Begriff des Begriffs – und zwar als Freiheit. Indem die Logik, die das „begreifende Denken“ zum Thema hat (I 23), sich gliedert in eine Logik des Seins als An-sich-sein des Begriffs, in eine Logik des Wesens als Für-sich-sein des Begriffs und in eine Logik des Begriffs als An-und-für-sich-sein des Begriffs,10 läuft die Selbsterkenntnis der Vernunft schon in einem allgemeinen, programmatischen Sinne auf die Erkenntnis der Vernunft als Freiheit hinaus. Dabei denkt Hegel das ursprünglich Freie, das die Vernunft ist, eben speziell als den Begriff selbst, den Einen Begriff. Nicht ein praktisches oder überhaupt ein auf Normatives bezogenes Subjekt, sondern der Begriff ist die ausgezeichnete und fundamentale Form des Bei-sich-sein-imAnderen, d. i. Hegels Bestimmung der Freiheit. Dieses fortwährende Beisichselbstsein drückt als solches die Form des spekulativen Begründungsprogramms aus. Es ist ein Programm, in dem der Begriff sich grundlegend und umfassend im Laufe seiner begrifflichen Selbstbestimmung zu sich selbst befreit. Als eine sich in der Weise der Selbsterkenntnis zu sich selbst befreiende Logik des Begriffs, ist sie eine Logik der (absoluten) Idee, d. i. des mit sich in seiner Objektivität zur Übereinstimmung gekommenen Begriffs. Die Befreiung erfolgt in einem immanenten Bestimmungsprozeß vom Anfang des Denkens als des unbestimmten Unmittelbaren bis hin zur Vollendung dieser Selbstbewegung im Verständnis seiner Bewegung, das 9 10

Ebd. E § 83; vgl. auch E §§ 84 mit 112; I 18, 31, 42 f., 277 u. ö.

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Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit das Denken qua ‚absolute Idee‘ ist. Die absolute Idee enthält folglich alle Bestimmtheit in sich (II 484). Daher erschöpft sie sich auch nicht als logische Idee. Vielmehr ist sie thematisch in drei Bestimmungshinsichten: im Element des reinen Denkens als Logisches, im Element der Natur als Naturales und im Element des Geistes als Geistiges. Hegel bezieht also Natur und Geist als die beiden Sphären des Realen in die Philosophie ein. Die Logik bildet dabei die „Grundlage“ jeglicher naturalen oder geistigen Bestimmtheit.11 Ihrer schlechthin fundierenden Funktion zufolge, hat Hegel sie als „erste“ und als „letzte“ Wissenschaft qualifiziert (II 437). Am Ende der Systementwicklung wird das Logische sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist und damit als Prinzipiationsgrund von Realem weiß, so dass die Philosophie selbst als schlechthinnige Grundlegungs- oder Totalitätswissenschaft begriffen wird. Kurzum: Das Programm eines ‚echten‘ Idealismus ist auf das Beisichselbstsein und -bleiben des Begriffs auch im Anderen seiner selbst angelegt. Der spekulative Begriff integriert dabei Begriffe wie Spontaneität, Selbstbestimmung, Notwendigkeit, Gesetzlichkeit, Kausalität, Allgemeines, Einzelnes in komplizierter Weise und ermöglicht dadurch erst so etwas wie geistige Freiheit. Über das allgemeine freiheitsfunktionale Profil des spekulativen Idealismus hinaus aber, ist, wie angedeutet, die spezifische logische Systemstelle der absoluten Idee – des einzigen Gegenstandes der Philosophie – als des Freien der Begriff: mit dem Übergang vom Abschnitt ‚Die Wirklichkeit‘ zur ‚Lehre vom Begriff‘ deduziert Hegel den Begriff des Begriffs und die ihm eigene Freiheit. „Der Begriff ist das Freie“ (E § 160), Freiheit die „absolute Negativität des Begriffs 11

Vgl. II 224, vgl. auch TWA 8, § 24, Z 1.

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Christian Krijnen als Identität mit sich“ (E § 382). Hegel kommt zu dieser Erkenntnis, indem er Kants kosmologischen Freiheitsbegriff und Spinozas Substanzbegriff aus ihrem gemeinsamen Grund begreift, dem Begriff als dem Freien eben. Freiheit ist ihm als solche kein Vermögen der Kausalität mehr – für Hegel eine Verstandesauffassung von Freiheit –, sondern Bei-sich-selbst-sein-im-Anderen. Obwohl für Hegel Spinozas Substanzphilosophie zwar ein Gegenmodell zu dieser Art umfassender Freiheit als spontankausaler Grundlage der Erscheinungswelt bietet, bedarf sie, wie Hegels Formel von der Subjektwerdung der Substanz impliziert, einer spekulativen Aneignung und Transformation. Im Zuge dessen entpuppen sich die „absolute Macht“ und „blinde Notwendigkeit“, die Spinozas Substanz eignen, als die Freiheit, die das Denken, der Begriff oder die Idee ist. Die kosmologische Einheit erweist sich demzufolge als immanente Notwendigkeit begreifenden Denkens. Wie Hegel sagt, legt das Absolute „sich selbst aus“, so dass die Bestimmungen des Absoluten sich als „identisches Setzen seiner selbst“ ergeben (II 185, vgl. 157 f., 163 f.). Diesen Manifestations- oder Selbstauslegungsprozeß des Absoluten expliziert Hegel dergestalt, dass das wahrhaft absolute Verhältnis die „gesetzte Einheit seiner in seinen Bestimmungen“ ist, d. i. der „Begriff“ (II 185, 213 ff.). Die erreichte selbstbezügliche Einheit der absoluten Substanz ist der Begriff in seiner Allgemeinheit: sich manifestierende Selbstbeziehung – Freiheit. Damit ist diejenige Freiheit, die der Begriff ist, Grund der Wirklichkeit als Erscheinung. Seine Macht ist eine „innerliche Notwendigkeit“, die zur „Freiheit“ dadurch wird, dass ihre noch „innere Identität“ sich „manifestiert“ (II 204). Im Durchgang durch den Rationalismus und Empirismus (II 184 ff.) hebt Hegel schließlich gar noch Kants transzendentale Einheit der Apperzeption in die Freiheit des Begriffs auf (II 221 ff.). Solche Freiheit spontaner Selbstbestimmung und vollständiger 106

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit Selbstvermittlung als die Tätigkeitsweise des Begriffs und der ihm eigenen Notwendigkeit ist systematisch gesehen grundlegend für jedwede Spezifikation von Freiheit. Sie ist die „absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich“ (E § 382), die sich nunmehr im weiteren Fortgang erhält, sowohl innerhalb der weiteren logischen Entwicklung des Begriffs zur Idee als auch im Fortgang vom Element des Denkens zum Element oder zu den Elementen des Realen. Wie es heißt, ist die „reine Idee“, in der die Bestimmtheit des Begriffs „zum Begriffe erhoben“ ist, „absolute Befreiung“, „bei sich selbst bleibender Begriff“ (II 505).

3. Die Freiheit des Geistes Indem der Begriff durch seine wesenslogische Herkunft aus dem Substanzialitätsverhältnis die Einheit der Substanz in eine gesetzte Identität transformiert, welche die der „Identität des Begriffs“ ist, ist ein selbstbezügliches Verhältnis „absoluter Negativität“ erreicht, das Hegel als Freiheit, damit aber auch als „manifestierte“ Identität qualifiziert (II 218). Für Hegel ist Manifestation als Tätigkeit eines wahrhaft Absoluten Manifestation seiner selbst in seiner Äußerung.12 Entsprechend sind Natur und Geist in je spezifischer Weise Manifestationen des Begriffs und damit des Freien; Freiheit erschöpft sich also nicht im Logischen, sondern ist in ihm spekulativ fundiert. Anders als im Falle der Natur, die in ihrem Dasein keine „Freiheit“ zeigt (E § 248), deren Wesen näherhin nicht die Freiheit ist und die damit keine Manifestation des Wesens eines Freien bzw. der Freiheit sein kann, ist das (formelle) „Wesen“ des Geistes die „Freiheit“ (E § 382), so dass die (inhaltliche) Bestimmtheit des Geistes „Manifestation“ (E § 383) ebendieses Wesens ist. Manifestation ist nicht Manifestation oder 12

Vgl. II 163 f., 169 f., 190; E §§ 139, 142 A, 151.

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Christian Krijnen Offenbarung von „Etwas“, sondern der Geist selbst ist dieses Offenbaren; seine „Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit“ (E § 383). Diese Manifestation des Geistes vollzieht sich in drei bzw. zwei Formen seiner selbst (E § 385): Als subjektiver Geist bezieht sich die Entwicklung des freien Geistes in einem engeren Sinne auf diesen selbst (erst am Ende wird der eigentliche Begriff des Subjekts als des sich selbst bestimmenden und damit freien Geistes erreicht).13 Damit ist nicht nur das Wesen des Geistes Freiheit, sondern indem der „Begriff“ des Geistes „für ihn“ wird, wird ihm sein „Sein“, „bei sich, d. i. frei zu sein“ (E § 385). Anschließend objektiviert sich der freie Geist zu einer geistigen Welt, die er sich allmählich adäquat macht: zu einer Welt, in der „Freiheit als vorhandene [. . .] Notwendigkeit“ ist; in dieser Form seiner Tätigkeit und deren Produkten ist der Geist „objektiver“, eine geistige Welt hervorbringender, Freiheit in der Realität verwirklichender Geist (E § 385). Die Realisierung der (absoluten) Idee im Element des Geistes ist vollendet, sobald dieser zu einem Dasein gelangt, in welchem er völlig befreit ist von Formen, die seinem Begriff nicht adäquat sind. Erst dann ist der Geist „der Wirklichkeit nach“, und damit als wirkender, frei; diese Freiheit erlangt der Geist als etwas „durch seine Tätigkeit Hervorzubringendes“; die Geistphilosophie thematisiert den Geist als „Hervorbringer seiner Freiheit“; die Entwicklung des Geistbegriffs stellt sodann „das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar“ 13

Insofern geht es beim Werden des Subjekts strikte genommen noch nicht um den Geist als ‚Individuum‘ bzw. ‚Individuen‘, geschweige denn um Intersubjektivitätsverhältnisse (wie in anerkennungstheoretischen Aktualisierungen Hegels immer wieder in Anspruch genommen wird). Erst in der Philosophie des objektiven Geistes haben wir es konstitutionstheoretisch gesehen mit einer Pluralität von Subjekten als freien Geistern zu tun (vgl. §§ E 485 ff.).

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Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit (TWA 8, § 382 Z). Wie gesagt, formell genommen ist das Wesen des Geistes die Freiheit (E § 382), der Geist im Reich des Geistes ist ‚freier Geist‘ (E § 382 mit 384). Am Ende der Philosophie des subjektiven Geistes bestimmt Hegel den freien Geist als Einheit von theoretischem und praktischem Geist: „Wille als freie Intelligenz“ (E § 481), Geist, der sich als frei „weiß“ und „will“, d. h. Geist, der sich seine Freiheit zum „Zweck“ macht (E § 482). Die Einheit von theoretischem Geist und praktischem Geist besteht in der Freiheit (Selbstbestimmung). In der Philosophie des objektiven Geistes kommt es sodann darauf an, den freien Geist in seinem objektiven Dasein gemäß der Logik des Begriffs philosophisch zu begreifen. Die Realisierung von Freiheit im Objektiven läuft gemäß Hegels Konzept von Realisierung also darauf hinaus, das Implizite hinsichtlich dieser Zweckrealisierung explizit zu machen. Der freie Geist als Endergebnis des subjektiven Geistes ist nämlich „wirklich“ und damit wirkender freier Wille (E §§ 480 f.). Als solcher hat er Freiheit nicht bloß zu seinem „Wesen“, sondern dieses Wesen eben zugleich zu seiner „Bestimmung“ und seinem „Zwecke“ (E § 482, vgl. § 483). Der objektive Geist ist derjenige freie Wille, der sich das Dasein seiner Freiheit zum Zweck gemacht hat. Das ist das Eine – das Andere ist: Die Verwirklichung dieses Zwecks findet in einer „äußerlich vorgefundenen Objektivität“ statt, die das „Material für das Dasein des Willens“ ausmacht (E § 483). Indem der freie Wille seinen Begriff (Freiheit) „in der äußerlich objektiven Seite“ realisiert, ist er „in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen“ (E § 484). Die Welt, die „äußerlich objektive Seite“, erhält so die „Form der Notwendigkeit“. Deren „substantieller Zusammenhang“ ist die Freiheit. Der „erscheinende Zusammenhang“ indes ist ihr „Anerkanntsein“: ihr „Gelten im Bewußtsein“ (E § 484). Der dergestalt erreichte Zusammenschluß von freiem (‚vernünftigem‘: 109

Christian Krijnen E §§ 482, 485) und einzelnem Willen – dem „Element“ der „Betätigung“ des freien Willens – macht die „Wirklichkeit der Freiheit“ aus (E § 485). Durch diese Vereinzelung des wirklich freien Willens wird das ‚äußerliche Material‘ durch Freiheit überformt, kommt Freiheit in die Welt, und zwar zuerst als „abstraktes Recht“, dann als „Moralität“ und schließlich als „Sittlichkeit“ (vgl. E § 487). Sie sind Gestalten, die die Idee sich gibt und damit Formen, in denen sie sich Dasein verschafft. Beim Geist als zu ihrem Fürsichsein gelangter Idee, deren Subjekt wie Objekt der Begriff ist (E § 381), kann es sich also nicht um einen abstrakten Allgemeinbegriff möglicher geistiger Tätigkeiten bzw. Geister handeln. Hegel denkt den Geist vielmehr seinem Programm spekulativen Begreifens und dem dazugehörigen Realisierungsgedanken gemäß als das Am-Werk-Sein (ἐνέργεια) der Freiheit, auf den Zweck ausgerichtet, sich hervorzubringen und mit sich als Freiheit in Übereinstimmung zu kommen. Es sind die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen Freiheit in die Welt kommt, d. h. die Gestalten, in denen die Freiheit des freien Geistes sich im Objektiven verwirklicht. Von der Logik des Systems her gesehen, gibt sich der „Begriff“ in seiner „Verwirklichung“ eine „Gestaltung“, die ein „Moment“ der Idee qua Einheit des Begriffs und seiner Verwirklichung ist (R § 1 A). Der Stufengang der Entwicklung der Idee geht also mit verschiedenen Gestaltungen einher, die je unterschiedliche „Sphären“ des objektiven Geistes sind (R § 33). Dies heißt nun nicht, dass die Gestalten des abstrakten Rechts und die der Moralität nur „abstrakte Momente“ der Gestalt der Sittlichkeit wären, da bloß letztere die objektiv-geistige Wirklichkeit ausmache. Bei ihnen allen handelt es sich um ein Dasein des freien Willens, immer betrifft es Momente. Das Dasein der Freiheit jedoch, das die Sittlichkeit ist, ist die „Einheit und Wahrheit“ der beiden vorherge110

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit henden Gestalten oder Sphären: von „äußerlicher Welt“ (abstraktem Recht) und „reflektiertem Willen“ (Moralität), so dass in der Sittlichkeit Freiheit ebensosehr objektiv wie subjektiv existiert, der freie Wille substantieller Wille ist, Wille, der die seinem Begriff gemäße „Wirklichkeit“ hat – an und für sich freier Wille ist: abstraktes Recht und Moralität in sich vereinigt hat: Sittlichkeit (R § 33 mit E § 487). Indem die Abstraktheit von abstraktem objektivem Regelsystem und bloß subjektiver Selbstbestimmung überwunden ist, sind wir im konkreten Leben in seiner ganzen objektiv-geistigen Fülle angelangt. Anders gesagt: In der Sittlichkeit ist die Freiheit zum „lebendigen Guten“ (R § 142), die „selbstbewußte Freiheit zur Natur“ (E § 513, vgl. R § 151), das „absolute Sollen“ zum „Sein“ geworden (E § 514). Gleichwohl ist keine Sphäre vor der anderen irgendwie ‚ontologisch‘ ausgezeichnet. Stets ist ein Dasein der Freiheit thematisch. Dieses reicht jedoch von einer minimalen Übereinstimmung mit seinem Begriff bis zur maximalen. Dass Hegel durch das abstrakte Recht und die Moralität hindurch schließlich zur Sittlichkeit gelangt, ist seinem Verfahren spekulativen Begreifens verdankt.

4. Die Freiheit des Rechts So ist Hegels Philosophie des objektiven Geistes als ‚Rechtsphilosophie‘ konzipiert. Das „Recht“ (E § 486) ist ganz allgemein bestimmt als Auszeichnung des freien, sich Dasein gebenden und darin sein Wesen (Freiheit) verwirklichenden Willens: Dasein der Freiheit. Die Rechtsphilosophie bzw. die Philosophie des objektiven Geistes hat die Aufgabe, das Dasein von Freiheit zu begreifen. Gemäß der Logik spekulativer Begriffsbildung,14 handelt es sich 14 Vgl. zur Logik des Fortgangs spekulativer Begriffsentwicklung Krijnen, Christian. Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei

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Christian Krijnen am Anfang der Philosophie des objektiven Geistes um einen Begriff von Geist, der dem erreichten Endbegriff des subjektiven Geistes als dem des freien Willens maximal äußerlich ist. Dieses Dasein des freien Willens ist Hegel zufolge das Recht in seiner „umfassenden“ Bedeutung als „Dasein aller Bestimmungen der Freiheit“ (E § 486). Im Zuge der Logik spekulativer Begriffsentwicklung ist es auch plausibel, dass Hegel den Aspekt des Willens im freien Geist prävalieren läßt und zum Grundbegriff des objektiven Geistes macht (während im absoluten Geist das Denken im Vordergrund steht). Hegel faßt den Willen nicht als etwas vom Denken Getrenntes, sondern als eine Art von Denken – Denken „als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“ (R § 4 Z, vgl. E § 233), „denkenden Willen“ (E § 469). Innerhalb des freien Geistes macht der Wille als Trieb das maximal äußerliche Moment des Denkens und damit der Freiheitsrealisierung des Geistes aus. Und auf das Denken ist der Entwicklungsgang der Enzyklopädie als Selbsterkenntnis der absoluten Idee geradezu ausgelegt. Am Ende der begrifflichen Entwicklung des subjektiven Geistes ist ein freier Wille konstituiert, d. h., der Wille ist ein wirklich freier Wille. Der Wille ist also nicht gefaßt als die bloße Bestimmungskompetenz oder Intentionalität des Subjekts, sondern vielmehr als in sich bestimmt, sich in dieser seiner Bestimmtheit wissend und wollend und in dieser Einheit von theoretischem und praktischem Geist zugleich als Moment im Selbsterkenntnisprozeß der Idee. Als dieses Moment macht der freie Wille das „Dasein der Vernunft“ (E § 482) aus: Er bezweckt, sich in einer äußerlich vorgefundenen Objektivität Dasein zu geben, seinen Begriff (Freiheit) zu verwirklichen. Der exponierte Begriff des Rechts betrifft diesen weiten Rechtsbegriff. Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, Kap. 3.4.2, speziell die Realphilosophie betreffend: Kap. 4.2.1.2.

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Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit Den Anfang bildet dabei das „abstrakte Recht“ (E § 487). Der wirklich freie Wille erlangt hier sein Dasein in einzelnen Personen, die ihren Willen in ihnen äußerliche Gegenstände legen (E §§ 488 ff.). Der freie Geist ist sich also maximal äußerlich, manifestiert sich sein Subjektsein doch nicht an ihm selbst, sondern an einer „äußerlichen Sache“ (E §§ 488 f.). Der damit initiierte objektiv-geistige Prozeß begrifflicher Entwicklung geht von diesem ‚unmittelbaren‘ Auftreten des freien Geistes als abstraktem Recht in eine ‚in sich reflektierte‘ Gestalt als Moralität über und endet bei der Gestalt des „substantiellen“ Willens als Einheit beider Vorgängergestalten, und damit von Objektivität und Subjektivität, als Sittlichkeit (E § 487). Von der Logik spekulativer Begriffsentwicklung her gesehen, läßt sich durch den Anfang mit dem abstrakten Recht die Freiheitsrealisierung im Objektiven begreifen. Die Realisierungsperspektive der Freiheit ist das übergeordnete Moment; die Ausrichtung auf das abstrakte Recht daraufhin funktionalisiert. Die Daseinsgestalten des freien Geistes als objektiven Geistes selbst und ihr Zusammenhang sind das Thema der Philosophie des objektiven Geistes. So handelt Hegels Philosophie des Rechts als des objektiven Geistes von der Idee des Rechts. Sie zeigt, wie der Begriff des Rechts sich in einer ihm adäquaten Objektivität verwirklicht (R § 1). Entsprechend denkt Hegel den freien Geist als „Zwecktätigkeit“ (E § 484), die darauf aus ist, seiner inneren (wesentlichen) Bestimmung objektives Dasein zu verschaffen. Unter welchen begrifflichen Bedingungen ist dies angesichts des geschichtlich vorliegenden Kenntnisstandes objektiv-geistiger Verhältnisse möglich? Hegel zufolge erschöpfen sich die Bedingungen objektiv-geistiger Freiheitsrealisierung weder in einer vertragstheoretischen Konzeption des abstrakten Rechts vereinzelter Personen als Rechtspersonen noch in einer moralischen Rechtsbegründung aus dem Wollen von Willenssubjekten. Um das 113

Christian Krijnen Dasein der Freiheit wahrhaft zu begreifen, erweist sich vielmehr der Einbezug politischer Gemeinschaftlichkeit als vonnöten, der Sittlichkeit also. Der Grund dieses Einbezugs macht die Eigenart der Freiheit des Sittlichen als einer Manifestation des Begriffs aus.

5. Die Freiheit des Sittlichen Das Dasein der Freiheit fängt mit einer Gestalt von Subjektsein des freien Geistes an, die sich an einer „äußerlichen Sache“ manifestiert (E §§ 488 f.): abstraktem Recht. Diese Konzeption des Daseins der Freiheit führt allerdings von sich aus zu einer anderen: zur Moralität. Der Versuch, das Dasein der Freiheit philosophisch zu begreifen als ein abstraktes Rechtsverhältnis, mißlingt also. Das abstrakte Recht läßt sich am Ende seiner Entwicklung nämlich nicht mehr vom einzelnen, ‚subjektiven‘ Willen unterscheiden, d. i. vom moralischen Standpunkt, dessen die Realität des Rechts jedoch bedarf und durch den es folglich „vermittelt“ ist (E §§ 502 ff.). In der Moralität ist der Wille und damit das Dasein der Freiheit nicht konzipiert als Freiheit der (Rechts-)Person, sondern als freies Individuum, das „Subjekt“ qua „in sich reflektierter Wille“ ist: thematisch ist die Willensbestimmtheit nicht in äußeren Sachen, sondern „im Innern“ (E § 503). Auch diese Konzeption des Daseins der Freiheit bricht am Ende begrifflich in sich zusammen, entpuppt Moralität sich doch als eine zum Absoluten aufgespreizte Subjektivität, die sich gleichwohl als identisch mit dem Guten als einem substantiell (und nicht mehr bloß abstrakt) Allgemeinen setzt. Um das Dasein der Freiheit philosophisch zu begreifen, muß also zu einer nächsten Freiheitsgestalt fortgeschritten werden: zum substantiellen Willen, d. i. zur Sittlichkeit (E §§ 511 ff.; R §§ 140 f.). Weder das abstrakte Recht noch die Moralität können das Dasein 114

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit der Freiheit begrifflich erhalten. Vielmehr haben beide, wie Hegel sagt, „das Sittliche zum Träger und zur Grundlage“ (R § 141 Z): Dem abstrakten Recht fehlt das Moment der (besonderen) Subjektivität, der Moralität das Moment der Objektivität. Für sich genommen handelt es sich bei abstraktem Recht und Moralität um inadäquate Daseinsgestalten bzw. Begriffskonstellationen der Freiheit. Hegels Sittlichkeit ist die „Einheit des subjektiven und objektiven an sich und für sich seienden Guten“ (R § 141 Z), die „Einheit und Wahrheit“ beider Momente, die Idee des Guten realisiert im „in sich reflektierten Willen“ und in der „äußerlichen Welt“ (R § 33; vgl. E §§ 487, 513). So ist die Gestalt der Sittlichkeit allererst Bedingung15 individueller Selbstverwirklichung im Sinne von Freiheitsrealisierung im Objektiven. Hegel denkt die Sphäre oder die Gestalt der Sittlichkeit nicht wie im überlieferten Naturrecht als absichtlich hergestelltes Sozialgebilde, welches es seinen Mitgliedern ermöglicht, von der Moralität her entworfene Zwecke zu verwirklichen. Ganz im Gegenteil: im Zuge der spekulativen Begriffsentwicklung, näherhin der Realisierung des Begriffs in der Sphäre des objektiven Geistes, erweist sich die Sittlichkeit als Möglichkeitsbedingung für die Verwirklichung ebensolcher Zwecke. Tatsächlich kommt es Hegel auch gar nicht primär auf die Sittlichkeit als Sozialität an, sondern auf die Sittlichkeit als Daseinsgestalt von Freiheit. In der Sittlichkeit gewinnt die „subjektive Freiheit“ des freien Geistes in Gesinnung und Betätigung „unmittelbare und allgemeine Wirklichkeit“, so dass die „selbstbewußte Freiheit“ zur (zweiten, d. i. sittlichen) „Natur“ (E § 513), das „absolute Sollen“ zum „Sein“ geworden ist (E § 514) – freilich ohne den modernen, kantischen Begriff des autonomen Subjekts auf dem Altar des antiken, 15

– im begrifflichen Sinne, nicht als zeitliches Vorangehen (vgl. R § 32 A).

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Christian Krijnen aristotelischen Polisbegriffs zu opfern. Entsprechend traktiert Hegel die Gestalten von Sittlichkeit – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – in ihrer sittlichen Struktur und in ihrem sittlichen Sinn: sie sind thematisch als je differente gestufte Momente im Selbsterkenntnisgang der Idee und damit der Verwirklichung der Freiheit. Das Freiheitsverständnis des abstrakten Rechts trägt der Besonderheit des freien Geistes unzureichend Rechnung; das der Moralität mündet in die „absolute Eitelkeit“ (E § 512, vgl. R § 141) des Willens. Für sich genommen, können sie den Freiheitsanspruch des freien Geistes nicht festhalten. Hegel transformiert sie zu Momenten einer höheren Einheit, die ihnen begrifflich zugrunde liegt: Sittlichkeit. Wie Hegel sagt, war das Dasein der Freiheit zunächst als abstraktes Recht, wurde sodann in der Reflexion des Subjekts als das Gute bestimmt, so dass sich das Sittliche als „subjektive Gesinnung des an sich seienden Rechts“ erweist (R § 141 A). Wirkliche, konkret-allgemeine Freiheit vollzieht sich immer schon in einer jeweiligen Sittlichkeit, die als solche eine Einheit von Subjektivität (Moralität, Besonderheit) und Objektivität (abstraktem Recht, Allgemeinheit) ist. Sie ist die Idee der Freiheit als das „lebendige Gute“ (R § 142); Wissen von sich, Gesinnung und Betätigung sind zur „unmittelbaren Wirklichkeit“ gelangt, und insofern ist die ihrer selbst bewußte Freiheit zu einer Natur geworden, die „Sitte“ ist (E § 513). Sie ist „konkrete“ (R § 144), „frei sich wissende Substanz“ (E § 514), also sich in sich entwickelnde begriffsbestimmte Einheit; daher „ist“ das Sittliche zwar im Sinne der „höchsten Selbständigkeit“ (R § 146 mit E 514), jedoch nicht als ein dem Subjekt „Fremdes“, sondern als „Zeugnis [. . .] seines eigenen Wesens“ (R § 146 f. mit E § 514). Die Freiheit des freien Geistes hat als Gesinnung und Betätigung unmittelbare allgemeine Wirklichkeit bekommen; entsprechend ist die selbstbewußte Freiheit zu einer (zweiten) Natur geworden. In der Sittlichkeit sind das Allgemeine 116

Spekulatives Begreifen sittlicher Freiheit und das Besondere im Element des objektiven Geistes zur Einheit gekommen, haben sich zur Einzelheit bestimmt, d. i. zum lebendigen Guten – zum Dasein der Freiheit. So ist das Sittliche Grundlage und Träger jener inadäquaten objektiv-geistigen Freiheitsgestalten des abstrakten Rechts und der Moralität; für sich können diese nicht existieren, haben sie keine Wirklichkeit (R § 141 Z). Wirklichkeit haben sie nur im Sittlichen: die Welt, in der wir als freie Geister leben, d. h. unser Wesen, Freiheit, realisieren, ist eine sittliche Welt.

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler. 8. Aufl. Philosophische Bibliothek Bd. 33. Hamburg: Meiner, 1991. — Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg: Meiner, 1955. — Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von H.-F. Wessels, H. Clairmont und W. Bonsiepen. Bd. 9. Philosophische Bibliothek 414. Hamburg: Meiner, 1988. — Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff. — Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Hrsg. von G. Lasson. Hamburg: Meiner, 1951. — Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Hrsg. von G. Lasson. Hamburg: Meiner, 1951. Honneth, Axel. Leiden an Unbestimmtheit. Stuttgart: Reclam, 2001. Krijnen, Christian. „Freiheit als ursprüngliche Einheit der Vernunft. Hegels begriffslogische Lösung eines Kantischen Problems“. In: Natur und Geist. Hrsg. von W. Neuser und P. Stekeler-Weithofer. Würzburg: Könighausen & Neumann, im Erscheinen. 117

Christian Krijnen Krijnen, Christian. Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008. — „Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm“. In: Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge. Hrsg. von C. Krijnen. Leiden/Boston: BRILL, 2014, S. 99–127. Vieweg, Klaus. Das Denken der Freiheit. München: Fink, 2012.

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Klaus E. Kaehler

Die Ambivalenz des Endlichen: Hegel und die Moderne

Lässt sich für die Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Hegel ein Zusammenhang stiftendes Prinzip ausmachen und ausweisen, nämlich das Prinzip Subjekt, so muss dieses auch den kritischen Leitfaden durch den sog. ‚philosophischen Diskurs der Moderne‘ bilden können. Denn nur durch eine Unterscheidung am philosophischen Prinzip des Ganzen ist der prinzipielle Bruch der Moderne (im engeren Sinne) mit der Metaphysik der Neuzeit auch innerphilosophisch zu rechtfertigen – weder durch eine abstrakte Negation noch durch die Berufung auf vor- bzw. außerphilosophische Instanzen. Nur ein in kritischer, negativer Kontinuität mit der Vollendungsgestalt der Metaphysik der Neuzeit gewonnener philosophischer Grundbegriff der Moderne – im Sinne des nachmetaphysischen Denkens – vermag eine selber philosophische Begründung und Genese der Moderne auf den Weg zu bringen und zu tragen. Dass und inwiefern Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie erweisbar ist, ist hier nicht zu rechtfertigen, sondern sei

Klaus E. Kaehler vorausgesetzt.1 Führt die Entwicklung dieses Prinzips gemäß seinem eigenen Vollendungssinn zum absoluten Wahrheitsanspruch der spekulativen Metaphysik Hegels, so ist dieser, als Anspruch der neuzeitlichen Metaphysik und ihrer ‚Vernunft‘ insgesamt2 , streng mit- und zu Ende zu denken. Das nämlich ist (notwendige und hinreichende) Bedingung dafür, dass nachmetaphysisches Denken – das nicht schon als beziehungslos ‚Neues‘ philosophische Gültigkeit und Relevanz beanspruchen kann – bei etwas ansetzen, etwas treffen kann, das das bereits entwickelte Ganze angeht und dem dieses sich nicht entziehen kann. Dies nachzuweisen, würde das Heraustreten aus der Metaphysik erst als eigentlich philosophische Leistung und Erkenntnis qualifizieren. Wenn sich erweisen lässt, dass auch der absolute Wahrheitsanspruch – unter dem systematisch vollendeten absoluten Subjekt – eine Grenze hat, weil er von sich, als Wahrheitsanspruch, ausschließen muss, was das Prinzip mit seiner Selbstentfaltung notwendig permanent miterzeugt: seine eigene Äußerlichkeit, dann ist damit der philosophische Grund erkannt für die radikale Transformation des Subjekts in das dezentrierte Subjekt, die das nachmetaphysische Denken seit Feuerbach der Sache nach bereits vollzogen hat. Dieser Begriff ist innerphilosophisch nur zu 1

Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf mein Buch Das Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München: Alber, 2010. 2 Dass dieser Wahrheitsanspruch sich auch auf die Inklusion der gesamten vorneuzeitlichen, also der Philosophie der Antike und des Mittelalters bezieht, mag hier außer Betracht bleiben. Zur epochalen Gliederung der gesamten Metaphysik aufgrund einer immanenten „Krisis der Prinzipien“ vgl. die Arbeiten von Heribert Boeder, insbesondere seine Topologie der Metaphysik. Freiburg/München: Alber, 1980. Zur Konzeption der Geschichte (und Geschichtlichkeit) der Philosophie innerhalb des spekulativen Rahmens Hegels sei verwiesen auf Düsing, Klaus. Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, sowie Verf., „History of Philosophy as Philosophical Task“. In: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy 3 (2003), S. 241–253; und ders.: „Kant und Hegel zur Bestimmung einer philosophischen Geschichte der Philosophie“. In: Studia Leibnitiana XIV (1982), S. 25–47.

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Die Ambivalenz des Endlichen gewinnen als Resultat der systematischen Selbstreflexion des Subjekts der absoluten Metaphysik, in der sich eine endogene Krisis dieses Subjekts für sich selbst ergibt. Damit wird der immanente Kontext der Metaphysik überschritten. Ihr Gehalt wird in einen systematisch offenen Kontext und damit in einen von Grund auf gewandelten Rechtfertigungszusammenhang versetzt, wie er in den diversen Positionen der Moderne beansprucht und zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Den Wendepunkt bildet die Stellung und Bewertung des Endlichen. Innerhalb des spekulativen Kontexts Hegels ist das Endliche ontologisch und in seinem Wahrheitsgehalt unselbständig, ein esse ab alio. Zugleich aber ist es so notwendig, dass das Absolute gerade erst im Endlichen, als seiner Erscheinung, seinen inhaltlichen Reichtum erzeugt und entfaltet. Doch diese Erzeugung und Entfaltung sind ambivalent: Einerseits vollbringt darin das Absolute sich selbst – doch nur soweit die aus seiner absoluten Subjektivität geschöpften Begriffsbestimmungen reichen; so dass andererseits zugleich mit jeder begrifflichen Bestimmung eine unbestimmt (‚schlecht‘) unendliche Mannigfalt von Realitäten ‚frei gelassen‘ wird, gegen die der Begriff indifferent ist, wie umgekehrt diese Realitäten es gegen den Begriff sind. Bedeutet diese Indifferenz unter dem spekulativen Wahrheitsanspruch die ‚Nichtigkeit‘ solcher Realitäten (oder ‚Existenzen‘), so ist es doch gerade diese ‚Nachtseite‘ der absoluten Idee, die von den nachhegelschen – und damit auch nachmetaphysischen – Denkern auf mancherlei Weise eingeklagt wurde. Diese Ambivalenz des Endlichen tritt im Lichte der Frage nach dem Grund oder Ursprung der Bestimmtheiten und Relationen des spekulativ gedachten Endlichen unausweichlich hervor. Dem Endlichen kommt in seiner Mannigfaltigkeit im Besonderen auch eine unableitbare Eigenbedeutung zu, die durch die spekulative Hierarchie von Absolutem und Endlichem weder erklärt noch 121

Klaus E. Kaehler konkret begriffen werden kann. Sie ist vielmehr überhaupt nur dem selber endlichen Bewusstsein (das heißt, dem Geist in seiner Erscheinung) zugänglich. Von diesem Punkt aus lässt sich eine – bei Hegel ex principio immer schon und immer wieder entschiedene – Krisis des Subjekt-Prinzips gerade in seiner immanenten Selbstvollendung erkennen; und daraus wird sich jener von Grund auf veränderte Begriff von Subjekt ergeben, von dem zu zeigen wäre, dass er zugleich einen kritischen Maßstab bildet für die Positionen des ‚nachmetaphysischen Denkens‘, ungeachtet ihrer inhaltlichen Differenzen. Im Folgenden soll also näher gezeigt werden, wie innerhalb des spekulativen Begründungszusammenhangs aus der Ambivalenz des Endlichen die genannte endogene Krisis entspringt. Wir beginnen deshalb mit einer Aufdeckung und Analyse dieser Ambivalenz bei Hegel, um dann zu untersuchen, wie darin das Potential für eine prinzipielle Neubestimmung der Aufgabe und Reichweite der Philosophie liegt.

1. Das Endliche in Hegels Metaphysik der absoluten Subjektivität Die3 Epoche der neuzeitlichen Metaphysik, in deren Vollendungssinn Hegel seine philosophische Aufgabe erkennt, schließt sich für ihn in der Idee der Philosophie als absoluter Wissenschaft. Dieses Selbstverständnis wird mit der Phänomenologie des Geistes von 1807 manifest und darstellungsfähig. Von hier an hat Hegel Subjektivität als das Wesen der Vernunft begriffen. Darauf beruht, dass er in Aussicht stellt, die Philosophie „dem Ziele“ näher zu bringen, „ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu 3

Dieser und der folgende Absatz sind mit geringen Veränderungen übernommen aus: Verf., „Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne“. In: Habermas und der historische Materialismus. Hrsg. von S. Rapic. Freiburg/München: Alber, 2014, S. 373–395, hier: S. 379f.

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Die Ambivalenz des Endlichen sein“ (Vorrede, Abs. 5/ 3.14).4 Der systematische Grundbegriff für die Darstellung dieser ‚Wirklichkeit‘ des Wissens wird von hier an für Hegel der Begriff des Subjekts. Es ist doch höchst bemerkenswert, dass Hegel erst im Abs. 25 der Vorrede den Begriff des Geistes einführt – immerhin den Begriff, von dessen ‚Erscheinung‘ das ganze Werk handeln soll –, und dass er diesen Grundbegriff des Geistes ausführlich vorbereitet durch die Explikation der Momente und Konsequenzen des Subjekts bzw. der vielzitierten These, das Wahre sei „nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (Abs. 17/ 3.23). Worum es wesentlich geht, ist, alles Endliche, also alles Werden, somit alle Veränderung und Entwicklung durchgängig als die Negativität eines und desselben zu denken und darzustellen, denn dieses Selbe muss sich verschieden gestalten (vgl. Abs. 15/ 3.21), so dass es als „sich vollendende[s] Wesen“ erst „das Ganze“ und als solches „Resultat“ ist, also erst „am Ende das ist, was es in Wahrheit ist“ (Abs. 20/ 3.24). Diese absolute, weil selbstbezügliche Negativität ist die Wirklichkeit des Subjekts; und dessen begrifflich zu bestimmende Entwicklung ist die innerphilosophische Aufgabe, die Hegel 1807 vor sich sieht und konzipiert. Aus dieser Subjektivität entwickelt Hegel die Grundbestimmungen seiner spekulativen Philosophie bzw. der „Natur“ des „Erkennen[s] der absoluten Wirklichkeit“ (Abs. 16/ 3.22); und das heißt: • Dass der absoluten Wirklichkeit die Vermittlung und Reflexion immanent sei, weil sich allein dadurch das Wesen als selbstbewusste Vernunft und als Selbstbewegung der Form realisiere; 4

Die Werke Hegels werden zitiert nach der Theorie Werkausgabe (GW). Hrsg. von K. M. Michel und E. Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969 ff. nur mit Bandzahl.Seitenzahl; dabei werden folgende Abkürzungen benutzt: PhG = Phänomenologie des Geistes; WdL I, II: Wissenschaft der Logik, Band I, II; Enz = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.

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Klaus E. Kaehler • dass also diese Entwicklung die Selbstentfaltung sei, die in ihrer Unmittelbarkeit bereits die Negativität des Werdens habe, die „Unruhe“, welche das Selbst ist (Abs. 22/ 3.26); so dass, auf das immanente Telos der Selbstverwirklichung bezogen, die Vernunft „das zweckmäßige Tun“ (ebd.) ist; und • dass schließlich dieses Verwirklichen als Sich-Wissen ein in sich geordnetes Ganzes oder System des Wissens sein muss; • und dies alles, fährt Hegel fort: „[d]aß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subjekt ist“, „ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, der der neueren Zeit und ihrer Religion angehört.“ (Abs. 25/ 3.28)5 Welche Philosophie daraus wurde, ist (zumindest nominal) bekannt: die Philosophie, die zunächst als „Darstellung des erscheinenden Wissens“ auftritt, welche zugleich – von unten – die Bildung des Bewusstseins, der „absolute[n] Form“ (Abs. 26/ 3.30 ob.), zu seinem an und für sich wahren Inhalt ist; dann, vom Resultat dieser Darstellung aus, dem „sich in Geistesgestalt wissende[n] Geist“ 5

Das so eingeführte Subjekt aber ist nicht nur der endliche Pol zu einer selbständig entgegenstehenden anderen Realität (wie im Bewusstseinverhältnis, als das der Geist erscheint), sondern dem zuvor in der Tat „der vermittelnde Prozess der sich bedingungsfrei produzierenden Selbstbeziehung“, (Habermas, Jürgen. Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, im Folgenden zitiert als DM). Da jedoch diese Selbstbeziehung in ihrer Totalität die Form des Sich-Wissens hat, ist sie Geist: Subjekt in absoluter Bedeutung; und so ist dies Hegels entwickelter Begriff des „Absoluten“. Statt wie Habermas (hier mit D. Henrich) sagt, das Absolute sei „weder Substanz noch Subjekt“ (ebd.) – wobei dann ‚Subjekt’ nur das endliche sein kann –, wäre zu sagen, es sei sowohl Substanz als auch Subjekt, allerdings so, dass dieses „die entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit“ der Substanz ist (Enzyklopädie §213 Anm.: 8.368), wie die schon herangezogenen Absätze 17-26 der PhG (von 1807) auch bereits unmissverständlich ausgeführt haben. Zu diesem übergreifenden Begriff des Subjekts s. auch Enzyklopädie §213, Ende der Anm.; §215 und Anm.; Vorlesungen über die Ästhetik I: 13.129 (u.a.).

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Die Ambivalenz des Endlichen (3.582), die Entwicklung der „reinen Wesenheiten“ (5.17), des Logos in sich selbst, dessen Realität seine Bestimmtheit ist; dann darüber hinaus die absolute Entäußerung dieses in sich vollendeten Logos, der ‚absoluten‘ logischen Idee – ihr Außersichsein und Anderssein als Natur und die stufenweise Aufhebung dieses äußeren Unterschieds durch seine Transformation in die Unterscheidungen in sich, d. h. die bestimmten Begriffe, in denen die Idee sich nicht nur als das Wahre in allem Endlichen bewährt,6 sondern damit auch dieses Endliche selbst, jedenfalls prinzipiell, zum notwendigen Moment des Wahren macht. Allerdings ist diese Erhebung des Endlichen in die spekulative Wahrheit eine Evaluation ‚von oben‘, sie ist nicht im Endlichen simpliciter und schlechthin begründet.7 Sie folgt vielmehr aus dem positiven Resultat der Dialektik des Endlichen und des Unendlichen. So beruht auch der affirmative Kern in Hegels philosophischer Deutung und Evaluation des Endlichen in den Sphären der Natur, des subjektiven und des objektiven Geistes, also der Geschichte und des in ihr möglichen Lebens der Menschen, auf Prämissen, die gelten, nicht weil 6

So kann Hegel für den Geist, als die in Allem sich setzende und bewährende Idee, sagen: „. . .die Kraft des Geistes ist [. . .], in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu bleiben. . .“ (3.588). Das „Alles“, worin die Idee sich zu setzen und zu bewähren hat, entspringt keiner fremden Macht außer der Idee und ohne sie, sondern es ist nur da als die nicht gesetzte, unmittelbar äußere, negative Kehrseite der in sich vollendeten logischen Idee, als permanent mit dieser Vollendung erzeugtes Anderssein der Idee. 7 Im Endlichen selbst liegt zunächst seinem Begriff nach nur die negative Seite der ‚Aufhebung‘ – es ist „der Widerspruch seiner in sich; es hebt sich auf, vergeht.“ (5.148) Erst die Reflexion in sich dieses „Negativen überhaupt“, welches das Endliche seinem (spekulativen) Begriff nach ist, eröffnet die affirmative Seite: „das Negative des Negativen“; denn „das Endliche [ist] in dem Vergehen nicht vergangen“, es geht darin vielmehr „mit sich selbst zusammen“ (ebd.) – d. h. es bezieht sich, als Endliches, negativ auf sich; als diese Negation seiner selbst aber ist es das Unendliche, das dem Endlichen zuerst wieder nur entgegengesetzt ist. – Zur ausführlicheren Darstellung der Dialektik von Endlichem und Unendlichem und deren affirmativer Synthese im spekulativen Begriff der „wahrhaften Unendlichkeit“, diesem „Grundbegriff der Philosophie“ (Enz §95 Anm.: 8.203), sei verwiesen auf Verf. (2010), S. 541-559.

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Klaus E. Kaehler sie aus realgeschichtlichen Erfahrungen gewonnen sind, sondern als metaphysische Theoreme, durch welche die „Welt“ als das Ganze der Erscheinungen aus einer übergeordneten Ebene betrachtet und begriffen werden soll. Wer das ignoriert oder sich dieser Sichtweise von vornherein verweigert,8 mag sich wundern, oder als berechtigter Kritiker fühlen, – denn ohne Zweifel ist z. B. Th. W. Adornos Vorwurf der „Überweltlichkeit des Weltgeistes“9 berechtigt, wenn nichts als das Weltliche Wahrheit haben soll. Aus der Sicht Hegels ist das jedoch gerade die unzulässige Voraussetzung, die zu überwinden wesentlich und letztlich das Ziel aller Bildung und insbesondere die Aufgabe der Philosophie sei. Dieser gesamtphilosophische Blick auf das Endliche überhaupt – das auch nach Hegel dem Bewusstsein, also dem Geist in seinen selber endlichen Formationen, als ein Gegebenes erscheint –, ist es, der die Verselbständigung des Endlichen, seine Fixierung gegen seine Aufhebung in die Idealität, gerade als Verfehlung seiner wahren Bedeutung zu denken verlangt. Diese Verfehlung aber ist immanent betrachtet genau die Verfehlung der spekulativen Grundstruktur dessen, was bei Hegel Subjekt heißt, nämlich „die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich 8

Die Hegel-Aneignungen der Moderne, mögen sie sich „kritisches Weiterdenken“ nennen oder „Aktualisierung“ oder auch „Reaktualisierung“, zahlen unvermeidlich – wollen sie nicht ihrer Modernität verlustig gehen – mit der Preisgabe des systematischspekulativen Sinnes der „Idealität des Endlichen“. Hierin kommt nur konsequent zum Ausdruck, dass der streng immanent gedachte Hegel mit den philosophischen Zielen der nachmetaphysischen Moderne nicht vereinbar ist, - was nicht ausschließt, dass Hegel auch für Einsichten innerhalb der endlichen Sphären diesseits der spekulativen Sinngebung aus dem Ganzen gut ist; doch konsequent gedacht, bleibt es dabei, dass sich der volle Sinn solcher Einsichten nur im Zusammenhang des Ganzen erschließt. Losgelöst davon führen die scheinbar in die Moderne weisenden Einzelideen und -einsichten, wenn aus ihnen eine „Reaktualisierung“ (z.B. der Rechtsphilosophie) gewonnen werden soll, jedenfalls nicht zur Einsicht in das, was die Philosophie Hegels zu denken gibt und was sie zu den entsprechenden Sachthemen zu sagen hat. 9 Negative Dialektik. In: Gesammelte Werke. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970 ff. hier: S. 317-320.

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Die Ambivalenz des Endlichen selbst“ (Vorr. Abs.18/ 3.23).10 Diese Grundstruktur artikuliert sich systematisch in der immanenten Logizität des absoluten Subjekts. Das bedeutet (das sei hier wenigstens für die drei Makroebenen der Logik angedeutet): 1. Seinslogisch: Das Endliche und das Unendliche sind die Momente, die sich ineinander aufheben und nur in diesem Prozess sind, in welchem das Unendliche „sich herabsetzt, nur eine seiner Bestimmungen, dem Endlichen gegenüber und damit nur eines der Endlichen zu sein, und diesen Unterschied seiner von sich selbst zur Affirmation seiner aufzuheben und durch diese Vermittlung als wahrhaft Unendliches zu sein.“ (5.163). Indem also das Unendliche in sich selbst von sich unterschieden ist, ist es verendlicht. Zugleich aber erhält und affirmiert es sich in dieser Selbstnegation als das Negierende und ist nur so das wahrhaft Seiende, das Ens a se, in welchem das Endliche ‚gerettet‘ ist als ‚aufgehoben‘.11 2. Wesenslogisch: Das Wesen, die ‚Wahrheit des Seins‘, nämlich die Unmittelbarkeit als absolute Negativität, reflektiert sich in seiner Existenz und Erscheinung in sich zur Wirklichkeit der „Substanz“, als „Totalität der Akzidenzen“ (Enz §151: 10.194). 10 Der ganze Satz lautet: „Die lebendige Substanz ist [. . .] das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen“ etc. 11 Allerdings ist dieses Ens nun nichts anderes als der genannte selbstbezügliche Prozess, für den nicht mehr sinnvoll gefragt werden kann: „wie das Unendliche aus sich heraus und zur Endlichkeit komme“ (5.168f.); denn das Unendliche „ist für sich selbst schon ebensosehr endlich als unendlich“ (5.170), und die Antwort auf die Frage wäre nur, „dass das Unendliche ewig zur Endlichkeit herausgegangen, dass es schlechthin nicht ist, sowenig als das reine Sein, allein für sich, ohne sein Anderes an ihm selbst zu haben“ (5.171). Dies ist der Sinn der „Idealität“ des Endlichen, dass es nur „ist“ im Unendlichen: „Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus als Philosophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen.“ (5.172)

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Klaus E. Kaehler 3. Begriffslogisch: Das Allgemeine bestimmt sich zum Besonderen, setzt in dieser Negation seiner sich als das Negative, das mit sich identisch ist in aller Bestimmung als das spekulativ gedachte Einzelne. In diesen dialektischen Begriffsentwicklungen der Wissenschaft der Logik sind es die jeweils zweiten Glieder, aus deren Fixierung und Isolierung gegen ihre dialektisch zu vermittelnde Position zwischen dem ersten und dem dritten Schritt nicht nur der Standpunkt der Endlichkeit als solcher, sondern auch seine Fixierung und Sperrung gegen seine Aufhebung zu begreifen wäre. Das gilt a fortiori in der Sphäre der Realphilosophie, also auf dem Felde der Entäußerung der in sich vollendeten logischen Idee. Hier ist die Endlichkeit nicht nur eine logisch unselbständige Bestimmtheit des Begriffs als solchem, sondern sie resultiert aus einer Differenz zwischen Begriff und Realität, deren Einheit und damit Wirklichkeit die Idee ist.12 Deshalb treten auf den jeweils zweiten Stufen der realphilosophischen Begriffsentwicklungen auch die Gegenstände und ihr jeweiliger Begriff 12

So heißt es in der Einleitung zum 3. Abschnitt („Die Idee“) der „Lehre vom Begriff“ (WdL, Zweiter Teil): „Die endlichen Dinge sind darum endlich, insofern sie die Realität des Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen, – oder umgekehrt, insofern sie als Objekte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äußerliche Bestimmung an ihnen haben.[. . .] Daß die Idee ihre Realität nicht vollkommen durchgearbeitet, sie unvollständig dem Begriffe unterworfen hat, davon beruht die Möglichkeit darauf, daß sie selbst einen beschränkten Inhalt hat, daß sie, so wesentlich sie Einheit des Begriffs und der Realität, ebenso wesentlich auch deren Unterschied ist.“ (6.465) Die Idee also ist wesentlich auch der Unterschied von Begriff und Realität, d. h. es gibt Realität, die die Idee „unvollständig dem Begriffe unterworfen hat“. Diese Differenz folgt im Grunde aus der Entäußerung der als logische in sich vollendeten Idee. Es ist festzuhalten, dass damit die Idee gleich wesentlich in sich wie außer sich ist. Nur dem spekulativen Wahrheitsbegriff und -anspruch ist es zu verdanken, dass nur die eine Seite, nämlich die Idee, soweit sie an der ihr äußeren Realität ihre (begreifende) Bestimmungsmacht auszuüben vermag, die „wahre Wirklichkeit“ zu sein hat. Dennoch ist sie auch zugleich, aber ex negativo, alles dadurch „frei gelassene“ Anderssein, die begriffsindifferente und insofern begrifflose Realität, ohne die kein Endliches da ist, deren Bestimmtheit als solche aber nicht durch die Idee gesetzt ist.

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Die Ambivalenz des Endlichen auseinander. Bildet so der objektive Geist, dessen universale Gestalt der sog. Weltgeist ist, die zweite Stufe zwischen dem subjektiven und dem absoluten Geist, so impliziert diese Stellung die Endlichkeit aller seiner Realisationen. Diese Endlichkeit ist unüberwindlich, insofern der Geist sich eben bloß objektiv wird, das heißt, seinen an sich absoluten Gehalt in Gestaltungen des Andersseins, in der Existenz zugleich von ihm auch verschieden, realisiert. So notwendig der subjektive Geist über sich, seine Innerlichkeit hinaustreibt, um seinen inneren Gehalt objektiv vor sich zu bringen, gegenständlich zu machen, so notwendig bleibt dieses differentielle Verhältnis des Geistes zu sich „auf dem Boden der Endlichkeit“ (Enz § 483/ 10.303). Ist also der Geist als objektiver insgesamt und damit auch noch als Weltgeist die Erscheinung seines absoluten Wesens, so ist seine Welt behaftet mit Unangemessenheiten zum Begriff, wie es alle bloße Naturbestimmtheit und Zufälligkeit ist. Auf dieser weltlichen Ebene realisiert der Geist sich als Weltgeist nur im Nacheinander der Zeit und im Außereinander des Raumes. Damit partikularisiert sich die weltliche Existenz des Geistes zu relativ selbständigen Einheiten von Institutionen, Sitten und kulturellen Besonderheiten. Durch diese Einheiten, die sogenannten ‚Volksgeister‘, hindurch vollbringt der Weltgeist seine Erscheinung. Das ist die Weltgeschichte. So aber hat diese, als Erscheinung des Wesens, nicht allein in ihrer Weltlichkeit als solcher ihren Inhalt und Zweck. Ist vielmehr das Wesen des Geistes die Freiheit, so ist die Geschichte deren objektive Verwirklichung für das Bewusstsein der Freiheit, wie es im subjektiven Geist aufgeht und sich im Handeln und in der Gestaltung der objektiven Freiheitsbedingungen entwickelt. Diese Geschichte als Erscheinung zu begreifen, heißt demnach auch, die gesamte Masse der Taten und Begebenheiten, die res gestae, welche die Geschichte ausmachen, nicht für eine unhintergehbare, absolute Wirklichkeit zu halten. Vielmehr 129

Klaus E. Kaehler liegt in dem reflektierten Verhältnis des Subjekts zur Geschichte, welches diese als Erscheinung und Gesetztsein begreift und zu erfahren vermag, bereits ein Hinausgehen darüber. Dadurch ist letztlich auch noch das Endliche der Geschichte als ‚ideell‘ zu begreifen. Diesem Hinausgehen entspricht innersystematisch der Übergang des objektiven in den absoluten Geist als ein Rückgang der Erscheinung in ihren Grund, der, so reflektiert, auch gesetzt ist als das Aufhebende in seiner Erscheinung als dem Begründeten. – Hier aber stellt sich die entscheidende Frage, was in dieser Aufhebung aus dem Endlichen wird – dem Endlichen mit seiner Zufälligkeit und Partikularität?

2. Von der endogenen Krisis des absoluten Subjekts zum dezentrierten Subjekt der Moderne Als Moment des Absoluten kommt dem Endlichen ein Wahrheitsgehalt zu, der sich genau nur seiner Begreifbarkeit, weil an sich begrifflichen Bestimmung verdankt. Nur darin vermag der Geist als Grund seiner Erscheinung (und ihres Gegensatzes) sich zu erkennen und zu affirmieren. Damit tritt also am Endlichen als solchem die genannte Ambivalenz ein, dass an ihm zu unterscheiden ist zwischen den Bestimmtheiten, die zur Einordnung in den universalen Vermittlungszusammenhang der spekulativen Wahrheit tauglich sind, und denen, die es nicht sind. Dass Hegel selbst diese Differenz am Besonderen (im Endlichen überhaupt sowie in Existenz und Erscheinung) reflektiert, aber sogleich gemäß der „Vormacht des Allgemeinen“ (Adorno) bewertet, zeigt z. B. die Feststellung in der Vorlesung „Die Vernunft in der Geschichte“: „[. . .] es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist.“13 Diese Ambivalenz wird mit 13

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. von J. Hoffmeister. 5. Aufl. Hamburg: Meiner, 1955, S. 105.

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Die Ambivalenz des Endlichen ihrer spekulativen Bewertung in aller Deutlichkeit auch im Kapitel „Der besondere Begriff“ in der Wissenschaft der Logik ausgesprochen: Der Begriff ist die absolute Macht gerade darum, daß er seinen Unterschied frei zur Gestalt selbständiger Verschiedenheit, äußerlicher Notwendigkeit, Zufälligkeit, Willkür, Meinung entlassen kann, welche aber für nicht mehr als die abstrakte [!] Seite der Nichtigkeit genommen werden muß. (6.283)

Die hiermit ausgesprochene, entgegengesetzte Wertung der beiden Seiten der Ambivalenz des Endlichen bringt jedoch das Dasein jenes ‚Nichtigen‘ nicht zum Verschwinden – im Gegenteil, sie setzt es sogar voraus als das zu Bewertende, an dem die Macht des Begriffs sich immer erneut zu bewähren hat. So werden im Ganzen beide Seiten immer zumal realisiert, da sie nur zusammen die vollständige ‚Bewährung‘ der absoluten Idee in aller Äußerlichkeit ausmachen. So beruht also diese Bewährung nicht nur auf der Unterscheidung zwischen dem begrifflich Bestimmbaren und dem Begriffsungemäßen, gegen den Begriff Indifferenten, sondern auch auf der mit dieser Unterscheidung prinzipiell mit zu vollziehenden Ausschließung, ‚Nichtigung‘ des Begriffsungemäßen; und damit auf einer Grenzziehung, die eo ipso, permanent und durchgängig, mit allen wahrheitsrelevanten Begriffsbestimmungen vollzogen wird. In der Ambivalenz des Endlichen liegt somit zugleich eine ‚Krisis‘ des Prinzips der absoluten Subjektivität. Diese konstituiert, erhält und vollbringt sich nur mittels der unausweichlichen Stellung zu dem mit der Entäußerung frei gesetzten Anderssein. Ihre Vollzugswirklichkeit ist in sich ‚kritisch‘: permanent unterscheidend und bewertend in ihrer Beziehung auf das Seiende. Damit gehört zu dieser Subjektivität nicht nur deren aktuale Totalität, das spekulativ wahre Ganze, sondern zugleich, aber ex negativo, ihr absolutes Anderssein. Gerade in der höchst adäquaten Form, zu der die Idee gelangt, indem sie in aller Äußerlichkeit und 131

Klaus E. Kaehler Endlichkeit sich setzt und vollbringt als deren Wahrheit, also in ihrer Vollzugswirklichkeit als absoluter Geist, worin zuletzt alle Äußerlichkeit, sogar die Zeitlichkeit ‚getilgt‘ ist, – gerade in dieser ‚höheren‘ Wahrheit alles Endlichen verschließt sich das Subjekt vollendet gegen alles ihm ungemäße und indifferente Dasein, gegen die Seite des Faktischen in allem Endlichen, gegen das in allen Unmittelbarkeiten Verschwindende, das dennoch nicht Nichts ist, sondern der spekulativen Erkenntnis – immerhin – das ‚Nichtige‘. Das Sichverschließen des absoluten Geistes gegen das Nichtige überhaupt ist zugleich der höchste und umfassendste Abstoß, die äußerste Abstraktion von allem zu ihm Negativen. Da dem Nichtigen in seiner faktischen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit kein Begriff angemessen ist, ist sein Ausschluss nicht als bestimmte Negation zu vollziehen – wodurch er der spekulativen Logik integrierbar wäre. Die dieser Logik folgende Aufhebung des Endlichen erfasst es selbst streng nur in seinem Begriff , und ebenso in den höherstufigen Begriffen des Zufälligen und des Besonderen. Nur darin ist das absolute Subjekt sich selbst kompatibel, ‚geht mit sich zusammen‘. Für dasjenige jedoch, was daran auszuschließen sei als gleichgültig für die Wahrheit, bilden diese Begriffe nur Leerformen, in die die nicht antizipierbaren empirischen Qualitäten und Werte einzutragen wären, die jedoch nur von einem selber empirisch-endlichen Subjekt erfasst werden können. Gerade weil im absoluten Geist die Verschließung gegen alles Anderssein vollkommen und restlos ist, kann vom Ausgeschlossenen kein Rückstoß mehr auf das Subjekt erfolgen – wie in allen endlichen Subjekt-Objekt-Verhältnissen. Dass dennoch dies Ausgeschlossene bleibt – als permanentes Werden, als Veränderung, Vergehen und Entstehen in endlosem Wechsel von Bestimmtheiten ohne Begriff – das geht den absoluten Geist als solchen nichts mehr an. Diese Souveränität gegenüber demjenigen, was in aller wahren, d. h. be132

Die Ambivalenz des Endlichen greifbaren Realität dem Begriff ungemäß bleibt, verdankt das Subjekt als absoluter Geist nur der bereits in sich vollendeten absoluten Idee, der ‚reinen Wahrheit‘; denn darin besteht die gegen und an dem empirischen Stoff und genauer an seinen Kategorien und Reflexionsbestimmungen erwiesene Absolutheit des Begriffes, daß derselbe nicht, wie er außer und vor dem Begriffe erscheint, Wahrheit habe, sondern allein in seiner Idealität oder Identität mit dem Begriffe. (WdL II: 6.264)

Damit ist gesagt: Der „empirische Stoff“ ist da, aber zur Wahrheit taugt er nicht, „wie er außer und vor dem Begriff erscheint“, nämlich dem endlichen, selber empirischen Bewusstsein. Zum einen wird hiermit die Ambivalenz des Endlichen als Differenz am „empirischen Stoff“ ausgedrückt, nämlich erstens „wie er außer und vor dem Begriffe erscheint“ und zweitens „in seiner Wahrheit“, d. h. „in seiner Identität mit dem Begriffe“. Zum andern aber wird hiermit in aller Kürze noch einmal ausgesprochen, dass die Entscheidung der endogenen Krisis des als ganzem sowohl endlichen als auch unendlichen, absoluten Subjekts zugunsten des Begriffs feststeht. Dass, wie bereits ausgeführt, die ‚nichtige‘ Seite am Endlichen mit dieser Entscheidung jedoch nicht überhaupt verschwindet, annihiliert wird, wird auch hier eigens betont, indem Hegel fortfährt, es sei der Begriff, der die endliche Realität – mit diesen beiden Seiten! – „erzeugt“, und zwar „aus sich“ (ebd.). Denn die reine, innerlogische Vollendung des Begriffs zur Idee, die als Selbstentfaltung der ‚absoluten Form‘ von nichts außer sich abhängt, bleibt doch „formelle Wissenschaft“ (ebd.)14 , so dass der Begriff „durch die in ihm selbst 14

Diese produziert, eben als Wissenschaft der ‚absoluten Form‘, ihre Realität bereits in sich selbst, nämlich in den „unterschiedenen Bestimmungen der Begriffe“, welche den „Inhalt“ der Logik ausmachen: „Der Begriff [. . .] hat in dem Momente seiner Negativität oder des absoluten Bestimmens die unterschiedenen Bestimmungen; der Inhalt ist überhaupt nichts anderes als solche Bestimmungen der absoluten Form, – der durch sie selbst gesetzte und daher auch ihr angemessene Inhalt.“ (WdL II: 6.265)

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Klaus E. Kaehler gegründete Dialektik zur [äußeren] Realität so übergeht, daß er sie aus sich erzeugt.“ (Ebd.) Hiermit wird also der Übergang der absoluten Idee in ihre Entäußerung, ihr ‚absolutes Anderssein‘ und dessen kontingent mannigfaltige, nichtantizipierbare Bestimmtheiten, angesprochen, wodurch die Idee zur Schöpferin der Natur wird und zur Form einer konkreten Unmittelbarkeit überschreitet, deren Begriff aber auch diese Gestalt wieder zerbricht, um zu sich selbst, als konkreter Geist, zu werden. (WdL II: 6.265)

Das bedeutet also auch, dass dieses gesamte ‚Erzeugen‘, soweit es vom Subjekt (qua Idee und dann Geist) ausgeht, für dieses seine gestufte Selbstkonstituierung ausmacht. Auf allen Stufen vor dem absoluten Geist aber gehört zu diesem ‚Werden zu sich‘, nämlich des Begriffs „zu sich selbst, als konkreter Geist“ (s. Zitat), nicht nur die Identität der empirischen Realität mit ihrem Begriff, sondern auch deren Nichtidentität, die einheitslose Vielheit des Endlichen als solchem, des Endlichen also, insofern es „außer und vor dem Begriffe“ da ist. Was genau „erzeugt“ wird „durch die in ihm [sc. dem Begriff] gegründete Dialektik“ (a.a.O., 264), ist also zwar die endliche Realität überhaupt, das Anderssein der Idee als eine eigene Sphäre von Seiendem, nicht aber die darin erscheinende Mannigfalt und qualitative Diversität telle quelle. Dass solches überhaupt da ist, ist somit zwar die Folge der Entäußerung und damit der Selbstvollendung der logischen Idee. Es ist jedoch im Besonderen nicht gesetzt durch eine Tätigkeit der Idee bzw. des Subjekts, sondern geschieht nur unvermeidlich Schon in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) wurde die ‚absolute Form‘ eingeführt als Begriff für das Wesen der Subjektivität, die nämlich als „Gewissheit ihrer selbst“ sich an allen Bestimmungen ihrer Gegenstände als selbstbezügliche Negativität durchhält. Dort allerdings erscheinen im Unterschied zur Logik die gegenständlichen Bestimmungen zunächst und auf jeder Stufe des „erscheinenden Wissens“ als gegebene, um erst in der von diesem Bewusstseinsgegensatz gelösten Form des Wissens als immanenter, „daher auch angemessene[r] Inhalt“ erkannt zu werden.

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Die Ambivalenz des Endlichen mitfolgend mit dem vollendeten Resultat der internen Dialektik des Begriffs, der sich in diesem Resultat eo ipso in sich reflektiert und damit von sich als Totalität unterscheidet. Die damit gesetzten beiden Seiten dieses Gesamtsubjekts sind also auf verschiedene Weise aneinander gebunden: Einerseits findet sich das Subjekt im höchsten Resultat seiner logischen Selbstbestimmung – zugleich mit dem Eintreten des ‚Andersseins der Idee‘ – konfrontiert mit einer begrifflich unbestimmten äußeren Vorgabe, die es nur durch das Endliche hindurch, je partikular und unvollständig, sich innerlich machen und bestimmen kann im Empfinden, Wahrnehmen, Vorstellen, Reflektieren und Begreifen. Andererseits aber kann dieses unbestimmte Anderssein dem bestimmenden Zugriff des Subjekts (der Idee, der bestimmten Begriffe und ihrer spekulativen Dialektik) auch nie ganz entkommen. Es bleibt insgesamt, als Anderssein der Idee, ontologisch gebunden an den Subjektprozess, als welcher die Idee ihren Wahrheitswert an und in der Äußerlichkeit zur Geltung bringt – ohne dass die Bestimmungsmacht des Subjekts die Differenz zum Anderssein im Besonderen der begriffsindifferenten Realität anders als durch den Machtspruch des spekulativen Wahrheitsanspruchs: die ‚Nichtigung‘ überwinden könnte. Die Abstraktheit dieser Negation entspricht der Abstraktheit des ‚Erzeugens‘ der Realität außer und vor dem Begriff. Dass die logische Idee bzw. der Begriff überhaupt über sich hinausgeht, ist begründet „wesentlich darin, daß der Begriff in seiner formellen Abstraktion sich als unvollendet zeigt und durch die in ihm selbst gegründete Dialektik zur Realität so übergeht, daß er sie aus sich erzeugt.“ (A.a.O.: 6.264) Diese Dialektik ist also nicht die innerlogische, sondern eine Dialektik des Begriffs in seiner Beziehung auf äußere Realität. Die über die ‚reine‘, logische Selbstvollendung hinaus geforderte Vollendung bezieht sich auf die ‚Realisierung‘ des Logischen an und in jener außerlogischen Realität, 135

Klaus E. Kaehler die überhaupt nur mit der Entäußerung der Idee da ist und die durch die Bestimmungsmacht des Begriffs zur absoluten Idee als das Wahre in allem zurückgeführt wird – eine Reduktion um den Preis der Nichtigung aller Realität außer und vor ihrer begrifflichen Fassung. Indem das Endliche in seiner empirischen und qualitativen Besonderheit, seiner Kontingenz und opaken Unmittelbarkeit einer spekulativen Wahrheit unterstellt wird, der zufolge es nur das Außersichsein der wahren Wirklichkeit ist, für diese jedoch keinen Unterschied macht, wird es nur ex negativo begriffen und begreifbar. In diesem Verhältnis des Absoluten zu seiner ambivalenten Endlichkeit, mit den zwei Seiten der Selbstsetzung und der Nichtigkeit, liegt also auch eine Ambivalenz der Vollendung als ganzer: In der gesamten Konstitution des Subjekts als Natur und Geist wird dessen Negation, als seine Äußerlichkeit, mitfolgend zum Dasein gebracht, zugleich aber von Stufe zu Stufe zunehmend abgewiesen, weil, was daran ‚Wahres‘ sei, in den bestimmten Begriffen der Realphilosophie zunehmend aufgehoben wird – bis zu dem bereits beschriebenen Punkt, an dem das Subjekt alle Äußerlichkeit zu sich überhaupt negiert, d. h. in nur noch abstrakter Negation sich von derselben befreit. Damit aber ist das Verhältnis des Subjekts zu dem Negierten, dem, wovon es sich befreit, nicht mehr das Verhältnis des Subjekts. Das Ausgeschlossene ist in dieser Relation seinerseits zugleich frei gelassen (vgl. WdL II, letzte Seite: 6.572). Gerade weil die Ambivalenz des Endlichen bereits von Anfang an systemimmanent zum Weg des Subjekts in diese (realphilosophische) Vollendung gehört, die erreicht ist, wenn es sich aus aller Beziehung auf Andersheit und Äußerlichkeit absolut in sich reflektiert, ist die Befreiung einerseits, nämlich von seiten des Subjekts, doch nur eine Verschließung, wie bereits ausgeführt wurde; und andererseits ist damit das aus dem spekulativen Wahrheitsanspruch Entlassene, Entbundene objektiv 136

Die Ambivalenz des Endlichen zugleich ebenso in sich reflektiert – und das heißt: Es muss, sofern es der Bestimmungsmacht des Begriffs nie vollständig unterworfen ist, sondern von diesem nur verworfen wird, gerade auch ohne, also ‚außer und vor‘ dem Begriff (und damit dem Subjekt) als eine Positivität anerkannt und mitgedacht werden. Damit wird also, was bei Hegel nur als das ‚Nichtige‘ gelten kann, positiviert15 – es wird gesetzt als gegebene, unableitbare Realität, ohne die der spekulative Wahrheitsanspruch erscheinen muss als eine Abstraktion, eine einseitige Loslösung von allem, was begrifflich weder ableitbar noch identifizierbar ist.16 Es ist somit der Absolutheitsanspruch des in und für sich vollendeten Subjekts, der mit dieser Positivierung des Nichtigen bestritten wird. Das Resultat der ‚Entäußerung‘ und ihre Konsequenzen für das Selbstverständnis des Subjekts müssen von Grund auf reformuliert werden: Indem das 15

Vgl. dazu Verf., „Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezentrierte Subjekt der Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart“. Festschrift für Claus-Artur Scheier. In: Metaphysik und Moderne. Hrsg. von D. Westenkamp und A. v. d. Lühe. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 177–193; sowie ders., „Das Unendliche im Endlichen. Feuerbachs anthropologische Verkehrung des spekulativen Wahrheitsanspruchs“. In: Religion und Philosophie im Widerstreit? Hrsg. von C. Bickmann, M. Wirtz und H.-J. Scheidgen. Studien zur Interkulturellen Philosophie 18. Nordhausen: Traugott Bautz, 2008, S. 93–102. 16 Zwar könnte dazu auf den ersten Blick daran erinnert werden (s. ob., Anm. 11), dass doch Hegel selbst bereits argumentiert hat, das Unendliche (Absolute) sei nicht, ohne das Endliche als sein Anderes an ihm selbst zu haben (WdL II, 5.171), so dass die Frage nach dem Ursprung dieses Anderen und damit der Differenz falsch gestellt wäre; aber sie wird doch implizit beantwortet, insofern die eine Seite absolute Priorität erhält: Es ist das Unendliche (die Substanz, der Begriff, das Subjekt), das sich ‚herabsetzt‘ zum Endlichen, darin jedoch zugleich auf sich bezieht, so dass das Endliche insgesamt das eigene Moment des Unendlichen ist (s. ob. S. 127, das Zitat aus WdL II: 5.163), also von diesem abhängig, permanentes Produkt seiner negativen Selbstbezüglichkeit. – Die Alternative hingegen ist, der Ursprungsfrage überhaupt durch die neutralisierende ‚Gleichursprünglichkeit‘ zu entgehen, so dass es kein Erstes gibt, sondern nur die ‚negative Einheit‘ wechselseitiger Bezogenheit und Voraussetzung. Als ‚ursprünglich“‘wäre dann nur noch die Differenz als solche zu begreifen, für die keine Seite hinreichende Bedingung ist. Dies ist die Grundstruktur der Subjektivität, wie sie sich aus der ‚Positivierung des (für Hegel) Nichtigen‘ ergibt, nämlich als prinzipielle und permanente Dezentrierung (dazu s. unten).

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Klaus E. Kaehler Subjekt als vollendete logische Idee sich ‚entlässt‘ und sich als ihr ‚absolutes Anderssein‘ frei lässt, reflektiert es sich auch als dieses Ganze ex negativo in sich – es wird sich selbst negativ, das heißt: äußerlich; und es wird im Besonderen sich selbst so unverfügbar wie das Andere seiner selbst ihm auch als eine unverfügbare Macht gegenübertritt. Keineswegs aber verschwindet darin das Subjekt überhaupt – vielmehr erwacht es erst aus seiner Idealität zu einer eigenen, unhintergehbaren Wirklichkeit, die es nur haben kann als endliches, das heißt in der nunmehr prinzipiellen Differenz: Nur soweit wie die Nichtantizipierbarkeit des Andersseins offen gehalten wird, insoweit also das Anderssein als solches unabsehbar ankommen kann im Subjektprozess, ist dieser noch prinzipiell realitätsmächtig. Dieser ‚Bruch mit der Spekulation‘ bestreitet also nicht nur die absolute Vollendung des Subjekts im hegelschen Sinne, sondern auch die Hierarchie der Stufen des Weges zu diesem Endziel. Von diesem aus gesehen beruht die Bestreitung zwar nur auf der erwähnten ‚Verfehlung‘ der spekulativen Grundstruktur (s. ob. S. 127), nämlich der Verselbständigung der nichtigen Seite am Endlichen gegen seine reduktive Aufhebung in einen höheren Zusammenhang. Doch wie sich zeigte, wird mit dieser Kritik nichts geltend gemacht, was nicht bereits zur immanenten Entwicklung des Subjekts gehört: dessen Bezogensein auf jenes mit der Entäußerung der Idee „frei gelassene“ Anderssein, das zwar in der Hierarchie des Aufstiegs zum absoluten Geist zunehmend auf die bestimmten Begriffe reduziert wird, aber dadurch in seiner Nichtidentität nicht schlechthin annihiliert werden kann. Es behält vielmehr in seiner Faktizität überall und durchgängig eine offene Seite, so dass es niemals mit der begrifflich bestimmten Totalität koinzidieren kann. In diesem differentiellen Verhältnis sich zu wissen und zu halten, macht das Leben des Subjekts in seiner Endlichkeit aus. War im Extrem der internen Selbstvollendung des 138

Die Ambivalenz des Endlichen Subjekts als Prinzip dessen reales Verhältnis zu jenem Anderssein schließlich vollkommen entleert und annulliert, so muss nach der Positivierung des Nichtigen dieses Extrem des Absoluten, da es nur die völlig abstrakte Form der Nichtbeziehung auf das Positivierte hat, im Gegenzug ebenso annulliert werden; was bereits grundsätzlich durch die Forderung geschieht, es müsse, um überhaupt Sinn und Bedeutung zu bekommen, in irgendeiner Form der Endlichkeit gefasst werden können. Damit ist nicht nur der Absolutheitsanspruch des spekulativen Begriffs suspendiert, sondern realphilosophisch auch der absolute Geist als höchste, eigentliche Wirklichkeit, auf die alles übrige Seiende bezogen und hingeordnet ist, als zugleich singuläres und universales Zentrum alles Seins und Geschehens. An seine Stelle treten in den diversen Philosophien nach Hegel unvordenkliche Instanzen, Faktizitäten oder Ursprünge, an die nicht nur das Erkennen, sondern dem zuvor überhaupt das gesamte Werden der endlichen Subjektivität gebunden ist, – heißen diese Instanzen nun Leiblichkeit und Sinnlichkeit, oder faktische Existenz, Geschichte und Ökonomie, Macht, Welt, Sprache, Nicht-Identität, Sein, der Andere, das Heterogene, die différance. . . Für17 dieses ganze, unmittelbar differentielle Grundverhältnis von Selbst und Anderssein steht, noch diesseits dieser neuen Bestimmungen des Anderen, welche die diversen Positionen der Moderne hervorbringen, der Begriff des dezentrierten Subjekts: Es ist weder selbst das in sich ruhende und geschlossene Zentrum für anderes, wie das absolute Subjekt der spekulativen Metaphysik; noch ist es, wie das hegelsche endliche Subjekt, in ein solches zentriertes Ganzes immer schon eingeordnet, zu dem es sich als zu seinem an und für sich wahren Bildungsziel denkend und handelnd – als ‚Geist vom 17

Der folgende Absatz ist mit geringen Änderungen übernommen aus: Verf. (2014), S. 384f.

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Klaus E. Kaehler Geiste Gottes‘ – erheben könnte. Seiner kritischen Genesis entsprechend ist es zwar als das vorherige Subjekt zu fassen, aber – hierin liegt die kritische Kontinuität – von Grund auf verwandelt, nämlich gebunden an und beschränkt auf seine endlichen Sphären: die Natur, den subjektiven und den objektiven Geist. In diesen irreduziblen Sphären der Endlichkeit hat es sich nun ohne jede Vorgabe, die darüber hinausginge, existenziell zu situieren, zu erhalten und zu bilden. Diese Sphären sind nicht mehr aufhebbar in eine höhere. Das Subjekt muss deshalb so gefasst werden, dass es zumal als natürliches, individuelles und soziales Subjekt existiert; und auch hierin waltet keine Hierarchie mehr, vielmehr ist das Subjekt gemäß diesen drei Parametern der Endlichkeit eingesetzt in drei verschiedene Qualitäten des Andersseins, dem das nach-metaphysische Subjekt unausweichlich, aber auch unhintergehbar ausgesetzt ist: Als diese negative Einheit existiert es,18 und so nur kann es ein bewusstes, erkennendes und selbstbestimmtes Verhältnis zur Andersheit erlangen. So sind Naturalität, Individualität und Sozialität des Subjekts die drei irreduziblen und gleichwertigen Dimensionen, in deren Spannung es seine Existenz auszulegen und auszutragen hat. Darin ist jede Dimension für jede andere eine unausweichliche Realität, die unaufhörlich mitwirkt an dem, was das Subjekt in den anderen Dimensionen seiner Existenz 18

Mit Recht stellt J. Habermas fest: „Die Junghegelianer“ „klagen das Gewicht der Existenz ein“ (DM, S. 68). Indem sie damit – dies ist ein Ausdruck für die ‚Positivierung des Nichtigen‘ – grundsätzlich den Bannkreis des Subjekt-Prinzips als Prinzip der Ersten Philosophie verlassen, ist der verbleibende ‚Hegelianismus‘ im Grunde eine Täuschung: Für ein „radikal [!] geschichtliches Denken“, das meint, „den nun disponibel gewordenen Reichtum an Strukturen“ und „Hegels Differenzierungsgewinne“ für sich „fruchtbar machen“ zu können, fällt die letzte und höchste Begründung dieses „Geistes der Welt“, dessen Entwicklung in der Zeit die menschliche Geschichte ist, weg – die Begründung in seiner eigenen Absolutheit im begreifenden Denken, welches die Zeit tilgt (PhG, 3.584, auch 590f.). Damit bleibt solche Philosophie unaufhebbar „auf dem Boden der Endlichkeit“ (Enz §483). Dies aber ist in der Tat der ‚Boden‘ der Moderne.

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Die Ambivalenz des Endlichen sein kann. Aufgrund der qualitativ unableitbaren Verschiedenheit dieser Dimensionen des dezentrierten Subjekts ist seine Existenz nichts als ihr Zusammenspiel, in mehr oder weniger starker, aber permanenter Veränderung und Verschiebung ihrer Relationen. Das dezentrierte Subjekt ist dieser Gesamtprozess, und in jeder Dimension realisiert es sich als ein Verhältnis zu einem Anderssein seiner selbst, der Signatur seiner Endlichkeit.

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