Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie - Untersuchungen zu Hegels jenaer Philosophie des Geistes 3495474145

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Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie - Untersuchungen zu Hegels jenaer Philosophie des Geistes
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Reihe: Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Norbert Hoerster, Karl-Heinz Ilting, Reinhart Maurer, Manfred Riedel, Robert Spaemann, Meinolf Wewel herausgegeben von Günther Bien und Karl Heinz Nusser Band 11

Ludwig Siep

Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes

Verlag Karl Alber Freiburg/München

Hinweise auf Hegel-Texte mit Siglen (S. 345 f.), Verweise auf Sekundärliteratur durch Autorennamen und Erscheinungsjahr. Vollständige Angaben im Literaturverzeichnis.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Unters. zu Hegels Jenaer Philosophie d. Geistes / Ludwig Siep. - Freiburg [Breisgau], München: Alber, 1979. (Reihe praktische Philosophie; Bd. 11) ISBN 3- 495-47414- 5

Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany ©Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 1979 Satz und Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-495-47414-5

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete und leieht gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Dezember 1975 der Philosophischen Fakultät I der AlbertLudwigs-Universität in Freiburg i. Br. eingereicht wurde. Ich habe in Seminaren und Diskussionen bei Werner Marx viel über Hegel und den Deutschen Idealismus gelernt. Danken möchte ich auch Klaus Düsing, Dieter Henrich, Rolf-Peter Horstmann, Heinz Kimmerle, Otto Pöggeler und Andreas Wildt für Gespräche, Anregungen und die Überlassung unveröffentlichter Manuskripte. Für unschätzbare Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts danke ich Ilse Dammschneider und Ingeborg von Appen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft leistete großzügige finanzielle Unterstützung. Freiburg i. Br., im März 1979

Ludwig Siep

Zur Erinnerung an meinen Vater Ludwig Siep (1912-1943)

Inhalt

Zeittafel Einleitung

11 14

/. Das Prinzip der Anerkennung

26

1. Der Begriff der Anerkennung bei Fichte 26 a) Die Deduktion der Anerkennung als transzendentale Bedingung des Rechtsbegriffs 27 b) Die Struktur der Anerkennung bei Fichte 32 2. Die Vorformen der Anerkennung in den Frankfurter Fragmenten 36 a) Liebe in den frühen Frankfurter Fragmenten 39 b) Vereinigung und Trennung im „Geist des Christenums" 43 3. Die Theorie der Anerkennung in den Jenaer Schriften 53 a) Die erste Stufe: Anerkennung als Synthese von Liebe und Kampf 54 a) Liebe 56 ß) Kampf 63 b) Die erste Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes 68 Exkurs: Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhundert 76 7

c) Die zweite Stufe: Anerkennung des „Ich" im „Wir" 86 A. Vereinigung und Auseinandersetzung des einzelnen mit dem allgemeinen Willen 88 B. Die Verwirklichung der Anerkennung im absoluten Geist 94 d) Die zweite Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie 97 A . Individuelles Handeln und vernünftige Wirklichkeit (Vernunft-Kapitel) 99 B. Entzweiung und Versöhnung von „Selbst" und „Substanz" (Geist-Kapitel) 104 a) Recht und Anerkennung in der Phänomenologie 106 ß) Anerkennung im „entfremdeten Geist" 108 y) Die E rfüllung der Anerkennung: Das Gewissen und die Verzeihung des Bösen 111 e) Zusammenfassung 121 Exkurs 129 4. Das Problem ~iner logischen Struktur der Anerkennung 131

//. Die Erneuerung der praktischen Philosophie in Hegels Jenaer Schriften 146

1. Praktische Philosophie beim jungen Hegel

147

2. Kritik des Naturrechts und Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie 156 3. Systemkonzeption und praktische Philosophie in Jena(1801-1803) 164 8

4. Die Theorie des Bewußtseins und das Prinzip der Anerkennung 178 5. Praktische Philosophie in der „späten" Jenaer Geistphilosophie (1805/ 1806) 191

///.Anerkennung und Erfahrung des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes 203 1. Phänomenologie und praktische Philosophie 205 2. Die „praktische" Seite der phänomenologischen Methode 209 3. Die Bedeutung der Anerkennung für die Methode der praktischen Philosophie in der Phänomenologie 219

IV. Praktische Philosophie, Geschichtsphilosophie und Sozialisationstheorie 223 1. Anerkennung und „System der Institutionen" 224 2. Anerkennung und Sozialisationstheorie 234 a) Sozialisation und Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins 236 b) Anerkennung und die Bedingungen vernünftiger Identitätsbildung 240 3. Praktische Philosophie und Geschichtsphilosophie 254 a) Praktische Philosophie als Geschichtsphilosophie? 256 b) Die „historische" Genese der Institutionen 259 c) Quietismus oder Kritik? 272

9

V . Anerkennung, Rechtsphilosophie und praktische Philosophie der Gegenwart 278

1. Die „Asymmetrie" der Hegelschen Anerkennungstheorie 278 2. Anerkennung in der Rechtsphilosophie von 1820 285 3. Praktische Philosophie ohne Teleologie Anmerkungen

299

Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

10

372

369

345

294

Zeittafel

Die für diese Untersuchung wichtigsten Schriften Hegels aus der Frankfurter und Jenaer Zeit (nach: G. Schüler, Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. In: Hegel-Studien, Bd. 2, Bonn 1963, 111159, und H . Kimmerle, Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften. In: Hegel-Studien, Bd. 4, Bonn 1967, 125-176, sowie ders., Die Chronologie der Manuskripte Hegels in den Bänden IV bis IX. Anhang zu Bd. VIII der Gesammelten Werke, Hamburg 1976):

1. Frankfurter Fragmente

Moralität, Liebe, Religion (Nohl 374-377): (Nach D. Henrich handelt es sich bei diesem Fragment um zwei verschiedene Texte - vgl. Hegel im Kontext, 1971, 63)

vor Juli 1797

Liebe und Religion (Nohl 377 bis 378):

Sommer 1797

Die Liebe (Nohl 378-3 82): (Erste Fassung)(Zweite Fassung) -

um Nov. 1797 Herbst/ Winter 1798

über die neuesten innern Verhältnisse Württembergs, beson11

ders über die Gebrechen der Magistratsverfassung: Fragmente zu „Der Geist des Christentums und sein Schicksal":

Fragmente von Entwürfen zum Anfang einer geplanten Kritik der Verfassung Deutschlands: Systemfragment von 1800 (Nohl 345-351):

vor August 1798

von Sommer/Herbst 1798 bis 1799; evtl. 1800

1799-1800 vor dem 14, 9. 1800

2. Jenaer Entwürfe und Veröffentlichungen Fragmente von Entwürfen zur Kritik der Verfassung Deutschlands:

Frühjahr bis Sommer 1801

Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten zur Einleitung in die Philosophie bzw. in die Logik und Metaphysik : ·

Herbst 1801

Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie:

vor Ende Juli 1801

Glauben und Wissen: Reinschriftfragmente zur Kritik der Verfassung Deutschlands( = Verfassungsschrift): Ober die wissenschaftlichen Be-

12

vor Juni 1802

Winter 1802/03 bis Frühjahr 1803

handlungsarten des Naturrechts( = Naturrechtsaufsatz): Reinschrifl:entwurf zum System der Sittlichkeit: Vorlesungsmanuskripte zum System der speculativen Philosophie ( = Systementwurf 1803/ 1804): Reinschrifl:fragment zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie ( = Logik und Metaphysik von 1804/ 1805): System der Wissenschaft, I. Teil, die Phänomenologie des Geistes:

Vorlesungsmanuskript zur Natur- und Geistphilosophie ( = Realphilosophie von 1805/ 06) :

vor Nov. 1802 Herbst bis Winter 1802/ 03

Sommer 1803 bis Winter 1803/04

Sommer 1804 bis Winter 1804/05

Mai 1805 (oder früher) bis Jan.1807

Herbst 1805 bis Sommer 1806

13

Einleitung

Die praktische Philosophie der Gegenwart ist von zwei Tendenzen geprägt: Zum einen versucht sie, Grundprinzipien oder „Grundnormen" 1 aufzustellen mit denen individuelles und soziales Handeln sowohl erklärt wie beurteilt werden kann. Zum anderen bemüht sie sich um eine Methode für die Analyse historisch gewordener Institutionen und Moralsysteme. Das wird an verschiedenartigsten Positionen der deutschen, nordamerikanischen und - für den zweiten Punkt - auch der französischen2 Philosophie deutlich. Die Schwierigkeiten mit dem ersten Punkt liegen darin, daß traditionelle Unterscheidungen der Philosophie und der Wissenschaften vom Handeln überwunden werden müssen: die Prinzipien der „herrschaftsfreien Kommunikation" (Habermas), der „Gerechtigkeit als Fairneß" (Rawls), der „vernüftigen Beratung" (Lorenzen) oder der „kommunikativen Freiheit" (Theunissen)S sollen sowohl für individuelles wie für soziales Handeln gelten ohne das eine gänzlich auf das andere zu reduzieren und sie sollen sowohl normativ-kritische wie deskriptiverklärende4 Funktion haben. Um für letzteres zwei sicher weit auseinanderliegende Beispiele zu geben: die (frühe) kritische Theorie beanspruchte, die Kritik eines gesellschaftlichen Systems bereits durch dessen Darstellung zu leisten - weshalb auch Grundbegriffe der Darstellung (z.B. „Aufklärung", „Identität", „Tauschgesellschaft") sowohl erklärenden wie normativen Charakter hatten. 14

Ahnlich will John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1975) mittels des Verfahrens der ursprünglichen (Entscheidungs-)Position und der in ihr gewählten Grundsätze die moralischen Urteile und die gesellschaftlichen Institutionen der konstitutionellen Demokratie sowohl erklären wie beurteilen (rechtfertigen und/oder kritisieren). 5 Diese Doppelfunktion der Prinzipien ist unerläßlich, wenn die praktische Philosophie ihre zweite genannte Aufgabe erfüllen will: die Institutionen6 einer Gesellschaft oder einer Epoche im Zusammenhang darzustellen und ihre historische Genese begreifbar zu machen. Wenn die Prinzipien zugleich die Grundlage einer solchen „ Theorie der Institutionen" sein sollen, dann müssen sie in einem zweifachen Sinn auf diese Institutionen beziehbar sein: einmal muß sichtbar werden, was die Entwicklung und Veränderung des sich in Institutionen „niederschlagenden" moralischen Bewußtseins (im weiten, rechtliche, religiöse und andere normative Vorstellungen umfassenden Sinn des Wortes) für diese Prinzipien selber bedeutet. Und zum anderen müssen die Prinzipien eine differenzierte Beurteilung konkreter Institutionen ermöglichen - sie dürfen ihnen nicht als unerfüllbare Sollensforderungen eines Ideals jenseits der Geschichte entgegentreten. 7 Gerade diese Aufgabe, solche Prinzipien zur Grundlage einer Theorie der Institutionen - und ihrer historischen Genese- zu machen, ist in der gegenwärtigen praktischen Philosophie aber noch nicht zufriedenstellend gelöst worden. Auf der einen Seite, weil die Prinzipien wieder den Status apriorischer Vernunftbegriffe erhielten - wie die (quasi-)transzendentalen Prinzipien Apels und Habermas' oder die Vernunfl:- und Moralprinzipien des Konstruktivismus. 8 Ein solcher Status setzt nämlich das 15

Studium der historischen Entwicklung der Moralsysteme entweder zu einer „strategischen" Untersuchung der Chancen für die Verwirklichung einer zeitlosen Vernunft herab, oder zu einer nachträglichen Rechtfertigung (bzw. Verurteilung) historischer Entwicklungen und Entscheidungen vor dem „Richterstuhl" einer ebenfalls geschichtsunabhängigen moralischen Vernunft. Auf der anderen Seite hat sich der Versuch von John Rawls, die wohlüberlegten Urteile und die Institutionen einer bestimmten moralisch-politischen Kultur als Resultate einer Entscheidungssituation von Personen darzustellen, die kein Wissen über die Geschichte besitzen, als Zirkelargument erwiesen: diese „Ableitung" gelingt nur, wenn das „reine" Bewußtsein der wählenden Personen bereits durch die Erfahrungen und Präferenzen von Mitgliedern der europäisch-amerikanischen Kultur nach Aufklärung (religiös-weltanschaulicher Pluralismus) und demokratischer Revolution (Vorrang individueller Freiheitsrechte) geprägt ist.9 Ich sehe einen doppelten Grund für diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistung der gegenwärtigen praktischen Philosophie: der eine ist, daß Prinzipien allgemein als formale Verfahren verstanden werden (Diskurs, Beratung, Vertrag; Entscheidungsverfahren), denen konkrete Normen, Werte, Institutionen etc. zur Prüfung unterzogen oder mittels derer sie sogar abgeleitet werden sollen. Der zweite ist darin zu sehen, daß die Prinzipien, nach denen alle Bereiche des Handelns und ihre Regeln und Institutionen dem Verstehen und Beurteilen zugänglich gemacht werden sollen, Idealisierungen oder Formalisierungen eines Typs von sozialem Handeln sind: der sprachlichen Kommunikation (Apel, Habermas, Konstruktivismus) oder des Austauschs von Zustimmungen (Vertragstheoretiker) 10 oder Besitzansprüchen (No16

zick) 11• Auch Dialog, Liebe, Arbeit sind Beziehungen und Handlungsformen, die bestimmte Bereiche, aber nicht das Ganze des geregelten Zusammenlebens und -handelns der Menschen bestimmen. Formale Strukturen, die aus besonderen Handlungsweisen „abstrahiert" sind, können keine Prinzipien für eine praktische Philosophie sein, die eine umfassende, prinzipiengeleitete Theorie der sozialen Institutionen sein will. Die These dieses Buches ist, daß die praktische Philosophie Hegels in Jena ebenfalls mittels eines zugleich normativen und erklärenden Prinzips ein System von Institutionen darzustellen sucht. Ihr Prinzip, das Prinzip12 „Anerkennung", scheint mir den Grundprinzipien und Grundnormen der gegenwärtigen praktischen Philosophie überlegen zu sein. Und zwar eben darum, weil Hegel die beiden genannten „Fehler" vermeidet. Prinzipien der praktischen Philosophie sind für Hegel keine formalen Verfahren bzw. Regeln, die man völlig unabhängig von der Darstellung der Institutionen und ihrer historischen Genese aufstellen könnte. Prinzipien sind für ihn vielmehr selber „ Genesen", nämlich Prozesse der Bedeutungsentwicklung. Diese Prozesse sind der Entwicklung und Veränderung der Institutionen, die Prinzipien verkörpern bzw. von ihnen bestimmt werden, immanent. Insofern sind Prinzipien in einem bestimmten Sinne selber „historische Genesen" 13 : Genesen ihrer eigenen Bedeutung. Was das heißt, wird die Untersuchung zeigen müssen. Mit dem Prinzip „Anerkennung" hat Hegel ferner nicht die Struktur eines besonderen Typs des Handelns oder der sozialen Beziehungen verallgemeinern wollen, sondern die Struktur eines Bildungsprozesses von einzelnem und gemeinsamem Bewußtsein anzugeben versucht, der die verschiedenen Interaktionsformen und sozialen Be17

ziehungen von Sprache, Arbeit, Liebe, Vertrag, Tausch, Recht usw. auf jeweils spezifische Art bestimmt. Die Weise, wie sich die Momente dieser Struktur in solchen Beziehungen „konkretisieren ", macht die Darstellung eines Systems der Institutionen und ihrer historischen Genese möglich. Es ist immer wieder bezweifelt worden, daß Hegel überhaupt über eine praktische Philosophie verfügt. Es gebe bei ihm, so wird behauptet, keine kritische Reflexion über die Normen des Handelns, sondern nur eine auf vergangenes Handeln bezogene Geschichtsphilosophie, deren Kategorien zudem durch die spekulative Logik festgelegt seien. 14 Ich werde zu zeigen versuchen, daß dies für die Jenaer Epoche des Hegelschen Denkens jedenfalls nicht gilt. Im Gegenteil: in ihr wird die praktische Philosophie in der Weite und Grundsätzlichkeit der aristotelischen Tradition erneuert, gegen ihre transzendentalphilosophische Kritik bei Kant und Fichte „rehabilitiert" und zugleich mit dem Kriterium dieser Kritik, dem transzendentalen Freiheitsbegriff, zu „versöhnen" gesucht. Gerade für diesen Versuch ist das Prinzip der Anerkennung von ausschlaggebender Bedeutung (vgl. unten Kap. II). Durch dieses Prinzip will Hegel den „modernen" Freiheitsbegriff mit den Grundzügen der Polis-sittlichkeit zusammendenken. ·Auf die Bedeutung der Anerkennung für die Jenaer Geistphilosophie Hegels haben vor einigen Jahren Jürgen Habermas und Manfred Riede! hingewiesen.1s Habermas hat sich auch bei seinen eigenen Versuchen, Grundnormen einer kritischen Gesellschaftstheorie zu bestimmen, wiederholt auf dieses Prinzip Hegels bezogen.16 Indessen kann erst jetzt, nach vielen Jahren gründlicher Forschung über Hegels Jenaer Schriften,17 die volle Bedeutung der Theorie (vgl. Anm. 12) der Aner18

kennung für die Jenaer Geistphilosophie und für die praktische Philosophie der Gegenwart erkannt werden. Habermas etwa ging noch davon aus, daß für die Entstehung des Hegelschen Geistbegriffes zwei verschiedene Konzeptionen maßgeblich seien, die noch in der Realphilosophie von 1805/ 1806 nebeneinander bestünden: des Geistes als „Zusammenhang der drei dialektischen Grundmuster" von Arbeit, Sprache und „Handeln auf Gegenseitigkeit" auf der einen Seite - und des Geistes als „monologische(r)" Selbstreflexion auf der anderen S~ite (1968, 37 ff.). Diese zweite Konzeption des Geistes, die an der „Erfahrung der Selbstreflexion des Bewußtseins" orientiert sei, setzt sich nach Habermas in den späteren „identitätsphilosophischen" Schriften Hegels endgültig durch ( 40). Dagegen läßt sich heute zeigen, daß Hegels Theorie des „Handelns auf Gegenseitigkeit" bereits seit 1803 ein bewußtseinstheoretisches Fundament hat. „Bewußtseinstheorie" ist aber bei Hegel von vornherein keine Theorie „reiner" Selbstreflexion im Sinne Fichtes, sondern Theorie eines Prozesses der Bildung des Bewußtseins in Interaktionsformen und Institutionen. Die Einheit - mit Hegel: Totalität - der „Grundmuster" dieses Prozesses ist das „Prinzip" Anerkennung. Um das zu sehen, muß man freilich verfolgen, wie Hegel den Gedanken der Anerkennung in der Analyse von „konkreten" Handlungs- und Bewußtseinsweisen (Liebe, Kampf, Rede und Arbeit usw.) einerseits und in der Auseinandersetzung mit seinem Ursprung in der Bewußtseinstheorie Fichtes andererseits entwickelt. Nur eine solche Betrachtungsweise ist imstande, die Einheit von Bewußtseinstheorie und „System der Sittlichkeit" in Hegels praktischer Philosophie der Jenaer Zeit adäquat darzustellen: der notwendige Zusammenhang dieses Sy-

19

stems gründet sich auf einen Prozeß der zunehmenden Verwirklichung von Anerkennung, der zugleich eine Folge von Selbstreflexionen bzw. „Erfahrungen" des Bewußtseins ist. Die Untersuchung der system-konstitutiven Bedeutung des Anerkennungsprinzips wird allerdings durch den Umstand erschwert, daß weder Hegels praktische Philosophie noch seine Theorie der Anerkennung in irgendeinem Text der Jenaer Zeit „fertig" vorliegt. Ganz abgesehen davon, daß die meisten Jenaer Texte nur Fragmente sind, entfaltet Hegel die Elemente einer auf das Prinzip der Anerkennung und auf die „Methode"18 der Erfahrung des Bewußtseins gegründeten praktischen Philosophie nicht nur nacheinander und mit verschiedener Akzentuierung, sondern auch so, daß in keinem Werk das ganze „Programm" ausgeführt erscheint. Das „System der Sittlichkeit" von 1802 zeigt bereits Anerkennung als gemeinsame Struktur verschiedener Handlungsweisen und Institutionen. Aber erst der Systementwurf von 1803/ 1804 verbindet den Prozeß der Anerkennung mit der Entwicklung des Bewußtseins zum Geist und entfaltet die ersten Ansätze einer Methode der Erfahrung des Bewußtseins als einer Folge von - durch Selbstprüfungen ausgelösten - Reflexionen. Die Realphilosophie von 1805/1806 bringt Anerkennung als teleologischen Prozeß zur Darstellung. Erst dadurch wird sie eigentlich zum Prinzip - und zugleich zum Maßstab der Kritik - eines Systems der Institutionen. Die Methode der Erfahrung des Bewußtseins - die in einem bestimmten, später zu erörternden Sinne (s. u. S. 228 ff.) ebenfalls auf dem Prinzip der Anerkennung beruht wird in diesem Text zwar weiterentwickelt, aber noch nicht vollständig durchgeführt. Dies geschieht erst in der Phänomenologie des Geistes (1806/ 1807). In der späte-

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ren Theorie des objektiven Geistes in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie ist diese Konzeption aber nicht durchgeführt. Für unser Thema sind diese Texte daher von geringerer Bedeutung. Das heißt nicht, daß in dieser Theorie die Bewegung der Anerkennung keine Rolle mehr spielt. Sowohl in der Enzyklopädie wie in der Rechtsphilosophie kommt der Begriff der Anerkennung vor und bestimmt weiterhin das „vernünftige" Verhältnis selbstbewußter Individuen zueinander und zur Gemeinschaft.19 Dennoch ist die systematische Bedeutung der Anerkennung für die praktische Philosophie nicht mehr dieselbe. Der Grund dafür ist, daß der Bildungsprozeß des Bewußtseins, die „Erfahrung" seiner Identität mit dem Geist - als der Einheit von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein - nicht mehr Thema der Philosophie des objektiven Geistes ist. Die Entstehung des „allgemeinen Selbstbewußtseins" gehört nach der Konzeption der Enzyklopädie in die Phänomenologie, die es aber ihrerseits nicht mehr mit Formen des objektiven Geistes zu tun hat.2 0 Die Darstellung des objektiven Geistes setzt die Phänomenologie - die „Rest-Phänomenologie" des Kapitels „subjektiver Geist" - voraus. Sie geht daher von der Einheit des einzelnen und allgemeinen Bewußtseins aus - auch wenn sie den objektiven Geist zunächst in seiner Unmittelbarkeit als einzelnen Willen bzw. als Person erörtert (vgl. Enz § 487 ff.). Die Einteilung der Philosophie des objektiven Geistes folgt, wie Geist- und Naturphilosophie überhaupt, der im ersten Teil des Systems dargestellten spekulativen Logik. Der Maßstab, der die systematische „Funktion" bzw. Stelle der Institutionen im System des objektiven Geistes bestimmt, liegt daher im Grunde in der Folge der logischen Kategorien. Das heißt nicht, daß Anerkennung für den späten

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Hegel nicht mehr Kriterium zur Beurteilung „ vernünftiger" Institutionen sein könnte. Im Maße wie der Gedanke der Bildungsgeschichte des Bewußtseins - als Erfah rungsprozeß - in Hegels Geistphilosophie durch das Primat der spekulativen Logik - und der ihr zugeordneten Philosophie der Weltgeschichte - zurückgedrängt wird, verliert aber „Anerkennung" ihre zentrale Bedeutung für Hegels praktische Philosophie - und verliert diese an „Nähe" zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Das Prinzip der Anerkennung ist in die Philosophie des Deutschen Idealismus von Fichte eingeführt worden. In Fichtes „Grundlage des Naturrechts" war Anerkennung die dem „Rechtsverhältnis" zugrunde liegende „ Wechselwirkung" von Individuen. 21 Im wechselseitigen Auffordern zu freiem Handeln und im Begrenzen der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen bildet sich sowohl individuelles wie gemeinsames Bewußtsein eines nicht ohne das andere. Damit hat Fichte ein Prinzip gefunden, das über die gesamte Tradition der Rechtsund Staatsphilosophie insofern hinausgeht, als es weder das „fertige" Individuum als absolut voraussetzt und seinen Zwecken alle sozialen Beziehungen einschließlich des Staates unterordnet - noch den Staat oder ein wie immer geartetes „Allgemeines" , demgegenüber die Individuen unselbständige „Momente" sind, verabsolutiert. Das eigentliche Prinzip ist vielmehr der Prozeß der gegenseitigen Konstitution von individuellem und allgemeinem Bewußtsein. Aber zum einen beschränkt Fichte Anerkennung auf einen apriorischen Vernunftbegriff zum anderen ist seine Rechts- und Staatsphilosophie keine konsequente Anwendung dieses Grundgedankens (vgl. u. Kap. I, 1). Hegel übernimmt den Begriff der Anerkennung und die „Struktur" der wechselseitigen 22

Konstitution von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein in der Jenaer Zeit (I, 3) zur Bestimmung von Formen gegenseitigen Handelns, die er schon in seinen Frankfurter Schriften analysiert hatte (I, 2). Anders als Fichte bestimmt er aber nicht Anerkennung als ein „reines" Prinzip unabhängig von der Darstellung der Formen und Institutionen des Handelns und des gemeinsamen Bewußtseins, sondern entwickelt sie als deren gemeinsames „ Wesen". Die „Formen des Praktischen" in der Familie, dem „System von Eigenthum und Recht" 22 und dem Staat werden in den Jenaer Schriften zunehmend als Stufen eines teleologischen Prozesses durchsichtig, in dem sich die Momente der Anerkennung schrittweise entfalten - bis zur vollständigen Realisierung in den Institutionen der absoluten Sittlichkeit. Bei dieser zunehmenden Realisierung spielt auch die Sprache - vor allem als Rede - eine wichtige Rolle. Aber Hegel ist weit davon entfernt, sie als die Grundlage der Anerkennungsbeziehungen zu betrachten (s. u. S. 129 f.) . Gemessen an dem Grundzug der Wechselseitigkeit, der nach Fichte und auch nach Hegels erklärter Absicht23 für das Anerkennungsverhältnis wesentlich ist, kann man allerdings die höchsten Stufen dieses Prozesses nicht mehr als „Realisierung" des Prinzips akzeptieren. Statt einer völligen Wechselseitigkeit von einzelnem und allgemeinem Selbst zeigen die Institutionen des Staates schließlich doch ein „Primat" der Allgemeinheit. Der Staat wird höchster Zweck für das Handeln des einzelnen, der sich im Wollen der Allgemeinheit und seiner Institutionen versittlicht. Die im Prinzip der Anerkennung angelegte Überwindung der Verabsolutierung sowohl des Staates wie des Individuums ist damit nicht vollzogen. Insofern scheint mir eine immanente Kritik der Hegelschen Anerkennungslehre möglich (I, 4 u. V).

23

Trotz dieses „Scheiterns" der Hegelschen Anerkennungslehre ist die praktische Philosophie der Jenaer Zeit und ihr Prinzip für die gegenwärtige praktische Philosophie von hohem Interesse, weil sie ähnliche Probleme zu lösen sucht wie diese: die Wiederherstellung der Einheit von Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie (Kap. II), die Darstellung eines systematischen Zusammenhangs „gegebener" Institutionen zusammen mit der Bewertung ihrer „ Vernünftigkeit" (IV, 1) am Leitfaden des durch sie ermöglichten Bildungsprozesses des Bewußtseins (IV, 2), der einer Sequenz historischer „Erfahrungen" entspricht (IV, 3). Interessant ist diese „Parallelität" zum einen, weil Hegel in einigen Fragen weitergekommen ist als die gegenwärtigen Versuche - vor allem in der lnstitutionentheorie und -genese-, zum anderen aber auch, weil sichtbar wird, welche Grundannahmen ihn von der Gegenwartsphilosophie trennen. Das wird in einer Reihe von gegenwärtigen Versuchen übersehen, die an Hegel anknüpfen oder ihn „rekonstruieren" wollen. So läßt sich Hegels Idee der Bildungsgeschichte zwar - in einer ~hrer Bedeutungen - als Vorwegnahme des Versuches verstehen, Erkenntnisse über die Bedingungen vernünftiger persönlicher und sozialer „Identität" zum Maßstab der praktischen Philosophie zu machen (Habermas 1974). Aber es geht ihm dabei nicht um die Anerkennung der „ vollständigen Individuierung", sondern gerade um die Freiheit des Selbstbewußtseins von allen Bestimmtheiten.24 Eine Freiheit allerdings, die nicht abstrakt bleibt, sondern sich in bestimmten Lebensformen einer Gemeinschaft, deren Regeln und Institutionen sie „anerkennt", erfüllt. Auch Hegels Idee einer historischen Institutionen- und Normengenese ist von neueren Ansätzen (Konstruktivismus) in Anspruch genommen worden (Blasche/Schwemmer 1972). Hegel geht es indessen nicht um 24

emen Prozeß der Differenzierung und Verselbständigung von Handlungsweisen, Zwecken und Normen, sondern um einen Prozeß der Erfahrung mit Institutionen, der als Zusichkommen des Geistes und als Verwirklichung von Anerkennung begriffen werden kann. Diese Differenzen festzuhalten, heißt nicht, den „historischen Hegel" in eine philosophisch überholte Position abzuschieben. Die Idee einer praktischen Philosophie als Einheit von Bewußtseinstheorie, lnstitutionentheorie und historischer Normengenese - einer Einheit, die auf das „genetische" Prinzip Anerkennung zurückgeht -, diese Idee hat, wie ich glaube, noch „Zukunft" . Allerdings nur dann, wenn sie von bestimmten Voraussetzungen des Hegelschen Denkens gelöst werden kann (V, 2).

25

I. Das Prinzip der Anerkennung

1. Der Begriff der Anerkennung bei Fichte

In der Hegel-Forschung ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß Hegels Theorie der Anerkennung von der Auseinandersetzung mit Fichte geprägt ist. 25 Fichte gibt als erster der Bildung des individuellen und gemeinsamen Bewußtseins durch die wechselseitige Anerkennung eine zentrale Stellung in der Rechtsphilosophie. Auch in der Ethik ist für ihn der Nachweis von großer Bedeutung, daß „ein vernünftiges Wesen nicht in isoliertem Zustande vernünftig wird" und daß der „Zusammenhang mit einem anderen Vernunftwesen" die „Wurzel meiner Individualität" ist (IV, 221 f.). Daraus folgt nämlich für Fichte, daß nicht die Moralität des einzelnen, sondern die „Moralität aller vernünftigen Wesen" als der „moralische Endzweck jedes vernünftigen W esens" zu betrachten ist (IV, 233). Dennoch gewinnt der Gedanke der Anerkennung bei Fichte nicht die Bedeutung eines zentralen Prinzips der praktischen Philosophie, eines Prinzips, mit dem sich die Einheit eines Ethik26 , Rechts- und Staatsphilosophie umfassenden Systems der Formen und Regeln des Handelns begründen ließe. Fichte hat die Kantische Trennung zwischen Moralität und Legalität sowie zwischen Ethik und Rechtsphilosophie noch verschärf!:. Aber auch innerhalb der Rechtsphilosophie wird Anerkennung nicht zu dem die Deduktion der Institutionen beherrschenden

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Grundgedanken. Nur die Bestimmungen des „Urrechts", die „Freiheit und Unantastbarkeit" des Leibes und des Eigentums, lassen sich unmittelbar als „Anwendung" des Begriffs der Anerkennung verstehen (vgl. III, 123 f.). Die übrigen Institutionen des Rechtes und des Staates hat Fichte nicht als „Konkretionen" des Anerkennungsverhältnisses dargestellt. Sie werden auch nicht mehr aus dem Anerkennungswillen der Individuen entwickelt, sondern aus der vorausgesetzten Motivation eines „allgemeinen Egoismus" (152). Der folgende kurze überblick soll verständlich machen, was Fichte unter „Deduktion" der Anerkennung und mit ihr des Rechtsverhältnisses versteht. Von dieser Methode wird sich Hegels „ Theorie" der Anerkennung wesentlich unterscheiden. Das gilt nicht für die von Fichte erläuterte Struktur der Anerkennung als einer wechselseitigen Konstitution von individuellem und allgemeinem Bewußtsein. An diese Struktur hat sich Hegel gehalten, als er in Jena die Einsichten seiner Frankfurter Manuskripte über Liebe, Vereinigung, Schicksal etc. mit Hilfe des Prinzips der Anerkennung zu seiner Philosophie des praktischen Geistes systematisierte. a) Die Deduktion der Anerkennung als transzendentale Bedingung des Rechtsbegriffs In Fichtes „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" aus dem Jahre 1796 hat die Theorie der „Anerkennung" eine entscheidende Funktion: mit ihr kommt der Versuch einer Deduktion des Rechts als eines „ursprünglich ... in der Vernunft enthalten( en)" (III, 7) Begriffs ans Ziel. 27 Das „Rechtsverhältnis" wird von Fichte nämlich in dem folgenden Satz bestimmt: „Ich muß das freie Wesen außer mir in allen 27

Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken." (III, 52) Anerkennung ist für Fichte die „Handlung" des Bewußtseins, durch die der „Begriff" des Rechts entsteht. 28 Sie zu „deduzieren" bedeutet, sie als eine notwendige „Bedingung des Selbstbewußtseins" (III, 8) auszuweisen - als Bedingung dafür, daß ein „endliches vernünftiges Wesen" sich selbst „setzt" bzw. „findet" (17, 33 ). Dieses Setzen ist nicht die reine Anschauung der unendlichen Tätigkeit, die der Grund alles beschränkten, „endlichen" Bewußtseins ist - wie das Sich-Setzen des Ich im Anfang der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (1794 ). Das hier gemeinte Setzen ist vielmehr eine Bewußtseinshandlung, die der Selbsterfahrung des „gewöhnlichen" Bewußtseins als „ Vernunftwesen" zugrunde liegt. Vernunft ist nach Fichte „sich selbst bestimmende Tätigkeit" (17), die wie die Grundlage gezeigt hat - im theoretischen wie im praktischen Vermögen, im Vorstellen wie im Wollen wirksam ist. Für das gewöhnliche Bewußtsein ist aber das Vorstellen an Objekte und das Wollen an das Vorstellen gebunden: der Entschluß zur freien Wirksamkeit setzt eine Vorstellung der Objekte der Wirksamkeit voraus. Worauf es Fichte im ersten Teil der Naturrechtsschrift ankommt, ist der Nachweis, daß das Wollen nicht vom Vorstellen der Objekte abhängig ist, sondern das Bewußtsein sich als ursprünglich praktisch „finden" kann. Möglich ist das nur, wenn das Bewußtsein der freien Wirksamkeit und die Vorstellung von Objekten in einer Erfahrung zustande kommt, d. h. wenn das Wollen selber als Objekt erfahren wird, ohne dadurch aufzuhören, freie Selbstbestimmung zur Wirksamkeit zu sein: „die Wirksamkeit des Subjekts sei mit dem Objekte in einem und demselben Moment synthetisch

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vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sei selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sei kein anderes als diese Wirksamkeit des Subjekts und so seien beide dasselbe" (32). Um dieses Problem zu lösen, führt Fichte seine Lehre von der „Aufforderung" ein, die mit derjenigen der Anerkennung eng zusammenhängt. Damit das Vernunftwesen seiner Freiheit bewußt wird, muß es eine „Aufforderung" erfahren, „sich zur Wirksamkeit zu entschließen" (33). In einer solchen Aufforderung kommt ihm die Möglichkeit seiner Freiheit als Objekt, als „ von außen gegeben" zum Bewußtsein. Als Objekt ist siebestimmt und von der Wirksamkeit des erfahrenden Subjektes unabhängig - aber bestimmt ist das Subjekt nur dazu, sich selbst zur freien Wirksamkeit zu bestimmen. In dieser Erfahrung wird das Subjekt also „in einem Schlage" seiner selbst als vorstellend, bestimmt von einem Objekt, und als frei, als aufgefordert zur Wirksamkeit bewußt. Und da die Aufforderung gerade nicht zu einer bestimmten Handlung auffordert, sondern dazu, sich selbst ein Ziel zu setzen, ermöglicht sie ein ursprüngliches Bewußtsein der Freiheit, das nicht von bestimmten Objekten bzw. Objekt-vorstellungen herrührt. Fichte hat auf diese Theorie der Aufforderung seine Deduktion der Intersubjekt:ivität gegründet.29 Er versucht nachzuweisen, daß das aufgeforderte Vernunftwesen aus dem Charakter der Aufforderung darauf schließen muß, daß a) die Ursache der Aufforderung nur in einem Vernunftwesen liegen kann, b) dieses Vernunftwesen seine eigene Handlungsfreiheit beschränken mußte, um mich auf meine Handlungsmöglichkeit hinweisen zu können, und c) es sich diese Beschränkung zum Zweck der Aufforderung auferlegt hat. Die - zunächst noch einseitige-Anerkennung meiner durch den Anderen

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ist also die Bedingung, unter der ich allein zur Erfahrung meiner als eines vernünftigen - zu frei gewählten Handlungen fähigen - Wesens kommen kann. Daß ich dies verstanden habe, erweise ich, indem ich den Anderen ebenfalls so behandle, wie man Vernunftwesen um ihrer Vernünftigkeit willen behandeln muß: indem ich ihn meinerseits anerkenne. Erst dann weiß der Andere, daß er wirklich ein vernünftiges Wesen vor sich hat.30 Ist eine solche einmalige wechselseitige Anerkennung als Bedingung des „Zusichkommens" des Selbstbewußtseins nachgewiesen, dann muß nur noch die Verallgemeinerung dieses Verhältnisses auf alle „Begegnungen" zwischen Vernunftwesen abgeleitet werden. Der hier in Kürze dargestellte Übergang von der Aufforderung zur Anerkennung birgt in Wahrheit eine Reihe von Problemen. Bei oberflächlicher Lektüre der Deduktion sieht es zunächst so aus, als sei für Fichte die volle, wechselseitige - nicht nur die hypothetische, einseitige - Anerkennung bereits eine Voraussetzung oder Bedingung für den Aufforderungsakt und nicht erst seiner adäquaten Beantwortung. Diese Interpretation führt aber, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, 31 in unlösbare Schwierigkeiten. Weiter kommt man mit der Annahme, daß die Erwiderung der einseitigen, in der Aufforderung enthaltenen Anerkennung eine „Reflexion" des aufgeforderten Bewußtseins auf die Aufforderung und ihre Bedingungen voraussetzt. Man kann darin schon Ansätze für die später bei Hegel entwickelte Methode der Erfahrung des Bewußtseins erblicken. „Transzendentale Deduktion" heißt bei Fichte nicht nur, daß der Philosoph Bedingungen des Selbstbewußtseins in Gestalt „ vorbewußter" Handlungsweisen aufdeckt, sondern schließt den Nachweis von Reflexionsschritten auf seiten des analysierten Bewußtseins ein, durch die dieses 30

Bewußtsein für sich selber bestimmte „Niveaus" des Denkens und Handelns erreicht. Was hat nun das Anerkennen, das wechselseitige Selbstbeschränken zugunsten der Freiheit des Anderen, der als „ Vernunftwesen" erkannt und respektiert wird, mit dem Recht zu tun? Es ist zwar einsichtig, daß die Respektierung eines Rechtes Selbstbeschränkung erfordert - aber das Wesentliche des Rechtsbegriffs ist der Anspruch auf solche Respektierung bzw. die „Verbindlichkeit" (50) 32 der erwarteten Selbstbeschränkung für den Anderen. Fichte kann diese Verbindlichkeit nicht aus der moralischen Verpflichtung ableiten. Das widerspräche der Unabhängigkeit der Rechtsphilosophie von der Ethik und machte das Recht zum „kategorischen" statt zum „technisch-praktischen" (9) Imperativ. Er löst das Problem, indem er auf eine „praktische Gültigkeit" (50) logischer Gesetze zurückgreift. Diese praktische Gültigkeit oder inter-subjektive Verbindlichkeit entsteht in der Anerkennung: die Erfahrung, daß wir „beide durch unsere Existenz aneinander gebunden und einander verbunden" sind, führt zur Forderung nach einem „ von uns gemeinschaftlich notwendig anzuerkennenden Gesetz ... nach welchem wir gegenseitig über die Folgerungen halten". Um dieses Gesetz zu erkennen, müssen wir uns an den „Charakter" erinnern, „nach welchem wir eben jene Gemeinschaft eingegangen" sind: „Dies aber ist der Charakter der Vernünftigkeit; und ihr Gesetz über die Folgerung heißt Einstimmigkeit mit sich selbst, oder Konsequenz, und wird wissenschaftlich aufgestellt in der gemeinen Logik." (48) Das Recht als „Gesetz", in allen Fällen der Begegnung33 von Vernunftwesen die eigene Handlungsfreiheit zugunsten der möglichen Freiheit des anderen zu beschränken, ergibt sich als notwendiger Vernunftbegriff, wenn man 31

davon ausgeht, daß sich die in der Erfahrung der Anerkennung gebildete Gemeinsamkeit des Bewußtseins in einem gemeinschaftlichen, „ verbindlichen" Denken und Handeln ausdrückt. Ob sich das Individuum dieses Gesetz zur Regel seines Handelns macht, bleibt in der transzendentalen Deduktion des Rechtsbegriffs offen. Ohne dieses Gesetz aber ist eine dauernde Wechselwirkung zwischen Vernunfl:wesen nicht möglich. Da diese sich als Bedingung des Selbstbewußtseins des endlichen Vernunfl:wesens - als eines Individuums - erwiesen hatte, ist „der Begriff des Rechts selbst Bedingung des Selbstbewußtseins. Folglich ist dieser Begriff gehörig a priori ... deduziert." (53) Die Deduktion des Rechtsbegriffs beruht darauf, daß sich in der Anerkennung individuelles und gemeinschafl:liches Bewußtsein zugleich bilden und beide voneinander abhängen. Was ist die Struktur dieser Wechselbeziehung? b) Die Struktur der Anerkennung bei Fichte Man kann die Struktur der Anerkennung bei Fichte durch drei Grundzüge kennzeichnen: 1) Anerkennung ist ein Verhältnis der „Wechselwirkung" der Vernunftwesen „durch Intelligenz und Freiheit" (44 ). In der Anerkennung ist das Handeln jedes Vernunftwesens von der Erkenntnis des Anderen als eines freien Wesens abhängig, diese Erkenntnis aber ihrerseits vom Handeln des Anderen. Nur dadurch, daß ich mich durch das Handeln des Anderen als anerkannt erfahre, kann ich selber mein Handeln durch die Erkenntnis des Anderen als eines Anzuerkennenden bestimmen, einschränken - also selber anerkennen. Dadurch, daß die Erkenntnis und das Handeln eines Vernunftwesens durch das eines an32

deren bedingt ist, ist die Anerkennung - und das macht sie erst zur Grundlegung des Rechtsverhältnisses fähig 2) die Genese eines „gemeinschaftlichen Bewußtseins" (44). Nicht nur erfahren sich beide als dasselbe, als freie Vernunfl:wesen, sondern auch sich selbst als bestimmt durch den „Zusammenhang" mit dem Anderen, als hervorgebracht durch die „ Gemeinschaft" mit dem Anderen. Denn das Bewußtsein eines jeden ist durch das Verhältnis des wechselseitigen Erkennens und Handelns konstituiert - keines ist ohne das Bewußtsein des Anderen und das Verhältnis, in dem es zu diesem steht, denkbar. Auf diese „Gebundenheit" an den Anderen gründet Fichte, wie wir gesehen haben, die „Verbindlichkeit" des Rechts. 3) Nun kommt aber - und das ist die dritte „Struktureigenschafl:" der Anerkennung - dieses gemeinsame Bewußtsein gerade dadurch zustande, daß sich beide Vernunfl:wesen ihrer Individualität bewußt werden, sich gerade voneinander „durch Gegensatz unterscheiden" ( 41 ). Dieses Sichunterscheiden geschieht ebenfalls durch ein Handeln: indem das Vernunftwesen seine - ihm in der Aufforderung als „Objekt" gegebene - mögliche Wirksamkeit ergreift und auf seine eigene, in der Aufforderung gerade nicht vorherbestimmte Weise realisiert, wird es sich seiner selbst als Individuum bewußt. Das Vernunftwesen wird Individuum, indem es sich eigene Möglichkeiten des Handelns zueignet, als deren alleiniger Urheber es sich weiß. Es schließt dadurch den anderen aus seiner „Sphäre" des Handelns aus. Wieso ist dieser Vorgang des Sich-Unterscheidens ein Anerkennen? Darum, weil er zugleich ein Sich-Begrenzen auf die eigene Sphäre der Wirksamkeit und damit ein Freigeben des Handlungsspielraums des anderen ist. Die Gemeinsamkeit des Bewußtseins wird dadurch nicht aufgehoben, weil gerade die Möglichkeit der Individua33

lisierung von der fortdauernden Wechselseitigkeit des Anerkennens abhängt. Diese Wechselseitigkeit aber ist ihrerseits nur durch das Sich-Begrenzen der Individuen möglich, das ein sich auf sich Zurückziehen und damit ein voneinander Unterscheiden ist. Der Begriff der „Individualität" ist selber, so formuliert Fichte, ein „ Wechselbegriff": „Er ist in jedem Vernunftwesen nur insofern möglich, inwiefern er als durch ein anderes voll-· endet gesetzt wird." (47) Er bedeutet daher nie ein isoliertes „Mein" des Bewußtseins, sondern „mein und sein; sein und mein; ein gemeinschafllicher Begriff, in welchem zwei Bewußtseine vereinigt werden in eins" (47f.). Die Struktur des Anerkennens ist also eine Bewegung des Sich-Individualisierens und des Sichbildens eines gemeinsamen Bewußtseins - und eines nicht ohne das andere. Wenn Fichte eine solche Bewegung des Anerkennens als Grundlage des Rechtsbegriffs deduziert und aus der Notwendigkeit der Sicherung der Rechte des Individuums den Staat ableitet - wie dies in der weiteren Entwicklung der „Grundlage des Naturrechts" geschieht-, muß man dann nicht sagen, daß bereits er die Anerkennung zum Prinzip der Rechts- und Staatsphilosophie gemacht hat? Man kann diese Frage nur unter zwei Einschränkungen bejahen. Die eine betriff!: den unterschiedlichen Prinzipienbegriff Fichtes und Hegels. Bei Fichte ist das „Prinzip" Anerkennung ein apriorischer Maßstab für jeden Rechtsstaat: er muß die wechselseitige Anerkennung seiner Mitglieder als Rechtssubjekte verwirklichen. Fichte zeigt aber nicht, daß und wie verschiedene Anerkennungsverhältnisse bestimmten Institutionen zugrunde liegen bzw. von ihnen ermöglicht werden. Die Bedeutung von „Prinzip" bei Fichte ist nicht die einer sich entwickelnden, „genetischen" Struktur. Diesen 34

wie mir scheint für die gegenwärtige praktische Philosophie bedeutenden - Schritt tut erst Hegel. Die andere Einschränkung liegt darin, daß rechtliche Anerkennung für Fichte zwar als ein Faktum, aber nicht als Intention des Handelns der Individuen im vernünftigen Staat gegeben sein muß. Als Zweck des Handelns der Individuen ist Anerkennung im Rechtsstaat entbehrlich. Die das Recht sichernden Institutionen müssen nach Fichte vielmehr von der konträren Motivation eines allgemeinen Egoismus ausgehen. In der Lehre vom „Zwangsrecht" und vom Staatsvertrag tritt das Prinzip der Selbsterhaltung insofern an die Stelle des Prinzips Anerkennung. Das Zwangsgesetz, das zu seiner Durchführung die Errichtung des Staates notwendig macht, ist eine mit „mechanischer Notwendigkeit wirkende Veranstaltung" (142), die dazu führt, daß ein übergriff auf die Freiheit des Anderen „notwendig" und „ unfehlbar" eine „BJ!schädigung" meiner eigenen Freiheit zur Folge h~t. 34 Allein die Furcht vor diesen Folgen zwingt das Individuum zur Respektierung der Freiheit des Anderen. Das Zwangsgesetz rechnet nicht mit dem freien gegenseitigen Anerkennen, sondern mit der „Sorge" eines jeden für seine „eigene Sicherheit" (145) . Man kann in diesen Überlegungen Fichtes einen Rückfall in die Position von Hobbes sehen.35 Mit mehr Konsistenz lassen sie sich als Resultat einer erneuten Reflexion des Bewußtseins auf Störungen des Anerkennungsverhältnisses - die ohne ein solches Zwangsgesetz nicht auszuschließen sind- interpretieren.36 Die Reflexion auf die prinzipielle Möglichkeit der Verweigerung von Anerkennung durch „ vermeintliche" Vernunftwesen führt konsequenterweise zu einem allgemeinen Mißtrauen und zu einem Primat des Sicherheitsstrebens. Zweifelhaft erscheint mir indes, ob solches Sicherheitsstreben nur durch 35

einen ausnahmslos wirkenden Mechanismus befriedigt werden kann - was bei Fichte heißt, daß Rechtsbrüche nicht nur ausnahmslos geahndet, sondern im vorhinein unmöglich gemacht werden müssen. Zwar schließen die Individuen über die Einrichtung eines solchen Mechanismus einen Vertrag, d. h. sie beschränken ihre Rechte freiwillig zugunsten des gemeinsamen Zwecks „gegenseitige Sicherheit" (144 ). Aber dieser Zweck kann erreicht werden durch Institutionen, die gerade die Art von Anerkennung überflüssig machen, durch die doch individuelles Selbstbewußtsein erst entstehen kann: freiwillige Selbstbeschränkung, die die Freiheit des Anderen zum Zweck hat. Insofern hat Fichte den ursprünglichen, der Deduktion des Rechtsbegriffs zugrunde liegenden Gedanken der Anerkennung in seiner Staatsphilosophie nicht konsequent entwickelt. 37 Er hat auch nicht verschiedene Arten von Anerkennung, verschiedene Grade von Bewußtheit und Freiwilligkeit der Anerkennung, verschiedene Aspekte am Anderen und am gemeinsamen Willen, die anerkannt werden usw. unterschieden und in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Dies ist hingegen bei Hegel der Fall. Deshalb kann man sagen, daß bei ihm das Prinzip Anerkennung eine eigene, in sich differenzierte Theorie der Anerkennung, ihrer Formen und Stufen, enthält.

2. Die Vorformen der Anerkennung in den Frankfurter Fragmenten Hegel hat erst in den Jenaer Schriften Anerkennung zum Prinzip seiner praktischen Philosophie gemacht. In den Berner und Frankfurter Schriften hat er zwar bereits Maßstäbe und Ideale zwischenmenschlichen Han36

delns konzipiert, aber daraus entsteht noch keine systematische Theorie und Kritik der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen. Den Begriffen und Idealen zwischenmenschlichen Handelns in den Berner und Frankfurter Schriften fehlt auch der Zug, der - wie wir sehen werden - die Anerkennungslehre Fichtes und des späteren Hegel mit gegenwärtigen, auf dem Prinzip der Kommunikation basierenden Ansätzen der praktischen Philosophie verbindet: kommunikatives Handeln als einen Prozeß zu fassen, in dem die Individuen erst zum Bewußtsein ihrer selbst - und zugleich zu einem gemeinsamen Bewußtsein - gelangen. Von daher wäre es gerechtfertigt, unsere Untersuchung mit einer Analyse der Jenaer Anerkennungslehre zu beginnen. Diese Theorie hat aber trotz des oben Gesagten „Vorstufen" in den Frankfurter Schriften. Die Jenaer Realphilosophie von 1805/ 1806 bestimmt Anerkennung - und damit faßt sie die Ergebnisse der früheren Jenaer Schriften zusammen - als Einheit zweier Bewegungen, die jede als ein „Schluß" aufzufassen sind: des Schlusses der Liebe und des Kampfes (s. u. S. 54 ff.). Nun spielt aber die Liebe erstmals in den Frankfurter Fragmenten eine zentrale Rolle. Als einer Bewegung der Vereinigung steht ihr ferner schon dort eine Bewegung der Trennung gegenüber. Wir müssen die Struktur und das Verhältnis dieser beiden Bewegungen zueinander im Hinblick auf Hegels späteren Begriff der Anerkennung erörtern, weil wir zeigen wollen, daß Hegel diesen Begriff in Jena nicht einfach von Fichte übernimmt, sondern seine eigenen Analysen „konkreter" praktischer Beziehungen mit diesem Begriff deutet - und ihn damit zugleich verwandelt. In den Frankfurter Schriften sind die Momente der Vereinigung und der Trennung allerdings nicht gleichwertig. Der Begriff der Liebe hat das Primat über

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die Formen der Auseinandersetzung, über die aktive Zerstörung der lebendigen Einheit mit den Anderen („ Verbrechen"), wie über die bloße Verteidigung von Rechten. Das Recht - als Privat- oder als Strafrecht ist daher auch nicht die Synthese von Liebe und Kampf, wie in den Jenaer Schriften. Als einer Form der Entzweiung ist ihm die Liebe übergeordnet. Hegel hat aber, wie wir zeigen werden, schon im „Geist des Christentums" Zweifel daran geäußert, daß eine große Gemeinschaft ohne das Prinzip des Rechts allein auf die Beziehung der Liebe gegründet werden kann. Der Begriff der Liebe, der zu Beginn der Frankfurter Zeit für Hegels Denken zentral wird, ist keineswegs auf die Bedeutung zwischenmenschlichen Empfindens und Handelns eingeschränkt. Seine umfassende Bedeutung für die Versuche Hölderlins, Sinclairs und - zunächst in ihrem Gefolge - Hegels, über die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes hinauszukommen, ist von Dieter Henrich und Hannelore Hegel herausgestellt worden.38 Henrich (1971, 13) hat dabei die Vorgeschichte des Begriffs Liebe, seine Herkunft aus der „Vereinigungsphilosophie", z. B. bei Hemsterhuis, sowie seine Verwandlung bei Herder, dem jungen Schiller und schließlich Hölderlin, dargestellt. Auf die möglichen Einflüsse der deutschen Mystik (Tauler, Eckhart) hat schon Rosenkranz hingewiesen. 39 Hegel hat aber in den Frankfurter Schriften Liebe auch „als Beziehung der Individuen untereinander" (Dilthey) thematisiert.40 Für unsere Untersuchung ist diese Seite des Begriffs Liebe die wichtigste. Nach dem graphologischen Befund hat Gisela Schüler die Fragmente über „Moralität, Liebe, Religion", „Liebe und Religion" und „Liebe" in den Anfang der Frankfurter Zeit datiert. 41 Das Fragment über „Liebe" hat

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Hegel 1798/ 1799 noch einmal überarbeitet. Ich möchte mich zunächst diesen Texten und erst danach den Fragmenten zum „Geist des Christentums" zuwenden. Es ist zu fragen, was Hegel unter Liebe als vereinigender Beziehung versteht, in welchem Verhältnis zu den Unterschieden und Gegensätzen, die sie vereinigen soll - und zu deren Ursprung - er sie sieht; und schließlich, wie sie zum Bewußtsein der Individualität steht. a) Liebe in den frühen Frankfurter Fragmenten In den Fragmenten über „Liebe und Religion" sowie über „Liebe" hat Hegel Liebe nicht nur spekulativ als alle Entgegensetzungen aufhebende Vereinigung und als Selbstgefühl („Verdoppelung") des Lebens bestimmt, sondern eine geradezu „phänomenologische" Analyse des Verhältnisses zweier Liebender durchgeführt. Er expliziert die Bedeutung der Scham, des gegenseitigen Beschenkens, des Verhaltens zum gemeinsamen Eigentum und zum Kind. Das Charakteristische der Liebe ist für ihn, daß sie zum einen die restlose Hingabe und d. h. die Aufgabe aller Individualität und alles Getrennten anstrebt - Scham interpretiert Hegel insofern als „Zürnen der Liebe über die Individualität" -, und daß sie zum anderen „unendliche Unterschiede sucht", um sich Gehalt und Selbstgefühl zu geben, indem sie alle diese Unterschiede in ihre Vereinigung einbezieht (N 380). Freilich hat die Fähigkeit der Liebe, Unterschiede in sich aufzunehmen, eine Grenze: sie kann zwar „Gedanken", „Mannigfaltigkeiten der Seele" und sogar die „ganze Mannigfaltigkeit der Natur" in ihre Vereinigung aufnehmen, aber offenbar nicht die Unterschiede von „Besitz, von Eigentum und Rechten" (ebd.). Rechtsbeziehungen bedeuten Abgrenzung gegen die Anderen und

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Herrschaft über die Dinge - selbst noch in der Gütergemeinschaft, in der es Rechte über den Gebrauch der gemeinsamen Dinge geben muß (vgl. N 381 f.). Solche Beziehungen machen die von der Liebe intendierte Vereinigung unmöglich. Sie ist nach dem Fragment über „Moralität, Liebe, Religion" nur möglich, wenn das Objekt durch die Einbildungskraft beseelt, als „Göttliches" vorgestellt wird (N 376). Die Grenze der Liebe an den Formen des Rechts bleibt in allen Schriften der Frankfurter Zeit 42 erhalten; es wird sich zeigen, daß Hegel im letzten Teil der Schrift über den „Geist des Christentums" die Liebe sogar als eine überhaupt nicht auf die Vereinigung „Vieler" in einem Staat auszudehnende interpersonale Beziehung bezeichnet hat. Hier soll uns aber zunächst beschäftigen, wie sich die Liebe zum Entstehen der Unterschiede und Trennungen verhält. Diese Frage muß von den frühen Frankfurter Fragmenten her unterschiedlich beantwortet werden. Im Fragment über „Liebe und Religion" gibt es offenbar zwei Ursachen der Trennung: Schuld und Schicksal. Beide sind aber im Gegensatz zum späteren Text über den „Geist des Christentums" deutlich voneinander unterschieden: Schuld ist eine vorübergehende, vom Menschen verursachte Trennung, Schicksal dagegen eine „ewige Trennung" der „Natur", die offenbar schlechthin unüberbrückbar ist (N 377). Liebe kann daher nur Vereinigung zwischen solchem stiften, das nicht durch Natur oder Schicksal „entgegengesetzt" ist, sondern wesensgleich - wie der Geliebte - und allenfalls durch Schuld vorübergehend getrennt. Schuld kann aber kaum die Ursache aller Unterschiede sein. Woher sie stammen und wie sich Liebe zu ihrem Entstehen verhält, bleibt in diesem Fragment offen. Im Fragment über „Die Liebe" gibt Hegel darauf eine Antwort, die offenbar beeinflußt

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ist von Hölderlin und Sinclair( H. Hegel 1971, 84 ). Er bezeichnet hier die Reflexion als Ursache der Trennungen, genauer als Ursache der „Entwicklung" der Trennungen. Nach einem von Hegel wohl bei der späteren Überarbeitung ( 1798/ 1799) eingefügten Satz ist das „bewußtlose, unentwickelte Einige" des Lebens, das von der Reflexion in Gegensätze aufgelöst wird, selber schon „unendliche Entgegensetzung" (N 379). Das Leben erscheint demnach als Prozeß, in dem sich unbewußte Gegensätze durch Reflexion entfalten. Die Gegensätze der R eflexion werden vereinigt in der Liebe, in der das Leben seine Identität in den Gegensätzen „fühlt". Insofern ist nach diesem Fragment in der Liebe „auch der Reflexion Genüge geleistet" (ebd.). Schon wenig später hat Hegel aber die Liebe nicht mehr für fähig gehalten, die Reflexion zu umfassen; vielmehr hat er die Religion als Einheit von Liebe und Reflexion verstanden (vgl. N 302). Doch fragt sich zunächst, was es heißt, daß Liebe Einheit der Reflexion und des „bewußtlosen, unentwikkelten Einigen" ist und insofern der Reflexion „Genüge" tut. Offenbar bedeutet es zum einen, daß Liebe die Gegensätze der Reflexion überwindet, ihnen „allen Charakter eines Fremden raubt" (379), und daß in ihr das Leben, die Einheit der Gegensätze sich „reflektiert", ein Selbstgefühl als Subjekt und Objekt der Vereinigung erlangt. Es bedeutet aber nicht, daß die Liebe selbst Gegensätze hervorbringt. Insofern unterscheidet sie sich von der Bewegung des Anerkennens, so wie Fichte sie konzipiert hatte: in dieser war das Moment des Sichtrennens, sich voneinander Unterscheidens bereits enthalten (s. o. S. 33 f.). Aber bedeutet nicht die Reflexion des Lebens in der Liebe, daß in ihr auch Bewußtsein, und damit Distanz, Gegensatz entsteht? D ie Frage, inwieweit in der Liebe Distanz, Bewußtsein 41

des Anderen als unterschieden von mir - und damit auch Selbstbewußtsein - enthalten ist oder nur Verschmelzung der Individualität, der Unterschiede überhaupt, ist für die Analyse der Liebe als Vorstufe eines wesentlichen Moments der Anerkennung von großer Bedeutung. Sie ist aber im Hinblick auf die Frankfurter Fragmente schwer zu beantworten. Betrachten wir zunächst das Verhältnis von Liebe und Reflexion in dem Fragment über die Liebe. Selbst wenn man den oben angeführten Zug der Liebe, möglichst viele Unterschiede in sich aufzunehmen, in Rechnung stellt, folgt daraus nicht, daß Liebe selbst Unterschiede setzt, noch daß sie Distanz zwischen Liebendem und Geliebtem hervorruft. Ferner ist Reflexion, in dem Sinne, in dem Hegel den' Begriff gebraucht, nicht mit Bewußtsein identisch. Vor allem nicht mit dem individuellen Selbstbewußtsein: in der Reflexion verdoppelt und „fühlt" sich das Leben, aber nicht das Individuum. Leben ist nach Hegel aber sowohl die bewußtlose Einigkeit, wie der Prozeß der Trennung durch Reflexion und der Vereinigung im Selbstgefühl des Lebens. Was in der Liebe gefühlt wird, ist mithin die Wiedervereinigung von - im Grunde einigen - Getrennten. Das bedeutet aber, daß das Gemeinsame der Getrennten, . nicht ihre Verschiedenheit, Individualität, gefühlt wird. Daß der Liebende im Anderen den „Gleichen" spürt, hatte schon Herder in seinem Aufsatz über Liebe und Selbstheit hervorgehoben. 43 Hegel betont denselben Sachverhalt und schließt darum ausdrücklich Herrschaftsverhältnisse aus der Liebe aus.44 Liebe als ein Gefühl und Bewußtsein des Gleichen kann nicht Ursache von Unterschieden sein, und daher kann in der Liebe auch nicht, wie in der Anerkennung bei Fichte und später auch bei Hegel, das Bewußtsein von Individualität entstehen. Das geht auch aus Hegels oberi

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erwähnter Analyse der Scham hervor, in der der nicht aufgehobene Rest von Individualität nur als Hindernis der Vereinigung empfunden wird. Hegel geht so weit, die liebende „Berührung" als Überwindung der in der „Anschauung" noch bestehenden Distanz zu interpretieren (380 f.). In der Berührung steigert sich das Gefühl der Einheit bis zur „Bewußtlosigkeit". Es würde Hegel allerdings in völligen Gegensatz zu den Anstrengungen Herders, Schillers und Hölderlins bringen, die das Moment der „Selbstheit" in der Liebe zu bestimmen versuchten (Henrich 1971, 14 ff.), wenn er die Unterschiedenheit von Liebendem und Geliebtem ganz aufheben wollte. Zugleich enthielte die so bestimmte Liebe auch eine andere Gefahr: die der Unterwerfung des Geliebten unter den Selbstgenuß des Liebenden.45 Hegel hat darum bereits im Fragment über „Liebe und Religion" neben dem Moment der Verschmelzung das des Erhaltenseins der Andersheit des Geliebten herausgestellt: „Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen uns in ihm - und dann ist er doch wieder nicht wir" (N 377). Aber er ist nodt nidtt so weit, dieses Verhältnis genauer bestimmen zu können; das zeigt der Sdtluß des Satzes: „ - ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen." b) Vereinigung und Trennung im „Geist des Christentums" Auch in den Fragmenten zum „Geist des Christentums" behält die Liebe - als Beziehung der Individuen - diese Ambivalenz zwischen völliger Aufhebung aller Individualität und Unterschiedenheit und dem Gehenlassen der Andersheit des Geliebten. In seinen Erläuterungen

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zum Gebot der Nächstenliebe etwa betont Hegel, den Anderen „als dich selbst" lieben bedeute keineswegs, „ihn so sehr lieben als dich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern liebe ihn, als der du bist" (N 296). Offenbar muß die Liebe die Distanz zwischen Ich und Du, die Unaufgehobenheit des Du ins Ich aufrecht erhalten, um Liebe zu sein. Dementsprechend ist das extreme Gegenteil zur Liebe nicht Haß - denn der Gehaßte „wird noch für etwas gehalten, er gilt noch" und kann sogar noch „ bewundert werden" - sondern das nicht Ernstnehmen des Anderen, das z. B. darin bestehen kann, „den anderen für einen Narren zu erklären"; denn das bedeutet, daß er „der Vorstellung völlig unterjocht, als ein Nichts bezeichnet" (269) wird. Auf der anderen Seite hat Hegel es auch im „Geist des Christentums" wieder als ein Wesensmoment der Liebe angesehen, daß sie im Geliebten nicht den Anderen, die vom Liebenden unterschiedene Individualität sieht, sondern daß in ihr „der Mensch sich selbst in einem anderen wiedergefunden" hat. (322) Hegel hat nun sicherlich nicht die Aufgabe übersehen, beide gegensätzlichen Momente der Liebe zu vermitteln. Aber er neigt in der Frankfurter Zeit dazu, diese Vermittlung als eine unbegreifliche Leistung des Phänomens der Liebe aufzufassen. 46 Das Streben nach Vereinigung und der Verzicht auf die eigene Individualität sind in ihr ebenso enthalten wie das Sich-finden, das Selbstgefühl in der Vereinigung mit dem Anderen - und dieses wiederum schließt das Respektieren des Anderen als „Du" nicht aus. Erst in Jena hat Hegel sich einer genaueren begrifflichen Bestimmung des Verhältnisses dieser gegensätzlichen Momente zugewandt. Obgleich er auch zu dieser Zeit die paradoxen Eigenschaften der Liebe nicht abgestritten hat, kommt er doch zu dem Ergebnis, daß in der Liebe das

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Moment des Selbstverzichts dominiert und daß deshalb der Prozeß des Sich-Bewußtwerdens im Anderen über die Liebe hinausgeht und eine neue Bewegung erfordert, die von der Selbstbehauptung, dem ausschließenden Fürsichsein ihren Ausgang nimmt. Eben dies ist der Kampf um Anerkennung. Hegel kennt aber auch in Frankfurt bereits eine aus der Kollision der Individualitäten und ihrer Selbstbehauptung resultierende Bewegung der Trennung. Wir werden untersuchen müssen, inwieweit es sich dabei um eine Vorform des späteren Kampfes - als eines Moments der Anerkennungsbewegung - handelt, und ob Hegels Frankfurter „Theorie" der interpersonalen Beziehung bereits das Moment einer ausschließenden Beziehung enthält. Zuvor aber muß ein weiteres Wesensmerkmal der Liebe erörtert werden, das auch noch der frühen Jenaer Anerkennungslehre eigentümlich ist und über den Begriff der Anerkennung bei Fichte hinausgeht. Liebe ist nämlich bei Hegel als Einheit von Besonderen, d. h. als „Harmonie" bestimmt. Harmonie ist für Hegel „keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie ist das Besondere nicht widerstreitend, sondern einklingend" ( 296). Widerstreitend ist das Besondere dagegen für die Allgemeinheit eines Begriffs oder Gesetzes. Einheit mit solcher Allgemeinheit bedeutet daher Abstraktion vom Besonderen und Subsumtion des so Gleichgemachten unter ein Gedankending. Für den Bereich der Moral formuliert: durch Kampf des Allgemeinen mit dem Besonderen, durch „Knechtschaft der Sinnlichkeit, oder des Individuums" und „Herrschaft der Gesetze" (288). Es soll hier nicht die gesamte Kritik Hegels an der Kantischen Sittenlehre, die für ihn in der Frankfurter Zeit in wesentlichen Punkten mit der jüdischen Gesetzesmoral übereinstimmt, wiederholt werden. Sie ist schon oft dar-

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gestellt worden. Wichtig ist aber, daß für Hegel in der Liebe die Besonderheit der Individuen, und zwar durchaus im Sinne der natürlich-sinnlichen Besonderheit zur Geltung kommt. Liebe ist nicht, wie Anerkennung bei Fichte, ein Akt des reinen Bewußtseins. „Anerkennen" bedeutet für Fichte ja eine apriorische, notwendige Bewußtseinshandlung - sonst wäre der Rechtsbegriff kein Vernunftbegriff. Zum Bewußtsein zu bringen ist dieser Begriff freilich nur unter den kontingenten Bedingungen der „leibhaften" Konfrontation individueller Vernunftwesen. Obwohl Liebe nicht mit der sinnlichen Neigung identisch ist, ist sie doch mit ihr vereint: sie ist insofern „pathologisch, eine Neigung" (295 f.). Ihr Gegenstand ist nicht der Andere als reines Vernunftwesen, denn „ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein" (ebd.). Hegel lehnt daher, wie schon Rousseau und Herder, 47 die „allgemeine Menschenliebe" ab - zugunsten der „Liebe zu den Menschen, mit denen man so wie jeder mit ihnen in Beziehung kommt" (ebd.) 48 • Für diese mit der Sinnlichkeit übereinstimmende Liebe bleibt daher nicht wie für das Sittengesetz „das Besondere, Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit ... notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives" (266). Freilich ist die Liebe, wie Hegel im Fragment über „Liebe" sagt, „nicht ein einzelnes Gefühl" (379), sie umfaßt vielmehr die „Mannigfaltigkeit der Gefühle" bzw. den „ganzen Menschen" (387) - ja insofern sich in ihr das Leben fühlt, umfaßt sie sogar das All des Lebens. Aber sie umfaßt und erfaßt solche Ganzheiten nur in der besonderen Vereinigung, in der Liebender und Geliebtes als Besondere „einklingen". Die Frage, ob das Individuum als ein sinnlich-einzelnes in der Bewegung der Anerkennung repräsentiert und respektiert ist, wird bei der Behandlung der Jenaer An46

erkennungslehre eine große Rolle spielen. Diese Bewegung der Anerkennung ist aber komplexer als die Liebe, wie Hegel sie in Frankfurt verstand. Sie enthält, wie bereits erwähnt, auch ein Moment des Sich-Ausschließens der Individuen. Findet sich auch für diese Form der Beziehungen in den Frankfurter Texten eine Vorstufe? Hegel behandelt die der Liebe entgegengesetzte Bewegung des Trennens der Einheit des Lebens in den viel diskutierten Passagen des „Geistes des Christentums" über Schuld und Schicksal. Er interpretiert dort das biblische Thema von Sünde und Vergebung (bzw. Gnade) im Lichte seines Verständnisses der griechischen und Shakespeareschen Tragödie. Demgemäß behandelt er zunächst den Mord als Ursache der Entzweiung des Lebens. Er dehnt aber den Vorgang der Trennung der Einheit des Lebens durch die Konfrontation der Individuen auf die Beleidigung, den Rechtsstreit und schließlich sogar den Verzicht auf Clie Selbstbehauptung, den Rückzug in die „Schönheit der Seele" (286) aus. Es geht Hegel in all diesen Fällen um die Analyse der Bedingungen, unter denen die Rückkehr aus der Entzweiung zur Vereinigung bzw. Versöhnung der Liebe möglich ist. Von seiten des Täters setzt dies voraus, daß er seine Tat selbst als Zerstörung der Einheit des Lebens, d. h. als Selbstisolierung auffaßt. Dies kann nur dann geschehen, wenn er sich nicht dem Gesetz gegenüber sieht, sondern dem Schicksal, d. h. dem durch die eigene Tat zum Feind gewordenen Leben. In dem Bewußtsein, sich das Leben selbst verfeindet zu haben, die Gemeinschaft mit den Anderen selbst zerstört zu haben, ist nämlich schon die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Einheit enthalten. Insofern das Bewußtsein der Feindlichkeit des Anderen zugleich das Bewußtsein der verlorenen, aber wiederherstellbaren Einheit mit ihm ist, finden sich in

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dieser „Dialektik" 49 bereits Ansätze zur Konzeption einer Bewegung, die Einheit gerade durch die Beziehung des Gegensatzes herstellt. Wenn Hegel schreibt, die „Entgegensetzung" sei die „Möglichkeit der Wiedervereinigung" (382), dann meint er damit freilich nicht, daß die Zerstörung der Einheit des Lebens durch die Tat des Verbrechers notwendig wäre, sondern daß der Verbrecher das Resultat dieser Zerstörung als Entgegensetzung innerhalb des Lebens selbst fühlen muß, um zur Versöhnung zu gelangen. Das besagt keineswegs, daß der Kampf notwendig sei für die Anerkennung, für das Bewußtsein der Einheit der Individuen. Wie weit Hegel noch von der Jenaer Theorie des Kampfes entfernt ist, zeigen auch seine Erwägungen über die Reaktion des Angegriffenen: die Reaktion, die Versöhnung ermöglicht, ist nicht die Selbstbehauptung und damit der Kampf für eigene Rechte, sondern der bewußte Verzicht einer „edlen Natur". Nach der Auffassung Hegels führt ein Rechtsstreit nämlich in einen Widerspruch, der Versöhnung unmöglich macht. Da durch die Verteidigung der Angreifer seinerseits verletzt wird, also ein Recht zur Verteidigung erhält, ist der Rechtsstreit ein Gegensatz zweier Rechte, d. h. es gibt „zwei Allgemeine", die sich gegenseitig aufheben „ und doch sind". Der Kampf widerspricht aber auch der Einheit des Lebens: betrachtet man die Kämpfenden als „ Wirkliche", d. h. Momente des Lebens, dann ist im Rechtsstreit „Leben im Kampf mit Leben, welches sich wieder widerspricht" (alle N 284 f.). Das Beharren auf dem Rechtsstandpunkt führt folglich zu einem unversöhnbaren Gegensatz - egal ob der Rechtsstreit durch „Gewalt und Stärke" oder· durch Richterspruch entschieden wird. 50 Aus diesem Grunde hat H egel über die Tapferkeit, die sich wehrt, die edle Natur bzw. die schöne Seele gesetzt, die „über Rechts48

verhältnisse erhaben" ist und auf alles, was Gegenstand einer „ Verletzung" sein könnte, bewußt verzichtet. Diese Einstellung wird als Sy nthese von Tapferkeit und Passivität bestimmt, insofern sie nicht bloß schmerzliches Dulden, sondern aktiver Verzicht ist. 51 Auch er kann aber nicht unter allen Umständen Entzweiung überwinden. In einer „entwürdigten Welt", in der Gesetz und Recht alle Seiten des Lebens beherrschen, führt auch diese höchste Form von Liebes- und Versöhnungsbereitschaft zur Entzweiung des Lebens: der Verzicht auf alle Rechte entfernt die schöne Seele aus der Gemeinschaft mit den anderen - das Leben wird zwar nicht feindlich aber „untreu" (286). Liebe und Kampf sind also im „Geist des Christentums" noch nicht als zwei Momente eines lnteraktionsprozesses gesehen, in dem sich Selbstbewußtsein durch Trennung und Vereinigung bildet. Die Trennung, die die Liebe zu überwinden sucht, kann verschiedene Ursachen haben: nicht nur den Konflikt um Rechte - der eine bestimmte historische Situation voraussetzt - sondern auch die Reflexion sowie generell die „Entwicklung" und Ausbildung von Individualität. Trotz des Fehlens einer der Liebe komplementären Bewegung der Trennung enthält aber der letzte Teil der Schrift - die kritische Darstellung des Schicksals der frühchristlichen Gemeinde - Hinweise darauf, daß Hegel zumindest für das Zusammenleben der Individuen in großen Gemeinschaften eine Beziehung der Distanz neben derjenigen der Liebe für unumgänglich gehalten hat. Die für dieses Thema entscheidenden Fragen formuliert er auf S. 322 des Nohlschen Textes: „Gibt es eine schönere Idee als ein Volk von Menschen, die durch Liebe aufeinander bezogen sind? .. . Sollte in dieser Idee noch eine Unvollständigkeit sein, daß ein Schicksal Macht in

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ihr hätte? oder wäre dies Schicksal die Nemesis, die gegen ein ZU schönes Stfeben, gegen ein Überspringen der Natur wütete?" Und obgleich die darauf folgenden Ausführungen über die frühchristliche Gemeinde diese Fragen nicht mit derselben Klarheit beantworten, scheint Hegel die letzte Frage zu bejahen. Die Liebe, das Prinzip dieser Gemeinde, ist auf die Dauer nur realisierbar in einem kleinen Kreis Gleichgesinnter. Sie schließt die „Verbindung in einem Objektiven, zu einem Zweck, einer Entwicklung einer anderen Seite des Lebens" - außer dem gemeinsamen Glauben und seiner Verkündigung aus (323). Das Prinzip einer „Verbindung Vieler" ist dagegen die Bewältigung „gleicher Not", die einen solchen objektiven Zweck für gemeinsame Handlungen darstellt. Der in ihnen sich bildende Geist kann sich dann in „Spielen" und kultischen Handlungen darstellen und ,genießen'. Es scheint, daß Hegel an dieser Stelle wiederum das griechische Gemeinwesen und seine Volksreligion der frühchristlichen Gemeinde gegenüberstellt (vgl. auch N 332). Wie die Beziehung der Individuen in diesem Gemeinwesen im Unterschied zur Liebe der Jünger Jesu bestimmt ist, wird allerdings nicht ganz klar. Was verhindert, daß in ihm die „Individualitäten gegeneinander (zu) stoßen" ·wie in der christlichen Gemeinde, wenn sie ihren engen Kreis überschreitet? Ist es in ihr möglich, daß die Individuen „die ruhigen Grenzen ihrer Trennung stecken und bewahren" (304)? Das würde bedeuten, daß Hegel dem Recht, dem gegenseitigen Respektieren der „Grenzen", eine positive Bedeutung für das Bestehen eines Gemeinwesens zugedacht hätte. Hegel leugnet in der Tat nicht, daß es in der griechischen Polis Gesetz und Recht gegeben hat, auch wenn in ihr nicht wie im jüdischen Staat das gesamte Leben regle50

mentiert und von einem „Gewebe" gesetzlicher Bestimmungen durchzogen war. Vielmehr war der „große Zweck" der athenischen Gesetzgebung „Freiheit der Bürger" (255) . Im „Geist des Christentums" ist Hegel freilich zu sehr von der Kritik an Gesetz und Recht als alleinigem Prinzip einer Gemeinschaft - wie im jüdischen Staat und der allein auf den Schutz des Eigentums ausgerichteten modernen Gesellschaft52 - in Anspruch genommen, um das Recht als Bedingung der Freiheit bestimmen zu können. Dem Recht eine positive, wenn auch der absoluten Sittlichkeit untergeordnete Stelle einzuräumen, wie in der Jenaer Realphilosophie, dazu ist Hegel - zumindest explizit - noch nicht bereit. Denn das Recht ist für ihn noch nicht, wie in Jena, selbst Bewegung des Anerkennens, die ein Moment des Sichvereinigens bzw. der Liebe enthält. Liebe und Recht erscheinen ihm noch als unversöhnbare Gegensätze - als Prinzip der Beziehungen in einem Gemeinwesen aber sind beide unzureichend. Auf Recht allein kann sich nur ein mechanischer, den Menschen zum „Automaten" (293) degradierender Staat gründen - auf Liebe allein nur eine wirklichkeitsferne Sekte. Aus der Beschränkung der Liebe auf eine kleine homogene Gemeinschaft folgert Hegel keineswegs - wie etwa Rousseau - den Vorzug kleiner Gemeinwesen, sondern sieht darin eine Schwäche der Liebe als Integrationsprinzip: ihr Resultat ist Weltflucht, Abkapselung - insofern sie zum Selbstgenuß sogar „Feindschaften erschafft" (322) - oder das Gegenteil, „Fanatismus" durch die „ widernatürliche Ausdehnung des Umfangs der Liebe" (324). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Hegel offenbar in den Texten über den „Geist des Christentums" ebensowenig wie in den frühen Frankfurter Fragmenten eine der Liebe entsprechende, ebenso notwendige und mit ihr 51

vermittelbare Tätigkeit des Sichunterscheidens der Individuen konzipiert hat. Zwar setzt die Liebe Trennung voraus, ist sie definiert als eine vereinigende Bewegung, die Trennung, Isolation und Entgegensetzung überwindet, aber diese Trennung kann durch Entwicklung der Individualität, Bildung und Reflexion entstehen. Ob es zwischen „entwickelten" Individualitäten notwendig zum Konflikt kommen muß - was in der Bildungsgeschichte des Bewußtseins in den Jenaer Schriften der Fall ist - läßt Hegel im Grunde offen. Wird der Konflikt zum Streit um Rechte, in dem der Rechtsstandpunkt alleiniger Maßstab des Handelns wird, dann ist Versöhnung unmöglich. Daß Versöhnung ein Aufgeben des Rechtsstandpunktes voraussetzt, muß aber nicht bedeuten, daß im Recht als wechselseitiger Selbstbeschränkung nicht ein positives Moment der interpersonalen Beziehung liegen kann. Eben dies scheint Hegels Kritik der frühchristlichen Gemeinde am Maßstab der Polis anzudeuten. Jedenfalls wird in ihr das Unzureichende der Liebe als Prinzip eines Gemeinwesens deutlich und das uneingeschränkte Primat der Liebe über das Recht fraglich. Betrachtet man Hegels Bestimmung der Liebe und der verschiedenen Formen der ·Entzweiung im „Geist des Christentums" als Vorformen seiner Jenaer Anerkennungslehre, so zeigt sich, daß Hegel die Einheit des Sichunterscheidens und der Vereinigung für den Bildungsprozeß des Selbst noch nicht gesehen hat. Daß das Bewußtsein meiner als unterschieden von Anderen und als eins mit ihnen, als Moment eines allgemeinen Selpst, sich wechselseitig bedingen, ist noch nicht Bestandteil von Hegels „Intersubjektivitätstheorie". Insofern bleibt er sogar hinter Fichtes Theorie der Anerkennung zurück. Er geht aber zugleich durch die Aufhebung des Gegen52

satzes von reinem Bewußtsein und empirischer Individualität über Fichte hinaus. Liebe ist eine vereinigende, Isolierung aufhebende Bewegung, in der der Einzelne auch als sinnlich-natürliches Wesen zur Geltung kommt - mit den Worten des Jenaer Hegel: anerkannt wird.53

3. Die Theorie der Anerkennung in den Jenaer Schriften Im folgenden soll dargestellt werden, was Hegel in den Schriften der Jenaer Zeit unter Anerkennung verstanden hat. Erst danach können wir die Bedeutung der Theorie der Anerkennung für die Methode der praktischen Philosophie Hegels in Jena erörtern. Wir werden dabei zu zeigen versuchen, daß Hegel in Jena mit Hilfe der Anerkennungslehre die klassische praktische Philosophie erneuert und eine Methode der Kritik von Institutionen durch die Erfahrung des Bewußtseins entwickelt, die für die Lösung gegenwärtiger Probleme der praktischen Philosophie fruchtbar gemacht werden könnte. Wie Hegels gesamte Philosophie so ist auch seine Anerkennungslehre in der Jenaer Zeit in einer ständigen Entwicklung begriffen. Obgleich diese Entwicklung für das Verständnis seiner „reifen" Anerkennungslehre in der Realphilosophie von 1805/ 1806 und der Phänomenologie von Wichtigkeit ist, können wir hier nicht alle Phasen dieser Entwicklung im einzelnen darstellen. Wir fassen vielmehr die Texte v or der Phänomenologie zusammen und orientieren uns dabei an der „entwickelten" Form der Anerkennungslehre in der Realphilosophie von 1805/ 1806. Von dieser ausgehend, muß man zwei Stufen des Prozesses der Anerkennung unterscheiden: einmal die Anerkennung als Wechselbeziehung zwischen

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Individuen und zum anderen das Anerkennungsverhältnis zwischen Einzel- und Allgemeinwillen, gebildetem Selbst und Volksgeist. Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe verdient besonderes Interesse unter dem Aspekt der Frage, ob der Schritt vom Ich zum Wir bei Hegel allein durch eine Zweierbeziehung hergestellt wird oder - wie in der Gegenwartsphilosophie etwa Sartre zu zeigen versuchte (s. u. S. 77 ff.) - einen „Dritten" voraussetzt. Eine solche Teilung der Anerkennungsbewegung in zwei Hauptstufen - die ich auch in der Phänomenologie nachzuweisen versuche - ist sicher nicht unproblematisch. Auch die zweite Phase - so wie sie etwa im Kapitel „ Wirklicher Geist" der Realphilosophie von 1805/1806 behandelt wird - enthält offenbar noch „interpersonale" Prozesse wie Tauschbeziehungen oder das Verbrechen, insoweit es als Kampf verstanden wird. 54 Es wird sich aber zeigen, daß es sich dabei - gleichsam hinter der Fassade von Zweierbeziehungen - um Entwicklungen im Verhältnis von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein handelt. Umgekehrt geht es auch auf der ersten Stufe schon um ein Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit55 - aber hier bedeutet Anerkennung in erster Linie das sich Anschauen im anderen, einzelnen Bewußtsein. In dieseqi. Anschauen erfahren die Individuen erst ihre Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen, allgemeinen Bewußtsein bzw. Willen. a) Die erste Stufe: Anerkennung als Synthese von Liebe und Kampf In der Realphilosophie (1805/1806) bildet sich das „Anerkanntsein" der „Person" 56 im allgemeinen Willen durdi zwei „Schlüsse", die Liebe als „Anerkanntsein 54

ohne Gegensatz des Willens" (218) und den Kampf als „Anerkennen" der Subjekte als „freies Selbst" (221). 57 „Liebe" hat in der Jenaer Zeit nicht mehr die zentrale Bedeutung der Frankfurter Schriften - sie wird von Hegel nicht mehr als die universale Macht der Vereinigung betrachtet, sondern eingeschränkt auf die vereinigende Beziehung zwischen Subjekten, die in der Familie institutionalisiert ist. Entwicklungsgeschiditlich gesehen hat Hegel dieses Element der ersten Anerkennungsphase zuerst konzipiert: im System der Sittlichkeit ist die Familie, die hödiste Potenz der natürlichen Sittlichkeit, das gegenseitige Anerkennen der Individuen in und trotz ihrer „natürlichen Differenz" und den darauf aufbauenden Arbeits- und Herrschaftsverhältnissen58 . Hegel hat freilich in dieser Erörterung noch nicht ausdrücklidi die der Familie zugrunde liegende Beziehung der Einheit als „Liebe" bezeichnet. Das „natürliche Einssein des Mannes, des Weibes und des Kindes .. „ worin der Gegensatz der Persönlichkeit und des Subjekts aufhört," (36) muß aber als Vorform dessen betrachtet werden, was in der Realphilosophie als Liebe bestimmt wird. 59 Das zweite Element, das Anerkennen mit Gegensatz des Willens, ist im „System der Sittlichkeit" ebenfalls schon angedeutet: einerseits im Anerkennen der Person als „Möglichkeit, das Gegenteil seiner selbst in bezug auf eine Bestimmtheit zu sein" (ebd.), zum anderen als Formen des Kampfes im zweiten Teil des Systems - ohne daß Hegel diese Phänomene sdion als Moment der Bewegung des Anerkennens begriffen hätte (Siep 197 4, 167 ff.). Das ändert sidi im Systementwurf von 1803/ 1804, in dem der Zweikampf, die Beziehung zweier fürsichseiender, einander ausschließender Einzelner, zum entsdieidenden Moment der „dualen" Anerkennungsbewegung geworden ist. 55

a) Liebe Was ist unter der „gegensatzlosen" Anerkennung der „Familiengesinnung" bzw. der Liebe zu verstehen? Die folgenden vier Grundzüge der Liebe in den Jenaer Schriften müssen festgehalten werden: a) sie ist eine bewußte Einheit von Subjekten, b) sie ist eine Einheit, deren Glieder ihre Selbständigkeit in dieser Beziehung (der Liebe) aufgeben, d. h. eine gegensatzlose Einheit; c) sie ist eine Beziehung zwischen „ungebildeten", natürlichen Individuen - und schließlich d) ist sie, vor allem nach der Realphilosophie von 1805/1806, eine Einheit von Fürsichsein und Sein für Anderes, von Selbst und „Gegenständlichkeit" (209). a) Hegel handelt von der Liebe im natürlichen Sinne des Geschlechtsverhältnisses - das unterscheidet, wie gesagt, die Jenaer von den Frankfurter Schriften. Gleichwohl macht die Liebe diese Beziehung zu einer „idealen" (VI, 302), ihre Einheit besteht nicht im „Genuß", sondern in dem Bewußtsein beider, das hier die „Existenz" der Liebenden ausmacht. Das gilt auch für die Realphilosophie von 1805/ 1806, wenngleich Hegel dort bei den „Momenten" (213) der Familie zwischen der „natürlichen" und der „selbstbewußten Liebe" unterscheidet. Thema der Erörterung der Liebe ist trotz anscheinend primär „körperlicher" Phänomene wie „Reiz" und „Erregung" die Liebe als „Erkennen" oder Anschauen.~­ kennen aber bedeutet, das Selbst im Anderen wiederfinde-;,·- ~-·si~h-=A~-;di;:~n -- im . -Anderen, das_ __tlir

Anf~n; ci~;-.A~~~k·~~~ung~.b~~;~g~ng i~t,-bedeutet z~ei­

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schon Resultat einer Erfahrung: „Jedes weiß unmittelbar sich im Anderen und die Bewegung ist nur die Verkehrung, wodurch Jedes erfährt, daß das Andre.sich ~be~so in seinem Andern weiß." (210) Daher finde ich mich im Anderen nicht nur durch meine Erregung, die bedeutet sein Wesen im Anderen zu haben", sondern auch durch das Wissen, daß ich selbst es bin, in dem der Andere sein Wesen hat. Zudem erfahre ich die Gleichheit meiner und des Anderen hinsichtlich des Außersichseins. Auf diese Weise bezieht sid1 jeder im Anderen auf sein eigenes, allein durch diese Beziehung bestimmtes Wesen: die „Beziehung selbst" wird das „Seyn beyder" (VI, 302 f. ), sie sind (und wissen sich als) wesentlich „Geliebte". b) Diese Einheit ist, wie schon in Hegels früherer .Konzeption der Liebe, gegensatzlos. Nach der Realphilosophie ist es das Wesentliche der Liebe, „daß eben Jedes dadurch, daß es sich im Andern weiß, sich aufhebt, als für sich seyend, als verschieden, seine Selbständigkeit aufgibt" (210). D ie Selbständigkeit, die hier aufgege?en wird ist die der Unterschiedenheit vom Anderen - mcht die des Selbstbewußtseins schlechthin, denn Liebe und Geliebtwerden ist auch eine Selbsterfahrung. So bezeichnet Hegel schon im Entwurf von 1803/ 1804 die Liebe als Einssein „in dem absoluten für sich seyn beyder" (VI, 302). Das ist kein Gegensatz zu der spätere.n Stelle, denn auch in diesem Einssein sind die Unterschiede aufgehoben insofern das gemeinsame Bewußtsein der Liebe zum aus~auschbaren Bewußtsein eines jeden der beiden geworden ist (ebd.). Liebe ist eine Steigerung des „Fürsichseins" im Sinne der Bewußtheit durch „Verzicht" (VIII, 209) auf das Fürsichsein im Sinne der Unter~chiedenh.eit vom Anderen. Verlorenheit im Anderen ist zugleich Selbstanschauung in dessen L iebe - aber als mit ihm eins, „ohne Gegensatz des Willens" (VIII, 218). 57

c) Ist in der Liebe dann nicht die Unterschiedenheit und Selbständigkeit des „Du" aufgegeben, an denen selbst die Frankfurter Schriften festhielten? · Ist in ihr dann überhaupt „Individualität" anerkannt? Nun heißt es ausdrücklich von der Liebe, daß in ihr die Individuen „nach der Totalität, in der sie der Natur angehören" (VI, 302) bzw. als „ungebildetes natürliches Selbst" (VIII, 210) anerkannt seien. Dazu aber gehören offenbar die Charakteristika, durch die sich ein Individuum vom anderen unterscheidet. Die Aufgabe der Selbständigkeit in der Liebe kann mithin keine Negation der individuellen Eigenart sein - sie ist im Sinne Hegels noch keine „Bildung", sondern nur Verzicht auf das sich für sich Behalten-, sein Wesen in sich selbst Finden-Wollen. Daß die natürliche Individualität in der Liebe anerkannt ist, bedeutet aber mehr: sie ist selber Gegenstand der Liebe, macht die Liebenswürdigkeit des Geliebten aus. Insofern muß sich in der Liebe tatsächlich jeder in seiner „unvertretbaren Individualität" 60 darstellen können. Das Sich-Anschauen im Anderen bedeutet unter diesem Aspekt: sich gerade von dieser natürlichen Individualität des Anderen eingenommen wissen - und umgekehrt die eigene Individualität als wesentlich für den Anderen wissen. Das heißt aber wiederum nicht, daß die eigene Individualität in der Abhebung vom Anderen zum Bewußtsein käme und zur Geltung gebracht würde. Was vielmehr dem Bewußtsein „Gegenstand" wird, ist „nur diß Seyn im Anderen" (VIII, 210). d) Darin ist aber nach Auffassung der Realphilosophie von 1805/1806 bereits eine Einheit von Selbst und Gegenstand, Fürsichsein und Sein für Anderes erreicht. Der meinem Bewußtsein zunächst als „Seyendes" (208) gegenüberstehende Andere erweist sich ja, wie oben unter a) gezeigt, als mir nicht fremd, sondern konstitutiv für 58

mein Selbst und wesensgleich. Daher ist der Selbstverlust im Anderen zugleich ein Sich-Finden im Anderen als Selbst. In der Liebe heben sich die Unterschiede des Fürsich- und Füranderesseins auf. Hegel zeigt dies detailliert an den beiden aufeinander bezogenen „ Charakteren" des Männlichen - Trieb, Tätigkeit nach außen, Einzelheit - und Weiblichen - List, Insichsein, Wissen, Allgemeinheit. In der wechselseitigen Erregung wird beides austauschbar: das Sich-Wissen ist Außersichsein, Sein für Anderes, und die Tätigkeit nach außen ist Finden seiner selbst. So ist jedes darin „dem andern gleich, worin ihm entgegengesetzt" (209). Weil sich in ihr das selbstlose Für-anderes-Sein, die Gegenständlichkeit als Selbst erweist, ist die Liebe ein „Erkennen". Wird dieses Erkennen zum Sich-Wissen im Anderen als selbständiges, unterschiedenes Fürsichsein, dann wird das Erkennen erst im vollen Sinne zum „Anerkennen". Dazu ist aber ein sich Wiederfinden als unterschiedenes Selbst nötig. Wie kann es zum „Rückzug" des Ich auf sich selbst aus seiner Selbstverlorenheit in der Einheit der Liebe kommen? Dies ist ja Voraussetzung einer Konfrontation zweier Selbständiger, die gerade ihre Unterschiedenheit vom Anderen diesem gegenüber zur Geltung bringen wollen - wie das im Kampf um Anerkennung der Fall ist. Den Übergang von der Liebe zum Kampf macht Hegel in den beiden Entwürfen von 1803/ 1804 und 1805/1806 über die Familie - genauer die übrigen Momente der Familie, denn die Liebe ist deren erstes und entscheidendes Moment. Dieser Übergang ist deshalb von besonderem Interesse, weil Hegel ein „Drittes" einführt, in dem die Einheit der beiden sich selbst anschauen kann. Für die Frage, ob die Bildung des gemeinsamen Bewußtseins bei Hegel allein über eine Zweierbeziehung erfolgt oder einen Dritten benötigt, können 59

wir hier eine erste Antwort erwarten. Ein solches Drittes ist für Hegel im Systementwurf vor 1803/1804 das.Kind, in der Realphilosophie der Familienbesitz und das Kind. Der Familienbesitz vergegenständlicht freilich nur Momente der Liebe: das Sein für Anderes als „gegenseitlige Dienstleistung" (VIII, 211) und die im Verschwinden der momentanen Beziehungen von Erregung und „Befriedigung" bleibende Allgemeinheit des „abstracten Seyns" (212 R). Als „ Wirklichkeit, Selbst, Fürsichsein" (ebd.) vergegenständlicht sich die Liebe erst im Kind. In ihm wird sie als „selbstbewußte Einheit" (212) anschaubar. An der Eltern-Kind-Beziehung ist für den Übergang von der Liebe zum Kampf folgendes wichtig: a) daß das Selbstbewußtsein sich in einem anderen Fürsichsein anschaut, das sich nicht selber aufgibt, sondern Selbständigkeit zu gewinnen trachtet, b) daß der Gegensatz zwischen Selbst und Gegenständlichkeit zu einer höheren, bewußtereri. Synthese gebracht wird. Beides zusammen (a, b) macht die Familienbeziehung zu einem „in sich geschlossenen Ganzen" (VIII, 213) bzw. zu einer „Totalität" des einzelnen Bewußtseins (VI, 306 ). a) Hegel faßt in beiden Entwürfen Zeugung und Erziehung des Kindes als „Tod" der Eltern auf. Im Text von 1803/1804 steht dahinter .v or allem die naturphilosophische Deutung des Gattungsprozesses. Schon im Gattungsprozeß des Tieres trat den Eltern im Kind die Gattung selbst und das eigene „Vernichtetseyn in ihr" (VI, 243) gegenüber. Der Zeugungsprozeß ist insofern sowohl Aufhebung wie Neugestaltung der Individualität. Dieses Sich-Bilden der neuen Individualität auf Kosten der alten ist aber auch das Wesentliche des Erziehungsprozesses: das Kind übernimmt gewissermaßen das Bewußtsein der Eltern als „Materie" (VI, 304 ), aus der es sein eigenes Bewußtsein bildet, indem es in der 60

Auseinandersetzung mit der äußeren Welt - und im bildenden „Dienst" an der Familie - diese Materie umformt, sich aneignet. Dieses Aneignen ist eine Negation des elterlichen Bewußtseins. Darum schauen die Eltern im K ind zugleich ihr eigenes Bewußtsein und das SichBilden eines selbständigen Fürsichseins durch Negation ihres Bewußtseins an. E ine Negation freilich, die noch in den Grenzen liebender Anerkennung bleibt - sonst könnte sich diese nicht mehr im Kind vergegenständlichen und zum sich selbst wissenden Anerkennen werden (vgl. VIII, 213). Zu einem wirklichen „Gegensatz des Willens" kommt es erst im Kampf. b) Im Kind sehen nicht nur die Eltern ihr gemeinsames Selbst vergegenständlicht und zum Anderssein geworden - auch dem Kind ist die Gegenständlichkeit primär „geistige Substanz", vom Bewußtsein der Eltern geprägte, gedeutete Welt, „durchgegangen durch die Form des Bewußtseyns" (VI, 305 ). Was an ihr noch fremd ist, eignet sich das Kind durch Erfahrung und den bildenden Dienst •in der Familie an, macht es zum „Seinigen" (VIII, 213 R) . Auf diese Weise fällt der Gegensatz zwischen dem „tätigen" Selbst und der „nicht bewußten Seite", der Seite des Gegenstandes, hinweg, das Bewußtsein erfaßt sich als „Identität des innern und äußern" (VI, 305). Sowohl das Bewußtsein der Eltern - in seiner Beziehung auf das Kind und auf den Familienbesitz - wie das des Kindes ist damit zur „Totalität" bzw. zu einem „Ganzen" geworden. Erst diese Beziehung eines Fürsichseins, das sich als Einheit von Selbst und Gegenstand weiß, auf ein anderes, ebensolches Fürsichsein, macht es zu einem „selbstbewußten Fürsichsein" bzw. zu einer „vollständigen freyen Individualität" (VIII, 213). Damit aber sind in der „Innenbeziehung" der Familie schon Momente der Beziehung selbständiger Totalitäten ver61

wirklicht, die nach Hegel notwendig „Kampf" sein muß. Die Eltern-Kind-Beziehung ist deshalb bei Hegel so schwer zu bestimmen, weil sie in diesem Übergang steht: als Familienbeziehung ist sie von der gegensatzlosen Anerkennung der Liebe bestimmt, in Zuneigung und Dienst des Kindes wissen sich die Eltern selbst anerkannt. Aber die Erziehung und das Selbständigwerden des Kindes ist als Negation des Bewußtseins der Eltern bereits ein „Aufheben der Liebe" (ebd.). Beides muß sich offenbar die Waage halten, damit es zum Bewußtsein der Totalität kommt, die sich dann aktiv nach außen abgrenzt.61 Wie steht es nun mit der Frage der Zweier- bzw. Dreierbeziehung? Wir können der Familienbeziehung dazu nur erste Hinweise entnehmen, da sie noch nicht den Übergang vom einzelnen zum allgemeinen Bewußtsein darstellt. Daß für Hegel der „Dritte" notwendig für das Bewußtwerden der Einheit zweier selbstbewußter Wesen ist, läßt sich nicht bestreiten. Die Frage ist aber, ob die Eltern-Kind-Beziehung eine wirkliche Dreierbeziehung ist, oder ob die Eltern dem Kind als ein einziges Subjekt gegenübertreten. Hat Hegel wirklich zum Thema gemacht, wie sich eine Zweierbeziehung durch das Hinzukommen eines Dritten :verändert? Was bedeutet die Beziehung auf das Kind für die Beziehung der Eltern untereinander? Die Beziehung auf den Dritten macht zum einen die in der Zweierbeziehung erreichte Einheit ihren Subjekten erst voll bewußt - sie werden damit erst angesichts des „Reflexes" in einem Dritten zum „Wir". Zum anderen stellt sie eine neue Stufe solcher Zweierbeziehungen dar, weil das Kind seine Selbständigkeit nicht - wie die Eltern in der Liebe - aufgibt. Hegel hat aber in der Realphilosophie betont, daß die Beziehung der Liebe als Geschlechtsverhältnis und die

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Eltern-Kind-Beziehung als Momente in der Familie gleichsam „nebeneinander" bestehen {213). Erst durch beide Beziehungen zusammen wird das Subjekt zum selbstbewußten Fürsichsein. Insofern ist die Familie zum einen die Anschauung der Zweierbeziehung in einem Dritten und zum anderen die Einheit zweier verschiedener Zweierbeziehungen. Die Beziehung der Eltern untereinander wird also durch die Beziehung eines jeden auf das Kind nur hinsichtlich der Art des Bewußtseins ihrer Einheit verändert. Dadurch entsteht zwar das Bewußtsein der Einheit zweier selbstbewußter Individuen, aber noch nicht dasjenige einer Einheit Selbständiger im allgemeinen Bewußtsein. Dazu kommt es erst durch die Bewegung des Kampfes um Anerkennung.

ß) Kampf Die verschiedenen Fassungen des Kampfes um Anerkennung habe ich an anderer Stelle ausführlich erörtert, um nachzuweisen, daß das Modell dieses Kampfes der Zweikampf um Ehre ist. 62 Ein solcher Kampf kann freilich, wie Hegel seit dem Entwurf von 1803/1804 annimmt, durch Besitzkonflikte ausgelöst sein. Wichtiger als Modell und „Auslöser" des Kampfes ist aber für das „Prinzip" Anerkennung die Tatsache, daß nach Hegel die Bildung eines einzelnen und des gemeinsamen Bewußtseins nicht durch die gegensatzlose Beziehung der Liebe und die unmittelbare „Solidarität" der Familie zustande kommen kann, sondern ein Moment der Distanz, des Geltendmachens der Selbständigkeit und Unterschiedenheit des Einzelnen voraussetzt. Im Kampf um Anerkennung wird dieses Moment der Distanz radikalisiert; die Einzelheit, die sich als Ganzes weiß und ihre „Identität" durch den Ausschluß jedes Anderen aus ihrer Totalität

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gleichsam „definiert", setzt sich absolut. Nach dem Systementwurf von 1803/1804 besteht die Totalität des einzelnen Bewußtseins darin, daß „jede Einzelheit seines Besitzes und seines Seyns" in die „Idealität" seines Fürsichseins aufgenommen ist (VI, 307 f.). Nicht mehr in der Gleichgültigkeit gegen jede seiner „Bestimmtheiten" - nach dem „System der Sittlichkeit" Ausdruck der Totalität der Person - sondern in der Fähigkeit, sich mit jeder seiner Bestimmtheiten ganz identifizieren zu können, liegt das Wesen des Subjektsf.piese Totalität muß aber - das ist die fundamentale Voraussetzung der Theorie der Anerkennung - vom Anderen bestätigt werden.l Das kann nur in einem Konflikt um eine solche einzeln;Bestimmtheit geschehen, deren „Verletzung ... unendlich" bzw. „absolute Beleidigung" ist (VI, 308). Die Frage, ob diese Beleidigung durch eine bewußte Negation der Anerkennung der Personen, wie im „System der Sittlichkeit", durch Besitzverletzung, wie im Systementwurf (1803/1804 ), oder durch Besitzergreifung und die damit verbundene Ausschließung, wie in der Realphilosophie, zustande kommt, ist dabei in unserem Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Das Bewußtsein ist „absolutes Fürsichsein", und es muß durch seine Tätigkeit, die immer den Charakter des Negierens und Entgegensetzens hat (vgl. VI, 308 f.), in Gegensatz zu einem anderen Fürsichsein geraten: „sie müssen daher einander verletzen" (ebd.). Die „Bewegung" des Kampfes um Anerkennung beginnt - jedenfalls nach der Realphilosophie - auf der Seite des „Ausgeschlossenen" - ausgeschlossen durch den Ausschließlichkei tsanspruch des Anderen auf seinen Besitz. „Für sich seyend" ist das Bewußtsein zunächst, weil es „für den anderen nicht ist" (VIII, 219), also quasi auf sich zurückgeworfen ist. Um anerkannt zu werden, dem 64

Anderen positiv zu gelten, muß es sein Fürsichsein „in das Fürsichseyn des andern" setzen. Dadurch aber ist die Verteidigung des Ausgeschlossenen eine Steigerung des Kampfes: ihm geht es von vornherein um das Bewußtsein des Anderen - nicht um das „Ausschließen aus dem Sein", sondern um ein „Ausschließen des Wissens" (219). Die Erfahrung des Kampfes beginnt also für den ersten Besitznehmer nicht nur mit dem Abgestoßensein vom Anderen, sondern damit, daß „ein Fremdes für sich seyn ... sich in das seinige gesetzt" hat (220). Also mit einer Beleidigung, einer Demütigung- einem Angriff auf das eigene Selbstgefühl. Ziel des Kampfes ist, sich im Anderen nicht als aufgehoben zu wissen, sondern „ihm als absolut zu gelten" (ebd.). Was die Weise dieser Selbstdarstellung „als absolut" im Kampf angeht, differieren die beiden Manuskripte von 1803/1804 und 1805/1806 allerdings erheblich: nach dem früheren Text geht es darum, in der Behauptung der „Einzelheit meines Seins und meines Besitzes" sich zugleich als eine „Totalität des Ausschließens" zu erweisen. Ein totales Ausschließen muß auf den Tod des Anderen gehen und sich dabei „selbst dem Tode aussetzen" (VI, 310). Dies aber ist der Widerspruch, am Besitz festhalten zu wollen und zugleich „die Möglichkeit alles Besitzes und Genusses, das Leben" aufs Spiel zu setzen (ebd.). Nach der Realphilosophie dagegen bedeutet das Sich-als-absolut-Darstellen nicht, Besitz und „Sein" zu behaupten, sondern zu zeigen, daß das „Sein die reine Bedeutung des Wissens von sich hat" und dies ist nur möglich durch das „durch sich vollbrachte Aufheben des Daseyns ... durch sich selbst" (VIII, 220). Daher bezeichnet Hegel in diesem Text die eigentliche Intention des Kampfes geradezu als „Selbstmord" (ebd.). Der Grund für diese Differenz liegt in der 65

„inneren Systematik" der Realphilosophie, die den „ wirklichen Geist" als Einheit von Intelligenz und Wille entwickelt. Die Differenz beider, die zunächst als eine solche von Trieb, Tätigkeit nach außen, und List, in sich bleibendem „Zusehen", erscheint, wird - wie oben (s. 59) erwähnt - in der Liebe zu einer ersten Einheit gebracht. Außersichsein und Sich-Finden im Anderen, Selbstbezug also, erwiesen sich ja als ununterscheidbar. Hier im Kampf wird der Wille selbst zum Wissen, indem er sich auf sich selbst richtet, das „aufgehobenseyn" durch die Verletzung von seiten des Anderen in Selbstaufhebung verwandelt. Er ist aber nicht nur „in sich ... reflectirter" , wissender Wille, sondern auch nach außen gerichtet, weiß den „ andern als reines Selbst", insofern er ebenfalls absoluter, sein eigenes „äußerliches Daseyn" aufhebender Wille ist: „es ist ein Wissen des Willens, und daß der Wille eines jeden wissender ist" (alle 221 ). Die Beziehung auf den Anderen ist damit kein Ausschließen mehr, sondern ein Wissen der Identität der sich auf sich beziehenden Willen in ihrer „Reinheit". Dies ist die unmittelbare Form des allgemeinen Willens, die nach der Realphilosophie zu erreichen ist ohne die radikale Zuspitzung des Kampfes, das einander Töten.63 Das Resultat des Kampfes in .der Realphilosophie liegt aber auch nicht auf derselben Stufe wie im Systementwurf von 1803/1804, in dem der Kampf zur endgültigen „Aufhebung" der Einzelheit im Volksgeist führte: im „absoluten Geist eines Volkes" schaute sich jeder als ein solcher an, der „immer zum Tode bereit ist und insofern auf sich Verzicht gethan hat" (VI, 313). Dagegen ist das Resultat des Kampfes in der Realphilosophie nur die „unmittelbare" Form der Sittlichkeit, das Recht, in der der einzelne Wille seiner eigenen Allgemeinheit noch „entgegengesetzt" bleibt (vgl. VIII, 222). Zwar wissen

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die Einzelnen als „Personen" den allgemeinen Willen als ihre „ Wirklichkeit", aber dieser Wille hat noch keinen anderen Inhalt als das Anerkanntsein der „ wissenden", in ihre „reine Einheit reflectirten" einzelnen Willen (221). Das Entscheidende am Resultat des Kampfes ist in der Realphilosophie, daß das Bewußtsein in dieser Bewegung sich vollständig verändert, eine neue „Existenz" gewinnt, die nur im „Anerkanntwerden" als sich selbst aufhebend besteht - und daß es in diesem „Sichanderswerden" sich doch nicht verliert, sondern seine Identität findet. Anerkennen ist eine „Bewegung des zu sich selbst werden eines, in einem andern, und des sich anders werden in sich selbst" (VI, 314 ). Abstrahieren wir für unseren Zweck von diesem unterschiedlichen Resultat, so läßt sich festhalten, daß für die erste Phase des Anerkennungsprozesses, in der durch wechselseitiges E rkennen und Handeln zwischen Individuen ein gemeinsames, allgemeines Bewußtsein und ein allgemeiner Wille entsteht, zwei verschiedene Bewegungen notwendig sind, die Hegel als Zweierbeziehungen faßt. Die erste Bewegung ist die der Aufgabe der Selbständigkeit zugunsten der Einheit mit dem Anderen, in der jeder der beiden gleichwohl seine natürliche Individualität als Bezugspunkt der Zuneigung des Anderen, insofern als anerkannt weiß. Diese Beziehung ist die Liebe als Geschlechtsverhältnis und als „solidarisches" 64 Verhältnis der Familienmitglieder. In der Familie vollzieht sich dann der Übergang zur zweiten Bewegung, weil in ihr das Bewußtsein zur Totalität oder Ganz heit gelangt, indem es sich in einem unabhängigen Anderssein - Besitz, Kind - vergegenständlicht findet. Die zweite Bewegung besteht darin, die Selbständigkeit und Ganzheit des Bewußtsei ns gegen ein anderes selbständiges Bewußtsein geltend zu machen, um gerade als solches,

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das sein „Wesen" in sich hat und sich auf alle Anderen nur negativ bezieht, bestätigt zu werden. Im Resultat dieser Bewegung kehrt sich die anfängliche Intention aber um: nur im Verzicht auf die Totalität der ausschließenden Einzelheit liegt die Möglichkeit, von Anderen freilich ebenso auf sich selbst Verzichtenden - akzeptiert, bestätigt, anerkannt zu werden. Ob damit die negative Beziehung, die Distanz zu den Anderen schon aufgehoben ist, oder ob sie in den Formen des gemeinsamen Geistes, vor allem im Recht, nicht gerade erhalten bleibt - ob also Liebe und Kampf die elementaren Momente der Anerkennung auch auf höherer Stufe sind, sei vorläufig dahingestellt. Wir wollen zunächst prüfen, ob die Bestimmung der Struktur der Anerkennung, die die Phänomenologie des Geistes am Anfang des Selbstbewußtseinskapitels gibt, etwas über die von uns analysierte erste Phase der Anerkennungsbewegung aussagt. b) Die erste Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes Die Theorie der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes wird im folgenden zunächst in sehr eingeschränkter Hinsicht zum Thema gemacht. Die spezifische Methode der Phänomenologie bleibt ebenso außer acht wie die Frage nach der Bedeutung des Anerkennungsprozesses für die Gesamtthematik der „ Wissenschaft des erscheinenden Wissens". Wir wollen zunächst nur prüfen, ob die erörterte Struktur der ersten Phase der Anerkennungsbewegung in Hegels Bestimmung des „Begriffs des Anerkennens" (143) zu Beginn des Selbstbewußtseinskapitels zur Sprache kommt. Dabei können wir nicht davon ausgehen, daß dieser von Hegel analysierte „Begriff" nur die erste Stufe des Anerkennens be-

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zeichnet. Er bezieht sich aber offenbar primär auf das Verhältnis des „Einen" zum „Anderen", des „Ich" zu einem anderen Ich. Daher läßt sich mit Recht fragen, ob die beiden Momente der distanzlosen und der sich distanzierenden Beziehung von Hegel auch in der Phänomenologie als die Elemente der Anerkennung bestimmt worden sind. Das erste Moment der Bewegung des Anerkennens ist nach der Phänomenologie das „ Außersichsein", der Selbstverlust in einem Anderen. Auch der Andere verliert dabei seine Selbständigkeit: indem das Selbst nur sich im Anderen findet, ist dieser selber „aufgehoben" (140). Offenbar hat dieses Moment etwas mit der Anerkennungsstruktur der Liebe zu tun, wenngleich von der positiven Beziehung auf den Anderen, der mir in seiner natürlichen Individualität wesentlich ist, hier keine Rede ist. Hegel kann auch an dieser Stelle der Phänomenologie die Liebe nicht als Gestalt der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins behandeln. Diese Geschidite ist nämlich an einem Punkt angekommen, an der das Selbstbewußtsein versucht, sidi als Wesen des Andersseins - und dieses als nichtig - zu erweisen.65 Das kann nicht in der Liebe, sondern nur im Kampf und in der Herrschaft geschehen. Gleichwohl zeigt Hegels Erörterung des Begriffs der Anerkennung, die weitgehend von der Erfahrungsgeschichte unabhängig ist, daß die Bewegung der Anerkennung nicht mit der Selbständigkeit und deren Behauptung gegen den Anderen beginnt, sondern mit einer selbstverlorenen, distanzlosen Einheit. Erst in einem zweiten Schritt muß gegen dies.a Selbstverlorenheit die Gewißheit seiner selbst als des „ Wesens" (141), die Selbständigkeit also, zur Geltung gebradit werden. Dies gesdiieht in einer ausschließenden, negativen Beziehung auf den Anderen, der gleichsam da, wo

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ich bin - und das heißt jetzt auch: im Anderen - nicht selbständig sein kann. 66 Dies ist der Ausgangspunkt für den Kampf, in dem dann die Aufhebung des Anderen in Selbstaufhebung umschlägt. Was in der Erfahrung des sich entwickelnden Bewußtseins „nacheinander"67 geschieht, ist nun im „Begriff" des Anerkennens gleichsam logisch verschränkt und daher - in Hegels Worten „doppelsinnig". Voraussetzung des Verständnisses dieser Doppelsinnigkeit ist allerdings, daß man Hegels Gleichsetzung von Anderssein und Anderem mitmacht: nur dann ist die Negation des Anderen schon selber Selbstnegation, nämlich Negation des eigenen Andersseins, der Selbstverlorenheit an den Anderen und die Dinge. Der Doppelsinn liegt darin, daß jeder das, was er gegen den Anderen tut - Negation des Anderen auch gegen sich selbst tut - Negation seines Andersseins bzw. äußerlichen Daseins. Er bedeutet ferner, daß das Tun eines jeden - gegen sich und den Anderen - zugleich das Tun des Anderen ist. In der Erfahrungsgeschichte ist diese Doppelsinnigkeit - wie gesagt - in einzelne Schritte auseinandergezogen: der Versuch, das Anderssein des Anderen als nichtig zu erweisen, führt in den Kampf auf Leben und Tod, der jeden in die Gefahr bringt, in seinem eigenen Anderssein, seiner Verbundenheit mit den Dingen und der körperlichen Existenz, negiert zu werden. Eine Gefahr, die entweder zur Unterordnung des Selbst unter dieses Anderssein führt - beim Knecht - oder zur bewußten Negation des eigenen Andersseins, wenn das Selbstbewußtsein dem „Leben" vorgezogen wird. Erst wenn beide einander als „reines Fürsichsein, d. h. als Selbstbewußtsein dargestellt haben" (143), und wenn sie wissen, daß nur diese Darstellung des Anderen das eigene Tun „reflektieren" und anerkennen kann, kommt es zum Be-

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wußtsein der Einheit von „Ich" und „Wir''.68 In diesem Bewußtsein transzendiert das Selbst nicht nur seine unmittelbare, „lebendige" Individualität, sondern auch die sich durch Ausschluß des Andersseins definierende Einzelheit des Bewußtseins selber. Daher kann in ihr auch die Negation des Anderen noch einmal negiert, der Andere als solcher freigegeben werden (vgl. 142). Bis dahin gelangen aber in der Erfahrungsgeschichte der Phänomenologie weder der Kampf um Anerkennung noch die Bewußtseinsformen von Herrschaft und Knechtschaft. Das Scheitern des Versuches, in diesem Verhältnis Anerkennung zu realisieren, zeigt lediglich indirekt, daß Anerkennung ohne wechselseitige Freigabe nicht möglich ist, daß nur anerkannt werden kann, wer sich selbst als anerkennend weiß (vgl. 143). Das Ziel des Anerkennungsprozesses zwischen „Ich" und „Du" - die Einheit von „Ich" und „Wir", die wechselseitige Freigabe und die Anerkennung „als gegenseitig sich anerkennend" (ebd.) - wird in der Erfahrungsgeschichte der Phänomenologie erst sehr viel später erreicht. Der Kampf um Anerkennung führt in ihr weder zur Einheit des sich in den Einzelnen wissenden Volksgeistes - wie 1803/ 1804 - noch zum allgemeinen Willen des Rechtszustandes, wie in der Realphilosophie. Diese Differenz in Funktion und Darstellung des Kampfes um Anerkennung geht auf die systematische Bedeutung des Selbstbewußtseinskapitels in der Phänomenologie des Geistes zurück. In diesem Kapitel soll nämlich das aufgehobene aber noch erhaltene „Bewußtsein" des ersten Kapitels der Phänomenologie (A) mit der unmittelbaren „These" des Selbstbewußtseins, die reine Selbstbeziehung allein sei die Wahrheit alles Wissens, vermittelt werden. Weil das Bewußtsein erhalten ist, begegnen sich die bei71

den „Individuen" nicht nur als Selbste, sondern zugleich unmittelbar als „gemeine Gegenstände" (ebd.), deren Gegenständlichkeit bzw. „Sein" freilich bereits die Bedeutung von Lebendigkeit bzw. „Leben" hat.69 Mit dieser unmittelbaren Beziehung konfrontiert Hegel nun die zuvor exponierte Beziehung von Selbstbewußtseinen, also die doppelsinnige Bewegung des Anerkennens. Da diese Beziehung als das Wesen bzw. die Wahrheit der ersten erwiesen werden soll, kommt es zur Negation des Andersseins bzw. des gegenständlichen Seinsund zwar zu einer wechselseitigen. Dies ist der Kampf auf Leben und Tod, in dem jeder an ihm selbst und am Anderen die Unabhängigkeit des Selbst von allem äußeren Dasein demonstriert („darstellt"). Mit der radikalen Negation des Andersseins im Tode ist aber nicht nur die Chance einer Bewährung der Wahrheit des Selbst vertan, sondern sogar die noch unmittelbarere Form des Selbstbewußtseins, die „Gewißheit seiner selbst" (145), unmöglich gemacht. Eine Erfahrung im Sinne der Phänomenologie - nämlich für das handelnde Bewußtsein ist daher nur möglich, wenn mindestens einem der Kämpfenden das Leben „so wesentlich als das reine Selbstbewußtsein" (145) erscheint. Daß Hegel hier das Herrschafts-Knechtschafts-Verqältnis als mögliche systematische Fortsetzung der Anerkennungsbewegung akzeptiert, liegt wiederum daran, daß sich in ihm der Gegensatz Selbstbewußtsein - Bewußtsein darstellt.70 Zugleich verliert freilich der Kampf an Bedeutung für den Prozeß der Bildung des Selbst: weder der Herr noch der Knecht haben sich im Kampf wirklich „gebildet", ihr ausschließliches Fürsichsein in den allgemeinen Willen aufgehoben. Deshalb ist es sehr fraglich, ob man hinsichtlich des Verhältnisses von Kampf bzw. Tapferkeit - als Kampftugend - und Arbeit, und damit hinsichtlich 72

des Verhältnisses von absoluter und relativer Sittlichkeit von einer Umkehrung der Position der frühen Jenaer Philosophie der Sittlichkeit sprechen kann.71 Eine Umwertung findet dagegen zweifellos statt hinsichtlich des „Bildungswertes" von Zweikampf und Arbeit. Man könnte daraus schließen, daß Hegel jetzt das Adelsethos, wenn es nicht auf das Volk und seine Nationalehre, sondern nur auf die persönliche Ehre bezogen ist, unter die „Bürgertugenden" von Arbeit, Zucht und Dienst stellt. Es geht mir hier aber nicht um eine neue Interpretation der Dialektik von Herrschaft und Knechtschafl:,72 sondern darum, was Hegel als „ungleiche" Anerkennung bezeichnet. Diese Ungleichheit - das wird sich später noch als wichtig erweisen - liegt nach Hegel darin, daß die Wechselseitigkeit des Tuns nicht vorhanden ist: „Zum eigentlichen Anerkennen fehlt das Moment, daß, was der Herr gegen den Andern tut, er auch gegen sich selbst, und was der Knecht gegen sich, er auch gegen den Andern tue." (147) Daher erweist sich auch das Anerkanntsein des Herrn als Schein: weil er die Selbstnegation nicht durchführt, auf die das Bewußtsein des Anderen angewiesen ist, um selbständig zu werden, kann er sich auch nicht in einem anderen selbständigen Bewußtsein anschauen. Ohne radikale Gegenseitigkeit hinsichtlich der Selbstnegation kann kein Anerkennen und kein freies Selbst zustande kommen. Mit welcher Gestalt der Erfahrungsgeschichte ist nun in der Phänomenologie das allgemeine Bewußtsein - in den früheren Entwürfen Resultat der ersten Phase der Anerkennungsbewegung - erreicht? Diese Frage ist aus zwei Gründen nicht leicht zu beantworten : erstens wegen der für die Phänomenologie konstitutiven Differenz zwischen an sich bzw. für uns, das darstellende, und „für es" , das erfahrende Bewußtsein - und zweitens

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deshalb, weil Hegel in der Phänomenologie die Identität von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein nicht allein aus Handlungsformen, sondern auch aus Formen des theoretischen Bewußtseins, des religiösen, des philosophischen etc., hervorgehen läßt. So hebt sich etwa im Stoizismus der „Eigensinn" der Freiheit der „Einzelheit" in die „reine Allgemeinheit des Gedankens" (153) auf. Aber der Stoizismus hat die Identität dieses reinen Gedankens mit der „lebendigen Welt" und der handelnden Individualität nicht nachweisen können (154 ). Daß das „Ansieh", das die „ Wirklichkeit" beherrschende Prinzip, ein mit dem Einzelnen wesensgleicher, aber von der Beschränkung der Einzelheit freier allgemeiner Wille ist, erfährt das „unglückliche Bewußtsein" - weltgeschichtlich die mittelalterliche Religiosität. In der Askese und der Unterwerfung unter den göttlichen Willen hebt es seine Einzelheit auf: „Es wird daher für es sein Willen ... zum allgemeinen und an sich seienden Willen." (171) Dennoch begreift das unglückliche Bewußtsein diese Identität nur als das Jenseits einer „an sich" vollbrachten Erlösung - „es selbst ist sich nicht dieses Ansieh" (ebd.). Erst die nächste Stufe der Erfahrungsgeschichte, die Vernunft, geht davon aus, daß das Bewußtsein das Ansichsein in sich selbst hat. Aber es nimmt diese Identität zunächst unmittelbar, „vergißt" gleichsam den Weg zu ihr, die Negation der Einzelheit. Weil diese Gestalten aber von der „These" der Identität schon ausgehen und bereits Wechselwirkungen des einzelnen mit dem allgemeinen Willen enthalten, werde ich sie später im Zusammenhang der zweiten Phase der Anerkennung erörtern (s. u. S. 97ff.). Ungeachtet dieser Differenzen - bezüglich des Gehaltes und des Resultats des Kampfes um Anerkennung - zwischen der Phänomenologie und den früheren Texten be74

steht doch Übereinstimmung hinsichtlich der Struktur der ersten Stufe der Anerkennung: in der „Begriffsanalyse" der Phänomenologie findet sich sowohl das Moment des selbstverlorenen Außersichseins wie dessen Negation, die Selbstbehauptung des Fürsichseins gegen den Anderen bzw. das Anderssein. Nur dieses zweite Moment ist freilich in der Erfahrungsgeschichte, in der der „reine Begriff des Anerkennens" als ein „Prozeß für das Selbstbewußtsein erscheint" (143), als eine eigene Bewußtseinsgestalt dargestellt. Und auch diese Erfahrung führt noch nicht zur Synthese beider Momente in einer ersten Form des gemeinsamen Willens. Was die Phänomenologie für die erste Stufe der „Jenaer" Theorie der Anerkennung wichtig macht, ist die begriffliche Analyse ihrer „doppelsinnigen" Struktur - nicht die Darstellung von „Interaktionsformen" als Anerkennungsmomente. Für die erste Stufe der Anerkennung bringt sie in dieser H insicht nicht mehr, sondern weniger als die vorhergehenden Schriften. Damit ist auch klar, daß sich an unserem bisherigen Resultat in der Frage der Zweier- und Dreierbeziehungen nichts ändert. Zwar spielt in der „verzerrten" Anerkennung des Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisses das bearbeitete Ding die Rolle eines vermittelnden „Dritten". Aber dadurch wird auf der interpersonalen Ebene die Zweierbeziehung nicht zu einer Dreierbeziehung. Hegel hat das „Wir"-Bewußtsein im Grunde aus einer Zweierbeziehung entstehen lassen. Darin unterscheidet er sich - wie ich im folgenden Exkurs wenigstens andeuten möchte - von der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts.

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Exkurs: Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts

Im Gegensatz zu Hegel haben verschiedene Autoren des 20. Jahrhunderts die Auffassung vertreten, daß Zweierbeziehungen zur Bildung eines „Wir"-Bewußtseins nicht ausreichen. Einige dieser Theorien zum Primat der Dreierbeziehungen bei der Bildung eines Gruppen-Bewußtseins sollen im folgenden der ersten Stufe der Anerkennungsbewegung bei Hegel gegenübergestellt werden, um Nähe und Abstand seiner Sozialphilosophie zu heutigen Überlegungen deutlich werden zu lassen. Einer der ersten, der die Bedeutung des ,:Dritten" für die Gemeinschafts- oder Gruppenbildung analysiert hat, war Georg Simmel.73 Allerdings handelt es sich bei Simmels Erörterung der verschiedenen „Formen der Vergesellschaftung"74 nicht um die Darstellung einer Genese, die · über Zweier- und Dreierbeziehungen zum Wir-Bewußtsein führt. Seine typisierende Betrachtung gesellschaftlicher Strukturen kommt aber zu dem Resultat, daß Zweierbeziehungen für sich nicht in der Lage sind, eine höhere Einheit über ihre individuellen Elemente hinaus ~u bilden" (1908, 85). Eine solche Einheit wäre nämlich für beide ein „Drittes" und würde daher die „Intimität" der Zweierbeziehung stören. Eine Ausnahme von dieser Regel- oder eher ein Übergang vom Zweier- zum Dreierverhältnis ist für Simmel die Ehe. In ihr ist trotz der Beziehung persönlicher Intimität eine „überpersönliche Einheit" möglich. Allerdings setzt dies eine von den Gliedern der Zweierbeziehung unabhängige - tradierte und normierte - Institution voraus, die in den verschiedensten Eheriten durch die Rolle „dritter Personen" verkörpert wird (88). Die Dreierbeziehung selbst hat Simmel in drei Klassen eingeteilt, in denen das Verhältnis 76

des Dritten zu einer Zweierbeziehung von Einzelnen oder Gruppen a) als Vermittler, b) als Figur des „tertius gaudens" und c) des „divide et impera" bestimmt ist (103ff.). Dabei hat er eine Reihe von Strukturen erörtert, die bei seinen Nachfolgern - etwa bei Sartre - wiederkehren: so die des Sich-Abschließens der Zweierbeziehung gegen den Dritten. Weitaus prinzipieller als Simmel hat dann Sartre die konstitutive Bedeutung des Dritten für die Bildung eines „Wir"-Bewußtseins herausgestellt. In „L'Etre et le Neant" unterscheidet er bekanntlich zwischen ObjektWir und Subjekt-Wir. Während das Subjekt-Wir - das Sartre selbst in die Nähe des Heideggerschen „Man" rückt (1962, 540) - nur die „psychologische Erfahrung" eines „geschichtlichen Menschen" in einer bestimmten Gesellschaft ist, stellt das Bewußtsein des „Objekt-Wir" die „Enthüllung einer realen Daseinsdimension" dar (547).75 Die Erfahrung des Subjekt-Wir scheint nicht unbedingt einen Dritten vorauszusetzen; 76 sie betrifft hauptsächlich die an den bearbeiteten Objekten und dem regulierten Lebenslauf eines jeden sich darstellende undifferenzierte Transzendenz" eines gesellschaftlichen Entwurfes. Das Bewußtwerden des Objekt-Wir ist dagegen eindeutig „vom Dritten abhängig" (547). Durch den „Blick", der auch schon für die Zweierbeziehung von entscheidender Bedeutung ist, macht der Dritte mich und den Anderen - die wir an sich weh-transzendierendes Fürsichsein sind - zu Gegenständen in seiner Welt. In solcher Weise objektiviert wird aber auch die Relation der beiden, ja die gesamte „Situation". Diese Situation war bis dahin bestimmt durch das Gegeneinander zweier Situationen, den Versuch eines jeden der Beiden nämlich, den Anderen zu transzendieren oder sich seiner Transzendenz zu unterwerfen. 77 Durch das ge77

meinschaftliche Objekt-Werden sind nun die „beiden entgegengesetzten Situationen niveaugleich" geworden, sie bilden „gleichwertige und solidarische Strukturen" (533 ). Die Solidarität besteht in der Unumgänglichkeit, mein „Verstricktsein" in den Anderen bzw. in das „objektive Ganze", das ich mit ihm für den Dritten bilde, zu übernehmen. Sartre nennt dieses übernehmen sogar eine „freie Anerkenntnis meiner Verantwortlichkeit ... für den Anderen" (5 34). Trotzdem bleibt solche Gemeinsamkeit begrenzt, weil es eine positive Verschmelzung meiner Transzendenz mit der des Anderen für Sartre nicht geben kann. Die Erfahrung des Objekt-Wir ist eine Erfahrung von Passivität, ja von „Demütigung und Machtlosigkeit": ich fühle mich in eine „Unendlichkeit fremder Existenzen verfangen" und damit „radikal entfremdet" (535). Sicher hat dieses entfremdete Wir nichts mit Hegels „Wir" als eines sittlichen Bewußtseins zu tun. Auch die Entfremdung besteht ja für Hegel nicht darin, daß das Individuum seine Gemeinschaft mit Anderen als Gegenstand in der Welt eines Dritten weiß, sondern daß es die Gegenständlichkeit des Geistes, die Institutionen, nicht mehr als Ausdruck seines (gebildeten) Selbstbewußtseins begreifen kann (s. u. S. 108 ff.). Allerdings sieht auch Hegel die Notwendigkeit des Gegenständlich-Werdens der Gemeinschaft zweier: sie erfolgt wie oben gezeigt, im Kind, im Familienbesitz und in bestimmter Weise auch im Tausch. Dies alles sind aber keine wirklichen Dreierbeziehungen - sie folgen vielmehr dem Sub~ jekt-Objekt-Schema (als Selbstvergegenständlichung) oder allenfalls der „ Verdoppelung" des Selbstbewußtseins (Anschauung des Negiertwerdens der Eltern im Kind). Für Hegel gibt es nicht die Notwendigkeit, daß zwei inkommensurable „Situationen", die von antago78

nistischen Beziehungen bestimmt sind, von emem Dritten erst zu einer einzigen „niveaugleichen" umgewandelt werden müssen. Denn für ihn gilt nicht, wie für Sartre, daß das Selbst nur als die Negation des Anderen und seiner objektivierenden Wirkung auf mich zu realisieren ist. Diese Stufe der ausschließenden Individualität - wenn auch bei Sartre transzendentalphilosophisch gewandt - muß, wie wir gesehen haben, im Kampf überwunden werden.78 Sartre selbst ist aber bei seiner Theorie des Objekt-Wir nicht stehengeblieben. In der „Kritik der dialektischen Vernunft" nimmt er seine Erörterung des Zweier- und Dreierverhältnisses wieder auf. Insofern er jetzt die elementare Struktur der Zweierbeziehung in der Wechselseitigkeit (reciprocite) sieht, scheint er sich Hegel anzunähern. In der Tat ist in der Wechselseitigkeit etwas von Anerkennung der Freiheit des Anderen enthalten, und sie ist daher der Entfremdung „grundlegend entgegengesetzt" (117)79, wenngleich sie unter bestimmten historischen Verhältnissen selber entfremdet sein kann. Daß jeder den Anderen transzendiert und von ihm - als Gegenstand in seinem Plan - transzendiert wird, bedeutet jetzt nicht nur, einander zu objektivieren, sondern auch, sich als Praxis, Freiheit, Transzendenz zu bestätigen und zu respektieren. Daß beides zusammen möglich ist - Objektivierung und Respektierung, Bewußtsein des Anderen als Freiheit - scheint, wie schon Theunissen bemerkt hat (1965, 233 f .), ein wichtiger Unterschied zwischen der früheren Auffassung Sartres und derjenigen der „Kritik" zu sein. Es bleibt allerdings die Unmöglichkeit, aus der Zweierbeziehung und ihrer Wechselseitigkeit zu einer Einheit - sei es eines Objekt- oder Subjekt-Wir von Freiheitswesen zu kommen. Gerade die Anerkennung der Freiheit des Anderen bedeutet, ihn als einen

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Entwurf zu wissen, der ein eigenes Zentrum, einen eigenen „Brennpunkt" hat, der meinen „Plan" grundsätzlich überschreitet und mich als Objekt enthält. Als Einheit erfahren können sich die beiden in einer Wechselseitigkeitsbeziehung Befindlichen nur über einen Dritten. Sartre faßt in der „Kritik" Zweier- und Dreierbeziehungen als gleichursprüngliche, fundamentale Strukturen der sozialen Beziehungen (114 f.), die einander sowohl bedingen wie negieren: Dreierbeziehungen setzen die Existenz von Zweierbeziehungen voraus, die aber ihrerseits ohne den Dritten ihrer selbst nicht bewußt werden können. Im Maße ihres Bewußtwerdens tendieren sie aber zum Ausschluß des Dritten - die Triade ist daher ein instabiles Verhältnis, sie entsteht und zerfällt mit Notwendigkeit. Dennoch ist sie konstitutiv für die Wir-Einheit. Und zwar insgesamt auf drei verschiedene Weisen: indem sie, wie angedeutet, die Wechselseitigkeit einer Zweierbeziehung dieser selbst „entdeckt"; indem sie ferner eine objektive, entfremdete Einheit hervorbringt, in die die beiden einander transzendierenden Pläne gleichsam von außen „verschmolzen" werden und schließlich, indem der Dritte eine die Entfremdung überwindende Gruppenaktion in Gang bringt (Initiation) . Die erste Stufe der Vereinigung durch einen Dritten liegt noch „früher" als in „L'Etre et le Neant": die den Dingen eingeprägten Pläne und die getrennt voneinander lebenden, ihre Beziehung nicht wissenden Individuen werden durch den Dritten, der sie erfaßt, in eine „Unwissenheitswechselseitigkeit" gebracht (108). Diese Beziehung, die auch den Dritten erst als solchen hervorbringt, zeigt, daß das äußerliche Nebeneinander von getrennten Plänen und verschiedenen, die Welt „enthüllenden" Arbeitsvollzügen auf dem Hintergrund einer nicht-äußerlichen Beziehung, der „permanenten 80

Möglichkeit einer gegenseitigen Entdeckung und damit der tatsächlichen Existenz einer menschlichen Beziehung" verstanden werden muß (109). Die zweite Stufe der Vereinigung durch den Dritten entspricht der Entstehung eines Objekt-Wir, doch spielt dabei entsprechend der neuen Bedeutung der Materie in der „Kritik" die Gegenständlichkeit, d. h. die „Arbeitsstelle", die „Werkzeuge" und das „zu verwendende Material", eine entscheidende Rolle (120). Sartre geht von der Bestimmung der gemeinsamen Arbeit durch die Produktionsmittel und damit indirekt durch den Dritten als deren Besitzer aus. Trotz der Gemeinsamkeit der Ziele der Arbeiter, die „aus ihrem eigenen Körper das Instrument des Anderen" machen (121), handelt es sich aber nur um eine gegenständliche Einheit. Die Einheit der gemeinsamen Praxis tritt den Individuen als etwas Selbständiges, als ein „Imperativ", gegenüber, den beliebige Individuen verinnerlichen können. Der Dritte als Urheber eines solchen Imperativs konstituiert die einfachste Form der sozialen Gruppe (125): durch seine Vermittlung wird die Subjektivität der Gruppe zum selbständigen „Medium, Substanz und Pneuma" (ebd.). Das eigentliche Thema der Kritik der dialektischen Vernunft ist nun aber, wie aus einer äußerlichen, mechanischen, „seriellen" Vereinigung eine „fusionierende", freie Aktivitäten zugleich auslösende und „verschmelzende" Gruppe wird. Auch dabei spielt die Dreierbeziehung eine entscheidende Rolle. Erste Voraussetzung für die Verwandlung einer seriellen Ansammlung in eine solche Gruppe ist allerdings ein Druck von außen, ein „totalisierendes Schicksal" (378) in Gestalt einer drohenden Gefahr. 80 Die erste Wirkung dieses Schicksals ist, daß sie anstelle einer Konstellation von Wechselseitigkeiten die Dreierbeziehung enthüllt bzw. jeden 81

aus seinem „Anderssein" (Etre-autrui) in einen „Dritten" verwandelt. Dritter ist jetzt jeder innerhalb einer Kollektivität, insofern er die Wechselbeziehungen der Anderen überschaut und seinem eigenen Plan einordnet. Durch die Totalisierung von außen entdeckt aber jeder zugleich, daß dieser Plan mit den Plänen aller Anderen, insofern auch sie Dritte sind, zusammenfällt. Freilich besteht zunächst ein Widerspruch zwischen den kollektiven „Ansteckungsprozessen", die den Einzelnen in seiner „seriellen Ohnmacht" (394 f.) betreffen, und dem „Begreifen der menschl.ichen Totalität als durch diese Bedrohung (in Hohlform) vereinigt" (395). Der Widerspruch wird überwunden in der Aktion, in der die „seriellen" Prozesse selbst durch den „Dritten" in Gruppenpraxis verwandelt werden - etwa eine passive Flucht in die bewußte Aktion einer taktischen Flucht. Damit wird die Einheit der Gruppe und ihrer Aktionen von der „objektivierenden Totalisierung" des äußeren Schicksals unabhängig. Die Beziehung der Individuen in einer solchen Gruppe ist die einer „vermittelten Wecliselseitigkeit" (400) von Dritten. Genauer impliziert dieses Verhältnis die „ Vermittlung der Gruppe zwischen den Dritten" und die „Vermittlung jedes Dritten zwischen der Gruppe und den anderen Dritten" (ebd.): Jeder muß in seiner freien Aktion die Ansammlung zur Gruppe umformen und insofern -jeden mit der Gruppe vermitteln. Er kann dies aber nur, wenn er gleichsam in den Bildungsprozeß einer Gruppe hineingerät: durch den äußeren Druck und den gleichzeitigen freien Entschluß Vieler (zur Gegenwehr oder zur „aktiven" Flucht). Die Gruppe verbindet insofern die zu ihr Stoßenden miteinander, obgleich diese als Dritte zugleich konstituierend für die Gruppe sind. Die Individuen erfassen einander in ihrer Wechselbeziehung nicht mehr 82

als „Andere", sondern als Dritte - ähnlich wie bei Hegel repräsentieren sie jetzt die „Allgemeinheit" der Gruppe. Aber sie tun dies nicht als Träger eines institutionalisierten Willens, eines „objektiven", die Besonderheit der Individuen negierenden Gesetzes, sondern indem sie durch ihre Aktion die Gruppe permanent hervorbringen. Für Sartre wird die individuelle Freiheit durch ihre Verschmelzung mit der Aktivität der Gruppe nicht verändert, negiert, verallgemeinert: „Die Freiheit ist zugleich meine Besonderheit und meine Allgegenwart. Im Anderen, der mit mir handelt, kann ich meine Freiheit nur als die gleiche erkennen." (428 f.) In dieser Hinsicht ist das Subjekt-Wir, die Einheit von Freiheitswesen, nach der „Kritik" als gemeinsame Praxis einer sich gegen einen Angriff wehrenden Gruppe möglich. Im Gegensatz zu Hegel ist für Sartre die Dreierbeziehung zur Bildung eines Wir-Bewußtseins aus folgenden Gründen notwendig: a) weil das „Nebeneinander", die „Exteriorität" zweier Freiheiten nur von außen zu einer Einheit gebracht werden kann; b) weil jeder, um nicht bloßes Objekt einer Totalisierung von außen zu bleiben, selbst zum Ursprung der Verwandlung dieser äußerlichen Wechselseitigkeiten werden muß. Die Befreiung von Objektivität, Passivität und bloß „serieller" Einheit kann nicht jeder an sich selbst mit Hilfe de's Anderen einer Zweierbeziehung-wie in Hegels Kampf um Anerkennung - vollziehen. Denn diese zu negierende „Natürlichkeit" ist für Sartre eine soziale Beziehung und zwar nicht der unmittelbaren Einheit mit dem Anderen in einer „selbstvergessenen" Zweiergemeinschaft, sondern der nur äußerlichen, passiven Verbundenheit bei gleichzeitiger unaufhebbarer Trennung der beiden81 „Brennpunkte" einer von Materialität bestimmten praktischen Weltsicht. Der Übergang von der seriellen

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Kollektivität zur Gruppe entspricht aber auch nicht demjenigen von der rechtsförmigen zur sittlichen Gemeinschaft, denn bei Sartre handelt es sich nicht um die Negation des „Eigensinns" des Einzelnen durch die Gemeinschaft - also im Grunde wiederum eine Zweierbeziehung- sondern um die Negation einer unvollkommenen Wechselseitigkeit durch die individuelle Praxis eines Dritten, die zugleich die „Befreiung" der Individualität als solcher darstellen soll. 82 Ein Ensemble von Wechselbeziehungen getrennter Individuen, deren Trennung in einer direkten Zweierbeziehung prinzipiell nicht zu überwinden ist, kann nur durch den Dritten, und durch die Verwandlung eines Jeden in einen Dritten, zur Einheit einer verschmelzenden83 Gruppe aufgehoben werden. Allerdings ist damit auch für den Sartre der „Kritik" der Kampf die letzte Grundlage der Sozialbeziehungen - anstelle des Kampfes der Individuen in L'Etre et le Neant tritt der Kampf der Gruppen, der allein individuelle Freiheit und unentfremdete Gemeinschaft möglich macht. Eine Theorie der Institutionen, die uns in dieser Arbeit vorrangig interessiert, ist für Sartre nur als Theorie entfremdeter Sozialbeziehungen und erstarrender Gruppenstrukturen konzipierbar. Der Vorrang der Dreier- vor der Zweierbeziehung wird heute von den Autoren der verschiedensten Wissenschaften vertreten - von der mathematischen Spieltheorie84 bis zur Psychoanalyse. Dabei werden z. T. Erkenntnisse Simmels und Sartres weiterentwickelt, wie etwa bei Lacan, für den die Bedingung des Bewußtseins einer gemeinsamen Identität die „antizipierende Assertion" eines jeden ist, mittels derer er der Gefahr begegnet, von einem Zweierverhältnis ausgeschlossen und zum Objekt (Nicht-Mensch) gemacht zu werden. Nach Lacan läßt sich das Bewußtsein, ein Mensch zu sein, in 84

folgendem Schluß formalisieren: 1) Un homme sais ce qui n'est was un homme; 2) les hommes se reconnaissent entre eux por etre des hommes; 3) je m'affirme etre un homme, de peur d'etre convaincu par les hommes de n'etre p as un homme. 85 Zweifellos ist diese Formel nicht nur als Überwindung der klassischen Intersubjektivitätstheorie zu verstehen - die vom Problem der Erfahrung des Anderen als Selbst ausgeht -, sondern zugleich entscheidend von der Anerkennungstheorie des Deutschen Idealismus beeinflußt: Das Bewußtsein dessen, was „Mensch" bzw. Subjektsein bedeutet, ist das Resultat eines Interaktionsverhältnisses. Was ergibt sich aus diesen Überlegungen? Hat Hegel die Bedeutung der Dreierbeziehungen übersehen? Ist er durch die gegenwärtige Sozialphilosophie überholt? Unsere Interpretation der Jenaer Schriften hat gezeigt, daß es „Ansätze" zur Erörterung von Dreierbeziehungen bei Hegel zweifellos schon gibt: Auf der ersten Stufe der Anerkennung hat das Kind die Funktion, die Gemeinschaft der elterlichen Liebe objektiv und bewußt zu machen. Das scheint der ersten Funktion des Dritten bei Sartre zu entsprechen, die Zweierbeziehung ihr selbst zu „entdecken". Aber Hegel faßt das Kind doch in erster Linie als Möglichkeit der Selbstanschauung des elterlichen Bewußtseins auf, nicht als vereinigende Tätigkeit - auch die Negation des Bewußtseins der Eltern hat keine solche Funktion. Wir werden noch sehen, daß es auf den höheren Stufen der Anerkennungsbewegung ebenfalls über einen Dritten vermittelte „Zweierbeziehungen" gibt: „Dritter" ist in diesem Falle der Volksgeist. Dabei handelt es sich aber nicht mehr um den Prozeß des Zustandekommens des gemeinsamen Bewußtseins und zudem ist diese Beziehung keine solche zwischen selbständigen „Polen", die sich prinzipiell auf gleicher 85

Ebene befinden. Der Volksgeist wird ja als absolute Substanz bestimmt und die Individuen als seine Momente, die sich selbst aufheben, wenn sie sich gegen sein institutionelles Dasein im Staate wenden. Daß Hegel den Prozeß der Bildung eines gemeinsamen Bewußtseins nicht wirklich als Dreierbeziehung gedacht hat, besagt aber nichts gegen die Theorie der Anerkennung. Selbst wenn erwiesen wäre, daß die für die Bildung eines gemeinsamen Bewußtseins notwendigen Institutionen, vor allem die Familie, als Dreierbeziehung verstanden werden müssen, bedeutete das nicht, daß dieser Bildungsprozeß nicht als Anerkennungsprozeß darstellbar wäre. Für die Struktur von Dreier-Anerkennungsbeziehungen ist aber weder bei Hegel noch in der gegenwärtigen Sozialphilosophie Aufschlußreiches zu finden. c) Die zweite Stufe: Anerkennung des „Ich" im „Wir" Mit der Bildung eines allgemeinen Bewußtseins und Willens durch „duale" Interaktionen ist der Prozeß der Bildung des Selbstbewußtseins durch Anerkennung noch keineswegs abgeschlossen. Der Kampf um Anerkennung hatte bereits gezeigt, daß Anerkennung nur möglich ist durch Selbstaufhebung. Der Prozeß der Selbstaufhebung aber ist das „Erzeugen" und das ,;Leben" des Volksgeistes: „ihre Tätigkeit, wodurch sie ihn erzeugen ist das Aufheben ihrer selbst, und dies Aufheben ihrer selbst, worauf sie gehen, ist der fürsichseiende allgemeine Geist" (VI, 233 ). Sich durch Selbstaufhebung in dem allgemeinen Geist anerkannt Wissen ist eine Bewegung des „Sichanderswerdens" und darin doch bei sich selbst Bleibens. Diese Bewegung ist von seiten des allgemeinen 86

Geistes aus gesehen ein „Aus- und Einatmen" (ebd.) - so jedenfalls formuliert es der Systementwurf von 1803/ 1804. Demgemäß skizziert Hegel im Schluß teil dieses Entwurfs die vorausgegangenen Potenzen (Sprache, Werkzeug, Familie) noch einmal nach ihrer „ gesellschaftlichen" Seite, d. h. als Tätigkeiten in einem Volk, und stellt sie dabei dar als ein Sich-Besondern, das sich in die Allgemeinheit aufhebt. So ist etwa das „Anerkennen der Arbeit und Geschicklichkeit" der Prozeß, in dem der Einzelne durch Können und die Erfindung „ tauglicherer Werkzeuge" sich von den Anderen absetzt, sich „als ein Besonderes" setzt - und gleichwohl durch die Erfindung für Andere, die davon lernen, ein „ unmittelbar allgemeines Gut" hervorbringt (236 f.). Dieselbe Struktur der Produktion eines Allgemeinen durch Besonderung hat auch die Sprache und der Besitz innerhalb eines Volkes. Auch in ihnen wird das Bewußtsein anerkannt als ein sich verallgemeinerndes in seiner Besonderung. Während aber die Anerkennungsbewegung im Volk nach diesem Text über die Reflexion des Kampfes um Anerkennung nicht hinausgeht, keinen neuen Bildungsund Erfahrungsprozeß mehr darstellt, ist in der Realphilosophie von 1805/1 806 ein solcher weiterer Erfahrungsprozeß, der den „unmittelbar" allgemeinen Willen des Einzelnen erst zur wahren Allgemeinheit bzw. Einheit mit dem Volksgeist bildet, erforderlich. Hegel hat diesen Prozeß vor allem im zweiten Teil der Geistphilosophie dargestellt, der unter dem Titel „ wirklicher Geist" steht. Wir wollen im folgenden zeigen, daß sich in beiden Kapiteln dieses Teils, dem· „Anerkanntsein" 86 (1) und dem „gewalthabenden Gesetz" (2), die Bewegungen von Liebe und Kampf, Vereinigung und Distanzierung auf höherer Stufe wiederfinden.

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A. Vereinigung und Auseinandersetzung des einzelnen mit dem allgemeinen Willen 1) Im Kapitel „Anerkanntsein" behandelt Hegel die Institutionen, die er später in der Rechtsphilosophie in den Abschnitten „abstraktes Recht" und „ bürgerliche Gesellschaft" behandelt hat. 87 Obgleich das Recht den im Kampf ausgetragenen Gegensatz der Einzelwillen ent~ält - als e~ne von Allen gewollte Selbständigkeit -, smd auch seme ersten Erscheinungsformen als eine unmittelbare, gegensatzlose Übereinstimmung von einzelnem und allgemeinem Willen zu betrachten.SB Das Gemeinsame des Anerkanntseins im Recht, in der gesellschaftlichen Arbeit und den Handlungsformen und Regeln des Wirtschaftsverkehrs wie Wert, Geld, Tausch, Vertrag ist das Einstimmen der Willen aller •i n den besonderen Willensakt Einzelner. So kann der Einzelne in seiner abstrakten Arbeit, 89 insofern sie auf die Bedürfnisse aller bezogen ist, die „Allgemeinheit seiner selbst" (VIII, 226 R) anschauen, die eben in der impliziten Zustimmung aller zu dieser Arbeit besteht. Diese Zustimmung wird „gesetzt" im Tausch, der nach Hegel in gewisser Weise den Selbstverzicht bzw. das Negieren des äußeren Daseins im Kampf auf höherer Stufe wiederholt: „es ist jeder das negirende seines Seyns, seiner Habe und diese ist vermittelt durch das Negiren des anderen" (226). Der Tausch ist aber keine Bewegung der bewußten Distanzierung, sondern wiederholt nur ein Moment des Kampfes - die wechselseitig vermittelte Selbstnegation - im Element gegensatzloser Übereinstimmung. Eben dies Vermitteltsein durch den Willen des Anderen - und zwar nun nicht eines Anderen, sondern aller Anderen - ist das Anerkanntsein. Da es sich um eine Einstimmung von Willen handelt, die ihre Freiheit von 88

der natürlichen Individualität und allem äußeren Dasein bereits demonstriert haben, in dieses äußere Dasein aber ihren anerkannten Willen setzen können, kann es sich hier allerdings nicht mehr um die unmittelbare Einheit „selbstloser" Charaktere handeln, sondern um die „Gleichheit " der Willen, die eine „Einheit absolut Verschiedener" darstellt (226 R). Die Bewegung der Distanz bzw. das Moment des „Kampfes" ist in der Entwicklung des Anerkanntseins der Vertragsbruch. Er geht „ erfahrungsgeschichtlich" davon aus, daß im Vertrag als „Tausch des Erklärens, nicht mehr der Sachen" (229) der Wille „befreit von der Wirklichkeit" (ebd.) ist, anscheinend auch von aller wirklichen Leistung. Diese Unabhängigkeit und „Gleichgültigkeit" des Willens „gegen das Daseyn und die Zeit" (ebd.) wird im Vertragsbruch - als Verweigerung der Leistung - realisiert. Durch dieses „ Insichgehen" des Willens aber tritt eine Differenz zwischen einzelnem und allgemeinem Willen zutage. Wenn der einzelne Wille seinen Teil zur gemeinsamen Leistung, dem „Daseyn, das die Bedeutung des gemeinsamen Willens hat" (230), verweigert, dann wendet sich der gemeinsame Wille gegen ihn und erzwingt die Leistung. Im Zwang zeigt sich der wahre Sinn des Vertrags, den einzelnen Willen zu einem Moment, wenn auch einem wesentlichen, des gemeinsamen Willens zu machen (vgl. ebd.).90 Und obgleich der Zwang nur die bestimmte geforderte Leistung betrifft, geht auch er - wie die den Kampf auslösende Besitzverletzung - in eine Beleidigung der Person über: „Ich bin beleidigt wie in der Bewegung des Anerkennens" - und zwar ,;in meinem anerkannten Willen als solchem" (233). Hegel geht daher von Vertragsverletzung und Zwang direkt zu Verbrechen und Strafe als höheren Formen des „Kampfes" zwischen einzelnem und allgemeinem Willen 89

über. Da von einer staatlichen Gewalt an dieser Stelle noch nicht die Rede ist, der Zwang also unmittelbar vom „Anderen" ausgeübt wird, wird er zunächst als Verletzung der „Ehre" aufgefaßt. Die „Rache" dafür (vgl. 233) behält den Anderen aber als Rechtssubjekt im Auge, sie gilt einem Willen, „der zugleich Intelligenz (ist), sich selbst denkt, sich als Allgemeines weiß, ein allgemeines Wissen, das auch mein Wissen ist" und eben darum einem prinzipiell ,,anerkannten" (233 f.). Daher richtet sich der Verbrecher in Wahrheit nicht gegen den Anderen, sondern gegen den allgemeinen Willen. Indem der Einzelne im „ Trotz" gegen den allgemeinen Willen sich aber nun nicht mehr in sein reines Fürsichsein zurückzieht - wie im Vertragsbruch-, sondern gleichsam „angreift", löst er die „ Verkehrung des verletzten allgemeinen Anerkanntseyns" (235) aus. Die Strafe ist die Umkehrung der Tat des Verbrechers und insofern ein „Aufheben des einzelnen" (ebd.). Der allgemeine Wille erweist sich in ihr als „Herr des Einzelnen" (236 R). Das „abstrakte Anerkanntsein" des Rechtszustandes ist durch diese Auseinandersetzung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen „realisirt" (236). Es besteht darin, daß die einzelnen Willen ihre Taten als getragen von der Zustimmung aller wissen können, diese Gemeinsamkeit des Willens aber auch als unabhängig vom einzelnen Willen und als „Herr" über ihn erfahren: „Zurückgehen in die Einzelheit" ist „Verbrechen" (ebd.). Diese Unabhängigkeit des allgemeinen Willens st~llt sich auf der nächsten Stufe der Geistphilosophie als institutionalisierte „Gewalt" dar, die die „Substanz" und „Notwendigkeit" des Einzelnen ist (242). 2) Das „gewalthabende Gesetz" ist für Hegel das „intelligente Anerkanntsein ",in dem der Einzelne sein „Selbst" auch hinsichtlich seines Sich-Wissens anerkannt weiß

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(237 R). Das Gesetz gilt ihm bereits als ein „Subjekt", das seinem „Wesen", dem F ürsichsein (Sich-Wissen), ein „nicht Fremdes" ist (ebd.). In diesem Kapitel werden noch einmal die Stufen der Geistphilosophie von der Familie an wiederholt. In den Ehe-, Familien- und Erbschaftsgesetzen ist mittelbar auch das Anerkanntsein des Einzelnen als „natürliches Ganzes" Gegenstand des Gesetzes -d. h. Gegenstand der von der unabhängigen Macht des allgemeinen Willens artikulierten und formulierten Übereinstimmung der „gebildeten" Selbste. Diese Gesetze sanktionieren mithin nicht nur das „ unmittelbare Anerkanntsein" der „Liebe", sondern sie stellen auch selber eine Entsprechung zu ihr dar: eine unmittelbare Vereinigung von natürlich-einzelnem und allgemeinem (gesetzlichem) Willen. Diese unmittelbare, distanzlose Einheit ist aber nicht mehr bloß Zustimmung des allgemeinen Willens zum einzelnen. Vielmehr zeigt das allgemeine Gesetz dem Einzelnen auch seine „harte Seite" (242) . Dem Einzelnen als Glied der arbeitsteiligen Gesellschaft gegenüber äußert es sich als „blinde" Gesetzmäßigkeit des naturhaften Wirtschaftsprozesses. Sowohl diese blinde Notwendigkeit wie auch die sie kompensierende Tätigkeit der Staatsgewalt91 ist für Hegel das „Allgemeine" des gewalthabenden Gesetzes. Diese Einheit von allgemeinem und einzelnem Willen setzt zwar die Entäußerung des Einzelnen voraus, ist aber trotzdem noch eine „distanzlose" Einheit: das „Allgemeine" ist die „bewußtlose Existenz" des Einzelnen. Zur bewußten Einheit kommt es erst durch einen neuen „Kampf" des Einzelnen mit dem gewalthabenden Gesetz, den Widerstreit von Verbrechen und „richterlicher Gewalt" (245 ). Im Zwang, den diese Macht gegen den Verbrecher ausübt, wird allerdings keine Ehre mehr verletzt; vielmehr handelt es sich um eine „Unterwer91

fung ... meiner gegen mich selbst, meiner als Besondern gegen mich selbst als Allgemeinen" (247). Um dies zu erfahren, ist aber eine „Entäussrung" des „Meynens" des Einzelnen von seinem Recht erforderlich (249 R). Die Bewegung beginnt wieder damit, daß der Einzelne der allgemeinen Gewalt gegenübertritt, indem er sich als „absolute Macht für sich selbst" (250 R) setzt, sich in das „reine Wissen von sich selbst" (252 R) zurückzieht und für seine Meinung vom Recht die Dignität des allgemeinen Gesetzes beansprucht. Die richterliche Gewalt hat diese usurpierte Macht „auf ihn selbst zurükschlagen zu machen" (252 R). Dadurch erfährt sich der Einzelne, inVerzeihung bzw. Begnadigung dieTat „ungeschehen (zu) machen" (252 R). Dadurch erfährt sich der einzelne, insofern er seiner Meinung über das Recht entsagt, ja sogar „auf sein Leben gegen das Allgemeine Verzicht" tut (250 R), vom allgemeinen Willen anerkannt. Dieses „reine Anerkanntsein" hat aber nicht nur negative, sondern auch positive Bedeutung: Denn in der Begnadigung erkennt das Allgemeine das „Böse", das Insichsein der Einzelheit als Moment seiner selbst: das Böse ist „reines Wissen von sich selbst" bzw. „absoluter Wille" und als solches „nicht (ein) Fremdes dem Gesetze" (252 R). Wird dieser Wille in das Allgemeine aufgenommen - auf welche Weise wird sich später zeigen-, so vermag der Einzelne auch sein reines Fürsichsein in ihm wiederzufinden. Als diese Einheit von reinem Fürsichsein und allgemeinem Willen ist das Gesetz „Geist" (vgl. ebd.). Fassen wir zusammen: Die Struktur der Anerkennung im zweiten Teil der Geistphilosophie von 1805/1806 besteht offenbar in einer Bewegung, die unmittelbare Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen durch einen „Rückzug" der Einzelheit in sich zu entzweien. Die Momente der gegensatzlosen Einheit und der Behauptung 92

der Selbständigkeit - jetzt: der Absolutheit, der alle Anderen nicht ausschließenden, sondern einschließenden, weil mit dem allgemeinen Willen identischen Totalität sind also auf dieser Stufe leicht wiederzufinden. Unmittelbare Einheit und Entzweiung sind nun nichts anderes als die Momente der „dialektischen" 92 Bewegung des Geistes. Die Realphilosophie faßt die allgemeine Bewegung des Geistes als „Schluß" - das bedeutet: Entzweiung einer unmittelbaren Einheit in „Extreme", die sich als Einheit ihrer selbst und des anderen Extrems erweisen, also als isolierte aufheben (s. u. S. 138). Es kann nicht verwundern, daß die Struktur der Anerkennungsbewegung derjenigen des Geistes entspricht: „Anerkennung" ist der Geist unter dem Aspekt der Bildung des Selbstbewußtseins in Interaktionen - zwischen Individuen sowie zwischen Individuen und Institutionen. Die Frage, ob Liebe und Kampf die „Elemente" der Anerkennung auch noch auf höherer Stufe sind, betrifft aber auch das Verhältnis der Individuen untereinander. Beruht dieses Verhältnis auch im „ wirklichen Geist" noch auf beiden Momenten? Es geht bei dieser Frage nicht um Liebe und Kampf als „Phänomene", sondern darum, ob man rechtliche, ökonomische und „staatsbürgerliche" Beziehungen der Individuen untereinander als Synthese von selbstloser Einheit und „distanzierter" Beziehung betrachten kann. Obwohl man auf dieser Stufe der Anerkennung, auf der das Selbst in sein reines Fürsichsein reflektiert ist, nicht mehr von „selbstloser" Einheit sprechen kann, sondern nur von „gegensatzloser", ist eine solche Synthese in der Tat festzustellen: Recht, Arbeit und Eigentum sind einerseits auf eine unmittelbare, gegensatzlose Übereinstimmung der Willen gegründet, bringen zum anderen aber gerade das im „Dasein" sich manifestierende Fürsichsein zur Geltung - „mein 93

Willen ist diß Gelten" (227). Anerkannt ist gerade die Selbständigkeit, die sich sogar aus der Einheit mit dem Willen aller zurückziehen kann. Während aber die Distanz der Einzelnen untereinander respekciert und garantiert wird, sind die Versuche der Einzelnen, die Distanz zum „daseyenden" allgemeinen Willen zur Geltung zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Andert sich das auf der „Vollendungsstufe" der Anerkennung? B. Die Verwirklichung der Anerkennung im absoluten Geist Worin liegt nun das Telos der Anerkennungsbewegung nach der Realphilosophie? Am Anfang des Abschnittes „Konstitution" erörtert Hegel- sowohl im Rückgriff auf den „wirklichen Geist" wie im Vorgriff auf die eigentliche Staatsphilosophie - das Verhältnis des „Allgemeinen" zum einzelnen Selbst. Er unterscheidet zunächst zwischen positivem und negativem Sich-Wissen des Selbst im Allgemeinen.93 „Positiv" habe ich mein Selbst im Allgemeinen zunächst insofern, als ich weiß, daß der gemeinsame Wille „durch mich gesetzt" (255) ist. Dieses Gesetztsein besteht, wie Hegel in einem Randzusatz noch weiter ausführt, darin, daß das Allgemeine nur im „Selbst der Individuen" sein „Leben" hat und seine „Gewalt" auf den „äussern Beystand Aller" angewiesen ist (255 R). Ferner kann die Positivität des Selbst im Allgemeinen auch umgekehrt in der Tätigkeit des Allgemeinen für den Einzelnen gesehen werden, zum einen im Schutz der Existenz des Einzelnen durch die „ W.irtschaftsgesetzgebung" und die rechtsschützende Gewalt und zum anderen in der Selbstaufopferung (vgl. 255) des Allgemeinen in der Begnadigung, in der der daseiende allgemeine Wille im Verzicht auf die Strafe die Negation sei-

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ner selbst hinnimmt, um sich mit dem „Bösen", der „absoluten Gewißheit" des Einzelnen, die „ von allem Daseyn ganz frey ist" (256 R), zu identifizieren. - „Negativ" weiß sich das Selbst im Allgemeinen zum einen deshalb, weil dieses die „Macht" über mein Leben - sowohl als erhaltend wie als strafend - besitzt, und vor allem, weil ich mich nur durch „Entäussrung" meines „unmittelbaren Selbsts" in ihm wissen kann (vgl. 254 R). Diese Entäußerung geschieht ebenso durch die „bildende" Arbeit wie durch die Negation meiner „Meinung" in den Erfahrungen mit dem Recht und der öffentlichen Gewalt. Dieser Zweiteilung in positives und negatives Verhältnis zum Allgemeinen hat Hegel am Schluß des Abschnittes noch eine - mehr auf die „Konstitution" vorausblickende - Dreiteilung folgen lassen. Er bestimmt das Verhältnis zum Allgemeinen qua schützender Macht als „unmittelbare Einheit ... des reinen Bewußtseyns und meiner selbst" (256) und bezeichnet das Verhalten zu dieser Einheit als „Vertrauen". Das Verhalten zu dem mich beherrschenden und möglicherweise strafenden Wesen ist dagegen „Furcht", während schließlich das Verhalten zu ihm als durch mich Gesetztes dasjenige der Teilhabe ist. Nach diesen „drei Seiten" unterschieden ist das Allgemeine „Herr, öffentliche Gewalt und Regent" (ebd. ). Alle drei Verhältnisse spielen in der Verfassungslehre eine Rolle, obgleich sie nicht streng als Gliederungsprinzipien behandelt werden. 94 Eine genaue Zuordnung ist weder hinsichtlich des zentralen Abschnittes dieser Verfassungslehre, der Abhandlung über die Stände und ihre Gesinnungen,95 noch hinsichtlich der - nur sehr kurz behandelten - „Regierung" möglich. Man kann aber dem Bauernstand das Vertrauen, dem Beamten- und Soldatenstand das Verhältnis der Teilnahme an der Regent-

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schafl zuordnen. Das Verhältnis der Furcht kommt hinsichtlich der „Staatsmacht" und ihrem Recht, „in jedem Nothfalle ... vollkommen tyrannisch zu verfahren" (259), wohl allen Ständen in gleicher Weise zu. Schließlich muß noch ein dritter wichtiger Hinweis zum Verhältnis der Einzelheit des Selbst zum „Allgemeinen" erwähnt werden, den Hegel in seinem kurzen, weltgeschichtlich orientierten Abriß der Staatsformenlehre gibt. Er unterscheidet das in der Monarchie verwirklichte „höhere Princip der neuern Zeit" von der antiken Demokratie dadurch, daß in der Monarchie das „Sichselbst-absolut-Wissen der Einzelheit" zu ihrem Recht komme (263) . Inwiefern ist im modernen Staat dieses „absolute Insichseyn" (ebd.) der Einzelheit anerkannt? Zunächst, weil das Wissen und die „Gesinnung" in diesem Staat frei sind. Diese Freiheit ist freilich dadurch begrenzt, daß sittlich für Hegel nur eine Gesinnung ist, die mit den Sitten eines Volkes und genauer eines besonderen Standes identisch ist. Diese bestimmten Stände aber sollen freie Momente des Ganzen sein, die sich nach ihrem „einseitigen Princip" (265) ausbilden können.96 Ferner findet sich dieses Sich-Wissen der Einzelheit auch in der Regierung, in der der Staat sich als „Individualität" und „absolutes Selbst" (276) darstellt - und offenbar auch in der charakteristischen Institution des modernen Staates, der Monarchie, wenngleich im „unmittelbaren Willen" des Monarchen als nicht entäußerter Individualität ein „Rest" von Natur ist (264).97 Schließlich weiß der Einzelne sich absolut frei, sogar vom „daseienden Allgemeinen" des Staates, in Religion und Philosophie: „In der Religion erhebt jeder sich zu dieser Anschauung seiner als (eines) allgemeinen Selbst - Seine Natur, sein Stand, versinkt wie ein Traumbild ... es ist das Wissen seiner als des Geistes." (281) Diese Einheit 96

mit dem Geist in einem Jenseits seiner staatlichen Wirklichkeit muß in der Philosophie durch das absolute Begreifen des Staates und der Weltgeschichte mit eben dieser Wirklichkeit wieder versöhnt werden. Anerkennung besteht also in einer positiven und negat iven, unmittelbaren und „gebildeten", d . h. durch die Negation der Einzelheit im Sinne der Entäußerung und Selbstaufgabe hindurchgegangenen, Einheit von einzelnem und allgemeinem Selbst. Dabei bedeutet die positive Einheit keineswegs ein Anerkanntsein der natürlichen oder lebensgeschichtlich einmaligen Individualität, die auf den höheren Stufen des Anerkanntseins keine Rolle mehr spielt: das „Individuum gilt nur als entäussertes, gebildetes" (264 ). Die „Positivität" besteht vielmehr im Wissen darum, daß der Staat seine Wirklichkeit im Bewußtsein der Individuen hat. Das Anerkanntsein des Individuums im Staat ist ein Verhältnis wechselseitiger Konstitution: „Der Mensch hat sein Daseyn, Seyn und Denken allein im Gesetze" (253) - der Staat aber ist das Werk aller, sein „Leben, Willen" ist das Selbst der Individuen. Ob sich diese Wechselseitigkeit in d·en staatlichen Institutionen wirklich niederschlägt, soll abschließend erörtert werden, nachdem wir auch die höheren Stufen der Anerkennungsbewegung in der Phänomenologie verfolgt haben. d ) Die zweite Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie Die für die zweite Stufe der Anerkennung relevanten Erörterungen der Phänomenologie finden sich im Vernunfl- und Geistkapitel. Zwar taucht der Terminus „Anerkennung" auch im Religionskapitel noch zweimal auf, aber diese Stellen haben es nicht mit dem Anerkennungs-

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verhältnis zwischen einzelnem Selbst und allgemeinem Willen eines Volkes zu tun, sondern. mit der Beziehung des Volkes zu seinem Gott (502) bzw. mit der „Beziehung" innerhalb des göttlichen Geistes selber, die eine solche der Selbstanschauung und der Liebe ist (536). Dagegen entsprechen die Erörterungen der Anerkennung im zweiten Teil des Vernunftkapitels und im „Geist" zweifellos dem Anerkennungsverhältnis zwischen „Ich" und „ Wir" der früheren Schriften. In der Tat sind es ja auch diese Teile der Phänomenologie, die es in erster Linie mit den Gestalten des praktischen Geistes zu tun haben. Gleichwohl scheint Hegels Beschäftigung mit dem Thema Anerkennung auch in diesen Kapiteln eher kursorisch als systematisch zu sein: Das Thema taucht immer wieder auf, scheint aber für die Abfolge der Gestalten nicht von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Sind dann die Gestalten des praktischen Geistes in der Phänomenologie nicht als graduelle Realisierung von Anerkennung zu begreifen? Das Verhältnis der Anerkennungstheorie zur Methode der Phänomenologie und ihrer Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins soll in einem späteren Teil (Kap. III) noch gesondert erörtert werden. Jedoch zeigt bereits ein genauerer Blick auf die Stellen, an denen Hegel die Problematik der Anerkennung behandelt, daß die Entwicklung des Anerkennungsverhältnisses in der Tat als Maßstab für die wesentlichen „Bildungs"schritte des praktischen Geistes in Anspruch genommen wird. Sie befinden sich nämlich alle an den entscheidenden „Übergängen" dieses Bildungsprozesses: im Übergang von der (praktischen) Vernunft zum Geist sowie jeweils am Schluß der drei Hauptgestalten des Geistes („Der wahre Geist", „Der entfremdete Geist", „Der seiner selbst gewisse Geist") - zuletzt also im Übergang des 98

„Geistes" zur „Religion". Hegel nennt die drei jeweils letzten Stufen dieser Abschnitte - nämlich den „Rechtszustand", „Die absolute Freiheit und den Schrecken " sowie „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung" - an einer späteren Stelle auch das erste, zweite und dritte „Selbst" des Geistes ( 445 f.). In ihnen ist das den drei „ Welten" des Geistes immanente Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit, Selbst und Substanz dem erfahrenden Bewußtsein selbst durchsichtig geworden und kann nun in Termini der erreichten Anerkennung bestimmt werden. Das Interesse dieser Arbeit ist indessen nicht nur der Nachweis der Bedeutung der Anerkennung für die Entwicklung des praktischen Geistes. Mehr noch interessiert das Umgekehrte: der Beitrag dieser Gestalten der Phänomenologie zur Theorie der Anerkennung. Andert sich die Bedeutung von „Anerkennung" im Vernunft- und Geistkapitel der Phänomenologie gegenüber der Realphilosophie von 1805/ 1806? Zur Beantwortung dieser Frage soll im folgenden zunächst ein überblick über die Anerkennungsbewegung des Vernunftkapitels im Hinblick auf ihre Entsprechung zum zweiten Teil („ wirklicher Geist") der Realphilosophie gegeben werden. A . Individuelles Handeln und vernünftige Wirklichkeit (Vernunft-Kapitel) Die Erörterung der Anerkennung zu Anfang von Teil B des Vernunftkapitels („Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins") nimmt offenbar einen Zustand vorweg, der erst am Ende des Vernunftkapitels bzw. am Beginn des Geistkapitels erreicht ist: „heben wir diesen noch innern Geist als die schon zu ihrem Dasein

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gediehene Substanz heraus, so schließt sich in diesem Begriffe das Reich der Sittlichkeit auf" (256). Dagegen gilt vom Stand der Erfahrung des Bewußtseins: „das Selbstbewußtsein hat dieses Glück noch nicht erreicht, sittliche Substanz, der Geist eines Volkes zu sein" (259), denn „aus der Beobachtung" - der vorausgehenden Entwicklung der beobachtenden Vernunft - „zurückgekehrt ist der Geist ... erst unmittelbar; unmittelbar seiend aber ist er einzeln" (ebd.). 98 Die „Verwirklichung" dieses Selbstbewußtseins, der Aufweis seiner Einheit mit der an sich vernünftigen, von Gesetzen, Begriffen, „ Theorien" des Selbstbewußtseins durchzogenen Wirklichkeit besteht für die „praktische" - nicht mehr beobachtende Vernunft daher zunächst darin, „sich als dieses Einzelne in einem andern oder ein anderes Selbstbewußtsein als sich anzuschauen" (261). Dies scheint nichts anderes zu sein als die Bewegung des Anerkennens, wie sie zu Beginn des Selbstbewußtseinskapitels dargestellt wurde die erste Form der praktischen Vernunft, die „Lust und die Notwendigkeit" soll ja in der Tat die erste Gestalt des Selbstbewußtseins wiederaufnehmen (vgl. 255 f.). Zum Unterschied vom Kampf um Anerkennung hat aber der Andere jetzt keine gegenständliche Seite mehr, ist nicht mehr als ganzer als zu negierendes lebendiges Objekt gesetzt. Vielmehr ist seine Bewußtheit und geistige Wirklichkeit von vornherein präsent, ebenso wie seine Identität mit ,meinem' Selbst - und damit implizit auch schon die Allgemeinheit des Selbst, die in bestimmter Hinsicht ja schon in der Erfahrung des unglücklichen Bewußtseins offenbar wurde. Das Charakteristische an der Erfahrung der „Lust und der Notwendigkeit" ist aber - und das gilt prinzipiell für alle Gestalten der Vernunft -, daß eigentlich gar keine „interpersonale" Bewegung in Gang kommt, daß 100

vielmehr nur das „ vernünftige Selbstbewußtsein" , das seine Identität mit dem Anderen weiß, 99 die Erfahrung der Aufhebung seiner Einzelheit macht. Von der Doppelsinnigkeit der Erfahrung in einer Zweierbeziehung ist zumindest nicht ausdrücklich die Rede. Die Einzelheit des Selbst wird zum einen in die Allgemeinheit der Einheit mit den Anderen aufgehoben, zum anderen in leblose „Notwendigkeit". Diese Notwendigkeit ist im Grunde nichts anderes als der Zusammenhang der einfachen Begriffe des Selbst, die der praktischen Vernunft nun, wie zuvor der beobachtenden, erstmals als die gesetzmäßigen Strukturen des Ansichseins erscheinen. 100 Das allgemeine Selbst, das durch die Vereinigung zweier Subjekte in der Lust erfahren wird, ist für das erfahrende Bewußtsein aber noch nicht mit diesen gesetzhaften Strukturen identisch. Diese Trennung bleibt im ganzen Vernunftkapitel erhalten: einerseits erscheint dem Selbstbewußtsein die Wirklichkeit mehr und mehr als von moralischen, rechtlichen und historischen Gesetzmäßigkeiten durchdrungen - und zum anderen erfährt es seine Verknüpfung mit den Handlungen der Anderen, eine Verknüpfung bzw. „Verwicklung", der es weder bei der Verwirklichung seiner Individualität noch bei der einer allgemeinen „Sache" entgehen kann. Aber diese beiden Seiten bringt es nicht zusammen. In dieser Hinsicht bleibt die praktische (sich verwirklichende) Vernunft der Phänomenologie hinter dem „ wirklichen Geist" der Realphilosophie zurück. Sie entspricht ihm aber gerade hinsichtlich der Bewegung des Anerkennens darin, daß es sich beidesmal um eine Auseinandersetzung von einzelnem und allgemeinem Willen handelt. Dabei setzt aber der einzelne Wille in der Phänomenologie sich nicht von vornherein als allgemein, sondern versucht - auch nach der Allgemeinheits101

erfahrung der „Lust und der Notwendigkeit" noch stets abwechselnd sein Handeln entweder als Ausdruck des Allgemeinen - der Tugend, des Guten, der Sache selbst etc. - oder seiner Individualität, seines unmittelbaren Fürsichseins zu verstehen und zu verwirklichen. Erst in den beiden letzten Gestalten des Vernunftkapitels wird dieser Zwiespalt überwunden. Die Untrennbarkeit von individuellem Handeln und öffentlichem Werk die Unmöglichkeit zugleich, getrennt von Anderen :iner Sache zu dienen, und sei es nur der Sache der eigenen rn..: dividualität, führt zu der Erfahrung, daß das „Allgemeine" die im Handeln aller produzierte gesellschaftliche Wirklichkeit ist, die „nur als das Tun Aller und Jeder ein Sein ist, eine Wirklichkeit darin, daß dieses Bewußtsein sie als seine einzelne Wirklichkeit und als Wirklichkeit Aller weiß" (301). Damit ist das Individuum auch für sich selbst „nur aufgehobenes Moment", und es hat ein wahres Bewußtsein bzw. „Selbst" nur als „allgemeines Selbst" (ebd.). Die Erfahrung, die es noch zu machen hat, besteht darin, dieses allgemeine Selbst als die gegenwärtige institutionelle Wirklichkeit der Sitten und Gesetze seines Gemeinwesens zu begreifen und nicht in eine unmittelbare Gewißheit von dem, was recht ist - sei es als gesetzgebende oder gesetzprüfende Vernunft- zu verlegen. In diesen Erfahrungen wird die Meinung von dem „was recht und gut ist", mit dem, was „ unmittelbar anerkannt" (302) ist, konfrontiert - das sind die „Gesetze" und „Massen der sittlichen Substanz", und es ist das „ verständige allgemeine Tun des Staats", demgegenüber das „Tun des Einzelnen als eines Einzelnen" so bedeutungslos wie ohnmächtig ist (304 ). Würde es sich dem allgemeinen Tun entgegensetzen, so würde es „unwiderstehlich zerstört werden" (305) - wie es in der Dialektik von Verbrechen und Strafe in der Jenaer Geistphiloso102

phie dargestellt wurde. Gemäß dem veränderten Ziel der Phänomenologie geht es aber nicht um bestimmte Formen und Institutionen des Rechts, sondern um eine Kritik an Auffassungen dessen, was recht und was das Recht ist. Hegels These auf dieser Stufe der Entwicklung des Geistes, formuliert vor allem in der Auseinandersetzung mit Kant, lautet: „Nicht darum also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es Recht" - weil es nämlich in einem Gemeinwesen institutionalisiert ist und seinerseits das Wissen und die „sittliche Gesinnung" als ein „unwankendes Ansichsein" bestimmt (311 f.). Wir brauchen hier nicht auf Hegels Auseinandersetzung mit Kant einzugehen. Es geht vielmehr darum zu sehen, daß das Selbst anerkannt ist, wenn es sich in seiner Gesinnung von gemeinsam anerkannten Gesetzen leiten läßt. Auf diese Stufe der Anerkennung, das unmittelbare Wissen des Geistes, bezieht sich die oben erwähnte Antizipation zu Beginn des zweiten Teils des Vernunftkapitels, die jetzt erläutert werden soll. Der Geist ist die realisierte Vernunft; das Bewußtsein, in dem selbständigen Anderssein „mein Fürsichsein zum Gegenstande zu haben" (257), ist in ihm objektivierbar, läßt sich an diesem Anderssein bewähren. Das Selbstbewußtsein ist zum „anerkannten Selbstbewußtsein" geworden, das „in dem andern freien Selbstbewußtsein die Gewißheit seiner selbst und eben darin seine Wahrheit hat" (256). Die Möglichkeit, das andere Selbstbewußtsein als frei und selbständig, zugleich aber als mit mir identisch zu wissen, beruht auf einem gemeinsamen Ganzen, der Sitte des Volkes, die das Bewußtsein aller bestimmt und zugleich deren Werk ist. Insofern das erstere der Fall ist, müssen die Einzelnen auf ihre Einzelheit verzichten: „sie sind sich bewußt, diese einzelnen selb103

ständigen Wesen dadurch zu sein, daß sie ihre Einzelheit aufopfern und diese allgemeine Substanz ihre Seele und ihr Wesen ist" (257). Die allgemeine Substanz der Sitte bestimmt „Sein", „Tun" und Bewußtsein des Einzelnen - und ist daher die Identität, aufgrund derer sich jeder im Anderen wissen kann. Andererseits ist aber „dies Allgemeine wieder das Tun ihrer als einzelner oder das von ihnen hervorgebrachte Werk" (ebd.). Ohne diese Verwirklichung im Tun der Einzelnen wäre die Sitte nur „gedachtes Gesetz" bzw. „Abstraktion der Allgemeinheit" - erst als im Bewußtsein und Tun der Einzelnen verwirklichtes Allgemeines ist sie „ wirkliches Selbstbewußtsein" (256 ). Die Einzelnen wissen einander mithin sowohl als Produkt wie als Ursprung der allgemeinen Sitte und des gemeinsamen Bewußtseins. Als Produkt sind sie eins, als Ursprung selbständig. Dieses Wissen, daß jeder für die „allgemeine Substanz" und damit für den selbständigen Anderen konstitutiv ist, ist die Einheit von Ich und Wir, die schon der Anfang des Kapitels Selbstbewußtsein als das Ziel des Anerkennungsprozesses antizipierte. Hegel nimmt diese Antizipation mit folgenden Worten wieder auf: „Ich schaue die freie Einheit mit den Anderen in ihnen so an, daß sie wie durch mich, so durch die Anderen selbst ist. Sie als Mich, Mich als Sie." (258) B. Entzweiung und Versöhnung von „Selbst" und „Substanz" (Geist-Kapitel) Das Resultat des Vernunft-Kapitels ist das Bewußtsein, daß die Sitten und Institutionen einer Gemeinschaft sowohl „Substanz" wie „Werk" der sich selbst negierenden Einzelheit sind. Der einzelne Wille kann sich, insofern er zur Einheit mit dem allgemeinen Willen gebildet 104

ist, in diesen Institutionen und dem von ihnen geprägten Bewußtsein der Anderen wiederfinden, anerkannt wis- . sen. Diese Einheit ist aber noch nicht mit dem Sich-absolut-Wissen des Selbstbewußtseins vermittelt, das nach der Realphilosophie das „Prinzip der neueren Zeit" ausmacht. Die erste Gestalt des Geistes entspricht daher in der Phänomenologie der antiken Sittlichkeit. Die Bewegung, durch die der Geist zum absoluten Geist wird, ist die Entzweiung des Selbst - das sich zum absoluten SichWissen bildet - von der Substanz, den Institutionen und Prinzipien des Geistes eines Volkes, und die Überwindung dieser Entzweiung. Daß diese Bewegung zugleich ein Prozeß der Realisierung von Anerkennung ist, hat Hegel, wie bereits angedeutet (o.S. 98), dadurch zumAusdruckgebracht, daß er die jeweils letzten Gestalten der drei Hauptabschnitte („Rechtszustand", „absolute Freiheit", „Gewissen") als Anerkennungsverhältnisse erörtert hat. Unser folgender überblick über die Anerkennungsbewegung im Geistkapitel folgt einerseits diesen von Hegel selber gesetzten Schwerpunkten, andererseits unserem Interesse an der Gesamtentwicklung der Jenaer Anerkennungstheorie, das sich in folgenden Fragen artikuliert: 1) Was bedeutet die gegenüber der Realphilosophie wesentlich veränderte Stellung des Rechtszustandes für die Anerkennungsbewegung der Phänomenologie? 2) Wie verhält sich die Entfremdung, das sich nicht wiederfinden Können in den Institutionen des Geistes, zur Anerkennung? 3) Was ist das „Telos", die höchste Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie?

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a) Recht und Anerkennung in der Phänomenologie

Der „Rechtszustand" in der Phänomenologie ist die letzte Gestalt des „ wahren Geistes" und zugleich der Beginn seiner Entfremdung. Darin scheint eine fundamentale Differenz zur Einschätzung des Rechts in der Realphilosophie zum Ausdruck zu kommen. Während das Recht dort erst die unmittelbare Form der Sittlichkeit war - in der späteren Rechtsphilosophie wird es sogar nur eine Vorstufe der Sittlichkeit ausmachen - wird es in der Phänomenologie als Verfall der voraufgehenden unmittelbaren Sittlichkeit und als Beginn der Entfremdung dargestellt. Zwar ist in der Phänomenologie wie in der Realphilosophie das „Anerkanntsein" die „Substantialität" des Rechtszustandes (vgl. 343). Aber die Anerkennung eines jeden als Rechtssubjekt ist der Verlust des verbindenden Geistes der unmittelbaren Sittlichkeit, die im Rechtszustand in die „Atome der absolut vielen Individuen zersplittert" ist (342). Ist Hegel damit zur Rechtskritik der Frankfurter und frühen Jenaer Zeit zurückgekehrt, obgleich gerade die fast gleichzeitige Realphilosophie die größte Annäherung an das moderne Naturrecht andeutet? (Vgl. Siep 1974, 188, 205.) Eine solche Annahme ist unnötig, wenn man die unterschiedliche systematische Stellung des Rechtszustandes in Realphilosophie und Phänomenologie im Auge behält. In der Realphilosophie ist das Recht Vorstufe der höheren Sittlichkeit des Staates und seiner Verfassung („Konstitution ") - in der Phänomenologie handelt es sich um eine Gestalt des Geistes, in der das Recht selber Inhalt und Zweck der Verfassung eines Staates ist. Daß ein das Recht der einzelnen verabsolutierender Staat aber ein „geistloses Gemeinwesen" (342) ist, dessen Einheit dem Partikularismus der Einzelnen und Gruppen zum Opfer 106

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fallen muß, ist die gleichbleibende Auffassung Hegels während der gesamten Jenaer Zeit. Weltgeschichtliches Modell" eines solchen Staates ist in der Phänomenologie ;,,ie schon in den Frankfurter Schriften der römische Staat. In ihm - vor allem im spätrömischen Kaiserreich hat die Absolutsetzung des Rechtes geradezu zum chaotischen Naturzustand eines Kampfes aller gegen alle geführt. Die rechtlich geschützte Selbständigkeit des einzelnen ist nämlich kein „ Inhalt", der die Ideen und Interessen, die „geistigen Mächte" (345) eines Gemeinwesens binden und organisieren könnte. Im Kampf dieser Mächte verkehrt sich das Prinzip, das in diesem Gemeinwesen verwirklicht werden sollte, die Selbständigkeit der Person - die ihr „ Wesen allein in die Einheit des reinen Denkens setzt" (343)- in sein Gegenteil. Die „ Wirklichkeit" eines solchen Gemeinwesens ist vom Prinzip der HerrschafttOt und damit der Negation der Selbständigkeit des einzelnen bestimmt. Die Substanz des Gemeinwesens ist also die „entfremdete Realität" des Selbstbewußtseins (346). Ein weiteres Problem liegt darin, daß der Rechtszustand in der Phänomenologie unter einem doppelten Aspekt erörtert wird, der gerade auch die Anerkennungstheorie betriffi; er ist zum einen, wie das Recht in der Realphilosophie, die unmittelbare Form des „Anerkanntseins" des reinen Selbst, die „unmittelbare Einheit der Einzelheit und Allgemeinheit" (446 ), insofern das Gelten der Person der einzige Inhalt des allgemeinen Willens ist. 102 Auf der anderen Seite ist das Sich-Finden des - mit der Allgemeinheit der Sitten identischen - Selbst in den Institutionen des Staates, das die „sittliche Welt" bestimmte, bereits unmöglich geworden. Beides läßt sich vereinbaren, wenn man davon ausgeht, daß sich das Selbst im Rechtszustand zwar in den Anderen, aber nicht in den 107

Sitten und Institutionen des Gemeinwesens anschauen kann. Soll letzteres geschehen, dann muß sich im Prozeß der Bildung und Entfremdung das „substanzleere Selbst" (446) erfüllen, und die sittliche Substanz als „selbstisch" erweisen. Das Selbst muß einen Bildungsprozeß durchlaufen, um eine neue, vermittelte Identität mit der sittlichen Substanz zu gewinnen: „Dies Tun und Werden aber, wodurch die Substanz wirklich wird, ist die Entfremdung der Persönlichkeit, denn das unmittelbar, d. h. ohne Entfremdung an und für sich geltende Selbst ist ohne Substanz und das Spiel jener tobenden Elemente" (sc. des Rechtszustandes) (348). Der entfremdete Geist und seine Welt ist somit zweifellos eine notwendige Stufe der teleologischen Bewegung der Anerkennung. Zugleich aber stellt er eine Negation der Anerkennung dar, denn „Entfremdung" bedeutet offenbar, sich in den Institutionen, dem „Werk" und „Tun" aller nicht wiederfinden zu können.

ß) Anerkennung im „entfremdeten Geist" Der Entfremdungsbegriff der Phänomenologie ist indessen sehr viel komplexer, als er gewöhnlich interpretiert und diskutiert wird. Er enthält nicht nur den Gegensatz zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Produkt des „ Tuns aller", sondern auch den zwischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein, der sich auf dieser Stufe als ein solcher zwischen „ wirklichem" und „ reinem Bewußtsein" bestimmt (vgl. 348). Für das erstere ist die Einheit von Selbstbewußtsein und „freier gegenständlicher Wirklichkeit" durch den Prozeß der Entäußerung selbst vermittelt, durch den das Selbst „in die wirkliche Welt über und diese in jenes zurück" geht (ebd.). Für das letztere dagegen besteht die Einheit allein im „Denken und Ge108

dachtsein", d. h. in der aufgehobenen Wirklichkeit. jeder der beiden Bewußtseinsformen gilt die andere als ihre Entfremdung. „Entfremdung" ist schließlich auch die Tatsache der Spaltung- in reines und wirkliches Bewußtsein, „Jenseits" und Diesseits - selbst. Im Kapitel über die „Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit" behandelt Hegel zunächst die Entfremdung innerhalb des wirklichen Bewußtseins. Wie in der Jenaer praktischen Philosophie - als ganzer - geht es dabei um das „Aufheben des natürlichen Selbst", das dadurch erfährt, daß es den Inhalt und Zweck seines Willens nicht in der „Besonderheit einer Natur", sondern nur in der „allgemeinen Substanz" der ihm als fremd erscheinenden Wirklichkeit der kulturellen, ökonomischen und staatlichen Institutionen hat (vgl. 351). Viel größeres Gewicht als in den früheren Entwürfen hat aber in der Phänomenologie der umgekehrte Aspekt, die Verwirklichung der Substanz durch ihre Vermittlung mit dem Selbst, das „übergehen ihrer gedachten Allgemeinheit in die Wirklichkeit ... wodurch das Ansieh Anerkanntes und Dasein ist" (352). Diese Bewegung führt im Entfremdungskapitel dahin, daß die Substanz im geistreichen Beurteilen des Selbstbewußtseins aufgelöst wird - geschichtsphilosophisch entspricht dem die Kultur des vorrevolutionären Frankreich, repräsentiert bei Hegel vor allem durch Diderot und Rousseau. 103 Das in seiner höchsten Bildung zur Freiheit des totalen Durchschauens und Entlarvens gelangte Selbstbewußtsein entdeckt das Ineinanderumschlagen aller Begriffe und damit die Haltlosigkeit der „höchsten Zwecke" (375). Auch die „wirklich anerkannten Mächte" erweisen sich für das zugleich „zerrissene" und gegen jede anerkannte Institution „empörte" Selbst, „nicht Selbstwesen zu sein" (ebd.). „An sich" ist die Substanz damit völlig in das reine Selbst aufgelöst. Die Ent109

fremdung besteht insofern jetzt im Verlust des vom Selbst unabhängigen „Elementes" des Anerkanntseins. Rein historisch betrachtet parallel, hinsichtlich der phänomenologischen Entwicklung des Geistes aber auf höherer Stufe, verläuft der Entfremdungsprozeß des reinen und wirklichen Bewußtseins, des Glaubens und der Aufklärung. Die „Richtung" auch dieses Prozesses ist das Subjekt-Werden der Substanz und das substantiell - gebildet, allgemein - Werden des Selbst. Dazu müssen die festen Gegensätze innerhalb der geistigen Substanz in die „Form der Begriffe" (414) übergehen, die sich als Einheit ihrer selbst und ihres Gegenteils erweisen. Wenn das zur Allgemeinheit gebildete Selbst, dessen Wesen nach der ·Bestimmung, die Hegel am Ende des Bewußtseinskapitels gibt, das „Unterscheiden des Ununterschiedenen" (128) ist, diese Struktur des Begriffs oder des „allgemeinen Subjekts" (415) in dem entdeckt, was ihm „Gegenstand heißt" (414), dann hebt sich die Fremdheit dieser Gegenständlichkeit auf, das Selbst erfährt, daß „sein wissender Begriff das Wesen aller Wirklichkeit" ist (ebd.). Für den praktischen Geist bedeutet dies, daß das allgemeine Selbst bzw. der allgemeine Wille zum Prinzip der staatlichen Wirklichkeit wird. Dies geschieht nach Hegel in der Französischen Revolution. Das Kapitel über die „absolute Freiheit und den Schrekken", in dem Hegel die Französische Revolution behandelt, ist für die Anerkennungsbewegung wichtig, weil es - analog zu Verbrechen und Strafe in der Realphilosophie - das Moment der Auseinandersetzung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen behandelt. Zu dieser Auseinandersetzung kommt es hier aber nicht deshalb, weil der einzelne Wille den allgemeinen negiert und diese Negation auf ihn zurückschlägt, sondern weil einzelner und allgemeiner Wille durch keine Besonderun110

gen - Stände oder Institutionen - miteinander vermittelt sind, sondern sich als „abstrakte Extreme" ( 418) gegenüberstehen. Da aber das allgemeine Selbst als die Negation aller bestehenden Unterschiede bestimmt war, kann es auch den einzigen in ihm selbst bestehenden Unterschied - eben den zwischen allgemeinem und einzelnem Willen - nur abstrakt negieren. Dies ist die „Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen" (ebd.) - historisch gesehen der Terror Robespierres. Die Erfahrung, die das Bewußtsein in dieser Gestalt macht, zeigt, daß der allgemeine Wille keineswegs „nur das positive Wesen der Persönlichkeit" (419) zum Ausdruck bringt, sondern das „Aufheben des Sichselbstdenkens oder des Selbstbewußtseins" ( 4 20) ist. Das Bewußtsein muß mithin seine „Forderung sich als diesen bestimmten Punkt im allgemeinen Willen zu wissen" (421 f.) aufgeben. Es muß seine eigene „ Unmittelbarkeit" aufheben und in dieser Negation der unmittelbaren, punktuellen Einzelheit des Fürsichseins das gemeinsame Wesen seiner selbst und des allgemeinen Willens erkennen: „der allgemeine Wille ist sein reines Wissen und Wollen, und es ist allgemeiner Wille, als dieses reine Wissen und Wollen" (422). y) Die Erfüllung der Anerkennung:

Das Gewissen und die Verzeihung des Bösen Das Selbst, das seine Einheit mit dem allgemeinen Willen im „reinen Wissen und Wollen" als sein Wesen bzw. als „seine Substanz und Zweck und einzigen Inhalt" ( 424) weiß, ist das moralische Selbst. Aber auch in der Moralität tritt die Differenz zwischen Einzelheit und Allgemeinheit des Selbst bzw. des Geistes wieder ein - und zwar als die „ Trennung des Ansieh und des Selbst, der 111

reinen Pflicht als des reinen Zwecks und der Wirklichkeit als einer dem reinen Zweck entgegengesetzten Natur und Sinnlichkeit" (446). Erst am Ende der Entwicklung des moralischen Geistes, in seinem Übergang in die Religion, wird diese Trennung aufgehoben. Diese Bewegung, die von Hegel wieder ausdrücklich als Anerkennung bestimmt wird, erweist sich damit als Abschluß eines Prozesses, der von der unmittelbaren Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit im Rechtszustand über die Differenz beider in der „absoluten Freiheit" bis zu ihrer endgültigen Versöhnung in der Verzeihung des Bösen führt (vgl. ebd.). Hegel nennt daher das Gewissen, die letzte Gestalt des moralischen Bewußtseins, das „dritte Selbst", das im Unterschied zum „leeren Recht" und zum „leeren allgemeinen Willen", der das Prinzip der absoluten Freiheit der Französischen Revolution war, einen „Inhalt" seiner Selbstgewißheit hat, der die „Form des vom Selbst freien Daseins" bzw. des Ansichseins (alle ebd.) - und damit auch des „Seins für anderes" (450) hat. Das Gewissen unterscheidet nämlich nicht mehr, wie das „moralische Selbstbewußtsein" (450) zwischen „guter Absicht" bzw. moralischer Gesinnung und ihrer unvollkommenen Verwirklichung - eine Unterscheidung, aufgrund deren sich das moralische Selbst schließlich als „nichthandelndes" und daher wirklichkeitsloses erwies. Das Gewissen beansprucht vielmehr, in der Offentlichkeit des Handelns bzw. im „Element des Anerkanntwerdens" seinen Begriff der Pflicht zu verwirklichen (ebd. ). Sein „Tun" ist das „übersetzen seines einzelnen Inhalts in das gegenständliche Element, worin er allgemein und anerkannt ist" (ebd.). Damit scheint zwischen der Überzeugung des einzelnen Gewissens von seiner Pflicht und ihrer „ Wirklichkeit" in der allen offenbaren und von allen anerkannten Handlung keine Differenz mehr zu bestehen. In 112

Wahrheit besteht aber nach wie vor zwischen dei;i Ebenen des allgemeinen Bewußtseins und des Handelns des Einzelnen eine Ungleichheit. Denn dem Gewissen geht es in seiner Handlung nicht um den bestimmten einzelnen Inhalt, der denAnderen gilt und an den sie sich halten, sondern nur um seine Selbstgewißheit. Für diese ist aber der bestimmte Inhalt unwesentlich - die Gewißheit der Pflicht läßt sich nicht endgültig mit bestimmten Inhalten verknüpfen, sie tritt in jedem einzelnen Fall neu ein und hat zu dessen Inhalt keine wesentliche Beziehung. Die wirklichen Handlungen offenbaren daher nicht das Wesen des Gewissens - die „absolute Gewißheit seiner selbst" (457) - sondern „verstellen" es vielmehr. Wenn das Gewissen mit seinen Handlungen aber nicht identifiziert werden kann, dann sind die anderen gleichfalls „frei" von diesen bestimmten Handlungen - und auch von der Notwendigkeit, aufgrund ihrer die Pflichtmäßigkeit des handelnden Gewissens anzuerkennen. Auf diese Weise tritt durch die Handlung der Gegensatz zwischen einzelnem und allgemeinem Bewußtsein104 wieder ein -wobei das einzelne Bewußtsein, wie im Verbrechen, sich als allgemein versteht und ausgibt: seine Gewissensentscheidung gilt ihm als allgemeine Pflicht. In Wahrheit setzt es aber das Allgemein- bzw. „Anerkannt"-Seinzum Unwesentlichen herab und seine Selbstgewißheit in den einzelnen Taten gilt ihm als das Entscheidende. Für das allgemeine Bewußtsein ist diese bloß vorgespiegelte W esen tlichkei t des Allgemeinen „Heuchelei" und das sich in seine Selbstgewißheit zurückziehende Bewußtsein das „Böse" - auch dies stimmt mit der Erörterung des Verhältnisses von Verbrechen und richterlicher Gewalt in der Realphilosophie überein. 105 Anders als in der Auseinandersetzung des Verbrechers mit dem gewalthabenden Gesetz wird aber hier das - nur beurteilende - all113

gemeine Bewußtsein dem bösen gegenüber selber zum partikularen. Hegel begründet dies auf dreifache Weise: Zum einen beruft sich das allgemeine Bewußtsein „auf sein Gesetz wie das böse Bewußtsein auf das seinige" ( 465). Damit erweist es sein Gesetz als ein nicht von allen Befolgtes, „Nichtanerkanntes" (466), Besonderes. Partikular ist es aber zudem aus einem weiteren Grunde: Um sich „in der Reinheit bewahren" zu können, muß es auf jede wirkliche Handlung verzichten und bleibt auch insofern „neben" dem ersten, umfaßt es nicht (ebd.). Schließlich ist es nicht nur selber böse, sondern in bestimmter Hinsicht sogar Ursache der Bosheit des anderen. Denn die Differenz zwischen der Allgemeinheit der Pflicht bzw. des „reinen Zwecks" und der „Seite der Einzelheit" der Handlung wird erst durch die moralische Beurteilung des allgemeinen Bewußtseins eingeführt ( 468). Das allgemeine Bewußtsein „erklärt" die Handlung des von ihr als böse beurteilten Bewußtseins „aus ihrer von ihr selbst verschiedenen Absicht und eigennützigen Triebfeder" ( 467) - und insofern „spielt (es) die Handlung in das Innere (des anderen Bewußtseins) hinein" (ebd.). 106 Daß beide Weisen des Bewußtseins gleichermaßen böse sind, ermöglicht zunächst dem handelnden - ursprünglich bösen - Bewußtsein der Einzelheit, den Gegensatz von sich aus aufzuheben. Es gesteht seine Besonderheit, weil es darin mit dem anderen übereinstimmt und daher als solches von ihm anerkannt zu werden glaubt. Während aber das „bekennende" Bewußtsein eben dadurch „dem abgesonderten Fürsichsein entsagte" und sich „als Allgemeines setzte" ( 469), bleibt nun das allgemeine Bewußtsein im „Innern" seines reinen tatenlosen Wissens, verweigert die Anerkennung seinerseits. Hegel bezeichnet dieses Verhältnis als die „höchste Empörung des seiner selbst gewissen Geistes" ( 469), weil sich das Selbst des 114

„zurückgestoßenen" Bewußtseins in der Allgemeinheit des Geistes nicht anerkannt weiß, obwohl es das „einfache Wissen des Selbsts" mit dem „reinen Wissen" des allgemeinen Bewußtseins identisch weiß (ebd.). Das seiner Besonderheit entsagende reine Bewußtsein erhält seine Identität mit dem allgemeinen Bewußtsein von diesem nicht bestätigt - das Allgemeine tritt ihm vielmehr selber als abgesondertes Fürsichsein gegenüber. Die Aufhebung dieses Gegensatzes, die „ Verzeihung" des Bösen und die Versöhnung des einzelnen mit dem allgemeinen Bewußtsein, entspricht wiederum im Ergebnis der Begnadigung in der Realphilosophie, obwohl sie als Prozeß in wesentlichen Punkten davon abweicht. Denn die Versöhnungsbewegung beginnt bei dem ursprünglich bösen, aber durch sein „Bekennen" zum Allgemeinen zurückkehrenden Bewußtsein. Dagegen hat das zur Verzeihung nicht bereite Bewußtsein nun die Charakteristika, die das böse in der Realphilosophie kennzeichneten: es ist absolutes Insichsein, weil es von aller Wirklichkeit des Handelns frei ist. Erst durch die Einsicht in das, was die bekennende Rückkehr des handelnden und „wirklichen" Bewußtseins in die Allgemeinheit des Sichwissens bedeutet, kann das urteilende Bewußtsein dem „teilenden Gedanken" (4 71) entsagen. In dem sich bekennenden Bewußtsein erkennt das allgemeine Bewußtsein sich selbst (vgl. 470 f.). Das bedeutet aber nicht, daß nur in der leeren, handlungslosen Allgemeinheit beide übereinkommen können. Die Versöhnung bedeutet vielmehr die Erfahrung der Einseitigkeit beider Extreme, des handelnden und des urteilenden, wissenden Bewußtseins. Indem jedes sich im anderen anschaut, „ergänzt" sich das Moment der abstrakten Allgemeinheit durch das der Einzelheit des handelnden Selbst und umgekehrt (vgl. 470 u. 555). Das „gegenseitige Anerkennen" (471) 115

beider in ihrer Versöhnung ist daher zugleich die Erkenntnis der Einheit des „reinen Sichselbstwissens" in den beiden entgegengesetzten Extremen des „absolut Allgemeinen" und der „absoluten Diskretion der Einzelheit" ( 472). Das Wissen dieser Einheit ist der absolute Geist. Der absolute Geist- nicht der Staat - ist somit das Telos der Anerkennungsbewegung in der Phänomenologie. Freilich ist die Versöhnung im „handelnden, seiner selbst gewissen Geist" noch nicht die „Erfüllung" des absoluten Geistes (555). „Inhalt" gewinnt dieser vielmehr erst in der Religion, in der er aber wieder in der Form des An-sich, des „Andersseins für das Bewußtsein" auftritt (ebd.). Zum absoluten Bewußtsein seiner selbst gelangt er erst im absoluten Wissen, in dem er sich als Einheit zweier „ Versöhnungen" weiß: derjenigen im handelnden Geist bzw. in der „Form des Fürsichseins" und im religiösen Geist bzw. in der „Form des Ansichseins" (553). 107 Religion und Philosophie aber werden in der Phänomenologie nicht mehr als höchste Institutionen des Staates aufgefaßt, 108 sondern der Staat in seinen historischen Formen kommt nur als Vorstufe des absoluten Geistes in Betracht. Diese Tatsache ist wichtig für die Versuche, die Phänomenologie als Emanzipationsgeschichte zu lesen. 109 Sie bedeutet .aber nicht, daß die Struktur der Anerkennung in der Phänomenologie eine andere ist als in den früheren Schriften. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen einzelnem und allgemeinem Bewußtsein gehen nämlich auch Religion und Philosophie (absolutes Wissen) nicht über die „Verzeihung des Bösen" hinaus. Im Schlußkapitel der Phänomenologie sagt Hegel ausdrücklich, daß die beiden „Versöhnungen" am Schluß der „Moralität" und in der „offenbaren Religion" sich nur durch ihre Form voneinander unterscheiden: Die Religion wiederholt die zunächst nur in der „Form des 116

Fürsichseins" vollbrachte Versöhnung in der „Form des Ansichseins" (553). Allerdings ist diese Versöhnung in der Religion die umfassendere, denn als das „Böse" ist in ihr nicht nur Handlung und Gewissen des Einzelnen, sondern die gesamte Natur und die Trennung von Bewußtsein und „Dasein" (vgl. 538f.) bestimmt. In der Versöhnung, die das religiöse Bewußtsein im Reich seiner Vorstellungen anschaut und im Kult nachvollzieht, wird alles „Anderssein", die Natur, das „besondere Fürsichsein" (546) und die „reine Innerlichkeit des Wissens" (547) in den absoluten Geist, die sich als Selbst wissende Substanz, aufgehoben. Daß das absolute „Insichsein" der selbstbewußten Einzelheit erst in der Religion, genauer in der im Kult nachvollzogenen Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung (vgl. 537 ff.), zum Wissen der Einheit mit dem absoluten Geist gelangen kann, hat Hegel schon in den frühen Jenaer Schriften seit dem System der Sittlichkeit dargestellt. In diesem Bewußtsein lag für ihn eine notwendige Ergänzung zur Anerkennung des Einzelnen im Staat - nämlich ein Wissen des Freiseins vom historisch besonderen Staat durch die Identität mit dem absoluten Geist. Dieses Verhältnis der Religion zum Staat wird in der Phänomenologie nicht erörtert. Unter dem Gesichtspunkt der Phänomenologie, der Genese des absoluten Wissens als des „reinen Selbsterkennens im absoluten Anderssein" (24 ), kommt der über den Bereich des sozialen Handelns hinausgehenden religiösen Versöhnung natürlich größere Bedeutung zu als in den früheren Schriften. Allerdings hat auch diese Versöhnung als ein Geschehen im „allgemeinen Selbstbewußtsein", d. h. der „Gemeinde", einen sozialen Aspekt. Der im Kult und im religiösen Wissen „ vom Selbst ergriffene Tod des Mittlers" (545 f.) bedeutet für das besondere Selbst das „Aufheben seiner Gegenständlichkeit oder sei117

nes besondern Fürsichseins", und zwar als ein Emporheben „zur Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemeinde lebt" (ebd.). Dieses Wissen ist aber nicht nur ein „Sterben" und „Nichtsein dieses Einzelnen" (545), sondern auch die Gewißheit, daß die Gemeinde seinen Rückzug in die unumgängliche Einzelheit seines lnsichseins, seines Gewissens und davon bestimmten Handelns als ein Moment ihrer selbst annimmt und ihrer „unbewegten Allgemeinheit" entsagt (vgl. 555). Unter dem „sozialen" Aspekt des Anerkennens geht diese „ Versöhnung" offenbar nicht über die am Ende der „Moralität" dargestellte hinaus.11° Als Vorstellung eines gleichsam „kosmologischen" Prozesses der Versöhnung von Geist und Natur kommt sie dagegen dem Ziel der Phänomenologie des Geistes näher. Was bedeutet es für die Anerkennungstheorie der Phänomenologie, daß Hegel ihre höchste Stufe als Versöhnung zwischen Gewissen und „allgemeinem Selbst" darstellt? Ist damit nicht doch ein am neutestamentlichen Liebesbegriff orientiertes „ solidarisches" Verhältnis zum Ziel der sozialen Beziehungen und ihrer Organisation in einer „ verfaßten" Gemeinschaft geworden? Muß aus dieser Anerkennung des Gewissens nicht auch ein Recht auf abweichende individuelle Interpretation allgemeiner Gesetze und Regeln folgen? Hegel ist in der Phänomenologie noch nicht so weit gegangen wie in der Enzyklopädie, wo er das „protestantische Gewissen" - als Synthese des „religiösen und des sittlichen Gewissens" - als unumgängliche Grundlage des vernünftigen Staates erklärt. Aber auch dort bedeutet die Freisetzung dieses Gewissens nicht, daß anstelle der „Gesetze" und der „ vernünftigen Rechtsorganisation" des Staates die Spontaneität solidarischer Beziehungen tritt. Denn das „konkrete Inwohnen" des „göttlichen 118

Geistes" in den sozialen Beziehungen ist gerade in den „Gestaltungen der Sittlichkeit" zu finden, nämlich der „Sittlichkeit der Ehe", der „Sittlichkeit der Vermögensund Erwerbstätigkeit" und der „Sittlichkeit des dem Rechte des Staates gewidmeten Gehorsams" (alle§ 552). Zumindest für den späten Hegel können diese Institutionen durchaus die Billigung des „religiösen Gewissens" finden, d. h. ihm als Verkörperungen des in der Religion vorgestellten Verhältnisses von einzelnem und absolutem Selbst verstanden werden. Das allerdings bedeutet wiederum, daß sie dem Maßstab der Anerkennung entsprechen, die auf ihrer höchsten Stufe „ Versöhnung" zwischen allgemeinem Selbst und Gewissen ist. Was aber bedeutet dieser Maßstab für die „vernünftige Rechtsorganisation" eines Staates selber? Welche Rolle spielt in ihr die Freiheit und Anerkennung des Gewissens? Offenbar nicht, daß Gewissen und Pflichtgefühl als Recht in Anspruch genommen werden können, vom „anerkannten Allgemeinen" abzuweichen. Denn das vom allgemein anerkannten Sittlichen getrennte „Innre, Eigene" kann nur private „Einzelheit und Willkür" sein (465 ). Hegel zieht daraus die radikale Konsequenz: „Wer darum sagt, daß er nach seinem Gesetze und Gewissen gegen die Andern handle, sagt in der Tat, daß er sie mißhandle." (ebd.) Auf der anderen Seite kritisiert Hegel, wie wir gesehen haben, das Ausspielen der Allgemeinheit moralischer Forderungen gegen die „Seite der Einzelheit" ( 470) der Handlung. Dennoch ist wenig wahrscheinlich, daß er damit die lnterpretierbarkeit anerkannter Normen und Rollen durch eine darin letztlich nicht aufgehende Individualität fordert. Es sei denn, es handele sich um die Tat eines großen Individuums, dessen gesetzloses Handeln sich nachträglich als Vorgriff auf eine neue Form des Geistes erweist, ein Thema, das in Hegels Kri-

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tik der „Heuchelei" des allgemeinen Bewußtseins eine Rolle spielt, obgleich die Verzeihung des Bösen in der Phänomenologie nicht in erster Linie die Versöhnung der Hegelschen Philosophie mit Napoleon zum Thema hat, wie Kojeve zu zeigen versucht.111 Daß die Allgemeinheit eines Gesetzes oder eines moralischen Imperativs nicht mechanisch auf jede einzelne Handlung angewandt werden darf, hat Hegel in der praktischen Philosophie der Jenaer Zeit wiederholt zum Ausdruck gebracht. Nach der Realphilosophie ist die Vermittlung zwischen diesen beiden Momenten des Geistes zum einen in den „konkreten" Gesinnungen der Stände, zum anderen in der ausgleichenden Weisheit von Regierung und Rechtsprechung zu suchen (VIII, 248 f., 276 f.). Daß demgegenüber in der Phänomenologie von der Berechtigung zu individueller Interpretation bestehender Gesetze und Sitten die Rede sein kann, muß nach der scharfen Kritik der „gesetzprüfenden Vernunft" ausgeschlossen werden. Aus der Anerkennung der unmittelbaren Selbstgewißheit kann daher auch nicht auf ein Widerstandsrecht oder eine sonstige institutionelle Sicherung der Einzelheit gegen den allgemeinen Willen geschlossen werden. 112 Eher meint die „Verzeihung" auch hier, daß der Konflikt mit dem allgemeinen Willen, das „Böse" des Sich-in-sich-Zurückziehens, ein Moment des allgemeinen Geistes selber ist und daher begnadigt und - wie es die Realphilosophie sagt (VIII, 275) - in Fällen des Krieges als Verbrechen für die Allgemeinheit legitimiert werden kann. Aber diese Frage ist für die Phänomenologie nicht von Bedeutung; ihr geht es - neben der Kritik an der Kantischen Moralphilosophie und ihren romantischen Gegenpositionen113 - um den Nachweis, daß der absolute Geist das Moment der unmittelbaren Selbstgewißheit, das Prinzip des natürlichen Bewußtseins und in bestimmter 120

Hinsicht auch der neuzeitlichen Philosophie, in sich enthält. Dieser Nachweis ist erst vollständig geführt, wenn das gebildete Selbst die Wahrheit als ein System selbstischer Begriffe bzw. dialektischer „ Wesenheiten" begreift. Auch die Theorie des Gewissens bedeutet auf diesem Wege, daß der Einzelne auf seine Besonderheit, sofern sie im Gegensatz zum allgemeinen Bewußtsein steht, verzichtet - und daß das allgemeine Bewußtsein zwar verzeihen, vergessen114 und tolerieren kann, solange die Existenz" des Ganzen nicht auf dem Spiel steht (vgl. " VIII, 259), aber dem Gewissen und der handelnden Einzelheit kein Recht gegen das anerkannte Allgemeine zustehen kann. Dies bleibt auch in der späteren Theorie des Gewissens bei Hegel unverändert (Lübbe 1964). Und darin liegt, wie wir im folgenden noch zeigen wollen, auch die Grenze der Gegenseitigkeit des Anerkennens als einer wechselseitigen Konstitution von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein. e) Zusammenfassung Nach der Jenaer Geistphilosophie umfaßt Anerkennung für Hegel - einmal abgesehen von ihren Formen und Entwicklungsstufen -die folgenden vier Momente: a) die Konstitution eines gemeinsamen Bewußtseins selbstbewußter Individuen. Dieses Bewußtsein kehrt auf allen Stufen der Anerkennungsbewegung wieder ; es betriffi: sowohl die Einheit der natürlichen wie der gebildeten Selbste; b) das Einander-Gelten-Wollen auch in der Andersheit, im Sich-Absetzen vom Anderen, ja in der Negation des Anderen. Eine solche Distanz vom Anderen ist für Hegel nicht nur mit Anerkennung vereinbar, sondern für deren Realisierung notwendig. Allerdings darf sie das erste Moment, das Bewußtsein der Einheit, nicht un121

möglich machen; c) das wechselseitige Respektieren der Rechte und der gesellschafl:lichen Funktionen115• Dieses Respektieren ist nicht bloß eine Frage der Gesinnung, sondern von Gesetzen, Verträgen - kurz: öffentlichen Institutionen, an die sich der Einzelne mit Bewußtsein und Einsicht binden muß; d) das Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit von einzelnem und gemeinsamem Bewußtsein bzw. Willen. Anerkennung bedeutet, daß keiner seine „Identität" allein in sich selbst hat, sondern durch das Bewußtsein der Anderen vermittelt. Das besagt auf der höchsten Stufe der Anerkennungsbewegung, daß das einzelne Bewußtsein sich als Moment der allgemeinen Substanz weiß, die ihrerseits das „Tun und Werk aller" ist. Wichtig ist, daß auch auf dieser Stufe die Einheit durch eine „doppelsinnige" Selbstnegation beider Pole bedingt ist: eine Negation des Unterschiedenseins vom Anderen und des „im Anderen Seins" bzw. des übergreifens über ihn. Damit wird nicht nur die eigene „Isolation" vom Anderen aufgegeben, sondern auch die Andersheit des Anderen freigegeben. Daß auch im Verhältnis des Einzelnen zum allgemeinen Selbst eine solche wechselseitige Selbstnegation stattfindet, hat Hegel in seinen Ausführungen über die Verzeihung des Bösen in der Phänomenologie zum Ausdruck gebracht: nicht nur das einzelne Selbst, auch das allgemeine „verzichtet" bzw. „entsagt" seiner Unbedingtheit. Die Frage ist, ob dem auch eine entsprechende institutionelle „Gestaltung" des sittlichen Geistes entspricht. Von der bis jetzt erreichten Klärung der Struktur der Anerkennung aus lassen sich nun zwei Thesen formulieren, die für die Deutung und Bewertung Hegels innerhalb der gegenwärtigen Theorien der kommunikativen Identitätsbildung wichtig sind. Sie müssen sich im wei122

teren Verlauf der Untersuchung erhärten und erläutern lassen. 1) Anerkennung ist für Hegel eine Synthese von „Liebe" und „Kampf". Und zwar insofern, als auf allen Stufen des Anerkennungsprozesses die Bewegung des Sich-Findens im Anderen und des Sich-Distanzierens vom Anderen - wobei der Andere sowohl einzelne Person wie allgemeines Bewußtsein sein kann - notwendig miteinander verknüpft sind. So wie das Rechtsverhältnis zwischen Personen nicht durch das höhere Verhältnis der Liebe überwunden wird, sondern liebende Vereinigung und distanzierende Selbstbehauptung in sich enthält, so sind auch die höheren Anerkennungsstufen jeweils Synthesen von Selbstüberwindung und Selbstbehauptung. Vom Jenaer Hegel läßt sich daher nicht sagen, daß er in der Liebe als Überwindung aller rechtsförmigen Beziehungen des Telos der sozialen Beziehungen gesehen hätte. Auch hinsichtlich der Inanspruchnahme Hegels für Theorien kommunikativer Identitätsbildungen muß diese Einheit von „Außersichsein" und Negation des Selbstverlustes beachtet werden. Das „Außersichsein" bedeutet nicht, daß die Identität des Individuums aus einer „kommunikativen Definition von Bedürfnissen" resultiere.116 Die Selbstartikulation gegen die Verlorenheit in der Gemeinschaft andererseits hat wenig mit einer individuellen Bedürfnisartikulation zu tun, die sich dann durch einen konsensusbildenden Dialog mit anderen individuellen Bedürfnissen zu einer Gemeinsamkeit vernünftiger Zwecke und Normen harmonisieren ließe. 117 Bei Hegel ist die Gemeinsamkeit des Bewußtseins und Willens auf der Ebene der natürlichen Individualität und ihrer Bedürfnisse überhaupt nicht herzustellen. 118 Zwar erkennt in der Liebe jeder sich gleichsam „durch die Au123

gen des Anderen", aber bereits in der Familie beginnt die Bewegung des Sich-auf-sich-Zurückziehens, des Bewußtwerdens der Selbständigkeit und Unterschiedenheit von allen Anderen. Zur Gemeinschaft selbständiger freier Willen kommt es nur durch die Überwindung des in der natürlichen Einheit mit den Anderen liegenden Selbstverlustes - der allerdings die Überwindung der Selbstisolation und Selbstverabsolutierung der Einzelheit entsprechen muß. Die Einheit des allgemeinen Willens beruht auf der gemeinsamen Erhebung über die natürliche Besonderheit individueller Bedürfnisse und Wünsche. Erst auf dieser Basis kann das Verfolgen besonderer Interessen und Zwecke des Einzelnen - in der vom Staat freizugebenden Sphäre des privatrechtlich organisierten Wirtschaftsverkehrs - vernünftig gerechtfertigt werden: nicht als eine sich auf individuelle Bedürfnisgebundenheit aufbauende Harmonie, sondern als ein gemeinsamer Wille dazu, der „ gebildeten", ihren eigenen Bedürfnissen gegenüber distanzierten Person die Bekundung eines besonderen Willens freizugeben. Diese schon in den Jenaer Schriften enthaltene Konzeption entfaltet dann die spätere Rechtsphilosophie zur Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft als eines notwendigen Moments der Idee der Freiheit. Rechtsbeziehungen und bürgerliche Gesellschaft stehen für Hegel deswegen nicht im Gegensatz zur Anerkennung als Prozeß der Selbstbildung durch soziale Interaktion, weil für diesen Prozeß nicht die Artikulation und Harmonisierung von Bedürfnissen und Interessen maßgeblich ist, sondern die Befreiung von ihnen als Voraussetzung ihrer „ rechtmäßigen", dem freien Willen aller zumutbaren Befriedigung bzw. Beförderung. Ich . komme darauf im Schlußteil (Kap. IV und V) dieser Arbeit noch einmal zurück. 2) Anerkennung ist das Wissen von der wechselseitigen 124

Bedingtheit des Bewußtseins des Einen durch das des Anderen und - auf höherer Stufe - des einzelnen Bewußtseins durch das allgemeine und umgekehrt. Ein Wissen, das sich in Handlungen und Institutionen niederschlägt. Hegel hat aber - das ist meine zweite These - die „symmetrische" Wechselseitigkeit der Anerkennung in seiner Geistphilosophie nicht konsequent durchgeführt. Als „Postulat" ist sie in seinen Jenaer Schriften deutlich formuliert. Für die erste Stufe ergibt sie sich eindeutig aus der Erörterung der ungleichen, asymmetrischen Anerkennung des Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisses. Daß sie für den gesamten Prozeß und sein „Telos" gilt, läßt sich dem Versöhnungsbegriff der Phänomenologie entnehmen. Und schließlich kann man auch zeigen, daß zwischen den beiden - von mir unterschiedenen - Stufen der Anerkennung (Ich - Anderer bzw. Ich - Wir) ein solches Verhältnis der Wechselseitigkeit besteht: Jeder findet das allgemeine Bewußtsein nur im Anderen, aber beide kommen auch zur Einheit und Anerkennung nur über das in Sitten, Regeln, Institutionen objektivierte allgemeine Bewußtsein, den Volksgeist. Die Wechselseitigkeit dieser Struktur ist nicht mit der logischen Kategorie der „Wechselwirkung" zu identifizieren. Diese Kategorie reicht sicher für das Begreifen des sittlichen Geistes nicht aus. Bevor ich - im nächsten Abschnitt - auf die Frage der logischen Struktur der Anerkennung eingehe, genügt es, sich an d ie erläuterte „doppelsinnige" Selbstnegation von Einzelheit und Allgemeinheit zu halten. Aus ihr folgt, daß sich einzelnes und allgemeines Selbst nicht wechselseitig anerkennen können, wenn sie dem jeweils anderen nicht eine Distanz zu ihnen freigeben. Nun manifestieren sich solche Strukturen des sittlichen Geistes für Hegel nicht in Gesinnungen oder Sollensforderungen, sondern in öffentlichen Regeln 125

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bzw. Institutionen. Zumindest auf den höchsten Stufen der Hegelschen Philosophie des praktischen Geistes sucht man aber vergeblich nach Institutionen, die als Verwirklichung von Anerkennung im Sinne der wechselseitigen Selbstnegation von „Ich" und „Wir" begriffen werden können. Die Selbständigkeit des einzelnen Selbst gegenüber dem daseienden Volksgeist, dem Staat, ist keineswegs in derselben Weise als Recht anerkannt wie dessen Macht über die Einzelnen. Während Hegel das Notstandsrecht, das dem Staat gestattet, „in jedem Nothfalle, wo die Existenz des Ganzen kompromittirt ist, vollkommen tyrannisch zu verfahren" (VIII, 259), uneingeschränkt bejaht, fehlt nicht nur jeder Gedanke an ein Widerstandsrecht, sondern auch an einen - auf Menschen- oder Naturrecht, Verfassungsgarantien oder was auch immer - garantierten Schutz gegenüber staatlicher Willkür. 119 Zwar ist der Staat verpflichtet, den Einzelnen gegen den Rechtsbruch anderer zu schützen, aber die Grenzen staatlicher Macht gegen den Einzelnen sind nicht festgesetzt. Dies um so weniger, als die Regierung - um den starren Mechanismus des Rechts und der Gesetze zu mildern - befugt ist, „Ausnahmen vom Gesetze zu machen" bzw. „ihm entgegengesetzt (zu) handeln" (VIII, 276). Zudem ist sie ja ausdrücklich „beauftragt", im Krieg die „Systeme des Rechts, der persönlichen Sicherheit und Eigenthums" zu erschüttern (ebd.). Hinsichtlich des Anerkennens der Rechte von einzelnem Selbst und Staat kann also nicht von Wechselseitigkeit gesprochen werden. 120 Von der institutionellen Verwirklichung der Anerkennung in der Jenaer Geistphilosophie wird man daher kaum behaupten können, daß das Individuum darin als „ vollkommen individuiertes Wesen" zur Geltung kommt (vgl. u. Kap. IV, 2). Von der Stufe des Kampfes 126

an hat die Einzelheit des Selbst die Bedeutung des reinen FürsiChseins, das an keine Bestimmung gebunden ist, von jeder abstrahieren kann - sogar von der, sich durch Ausschluß des Anderen gleichsam auf sich selbst einzugrenzen. Einzelheit hat die Bedeutung der unmittelbaren Selbstgewißheit des „reinen lnsichseins". In diesem lnsichsein ist das Selbst von allem „Äußeren", selbst den allgemein anerkannten Sitten und Institutionen eines „daseienden" Gemeinwesens frei - ein Wissen, das aber nur dann nicht abstrakt ist, wenn es sich mit dem absoluten Geist identisch weiß, der sich in solchen Institutionen manifestiert, über ein bestimmtes Gemeinwesen aber zugleich hinaus ist. Die Anerkennung der natürlichen Individualität - das wird uns im folgenden noch beschäftigen - bleibt auf den Bereich der Familie beschränkt und die Anerkennung des ausschließenden Fürsichseins auf das Recht. Recht hat aber nur in einer Gemeinschaft Bestand - so glaubt Hegel - in der die Beziehungen der Einzelnen und Gruppen 121 auf das Ganze ihrerseits nicht allein „rechtsförmig" sind. Dieses Ganze selber könnte sonst nicht „Individualität" sein: Negation aller Unterschiede, Freiheit von allen Gesetzen und Institutionen. Die „gesetzlose" Handlung der freien „Spitze des Ganzen" (VIII, 276), der Regierung, ist durchaus positiver Ausdruck des Geistes. Eine Grenze bleibt der Freiheit der den Staat verkörpernden Gewalt gleichwohl gesetzt - und in ihr liegt auch eine gewisse Sicherung des Individuums im vernünftigen Staat: die allgemeinen Grundsätze des Handelns der staatlichen Gewalt und die Prinzipien der Institutionen müssen auf Dauer der allgemeinen, öffentlichen Meinung nachvollziehbar sein. 122 Das Prinzip aber, das nach Hegels Jenaer Geistphilosophie den Institutionen zugrunde liegen muß, ist das der Anerkennung 127

selbst. Was bedeutet dieser Maßstab für die Institutionen eines vernünftigenStaates? Ich werdedieseFrage im IV. Kapitel ausführlich erörtern. Dabei wird sich zeigen, ob die jetzt erarbeitete These hinsichtlich der Wechselseitigkeit der Anerkennung bestätigt werden kann. Bevor die Bedeutung der Anerkennung für die Aufgabe der praktischen Philosophie erörtert wird, soll aber die Frage nach der "Struktur" der Anerkennung weitergeführt werden. Auch in der Jenaer Zeit unterscheidet Hegel ja von den realphilosophischen Teilen des Systems, der Natur- und Geistphilosophie (bzw. Philosophie der Sittlichkeit), einen „reinen" Teil, der Logik und Metaphysik umfaßt. Läßt sich nicht doch eine logische oder „kategoriale" Struktur angeben, die dem Anerkennungsprozeß der Geistphilosophie zugrunde liegt? Mit dieser Frage beschäftigt sich der folgende Abschnitt unserer Untersuchung. Eines darf freilich bei der Analyse der Struktur der Anerkennung nicht außer acht gelassen werden: Hegels Theorie der Anerkennung zeichnet sich sowohl gegenüber seinem Vorgänger Fichte wie den heutigen Versuchen gegenüber dadurch aus, daß er Anerkennung nicht als eine apriorische Bewußtseinsstruktur oder ein idealisiertes Modell versteht, sondern als einen Prozeß, der eine Reihe konkreter Formen des Praktischen umfaßt. Nicht nur Familie, Recht und absolute Sittlichkeit auch Arbeit, Tausch, Sprache etc. sind als Momente von „Anerkennung" zu betrachten. In der Einleitung wurde die Frage gestellt, ob demgegenüber die Tendenz der gegenwärtigen praktischen Philosophie, sich hinsichtlich ihrer Grundnormen vornehmlich an der Sprache zu orientieren, nicht als Verengung betrachtet werden muß. Nun hat auch bei Hegel - und hier besonders in der Phänomenologie - die Sprache eine ausgezeichnete Be128

deutung für die Anerkennung. Was die Sprache im „Geist"-Kapitel der Phänomenologie für die Anerkennung bedeutet, soll im folgenden Exkurs noch angedeutet werden. Exkurs

Die Notwendigkeit der Sprache für die „interpersonale" Anerkennung wie für die Bildung der Einheit von „Ich" und „ Wir" läßt sich in vielen Abschnitten der Phänomenologie des Geistes nachweisen. So gewinnt die Sprache zentrale Bedeutung für den Prozeß der Entfremdung des Geistes und deren Überwindung. Im Entfremdungskapitel wird die Sprache bekanntlich in ihren geschichtlichen Erscheinungsformen, als Sprache der Vasallen, des Hofes (der „Schmeichelei") und schließlich der gebildeten Welt des vorrevolutionären Frankreich123, behandelt. In der Sprache kommt sowohl die Einheit der Individuen miteinander und mit dem Ganzen wie auch die Entfremdung des Einzelnen von der geistigen Substanz zur Erscheinung. Indem sich in der geistreichen Sprache schließlich alle Momente der geistigen Substanz verkehren und damit in ihrem „haltlosen" Ineinanderübergehen entlarven, beginnt sich die Entzweiung zwischen dem Selbstbewußtsein und der ihm „ fremd" gewordenen geistigen Substanz aufzulösen. Ganz deutlich wird die Funktion der Sprache für den Prozeß des Anerkennens im oben bereits erörterten Gewissens-Kapitel der ·Phänomenologie. Der Sprache allein gelingt die Vermittlung der unmittelbaren Selbstgewißheit des Gewissens mit dem allgemeinen Bewußtsein des moralischen Guten bzw. der Pflicht. In der Sprache wird sich diese Gewißheit des „reinen Ich" gegenständ129

lieh, erhält sich in dieser Gegenständlichkeit „als dieses Selbst" - so wie es auf der anderen Seite „mit den Andern zusammenfließt und ihr Selbstbewußtsein ist" (458). Das bedeutet, daß der Einzelne in der Sprache seine innerste Überzeugung von seiner Pflicht ausdrükken kann und diese Überzeugung zugleich als das allgemeine Anerkanntsein seiner Pflichtauffassung behaupten und erfahren kann. Das „Aussprechen" ist daher „die wahre Wirklichkeit und Geltung der Handlung" ( 459). Worauf geht diese Fähigkeit der Sprache zurück? Auf ihre Dialogstruktur? Auf die Fähigkeit zur Synthese von Einzelheit und Allgemeinheit? Beides ist richtig, aber nicht ausreichend. Die Sprache als ein nach allgemeinen Regeln erzeugbares System äußerer Zeichen ermöglicht eine dem allgemeinen „Vernehmen" zugängliche Vergegenständlichung des Bewußtseins und ist daher eine „Mitte selbständiger und anerkannter Selbstbewußtseine" (ebd.). Aber sie ist das nicht, weil die Dialogregeln die Darstellung der unaufhebbaren, „ unvertretbaren" Individualität gestatten, sondern weil das Individuum sich im Aussprechen seiner innersten Überzeugung „ verallgemeinert" , zur Mitteilbarkeit bildet. Daß die Sprache die Einzelheit der Meinung zur Allgemeinheit der Aussage „ verkehrt", ist bereits das Ergebnis der ersten Erörterung der Sprache im Kapitel „sinnliche Gewißheit" . 124 Zudem ist die Möglichkeit des „Anerkanntseins" des Gewissens nicht allein auf die Form der Sprache als solche zurückzuführen, sondern auf den „Inhalt, den die Sprache hier gewonnen hat" (458). Dieser Inhalt ist der „in seinem Selbst seiner Wahrheit oder seines Anerkennens gewisse und als dieses Wissen anerkannte Geist" (ebd.). Das setzt voraus, daß das handelnde Selbst darauf verzichtet, sich im Aussprechen des Pflichtbewußtseins gegen das allgemeine 130

Bewußtsein zu stellen oder seine Selbstgewißheit als das Allgemeine zu behaupten - und daß auf der anderen Seite das allgemeine Bewußtsein sein Urteilen, seine Form des Aussprechens des moralisch Guten, nicht als eine abstrakte Allgemeinheitsforderung aufrecht erhält. Die Sprache, als System sinnlicher - aber im Verklingen des Lautes diese ihre sinnliche Außerlichkeit selbst aufhebender125 - Zeichen, deren Bedeutung „geistig" ist, sowie als Medium des Austausches „persönlicher" und dennoch allgemeiner Ü berzeugungen, ist die notwendige Bedingung der „Existenz" (vgl. 458) des Geistes. Aber sie enthält für H egel nicht bereits in ihren eigenen Bedingungen das Modell des Anerkennens. Dazu muß sie erst als Daseinsform des Geistes erkannt werden - und das heißt, als Moment einer sich in verschiedenen Formen des Wissens und Handelns realisierenden Anerkennungsbewegung, in der sich der Geist als Einheit von „Ich" und „Wir" begreiß:.126

4. Das Problem einer logischen Struktur der Anerkennung Aus H egels Jenaer Zeit ist nur ein Manuskript zur Logik und Metaphysik erhalten, das 1804/ 1805 entstanden ist. 127 In diesem T ext hat die Logik noch die Funktion einer Kritik der Verstandesbestimmungen, die zum spekulativen - die gegensätzlichen Gedankenbestimmungen als Momente einer Totalität begreifenden - Denken der Metaphysik erst hinführt. Diese Trennung zwischen Logik und Metaphysik scheint Hegel gegen Ende der Jenaer Zeit aufgegeben zu haben - ohne daß man den Zeitpunkt der Vereinigung beider zu einer spekulativ.en Logik genau bestimmen könnte. 128 Trotz 131

dieser Wandlung der Bedeutung von Logik und Metaphysik hat Hegel es stets für möglich gehalten, das in Natur und Geist sich auslegende Absolute im Element des reinen Denkens auf den Begrjff zu bringen. Demnach muß es auch möglich sein, die Formen der Sittlichkeit bzw. des praktischen Geistes - und damit die Bewegung der Anerkennung - mit Begriffen dieses Denkens zu bestimmen. Da die Geistphilosophie zumindest seit 1803/ 1804 den spekulativen Standpunkt voraussetzt, können diese Begriffe nicht der Logik von 1804/1805 entnommen werden. Auch in der Metaphysik findet sich keine bestimmte Folge von Begriffen, die der vollständigen Bewegung der Anerkennung genau entsprechen würde. Sowohl die Metaphysik wie die Geistphilosophie selber enthalten aber kategoriale Bestimmungen der „Struktur" der Anerkennung.129 Welches sind die Bestimmungen der ersten Stufe der Anerkennungsbewegung? Im System der Sittlichkeit, in dem Hegel nur diese erste Stufe behandelt, ist der Begriff des Lebens maßgeblich für die Struktur der Aner'kennung.130 „Leben" ist die Einheit des „Verhältnisses" - einer Beziehung, in der den Bezogenen ihre Einheit bloß äußerlich, ihre Unterschiedenheit dagegen wesentlich ist - und der Indifferenz, des Aufgehobenseins der Unterschiede. Inwiefern ist nun die Beziehung der Anerkennung „Leben"? Nach Hegel ist „die Intelligenz ... oder das Leben des Menschen ... die Indifferenz aller Bestimmtheiten" (SdS 33 ). Indem die Individuen einander als lebendig anerkennen, schauen sie im Anderen die Unabhängigkeit von allen Bestimmtheiten bzw. die „Möglichkeit" an, „das Gegenteil seiner selbst in Bezug auf eine Bestimmtheit zu sein" (ebd.). In dieser Möglichkeit wissen sie sich als voneinander ununterschieden, durch keine Bestimmtheit getrennt. 132

Die indifferente Einheit Indifferenter ist aber nur eine Seite des Lebens, das Anerkennen als „formal lebendig" (32) bzw. das „verhältnislose Anerkennen" (33). Zum Begriff des Lebens gehört das Verhältnis oder die Beziehung Verschiedener als Verschiedener hinzu. Das zeigt sich im Anerkennen der Familie (bzw. ihrer Mitglieder), in dem die Beziehung der Verschiedenheit und der Indifferenz vereinigt sind. Die in ihrer Unterschiedenheit in der unterschiedlichen Fähigkeit, ihre Freiheit von den Bestimmtheiten zu realisieren 131 - einander ausschließenden Individuen erkennen sich in dieser Unterschiedenheit zugleich als Intelligenz, Indifferenz und insofern als identisch an. Leben ist also die Beziehung, in der die Bezogenen ihre Identität in ihrer Unterschiedenheit erkennen. Was Hegel allerdings im System der Sittlichkeit noch nicht zeigt, ist, daß die ausschließende Beziehung sich selbst in die Beziehung der Identität aufhebt. Hegel hat die Kategorie des Lebens in der Jenaer Logik und Metaphysik von 1804/ 1805 nicht zum Thema gemacht. Die Stelle, an der dies möglich gewesen wäre so ergibt sich aus einem vorblickenden Vergleich mit der Logik-Skizze der Realphilosophie - ist das Kapitel „Proportion". 132 Hier geht es nämlich um den Nachweis der Identität von Seins- und Denkverhältnissen. Hegel hätte also eine „objektive" Struktur entwickeln können, die den Charakter der Selbstunterscheidung und der Rückkehr aus den Unterschieden besessen hätte. Offenbar v;ar dies im Kapitel „Leben und Erkennen" der späteren Logik geplant. Im „Proportions"-Kapitel bleibt Hegel aber bei Denkverhältnissen wie Definition und Einteilung, obgleich er ihre objektiven Korrelate bei der Definition der Selbsterhaltung, bei der Einteilung die „ Vervielfältigung" - mehrfach erwähnt. Immerhin kann man in der Definition und in der Eintei133

lung Momente des Lebensbegriffes sehen - und mit diesen Kategorien daher auch Momente der Anerkennungsbewegung fassen. In der Definition soll die Bestimmtheit sich als identisch mit dem .Allgemeinen erweisen, indem sie sich ausschließend bzw. „ vernichtend" (VII, 108) auf Anderes bezieht. Aber zu einer solchen Identität kommt es noch nicht, weil die negative Beziehung auf Anderes und die positive des Selbstbezugs noch getrennt bleiben. Umgekehrt ist zwar in der „Einteilung" das Allgemeine in seinen Bestimmtheiten mit sich selbst gleich, aber nur als diskursive Allgemeinheit bzw. als „außer dem Vielen fallend" (111). Den Strukturen der Anerkennung, die Hegel zu Anfang und dann wieder zu Ende der Jenaer Zeit (Logikskizze der Realphilosophie und Phänomenologie) mit dem Begriff des Lebens gekennzeichnet hatte, kommt die „Logik, Metaphysik und Naturphilosophie" dagegen mit einigen Kategorien aus dem Metaphysikteil näher. Auch dort finden sich freilich keine genau dem „Bewegungsablauf" und den Stufen der Anerkennung entsprechenden Bestimmungen. Die Theorie der Anerkennung beruht seit dem Systementwurf von 1803/1804 auf dem Begriff des Bewußtseins. „Bewußtsein" wird zwar in der „Metaphysik der Subjektivität" zum Thema, aber auf einer Stufe, auf der das Verhältnis einzelner Individuen („viele einzelne Ich") bereits überwunden ist, denn dieses Verhältnis „hebt sich in der realisirten Gattung auf" (164). Der „Gattungsprozeß", der in der Tat Strukturen der Anerkennung „erster Stufe" enthält, wird in der „Metaphysik der Objektivität" behandelt. Hier finden wir die Weiterentwicklung des Begriffs des Lebens aus dem System der Sittlichkeit. Daß Hegel sich gerade in diesem Teil der Metaphysik, und zwar in dem Kapitel über die „ Welt" - also in einer Auseinander134

setzung mit der metaphysischen Kosmologie - , mit Strukturen der Anerkennung beschäftigt, liegt daran, daß hier im Element einer grundsätzlichen Identität von Subjektivität und Objektivität133 das Verhältnis selbständiger Individualitäten und ihre Selbstaufhebung behandelt wird. Dabei geht es nicht bloß, wie in der Logik - vor allem im „Verhältnis des Seins " - um die Negation der Selbständigkeit durch die Beziehung auf anderes, also eine Abhängigkeit von diesem, sondern um die durch eigene „ Tätigkeit" ausgelöste Aufhebung der Einzelheit. In Anknüpfung an Leibniz134 bezeichnet Hegel diese Einzelheit als „Monade" und die „Welt" als ein Ganzes von Monaden, deren Zusamme~hang als „Prozeß der Gattung" bestimmt wird (146 ). Das „Punkt"- bzw. Eins-Sein der Monade ist konstituiert durch die aktive Unterscheidung von anderen Monaden, die Hegel als „Selbsterhaltung" bestimmt. Selbsterhaltung - ein Terminus, der bereits in der Logik der Proportion eingeführt wurde - bedeutet Selbst„Definition "135 durch die Negation, das „Vernichten" des Anderen. Daß sich diese Negation des Anderen aufhebt in die Identität mit ihm, macht den Prozeß der Gattung aus. Um dies zu erläutern, ohne den gesamten Inhalt der Logik und Metaphysik zusammenzufassen, sei hier die Differenz zum Begriff des Lebens aus dem System der Sittlichkeit - und zugleich die Weiterentwicklung dieses Begriffs - gekennzeichnet: die Individualität bzw. die Monade ist jetzt in sich selbst zugleich unterschieden und indifferent, ausschließender Selbstbezug („ Tätigkeit") und Totalität aufgehobener Bestimmungen („Passivität"). Wenn die Individualität aber den Unterschied in sich selbst hat, ihr Selbstbezug mithin bereits Beziehung auf ein Anderssein ist, dann ist umgekehrt ihr Verhältnis zum Anderen eine Bezie135

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hung auf ein Identisches bzw. auf sich selbst. Die Negation des Anderen ist darum unmittelbar Selbstnegation, das „Vernichten des Anderen" bedeutet die Aufhebung der Unterschiedenheit von ihm. Sie erfolgt in mehreren Schritten. Der erste ist die Selbstanschauung im Anderen: „Das andere an sich ist nicht die Negation seiner selbst, sondern es erkennt in dem andern sich selbst." (146) Dadurch wird das „Erkennen" zum „Anerkennen" (ebd.). Die Aufhebung der Differenz zum Anderen bedeutet aber - das ist der zweite Schritt - zugleich die Aufhebung der „Monaden" als solcher in die Einheit der Gattung. Von dieser aus gewinnt der ganze Prozeß eine neue Bedeutung: die Selbsterhaltung der Einzelheit ist nicht nur gegen den Anderen, sondern auch gegen die Indifferenz der Gattung gerichtet. In dieser Hinsicht behält die „distanzierende" Bewegung gegen den Anderen ihre Notwendigkeit. In ihr konstituiert sich nicht nur die Individualität als solche, sondern in ihr - und ihrer Selbstaufhebung - „lebt" auch erst die Gattung. Denn die Gattung ist „nur als dieser Kraislauff ihrer sich abscheidenden und sich auflösenden Momente" (147). Daß die Vereinzelung der Gattung in die Momente der „existierenden" Einzelheit (vgl. ebd.) und die Auflösung der Einzelheit in die Einheit mit dem Anderen selbst die Gattung ist, erkennt aber auf der Stufe des „Weltprozesses" das einzelne „Moment" noch nicht. Es erkennt sich zwar selbst im Anderen und weiß die Differenz zu ihm aufgehoben, aber seine Identität mit der Gattung und ihrem Sich-Vereinzeln ist noch nicht „für es". 136 Für es ~t die Gattung noch ein Fremdes, Ansichseiendes. Die Einheit von Einzelheit und Gattung als Ergebnis der Selbstreflexion des Bewußtseins behandelt erst die Metaphysik der Subjektivität. In der Phänomenologie des Geistes hat Hegel die unmit136

telbare „Erscheinung" des Selbstbewußtseins, die die erste Stufe der Anerkennung enthält, wieder durch den Begriff des Lebens bestimmt, in diesen Begriff aber alle Wesensmerkmale des „Gattungsprozesses" der Metaphysik von 1804/ 1805 aufgenommen. Insofern Leben jetzt nicht eine tiefere Stufe als „Bewußtsein" darstellt, sondern zur Bestimmung von Gestalten des Selbstbewußtseins dient, muß es seinerseits über den Gattungsprozeß hinausgehen. 137 In welcher Beziehung? Wir haben die Struktur des Anerkennens „erster Stufe", wie sie die Phänomenologie expliziert, schon erörtert. Sie wurde als eine „Verdoppelung" des Selbstbewußtseins bestimmt. Das bedeutet nicht nur, daß sich eine Totalität in Momente auseinanderlegt, die sowohl unterschieden wie nicht-unterschieden sind - dies geschah auch schon im Gattungsprozeß. Weil beide Momente als Selbstbewußtsein bestimmt sind, ist vielmehr ihre Beziehung aufeinander selber „doppelsinnig". Erst damit bringt Hegel seine Theorie der Anerkennung als eines Verhältnisses selbstbewußter Individuen auf den Begriff: zwei Selbstbewußtseine verhalten sich zueinander nie wie Dinge, die aufeinander einwirken, auch nicht wie Kräfte, die in Wechselwirkung stehen. Das Wechselverhältnis zweier Selbstbewußtseine geht darüber hinaus : für jeden ist der Andere ein Moment seiner Selbstbeziehung. Beide sind nicht nur abhängig von der Bezie. hung des einen auf das andere, sondern von der Selbstbeziehung, dem Selbstverständnis des anderen. Keines kann sich verändern, ohne daß sich das andere, insofern es mit ihm in Beziehung steht, mitverändert. Der Freund etwa wird durch die Veränderung des Freundes selbst ein anderer. Das Verhältnis ist daher nicht bloß W echselwirkung, sondern „Doppelsinn". Anerkennung als doppelsinniges Tun zweier Selbst137

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bewußtseine ist eine Relation, in der die Relata sich durch die Beziehung auf den Anderen auf sich selbst, und durch die Beziehung auf sich selbst sich auf den Anderen beziehen. Und diese Beziehung auf sich selbst bzw. auf den Anderen ist ermöglicht durch die entsprechende Beziehung des Anderen. Dazu gilt, was schon im Gattungsprozeß zum Ausdruck kam, daß jedes der beiden Bezogenen selbst die ganze Beziehung in sich enthält, sich auf sich selbst als auf sein Anderes bezieht. Wir haben diese Struktur oben schon im Kampf um Anerkennung gesehen. In diesem Kampf ist die Anschauung der eigenen Selbstnegation im Anderen vermittelt dadurch, daß beide sich gegenseitig negieren und jeder das Negiertwerden durch den Anderen in die eigene Selbstnegation verwandelt. Die genaue spekulative Bestimmung solcher Strukturen hat Hegel später in der Logik des „ Wesens" unternommen. 138 Obwohl der Streit um die Logik der Phänomenologie 139 auf diese Weise nicht entschieden werden kann, wird man sagen müssen, daß die dem Selbstbewußtseinskapitel entsprechenden Bestimmungen das „Niveau" der Wesenslogik voraussetzen. Bevor ich zur zweiten Stufe der Anerkennung - und der Frage nach den ihr entsprechenden „Kategorien" - übergehe, muß noch eine logische Struktur erwähnt werden, die in der Realphilosophie zentrale Bedeutung für den Begriff des Selbstbewußtseins und damit auch für die Bewegung der Anerkennung erhält: der Schluß. Man kann diese Struktur allerd ings keiner besonderen Stufe der Anerkennung zuordnen, da Hegel alle Formen des Selbstbewußtseins und des Geistes - sowie ihren Zusammenhang untereinander - als Schlüsse auffaßt. Zudem hat er nicht klar gemacht, welche Form des Schlusses der Bewegung des Selbstbewußtseins und des Anerkennens am nächsten kommt. Man kann also nur zwischen der

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„spekulativen Bedeutung" 140 des Schlusses im allgemeinen und der Struktur der Anerkennung - ebenfalls „im allgemeinen" - eine Entsprechung sehen. Ich werde diese Entsprechung später noch genauer im Zusammenhang mit der Jenaer Theorie des Bew ußtseins bzw. Selbstbewußtseins erörtern (u. S. 188). Deshalb seien hier nur die Grundzüge angedeutet: beide Bewegungen sind die Genese einer - artikulierten bzw . bewußten - Einheit durch Trennung und „Gleichsetzung" der Getrennten. D iese Gleichsetzung ist möglich, weil sich erweist, daß jedes der Extreme sich nur über den Bezug auf das andere auf sich selbst beziehen, seine „Identität" gewinnen kann. Und weil jedes daher sowohl „im Anderen" ist wie das Andere „in sich selbst" hat. Die Beziehung des Schlusses - in „spekulativer Bedeutung", d. h. als die Wahrheit, den immanenten „Sinn" aller Schlußformen betrachtet - ist wie die der Anerkennung eine solche, deren Momente selber die ganze Beziehung bzw. der „ganze Schluß" sind. Jede Stufe der Anerkennung besteht darin, d aß jeder der Anerkennenden seine Distanz und seine Vereinigung mit dem Anderen in sich selbst und im Anderen anschaut und diese Beziehung zweier sich als solche Anschauender macht auf der nächsten Stufe ihr „Sein" bzw. ihre Identität, ihre Selbstbeziehung aus. Was zu dieser Struktur noch hinzukommen müßte, damit die höheren Stufen der Anerkennung angemessen bestimmbar würden, ist oben (S. 136) schon angedeutet worden: es müßte das Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit des Lebens bzw. der Gattung selbst als ein Verhältnis Selbstbewußter bestimmt werden. Das SichAbsondern, die ausschließende Selbstbehauptung des Einzelnen gegen die indifferente Allgemeinheit, und die Selbstaufhebung dieser Negation müßte als „doppel-

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sinnig", d. h. als identisch mit dem Sich-Vereinzeln der Gattung dargestellt werden. Hegel hat das in der Metaphysik aber nicht ausgeführt. Vielmehr hat er in der Metaphysik der Subjektivität die Problematik der Fichteschen Transzendentalphilosophie aufgenommen und die Aufhebung ihrer Gegensätze als die höhere Stufe der Entwicklung der Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit, Bestimmtheit und Unendlichkeit dargestellt. Diese Momente gehören dem transzendentalen Ich bzw. dem Ich überhaupt an - die Einzelheit z. B. ist als negative, ausschließende Beziehung hier die Bestimmtheit , die das Wesen des theoretischen Bewußtseins charakterisiert. Sie als „einzelnes Ich" zu verstehen, wäre ein Rückfall auf die überwundene Stufe des „W eltprocesses" (vgl. 164). Dennoch entspricht das Begreifen der Einheit von „absoluter Reflexion" und „Bestimmtheit" im Ich dem Begreifen der Einheit der beiden „Reflexionen" des Gattungsprozesses: einerseits der „sich selbst erhaltenden, die aber allgemein geworden ist" und andererseits derjenigen der Gattung, die eine sich vereinzelnde Allgemeinheit ist (172). Hätte Hegel noch einmal den Gattungsprozeß als ein Verhältnis von Subjekten dargestellt, statt die Subjektivität als höhere Form des Gattungsprozesses, dann wären hier die Strukturen der höheren Stufen des Anerkennungsprozesses behandelt worden. Denn die „Selbsterhaltung" - so hatte Hegel ja im „Weltproceß" gezeigt - ist Negation der Gattung, die in Selbstnegation der Einzelheit umschlägt : ein Prozeß, der - auf der Stufe der Subjektivität - offenbar der „Auseinandersetzung" zwischen einzelnem Selbst und allgemeinem Willen entspricht. In der Metaphysik wie in der Geistphilosophie geht es darum, daß die Einzelheit „zur absoluten erhoben" (164) und in dieser Erhebung ihr Gegensatz gegen die Allgemeinheit aufge140

hoben wird. Dies geschieht in der Metaphysik aber nicht als eine Folge von Bildungsstufen des einzelnen Selbst, sondern als eine „Bedeutungsentwicklung" des Begriffs Einzelheit in den metaphysischen Konzeptionen des Absoluten. Die „Metaphysik der Subjektivität" entwickelt das in zwei „gegenläufigen" Bewegungen: zunächst wird die Einzelheit als Bestimmtheit zur selbstbestimmenden Reflexion, die sich in ihren Bestimmungen „ bei sich" bzw. allgemein weiß. Dann wird - im Schlußabschnitt über den „absoluten Geist" - die absolute Einzelheit als einfache Sichselbstgleichheit zur Einheit mit ihrem Gegensatz, der Allgemeinheit sich aufhebender Bestimmtheiten gebracht. Was ist das Ergebnis dieser „metaphysischen" Erörterung? Läßt sich aus den Elementen einer „spekulativen" Besti_mmung des Anerkennungsprozesses und seiner Stufen etwas für unsere Thesen ableiten? Ist das Problem der Anerkennung des einzelnen Selbst im Gemeinwesen, durch das allgemeine Selbst und seine Institutionen, vom Gedanken der spekulativen Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit her zu lösen? Die ausgeführte Logik und Metaphysik von 1804/ 1805 enthält noch keine spekulative Logik des Begriffs. Die Behandlung des „bestimmten Begriffs" sowie der Urteils- und Schlußformen gehört, wie gesagt, in diesem Text noch der einleitenden Kritik des Verstandesdenkens an. In der Schlußlehre wird zwar die „Mitte" bereits als Einheit der Extreme von Allgemeinheit und Einzelheit aufgefaßt, aber es wird nur negativ gezeigt, daß die Voraussetzung der traditionellen Schlußformen, der feste Unterschied zwischen den Extremen und ihre Beziehung über die „scheidende Mitte" (VII, 102) unhaltbar ist. 141 Die wahre, Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit enthaltende Mitte findet sich aber in die141

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ser Schlußlehre nicht. Klaus Düsing (1976, 178 f.) hat mit Recht hervorgehoben, daß erst in der metaphysischen Subjektivitätslehre der Versuch zur Bestimmung dieser Einheit unternommen wird. Daß Hegel in dieser Metaphysik der Subjektivität die Schwierigkeiten der transzendental-idealistischen Subjektivitätstheorie lösen will, habe ich schon erwähnt. Auf diesem Hintergrund ist auch die Konzeption der Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit im „absoluten Geist" zu sehen. Der Begriff der „absoluten Einzelheit" meint hier nicht den einer einmaligen individuellen Bestimmtheit. „Absolute oder reine Einzelnheit", so heißt es in der „Metaphysik der Subjektivität", ist keine „äußerliche oder quantitative Bestimmtheit", sondern ein „einfaches, sichselbstgleiches" (170). Das dieser absoluten Einzelheit qua einfacher Selbstbezug bzw. Sichselbstgleichheit entsprechende „Allgemeine" ist in diesem Text die Unendlichkeit bzw. „,-absolurHJngfetffifreit" (ebd. u. 173). Unendli9-ikeit und absolute Ungleichheit sind dasselbe, weil letztere „Gegenteil ihrer selbst" ist (vgl. ebd.). Was aber Gegenteil seiner selbst ist, hat kein Anderes außer sich. Einzelheit und Allgemeinheit sind nun insofern eins, als ein sich negativ auf sich beziehendes Negatives (Anderes, Ungleiches) mit sich selber gleich ist. Mit diesem Gedanken des „Gegenteils seiner selbst", der für die Bewußtseins- und Geistphilosophie seit der Mitte der Jenaer Zeit zentral ist (s. u. Kap. III), versucht Hegel d!e-S""diwierigkeiten der Transzendentalphilosophie Fichtes und Schellings zu lösen. Fichtes Grundproblem sieht er darin, daß das Ich sich niemals ganz durchsichtig werden kann, weil es sich immer nur als „bestimmt", mit einer Differenz behaftet „findet". Selbst wenn diese aus ihm selber stammt, bedeutet sie ein „sich fremdseyn" (172). Schelling führt diese Differenz im Ich auf die not142

wendige Vergegenständlichung zurück, der die ungegenständliche reine Selbsttätigkeit in der Selbstanschauung unterliegt. Die Lösung dieser Schwierigkeiten liegt für Hegel darin, daß man den reinen Selbstbezug als „Gegenteil seiner selbst" auffaßt, und damit notwendig als ein Sich-Bestimmen, Sich-Vergegenständlichen. Daß man aber auch jede Bestimmung als absolut different, also ebenfalls als Gegenteil seiner selbst auffaßt, die erst sie selbst wird, indem sie über sich hinaus in ihr Gegenteil geht. (Den Nachweis der Notwendigkeit dieser „Auffassung" hat die Logik erbracht.) Dann ist das Sichselbstgleichsein notwendig Sich-Bestimmen, und das Bestimmtsein ist kein Verlieren der Sichselbstgleichheit, denn in der Selbstüberschreitung der Bestimmtheit - in der diese erst „sie selbst" wird - findet sich die Sichselbstgleichheit wieder. Man könnte dies für das individuelle menschliche Subjekt so illustrieren: es ist dann ein wirkliches „Selbst", wenn es in seine Bestimmtheiten zugleich „ versenkt" und doch frei, über jede einzelne hinaus ist. Mehr noch: wenn es sich auf die eigene Existenz zugleich „einläßt" und darüber hinaus ist. Ergibt sich daraus etwas für unser Problem, die wechselseitige Anerkennung von einzelnem und allgemeinem Selbst? Zunächst einmal darf natürlich das Moment der Einzelheit des Geistes nicht mit dem einzelnen Selbst und das der Allgemeinheit mit dem allgemeinen bzw. mit dem Volksgeist identifiziert werden. Da beide Momente solche der Subjektivität sind, kommen sie auch beide den beiden Formen des „Selbst" zu. Außerdem muß man berücksichtigen, daß ihre vollkommene Einheit nach dem Text der „Metaphysik" erst im absoluten Geist erreicht ist. Dennoch läßt sich der Gedanke der Untrennbarkeit von Sich-Bestimmen und Selbstaufhebung des Bestimmten auf das Verhältnis der beiden For143

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men des Selbst anwenden. Es bedeutet zumindest soviel: das einzelne Selbst verliert sich nicht, sondern findet sich erst, wenn es die allgemeinen Sitten, Gesetze, Ziele sich zu eigen macht - selbst auf Kosten des eigenen Lebens. Und umgekehrt: die auf der Selbstranszendenz des Einzelnen beruhende Allgemeinheit des Wollens und Denkens eines Volkes verliert sich nicht, wenn sie das „Insichsein", das Gewissen des Einzelnen toleriert, sogar abweichende Handlungen „ vergibt", solange sie nicht mit dem Anspruch, „Gesetz" zu sein, auftreten. Es besagt ferner, daß das „Leben" des allgemeinen Geistes nichts anderes ist als das Sich-Distanzieren ( = Bestimmen) und Sich-Transzendieren ( = Selbstaufhebung der ausschließenden Bestimmtheit) der Einzelnen und ihrer besonderen Vereinigungen (Stände). Das Problem der HegeLsehen·-Anerk-eFHUl!lgslehre aber bleibt das folgende: Die Einzelheit des Volksgeistes ist dessen eigenes „Insichsein", nicht bloß das der in ihm lebenden Einzelnen. Es ist die selbstgewisse „Spitze" des Staates, die Regierung und der Monarch, und es ist das Sich-Wissen des Volksgeistes im absoluten Geist. Dieses Insichsein, diese Selbständigkeit des Staates den Ei~zel­ ne'n un_51 Gruppen ~eniil>~r. is_t seinerseits das „Woraufhin" des Sich-Transzendierens der Einzelnen. Wenn-der Volksgeist so über die Einzelnen in sich selbst zurückkehrt, dann sind diese aber wiederum nicht eigentlich in ein selbständiges Anderssein freigegeben. Die Selbständigkeit von Momenten eines Ganzen kann niemals im selben Sinne „freigegeben" werden wie die Selbständigkeit eines - zumindest in seiner Spitze von aller Partikularität der Momente freien - Ganzen. Hätte Hegel nicht - in Übereinstimmung mit seiner spekulativen Subjektivitätstheorie - als das Woraufhin des Sich-Transzendierens der Einzelnen die jeweils bestimm144

ten Anderen im Sinne der „ersten Stufe" der Anerkennung bestimmen können? Dann freilich hätte diese Stufe nicht bloß Vorstufe auf dem Weg zum Telos der Anerkennung sein dürfen, sondern zugleich Zweck des Anerkennungsverhältnisses zwischen Individuum und Volksgeist. Hegel hat dies, vor allem später in der Rechtsphilosophie, durch die Freigabe von „Sphären" zu denken versucht: Familie und Rechtsgemeinschaft als Medien wechselseitiger Anerkennung müssen in ihrem Eigenen gesichert werden. Aber was die besonderen Willen in diesen Sphären zu vernünftigen macht, ist in Wahrheit nicht der Wille zur wechselseitigen Anerkennung, sondern die unbewußte Anerkennung des in diesen Sphären • bereits wirksamen, im Staat zu sich selbst kommenden „Allgemeinen". (Vgl. u. Kap. V, 2.) Der Gedanke, daß die Einzelnen und Gruppen sich nicht um des selbständigen Ganzen willen transzendieren, sondern um willen des Staates als Bedingung der Möglichkeit ihrer besonderen Anerkennungsverhältnisse, hat in Hegels praktischer Philosophie keinen Platz - obgleich seine logisch-metaphysischen Bestimmungen ihn zugelassen hätten. Ob er von diesen gar gefordert wird oder besser zu ihnen „ paßt", kann indessen hier nicht entschieden werden. Dazu wäre eine grundsätzliche Klärung der „Entsprechung" zwischen Logik und Realphilosophie notwendig, zu der es in der Hegel-Literatur bis heute nur Ansätze gibt. 142 Statt dessen beschäftigen sich die folgenden Kapitel mit der Frage nach der Bedeutung der Anerkennung als eines „Prinzips" der praktischen Philosophie - eines Prinzips, das selber die immanente Struktur des Prinzipiierten ist.

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II. Die Erneuerung der praktischen Philosophie in Hegels Jenaer Schriften

Im folgenden Kapitel geht es um den Nachweis, daß Hegel in der Jenaer Zeit die praktische Philosophie erneuert, indem er im Anschluß an deren aristotelische Systematik - der Einheit von Ethik, Okonomie und Politik - ein System aller Formen des „Praktischen und Sittlichen" (SdS 56) entwirf!:. In diesem System soll das Prinzip der praktischen Philosophie Kants und Fichtes, die Freiheit der reinen praktischen Vernunft, aufgehoben sein. Den ersten Versuchen der Jenaer Zeit, ein solches System auszuführen, gelingt die Lösung dieser Aufgabe noch nicht, weil Hegel nicht über ein Prinzip verfügt, das die Freiheit des Selbst mit den Institutionen des gemeinsamen Handelns notwendig verbindet. Diese Funktion erfüllt seit Mitte der Jenaer Zeit das Prinzip der Anerkennung. Nun hat Hegel sich nicht erst in Jena mit Fragen der praktischen Philosophie beschäftigt. Solche Fragen stehen vielmehr im Mittelpunkt fast aller seiner „Jugendschriften" aus der Tübinger, Berner und Frankfurter Zeit. „Spekulationen, die nur für die theoretische Vernunft von mehrerer Bedeutung sind", interessieren ihn, wie er 1795 an Schelling schreibt, „nur wenig" (B I, 23 ). Was ihn in dieser Zeit beschäftigt, sind die Auswirkungen von Kants Philosophie der Autonomie auf Religion und Politik. Bei der „Anwendung" der Kantischen Philosophie der praktischen Vernunfl: sieht sich Hegel aber bald gezwungen, über deren Grundlagen hinauszuge146

hen. Zu diesem Zweck erarbeitet er in Frankfurt eine Kritik der Kantischen Moralphilosophie. Dennoch gelingt es ihm bis zum Ende der Frankfurter Zeit nicht, der praktischen Philosophie Kants einen eigenen systematischen Ansatz gegenüberzustellen - und damit Kants „ Destruktion" der klassischen praktischen Philosophie aufzuheben. 143 Hegel vermag es in dieser Zeit nicht, die Kluft zwischen Ethik und Gesellschafl:skritik durch eine Theorie der Institutionen zu überwinden. Genau dies ist aber, wie wir in der Einleitung zu zeigen versuchten, auch der Mangel der einflußreichen gegenwärtigen Versuche einer Erneuerung der praktischen Philosophie. Es ist also nicht nur ein „entwicklungsgeschichtliches" Interesse, was uns veranlaßt, unsere These über Hegels praktische Philosophie vor Jena im folgenden Abschnitt kurz zu erläutern.

1. Praktische Philhosophie beim jungen Hegel

Für den jungen Hegel sind nicht nur Spekulationen auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft uninteressant auch in der praktischen Philosophie besteht für ihn nicht die Notwendigkeit eines systematischen Neuansatzes. Es genügt vielmehr, Kants Philosophie zu vollenden und - vor allem in der Religionskritik - anzuwenden: vom „Kantischen System und dessen höchster Vollendung" erwartet Hegel „eine Revolution in Deutschland" (BI, 23). Damit ist nicht nur eine Umwälzung der „Denkungsart" hinsichtlich sittlicher Maximen gemeint - was „Revolution" in der Kantischen Religionsschrifl: noch bedeutet hatte.144 Hegel sieht das Wesentliche der Kantischen Philosophie darin, daß sie gelehrt hat, „die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermö147

gen der Freiheit anzuerkennen". Damit aber muß sie die Legitimationsbasis der bestehenden politischen Verhältnisse zerstören: „Die Philosophen beweisen diese Würde, die Völker werden sie fühlen lernen und ihre in den Staub erniedrigten Rechte nicht (sc. nur) fordern, sondern selbst wieder annehmen, - sich aneignen." (I, 24) Daß von einer Philosophie der moralischen Autonomie eine solche Wirkung ausgehen müsse, war eine Überzeugung, die Hegel seit der Tübinger Zeit mit Hölderlin und Schelling teilte. Der Grund für diese Überzeugung und für den anfänglichen Verzicht auf eine Analyse der institutionellen Voraussetzungen der Verwirklichung der Freiheit war die Auffassung, durch die neue Moralphilosophie müsse sich vor allem die Religion ändern - mit deren Anderung aber sei die politische Umwälzung notwendig verbunden: „Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgendeinem Guten, durch sich selbst etwas zu sein." (ebd., vgl. N 67, 207.) Hegel sieht daher als seine eigene wichtigste Aufgabe die Kritik der Religion. Die aus der Ethik abgeleitete Religionskritik ist unmittelbar Gesellschaftskritik. Darum besteht für Hegel kein Anlaß, über Kants Verständnis von praktischer Philosophie hinauszugehen. Die Ausführung seines Programms zwang Hegel gleichwohl zu einem solchen Schritt über Kant hinaus. Und zwar vor allem in folgenden drei Punkten: 1) Der Begriff der Religion bedeutet für Hegel anders als für Kant ein Ganzes aus Sitten, Zeremonien, Mythen etc., der sich nicht bloß als Bedingung, Verstärkung oder Konkretisierung von Moralität verstehen läßt. Damit stellt sich das Problem des Verhältnisses von Moralität und - mit dem Begriff des späteren Hegel gesprochen 148

Sittlichkeit. 2) Der „Despotismus" beruht nicht nur auf der „moralischen" Verachtung und Selbstverachtung des Menschen, sondern auch auf dem Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft - entweder in Gestalt der Herrschaft des Eigennutzes über den Gemeinsinn, oder umgekehrt in der des Gesetzes über den Einzelnen. Beides ist in Kants Sittengesetz nicht ausgeschlossen, sondern - wie Hegel in Frankfurt zu sehen glaubt sogar theoretisch begründet. Will man den Gegensatz überwinden, darf man weder von der Moralität des Individuums noch von der Herrschaft eines - und sei es moralischen - Gesetzes ausgehen, sondern muß den Prozeß der Vereinigung des Individuums mit dem Anderen, der Natur, dem Schicksal, _z ur Grundlage der „Gesellschaftskritik" machen. 3) Die Mittel seiner Religionskritik - die auch die Mittel der „aufgeklärten" Verteidiger der orthodoxen Theologie sind 145, die historische Analyse des Textes der Bibel und seiner Entstehungszeit - führen Hegel auf die Frage nach den Ursachen des Verfalls des „positiven Kerns" der christlichen Religion, welcher einhergeht mit dem Verfall der politischen Institutionen der Antike. Damit wird die Analyse der Institutionen und ihrer historischen Wandlungen zur Voraussetzung sowohl des Verständnisses wie der Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft. Und es zeigt sich die Bedeutung dieser Institutionen für die Verwirklichung der Freiheit. Diese drei Punkte zwingen Hegel, über Kants Philosophie der praktischen Vernunft hinauszugehen. Gegen Ende der Frankfurter Zeit hat Hegel eingesehen, daß er seine praktische Philosophie auf ein neues Fundament stellen müsse. Doch bevor wir darauf eingehen, sollen die drei genannten Punkte noch etwas verdeutlicht werden. 149

1) So sehr Hegels frühe Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Moralität der Moraltheologie Kants und des frühen Fichte verpflichtet ist - mit seinem Begriff der „ Volksreligion" schlägt er schon seit der Tübinger Zeit eine von Kant abweichende Richtung ,ein. Zwar will Hegel mit Kant die Religion der Moralität unterordnen und die postulierten Ideen Gottes und der Unsterblichkeit nur als „ Verstärkung" der Achtung vor dem Sittengesetz akzeptieren. 146 Verstärkung von Moralität und „ Tugend" kann die Religion aber nur dann sein, wenn sie „Volksreligion" ist: „Volksreligion unterscheidet sich von Privatreligion dadurch, daß der Zweck jener, indem sie mächtig auf Einbildungskraft und Herz wirkt, der Seele überhaupt die Kraft und den Enthusiasmus - den Geist einhaucht, der zur großen erhabenen Tugend unentbehrlich ist." (N 19) Dazu aber muß sie den Bürger „freundlich überall hinbegleiten bei seinen Geschäften und ernstem Angelegenheiten des Lebens wie bei seinen Festen und Freuden ihm zur Seite stehen" (N 26). Daß Religion für Hegel das „Herz" und die „Einbildungskraft" bestimmen muß, und daß sie daher als ein das Leben einer Gemeinschaft bestimmendes Ganzes von Vorstellungen und Gebräuchen - gleichsam eine gemeinsame „Lebensform" - in Erscheinung treten muß, bedeutet nicht, daß sie nur als Vorbereitung einer der Sinnlichkeit verfallenen Menschheit auf die Moralität anzusehen ist, wie in Fichtes Kritik der Offenbarungsreligion. 147 Es gehört vielmehr zum Wesen der Religion als Volksreligion und ist zugleich Voraussetzung eines freien Gemeinwesens. Ein solches Gemeinwesen, für das die griechische Polis vorbildlich ist, 148 soll zwar die Tugend - sowohl im Sinne der staatsbürgerlichen Tugend des selbstlosen „Enthusiasmus" für das Ganze wie im rein moralischen Sinne 150

seiner Bürger ermöglichen. Aber die Lebensform der Religion eines Volkes macht sich nicht mit der Hervorbringung der Moralität selbst überflüssig. 149 Noch bevor Hegel in Frankfurt die Religion, als Erhebung des Menschen über seine endliche Subjektivität, der Moralität eindeutig überordnete, hatte er ihr im Begriff der Volksreligion schon eine der moralischen Vollkommenheit des Individuums gegenüber selbständige Bedeutung eingeräumt. Die Absolutsetzung der moralischen Freiheit des E inzelnen war damit überschritten und eine Vorform der den Einzelnen als „Moment" in sich aufhebenden „Sittlichkeit" konzipiert. 2) Daß die Absolutsetzung der Moralität im kantischen Sinne im Gegensatz zur Freiheit steht und ihre gedanklichen Grundlagen mit denjenigen der zu kritisierenden gegenwärtigen Gesellschaft übereinstimmen, hat Hegel allerdings erst in Frankfurt gesehen. Die Einflüsse, die durch die Vermittlung Hölderlins dort auf ihn gewirkt haben, sind neuerdings untersucht worden.150 Jedenfalls sieht Hegel nun die Gemeinsamkeit der kantisch-fichteschen Moralphilosophie, des jüdischen Gesetzesdenkens und seiner Wirkung auf das Christentum, und der Herrschaftsmomente der aus dem V erfallsprozeß dieses Christentums hervorgegangenen modernen Gesellschaft darin, daß sie die Moralität von der N atur, die Allgemeinheit des Gesetzes von der Einzelheit der Neigungen und die „autonomen" Individuen151 voneinander und von der Gemeinschaft getrennt haben. Die Vereinigung kann nicht im Versuch der Anpassung der Sinnlichkeit an die Allgemeinheit des reinen Willens bestehen, denn „Gesetz" und einzelne Tat sind prinzipiell „inkommensurabel": Vereinigung setzt Gleichheit voraus (vgl. N 377), Vereinigung zwischen Allgemeinem und Einzelnem, Gesetz und Tat, kann nur zur 151

Herrschaft des emen über das andere führen. Freie Vereinigung ist daher das Bewußtsein einer ursprünglichen Gleichheit. Solche freie Vereinigung des Menschen mit dem Anderen, mit der Natur und mit dem Unendlichen geschieht in der Liebe und in der Religion - der Religion der Schönheit und der ekstatischen Selbstüberwindung (vgl. Henrich 1971, 69ff.). Damit macht Hegel zum ersten Male Prozesse der Vereinigung zwischen den Individuen und zwischen Individuum und Gemeinschaft zur Grundlage seiner Freiheitslehre. Genau dieser Gedanke, den Ausgangspunkt der praktischen Philosophie nicht ins autonome Individuum, sondern in den Prozeß seiner Vereinigung mit Anderen zu setzen, wird in Hegels Jenaer Schriften zum Prinzip einer systematischen Erneuerung der praktischen Philosophie. Weil er „Freiheit" und „ Vereinigung" zusammendenken will, kann Hegel schon am Ende der Frankfurter Zeit weder Kants Trennung von Sittlichkeit und Natur noch diejenige zwischen dem absoluten Prinzip der Moralität und der „Kußerlichkeit" ihrer empirischen Anwendungsbedingungen in einer Gemeinschaft - d. h. die Trennung von Ethik und Politik - akzeptieren.1s2 3) Hegels Untersuchungen der Umwandlung des Christentums in eine positive Religion, die den „Despotismus" legitimiert, führt aber zu dem Ergebnis, daß solche Vereinigung des Menschen mit bzw. in einer Gemeinschaft nur unter bestimmten institutionellen Bedingungen möglich ist. Wo diese nicht gegeben sind, da ist die „Vereinigung mit der Zeit unedel und niederträchtig", der Verzicht auf sie und das Streben, die Unendlichkeit in sich selbst zu finden, dagegen das „würdigste und edelste" (N 351). Das Vorhandensein der institutionellen Bedingungen von Freiheit und Moralität ist 152

aber nicht bloß eine Frage ihrer vernünftigen Herstellung nach Klugheitsregeln; Institutionen sind vielmehr einem Wandlungsprozeß des „Geistes" von Völkern und Epochen unterworfen. Dieser Geist ist, wie Hegel sowohl aus Gibbons Geschichtsphilosophie wie aus Steuarts ökonomischer Theorie entnehmen konnte, dem einzelnen Wollen gegenüber selbständig. Erkennbar ist er gerade in den Institutionen und ihren Wandlungsprozessen. Dem Einzelnen gegenüber besitzt dieser Prozeß der Wandlung von Institutionen die Unabänderlichkeit des „Schicksals". So sagt Hegel von der Institution des Eigentums, daß dessen „Schicksal uns zu mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns uns denkbar wäre" (N 273). Auf der anderen Seite sind die Institutionen nicht unabhängig von den gemeinsamen „Meinungen", „Hoffnungen" und „Bedürfnissen" der mit ihnen lebenden Menschen. Institutionen, die nicht von einem Minimum an gemeinsamer Zustimmung getragen sind, in denen sich das Selbstverständnis der Menschen nicht mehr wiedererkennt, sind „ unhaltbar", und es ist ein Zeichen von „Blindheit" zu glauben, daß „Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger bestehen, daß Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Interesse mehr nimmt, mächtig genug seien, länger das Band eines Volkes auszumachen" (Pol 12). Hegel wird dieses Wechselverhältnis von Bestimmtsein des Einzelnen durch die Institutionen und Abhängigkeit der Institutionen vom Willen aller in Jena mit der Theorie der Anerkennung erklären. In der Mitte der Frankfurter Zeit - die eben zitierten Kußerungen stammen aus dem Einleitungsfragment der Schrift über die Verfassung 153

Württembergs - zieht Hegel aus der Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit von Institutionen und Selbstverständnis die Folgerung, daß es zur Kritik und Veränderung einer Gesellschaftsform der Analyse der Institutionen bedarf: „Für die Menschen von bessern Wünschen, von reinerem Eifer wäre es besonders Zeit, ihrem unbestimmten Willen die Teile der Verfassung vorzuhalten, welche auf Ungerechtigkeit gegründet sind, und auf die notwendige Veränderung solcher Teile ihre Wirksamkeit zu richten." (Pol 11) Dazu allerdings reicht es nicht aus, bestehende Institutionen und ihre Genese zu analysieren. Um zu unterscheiden, was an einer Verfassung „ungerecht" ist und was nicht, was einem „reinem, freiem Zustand" (ebd.) im Wege steht und was ihn befördern könnte, bedarf es einer Theorie der Verwirklichung der Freiheit in den Institutionen, die einen Maßstab zur Kritik der Institutionen bereitstellt . Die vorangehenden Abschnitte sollten darauf aufmerksam machen, in welcher Hinsicht Hegel schon in den Schriften vor der Jenaer Zeit über die Kantische Philosophie der praktischen Vernunft hinausgegangen ist: Im Begriff der Volksreligion als einer Vorform der Sittlichkeit, in der Bestimmung der Freiheit als Vereinigung, als Sich-Finden im Anderen, und schließlich in der Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit von Freiheitsbewußtsein und Verfassungen bzw. Institutionen. Dennoch ist Hegel vor der Jenaer Zeit nicht zu einer neuen Grundlegung der praktischen Philosophie gelangt. In seinen letzten Frankfurter Schriften - etwa dem sogenannten Systemfragment von 1800153 - wird zwar der Versuch eines eigenen, über Kant und Fichte hinausgehenden Systemansatzes spürbar, aber die Auswirkungen auf die praktische Philosophie bleiben undeutlich. Hegel bemüht sich in diesem Entwurf um eine Überwindung der Re-

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flexion, des in unaufhebbaren Gegensätzen „gefangenen" Denkens Kants und Fichtes, durch die Religion. Aber die Religion wird nicht in ihrem Bezug auf die Moralität und die Gesellschaftsordnung erörtert, sondern als Möglichkeit des Menschen, seine Endlichkeit zu überschreiten und sich mit dem Unendlichen zu vereinigen. Obwohl Religion für Hegel nicht reine Kon.t emplation ist, sondern die „praktischen Momente" kultischer Tätigkeit behält, ist sie im Systemfragment nicht mehr Gegenstand einer praktischen Philosophie. Der Grundbegriff des Systemfragments und seiner Kritik an der Reflexionsphilosophie, der Begriff des Lebens, findet sich zwar auch in Hegels gleichzeitigen Einleitungsfragmenten zur Verfassungsschrift (1799 und 1800), aber zu einer systematischen Neubestimmung der praktischen Philosophie führt er nicht. Leben - das zeigt gerade die „Leblosigkeit" der alten deutschen Reichsverfassung - bedeutet zugleich Vereinigung der Teile mit dem Ganzen, Aufhebung der Isolierung, und Erhaltung der Freiheit, Freigabe der Teile durch das Ganze. 154 Damit besitzt Hegel zwar einen Maßstab zur Kritik der Reichsverfassung, in der das Ganze keine Souveränität mehr hat, die Teile sich ihre „Staatsgewalt ... selbst zu danken" (21) haben, aber kein Prinzip, das das System der freien Institutionen in seinem Zusammenhang begründen könnte. Er vermag auch nicht zu erklären, wie sich das Bewußtsein der Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen zum Leben und Selbstgefühl des Ganzen in seinen Teilen verhält. Seit den ersten Jenaer Schriften (1801 ff.) sieht Hegel die Notwendigkeit, diese Frage zu beantworten. Aber erst die Bewußtseinstheorie und die auf ihr fußende Anerkennungslehre der späteren Jenaer Jahre (1803-1806) gestattet eine zu reichende Antwort.

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2. Kritik des Naturrechts und Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie

Die Entwicklung der praktischen Philosophie Hegels in Jena unterscheidet sich von der vorhergehenden Phase in den beiden folgenden Punkten: a) Hegels Kritik an der Kantischen Moralphilosophie weitet sich mit seinen ersten Jenaer Veröffentlichungen zu einer Kritik der „Reflexionsphilosophie" aus. Gegenstand dieser Kritik ist sowohl der moralphilosophische Gegensatz zwischen reinem Willen und Natur, wie der zwischen der transzendentalphilosophischen Freiheitslehre und einer Rechtsphilosophie, in der nach Hegel die individuelle Freiheit schließlich nur durch ein rigoroses Zwangssystem gesichert werden kann. 155 b) Hegel sieht im Verlauf seiner Beschäftigungen mit den historischen Bedingungen der Entstehung der modernen Gesellschaft immer deutlicher, daß die Realisierung von Freiheit und freier Gemeinschaft eine Frage von Sitten, Institutionen und Verfassungen ist. Zeugnis dafür sind die Schriften über die Verfassungen Württembergs und des Reiches - die letztere hat Hegel noch zu Beginn der Jenaer Zeit beschäftigt (bis 1803). Von diesen beiden Voraussetzungen her kommt Hegel bereits in den ersten Jenaer Jahren zu einer endgültigen Abkehr von Kants Systematik der praktischen Philosophie und zu einer Rückbesinnung auf die antike politische156 Philosophie. Gegen das Prinzip der unendlichen Freiheit des Einzelnen - nicht nur im transzendentalphilosophischen Sinne, sondern auch im Sinne der „natürlichen" Freiheit des Naturzustandes 157 - setzt er die Aristotelische These, daß das Volk (Polis) von Natur „eher" ist als der Einzelne (IV, 467). Hegel bestimmt daher die Freiheit des Einzelnen als Überwindung seiner 156

Einzelheit - nicht in einer moralischen Selbstüberwindung, sondern in der Bewußtwerdung der Einheit von Individuum und Volk in den Ständen und Institutionen der Polis. Hegel verfügt aber in der ersten Phase der Jenaer praktischen Philosophie noch nicht über eine Theorie der Bewußtseinsentwicklung. Er sucht die Überwindung der Gegensätze einer auf das Prinzip der Einzelheit gegründeten praktischen Philosophie Kants und Fichtes von der methodischen Seite her zu lösen: als Überwindung der „Reflexion" durch die Vereinigung von Reflexion und Anschauung bzw. Begriff und Anschauung.158 Daraus entsteht die Methode des ersten Systems der praktischen Philosophie Hegels in Jena, des „Systems der Sittlichkeit" (1802/1803) (vgl. u. S. 175.ff.). In diesem System hat Hegel aber noch nicht zu zeigen vermocht, daß das transzendentalphilosophische Prinzip des freien Selbstbewußtseins mit eigener Notwendigkeit zur Überwindung der Einzelheit in den Institutionen der Polis führt. Die Vermittlung von klassischer politischer Philosophie und Transzendentalphilosophie, die Hegel seit Beginn der Jenaer Zeit beabsichtigt, ist daher noch nicht möglich. Das Prinzip, das eine solche Vermittlung ermöglicht, das Prinzip der Verwirklichung der Freiheit des Selbst in den Institutionen des allgemeinen Bewußtseins, ist das Prinzip der Anerkennung. Obgleich davon schon im System der Sittlichkeit die Rede ist, bedurfte es der systematischen Entfaltung einer Theorie des Bewußtseins, die mit dem Systementwurf von 1803/1804 beginnt, um die Bedeutung dieses Prinzips für die Einheit der praktischen Philosophie zu erkennen. Diese Thesen zu Hegels Erneuerung der praktischen Philosophie in der Jenaer Zeit bedürfen einiger Erläuterungen. Hegels Kritik an der Reflexionsphilosophie beginnt mit 157

seiner Erstveröffentlichung, der „Diff erenzschrift" aus dem Jahre 1801. Hauptthema der Fichte-Kritik dieser Schrift ist der Gegensatz des unendlichen Ich und der Sphäre des Bestimmten und Beschränkten. Dieser Gegensatz wird von Fichte nicht überwunden, zu einer absoluten Einheit gebracht, sondern als ein Verhältnis der Herrschaft fixiert. In den „ beyden Systemen der Gemeinschaft der Menschen" (IV, 54), dem Naturrecht und der Sittenlehre Fichtes, bedeutet dies eine Herrschaft des „Begriff s" über die Natur und des allgemeinen Willens über den einzelnen. Im Naturrecht Fichtes wird die „Freyheit" (nur) „vom Standpunkt der Reflexion" betrachtet: als ein „an sich" Unbestimmtes, Unendliches, „alle Beschränkung Aufhebendes", dem ein für das Bestehen einer Gemeinschaft notwendiges System von Beschränkungen gegenübersteht (ebd.). Dieses System ist nach Hegel keine freie Selbstbeschränkung der Freiheit, durch die diese sich eine bestimmte Gestalt gibt, die sie aber ebenso selbst „aufheben" kann, um „andere Beziehungen einzugehen" (55). Vielmehr werde die Beschränkung „durch den gemeinsamen Willen zum Gesetz erhoben", zum Zwangsgesetz, das die Freiheit völlig aufhebt. Hegels These dagegen: die Gemeinschaft muß „nicht als eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums, sondern als die Erweiterung derselben angesehen werden." (54) Wie ist das möglich? Indem die Vernunft eine „freye Organisation des Lebens" konstruiert, in der die Beschränkungen der Reflexion bzw. des Verstandes „ entbehrlich" werden (55 f.). In dieser „wahren Unendlichkeit einer schönen Gemeinschaft" werden die „Gesetze durch Sitten, die Ausschweifungen des unbefriedigten Lebens durch geheiligten Genuß und die Verbrechen der gedrükten Kraft durch mögliche Thätigkeit für große Objekte" ersetzt (ebd.). Hegel wiederholt das Ideal der 158

Frankfurter Zeit, die schöne lebendige Gemeinschaft, die durch Sitten, Kult und große Taten vereinigt wird. Sicher ist das Vorbild dafür die griechische Polis. Aber Hegel hat in der Differenzschrift noch keine Wiederherstellung der klassischen politischen Philosophie gefordert. Die Überwindung der Reflexionsphilosophie scheint ihm durch ein philosophisches System im Sinne Schellings möglich : durch die Darstellung des Absoluten in Transzendental- und Naturphilosophie, sowie in deren „Indifferenzpunkt", d. h. in Kunst, Religion und Spekulation. Die Methode dieses Systems ist die Vereinigung von Reflexion und Anschauung zur „transzendentalen Anschauung" bzw. zum „transzendentalen Wissen" (IV, 27f.). Die Rehabilitierung der klassischen praktischen Philosophie wird erst in dem Aufsatz „ Ober die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts" deutlich, der wenig früher als das System der Sittlichkeit entstanden im Winter 1802/ 1803 in Hegels und Schellings „Kritischem Journal" erschienen ist. 159 Hegel setzt sich in ihm sowohl mit der „empirischen" wie mit der transzendentalphilosophischen Form des neuzeitlichen Naturrechts auseinander. Das Wichtige für die Erneuerung der praktischen Philosophie liegt darin, daß für Hegel die Trennung zwischen Moralphilosophie und Naturrecht, zwischen einer Theorie der Freiheit und der Tugenden auf der einen und dem Wissen von Sitten, „ Verfassungen" und „Gesetzgebungen" (IV, 481) auf der anderen Seite überwunden werden muß.16 Für Hegel ist diese Trennung unhaltbar, weil die Freiheit des Einzelnen gar nicht „rein", das heißt abstrahiert von den mannigfaltigen Verhältnissen der „ Wirklichkeit" des Sittlichen in einem Volk bestimmt werden kann. Das Naturrecht kann weder auf die gesetzlose Freiheit des Naturzustandes noch

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auf ein naturunabhängiges reines Freiheitsbewußtsein gegründet werden, sondern muß von vornherein die Einheit von „Natürlichem" und „Sittlichem", „Naturstand" und „Majestät", Einzelheit und Volk im Auge haben (427). Zu einer solchen Einsicht konnte das neuzeitliche Naturrecht nicht kommen, weil es die Einzelheit absolut setzte, statt die Freiheit - wie die antike Philosophie - als ein „Vernichten der Einzelheit" (447) zu begreifen, deren Sittlichkeit im „Einsseyn" mit dem Volke besteht (449). Hegel hat im Naturrechtsaufsatz unter Berufung auf Aristoteles das Verhältnis von „Moral" und „Naturrecht" gegenüber dem kantisch-fichteschen „Primat" der Moral umgekehrt. 161 Die Moral wird zu einem Moment des Naturrechts. Während dieses die Lehre von der sittlichen Natur eines Volkes und deren Ausprägung in verschiedenen Ständen ist, hat die Moral nur die „sittlichen Eigenschaften, die dem Einzelnen angehören" zum Gegenstand - und zwar als dessen „Möglichkeiten oder Fähigkeiten, in der allgemeinen Sittlichkeit zu seyn" (468). Insofern die Moral an der selbständigen Existenz des Einzelnen orientiert ist, der erst durch Negation mit dem Volke eins und somit sittlich wird, hat sie nur das „an sich Negative" zum Thema, während dem Naturrecht das „wahrhaft Positive" zukommt (ebd.). Die Moral als Moment des Naturrechts hat es nur mit dem „Reflex der absoluten Sittlichkeit im Einzelnen" zu tun (ebd.). Mit dem Versuch, Moral ins Naturrecht - d. h. in „Politik" im Sinne des Wissens von der sittlichen Natur der Polis, von ihren Sitten, Ständen und Verfassungseinrichtungen - aufzuheben, geht Hegel im Grunde noch über die klassische Tradition hinaus, die zumindest in ihrer Aristotelischen Gestalt der Ethik ja noch Selbständigkeit neben Okonomie und Politik eingeräumt hatte. 162 160

Das Prinzip der Moralität ist für Hegel - wie gesagt die Selbständigkeit der Einzelheit. Die Moral hat nur das Verhältnis der Individuen zueinander zum Gegenstand. Das „Verhältnis" ist aber eine Kategorie der Reflexion bzw. des Verstandes, es bezeichnet „nichts Absolutes und also auch die Moralität, die auf dasselbe geht nichts wahrhaft Sittliches" (468). Die Weise, wie das „Verhältnis" oder das „Negative" der absoluten Sittlichkeit mit deren wahrer Gestalt vermittelt wird, hat Hegel im Naturrechtsaufsatz nur im Rahmen des Entwurfs einer an Platon und Aristoteles orientierten Ständelehre angegeben. Wesentlich für das Prinzip der Polis ist ihm die Unabhängigkeit und überordnung16 3 des Standes der Freien von bzw. über die niederen Stände. Die absolute Sittlichkeit des ersten Standes ist die Freiheit als Krieger, Staatsmann und Philosoph ganz für sein Volk zu leben (454) - während die niederen Stände auf die Sphäre des Eigentums und des Erwerbs und damit der in den Grenzen des Rechtes freien Individualität beschränkt sind. In diesen niederen Ständen - oder wie Hegel zusammenfassend sagt, dem Stand der „nicht freyen" 16 4- bildet sich durch die Verhältnisse des Eigentums und des Erwerbs das „System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse und der Arbeit und Anhäufung für dieselben", die Gegenstand der „sogenannten politischen Okonomie" sind (450). Hegel hat das Verhältnis der beiden Stände in einem an der antiken Tragödie orientierten Bild als „Kampf" bezeichnet, in dem sich beide von einander trennen, der Stand der absoluten Sittlichkeit den niederen Stand „bezwingt", sich aber beide auch versöhnen, indem die Notwendigkeit des niederen Standes für das Ganze anerkannt wird und dieser im Stand der „Freyen" die absolute Sittlichkeit „anschaut" .165 161

Während der Naturrechtsaufsatz die auf dem Prinzip der Einzelheit beruhende Sittlichkeit nur innerhalb der Ständelehre mit der absoluten Sittlichkeit versöhnt, d. h. als Momente einer „Totalität" erkennt, geht das System der Sittlichkeit davon aus, daß die „Sittlichkeit nach dem Verhältnis", die bloß ein negativer Reflex der absoluten Sittlichkeit ist, durch eine zweifache Negation 166 in die absolute Sittlichkeit aufgehoben werden muß. In diesem Prozeß der Entfaltung und Aufhebung der „natürlichen Sittlichkeit" (SdS 9) kommt Hegel nun der aristotelischen Konzeption der praktischen Philosophie weitaus näher als im Naturrechtsaufsatz. Das System geht aus von den unmittelbarsten Formen der „Praxis" des Einzelnen - Bedürfnis, Arbeit, Genuß, Besitzergreifung, Liebe, Rede etc. - und zeigt, wie sich auf dieser Stufe ein Bewußtsein natürlicher Gemeinsamkeit herstellt.167 Die höchste natürliche Einheit, die noch auf dem „Prinzip der Einzelheit" (vgl. SdS 38) beruht, ist die Familie, die Hegel hier völlig im Sinne der aristotelischen Tradition als oikos, als „Haus" bzw. als Großfamilie erörtert. Sie umfaßt die Verhältnisse des Besitzes, des Rechtes, aber auch der „natürlichen" Herrschaft und Knechtschaft. Indem Hegel von der natürlichen „ Vergesellschaftung" der Menschen ausgeht, das Haus als erste Gemeinschaft behandelt, aber zugleich doch nur als „Moment" der Polis und als Reflex ihrer Sittlichkeit, hat er sich nicht nur in den Grundlagen seiner praktischen Philosophie - der Einheit von Freiheitslehre und „lnstitutionentheorie" sondern auch in der Systematik von Kant ab- und der aristotelischen praktischen Philosophie zugewandt. 168 Das System der Sittlichkeit zeigt aber auch deutlich, daß Hegel keine bloße „Renaissance" der klassischen praktischen Philosophie anstrebt. Einmal deshalb, weil er die praktische Philosophie als „System" im strengen Sinne 162

Fichtes und Schellings begründen und darstellen will. Zum anderen, weil die Überwindung der Kantischen Trennung von Ethik und Rechts- bzw. Staatsphilosophie zugleich das Prinzip der Kantischen Moralphilosophie, die Freiheit des reinen Selbst, mit der Aristotelischen Politik vermitteln will. Daher folgt im System der Sittlichkeit auf die Behandlung der Familie - in der das Individuum zur freien „Person" gebildet ist - die Verabsolutierung der „unendlichen", von keiner natürlichen oder positiven Beschränkung gebundenen Freiheit der Einzelheit im Kapitel über „das Negative, oder die Freiheit oder das V erbrechen". Erst die Vereinigung der na türlichen Sittlichkeit mit der verabsolutierten subjektiven Freiheit ist die Sittlichkeit des Volkes. Obgleich Hegel also, wie im Naturrechtsaufsatz, die leere Freiheit des Subjekts als für sich „ unsittlich", ja als „Verbrechen" bezeichnet, versucht er schon im System der Sittlichkeit die substantielle Sittlichkeit des Volkes als Erfüllung des „modernen" Prinzips der Subjektivität nachzuweisen. Aber mit welchem Prinzip läßt sich eine solche Vereinigung ihrerseits als notwendig und rechtmäßig begründen? Dieses Prinzip ist zweifellos das „Absolute", das im System der Sittlichkeit als „absolute Sittlichkeit" erscheint. Deren „negativer Reflex" ist der Bereich der natürlichen Sittlichkeit und der reinen Freiheit. Weil sie nur das Negative bzw. die Möglichkeit zur absoluten Sittlichkeit sind, müssen sie aufgehoben werden. Hegel hat diese Aufhebung aber nicht als eine notwendige Entwicklung darzustellen vermocht, deren Prinzip in der relativen Sittlichkeit selber sichtbar wird. Die Methode des „Systems" ist die wechselseitige Subsumtion von Anschauung und Begriff - nicht ein Bewegungsgesetz der natürlichen Sittlichkeit bzw. der reinen Freiheit selbst. Aber: 163

schon der Naturrechtsaufsatz fordert, daß die Freiheit des Einzelnen mit eigener Notwendigkeit die Einzelheit aufhebe. Und im selben Text hat Hegel die Stände bereits als Stufen des Bewußtseins bezeichnet: als „empirisches" bzw. „reines Bewußtsein" (468). Das philosophische System aber soll - darin stimmen wiederum Differenzschrift und System der Sittlichkeit überein - die Identität des reinen und empirischen Bewußtseins nachweisen. Die These, Hegel verfüge in der Frühphase seiner praktischen Philosophie in Jena noch nicht über ein Prinzip, das die Freiheit der Einzelheit und die in den Institutionen des Volkes sich manifestierende Sittlichkeit notwendig miteinander vermittelt, kann erst ausgewiesen werden, wenn wir uns mit den Grundlagen der frühen Systemkonzeption Hegels in Jena vertraut gemacht haben.

3. Systemkonzeption und praktische Philosophie in Jena ( 1801-1803) Welche Stellung hatte die praktische Philosophie in Hegels „erster" Systemkonzeption in Jena? Zunächst ist zu sagen, daß Hegel in der Differenzschrift von 1801 zwar wie Fichte und Schelling die Philosophie als System konzipiert, daß er aber die Begründung dieses Systems auf einen absoluten Grundsatz im Sinne der Wissenschaftslehre Fichtes ablehnt. Statt dessen bestimmt er das Absolute als das „Ganze", die „Totalität", in der jede „Stelle", jeder Satz und die ihm „korrespondierende" Anschauung als eine bestimmte Erscheinung des Absoluten - und insofern als von ihm begründet - aufgefaßt werden muß (34 ). Ein Prinzip, das dem System vorausginge, wäre einseitig und leer. 169 164

Wie sieht nun das System der Wissenschaft zu dieser Zeit aus, und welche Stelle hat in ihm die praktische Philosophie? Hegels System ist in den ersten Jenaer Jahren vierteilig gewesen. 170 Das ist durch die neu aufgefundenen Vorlesungsmanuskripte bestätigt worden, nachdem schon die Referate von Rosenkranz und die Systemskizze Hegels am Schluß des Schelling-Teils der Differenzschrift eine solche vierteilige Gliederung nahegelegt hatten. Der erste Teil dieses Systems ist - wie das Vorlesungsfragment „Die Idee des absoluten Wesens .. ." von 1801/ 1802 zeigt - die „Wissenschaft der Idee". In ihr geht es um die „Bestimmtheiten der Form" des Absoluten (V 1 b ). Diese Wissenschaft umfaßt noch einmal selber zwei Teile: der erste, die Logik, soll zeigen, wie die Bestimmtheiten, mit denen die „falsche Metaphysik der beschränkten philosophischen Systeme" das Absolute zu denken versuchte, gerade dann in Widersprüche geraten, wenn man ihren Anspruch ernst nimmt, „sich zu absoluten zu constituiren" (ebd.). Um sie als Ausdruck des Absoluten zu verstehen, muß man sie nämlich, wie schon das Systemfragment von 1800 darlegte, durch ihren Gegenbegriff „ergänzen". Die Differenzschrift zieht daraus den Schluß, daß die Antinomie der höchste Ausdruck des Absoluten im Bereich des Verstandes ist. Zur wahren Erkenntnis des Absoluten kann es aber nach Hegels damaliger Auffassung nur kommen, wenn die antinomische Reflexion sich mit der Anschauung zur Spekulation vereinigt. Dies dürfte - auch wenn die Vorlesungen hier nicht deutlich sind - in der zweiten Abteilung des ersten Teils, der „wahren" Metaphysik der Fall gewesen sem. Von der Metaphysik geht die Wissenschaft „über" in die Philosophie der Natur, von der Wissenschaft der „Idee selbst" in die der „Realität der Idee" (2 a). In der Na165

turphilosophie dieser Zeit - bis zum Systementwurf von 1803/1804 - behandelt Hegel zunächst das „System des Himmels", dann das der Erde, das durch den Begriff des Organischen gekennzeichnet ist. Die „Idee des Organischen" (ebd.) realisiert sich ihrerseits im mineralischen, vegetabilischen und animalischen System der Erde. Von letzterem geht die Philosophie der Natur in die des Geistes - den dritten Teil des Systems - über, in dem der Geist „als absolute Sittlichkeit sich organisiren" wird (ebd.). Deren höchste Stufe, das „freye Volk", kehrt im „4ten Teil" des Systems, in der Philosophie der Religion und der Kunst, „zur reinen Idee zurück" (ebd.). Hegel spricht in dieser Systemgliederung nicht von praktischer Philosophie. In der Differenzschrift hingegen, die eine eigene Systemskizze enthält, unterscheidet er selber einen theoretischen und praktischen Teil der Philosophie. Obwohl die Parteinahme Hegels für Schelling - gegen Fichte -, die die Differenzschrift prägt, auch in dieser Systemgliederung sprübar ist, 171 stimmt sie im wesentlichen mit derjenigen der Vorlesungen überein. Offenbar entspricht die „ Wissenschaft der Intelligenz" der Philosophie des Geistes. Im Sinne Schellings fordert Hegel, ihr die „Wissenschaft der Natur" als gleichberechtigtem Erscheinung des Absoluten zur Seite zu stellen und die Differenz beider in einem „lndifferenzpunkt" aufzuheben. Dieser Punkt muß sich selber noch einmal zur „ Totalität" eines Systemteils entfalten. Hegel nimmt dabei Schellings Idee der Vereinigung des Bewußten und Bewußtlosen in der Kunst auf, 173 deutet aber zugleich seine eigene Philosophie des absoluten Geistes an, wenn er diese „Selbstkonstruktion" des Absoluten in der Kunst, der Religion und der „Spekulation" verwirklicht sieht.114 Wichtig für unsere Frage ist nun, daß Hegel die Wissen166

schaft der Natur als theoretischen und die der Intelligenz als praktischen Teil der Philosophie bezeichnet. Demnach wäre also die gesamte Geistphilosophie die praktische Philosophie des damaligen Hegelschen Systems. Aber das Problem ist komplizierter: Hegel unterscheidet in beiden Teilen noch einmal einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der praktische Teil der Naturphilosophie ist das System der organischen Natur. Analog zur Tätigkeit des Willens sieht Hegel in ihr bereits eine Differenz von Innen und Außen, ein Produzieren, das sich auf sein eigenes Produkt bezieht. In der höchsten Form, beim Tier und seiner „Geschlechter-Differenz", ist dieses sich „subjektiv und objektiv" Setzen sogar bereits eine Art des Anerkennens (IV, 73 ). Die Philosophie der Intelligenz ist von vornherein praktisch, insofern in ihr die Intelligenz sich „als Punkt in sich selbst setzt" und die „unendliche Expansion" in die Mannigfaltigkeit der Beziehungen aus sich selbst zu erzeugen sucht (72). 175 Im weitesten Sinne praktisch sind für Hegel offenbar alle „Spuren" einer spontanen Tätigkeit, die einem einfachen, punktuellen Selbstverhältnis entspringt und die eine Mannigfaltigkeit von Verhältnissen produziert und bestimmt. Hegel hat aber diesen weiten Begriff von praktischer Philosophie nicht lange beibehalten. Gehalte der traditionellen praktischen Philosophie - aber auch der „Metaphysik der Sitten" oder des praktischen Teils der Wissenschaftslehre - können erst im praktischen Teil der Philosophie der Intelligenz behandelt werden. Wir können also diesen Teil des ersten Hegelschen Systems als seine „praktische Philosophie" bezeichnen.176 Nur - von diesem Systemteil gibt es überhaupt keine Ausarbeitung. Bevor Hegel daranging, ihn zu entfalten, hatte sich seine Systemkonzeption schon wieder modifi167

ziert. Dies zeigt die Systemskizze des Naturrechtsaufsatzes von 1802. In diesem Text finden sich auch die ersten Ansätze einer eigenen systematischen Entfaltung der praktischen Philosophie - und zugleich der „Rekonstruktion" der klassischen praktischen Philosophie. Bevor ich aber auf die Systemkonzeption Hegels zu diesem Zeitpunkt eingehe, möchte ich eine kurze übersieht über die wichtigsten Tendenzen der Veränderung der Hegelschen Systemkonzeption während der Jenaer Zeit geben. 177 Die auffälligsten Veränderungen betreffen den ersten Teil (a) sowie das Verhältnis des dritten Teils einerseits zum zweiten (b) und andererseits zum vierten (c). a) Im ersten Teil wird die Trennung von Logik und Metaphysik etwa seit Mitte der Jenaer Zeit zunehmend aufgehoben. Erstmals in der Realphilosophie von 1805/ 1806 nennt Hegel den gesamten ersten Teil „speculative Philosophie" (VIII, 286). 17 8 Zur gleichen Zeit geht die Aufgabe der Logik, durch den Nachweis der Identität des Erkennens mit seinem Inhalt zum Standpunkt der Spekulation erst hinzuleiten, an eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins über, die Hegel 1806/ 1807 als identisch mit einer Darstellung der Erscheinungen des Geistes im Element des unmittelbaren Wissens bzw. des natürlichen Bewußtseins begreift (s. u. Kap. III). b) Was das Verhältnis des zweiten zum dritten Teil des Systems angeht, so scheint Hegel unter dem Einfluß Schellings zunächst das Schwergewicht auf die Naturphilosophie gelegt zu haben und auch die Philosophie des Geistes bzw. der Sittlichkeit weitgehend am Begriff der Natur orientiert zu haben. 179 Diesem Primat der Naturphilosophie steht freilich entgegen, daß Hegel schon im Naturrechtsaufsatz zum Ausdruck bringt, der Geist sei „höher als die Natur" (IV, 464 ). Erst seit dem Systementwurf von 1803/ 1804 wird aber das Verhältnis beider 168

Systemteile geradezu umgekehrt: die Natur wird jetzt ganz vom Prozeß des Zusichkommens des Geistes her verstanden. Der Geist aber ist wesentlich Negation der Natur und kommt erst zu sich, indem er „Herrschaft" über sie gewinnt. c) Die kompliziertesten Modifikationen finden im Verhältnis des dritten zum vierten Systemteils statt. Hegel hat den vierten Teil, der die Religion und die Kunst sowie nach der Differenzschrift auch die „Spekulation" umfaßt, nie als eigenen Systemteil ausgeführt. Wie die sogenannte „Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit" 180 und die Realphilosophie von 1805/1 806 zeigen, wird die Rückkehr zur „Anschauung" des Absoluten in der Philosophie des sittlichen Geistes selber dargestellt: die Selbstanschauung des Absoluten ist nichts anderes als der „Selbstgenuß" des Volksgeistes. In Kunst und Religion produziert dieser sich anschauende Geist eine eigene „ Welt" und hebt zugleich - in Religion und Spekulation - seine Entäußerung an Natur und Geschichte in sich auf. Gegen diese „Einschmelzung" des vierten in den dritten Teil gibt es aber eine gegenläufige Tendenz, die darin besteht, daß sich die Religion und vor allem die Philosophie (Spekulation) aus ihrer Einheit mit dem sittlichen Geist lösen. Während beide noch 1802/ 1803 im Dienste der Heraufkunft eines freien Volkes in einem vernünftigen Staate stehen (R 13 7), löst sich die Religion und vor allem die Philosophie in der Geistphilosophie von 1805/ 1806 von dem „Dasein" des Geistes im Staat. In der Philosophie begreift sich der absolute Geist selber als Einheit des „ seienden absoluten Geistes", d. h . des Staates bzw. des Volksgeistes, und des „denkenden Geistes, der sich aber nicht selbst denkt" (VIII, 286), sondern nur vorstellt, d. h. der Religion. Dies führt aber nicht zu einer Wiederverselbständigung des vierten Teils, sondern zu 169

einer inneren Differenzierung der Geistphilosophie, in der sich die enzyklopädische Trias von subjektivem, objektivem und absolutem Geist vorbereitet (vgl. u. Abschnitt 5). Mit dieser Systematik und ihren Modifikationen ist der Rahmen gesteckt, innerhalb dessen Hegel in der Jenaer Zeit die praktische Philosophie erneuert. Die praktische Philosophie gehört zu dem Teil des Systems, in dem das Absolute als Geist aus seiner Entäußerung in der Natur zu sich zurückkehrt, sich in sich selbst „gestaltet" bzw. in einer eigenen „Welt" anschaut und schließlich die Freiheit seines Sichdenkens auch noch von den äußeren Bedingungen dieser Welt, dem Bewußtsein und der Zeit (vgl. VIII, 287), begreift. Fragen wir nach dem „Prinzip" dieses Systemteils, dann ist es offenbar zunächst nichts anderes als das Prinzip des Gesamtsystems, „das Absolute". Das Absolute aber faßt Hegel nicht als Prinzip im Sinne eines dem System voraufgehenden Grundsatzes, sondern so, daß in je verschiedenen „Elementen" - der Natur, dem Geist, dem erkennenden und handelnden Bewußtsein - sich eine Bewegung zeigt, die die Grundbestimmungen und Formen dieser Elemente zu einer „ Totalität" strukturiert bzw. „organisiert". Eine Totalität, die in dieser Bewegung zunehmend durchsichtiger wird und am Ende ihre Selbstbeziehung nicht nur als Resultat, sondern auch als Ursprung dieser Bewegung darstellt. Insofern diese Elemente schon von ihrer Stellung im Gesamtprozeß her eigene Bedingungen ihrer „Selbstorganisation" haben, erscheint das Absolute in ihnen auch jeweils in verschiedener Gestalt bzw. als verschiedenes „Prinzip". Genau hier aber liegt das Problem der Philosophie Hegels in den ersten Jenaer Jahren, und vor allem seiner praktischen Philosophie: zum einen versucht er - wohl 170

im Gefolge des Identitätssystems Schellings -, die Einheit der verschiedenen Bereiche als Teile desselben Gesamtprozesses bzw. -systems durch die in ihnen wiederkehrenden formalen Bestimmungen des Absoluten nachzuweisen, die teils logischer, teils reflexionstheoretischer bzw. transzendentalphilosophischer Herkunft sind: Einheit, Vielheit, Indifferenz, Verhältnis, Anschauung, Reflexion, Begriff etc. Die Unterschiede zwischen den Bereichen wie zwischen den Momenten und Stufen dieser Bereiche selber gehen dann auf die verschiedenen Konstellationen solcher Formen und deren unterschiedliche „Gewichte" in diesen Konstellationen zurück. Die Einheit von Begriff und Anschauung etwa kann in dem einen Bereich unter dem „Primat" des Begriffs stehen, im anderen unter dem der Anschauung. Ein Beispiel dafür werden wir gleich im „System der Sittlichkeit" sehen (s. u. S. 175 f.). Der andere Weg ist der, das jeweilige „bereichsspezifische" Prinzip eines Systemteils sich selber entwickeln zu lassen, und zwar so, daß es mit seiner eigenen „Erscheinung", seiner äußerlichen, „empirischen", gleichsam oberflächlichen Gestalt beginnt und sich zunehmend selbst durchdringt. Dann wird jeder Schritt bzw. jede Stufe dieses Systemteils als ein „Reflexionsfortschritt" darstellbar. Für die Geistphilosophie bedeutet das: das „absolute Bewußtsein" bzw. der Geist muß sich aus dem „empirischen Bewußtsein" selber entwickeln (vgl. SdS 53 ). Nur so kann die bereits in der Differenzschrift gegen die Transzendentalphilosophie geforderte „Identität" (IV, 36) beider wirklich systematisch nachgewiesen werden. Das Unbefriedigende der ersten systematischen Schriften zur praktischen Philosophie in der Jenaer Zeit ist nun, daß Hegel gleichsam das Ziel des zweiten Weges mit den 171

Mitteln des ersten zu erreichen sucht. Es gelingt ihm aber nicht, die immanente Konsequenz von Reflexionsschritten durch die vollständige Konstruktion der möglichen Konstellationen formaler Elemente nachzuweisen. Dieses Unvermögen führt ihn um die Mitte der Jenaer Zeit dazu, das Prinzip der Geistphilosophie im allgemeinen, das Bewußtsein, und das ihres praktischen Teils im besonderen, die Anerkennung, selber einer systematischen Klärung zu unterziehen. Die Einheit der praktischen Philosophie in den ersten Jenaer Schriften (bis 1803) geht demgegenüber, wie schon angedeutet, auf ein hochschematisiertes „Programm" zurück, das Hegel zuerst im Naturrechtsaufsatz entwickelt und - mit wenig Veränderung - im System der Sittlichkeit durchführt. Dieses Schema genügt aber weder den Anforderungen Hegels an seine eigene Geistphilosophie noch ermöglicht es ihm die beabsichtigte Erneuerung der praktischen Philosophie. Um diese These zu belegen, soll das „Programm" kurz skizziert werden. Hegel geht in der Systemskizze des Naturrechtsaufsatzes von seiner Kritik an der praktischen Philosophie Kants und Fichtes aus, in der für ihn die Identität des vernünftigen Willens mit der Differenz zur Sinnlichkeit bzw. zum Nicht-Ich „afficirt" bleibt (IV, 432). Die Einheit beider ist ein bloßes „Causalitätsverhältnis", ein Verhältnis der Wirkung des Willens auf die Natur, ohne daß die „Identität des Ideellen", des sittlichen Willens, mit dem „Reellen" zur vollen Übereinstimmung käme. Im Anschluß daran bestimmt Hegel nun das Absolute als „absolute Identität des Ideellen und Reellen", d. h. als „Identität Differenter", deren eines als Einheit, das Andere als Vielheit gedacht werden muß. Sollen beide Seiten Momente des Absoluten sein, dann müssen sie beide 172

in ihrer Bestimmtheit „ideell", d. h. sowohl „gesetzt" wie „aufgehoben" sein: beide müssen sowohl sie selbst wie ihr anderes sein. Obgleich damit jede Seite Einheit von Einheit und Vielheit ist, besteht in der Art dieser Einheit bzw. ihres quasi „inneren" Verhältnisses von Einheit und Vielheit ein entscheidender Unterschied: auf der Seite des Nicht-ich bzw. der Natur ist die Vielheit positive, bestehende „Realität", die Einheit dagegen eine nur „relative Identität". Auf der anderen Seite dagegen herrscht die Einheit als „Indifferenz". Das Absolute ist von daher als Einheit von Indifferenz und Verhältnis (bzw. relativer Identität) zu verstehen. Dieses noch recht übersichtliche Schema wird nun aber dadurch wesentlich komplizierter, daß nach Hegel die „relative Identität" nicht bloß ein einfaches, sondern ein „gedoppeltes Verhältnis" ist, denn relative Identität heißt, daß die Differenz nicht völlig verschwindet, sondern in der Einheit bestehen bleibt. Die relative Identität oder die Seite der Vielheit muß mithin selber noch einmal als Verhältnis von Einheit und Vielheit gedacht werden, in dem sowohl die Einheit wie auch die Vielheit oder Differenz bestimmend sein kann - mit Hegel: in dem „sowohl ... die Einheit, als ... die Vielheit das Erste ist". Erst daraus ergibt sich die volle Bestimmung des Absoluten als „Einheit der Indifferenz und desjenigen Verhältnisses oder derjenigen relativen Identität, in welcher das Viele das Erste, das positive ist - und als Einheit der Indifferenz und desjenigen Verhältnisses, in welchem die Einheit das Erste und positive ist; jene ist die physische, diese die sittliche Natur" (alle 432 f.). Der Fehler Kants und Fichtes ist es nach Hegel gewesen, statt der Einheit von Indifferenz und relativer Identität nur diese relative Identität bzw. den Versuch der Beherrschung der Sinnlichkeit (Vielheit) durch die „absolute 173

Selbstthätigkeit" (434) der Vernunft (Einheit) als Sittlichkeit zu bestimmen. Sittlichkeit kann aber nicht eine bloß relative Identität sein, vielmehr ist nach Hegel „Sittlichkeit etwas absolutes" (ebd.). Für die weitere Entwicklung der Jenaer Geistphilosophie ist es nun von großer Bedeutung, daß für Hegel trotz der scheinbaren Gleichberechtigung von physischer und sittlicher Natur der „Geist ... höher als die Natur" ist. Die Begründung dafür ist, daß das Absolute Einheit von Selbstanschauung und Selbsterkennen bzw. sich Anschauen „als sich selbst" ist. Zum Selbsterkennen des Absoluten aber kann es in der Natur nicht kommen, weil in ihr das Absolute in eine Vielheit „herausgeboren" ist, deren Elemente von „starrer Indiv idualitä t" gegeneinander, also nicht in die absolute Einheit zurückgenommen sind. Nur der Geist, der sich in der Sphäre der Sittlichkeit entfaltet, ist zugleich „unendliche Expansion" und „unendliches Zurücknehmen". In ihm ist die durch die Vielheit vermittelte „relative" Einheit in den „ unvermittelten Einheitspunkt des unendlichen Begriffs reflektiert" (alle ebd.). Diese „Überlegenheit" des Geistes bzw. der Sittlichkeit ist nach Hegel begründet in der „Intelligenz", die er schon hier mit dem „absoluten Begriff" identifiziert, weil sie absolute Negativität bzw. „Gegentheil seiner selbst" ist und daher „allein fähig, indem sie absolute Einzelnheit ist, absolute Allgemeinheit zu seyn" (464 ). Das System der Sittlichkeit von 1802/ 1803, Hegels erste Darstellung der praktischen Philosophie in der Jenaer Zeit, entspricht dieser System-Konzeption des Naturrechtsaufsatzes zweifellos weitgehend. In ihm erscheint die absolute Sittlichkeit zunächst „als Natur" (SdS 8), d. h. als „Expansion" in die Vielheit selbständiger Individualitäten und ihrer Handlungen. Durch die Negati174

vität der Intelligenz wird diese Vielheit aufgehoben, und durch die Selbstaufhebung der Individualität kann die absolute Sittlichkeit in den Sitten und Institutionen eines Volkes „in Geistgestalt" , d. h. in völliger „Freiheit vom Verhältnis" auftreten. Die Intelligenz tritt aber im System der Sittlichkeit zunächst als Bewußtsein der Einzelheit auf. Wie wird dieses Bewußtsein mit dem der absoluten Sittlichkeit, des „absoluten Einsseins der Individualitäten" (SdS 7) im Geist eines Volkes vermittelt? Kann Hegel ein Prinzip angeben, das die Entwicklung des Bewußtseins der Einzelheit zum absoluten Geist notwendig macht? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Methode des Systems der Sittlichkeit etwas genauer erörtern. Hegel bestimmt diese Methode als Adäquation von Anschauung und Begriff - auch dies ist bereits eine Forderung des Naturrechtsaufsatzes. In ihm wird die Anschauung als die Fähigkeit bestimmt, das „Ganze" der Sittlichkeit zu erfassen - im Gegensatz zum Verstand, der durch sein „Auseinanderhalten der verschiedenen Seiten einer und der selben Anschauung" nur zu einer verzerrten und „ verkehrten" Darstellung einer sittlichen Totalität in der Lage ist. 181 Das bedeutet freilich nicht, daß Hegel zu einem absoluten Primat der Anschauung über den Verstand bzw. die Reflexion tendierte - bekanntlich ha t er zunächst Fichtes und später auch Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung als „leer" kritisiert. 1 82 Und schon in der Differenzschrift von 1801 fordert er die Vereinigung von „Reflexion und Anschauung" (3 1). Reflexion und Anschauung erscheinen im System der Sittlichkeit als Begriff und Anschauung. Der Begriff ist an sich bzw. „ wahrhaft" das Besondere, die Anschauung das Allgemeine. Weil aber beide in der Idee „adäquat" 175

sein sollen, müssen beide gegeneinander als Einheit ihrer selbst und des anderen, nämlich sowohl in der „Form der Allgemeinheit" wie auch der „Form der Besonderheit" (SdS 7) gesetzt werden. Daraus folgt für das System der Sittlichkeit das Verfahren der wechselseitigen Subsumtion von Anschauung und Begriff. Die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff ergibt die Erscheinung der absoluten Sittlichkeit als Natur bzw. die Formen der natürlichen Sittlichkeit, die die „Einzelheit zum Prinzip" (38) hat und in der die Einheit von Natur und Sittlichkeit, Einzelheit und Allgemeinheit nur als „Verhältnis" erscheint. Dieses Verhältnis wird zwar in der umgekehrten Subsumtion im zweiten Teil negiert, aber dabei wird das Prinzip der Einzelheit noch nicht überwunden. Die Negation der sittlichen Verhältnisse ist nämlich „Allgemeinheit" nur im Sinne „abstrakter Einheit" (52). Das Individuum, das aufgrund seiner „Freiheit vom Verhältnis" (ebd.) Institutionen und Beziehungen negiert, die auf natürlichen Differenzen beruhen oder die Einzelheit der Person zum Inhalt haben, hebt zwar Unterschiede auf, verwandelt aber weder sich noch das Negierte, sondern läßt die „Einzelheit" als „Negatives" bestehen (39). Auch die Negation des Täters durch die von ihm ausgelöste rächende Gerechtigkeit und die „ideale Umkehrung" ( 41) seiner Tat durch das Gewissen erheben ihn nach dem System der Sittlichkeit noch nicht in eine neue positive „Allgemeinheit" des Lebens 1ss bzw. des Geistes. Erst in der absoluten Sittlichkeit kommt es zu einer positiven Aufhebung (vgl. Anm. 166) der Einzelheit: in ihr stellt sich die absolute Idee als Einheit von Anschauung und Begriff dar; „ihre Anschauung ist ein absolutes Volk; ihr Begriff (ist) das absolute Einssein der Individualitäten" (7). 176

Inwiefern ist nun das System der Sittlichkeit eine Ausführung des Programms des Naturrechtsaufsatzes? Die „natürliche Sittlichkeit" ist das Verhältnis, in dem die „EinheitdasErste und positive" (IV,433) ist- die Intelligenz, die die Mannigfaltigkeit der Natur aufhebt und die Beziehungen der Individuen zur Einheit natürlicher Sitten bildet, ohne die Selbständigkeit der Einzelnen aufzuheben. Die negative Freiheit dagegen ist als Zerstörung der natürlichen Verhältnisse der Sittlichkeit „Indifferenz" - aber eine abstrakte, die das Verhältnis nicht umfaßt und daher in Gegensatz zu ihm bleibt. Einheit von Indifferenz und Verhältnis ist erst die absolute Sittlichkeit. Beides, die natürliche Sittlichkeit des „Verhältnisses" wie die negative der reinen Freiheit, sind nur „Möglichkeiten" bzw. negative Vorformen der wahren Sittlichkeit. Die Notwendigkeit, von ihnen zur Erscheinung des Absoluten als „wirkliche" Sittlichkeit überzugehen, liegt in dem Schema der Trennung und Vereinigung von Indifferenz und Verhältnis und der Methode der wechselseitigen Subsumtion von Begriff und Anschauung begründet. Wenn Hegel mit diesen „Verhältnissen" und ihrer Aufhebung in die Einheit einer „ Totalität" die Grundstrukturen des „Systems der Wissenschaft" erfaßt hat, dann ist in ihnen auch die Einheit der praktischen Philosophie begründet. Das „Element" · der Erscheinung des Absoluten in der Sittlichkeit ist aber nach Hegel das Bewußtsein. Das System der Sittlichkeit geht vom einzelnen Bewußtsein auJ und sucht nachzuweisen, daß dieses erst im Einssein der Individualitäten mit dem Volk zu seiner „Wahrheit" gelangt. Dazu aber genügt es nicht, die Notwendigkeit des Überganges zur absoluten Sittlichkeit auf die „Methode" der wechselseitigen Subsumtion von Anschauung und Begriff zu be-

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gründen, selbst wenn deren „Indifferenz" mit der Selbsterkenntnis des Absoluten identisch ist. Was hat die Selbsterkenntnis des Absoluten mit dem Bewußtsein der Individualität zu tun, und wieso ist die Aufhebung der natürlichen Sittlichkeit in die absolute als Selbstverwirklichung zu verstehen? Es sind diese Fragen, die Hegel bewogen haben, im Systementwurf von 1803/ 1804 die „Struktur" des Bewußtseins zu bestimmen und sie der Philosophie des Geistes zugrunde zu legen. Dabei erhält das Prinzip der Anerkennung die Bedeutung, das Bewußtsein der Einzelheit als „Totalität" und die Selbstaufhebung dieses Bewußtseins in die Einheit mit dem Volksgeist zu begründen und dem Bewußtsein selbst erfahrbar zu machen. Insofern besitzt Hegel seit dem Systementwurf von 1803/1804 ein Prinzip, das die Notwendigkeit der Entwicklung des einzelnen Bewußtseins zum Volksgeist begründet und damit den Zusammenhang zwischen der Freiheit des individuellen Handelns und den Institutionen der Gemeinschaft notwendig macht. Darauf beruht die Einheit der erneuerten praktischen Philosophie als „System". 4. Die Theorie des Bewußtseins und das Prinzip der Anerkennung

Die Bedeutung des Prinzips der Anerkennung für Hegels praktische Philosophie hängt offenbar mit der Entwicklung der Theorie des Bewußtseins zusammen. Nun hat Hegel sich mit dem Thema „Bewußtsein" nicht erst im Systementwurf von 1803/1804 beschäftigt. Bedingt durch die Auseinandersetzung mit der 1.'ranszendentalphilosophie Fichtes enthält schon die Differenzschrift „Thesen" zu diesem Thema: Hauptangriffspunkt seiner Fichte-Kritik ist die Trennung von „reinem" und 178

„empirischem" Bewußtsein. Das reine, mit sich selbst identische Ich ist für ihn das Resultat einer Abstraktion des reinen Selbstbezugs des Bewußtseins aus der Mannigfaltigkeit der Bestimmungen und Verhältnisse des inhaltsbezogenen Wissens. Der Gegensatz zwischen reiner Identität und Mannigfaltigkeit des Bewußtseins werde bei Fichte absolut gesetzt. Für Hegel hat das philosophische System dagegen ~en Nachweis zu führen, daß es „nur reines Bewußtseyn gibt" bzw. daß die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen des empirischen Bewußtseins Produkt des reinen Bewußtseins ist (IV 36). Das „reine Bewußtsein" wird als erzeugendes Prinzip der Mannigfaltigkeit einsichtig, wenn man es als „intellektuelle Anschauung" begreift, die die trennende Reflexion wie die Anschauung der Einheit der Gegensätze umfaßt (vgl. o. S. 165). Trotz dieser „Versicherung" bleibt es aber ein zentrales Problem der frühen Jenaer Philosophie Hegels, wie die Einheit von reinem und empirischem Bewußtsein zu denken ist und wie sie im Bewußtsein selber nachgewiesen werden kann. Der Naturrechtsaufsatz stellt einen entscheidenden Fortschritt für die Lösung dieses Problems dar, weil er das Wesen eines Prinzips reiner Identität, das gleichwohl Gegensätze zu „produzieren" vermag, darin sieht, das „absolut negative" bzw. das „ unvermittelte Gegentheil seiner selbst zu seyn" (IV, 464 ). ,Gegenteil seiner selbst' ist für Hegel jetzt der wahre Begriff der U nendlichkeit; was Gegenteil seiner selbts ist, enthält in dem einfachen Selbstbezug die Möglichkeit der Unterscheidung von sich, der „Expansion" in die Vielheit und des „Zurücknehmens" der Vielheit in sich. Gegenteil seiner selbst zu sein ist das Auszeichnende der Intelligenz. 184 In der Intelligenz allein ist nach Hegel „die Individualisirung zu dem ab179

soluten Extrem, nemlich zum absoluten Begriffe, das negative bis zum absolut negativen, das unvermittelte Gegentheil seiner selbst zu sein, getrieben". Die Intelligenz ist nämlich „allein fähig, indem sie absolute Einzelheit ist, absolute Allgemeinheit zu sein" (ebd.). Damit hat Hegel die entscheidende Bestimmung seiner späteren Bewußtseinstheorie schon im Naturrechtsaufsatz formuliert. Man kann auch bereits sehen, welch entscheidende Funktion die Anerkennung in einer solchen Theorie einnehmen wird: sie ist ja der Prozeß, in dem sich für das Bewußtsein selbst erweist, daß und wie es Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit ist. In Ansätzen hat Hegel dies bereits im System der Sittlichkeit durchgeführt: im Anerkennungsprozeß der gemeinsamen Arbeit, der Rede, der Familie etc. erweist sich, daß das Bewußtsein Einzelheit im Sinne der Individualität nur sein kann, indem es sich zum allgemeinen Bewußtsein „bildet" -und umgekehrt. Wieso kann man dann sagen, das System der Sittlichkeit besäße kein einheitgebendes Prinzip, das in einer Theorie des Bewußtseins ausgewiesen wird? Hegel selber hat zu Beginn des dritten Teils („Sittlichkeit") seine Erkenntnisse des Naturrechtsaufsatzes für das Problem der Einheit von „reinem" bzw. „absolutem" und empirischem Bewußtsein fruchtbar gemacht. Das „lebendige Individuum" heißt es da, sei dem „absoluten Begriff" gleich, sein „empirisches Bewußtsein" sei „eins ... mit dem absoluten". (53) Der Grund dafür liegt im Wesen der „Intelligenz", die mit denselben Worten wie im Naturrechtsaufsatz als „Gegenteil seiner selbst" bestimmt wird (ebd.). Weil sie dies .ist, kann in ihrem „individuellen", „empirischen Sein und Tun" das Gegenteil des Empirisch-Individuellen, der „allgemeine absolute Geist" handeln und bewußt werden (ebd.). 180

Diese Einheit soll im System der Sittlichkeit im Ausgang von den unmittelbaren Formen des empirischen Bewußtseins aufgewiesen werden. In der natürlichen Sittlichkeit aber besteht zwischen dem einzelnen und dem allgemeinen Bewußtsein eine Differenz, die nicht aufzuheben ist, solange die Einzelheit noch selbständig ist und nicht erkannt hat, daß ihre „Bedeutung ganz allein im Ganzen" liegt (ebd.). Wie soll es nun von diesem „nicht sittlichen empirischen Bewußtsein" zum sittlichen Bewußtsein kommen, das als „Grund" für das „Einssein des Allgemeinen und Besonderen" das Allgemeine selber weiß (54)? Wir kommen damit wieder auf das oben erörterte Problem zurück: Hegel vermag im System der Sittlichkeit den Übergang von den Formen der „natürlichen" bzw. der „negativen" Sittlichkeit zur wahren Sittlichkeit nicht als notwendigen Fortgang darzustellen, der in der „Natur" der relativen Sittlichkeit selbst, und d. h. in ihrem Element und Träger, dem einzelnen Bewußtsein begründet ist. Das „empirische Bewußtsein" bleibt innerhalb des „Verhältnisses" und seiner einseitigen, unvollständigen Negation befangen. Die wahre Sittlichkeit aber setzt die „völlige Vernichtung der Besonderheit und der relativen Identität" (52) voraus. Hegel kann zwar argumentieren, daß das Bewußtsein als Gegenteil seiner selbst die „relative Identität" aufheben bzw. als eins mit ihrem Gegenteil, der absoluten Indifferenz, setzen muß. Aber solange er die Formen der Praxis, in denen diese Aufhebung „verkörpert" ist, nicht angeben und diesen Übergang nicht als einen dem „empirischen Bewußtsein" immanenten Prozeß darzustellen vermag, ist die Einheit von empirischem und absolutem Bewußtsein auch nicht im System erwiesen, sondern vorausgesetzt. Worin liegt nun das entscheidend Neue der Bewußt181

seinstheorie des Systementwurfs von 1803/1804, das die Lösung dieses Problems gestattet? Ich versuche, es in drei Punkten zusammenzufassen: 1) Das gesamte System geht jetzt vom Begriff des Geistes aus. Der erste Teil - die nicht erhaltene Logik und Metaphysik „construirte", wie Hegel sagt, „den Geist als Idee" (VI, 268). Der zweite Teil, die Naturphilosophie, zeigt die „Expansion" dieser Idee in die Äußerlichkeit des Verhältnisses; der dritte, die Geistphilosophie, stellt die Zurücknahme ins absolute Selbsterkennen dar. Das Bewußtsein, der Grundbegriff des dritten Teiles, ist damit von vornherein als Stufe der Entwicklung des Geistes konzipiert. 2) Die „Idee" des Geistes ist die Einheit von Sein und Werden. 185 Auch das . Bewußtsein ist damit grundsätzlich als „ Werden" bzw. als Entwicklung bestimmt. Als Werden ist es Gegensatz von „Thätigkeit" und „Passivität" - als Sein zugleich die Einheit beider. 3) Faßt man diese der Idee des Geistes entnommenen Bestimmungen und den im Naturrechtsaufsatz e;kannten Grundzug der Intelligenz, Gegenteil seiner selbst zu sein, zusammen, so ergibt sich die folgende Struktur des Bewußtseins im Systementwurf von 1803/1804: das Bewußtsein ist „das unmittelbare einfache Gegentheil seiner selbst, einmal das einem, dessen es sich bewußt ist, entgegengesetzte sich in thätiges und passives trennend und das andremal das Gegentheil dieser Trennung, das absolute Einsseyn des seyenden und des aufgehobenen Unterschiedes" (266 f.) . Gleichsam als Kurzform für diese Struktur bezeichnet Hegel das Bewußtsein auch als Einheit von „Einfachheit" (unmittelbarer Selbstbezug, aufgehobene Trennung) und „Unendlichkeit" (Gegenteil seiner selbst, in der Einheit mit sich verbleibende Trennung). Diese Bestimmung des Bewußtseins erlaubt es nun, aus 182

dessen „Wesen" selbst sein Entwicklungsgesetz abzuleiten. Die Entwicklung des Bewußtseins enthält die folgenden drei Phasen: 1) das Bewußtsein als Tätigkeit setzt eine „Trennung" in sich selbst; 2) durch die Erkenntnis dieses Gegensatzes in ihm selber als „ Widerspruch" hebt das Bewußtsein die Identität seiner selbst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe - auf; 3) durch eine „Reflexion seiner selbst in sich selbst" (312) erreicht es eine neue Stufe. - Damit ist im Prinzip das Gesetz der Entwicklung des Bewußtseins zum Geist durch eine Folge von Reflexionen gefunden, das dann in der Realphilosophie von 1805/ 1806 und vollends in der Phänomenologie zur Methode der Geistphilosophie wird. Im Systementwurf von 1803/ 1804 hat Hegel von dieser Methode erst sehr unvollständig Gebrauch gemacht. Zwar faßt er die Formen des theoretischen und praktischen Geistes als „Potenzen" bzw. Entwicklungsstufen des Bewußtseins - aber nur an einer Stelle ist der Übergang von einer Entwicklungsstufe zur anderen im vollen Sinne als „Reflexion" durchgeführt. Diese Stelle ist allerdings für die Einheit der praktischen Philosophie in diesem Entwurf entscheidend: sie zeigt nämlich, wie das Bewußtsein durch das Streben nach Vollendung der Anerkennung seine Einzelheit zur „Totalität" steigert und dadurch in einen Widerspruch gerät, der notwendig zur Erfahrung seiner Einheit mit dem allgemeinen Bewußtsein im Volksgeist führt. Um den Zusammenhang der „neuen" Bewußtseinstheorie mit dem Gedanken der Anerkennung - als einheitgebendem Prinzip der praktischen Philosophie - sichtbar zu machen, muß diese Stelle näher erläutert werden. Hegel versteht „Bewußtsein" in diesem Systementwurf nicht als Subjektivität im Sinne der Transzendentalphilosophie, sondern als eine „Organisation von Mitten" 183

(vgl. VI,276). „Mitte" ist dasjenige, worauf sich die Gegensätze von Tätigkeit und Passivität, „bewußtseyendes" und Gegenstand, Einfachheit und Unterschied „ beziehen, in dem sie eins sind, aber [als] dasjenige, woran sie sich ebenso unterscheiden" (275). Sie erscheint zudem selber noch einmal als in sich „gedoppelt": als „ideelle" Mitte Gedächtnis, Arbeit und Familie - und als „dauernde, allgemeine Existenz" - Sprache, Werkzeug und Familiengut (vgl. 279). Diese Folge von doppelten Mitten bzw. „Potenzen" weist noch auf das System der Sittlichkeit und seine Orientierung an Schellings Begriff der Potenz zurück. Aber jetzt geht es nicht mehr um eine Folge von wechselseitigen Subsumtionen, sondern um einen Entwicklungsprozeß des Bewußtseins, in dem es seine eigene Struktur - Einheit von Einfachheit und Unendlichkeit zu sein - zunehmend erkennt. Statt einer solchen Einheit erweist sich das Bewußtsein aber am Ende der ersten Mitte - Sprache und Gedächtnis - als leere, punktuelle Einheit der Individualität, der die „Totalität der Bestimmtheiten" (296) als fremde „Realität" gegenübersteht. Es ist damit das „Gegenteil dessen, das es in sich zustande bringen wollte" (295). Dieser Widerspruch ist aber noch nicht „ für es" .186 Dazu kommt es erst in der Entwicklung des praktischen Bewußtseins. Praktisches Bewußtsein ist in diesem Text von vornherein als Negativität bestimmt - es wird dies nicht erst in einer besonderen Potenz, wie im zweiten Teil des Systems der Sittlichkeit. Es ist die Realisation des reinen Fürsichseins als negierende, Unterschiede aufhebende Tätigkeit. Damit ist es implizit auch von vornherein gegen den Unterschied seiner selbst von der Totalität der Bestimmtheiten gerichtet. Was es zunächst in der Potenz des Werkzeuges - erfährt, ist aber nur, daß es von dem, was es negieren will, nicht unabhängig ist, 184

sondern das Bewußtsein seiner selbst nur in einem Anderen hat. Auch dies „mißversteht" es aber zunächst in dem Sinne, daß es die Einheit seiner selbst mit dem Anderen seinem ausschließenden Fürsichsein selbst zuschreibt, sich selbst in seiner Einzelheit als „Totalität" versteht. Erst im Kampf um Anerkennung wird die Unvereinbarkeit von ausschließender Einzelheit und Totalität, Einheit der Gegensätze, bewußt. Der Widerspruch, daß das Bewußtsein sich im Anderen nicht als ausschließende Totalität anschauen kann, ohne entweder sich oder den Anderen zu vernichten, führt zu der oben angedeuteten Reflexion des Bewußtseins in sich selbst, in der es sich vom Bewußtsein der Individualität zum Bewußtsein des Volksgeistes „ umkehrt". Anerkennung begründet also den notwendigen Zusammenhang zwischen den Formen des einzelnen praktischen Bewußtseins und dem Volksgeist mit seinen Institutionen. Im Prozeß der Anerkennung realisiert sich das W esen des Bewußtseins, Gegenteil seiner selbst zu sein - der „Widerspruch" des Kampfes und der Umschlag einer Form des Bewußtseins in ihr Gegenteil macht dieses „ Wesen" für das Bewußtsein selber erfahrbar. Das gilt auch für die übrigen Bestimmungen der Struktur des Bewußtseins. In der Familie, deren Grundbeziehung der Liebe nach der Analyse im ersten Kapitel dieser Arbeit das erste wesentliche Moment der Anerkennung ausmacht, wird das Bewußtsein sowohl als aktive wie als passive Beziehung zwischen Individuen entfaltet und gewinnt in Ehe, Kind und Familienbesitz „gegenständliche" Existenz. Diese Einheit von Fürsichsein und Gegenständlichkeit, Aktivität und Passivität bleibt aber innerhalb des Bewußtseins der Einzelheit - und damit der ausschließenden, negativen Tätigkeit des einzelnen praktischen Bewußtseins. Der Kampf ist nun selber eine 185

„Mitte", 187 in der sich solche ausschließenden Totalitäten zugleich aktiv und passiv aufeinander beziehen. Eine Mitte aber, die sich durch die Tätigkeit des Bewußtseins selbst zerstört - im Tode oder der Knechtschaft der Unterlegenen auseinanderfällt - und dadurch eine Reflexion des Bewußtseins auslöst. Dadurch hebt sich das „empirische" Bewußtsein, dem ein „anderes", „ungleiches" entgegengesetzt ist, auf und wird „absolutes Bewußtseyn", das „diß andere als es selbst" weiß (274). Die Bewußtseinstheorie ist aber nicht nur die Voraussetzung dafür, daß die Anerkennung nun eine Schlüsselfunktion im System der praktischen Philosophie erhält. Es gilt auch umgekehrt: vom Prinzip der Anerkennung her wird das Bewußtsein als die Bewegung bestimmt, sich durch die Selbstanschauung im Anderen als Individualität zu erfahren und zugleich zum allgemeinen Bewußtsein zu bilden. Das zeigt sich deutlich erst in der Realphilosophie von 1805/ 1806. In ihr wird Bewußtsein nicht mehr als „Organisation von Mitten" verstanden, sondern als Selbstbewußtsein, das durch die Bewegung bestimmt ist, sich im Anderen als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit anzuschauen. Was bedeutet das? Ist die „Bewußtseinstheorie" in der Realphilosophie wesentlich verändert? Die Grundbestimmung des Selbstbewußtseins bleibt auch in der Realphilosophie die des „Gegenteils seiner selbst". Die Entwicklung dieses Gedankens hatte im Systementwurf bereits dazu geführt, daß das Bewußtsein nicht mehr nur „Gegenteil seiner selbst in bezug auf eine Bestimmtheit" ist, wie im System der Sittlichkeit (SdS 33), sondern daß jedes seiner Momente selber Gegenteil seiner selbst ist (vgl. VI, 273) - und damit auch die Beziehung zwischen seinen Momenten. Das bedeutet, daß die Trennung zwischen Einfachheit und Unendlichkeit, 186

Einzelheit und Allgemeinheit zugleich ein Ineinssetzen der Momente ist. Da die Realphilosophie das Bewußtsein weniger als Beziehung denn als „Tun" auffaßt, weniger als „Organisation" denn als Organisieren, gewinnt dieser Gedanke in ihr die folgende Wendung: was ist ein Tun, das a) in sich selbst zugleich Vereinigen und Trennen ist - und b) seine Glieder in eine Beziehung setzt, die sie gleichsam vereinigend trennt und trennend vereinigt? Die Antwort kann für Hegel nur lauten: das Schließen. Folglich ist der Schluß die wesentliche Bewegungsform der Realphilosophie und ihre Darstellung eine Folge von Schlüssen (s. o. S. 138). Mehr noch: jede Form des Selbstbewußtseins wird jetzt als ein Schluß verstanden. Das theoretische Ich wird ebenso als Schluß in sich selbst bestimmt wie das praktische. Als „Gedächtnis" z. B. ist das Ich Einzelheit, insofern es das „Tun" bzw. die „Bewegung" des Unterscheidens ist - zugleich aber Allgemeinheit als die „Ordnung" der Bestimmungen, Unterschiede, Gegensätze (vgl. VIII, 195). Der Gegensatz zwischen beiden Momenten erscheint zunächst als Gegensatz zwischen Ich und Ding, erweist sich aber als Strukturmoment der Intelligenz selbst. Ihr „Schluß" besteht darin, daß die Momente der Allgemeinheit und Einzelheit sich voneinander unterscheiden, jedes aber ebenso sehr als Einheit seiner selbst und seines Gegenteils erscheint. Das bedeutet aber nicht, daß - wie in der Schlußlehre der Logik von 1804/ 1805 - die wechselseitige Bestimmung der Einzelheit durch die Allgemeinheit und umgekehrt dahin führt, die „scheidende Mitte" zugunsten einer unmittelbaren Identität aufzuheben. Vielmehr ist sowohl ihre Entgegensetzung wie ihre Einheit ein „Drittes". Zugleich aber kann jedes selber „Drittes" sein, denn das Dritte ist nichts anderes als „die Beziehung durch den Gegensatz" (200). Das Dritte ist selber die Be187

wegung des Entgegensetzens, Beziehens und Ineinssetzens. Diese Bewegung aber ist selber identisch mit der Einzelheit (Tun, Negativität) wie der Allgemeinheit (bewegte Ordnung, Einheit der Gegensätze). Dies gilt auch für das praktische Ich bzw. den Willen und die höheren Stufen des Geistes. Der Wille ist schon in sich ein Schluß: als Zweck seiner selbst ist er Allgemeines, als Tätigkeit bzw. „Wirklichkeit" ist er Einzelnes und als Trieb die „Mitte dieser beyden" (202). Daher ist die Bewegung des Willens ein Prozeß des Sich-Entzweiens seiner Extreme und des Vermittelns bzw. Zusammenschließens. Das Selbstbewußtsein als Tätigkeit des Schließens und als „System" von Schlüssen darzustellen ist offenbar eine konsequente Weiterbildung der Theorie des Bewußtseins als „Gegenteil seiner selbst". Denn das bedeutet, sich nur durch das „Dirimieren" in sich - und das Ineinssetzen des Dirimierten - auf sich selber beziehen zu können. Und es bedeutet ferner, daß ein solches Ineinssetzen nur zwischen „Extremen" möglich ist, die in sich selbst diese ganze Bewegung enthalten. Daß für diese Struktur die Bewegung der Anerkennung gleichsam „Pate gestanden" hat, ist leicht zu sehen: sie besagt ja gerade, daß die Selbstbeziehung - das „ Selbst" nur durch eine Beziehung auf ein Anderes möglich ist, die a) sowohl Trennung wie Vereinigung (Kampf und Liebe) ist; b) Beziehung auf ein Anderes, das ebenso „Selbst" ist; c) eine Beziehung zwischen Extremen, die selber ihr „Sein" im „Anerkanntsein" haben, also selber ihre Beziehung sind. Man kann also sagen, daß in der Realphilosophie Bewußtseins- und Anerkennungstheorie sich gegenseitig bestimmen und einander entsprechen. Das ist der tiefste Grund dafür, daß Hegel die Geistphilosophie von 1805/ 1806 durchgängig als einen Prozeß des Anerkennens dar188

stellen konnte. Ein weiterer Grund kommt hinzu: Das nicht nur selbstbezügliche, sondern auch sich selbst vergegenständlichende Tun des Bewußtseins nennt Hegel in Anknüpfung an die Terminologie Fichtes - jetzt „Willen". Und den durch den Bezug auf einen anderen Willen „selbstbewußt" bzw. vernünftig gewordenen Willen - im Anschluß an Rousseau und Kant - „allgemeinen Willen". Die Konstitution und die Konkretion dieses allgemeinen Willens aber bestimmt den größten Teil der Geistphilosophie von 1805/1806. Nun ist das „Andere", auf das sich dieser allgemeine Wille bezieht, um seine „Identität" zu gewinnen, für Hegel in diesem Text nicht in erster Linie die Natur oder der „subjektive Geist", sondern der einzelne Wille. Der „abstrakte" allgemeine Wille wie der einzelne Wille „ verwirklichen" sich (s. o. S. 90) in einem Prozeß der wechselseitigen Distanzierung und Vereinigung - kurz durch wechselseitige Anerkennung. Das ist der zweite Grund, weshalb die Philosophie des praktischen Geistes in der Realphilosophie von 1805/ 1806 - wie wir im einzelnen noch im vierten Teil sehen werden - als ganze vom Prinzip der Anerkennung bestimmt ist. Mit Hilfe dieses Prinzips aber kann Hegel nun zeigen, daß es im Wesen des freien Selbstbewußtseins bzw. des vernünftigen Willens selber liegt, sich durch Selbstaufhebung der Individualität im Geist und den „Organisationen" des politischen Ganzen, des Staates, zu verwirklichen. Anerkennung ist somit das für Hegels Erneuerung der praktischen Philosophie notwendige Prinzip: ein Prinzip, aufgrund dessen sich die Selbstbeziehung des Bewußtseins als Einheit der Gegensätze bzw. als Totalität entfaltet, die das Bewußtsein der Individualität gleichsam „sprengt". Die Selbstanschauung dieser Totalität im Anderen - und das bedeutet, wie w!J- schon im 189

ersten Teil gesehen haben, die Freiheit - ist nur im Geist des Volkes (Hegels Übersetzung für „polis") möglich. Das Bewußtsein der Freiheit selber kann mithin nicht im Rahmen des „Individualismus" des modernen Naturrechts, sondern nur von der Polis her begriffen werden wie Hegel sie versteht: nicht als „ technische" Organisation eines vernünftigen Gemeinwesens und nicht als bloße Sicherung von Rechtsverhältnissen zwischen Individuen, sondern als „Substanz" der Einzelnen und als Erfüllung des „Begriffs" ihrer Freiheit. Mit Hilfe der Anerkennungstheorie wird die Gemeinschaft und ihre Institutionen aus dem Begriff des freien Selbstbewußtseins selber entwickelt: das ist Hegels Versöhnung der aristotelischen Tradition mit dem Prinzip der Transzendentalphilosophie. Das bisherige Ergebnis unserer Darstellung der Entwicklung von Hegels praktischer Philosophie in Jena lautet: Hegel besitzt die Mittel zur Ausführung einer seinen ursprünglichen (Jenaer) Intentionen entsprechenden praktischen Philosophie erst seit dem Systementwurf von 1803/ 1804. Die Ausführung selber aber erfolgt erst in der Realphilosophie von 1805/ 1806. 188 Das heißt nun aber nicht, daß die gesamte Entwicklung der Jenaer Geistphilosophie „linear" auf diesen Text zuläuft. Ich habe oben (S. 169) schon auf einander widerstreitende Entwicklungstendenzen hingewiesen. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß in der Realphilosophie wie in keiner der früheren Schriften Elemente der späteren („enzyklopädischen") Systematik der Geistphilosophie - wie sie sich seit der Propädeutik von 1808 durchsetzt - auftauchen. Ich möchte im folgenden Abschnitt zeigen, daß diese Elemente die erörterte Konzeption der praktischen Philosophie Hegels in Jena nicht grundsätzlich verändern.

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5. Praktische Philosophie in der „späten" Jenaer Geistphilosophie ( 1805/1806)

Die besondere Stellung der Jenaer Realphilosophie von 1805/ 1806 - genauer ihres geistphilosophischen Teils sowohl den früheren wie den späteren Schriften Hegels gegenüber läßt sich, so scheint mir, am besten dadurch verdeutlichen, daß man zeigt, wie in ihr der „Grundriß" der späteren Geistphilosophie, die Unterscheidung in subjektiven, objektiven und absoluten Geist zwar zum Vorschein kommt, aber noch nicht bestimmend wird. a) Der erste Teil der Geistphilosophie von 1805/ 1806 („Der Geist nach seinem Begriff"), der die Abschnitte „Intelligenz" 189 und „Wille" umfaßt, scheint - das hat schon Hoffmeister zu einer entsprechenden Überschrift veranlaßt 190 - dem Hegelschen Konzept des „subjektiven Geistes" zu entsprechen. D ie „Ausdifferenzierung" und Verselbständigung der Formen des theoretischen Bewußtseins bahnt sich bereits im Systementwurf von 1803/ 1804 an. Was aber dort noch Moment einer Tätigkeit und Passivität, Bewußtsein und Gegenständlichkeit vereinigenden „Mitte" war („Sprache und Gedächtnis"), ist jetzt ein selbständiger Prozeß des Geistes, seine eigene Unmittelbarkeit - die auf ein „Sein" gerichtete Anschauung (VIII, 316) - aufzuheben und sich als „Negativität", d. h. als sich in sich selbst „dirimierendes" Tun zu erkennen (199). Daß dieses Tun zur „Erzeugung" eines eigenen Inhalts in der Lage ist, daß es „sich als sich zum Gegenstande machen" (202) und in einem selbständigen Anderssein anschauen kann, zeigt aber erst die Entfaltung des „Willens". Ihr Ziel ist, wie die Metaphysik der Subjektivität 1804/ 1805 vorgezeichnet hatte, das Wissen der Einheit von Intelligenz und Willen, von der her die Selbständigkeit der Intelligenz sich wiederum als „ab191

stracte", aufzuhebende erweist (vgl. VIII, 223 ). Der Abschnitt „ Willen" enthält aber nun Formen des Geistes, die der späteren Systematik nach entweder zur Phänomenologie, d. h. den Formen des erscheinenden Geistes, gehören - oder zum objektiven Geist, wie die Familie. Sie werden an dieser Stelle behandelt, weil die Realphilosophie an einem Grundgedanken der Jenaer praktischen Philosophie festhält, den Hegel später aufgegeben hat: das System der Institutionen, d. h. der Selbstgestaltungen des Willens einer Gemeinschaft, zugleich als Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins darzustellen, innerhalb derer die Interaktionsformen erörtert werden, die notwendig sind, um dem Einzelnen seine Identität mit dem allgemeinen Geist zum Bewußtsein zu bringen. Diese Einheit wird später getrennt: „bildungsgeschichtliche" Aspekte werden nur noch im subjektiven Geist behandelt, während das System der Institutionen als Selbstentfaltung des objektiven Geistes dargestellt wird (s. u. Kap. V, 2). b) Von den früheren Texten her muß auch der zweite Teil der Geistphilosophie von 1805/ 1806, dem Hegel selber den Titel „ wirklicher Geist" gegeben hat, als eine Annäherung an die Konzeption vom objektiven Geist wirken. Seine Inhalte, die Formen des Rechts und der ökonomischen Beziehungen waren im System der Sittlichkeit noch verteilt auf die natürliche Sittlichkeit - deren umfassende Gestalt die Familie ist - und die absolute Sittlichkeit, im Systementwurf von 1803/ 1804 dagegen ausschließlich dem Volksgeist zugeordnet. Daß sich die Sphäre des Rechts und der Ökonomie zwischen die Familie und den Staat schiebt, ist mit Recht auf Hegels vertiefte Rezeption der Nationalökonomie zurückgeführt worden. 191 In der von Familie, Stand und Staat unabhängigen Sphäre des Austausches und der wechsel192

seitigen Abhängigkeit bildet sich eine äußerliche, noch nicht durch gemeinsame Zwecke bestimmte Form des allgemeinen Willens. Sie ist eine wichtige Vorstufe zu Hegels späterer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Horstmann 1975). Aber warum nennt Hegel diesen Teil der Geistphilosophie „ wirklicher Geist"? Ist diese „ Wirklichkeit" mit der „Objektivität" des objektiven Geistes identisch? Was der§ 483 der Enzyklopädie über den objektiven Geist sagt, daß nämlich in ihm der freie Wille sich in dem „äußerlichen Material" der partikularen Bedürfnisse, der äußeren Naturdinge und des Verhältnisses von einzelnem zu einzelnem Willen „Dasein" gebe, trifft auch auf den zweiten Teil der Geistphilosophie von 1805/ 1806 zu. Der entscheidende Gesichtspunkt ist aber nicht, daß sich die Freiheit zur „ Wirklichkeit einer Welt" gestaltet und die „Form von Notwendigkeit" erhält(§ 484) - also quasi eine Natur aus sich setzt - sondern daß der „abstracte Wille" in der „geistigen Wirklichkeit" des „Anerkanntseyns" aufgehoben wird (VIII, 223). „Abstrakt" ist der Wille als „in seine reine Einheit reflectirter" (221) und abstrakt ist auch die Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen, die nur darin besteht, daß der „ Wille eines jeden wissender ist" (ebd.). Der Begriff der „Wirklichkeit " bezeichnet dagegegen den Geist als ein Netz von Interaktionen - Recht, Tausch, wechselseitige Dienstleistungen - selbstbewußter Willen. Wie im „Volksgeist" des Systementwurfs von 1803/ 1804 werden nun im „Element" dieses „geistigen Seins" die Beziehung des Einzelnen auf die Natur und den Anderen - Arbeit, Begierde, Besitz - gleichsam wiederholt.192 Das Neue an der Realphilosophie ist aber, daß in dieser „ Wiederholung" noch nicht das Leben des Volksgeistes dargestellt wird, der in diesen „anerkannten", gesellschaftlichen Tätigkeiten „atmet" und sich an-

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schaut, sondern ein Prozeß der Auseinandersetzung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen, in dem sich deren „abstrakte" Einheit in sich differenziert. Der Bildungsprozeß der Einheit beider ist nämlich noch nicht abgeschlossen, solange der Einzelne sein „Insichreflektiertsein" für ein allgemeines Gesetz hält, und solange andererseits der in den Formen von Gesetz und Recht daseiende gemeinsame Wille dieses „absolute Insichsein" des Selbst noch nicht als Moment seiner selbst anerkannt hat. Die Darstellung der Rechtsinstitutionen, der - mit dem späteren Begriff - „bürgerlichen Gesellschaft" und der sie regulierenden Staatsgewalt („das gewalthabende Gesetz"), am Leitfaden eines Prozesses der Anerkennung zwischen einzelnem und allgemeinem Willen, unterscheidet die Realphilosophie aber auch von der späteren Theorie des objektiven Geistes. c) Auch zu einer Verselbständigung des absoluten Geistes gibt es - im dritten Teil der Geistphilosophie - deutliche Ansätze. Und zwar deshalb, weil sich die Stellung von Religion und vor allem Philosophie zum Staat gegenüber den früheren Texten in signifikanter Weise ändertobwohl beide dem Abschnitt „Konstitution" zugeordnet sind, der die „äußere feste Organisation" des Staates und die „Gesinnungen" seiner Stände behandelt (265). Die .Knderung wird am deutlichsten sichtbar, wenn man den Schlußabschnitt der Realphilosophie mit der sogenannten Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit vergleicht. Im System der Sittlichkeit war die Religion auf zweifache Weise als Vollendung der absoluten Sittlichkeit bestimmt: als kultischer Nachvollzug der „Geschichte" des christlichen Gottes (Schöpfung, Menschwerdung, Opfer) machte sie die Versöhnung von Natur und Geist dem Individuum anschaubar und gleichsam „praktizierbar" (vgl. Trede 1973). Durch diese kultische Erhebung 194

in die Geschichte des Absoluten löste sie das Individuum zugleich von den Schranken seines Standes und der bestimmten geschichtlichen Situation seines Staates. Allerdings konnte nach dem System der Sittlichkeit nur eine neue Gestalt der Religion dieses „Einswerden der Individualität mit dem absoluten Geist" (R 137) vollenden eine Religion, die auf Philosophie gründet und in einem „freien Volk" als Volksreligion vollzogen werden muß. Religion und Philosophie gehen somit zwar über den bestimmten Staat und seine historischen Bedingtheiten hinaus, aber nicht über den Staat als solchen. In der Realphilosophie von 1805/ 1806 sieht Hegel dagegen Religion und Staat in einem Gegensatz, den nur Philosophie versöhnen kann. Zwar gilt für die Religion als „Kirche" noch eindeutiger als im System der Sittlichkeit, daß sie der Vollendung der Sittlichkeit im Staat dient: nicht nur, weil sich in ihr der Einzelne über seinen Stand erhoben und vor Gott „dem Fürsten gleich" weiß, sondern viel direkter, weil sie den Staat zugleich vor dem Einzelnen legitimiert, weil sie seine „Garantie" bzw. „Sicherheit" ist (VIII, 285). Während aber die Kirche als äußere Institution dem Staat untergeordnet ist, geht die religiöse Gesinnung über ihn hinaus: Sie setzt dem Staat eine wahrere jenseitige Welt entgegen, in der sie sich mit dem göttlichen Geist identisch weiß. Diese Spaltung in zwei Welten, den „wirklichen", „daseienden" absoluten Geist des Staates und den „gedachten" Geist der jenseitigen Versöhnung Gottes mit seiner Gemeinde ist für das Verhältnis von Staat und Religion notwendig, 193 muß aber zugleich von der Philosophie überwunden werden. Die Philosophie weiß den absoluten Geist als die Bewegung, sich als Unmittelbarkeit, Wirklichkeit zu setzen und diese Wirklichkeit aufzuheben. Sie weiß daher den Staat als „Dasein" des göttlichen Geistes. Das bedeutet: 195

in ihr begreift sich der absolute Geist selber als Einheit von Dasein und Denken (vgl. 286; s. o. S. 169). Diese Einheit begreift der Geist in der Philosophie aber nur, indem er sich selber als Unmittelbarkeit setzt und zu sich zurückkehrt. Dazu muß sich die Philosophie „entäußern" an das „sinnliche Bewußtseyn" (287), das entzweit ist in die Natur und das Wissen von sich. Aus dieser Entzweiung kommt der Geist durch die Bewegung des Begriffs in der Natur und der „Weltgeschichte" zu sich zurück. Dadurch kann sich zugleich das System der Philosophie vollenden und in seinen Anfang zurückgehen: in der spekulativen Philosophie wird das Resultat der Weltgeschichte, das „Wissen" der Einheit von Natur und Geist (vgl. ebd.), selber in der „Form des Begriffs" dargestellt . An welcher Stelle im System die Darstellung der Entäußerung des Geistes ins „unmittelbare Bewußtsein" oder an welcher die Weltgeschichte behandelt werden muß, geht zwar aus dem Text nicht klar hervor. Deutlich ist aber, daß der Abschluß der Geistphilosophie jetzt die Philosophie ist - nicht mehr die Religion wie noch in der Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit. Die Versöhnung von Staat und Kirche findet nicht in einer neuen Volksreligion statt, sondern in der philosophischen Theorie. Andererseits zeigt die Behandlung von Religion und Philosophie im Abschnitt „Konstitution", daß Hegel beide zugleich auch als „Institutionen" in einer Gemeinschaft, als Gestaltungen des Geistes dieser Gemeinschaft betrachtet. Aber nicht nur als solche gehören sie zur praktischen Philosophie. Vielmehr auch darum, weil erst in ihnen der Prozeß der Anerkennung zum Abschluß kommt: in Religion und Philosophie kann sich das reine Fürsichsein des Einzelnen als „absolut" wissen - als identisch mit dem Geist, der sich in den Verfassungen der Staaten „Dasein" gibt und der zugleich in 196

seinem Sich-Wissen von jedem historisch bestimmten Staat unabhängig ist. Der Prozeß des Sich-Anschauens im Anderen und des Sich-Wissens als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit, der mit den „Schlüssen" der Liebe und des Kampfes beginnt, kommt damit zum Ziel. Weil Religion und Philosophie in der Realphilosophie selber Bedingungen der Freiheit des Selbst in einer Gemeinschaft sind, ist ihre Bedeutung für den Anerkennungsprozeß als der immanenten Bewegung der praktischen Philosophie hier unvergleichlich größer als in der Phänomenologie. Dort ist ja umgekehrt die Einheit von endlichem und absolutem Geist als philosophisches Wissen das Ziel, zu dem bestimmte Formen von Gemeinschaft und sozialem Handeln nur als Vorstufe in Betracht kommen. Auf das Verhältnis dieser Formen zum Gesamtprozeß der Phänomenologie gehe ich noch ein (Kap. III). Indessen verdeckt die Zugehörigkeit der Philosophie zu r „Konstitution" in der Realphilosophie, daß auch dort nicht ganz klar ist, wie sich die „einsame Zwiesprache" des philosophierenden Subjekts mit dem Absoluten in ihm selber zu den freien Institutionen einer Gemeinschaft verhält. Zwar gehören die letzteren zur Bildung seiner Subjektivität wie umgekehrt die denkende Freiheit von ihnen z ur sozialen bzw. politischen Freiheit. Aber besagt die teleologische Konstruktion, die Hegel in der Realphilosophie zum erstenmal konsequent durchführt (Kimmerle 1970, 94 ), nicht doch, daß die Anernung des Anderen zuletzt dem Ziel der denkerischen Freiheit dient? Kann in einem teleologischen Prozeß das Ziel zugleich seine Vorstufen zum Zweck haben? Dies ist das gleiche methodologische Problem, das uns oben im Verhältnis der beiden Anerkennungsstufen begegnet ist (S. 125 f.). Es endgültig aufzulösen sind wir aber auch jetzt noch nicht in der Lage. 197

Die Realphilosophie ist offenb;ir, das habe ich nachzuweisen versucht, weder vom Inhalt noch von der Systematik her eine von den übrigen Jenaer Entwürfen grundsätzlich unterschiedene Vorstufe der enzyklopädischen Systematik. Die Entwicklungstendenzen, die in diese Richtung gehen, waren auch in den früheren Schriften schon angelegt. Die entscheidenden Veränderungen - jedenfalls was die praktische Philosophie angeht - setzen dagegen erst später ein. Insofern ist es legitim, in ihr die „exemplarische" Fassung der Jenaer praktischen Philosophie zu sehen. Aber wie steht es mit ihrer Stellung zu den philosophischen Positionen, von denen sich Hegels praktische Philosophie in den ersten Jenaer Schriften gleichsam „ abstößt"? Manfred Riede! (1969, 61, 97) hat die These vertreten, daß gerade die Anerkennungslehre in der Realphilosophie zu einer Abkehr Hegels von der antiken praktischen Philosophie und zugleich vom „Polisideal seiner Jugendzeit" führe - und daß diese Abkehr als Rückkehr zum Naturrecht Kants und Fichtes verstanden werden müsse. Es gibt in der Tat keinen Zweifel, daß Hegel sich in der Realphilosophie dem neuzeitlichen Naturrecht wieder stärker annähert - vor allem, wenn man die Realphilosophie mit dem Naturrechtsaufsatz vergleicht. Hegel akzeptiert jetzt die Notwendigkeit eines Übergangs von der selbstzerstörerischen Freiheit des Naturzustandes zum Recht durch die - ehedem so scharf kritisierte „Beschränkung" der Freiheit (Siep 1974, 187f.). Er faßt das Recht jetzt nicht mehr als vorstaatlichen Zustand der natürlichen Sittlichkeit, sondern als erste Gestalt des „allgemeinen Willens", in dem sich der Geist von der Naturbestimmtheit befreit hat. Das heißt: er akzeptiert grundsätzlich die Lehre des neuzeitlichen Naturrechts hinsichtlich des Verhältnisses Naturzustand 198

Recht - Staat. Und er übernimmt zugleich Fichtes Begründung des Rechtsbegriffs, den Begriff der Anerkennung, als notwendige Bedingung der Konstitution des einzelnen und allgemeinen Bewußtseins. Es kommt aber darauf an, wie man diese Entwicklung zu verstehen hat: als „Umkehrung" des Verhältnisses von antiker praktischer Philosophie und neuzeitlichem Naturrecht gegenüber den frühen Jenaer Schriften oder als ihre gelungene Vermittlung. Daß Hegel eine solche Vermittlung von Anfang an anstrebt - und nicht etwa eine Renaissance der politischen Philosophie der Griechen und ihres Prinzips, der Polis - haben wir gesehen. Die Belege dafür ließen sich vermehren. Daß es Hegel auch in der Realphilosophie um eine solche Vermittlung geht, läßt sich durch zwei Argumente zeigen: Hegel nimmt prinzipiell nichts von dem zurück, was für ihn die „Wahrheit" der antiken politischen Philosophie ausmacht - und er nimmt ebensowenig seine grundsätzliche Kritik am neuzeitlichen Naturrecht zurück. So kommt es, daß er in der Realphilosophie zwar Elemente der naturrechtlichen Theorie übernimmt, aber ihre Begründung kritisiert und ihre Bedeutung neu bestimmt. Für Manfred Riede! ist die neue Stellung zum Naturrecht durch die Umwertung des Verhältnisses Geist Natur bedingt. Nun hat Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz den Geist als der Natur gegenüber „höher" gekennzeichnet. Die Weiterentwicklung dieses Gedankens führt dazu, daß Hegel schon 1803/1 804 den Begriff der „natürlichen" Sittlichkeit fallen läßt. Davon wird aber das Prinzip seines Rückgangs auf die antike politische Philosophie, die Einsicht, daß das Volk seiner „Natur" nach „eher" als der Einzelne ist, nicht betroffen. Nach wie vor kann das individuelle Bewußtsein zu seiner Selbstverwirklichung nur durch Selbstnegation, 199

durch das Bewußtsein der Einheit seiner selbst mit der „substantiellen" Sittlichkeit eines Volkes, gelangen. Hegel lehnt daher das Kernstück des neuzeitlichen Naturrechts, die Theorie des Vertrages, weiterhin ab, weil in ihr die Einsicht nicht vorhanden ist, daß der allgemeine Wille „durch Negation, durch sich Aufgeben" des Einzelnen entstehe (VIII, 257). Wenn das so ist, dann kann aber im Verhältnis des Rechts zur „Polissittlichkeit" keine Umkehrung eingetreten sein. Schon im Naturrechtsaufsatz hat das Recht eine positive Funktion: dem „Prinzip und System des bürgerlichen Rechts" (IV, 476) muß ein eigener „Spielraum" zugestanden werden. Zugleich muß freilich durch seine Unterordnung unter die absolute Sittlichkeit verhindert werden, daß es „sich für eine Totalität" nimmt (ebd.). Das gilt auch noch für die Realphilosophie : das Recht wird zwar als eine notwendige Stufe der Entwicklung des Bewußtseins zum absoluten Geist aufgewiesen, aber es stellt noch nicht die höchste Sittlichkeit dar. Und das, obwohl das Recht bei Hegel eine ganz andere Funktion hat als im neuzeitlichen Naturrecht: während es dort an das Prinzip der Selbsterhaltung gebunden ist, liegt seine Begründung bei Hegel gerade darin, daß sich in ihm der Wille als frei von allen natürlichen Bestimmtheiten einschließlich des individuellen Daseins - weiß und darstellt. Dem Recht geht ja der Kampf um Anerkennung voraus. Riede! hat recht mit seinem Hinweis darauf, daß das Recht in der Realphilosophie nicht mehr wie im System der Sittlichkeit der Familie als höchster Potenz der natürlichen Sittlichkeit untergeordnet ist, sondern gerade das Bindeglied zwischen der Familie und dem Staat ausmacht. Der Grund dafür ist in der Tat, daß Hegel das Recht jetzt als die Realisierung des „Begriffs" bzw. des 200

„freien Selbstbewußtseins" in der „Bewegung des Anerkennens" auffaßt (Riede! 1969, 63). Nur muß man sehen, daß Hegels Anerkennungstheorie in der Realphilosophie über diejenige Fichtes weit hinausreicht: Zum einen, weil sie durchaus nicht auf das Recht beschränkt ist, da die Bewegung der Anerkennung selber zu seiner Aufhebung in der Sittlichkeit des Volkes nötigt. Zum anderen, weil Anerkennung jetzt nicht mehr nur bedeutet, daß sich die einzelnen Individuen als Personen in das „allgemeine" Verhältnis gegenseitiger Bildung und gegenseitigen Respektierens setzen - wie dies im System der Sittlichkeit der Fall war. Vielmehr bedeutet Anerkennung jetzt die Ueberwindung des Prinzips der Einzelheit im Recht als „Element des allgemeinen anerkanntseyns" (VIII, 223) und auf höherer Stufe in der absoluten Sittlichkeit des Staates. Man wird sagen müssen, daß Hegels Theorie der Anerkennung in der Realphilosophie weiter von Fichte entfernt ist als im System der Sittlichkeit; denn bei Fichte hat Anerkennung nie die Bedeutung der Selbstaufhebung der Einzelheit gehabt. Aber wie steht es mit der aristotelischen Systematik der praktischen Philosophie als Einheit von Ethik, Ökonomie und Politik? Wir haben gesehen, daß Hegel im Abschnitt „wirklicher Geist" den ökonomischen Institutionen eine von Familie und Staat getrennte „Sphäre" zuweist. Daß damit die Ökonomie nicht mehr im klassischen Sinne an der Großfamilie bzw. am „Haus" orientiert ist, stellt in der Tat eine Entfernung von der aristotelischen Gestalt der praktischen Philosophie dar.194 Man muß allerdings zweierlei im Auge behalten: Zum einen ist die Tatsache, daß Hegel im System der Sittlichkeit nicht nur die „Verhältnisse" der Familie bzw. des Hauses, sondern auch die Institutionen des (bürger201

liehen) Rechts, des Tauschs, des Handels und des Geldes innerhalb der natürlichen Sittlichkeit behandelt - und also in der Familie zur „Indifferenz" gebracht sieht -, nicht auf das aristotelische Vorbild zurückzuführen, sondern auf Positionen des neuzeitlichen Naturrechts, etwa die Staatsphilosophie John Lockes. 195 Zum anderen ist es zwar richtig, daß Hegel die Einheit der praktischen Philosophie nicht mehr auf den „natürlichen" Zusammenhang zwischen oikos und polis begründet, sondern auf den Begriff des Selbstbewußtseins. Aber es liegt in der „Natur" dieses Begriffes, daß sich das einzelne Selbst in Wahrheit nur vom Ganzen einer staatlichen Gemeinschaft her verstehen kann. Der Prozeß der Verwirklichung des Selbst ist daher ein Anerkennungsprozeß, der moralische, 196 ökonomische und politische Beziehungen und Institutionen umfaßt. Eben dies aber ist die „Synthese" von klassischer praktischer Philosophie und „idealistischer" Freiheitslehre, die Hegel in den Jenaer Schriften konzipiert hat.

202

III. Anerkennung und Erfahrung des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes

Die Frage nach der systematischen Form der praktischen Philosophie Hegels in Jena kann offenbar nicht an die Phänomenologie des Geistes von 1806/1807 gerichtet werden. Denn ihre Funktion als „Einleitung" bzw. als „ Voraus" der Wissenschaft besteht darin, das natürliche Bewußtsein zum Standpunkt des absoluten Wissens zu führen. Und diese Aufgabe bestimmt auch die Reihenfolge der im Element eines solchen Bewußtseins dargestellten Gestalten des Geistes. Nun haben wir aber im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen, daß Hegel zumindest einen Teil dieses Weges auch als einen Prozeß der Realisierung von „Anerkennung" konzipiert hat - und daß in diesem Prozeß Gestalten des praktischen Selbstbewußtseins bzw. Geistes die maßgebliche Rolle spielen. Daran ändert es nichts, daß das Telos der Anerkennung neben der moralischen Versöhnung auch eine religiöse Gewißheit über die Einheit mit dem . Absoluten umfaßt, die nicht ohne weiteres „praktisch" zu nennen ist (s. o. S. 117). Die Phänomenologie müßte also zumindest einen Beitrag zu der Frage liefern, auf welche Weise der Anerkennungsprozeß die Darstellung der Gestaltenfolge des praktischen Geistes bestimmt und das bedeutet : wie Anerkennung „Prinzip" einer solchen Darstellung ist. Dies aber ist genau die Frage, die uns in diesem und dem nächsten Teil unserer Untersuchung beschäftigt: auf welche Weise ist „Anerkennung" das Prinzip der praktischen Philosophie Hegels in Jena, 203

wie bestimmt dieses Prinzip die Methode seiner praktischen Philosophie - und läßt sich daraus etwas für die gegenwärtige Problematik dieser Disziplin lernen? Meine These ist, daß Hegel in Jena - und vor allem in d.er Phäno~enologie des Geistes - Anerkennung mit emem Begriff von Erfahrung des Bewußtseins verbindet. Gerade diese Verbindung könnte - nach einigen „unhegelschen" Modifikationen - für eine systematische praktische Philosophie fruchtbar gemacht werden. Was also an der Phänomenologie besonders interessiert ist ihre Methode - vor allem die Methode ihrer „prakti~ sehen" Teile. Dabei darf allerdings zweierlei nicht außer acht gelassen werden: zum einen die schon erwähnte besondere Funktion der Phänomenologie - zum anderen die Tatsache, daß dieses Werk, viel stärker als die Realphilosophie von 1805/1806, ein Werk des Überganges ist. Das bestimmt auch ihre Methode: ihr liegt sowohl die Konzeption einer teleologisch in sich geschlossenen spekulativen Logik wie eine Theorie des absoluten Geistes zugrunde, die von der Einsicht in die sich vollendende ge.schichtliche Entwicklung des Geistes und die Lösung semes Selbstbewußtseins von den geschichtlichen Bedingungen seiner Bildung geprägt ist.191 Die Methode 198 der Phänomenologie kann für die praktische Philosophie nur dann von Bedeutung sein, wenn sie selber einen „praktischen" Aspekt hat. Ich möchte im folgenden zeigen, daß ein solcher Aspekt nachgewiesen werden kann - ja sogar nachgewiesen werden muß, wenn die Phänomenologie als ein einheitlich konzipiertes Werk verstanden werden soll. Zunächst sind aber noch einige Vorüberlegungen zum Verhältnis Phänomenologie praktische Philosophie nötig.

204

1. Phänomenologie und praktische Philosophie Hegels Phänomenologie des Geistes ist zweifellos keine praktische Philosophie in dem Sinne, in dem Teile der Jenaer Geistphilosophie als solche bezeichnet werden können: als systematische Darstellung der Formen des praktischen Geistes. Dennoch enthält sie Analysen von Handlungsweisen (Kampf, Arbeit, Vasallendienst, Terror etc.), von Institutionen (Familie, Recht, Monarchie, Regierung etc.) und von geschichtlichen Prozessen (römisches Kaiserreich, Feudalmonarchie, Absolutismus, Aufklärung, Französische Revolution). Die Interpretation der Anerkennungsbewegung in der Phänomenologie (s. o. S. 68 ff„ S. 97 ff.) hat überdies gezeigt, daß das Hauptthema der Jenaer praktischen Philosophie, die Genese des allgemeinen Selbst und das Verhältnis von einzelnem Bewußtsein und Geist eines Volkes, auch ein zentrales Thema der Phänomenologie ist. Wenn dies der Fall ist, dann muß die Methode der Phänomenologie auch für die Behandlung von Fragen der praktischen Philosophie bedeutsam sein - auch wenn sich ihre Bedeutung darin nicht erschöpft. Aber die Funktion der Phänomenologie ist von derjenigen der übrigen Jenaer Texte zur Geistphilosophie grundsätzlich verschieden - das ergibt sich schon aus der Tatsache, daß Hegel seit 1805 gleichzeitig an der Realphilosophie von 1805/1806 und an der Phänomenologie arbeitet. Zudem weist Hegel schon in der Realphilosophie auf die verschiedenen systematischen Absichten beider Werke hin, wenn er bemerkt, daß der „Unterschied" des „Dinges gegen den Verstand ... ihieher eigentlich nicht gehört - sondern Erfahrung des Bewußtseyns" (VIII, 196). Danach würde die Philosophie des Geistes in der Realphilosophie es nicht mit der Überwindung des Gegensatzes Bewußtsein - Gegenstand in der „Erfah205

rung des Bewußtseins" zu tun haben, sondern diese Überwindung schon voraussetzen - wie die spätere „Psychologie" der Enzyklopädie (vgl. Enz § 448). Es läßt sich aber zeigen, daß Hegel in der Realphilosophie noch nicht zu einer eindeutigen Trennung von Phänomenologie und Geistphilosophie in der Lage ist. 199 Das ändert sich bis zur Phänomenologie von 1807, in der die Aufgabe einer Wissenschafl: der Erfahrung des Bewußtseins als Erhebung des „unwissenschafüichen" Bewußtseins auf den Standpunkt der spekulativen Philosophie bestimmt wird. Damit übernimmt sie zum einen die Funktion, die die Jenaer Logik als Kritik der endlichen Verstandesformen hatte (Pöggeler, 1974, 146ff.), und setzt zum anderen die Kritik der Reflexionsphilosophie fort, die Hegel in der Differenzschrifl: und in den Aufsätzen des „Kritischen Journals" begonnen hatte (Bubner, 1973, 15 ff.). Als „ Voraus der Wissenschafl:" setzt sie nicht, wie die Realphilosophie von 1805/1806, die Darstellung der spekulativen Philosophie voraus als selber „wissenschafl:liche" Kritik und somit Teil der Wissenschafl: ist sie aber nur darstellbar aufgrund einer vorgreifenden Kenntnis der eigentlichen „Wissenschafl:", d. h. für Hegel 1807: der spekulativen Logik (PhG 33, vgl. Fulda 1965 ). Die Phänomenologie ist systematische Kritik des nicht spekulativen Wissens, für das der Gegensatz zwischen Ansieh und Für uns, Wahrheit und Gewißheit, Maßstab und Wissen konstitutiv ist. Diese Kritik soll zugleich eine Rechtfertigung der Wissenschafl: und eine „Leiter" zu ihr sein. Eine solche Leiter betreten kann aber nicht das „natürliche Bewußtsein", das die Bedingungen seines Wissens nur „im Rücken" hat, von ihnen geleitet wird, ohne sie zu erkennen, sondern nur das „erscheinende Wissen". 200 Das erscheinende Wissen - das die Eigenschaften des „verständigen" 206

Denkens der Hegel zeitgenössischen philosophischen Bildung besitzt - vermag einen systematischen Erfahrungsprozeß zu durchlaufen, den „Wir", die diesen Prozeß auslösenden 201 Philosophen, in seiner Notwendigkeit einsehen und „wissenschafl:lich" darstellen können. Daß das Bewußtsein zum erscheinenden Wissen werden kann, liegt freilich daran, daß es in seinem Wesen liegt, sich selbst zu prüfen, seinen Maßstab und sein Wissen zu vergleichen. Darin liegt der Anknüpfungspunkt für die Methode der Phänomenologie, auf die wir im folgenden Abschnitt noch genauer eingehen müssen. Die systematische Erfahrungsgeschichte des erscheinenden Wissens umfaßt, wie wir oben angedeutet haben, auch Formen des praktischen Bewußtseins, der Sittlichkeit, ja sogar geschichtliche „Welten" des Geistes. Das für die Phänomenologie charakteristische Thema sind die darin implizierten „Stellungen des Gedankens zur Objektivität". 202 Es geht um den Nachweis, daß diese Stellungen in sich widersprüchlich sind, so lange das Bewußtsein nicht zum „absoluten Wissen" der Identität von Wissen und Sein gelangt ist - zu einem Wissen, das in der „Substanz", der Totalität der Gedankenbestimmungen, die die Objektivi tät konstituieren, die Subjektivität, das sich in sich unterscheidende Tun des Fürsichseins erhalten weiß. Die Tatsache, daß Handlungsweisen, Institutionen und Epochen in der Phänomenologie in erster Linie hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden „Weltanschauungen" 203 in Frage kommen, schließt freilich nicht aus, daß die „Prüfung" solcher Bewußtseinsgestalten auch als Kritik von Institutionen zu verstehen ist. I nsofern enthält die Phänomenologie in bestimmten Abschnitten die T hematik der Jenaer praktischen Philosophie. Anders als in der Jenaer Geistphilosophie ist aber in der Phänomenologie die Auseinander207

setzung mit der „Theorie", der Legitimation und dem „Geist" einer Institution nicht in deren kritische Darstellung als Moment eines „Institutionensystems" aufgenommen. Hegel diskutiert vielmehr umgekehrt zuweilen Institutionen im Rahmen einer Auseinandersetzung mit moral- und staatsphilosophischen Theorien, die ihrerseits den Anspruch einer kritischen Prüfung von Institutionen erheben - so etwa Eigentum, Recht und Gesetz im Zusammenhang einer Kritik der Kantischen Moralphilosophie (PhG 308-314). Dennoch läßt sich auch der Phänomenologie ent nehmen, welche systematische Stelle im Bildungsprozeß des Geistes Institutionen wie der Zweikampf, die Familie, die Monarchie204 etc. einnehmen. Wichtig für unsere Frage ist dabei die Tatsache, daß Hegel für die Darstellung einer Folge von Institutionen die Methode der Erfahrung in Anspruch nimmt. In den Abschnitten über die Sittlichkeit und den entfremdeten Geist etwa kritisiert Hegel den „Geist" oder das „Gesetz" eines Gemeinwesens und mit ihm zugleich die Institutionen, in denen er sich manifestiert, durch die Erfahrung des Bewußtseins mit den Maßstäben seiner sittlichen Handlung. Zusammengefaßt muß man sagen: Die Phänomenologie ist weder Staats- noch Geschichtsphilosophie. 2 os Ihre Darstellung zeigt aber, auf welche Weise sich in bestimmten Institutionen und geschichtlichen Epochen ein Verständnis des Geistes manifestiert. Sie gibt damit das Verhältnis dieser Institutionen und Epochen zueinander und zum absoluten Wissen an . Bezogen bleibt sie dabei allerdings immer auf das Bewußtsein der für Hegel zeitgenössischen Bildung (vgl. PhG 260), dem sie das Begreifen des „neuen Geistes" - der sich in Geschichte und Philosophie bereits ankündigt (PhG 16) - ermöglichen soll. Was dieser neue Geist - von dem die Vorrede der Phä208

nomenologie spricht - für die Philosophie, die Religion oder die Moralität bedeutet, macht Hegel freilich deutlicher als seine institutionellen Konsequenzen für den Staat.206 Die Phänomenologie enthält Bruchstücke einer Kritik, aber keine Darstellung des vernünftigen Systems der Institutionen. Sie zeigt die Versöhnung der Gegensätze des sittlichen Geistes nicht in den Institutionen des vernünftigen Staates, sondern in der moralischen Gesinnung und der religiösen Vorstellung (s.o. S. 111 ff.). Vom Standpunkt des Gesamtsystems aus liegt ihre Bedeutung für die praktische Philosophie allerdings nicht nur in der Kritik der einseitigen Standpunkte der Moralität und der Sittlichkeit, sondern auch in der Hinführung auf den „Standpunkt" des absoluten Wissens, auf dem ja die Darstellung des Systems der Philosophie und damit auch des Systems der Institutionen des objektiven Geistes möglich ist .

2. Die „praktische" Seite

der phänomenologischen Methode Wenn die Erörterung von Themen der praktischen Philosophie in der Phänomenologie unter dem Oberthema der Erhebung des Bewußtseins zum absoluten Wissen steht, dann scheint die Methode der praktischen Philosophie in der Phänomenologie die „phänomenologische" Methode selber zu sein, wie Hegel sie vor allem in der Einleitung des Werkes erörtert hat. Allerdings darf die praktische Seite dieser Methode nicht übersehen werden - nur dann läßt sich behaupten, daß die in der Einleitung exponierte Methode für das ganze Werk zutrifft.207 Die Methode der Phänomenologie ist nach der Einleitung eine Selbstprüfung des Bewußtseins. Geprüft wird, 209

ob sich Wissen und Wahrheit bzw. Ansichsein entsprechen. Wissen ist dabei das Moment der Beziehung, des „Seins von etwas für ein Bewußtsein" (70), Wahrheit dagegen der Maßstab, an dem die ganze Beziehung sich orientieren soll und der von der ganzen Beziehung unabhängig sein soll. Das Bewußtsein setzt freilich diesen Maßstab stets auf eine Seite der Beziehung: entweder die des „Begriffs" oder die des Gegenstandes. In Wahrheit bzw. „für uns" - die darstellenden Philosophen ist dieser Maßstab ein Gesamt von Momenten des Geistes, die sowohl das Bewußtsein wie seinen Gegenstand bestimmen. Diese Momente sind in ihrer „ reinen" Gestalt Kategorien der Logik (vgl. Anm. 139). In der Phänomenologie machen sie den „Horizont" 208 aus, in dem dem Bewußtsein sein Wissen und der gewußte Gegenstand erscheint. Allerdings weiß das Bewußtsein, das sich prüft, diese Momente nicht als logische Kategorien, sondern als Aspekte seines Gegenstandes - Dinghaf tigkeit, Gesetzlichkeit, Sichselbstgleichheit, Selbständigkeit etc. bzw. Strukturen der Wirklichkeit, denen das Wissen entsprechen muß. Das Gesamt dieser eine Bewußtseinsgestalt bestimmenden Momente ist der Maßstab; treten zwischen ihm und dem Wissen - zu dem das „Etwas" bzw. der Gegenstand, auf den es sich bezieht, gehört Differenzen auf, so sucht das Bewußtsein zuerst sein Wissen (die gesamte Relation) zu korrigieren. Diese Korrektur beeinträchtigt aber seine Begriffe von dem Maßstab bzw. dem Ansieh, dem es zu entsprechen versucht: es erfährt gleichsam die „ Vorschriften", an die es sich zu halten suchte, selber als widersprüchlich. Damit aber können sie nicht mehr „an sich", mit sich selbst gleich, unabhängig von allen Relationen sein, sondern sinken zu bloßen Meinungen des Bewußtseins, zu einem Für-dasBewußtsein-Sein des An-sich (vgl. 73) herab. Was auf 210

dem Wege zum absoluten Wissen im Grunde ein Fortschritt ist, die Einsicht in die „Subjektivität" der Bestimmungen des Maßstabs, ist für die jeweilige Bewußtseinsgestalt quasi der Zusammenbruch. Die Reflexion des Bewußtseins auf die Widersprüchlichkeit und den „Meinungscharakter" seiner Maßstäbe läßt seine Wahrheit zu einem „leeren Nichts" werden. Dem erscheinenden W issen entsteht aber aus diesem Zusammenbruch ein neuer Maßstab der Wahrheit, der die Widersprüche des alten vermeidet. Daß dieser neue Maßstab sie nicht nur vermeidet, sondern die zwischen den Kategorien des alten aufgetretenen Widersprüche zu einer Synthese bringt, erkennt freilich nur der Philosoph. Nur für ihn ist die Erfahrung ein dialektischer Prozeß, dessen Stufen aufeinander mit Notwendigkeit folgen. 209 Die Frage ist nun, wie diese Methode der Erfahrung des Bewußtseins auf die „praktischen" Teile der Phänomenologie des Geistes „paßt". Hegels Rede von der „Selbstprüfung", von der „Vergleichung" von Maßstab und Wissen, von der „Korrektur" des Wissens und schließlich seines Maßstabs, scheint zunächst an einer theoretischen Einstellung orientiert zu sein. Die Gestalten des ersten Buches der Phänomenologie „prüfen" in der Tat ihr Gegenstandswissen hinsichtlich seiner Entsprechung zu dem, was ihnen als Wahrheit gilt. Und auch in den philosophischen Positionen, die diesen Bewußtseinsgestalten zugrunde liegen, geht es in erster Linie um die Bestimmung der Erkenntnis und ihrer Beziehung zur Wahrheit bzw. zum Wesen des Gegenstandes. Erfahrungen wie der Kampf um Anerkennung oder die französische Revolution können aber zweifellos nicht in dieser Weise als theoretische „Prüfungen" verstanden werden. Mit der Methode der Einleitung sind sie nur dann in Einklang zu bringen, wenn diese ein praktisches 211

Moment enthält, das Hegel freilich nicht expliziert hat.210 Betrachtet man die Entwicklung der Methode der Erfahrung des Bewußtseins in den verschiedenen Texten der Geistphilosophie, dann erscheint die praktische Komponente keineswegs als eine nachträgliche „Erweiterung" der Methode, sondern umgekehrt als deren Ursprung. Wir haben oben (S. 163 f.) schon gesehen, daß Hegel bereits in der Geistphilosophie von 1803/ 1804 die Entwicklung des Geistes als eine Bewegung darstellt, in der das Bewußtsein aus sich selbst Widersprüche produziert, die zu einer „Reflexion seiner in sich selbst", d. h. zu einer Bewußtseinsumkehrung führen. Der entscheidende Punkt dabei war der Kampf um Anerkennung, der in der Tat bereits eine Art Selbstprüfung darstellte: Dem Bewußtsein erscheint sein Wesen im Prinzip der Ehre, das im Kampf um Anerkennung einer Prüfung unterzogen wird. Ihr Resultat ist ein Widerspruch, der in der Selbstaufhebung der Einzelheit (229) sichtbar wird. Er zwingt zur Aufgabe des Maßstabes der Ehre und zur Umkehrung des Bewußtseins der Einzelheit. Hegel hat diese Umkehrung bereits als eine bestimmte Negation211 aufgefaßt: Negation der ausschließenden Einzelheit, die zum allgemeinen Bewußtsein des Volksgeistes führt, in dem die Einzelheit gleichwohl gerettet sein soll. Das heißt nicht, daß die Geistphilosophie von 1803/1804 die „Methode" der Phänomenologie bereits kennt, sondern daß Momente der phänomenologischen Methode schon in diesen frühen Entwürfen entwickelt wurden - und zwar primär im Rahmen der praktischen Philosophie. Dies gilt auch für die Realphilosophie von 1805/ 1806: auch in ihr kommen diejenigen „Reflexionen" des Bewußtseins der phänomenologischen Erfahrung am nächsten, die Formen des praktischen Bewußtseins und des „ wirklichen Geistes" (der „Sittlichkeit überhaupt", VIII, 212

222) betreffen. In der Entwicklung des „Willens" sind bereits Liebe212 und Kampf als „Erfahrungen" zu verstehen. Wichtig für die Genese der phänomenologischen Methode ist aber vor allem, daß die Realphilosophie auch innerhalb des „ wirklichen Geistes" Erfahrungen darstellt (Vertragsbruch, Verbrechen etc.). Sie bestehen darin, daß der Wille sich in den Gegensatz des einzelnen und allgemeinen Willens - der im Recht zunächst „unmittelbar" aufgehoben ist - trennt. Der einzelne Wille weiß sich als allgemein, aber er mißversteht quasi diese Allgemeinheit als Freiheit von allem besonderen Dasein, auch demjenigen, in dem sich der Wille aller manifestiert - etwa im Vertrag als Austausch von Leistungen oder im Gesetz und der es sanktionierenden Gewalt. Diese Freiheit erweist sich aber als ein in der Handlung nicht realisierbarer Maßstab: Einzelheit und Allgemeinheit sind in ihr nicht „harmonisierbar". Die handelnde Individualität gelangt zu der neuen Wahrheit, daß die Allgemeinheit des Willens die Einzelheit - auch die sich von allen Bestimmtheiten lösende - in sich „absorbiert" (23 1). Ich möchte nun an Beispielen aus dem Selbstbewußtseins-, Vernunft- und Geistkapitel zeigen, daß für die Methode der Phänomenologie diese „praktische" Erfahrung, d. h. die Umkehrung des Bewußtseins durch die Erprobung und „Widerlegung" eines Maßstabes in der Handlung, noch von Bedeutung ist. Daß der Kampf um Anerkennung eine solche Handlungserfahrung darstellt, kann nicht verwundern - dies war ja schon im Systementwurf von 1803/ 1804 der Fall. Das Neue in der Phänomenologie ist, daß in ihr ein bestimmtes Verhältnis von Bewußtsein und Selbstbewußtsein - als zwei verschiedene „Stellungen des Gedankens zur Objektivität" - zum Ausdruck kommt. In den Vorerörterungen des Selbstbewußtseinskapitels (133-140)

213

zeigt Hegel, daß die Identität des Ich mit sich selbst die neue „Wahrheit" (135) ist. Auf diese Einheit ist aber das Bewußtsein der „sinnlichen Welt" als eines Andersseins bezogen, das an sich in der Entwicklung des Bewußtseinskapitels als nichtig erwiesen wurde. Das Verhältnis der beiden Momente zueinander besteht zu Beginn des Selbstbewußtseinskapitels darin, das Anderssein als „Erscheinung" der Einheit des Selbst zu wissen. Diesen Maßstab in der Handlung zu realisieren versucht schon die „Begierde" als aktive Negation des Gegenstandes. Und die Funktion des Kampfes besteht darin, die Gewißheit, reine Selbstbeziehung zu sein, zur „Wahrheit an dem anderen und an ihnen selbst (zu) erheben" (144). Der Maßstab, alles Anderssein in die eigene Selbstbeziehung aufzuheben, wird im Kampf handelnd gegenüber einem anderen Selbst erprobt - und in seiner Unhaltbarkeit erfahren. Seine beiden Momente treten auseinander : es zeigt sich, daß das Selbstbewußtsein seine Selbständigkeit nicht in einem völlig nichtigen Anderssein anschauen kann. Die nächsten Gestalten der Phänomenologie sind daher Versuche, das Anderssein bzw. den „Unterschied" ( 15 3) bestehen zu lassen und gleichwohl in ihm das reine Selbst anzuschauen. Die Gewißheit, dieEinheit des Selbst im selbständigen Anderssein wiederzufinden, als Einheit und Gesetzmäßigkeit des Gegenstandes nämlich, ist der Ausgangspunkt des Vernunftkapitels. Der zweite, „praktische" Teil dieses Kapitels, der - nach Hegel (PhG 255) die Erfahrungen des Selbstbewußtseinskapitels auf höherer Stufe wiederholt, enthält wiederum Selbstprüfungen in Gestalt von Handlungen. Die Formulierungen Hegels am Anfang der Abschnitte B a„ b. und c. sind für sich schon deutlich genug: „es (sc. das Selbstbewußtsein) geht darauf, durch Vollführung seines Fürsichseins sich als anderes selbständiges Wesen anzuschauen ... es stürzt 214

also ins Leben und bringt die reine Individualität, in welcher es auftritt, zur Ausführung" (262) - so beginnt die Erfahrung der „Lust und der Notwendigkeit". „Das Gesetz also, das unmittelbar das eigene des Selbstbewußtseins ist ... ist der Zweck, den es zu verwirklichen geht. Es ist zu sehen, ob seine Verwirklichung diesem Begriff entsprechen, und ob es in ihr dies sein Gesetz als das Wesen erfahren wird" heißt es am Beginn des Abschnitts über das „Gesetz des Herzens" (266). Und auch der Erfahrung der „ Tugend" geht es um Verwirklichung und „Bewährung" (274) eines Maßstabes des Wahren und des Guten. Die Verwirklichung des Maßstabes bzw. des „Begriffes" mißlingt aber; in der Handlung treten seine Momente auseinander: die in der „Lust", dem „Gesetz des Herzens" oder der „Tugend" prätendierte Einheit von Einzelheit des Selbst qua „reiner Individualität" und Allgemeinheit des „Gesetzes", das die „Wirklichkeit" bzw. den „ Weltlauf" regiert, erweist sich als bloße Meinung. Der verdeckte Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit tritt im Handeln hervor und fordert eine differenziertere Vermittlung beider Momente in einem neuen Maßstab: während die erste Gestalt des Vernunftkapitels diesen Gegensatz im Maßstab der „reinen Indiv idualität" überhaupt nicht „gesetzt" hatte, enthält die zweite sowohl die „ unmittelbare Einheit" wie die Entgegensetzung von Individualität und „Gesetz" - und in der dritten sind „beide Glieder, 213 jedes Einheit und Gegensatz dieser Momente" (274). Aber auch diese dritte Gestalt vermag die E inheit noch nicht zu verwi rklichen, die Einheit des Selbst in der Objektivität noch nicht als Aufgehobensein der Individualität in einem gemeinsamen Handeln - bzw. „Werk" - zu erkennen, das die Gesetze und Kategorien des reinen Selbst zum Ausdruck bringt (vgl. o. S. 101 f.). Auch in den drei folgenden Ge215

stalten des Vernunftkapitels, in denen das Selbstbewußtsein zur Erkenntnis der Einheit von Fürsichsein und Ansichsein, Einzelheit und Allgemeinheit in der sittlichen Substanz gelangt, gibt es Handlungserfahrungen, vor allem im Abschnitt über das „ geistige Tierreich " . Anstatt dem jetzt weiter nachzugehen, soll gezeigt werden, daß auch in den geschichtlichen „ Welten", die das Geistkapitel darstellt, Erfahrungen in dem eben erörterten Sinn eine Rolle spielen.214 Am deutlichsten ist dies in der „sittlichen Handlung" der Fall, in der Hegel die Auflösung der die griechische Welt beherrschenden Sittlichkeit teils an den exemplarischen Handlungen der Tragödie, teils an geschichtlichen Tendenzen selber demonstriert. Obgleich „Handlung" in diesen Abschnitten also die Konfrontation sittlicher Prinzipien in „symbolischen" Handlungen oder in Zusammenhängen kollektiven Handelns bedeutet, ändert sich das Schema der Erfahrung nicht grundlegend: nach wie vor wird ein Maßstab durch „wirkliches Handeln" (335) geprüft und zerfällt in dieser Prüfung in widersprüchliche Momente. Die beiden Momente des Maßstabes der sittlichen Handlung, die Hegel in dem Abschnitt „sittliche Welt" expliziert, sind zwei verschiedene Weisen der Vermittlung von Einzelheit215 und Allgemeinheit, Selbstbewußtsein und „sittlicher Substanz". Sie erscheinen dem Bewußtsein in der Gestalt des menschlichen und göttlichen Gesetzes. Das menschliche Gesetz, der in einem Gemeinwesen geltende und „existierende" Geist, in dem sich der Einzelne - als „Bürger" und Glied eines Volkes - aufgehoben weiß, ist mit dem göttlichen Gesetz, dem Geist der unmittelbaren, „bewußtlosen" Einheit der Familie, in der der Einzelne (als Familienmitglied) selbst Zweck sittlichen Tuns ist, in einer „natürlichen" Harmonie. Diese „ ruhige Organisation" ( 331) 216

der sittlichen Welt wird aber gestört (vgl. ebd.) durch die Handlung, in der sich das Selbstbewußtsein als Negativität, d. h. als Entscheiden und Unterscheiden manifestiert. Durch die „unmittelbare Entschiedenheit" (332) der sittlichen Handlung, durch ihre „einfache Richtung" auf das, was ihr als „Pflicht" erscheint, wird sie notwendigerweise zur einseitigen Verwirklichung ihres Maßstabes. Die „sittlichen Mächte", die das handelnde Bewußtsein bestimmen, „erhalten die Bedeutung, sich auszuschließen und sich entgegengesetzt zu sein" (ebd.). Diesen Konflikt der sittlichen Mächte veranschaulicht nach Hegel die griechische Tragödie. Das Resultat der Erfahrungen, die in Sophokles' „Odipus" und „Antigone" unter diesem Gesichtspunkt gedeutet - dargestellt sind, ist der Triumph des menschlichen Gesetzes, der Polis und ihres Primats der Allgemeinheit, über das göttliche Gesetz. Der Gegensatz beider „Gesetze" entsteht aber innerhalb des „siegreichen" (vgl. 339) Gemeinwesens selber, weil dieses auf die Familie und ihren Geist der Einzelheit einerseits angewiesen ist, und sich andererseits nur durch ihre „Unterdrückung" erhält: „Die negative Seite des Gemeinwesens, nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen." (341) Der Konflikt innerhalb des menschlichen Gesetzes wird wiederum ausgelöst durch die „tätige" Verwirklichung der „Wahrheit" des Gemeinwesens (der Polis), durch die wirkliche Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft und die Selbstdarstellung des Ganzen als Individualität, als Volk, das „andere Individualitäten ... ausschließt und sich unabhängig von ihnen weiß" (341 ). Die Selbstverwirklichung des Gemeinwesens im Kampf - nach innen wie nach außen - macht es von dem Moment der Einzelheit abhängig: der „ tapfere Jüngling", seine „natürliche

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Kraft" und der „Zufall des Glücks" tritt an die Stelle der „Weisheit des reifen Alters, das der Einzelheit ... abgestorben, nur das Allgemeine denkt" (340 f. ). Es scheint, daß Hegel an dieser Stelle die Rolle des Alkibiades in den peloponnesischen Kriegen im Auge hatte. Der Krieg lehrt aber nicht nur die Abhängigkeit der Polis von der natürlichen Einzelheit, sondern auch die Beschränkung der - als absolut geglaubten - Sittlichkeit auf ein bestimmtes, „individuelles" Volk. Das „Gleichgewicht" von Einzelheit und Allgemeinheit erweist sich als bedingt durch die „Natur" eines Volkes, durch seine natürliche und „daher beschränkte Individualität" (342). Auch in dieser Hinsicht zerfällt die prätendierte absolute Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit im Gesetz der Polis. Sie erweist sich als „ unmittelbar", natürlich, zufällig. Die Entlarvung der Unhaltbarkeit des Maßstabes der sittlichen Handlung führt eine neue Gestalt der Vermittlung von Allgemeinheit und Einzelheit herbei: ein „allgemeines", über viele „ Volksgeister" übergreifendes Gemeinwesen, dessen „Lebendigkeit" und Zweck die Individualität selber als allgemein anerkannte, als Rechtssubjekt ist (342). Dieser Erfahrung des Bewußtseins entspricht der Untergang der griechischen Welt im römischen Weltreich. Das Geistkapitel der Phänomenologie enthält noch weitere Beispiele von Erfahrungen, die durch Handlungen „ausgelöst" werden. Oben (S. 112 f.) wurde schon die „ wirkliche Handlung" des Gewissens erörtert, durch die ebenfalls ein Maßstab zu einer bloßen Meinung herabgesetzt wird. Hier kam es mir nur darauf an zu zeigen, daß die Methode der Erfahrung des Bewußtseins nicht nur eine „theoretische" Prüfung des Wissens ist, sondern - von den Anfangsstadien ihrer Entwicklung her - eine praktische Komponente besitzt. Sie erlaubt es Hegel, 218

auch die Formen des praktischen Geistes, Handlungsweisen, Institutionen, ja selbst Geschichtsepochen, als Erfahrungen darzustellen. Aufgrund dieses Sachverhalts läßt sich die T hese von der einheitlichen Gültigkeit der Methode der Einleitung für das ganze Werk aufrechterhalten. Die so verstandene Erfahrung ist auch die Methode der praktischen Philosophie in der Phänomenologie des Geistes.

3. Die Bedeutung der Anerkennung für die Methode der praktischen Philosophie in der Phänomenologie

Die Methode der Erfahrung des Bewußtseins, deren Anfänge in der praktischen Philosophie der Jenaer Systementwürfe von 1803/ 1804 und 1805/ 1806 liegen, wird in der Phänomenologie zur Methode einer systemat ischen Erfahrungsgeschichte. Die Phänomenologie zeigt, daß mit dieser Methode eine Kritik von Sitten, Normen und Institutionen durchführbar ist, die zugleich den Anforderungen einer historischen „Genese" und einer systematischen Darstellung entspricht. Im nächsten Kapitel komme ich darauf zurück (s. u. S. 224 ff.). Aber die Phänomenologie ist nicht selber die Ausführung eines solchen Systems. Und später hat Hegel die Erfahrung nicht mehr als Methode der systematischen Darstellung des objektiven Geistes aufgefaßt. Es läßt sich also nu r hinsichtlich der „Elemente" 216 einer praktischen Philosophie in der Phänomenologie nach der Bedeutung der Anerkennung für die Methode fragen. Wir haben oben erörtert, inwieweit die Struktur der Anerkennung, die auf der Notwendigkeit des Sich-Objektivierens, der Selbstanschauung im Anderen beruht, Vor219

aussetzung für die Methode der „Bewährung" von Selbstgewißheit im Handeln und durch die Reaktion der Anderen ist. Daß Maßstäbe des Handelns, Regeln und institutionelle „Definitionen" des Verhältnisses des Einzelnen zum Anderen und zum allgemeinen Geist, kritisierbar sind durch die Darstellung von Selbstprüfungen im Handeln, liegt am Wesen des Bewußtseins, nur durch Anerkennungsprozesse seine „Identität" zu ereichen. Das Handeln mit und gegenüber Anderen ist als eine Prüfung darstellbar, weil es a) einen Maßstab „radikalisiert", d. h. ohne Einschränkungen und Abschwächungen durch andere Handlungsprinzipien „entschieden" verwirklicht; b) diesen Maßstab zugleich für sich und andere expliziert, ihn im Handeln auseinanderlegt, seine Momente in ihrem Verhältnis und in ihren möglicherweise widersprüchlichen Konsequenzen offenlegt; c) die Fähigkeit einer Norm oder Institution, allgemeine Handlungsregel zu sein, also Handlungen verschiedener Subjekte zu vereinbaren, auf die Probe stellt. Das Handeln in Wechselwirkung mit Anderen bringt also das Verhältnis zwischen Handlungsprinzipien, zwischen den verschiedenen Momenten eines Prinzips und ihren Konsequenzen, und schließlich zwischen dem Prinzip und den von ihm bestimmten Handlungen verschiedener Subjekte zum Vorschein. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob auch in der Phänomenologie der teleologische Prozeß des Anerkennens den Übergang von einer „geprüften" Institution zur systematisch folgenden bestimmt. Die Phänomenologie ist die Darstellung einer Erfahrungsgeschichte. Man muß aber, wie gesagt, unterscheiden zwischen der Erfahrung, die das Bewußtsein „macht", und der Erfahrung als dem notwendigen Zusammenhang der Bewußtseinsgestalten, die nur dem Philosophen einsichtig ist. Für die 220

erstere gilt, daß die verschiedenen Versuche, die „Wahrhei t" des Selbstbewußtseins, sein richtiges Verhältnis zum anderen Selbst und zu der sittlichen Substanz eines Gemeinwesens zu bestimmen, als Stufen eines Anerkennungsprozesses zu verstehen sind - und auch vom erscheinenden Wissen mehr und mehr so verstanden werden. Dies ist bei der Interpretation des „Inhalts" der Anerkennung in der Phänomenologie schon deutlich geworden (s. o. S. 68 ff. u. 97 ff.). Die Gestalten des praktischen Bewußtseins sind insofern durch die sich in ihnen zunehmend realisierende Anerkennung in einen notwendigen Zusammenhang gestellt. Aber dieser Zusammenhang wird in der Phänomenologie unterbrochen durch Selbstprüfungen theoretischer Wissensweisen, und er steht zudem unter einer besonderen Bedingung: das Bewußtsein einer bestimmten Bildung, der „Reflexionskultur" (vgl. W. Marx 1971) der Zeit Hegels, zum absoluten Wissen zu führen. Daß der Zusammenhang der dazu erforderlichen Bewußtseinsgestalten ein notwendiger und „ vollständiger" ist, liegt daran, daß der Philosoph die in der Erfahrung wirksamen logischen Kategorien als „Selbstbewegungen" erkennt, die sich zu einem systematischen Ganzen zusammenschließen - nur dann kann die „Selbstkritik" des nichtwissenschaftlichen Bewußtseins schon den Anforderungen des spekulativen Wissens an „ Wissenschaftlichkeit" genügen. Die Einsicht in die Bedeutung und den Charakter der logischen „Wesenheiten" muß allerdings dem erscheinenden Wissen im Verlauf seines Erfahrungsprozesses selber zunehmend durchsichtig werden, wenn die Phänomenologie zugleich „Leiter" für das nicht-spekulative und Rechtfertigung des spekulativen Wissens sein soll. Trotz dieses Doppelcharakters des phänomenologischen Erfahrungsprozesses bedeutet die Tatsache, daß ihre 221

Wissenschaftlichkeit im Grunde allein in der Bewegung der logischen Kategorien besteht, daß der Bildungs- und Erfahrungsprozeß - und damit auch die Bewegung der Anerkennung - nicht notwendig zum System des sich selbst darstellenden und begreif enden Geistes gehört. Wenn das absolute Wissen seine Rechtfertigung gegenüber anderen Wissensweisen „hinter sich" hat, ist es von der Erfahru~g des Bewußtseins unabhängig. 217 Folgerichtig hat Hegel später die Philosophie des Geistes nicht mehr als eine Erfahrungsgeschichte dargestellt. Damit fällt auch die Darstellung der historischen Genese von Institutionen als ein Erfahrungsprozeß aus der Konzeption des objektiven Geistes als eines Systems „ vernünftiger" Institutionen heraus. Für dieses System wird ebenfalls die Bewegung der Begriffe maßgeblich, die sich nachdem der geschichtliche Bildungsprozeß des Geistes einmal durchschaut ist - im erfahrungs- und geschichtsunabhängigen Element des „reinen Wissens" darstellen läßt. Statt dieser Richtung des Hegelschen Denkens zu folgen, möchte ich im nächsten Kapitel die in der Phänomenologie deutlicher gewordene Einheit von Anerkennungsund Erfahrungsbewegung als Prinzip einer systematischen Darstellung und historischen Genese vernünftiger Institutionen erörtern.

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IV. Praktische Philosophie, Geschichtsphilosophie und Sozialisa tionstheorie

Nach dem Prinzip Anerkennung (I) ist die Bedeutung dieses Prinzips für die Entstehung der praktischen Philosophie Hegels in Jena (II) untersucht worden. Es zeigte sich, daß Hegel ähnlich wie die gegenwärtige Philosophie um die W iederherstellung einer praktischen Philosophie im umfassenden Sinne der aristotelischen Tradition bemüht ist. Ich sehe aber die Bedeutung der praktischen Philosophie Hegels für die Gegenwart nicht nur in dieser „Rehabilitierungs"-Parallele, sondern vor allem in drei systematischen Aufgaben, zu deren Lösung er einen wichtigen Beitrag leistet: der Darstellung eines Systems der Institutionen, die eine gegenwärtige „Kultur" bzw. „Sittlichkeit" bestimmen (IV, 1), der Darstellung einer Bildungsgeschichte des Bewußtseins (IV, 2) und einer historischen Genese von Institutionen (IV, 3). Ich möchte im folgenden die Leistung des Prinzips Anerkennung für Hegels Lösung dieser Aufgaben erörtern. Dabei wird - vor allem was Bildungsgeschichte und Sozialisationstheorie angeht - vorab zu fragen sein, ob die von mir behauptete Analogie überhaupt besteht. Vor vorschnellen Aktualisierungen sollte man sich gewiß ebenso hüten, wie vor übergroßer Vorsicht, Hegel unter Gesichtspunkten gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaft zu betrachten.

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1. Anerkennung und ,,System der Institutionen" Die gegenwärtige Philosophie ist wie Hegel bemüht, eine systematische Grundlage für Theorie und Kritik der Gesellschaft und ihrer Institutionen zu finden (s.o.S. 14ff.). Vernunft- und Moralprinzipien werden aufgestellt, um eine wissenschaftliche „Kulturkritik" vorzubereiten. Ideale Maßstäbe guten Lebens, die wir in der „normalen" Kommunikation voraussetzen müssen, sollen dazu dienen, gerechte Sozialbeziehungen begründet von ungerechten zu unterscheiden. Das System der herrschenden Normen soll auf seine Genese hin befragt werden, die als „normative Genese" oder als „Logik" der „Moralsysteme" (Habermas 1973a) Aufschluß über die Vernunft herrschender Normen und Institutionen geben soll. Was bedeutet nun bei Hegel selber „System der Institutionen"? Nach Hegels Begriff von System, wie er ihn in der Differenzschrift und im Naturrechtsaufsatz in der Auseinandersetzung mit Fichte konzipiert hat, kann es nicht darum gehen, eine Reihe von fundamentalen Prinzipien der Vernunft oder der Moral aufzustellen und aus ihnen Institutionen zu deduzieren oder die „.herrschenden" Institutionen mit solchen „abstrakten" Prinzipien zu kritisieren. Das Prinzip einer systematischen Darstellung der Institutionen muß selber eine sich entfaltende Totalität von Momenten sein, die in sich den Grund dafür enthalten, weshalb eine jeweilige Stufe des Systems mit Notwendigkeit zur nächsten Stufe übergeht. Um was für Institutionen handelt es sich in Hegels praktischer Philosophie und wie sind sie miteinander zu einer notwendigen Folge verbunden? Die drei Hauptstufen des Hegelschen Systems der praktischen Philosophie enthalten a) Institutionen im Sinne aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen, durch die 224

soziale Beziehungen selbstbewußter Wesen erst zustande kommen (Arbeit, Familie, Zweikampf); b) Institutionen als Regeln des Zustandekommens oder Vollzugs eines gemeinsamen, allgemein „zustimmungsfähigen" Willens (Eigentum, Vertrag, Strafgesetz, Rechtsprechung etc.); c) Institutionen im Sinne von Einrichtungen einer Gemeinschaft und ihrer Gruppen, die deren Selbstverständnis in bezug auf die gemeinsame Lebensweise und die Lösung gemeinsamer Auf gaben zum Ausdruck bringen (ständische Verhaltensregeln und Gremien zu ihrer D urchsetzung, Regierung, „Zweige der Gewalten" [VIII, 277] und deren Verfahrensweisen). Sowohl diese drei Stufen wie die auf ihnen nacheinander abgehandelten Institutionen stellen „Stationen" einer Bewußtseinsentwicklung dar, die über das Sich-Finden in einer unmittelbaren Gemeinschaft und das Bewußtsein der Freiheit reinen Fürsichseins zum Bewußts·ein der Verwirklichung dieser Freiheit in dem - durch vernünftige Sitten und gesetzlich festgelegte Institutionen geregelten - Leben eines Volkes verläuft. Um genau zu sehen, wie diese Folge von Institutionen und Entwicklungsstufen des Bewußtseins in Hegels praktischer Philosophie durch das Prinzip der Anerkennung zu einem System verbunden werden, müssen wir uns noch einmal den Texten zuwenden. Zum zentralen Prinzip der praktischen Philosophie wird die Anerkennung - so haben wir oben (S. 188 ff.) gezeigt - erst in der Realphilosophie von 1805/ 1806. Was Anerkennung für das System der Institutionen in den früheren Schriften bedeutet, sei daher nur kurz zusammengefaßt. Im „System der Sittlichkeit" liegt diese Bedeutung darin, daß Anerkennung die Institutionen der „natürlichen Sittlichhit" unter dem Gesichtspunkt der Bildung der Person als „ reiner", aber auf einander als 225

einzelne bezogener, untereinander verbindet. Die gemeinsame Arbeit und die Rede stellen in der ersten Potenz der natürlichen Sittlichkeit Formen des Anerkennens dar, in denen die Individuen ihr „Inneres" fixieren und ausdrücken, zugleich aber die Allgemeinheit von Regeln und Traditionen dem Anderen gegenüber zur Geltung bringen können. In der zweiten Potenz wird im Erkennen und Anerkennen des Anderen als Person, die zur Abstraktion von allen natürlichen Bestimmtheiten fähig ist, bereits die Einsicht in die Identität aller erreicht - aber ohne damit das „Prinzip der Einzelheit" zu überwinden. Eigentum, Recht und Tausch sind als Stufen dieses Anerkennens bestimmt, die aber die Gleichheit der Person und die Verschiedenheit der Individuen und ihrer natürlichen Beziehungen nicht zu vermitteln vermögen. Dies geschieht erst in der Familie, in der sich die Individuen durch ihre Besonderheit hindurch als Person anerkennen. Der Zusammenhang der natürlichen Sittlichkeit, der reinen Freiheit (des „Verbrechens") und der absoluten Sittlichkeit wird aber im System der Sittlichkeit nicht durch die Bewegung des Anerkennens hergestellt. Anstelle des späteren Kampfes um Anerkennung wird im zweiten Teil des Systems noch eine Folge von Formen des Kampfes und Verbrechens dargestellt - bis zur Familienrache und zum Krieg in dem sich die Selbstnegation der abstrakten Einzelheit vollendet und der Übergang zur absoluten Sittlichkeit vorbereitet ist. 218 Vom Systementwurf von 1803/ 1804 gilt das Gegenteil: die Bewegung des Anerkennens bestimmt jetzt die entscheidenden „Übergänge" im System der praktischen Philosophie, aber Hegel zeigt nur in Andeutungen, wie sich Anerkennung in den verschiedenen Institutionen mehr und mehr verwirklicht. Weil der „Übergang" vom individuellen

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Selbstbewußtsein zur „totalen" Freiheit der Einzelheit - in Liebe, Familie und Kampf - sowie derjenige von der Totalität der Einzelheit zur abso!Uten Sittlichkeit (die durch den Kampf ausgelöste Reflexion des Bewußtseins) als Anerkennungsbewegung dargestellt werden, ist diese bereits Prinzip der Einheit des Systems. Aber sie ist noch nicht als teleologische Bewegung der Selbstverwirklichung in der gesamten Folge der Institutionen des Systems konzipiert. Dies ist erst in der Realphilosophie von 1805/ 1806 der Fall. Aber inwiefern ist in ihr „Anerlkennung" das einheitgebende Prinzip für das System der Institutionen? Zunächst einmal ist doch die Geistphilosophie ein teleologischer Stufengang des sich in Schlüssen entfaltenden und begreifenden Geistes - in Schlüssen, die zugleich für das sich zum Geist erhebende Selbstbewußtsein Erfahrungsschritte sind. Einheitsstiftend für das „System" der Geistphilosophie sind offenbar die „Strukturen" des Schlusses, der Erfahrung und der Teleologie. Wie verhält sich zu diesen Strukturen die Bewegung der Anerkennung? Auf die Bedeutung der Anerkennung für Hegels Konzeption des spekulativen Schlusses habe ich schon hingewiesen (o. S. 188). Jetzt möchte ich zeigen, inwiefern die Folge der Institutionen zugleich eine solche der Schlüsse und der Anerkennungsschritte ist. Die Darstellung der Formen des praktischen Geistes beginnt mit dem zweiten Abschnitt des ersten T eils der Geistphilosophie, der unter dem Titel „Willen" steht. In diesem Abschnitt hat Hegel die Darstellungsweise des Schlusses - die zugleich die Bewegungsweise des sich in seinem Anderssein mit sich selbst zusammenschließenden Selbst ist - am deutlichsten angewandt. Wir haben oben (S. 187) gesehen, daß Hegel auch die voraus-

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gehende Entwicklung der Intelligenz schon als Schluß dargestellt hat. Wie diese ist der Wille als Tätigkeit des Sich-Unterscheidens bestimmt. Der Wille artikuliert dabei aber seinen eigenen Inhalt, denn er ist von vornherein als ein Ganzes von Unterschieden bestimmt: als Zweck seiner selbst ist er Allge_meines, als Tätigkeit Einzelnes und als Trieb die „Mitte dieser beiden" (VIII, 202). Die Bewegung der Selbstartikulation des Willens ist also ein Prozeß des Sich-Entzweiens in Unterschiede, die aus ihm selber stammen, und des Vermittelns bzw. Zusammenschließens dieser Unterschiede: eine Folge von Schlüssen. Der erste Schluß legt die Unterschiedenheit und Ganzheit des Willens in sich selber dar. Der zweite ist ein sich von sich Unterscheiden des Willens im Sinne einer Vergegenständlichung seiner Mitte, des Triebes, im Werkzeug - der ersten „Institution", die so aus der Schlußbewegung des Willens entwickelt wird. Die im Werkzeug erreichte Einheit der Momente des Willens entzweit sich wieder - und zwar in zwei verschiedene Charaktere, den männlichen und den weiblichen. Der Schluß, der beide zusammenschließt, ist die Liebe. Die Liebe, „das Anerkanntseyn, ohne Gegensatz des Willens" (218), ist ein Schluß, dessen Extreme „jedes der ganze Schluß" (ebd.) sind. Wie oben (S. 59) erörtert, beziehen sich männlicher und weiblicher Charakter aufeinander als Einzelheit und Allgemeinheit, um im Geliebtwerden die Erfahrung zu machen, daß „jedes darin dem anderen gleich" ist, „worin (es) ihm entgegengesetzt" ist (209). Diese Erfahrung verlangt aber eine Vergegenständlichung der Liebe selber in der Familie einem Zusammenschluß von „Mitten" (Ehe, Familienbesitz, Kind), durch den das Selbst sich im Anderen als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit, Trieb und Wissen, Selbständigkeit und Außersichsein etc. erfah228

ren kann. Die Familie ist die aus dem Schluß der Liebe dem ersten Element der Anerkennung - selber entwikkelte Institution. Der Schluß der Liebe muß aber in einen Schluß „mit Gegensatz des Willens" übergehen: den Kampf um Anerkennung. Den zweiten und dritten Teil der Realphilosophie hat Hegel nicht mehr ausdrücklich als eine Folge von Schlüssen gekennzeichnet. Gleichwohl bleibt die Folge der Institutionen, die diese Teile darstellen, durch die Bewegung des Sich-Unterscheidens des Willens - jetzt des „intelligenten", sich wissenden, allgemeinen Willens - in die Extreme der Einzelheit und der Allgemeinheit gekennzeichnet. Und durch die Erfahrung, daß jedes der Extreme sowohl die Unterschiedenheit wie die Einheit seiner selbst und seines Gegensatzes - der „ganze Schluß" - ist. Im ersten Kapitel des „wirklichen Geistes" - dem „Anerkanntsein" - spricht Hegel noch einmal ausdrücklich von einem „ Urtheil", das die „Abstractionen" des Gesamtprozesses der gesellschaftlich geteilten Arbeit einander „gegenüberstellt" (vgl. 225). Diese Abstraktionen - die spezialisierten, auf die „besonderen Bedürfnisse" bezogenen Arbeitsvorgänge stellen zwar für sich schon eine Einheit von Einzelheit (Tätigkeit, „Fürsichsein") und Allgemeinheit (Funktionen des Ganzen) dar, müssen aber in den ökonomischen Institutionen - Wert, dessen Vergegenständlichung im Geld, sowie seine „Rückkehr zur Concretion" (ebd.) im Tausch - wieder zusammengeschlossen werden. Der Tausch ist die Bewegung des Sich-Anerkennens durch die wechselseitig vermittelte Negation des Andersseins bzw. des gegenständlichen Seins: „Jedes gibt selbst sein ein Besitz, hebt sein Daseyn auf" und ist daher das „Negirende seines Seyns ... vermittelt durch das Negiren des anderen" (226). Er wiederholt also den Schluß 229

des Kampfes auf der Ebene des allgemeinen Willens. Daß sich die Schlüsse der Liebe und des Kampfes sowohl im „Anerkanntsein" wie im „gewalthabenden Gesetz" wiederholen, haben wir schon gesehen (o. S. 93). Die Darstellung der ökonomischen sowie der privat- und strafrechtlichen Institutionen erfolgt mithin ebenfalls am Leitfaden der sich in Schlüssen vollzi.e henden Anerkennungsbewegung. Und schließlich sind auch die Institutionen der Staatsverfassung als Stufen eines Prozesses entwickelt, in dem sich das reine Fürsichsein des Individuums und der Geist der Gemeinschaft jeweils im Anderen als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit anschauen bzw. anerkannt wissen. Es zeigt sich also, daß der Gedanke der Anerkennung nicht nur für die Schlußtheorie der Jenaer Realphilosophie von Bedeutung ist. Vielmehr läßt sich der Anerkennungsprozeß selber als eine Folge von Schlüssen darstellen. In diesen Schlüssen aber entfaltet Hegel das System der Institutionen, das seine praktische Philosophie ausmacht. Daß auch die beiden anderen „Strukturmomente", auf denen die Einheit dieses Systems beruht, Erfahrung des Bewußtseins und Teleologie, mit demAnerkennungsprozeß zusammenstimmen, ist leicht zu sehen. Wie Anerkennung und Erfahrung zusammenhängen und wie weit bereits die Realphilosophie von der Methode der Erfahrung des Bewußtseins Gebrauch macht, haben wir im Phänomenologiekapitel (s. o. S. 212) gesehen. Offenbar ist es die Notwendigkeit des Selbst, sich mit dem Selbstverständnis eines Anderen zu vermitteln, die es in Erfahrungen treibt. Aber wie steht es mit der Erfahrbarkeit von Anerkennung selber? Es gilt ja nicht für alle Interaktionsformen, daß sie ausdrücklich und bewußt Anerkennung bezwecken. Nur im 230

Kampf um Anerkennung ist dies ausdrücklich das „Motiv" des Willens. Aber auch im Recht ist das „Anerkanntsein" erfahrbar. Und wenn es im Vertragsbruch und Gesetzesbruch (Verbrechen) um die Geltung des einzelnen Willens als dem allgemeinen Willen äquivalent geht (vgl. VIII, 234 ), dann ist offenbar auch hier Anerkennung Zweck und Gegenstand des Bewußtseins mögen auch oberflächlichere Zwecke im Vordergrund stehen. Wie sich freilich Anerkennung in den verschiedenen Institutionen stufenweise realisiert, ist selber nur „für uns" zu verfolgen. Was für uns die Institutionen verbindet, ist die Realisierung des „ wahren" Verhältnisses des Bewußtseins zum Anderen und zum „Ganzen", die zwar dem dargestellten Bewußtsein zunehmend erfahrbar wird, aber nicht als Anerkennungsstufen, sondern als Geliebt-Werden, als Respektiert-Werden in Rechtsverhältnissen, Vertragsbeziehungen, Standeszugehörigkeiten etc. Insofern sich das Bewußtsein aber in solchen „Verhältnissen" zum Begreifen seiner selbst als Geist bildet, erfährt es zunehmend, was Anerkennung beCieutet - denn darin besteht sein „geistiges Sein" (vgl. 222). Damit ist zugleich offenkundig, daß Anerkennung ein teleologisches Prinzip ist. Darin, daß jede Bewußtseinsstufe nur Momente ihrer Gesamtstruktur enthält, liegt ein „Mangel", der die Notwendigkeit des Obergehens zur nächsten Stufe begründet: das Anerkennen ohne Selbständigkeit des Willens (Liebe) muß übergehen in das Anerkennen solcher, die sich einander als absolut selbständig erweisen (Kampf). Das Anerkennen des Selbst als Negation des Anderen muß übergehen in ein Anerkennen der Negation des eigenen Andersseins etc. Das Telos dieses Prozesses ist erreicht, wenn sich einzelnes Selbst und allgemeiner Geist wechselseitig als Ein231

heit von Einzelheit und Allgemeinheit anerkennen. Dazu sind die auf den „überwundenen" Anerkennungsstufen entwickelten Institutionen notwendig. Sie müssen aber einbezogen werden in eine „Konstitution", in der sowohl das absolute lnsichsein wie die Teilnahme am „Leben des Standes und Volkes ermöglicht wird - und in der der Geist des Ganzen sich in einer von dessen eigenen „Kräften" freien Spitze selber als Einzelheit darstellt (Regierung, Monarch etc.). Das Prinzip Anerkennung, soviel läßt sich der Realphilosophie entnehmen, „organisiert" also das System der Institutionen in einem teleologischen Prozeß, der sich als eine Folge von Schlüssen und zugleich von Erfahrungsschritten darstellt. Ob dieses System die vernünftigen Institutionen schlechthin oder nur die Institutionen eines historisch gewordenen „Zeitgeistes" enthält, ob die Darstellung nur ein Zusammenstellen solcher Institutionen oder auch eine Kritik „überlebter" gesellschaftlicher Regeln und Einrichtungen enthält - diese Fragen sollen im übernächsten Abschnitt erörtert werden. Zum Schluß dieses Abschnittes möchte ich die Bedeutung des Prinzips Anerkennung für die praktische Philosophie Hegels in Jena noch einmal aus der Perspektive der gegenwärtigen praktischen Philosophie formulieren: Es liegt am „Gehalt" und am „Prinzipiencharakter" der Anerkennung, daß Hegel das Problem des richtigen Handelns und der Freiheit des Willens zusammen mit der Frage des „guten Lebens" einer Gemeinschaft und der Gerechtigkeit von Staatsverfassungen in einem System behandelt, in dem alle Formen des „geregelten" Handelns bzw. alle Institutionen, die für die Verwirklichung von Freiheit notwendig sind, als eine notwendige Fol~e dargestellt werden: von der unmittelbaren 232

Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur (Arbeit) und der unmittelbaren Vereinigung mit dem Anderen (Liebe) bis zu den Verfassungseinrichtungen eines Staates. Die Notwendigkeit dieser Folge liegt nicht in ihrer Ableitbarkeit aus Grundprinzipien und beruht auch nicht auf der Einsicht in die „historische" Logik von „Moralsystemen". Ihr Grund ist auch nicht der besondere Charakter eines bestimmten Volksgeistes oder einer Epoche der Geschichte. Vielmehr ist diese Notwendigkeit darin begründet, daß sich die Folge der Institutionen als Folge von Entwicklungsstufen des einzelnen und allgemeinen Bewußtseins - in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit - begreifen läßt und daß die „Bewegungsform" dieser Entwicklung die Anerkennung ist. Anerkennung ist die Bewegung des Selbstbewußtseins, sich im Anderen anzuschauen und dadurch sich selbst als Individuum und als Moment des allgemeinen Bewußtseins zu erkennen. Diese Bewegung hat, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, bestimmte „formale" Züge: „selbstlose" Vereinigung, „Rückzug" aus der unmittelbaren distanzlosen Einheit in die Selbständigkeit, Aufgabe des Absolutheitsanspruchs der ausschließenden Einzelheit zugunsten des gemeinsamen Willens und Einsicht in die Identität des allgemeinen Geistes mit dem reinen Fürsichsein. Diese Grundzüge der Anerkennung werden aber von Hegel keineswegs als ein abstraktes Axiomensystem der „Deduktion" der Institutionen zugrunde gelegt. Sie zeigen sich nur in der Folge der Institutionen. Aber zugleich ist diese Folge nur als Verwirklichung von Anerkennung verständlich. Das Ziel der vollendeten Anerkennung bestimmt sie von Anfang an. Sind dann die Institutionen der Familie, des Rechtes und des Staates, wie Hegel sie entwickelt, ideale Einrichtungen einer utopischen Gesellschaft, in der sich erst der absolute Geist 233

zur Darstellung bringen kann? Oder will Hegel durch die Darstellung des Systems der Institutionen nicht vielmehr angeben, welche der vorhandenen, historisch gewordenen Institutionen als vernünfl:ig anzusehen sind und welche nicht? Vernünfl:ig ist für Hegel nur, was wissenschafl:lich, d. h. in Gestalt eines Systems, darstellbar ist. Das Prinzip, das ein solches System darzustellen gestattet, ist daher zugleich der Maßstab der Vernünfl:igkeit von Institutionen. Dieses Prinzip ist die Anerkennung als der Prozeß der Bildung des Bewußtseins zum Geist. Institutionen, die als Bedingungen dieses Bildungsprozesses aufgefaßt werden können, sind „ vernünftig". Aber was meint der Begriff der „Bildung" in diesem Zusammenhang? Die „Sozialisation" eines Individuums, das durch das Erlernen bestimmter Rollen seine soziale „Identität" gewinnt? Oder die Genesis des Geistes eines Volkes in der historischen Entwicklung seiner Institutionen? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt ab, inwieweit Hegel mit gegenwärtigen Versuchen der praktischen Philosophie verglichen werden kann, die „gelungene" Sozialisation oder die historische Genese von Normensystemen zur Grundlage der Gesellschafl:skritik zu machen.

2. Anerkennung und S ozialisationstheorie Die Folge der Institutionen in Hegels praktischer Philosophie in Jena kann, so haben wir gesehen, als eine teleologische Realisierung von Anerkennung verstanden werden. Sie ist bestimmt durch den Prozeß der Bildung eines vernünftigen, freien Selbstbewußtseins. Die Institutionen eines Staates können als Bedingungen eines Bildungsprozesses des Bewußtseins verstanden und am 234

Maßstab eines „richtigen" Verhältnisses von Einzelund Allgemeinwille gemessen werden. Versuche, Institutionen am Maßstab der von ihnen ermöglichten Bildungs- bzw. Sozialisationspr ozesse zu messen, werden auch in bestimmten Richtungen der Sozialwissenschaften und der praktischen Philosophie der Gegenwartunternommen. Bis heute ist es aber von diesen Ansätzen aus noch nicht zu einer systematischen Theorie der Institutionen gekommen. Dies liegt nicht zuletzt am Begriff der Sozialisation, der zwar sowohl die Integration des Individuums in ein (offenes) System von Handlungsregeln bzw. Institutionen wie den Konflikt des Individuums mit solchen Regeln umfaßt, aber nicht das Zustandekommen und den Wandel von Institutionen, wie das Prinzip der Anerkennung (s. u. IV, 3). Institutionen erscheinen daher in Sozialisierungstheorien meist als äußere Bedingungen, die man gegebenenfalls verändern muß - ohne daß diese Veränderung selbst als Wechselwirkung von individuellem und allgemeinem Willen, d. h. als Anerkennungsprozeß verstanden wird. Der Versuch, Hegels Theorie der Anerkennung mit sozialisationstheoretischen Ansätzen zu vergleichen, ist also nicht bloß philosophiegeschichtlich reizvoll, sondern auch - so scheint mir - nutzbringend für die gegenwärtige praktische Philosophie. Er ist allerdings nicht ohne Probleme. Zum einen, weil der Begriffe, Methoden, Theorien der Sozialisationsforschung so viele geworden sind, daß es keinen eindeutig identifizierbaren Bezugspunkt für diesen Vergleich in den gegenwärtigen Sozialwissenschafl:en gibt. Zum anderen, weil erst noch geprüfl: werden müßte, ob Hegels Begriff der Bildung des Bewußtseins überhaupt etwas mit den empirisch erfaßbaren individuellen Sozialisationsvorgängen zu tun hat. 235

Statt eines allgemeinen Vergleichs zwischen Anerkennung und Sozialisationstheorie möchte ich im folgenden an einen schon vorliegenden Versuch anknüpfen, zwischen beiden eine Beziehung herzustellen. Jürgen Habermas hat im Rahmen einer Theorie der institutionellen Bedingungen vernünftiger Identitätsbildung mehrfach auf Hegel verwiesen (1971, 193; 1974, 29). Er hat indessen weder die methodischen Voraussetzungen einer solchen Bezugnahme erörtert, noch eine eigene Interpretation der für Hegels Anerkennungstheorie relevanten Texte vorgelegt. Es ist also nötig, seinem Versuch eine breitere Basis zu geben. Im folgenden soll zunächst Habermas' eigener Ansatz einer kritischen Sozialisationstheorie kurz dargestellt und dann geprüft werden, ob Habermas sich für sein Konzept der gelungenen Sozialisation zu Recht auf Hegel berufen kann. a) Sozialisation und Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins Habermas' Auffassung von Sozialisation ist eine kritische „Erweiterung" (1973 b, 124) der rollentheoretischen Konzeption, wie sie vor allem von Talcott Parsons entwickelt wurde. Parsons definiert Sozialisation als „a process of learning through which an individual is prepared, with varying degrees of success, to meet requirements laid down by other members of society for his behavior in a variety of situations ... These requirements are always attached to one or another of the recognized positions or statuses in this society ... The behavior required of a person in a given position or status is considered tobe his prescribed role." (Parsons 1951, 207f.) Um den Gefahren eines unkritischen Verständ236

nisses von Sozialisation als Integration in bestehende Rollensysteme zu entgehen, die „Tendenzen individueller Normabweichung" nur als „Produkte von fehlgesteuerten Sozialisationsprozessen" begreift, 219 setzt Habermas anstelle des Rollen übernehmenden und Erwartungen erfüllenden Individuums das „potentiell handlungsfähige Subjekt", das gerade durch Distanz zu seinen Rollen ausgezeichnet ist. Ziel des Sozialisationsprozesses ist nicht das reibungslos integrierte, sondern das handlungsfähige, autonome Subjekt. Von diesem Maßstab aus entwickelt Habermas nun folgende Kriterien zur Beurteilung der diesen Prozeß bedingenden Institutionen: Die gesellschaftlichen Institutionen bzw. „Rollensysteme" sind „nach dem Grad ihrer Repressivität, dem Grad ihrer Rigidität und der Art der von ihnen auferlegten Verhaltenskontrolle zu unterscheiden" (127f.). Das Maß der Repressivität ist dabei das „institutionell festgelegte Verhältnis der hergestellten Komplementarität der Erwartungen" - die allein von der wechselseitigen Rollenbeherrschung abhängt - und der „erlaubten Reziprozität der Befriedigung", die demgegenüber davon abhängt, „wie weit die beteiligten Partner sich wechselseitige Reziprozität der Befriedigung vorenthalten" bzw. „ein Teil den anderen ,ausbeutet"' (125). Maß der Rigidität ist der institutionell gewährte Spielraum der Interpretation von Rollen. Da Institutionen selber als Rollensysteme bzw. als Systeme „normierter Verhaltenserwartungen" verstanden werden können, kommt es darauf an, daß die Rollen „locker definiert" (126) sind, so daß die Individuen, „indem sie eine soziale Rolle übernehmen, zugleich sich als unvertretbare Individuen darstellen können" (ebd.). Ein solcher Spielraum „spontaner Ich-aktivität" muß schließlich und das betriffi die gesellschaftliche Verhaltenskon237

trolle - nicht nur hinsichtlich der Interpretation der Rolle, sondern auch hinsichtlich ihrer Internalisierung bestehen. Unfreiheit würden Institutionen erzeugen, die eine quasi automatische, durchgängige Erfüllung der normierten Rollen verlangen, die also keine Distanzierung des Subjekts von seiner Rolle und keine flexible Anwendung von Verhaltensregeln zulassen. Formuliert man diese Maßstäbe „auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur" (128), so kann man sagen, daß die Institutionen und Normen das Individuum in die Lage versetzen müssen, „Rollenambivalenzen bewußt zu ertragen, eine angemessene Repräsentation des Selbst zu finden und verinnerlichte Normen auf neue Lagen flexibel anzuwenden" (131). In einer Gesellschaft, in der es solche Institutionen gibt, können Individuen eine „vernünfüge Identität" entwickeln. Wenn Habermas nun diesen Prozeß einer „gelungenen" bzw. vernünfligen Identitätsbildung mehrfach mit der Theorie der Anerkennung in Verbindung bringt, so ist für ihn entscheidend, daß Hegel die Identität des Ich ebenfalls als das „paradoxe Verhältnis" begriffen habe, daß das Ich „als Person überhaupt mit allen anderen Personen gleich, aber als Individuum von allen Individuen schlechthin verschieden ist" (1974, 30 f .). Die wechselseitige Behauptung und Zustimmung zu dieser Verschiedenheit liegt im Begriff der Anerkennung: „zugleich fordert aber das Verhältnis der Gegenseitigkeit der Anerkennung auch die Nicht-identität des einen und des anderen; beide müssen sogar ihre absolute Verschiedenheit behaupten, denn Subjekt zu sein schließt den Anspruch auf vollständige Individuierung ein." (1971, 193) Eine solche vollständige Individuierung ist das, was die kritische Sozialisationstheorie in der Forderung ausdrückt, daß das Individuum „seine Identität

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sozusagen hinter die Linien aller besonderen Rollen und Normen zurücknehmen kann" und daß es „sich und seine Interaktionen in einer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu organisieren" versteht (1974, 30). Im Hinblick auf die obengenannten drei Kriterien (Repressivität, Rigidität, Verhaltenskontrolle) liegt also in der Anerkennung offenbar eine positive Formulierung vor allem des zweiten und dritten Kriteriums vor. Ich möchte im folgenden daher zunächst untersuchen, ob Hegels Anerkennungskonzept tatsächlich auf die Bildung und Darstellung einer so gefaßten Individualität gerichtet ist. Aber kann man Hegels Anerkennungstheorie überhaupt unter sozialisationstheoretischen Aspekten betrachten? Geht es hier nicht um „Bewußtsein überhaupt", um einen philosophischen Begriff des Selbst - und nicht um eine Theorie empirischer Lern- und Reifungsprozesse von Individuen? Hegel behandelt in den Jenaer Systementwürfen Lernprozesse, in denen Individuen die Kompetenz zum Rollenhandeln erwerben, allenfalls am Rande - so etwa im System der Sittlichkeit die wechselseitige Bildung der Individuen durch Arbeit oder in allen Entwürfen die Bedeutung der Erziehung für das Bewußtsein des Kindes. Die Bildungsgeschichte, die die Geistphilosophie darstellt, betrifft aber nicht den Sozialisationsprozeß eines Individuums, sondern, wie wir gesehen haben, die Reflexionsstufen des Bewußtseins überhaupt, das nur auf bestimmten Stufen Formen des individuellen Bewußtseins entspricht. Die Folge dieser Reflexionsstufen läßt sich als ein System von Institutionen darstellen, dessen notwendiger Zusammenhang auf der schrittweisen Vermittlung der Einzelheit und Allgemeinheit des Selbstbewußtseins beruht. Nun gehört aber zu der Sequenz der Reflexionsstufen des Bewußtseins auch der Prozeß der Bildung eines Be239

wußtseins der Individualität und der Einsicht in das vernünftige Verhältnis dieser Individualität zum Ganzen eines Volkes. Die prinzipielle „Rolle" der Individuen als solcher - ihr Verhalten zueinander und zum Ganzen - wird also von Hegel durchaus bestimmt. Und zwar nicht deduktiv, sondern in einer Folge von Interaktionsformen (Liebe, Kampf, Recht, Tausch etc.), deren gemeinsame, sich von Stufe zu Stufe weiter realisierende Struktur als „Anerkennung" bezeichnet wird. Die „Erfahrungen" mit solchen Interaktionsformen, die Hegel darstellt, sind aber nicht Erfahrungen, die Individuen mit ihren Rollen machen, sondern Stufen eines Reflexionsprozesses des Bewußtseins überhaupt. In ihnen geht es nicht um die Aneignung von Rollen, sondern um deren Wesensbestimmung, d. h. um die Bedeutung solcher lnteraktionsformen für das vernünftige Verhältnis selbstbewußter Individuen zueinander und zum Ganzen. Man kann von daher die Frage stellen, welche Interaktionsformen - die natürlich für die Interagierenden auch „Rollen", wenngleich sehr abstrakte, festlegen - nach Hegel für dieses vernünftige Verhältnis und die entsprechende „Identität" des Individuums notwendig sind. Und man kann auch nach dem Verhältnis des Individuums zu solchen lnteraktionsformen in der Sicht Hegels fragen. b) Anerkennung und die Bedingungen vernünftiger Identitätsbildung Liegt in Hegels Begriff der Anerkennung die wechselseitige Darstellung „unverwechselbarer" Individualität, die zu allen intersubjektiven Handlungsformen (Institutionen und Rollen) eine unaufhebare Distanz einhält? Ist diese Distanz durch je individuelle Modifikationen 240

der allgemeinen Handlungsformen charakterisiert? Wenn das so wäre, käme Hegels philosophische Theorie des Bewußtseins zumindest in diesem Punkt mit einer empirisch-kritischen Sozialisationstheorie wie derjenigen von Habermas überein. Diese Möglichkeit soll zunächst an der Konzeption der „natürlichen Sittlichkeit" des Systems von 1802/ 1803 überprüft werden. Wenn irgendwo, dann scheint Hegel hier der Auffassung zu sein, das Ziel der Anerkennungsbewegung müsse die Anerkennung der unverwechselbaren Individualität sein. Denn in diesem ersten Teil des Systems der Sittlichkeit geht es um die wechselseitige Bildung des „Individuums" (SdS 33) und des gemeinsamen Bewußtseins in den Formen „natürlicher", vorstaatlicher Vergesellschaftung. Sollte sich zeigen, daß es Hegel in diesem Text nicht um die Anerkennung von Individualität im Sinne der kritischen Sozialisationstheorie geht, dann bleibt noch zu erörtern, ob die Aufnahme des Prinzips des Selbstbewußtseins in die praktische Philosophie (Realphilosophie 1805/ 1806) zu einer Konzeption autonomer Subjektivität führt, die durch Rollendistanz im oben erörterten Sinne gekennzeichnet ISt.

In der ersten Potenz des ersten Teils des Systems der Sittlichkeit werden Handlungsformen erörtert, in denen das Individuum ein Verständnis seiner selbst und des Anderen als „gleiches, selbständiges Wesen" (SdS 18) gewinnt. Dies geschieht in den elementaren Beziehungen der Familie - Liebe zum anderen Geschlecht, ElternKind-Beziehung- sowie der gemeinsamen Arbeit. Hegel geht es aber nicht um das Erlernen der entsprechenden Rollen und ihre Modifikation in Lern- und Reifungsprozessen.220 Worauf es ihm ankommt, ist allein die „Anschauung seiner selbst in einem Fremden" (18) und 241

das Bewußtsein der Gleichheit unabhängiger „ vollkommener Individualitäten" . Das bedeutet freilich auch, daß die genannten Handlungsweisen und Institutionen für dieses Individualitätsbewußtsein notwendig sind. Es scheint zunächst, daß es Hegel auf dieser Stufe tatsächlich um die Selbstdarstellung und Anerkennung des Individuums in seiner absoluten Vereinzelung geht. Schon die wechselseitige Bildung in der gemeinsamen Arbeit ist ein „Anerkennen", in dem die „höchste Individualität und äußere Differenz" zum Ausdruck kommt (ebd.). Und vom Anerkennen in der „tönenden Rede" heißt es, daß in dieser „das Innere in seiner Bestimmtheit heraus(tritt) und das Individuum, die Intelligenz, der absolute Begriff ... sich in derselben unmittelbar als rein Einzelnes und Fixiertes dar(stellt)" (23). In Wahrheit besteht aber die „Individualität" schon auf dieser Stufe gerade darin, daß „ jedes . . . ein gleiches, selbständiges Wesen" ist - und daß dies ihr gemeinsames Wesen gerade die „Allgemeinheit" ist (18). Wechselseitige Bildung durch Arbeit bedeutet, einander in die Regeln und Funktionen des Arbeitsprozesses einweisen, so daß jeder „seine Besonderheit unmittelbar zur Allgemeinheit macht" (17). Erst als so zur Allgemeinheit Gebildeter tritt er dem Anderen als „gleich" und „selbständig", und das heißt für Hegel hier als „Individualität", gegenüber. Nun sind Allgemeinheit und Individualität auch im System der Sittlichkeit nicht als Genus und Individuum verstanden. In der erörterten Potenz des ersten Teiles bedeutet Allgemeinheit die Indifferenz verschiedener, einander „durchdringender" Bestimmungen. Individualität ist dagegen die „ vollständige Organisation" solcher Bestimmungen - und der Selbstbezug dieser Organisation, der erst ihre Selbständigkeit ausmacht. Aber zum Bewußtsein solcher Selbständigkeit 242

kommt es nach Hegel nicht durch die Distanz zu „geregelten" Handlungsformen, in deren Vollzug man mit anderen Individuen - und ihren Erwartungen - übereinstimmt, sondern gerade durch die „Bildung" in solchen Handlungsformen, die von der ungebildet-natürlichen Besonderheit befreien und durch die man den Anderen als „gleich", ebenbürtig entgegentritt. Die Differenz dieser Gleichen besteht in ihrem Selbstbezug als „Intelligenz", die durch ihre Freiheit von der natürlichen Bestimmtheit zugleich „Allgemeines" und „Besonderes" im Sinne des Fürsichseins („das für sich seiende Gesetzte", 17) ist. Als selbständiges Fürsichsein, das „seine Besonderheit unmittelbar zur Allgemeinheit macht", ist das Individuum Einheit von Allgemeinheit und Besonderem - „ und dieses ist die Intelligenz im höchsten Grade" (ebd.).Das gilt auch für das Anerkennen in der tönenden Rede. Zwar tritt in ihr das unbestimmte „Innere" in die fixierte „Körperlichkeit" des gesprochenen Wortes heraus, aber was sich in dieser J\.ußerung artikuliert, ist nicht die „unvertretbare" Individualität, sondern der „absolute Begriff" bzw. die „absolute Subjektivität". Die Rede des Menschen unterscheidet sich von der „Stimme" des Tieres dadurch, daß sie aus der Intelligenz und ihrer „ Verwandlung der Natur in ein Subjektives" kommt (24 ). Die Intelligenz bzw. der Begriff ist, wie Hegel schon im Naturrechtsaufsatz ausgeführt hatte, die Zusammenfassung der Vielheit der Natur in den „unvermittelten Einheitspunkt" (IV,464), die „Totalität resümiert in die Individualität", wie es jetzt im System der Sittlichkeit heißt (ebd.). Im gesprochenen Wort kann sich dieses reine Fürsichsein einer anderen Intelligenz gegenüber zum Ausdruck bringen und sich damit selbst „fixieren". Denn das Wort als ein in seiner A.ußerlichkeit Verschwindendes (das „unmittelbar sich selbst vernichtet", 243

23 ), in seiner Bedeutung aber „Objektives", die Intelligenzen Verbindendes ( „das vernünftige Band derselben", ebd.), bringt eben diese Unabhängigkeit von der Natur, die Fähigkeit, sie in „Idealität" zu verwandeln, als das den Individuen Gemeinsame zum Ausdruck. Was dabei erkannt und anerkannt wird, ist somit zwar die Einzelheit, Selbständigkeit und damit Differenz vom Anderen. Aber diese beruht nicht auf seiner natürlichen Individualität, sondern auf seiner Unabhängigkeit von der Natur, seiner Fähigkeit, Natur in Subjektives, in den Punkt des einzelnen Fürsichseins zu verwandeln. Was die Individuen in den erwähnten Rollen zunehmend darstellen, ist nicht die durch natürliche Bestimmtheit und je eigene „Biographie" (Habermas 1973 b, 131) zustande gekommene unvertretbare Individualität, sondern ihre selbständige, sich zur Allgemeinheit intersubjektiv anerkannter Regeln bildende Intelligenz. Das gilt erst recht für die zweite Pot~nz des ersten Teils des Systems der Sittlichkeit. In ihm geht es um Institutionen, die selbst durch Anerkennung zustande gekommen sind, als künstliche gleichsam über die natürlichen Beziehungen gelegt sind, ohne diese jedoch schon gänzlich in sich aufzuheben. Das Ziel der von diesen Institutionen vorgeschriebenen Rollen ist die gegenseitige Anerkennung als „Person" - zunächst als Eigentümer und Rechtsperson, dann als Tausch- und Vertragssubjekt und schließlich als reine Person. Person bedeutet nun in der Tat „Einzelheit", und als solche muß sie anerkannt werden: „das Anerkennen ist das Einzelsein" (26). So gehört es wesentlich zur Rechtsbeziehung des Eigentums, daß alle Anderen von dem jeweiligen Eigentum ausgeschlossen sind. Trotzdem wird der Eigentümer nicht durch das, was er besitzt, in seiner Besonderheit bestimmt und als solcher anerkannt. Er ist vielmehr gerade als solcher „in 244

die Form der Allgemeinheit aufgenommen" (ebd.). E inmal, weil die Beziehung auf sein Eigentum nicht durch ein Bedürfnis in ihrer Besonderheit festgelegt, sondern die - den „ Überfluß" voraussetzende - „allgemeine Möglichkeit des Gebrauchs" (ebd.) ist. Zum anderen ist diese Beziehung- jedenfalls als Möglichkeit- allen Individuen gemeinsam. Das anerkannte Einzelsein ist daher in doppeltem Sinne „Negation" (ebd.) : als Unabhängigkeit von der eigenen Natur und als Ausschließen des Anderen, das aber von diesem selbst anerkannt wird. Wird diese Beziehung nun noch von der Besonderheit des Besitzes, also der Gebundenheit an brauch- und entäußerbare Objekte, gelöst, dann ist das Anerkennen der reinen Person erreicht, die höchste Stufe der Anerkennungsbewegung des Systems der Sittlichkeit. Sie zeigt noch einmal in reiner Form, um was es geht: Selbstdarstellung und Anerkennung des Anderen - in Wechselwirkung verschränkt - als Einzelheit, d. h. als Negation natürlicher Bestimmtheit und zugleich den Anderen ausschließendes, ihm selbständig gegenübertretendes Fürsichsein. Und dies in Rollen und Institutionen, in denen die Naturbeziehungen der Individuen von den Beziehungen ihres reinen Fürsichseins noch nicht völlig aufgehoben, sondern nur von außen bestimmt (w ie im abstrakten Recht) oder von innen geprägt sind - wie die natürlichen Beziehungen der Familie von dem sie tragenden „Geist" gegenseitiger Anerkennung als Person (vgl. SdS 35). Auch die natürlichen Beziehungen der Individuen sind für Hegel also nur soweit relevant, wie sich das Individuum in ihnen gerade von seiner naturbestimmten Besonderheit lösen, sie in die Selbständigkeit und Freiheit seines „intelligenten" Fürsichseins zurücknehmen kann. Dies ist freilich auf der ersten Stufe des Systems der Sittlichkeit noch ohne Bruch mit der Natur, in einer unmit245

telbaren Harmonie von freier Person und Natur, wie sie in der Familie herrscht, möglich. Es hat sich gezeigt, daß es auch in den Anerkennungsformen der „natürlichen Sittlichkeit" in erster Linie um einen Bildungsprozeß geht, in dem sich das Individuum als „Intelligenz" bzw. als „Begriff" erweist - und damit frei von aller natürlichen und „biographischen" Besonderheit. In der Familie wird der Einzelne zwar in seiner natürlichen Besonderheit „angenommen" und bejaht aber die Ausbildung und Darstellung dieser Besonderheit ist auch da nicht Inhalt - oder gar Zweck - der Anerkennung. Liegt das daran, daß Hegel ohne die Theorie des Selbstbewußtseins, wie er sie seit Mitte der Jenaer Zeit entwickelte, die Distanz des Einzelnen zu den Formen des allgemeinen Bewußtseins, den Handlungsregeln und Rollen noch nicht positiv fassen konnte? Die Antwort darauf müßte den höheren Stufen der Anerkennungsbewegung, die die Realphilosophie von 1805/1806 darstellt, zu entnehmen sein. Das Ziel der Anerkennungsbewegung ist ja nach der Realphilosophie, daß sich das neuzeitliche Prinzip des Selbst, das sich vom „daseyenden Allgemeinen abgetrennt" weiß (VIII, 262), in den Institutionen des Gemeinwesens wiederfindet. Bereits in den Institutionen des „ wirklichen Geistes" scheint es um „Rollendistanz" zu gehen: der Bruch der allgemeinen, gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensregeln gehört ja zum Anerkennungsprozeß hinzu. Aber die Erfahrung des Bewußtseins in Vertragsbruch, Gesetzesbruch etc. ist in Wahrheit eine Folge von Korrekturen mißverstandener gesellschaftlicher Identität des Individuums. Die Freiheit des Individuums aufgrund seiner Identität mit dem allgemeinen Willen wird mißverstanden als Freiheit auch von den gesetzten, als gemeinsamer 246

Wille institutionalisierten Bindungen. Die Sanktionen gegen diesen „Irrtum" führen dann, wie oben dargelegt (s.o. S. 92), zu der Erfahrung, daß der allgemeine Wille den einzelnen „subsumiert", ihn nur gelten läßt, insofern er die in ihn gesetzten Verhaltenserwartungen erfüllt. Heißt das, daß die Freiheit des Individuums von den gesellschaftlich anerkannten Rollen, seine Distanz zu ihnen - sei es in der Interpretation oder in der Anwendung - als Schein erwiesen wird? Dann würde Sozialisation von Hegel her nur die völlige Identifizierung mit gesellschaftlichen Rollen bedeuten können. Dagegen spricht, daß Anerkennung auf ihrer höchsten Stufe, im letzten Teil des Systems, die „Rettung" der Einzelheit bedeutet. Das heißt, daß sich das Bewußtsein als reines Fürsichsein, als von allem Außeren - auch den Manifestationen des allgemeinen Willens - zurückgezogene Freiheit des Sich-Wissens, im allgemeinen Geist wiederfindet. Wir können das Sich-Wissen der Einzelheit im allgemeinen Geist in drei Punkten zusammenfassen: 1) weiß das einzelne Bewußtsein den Staat als Werk Aller; 2) weiß es die Regierung und den Monarchen als den sich als Einzelheit wissenden Geist, als Institutionalisierung des Moments der Einzelheit, des Handelns, des Entschlusses; 3) erhebt es sich in Religion und Spekulation über die Besonderheit des Standes, Volkes und der Epoche in die Einheit mit dem absoluten Geist, der im wissenden Fürsichsein des Individuums gleichsam präsent !St.

Geht man nun davon aus, daß die Rollen des Individuums im Staat durch dessen ständische Organisation festgelegt seien, so läßt sich hinsichtlich der „Rollendistanz" des Individuums folgendes sagen: das wichtigste an den Ständen und den ihnen entsprechenden Gesinnungen ist zunächst wiederum die in ihnen mögliche 247

Distanz des Individuums von sich selbst: „Jeder von seinem Stand über sich erheben (sie!)." (265 R) Die Distanz des Individuums von sich, die in allen Ständen möglich ist, muß aber „ergänzt" werden durch die Distanz vom besonderen Stand selbst. Das ist schon in den höheren Ständen möglich: Beamter, Gelehrter, Soldat sind in ihrer Rolle weder auf sich selbst noch auf den besonderen Stand fixiert, sondern dienen dem Staat, dem allgemeinen Willen selbst. In dieser doppelten Distanz zu sich und zum eigenen Stand zeigt sich die „Moralität" (vgl. o. Anm. 196) des Individuums - und das heißt für Hegel wie für Kant: seine Autonomie. Die Institutionen des Staates haben also die Funktion, solche Autonomie zu ermöglichen. Worin besteht nun genauer diese Distanz des Einzelnen von seiner Rolle bzw. der ständisdten Verhaltensnorm? Zum einen, wie gesagt, schon in der Allgemeinheit der oberen Standesgesinnungen selbst. Ferner für die Mitglieder aller Stände in dem Wissen, daß der Staat und damit auch seine ständische Organisation das Werk aller ist: „sein Leben, Willen ist das Selbst der Individuen" (255 R). Es weiß sich also in dieser Hinsicht selbst als Ursprung der Rollenverteilung, weiß diese als durch den gemeinsamen Willen gesetzt. Und es weiß diesen Willen als unabhängig von den besonderen Gesinnungen der Stände: in der Regierung, i1;1. der sich der Geist als „seiner selbst gewiß" und als „Freyheit von dem Bestehenden als solchem" darstellt (277). Das Wissen der Identität mit diesem absolut freien Geist vollendet sich in Religion und Philosophie: „seine Natur, sein Stand versinkt wie ein Traumbild ... es ist das Wissen seiner als des Geistes" (281). Die Distanz des Individuums von seiner Rolle liegt also nicht an der unaufhebbaren Differenz von natürlicher Individualität und gesellschaftlicher All248

gemeinheit der Rolle, sondern daran, daß das Individuum aufgrund seiner Identität mit dem allgemeinen Geiste sich frei von jeder besonderen Rolle weiß. Anerkennung bedeutet daher für Hegel weder das einander Gelten als „perfekte" Rollenspieler und Funktionsträger noch das wechselseitige Darstellen unvertretbarer Individualität im Medium der Rolle. Es bedeutet vielmehr auf dieser höchsten Stufe- die wechselseitige Darstellung des allen gemeinsamen Geistes in den (ständischen) Rollen und zugleich das Wissen der Freiheit jedes Einzelnen von der Besonderheit dieser Darstellung durch seine Identität mit diesem Geiste. Die Distanz zwischen Individuum und Rolle besteht für Hegel quasi nach „oben", im Hinblick auf die absolute Identität von Einzelheit und Allgemeinheit - nicht nach „unten", zum besonderen, natürlichen Individuum hin. Deutet man den Anerkennungsprozeß im Hinblick auf die gegenwärtige Sozialisationstheorie, so bestätigt sich unsere These, daß in der erfüllten Anerkennung die Individualität - in ihrer unaufhebbaren Differenz zum allgemeinen Willen - nicht mehr zur Geltung kommt. Worin bestehen dann die institutionellen Bedingungen der Bildung einer „vernünftigen" Identität bei Hegel? Orientiert man sich an den Stufen des Anerkennungsprozesses in der Realphilosophie von 1805/ 1806, dann kann man sagen, daß für Hegel mindestens die folgenden Arten von Institutionen zur Bildung eines vernünftigen Selbstverständnisses notwendig sind: 1) Institutionen, in denen das Individuum sich als „totale" Einzelheit - d. h. als selbständige, von allen besonderen Bestimmtheiten freie Einheit seiner Handlungsbezüge (auf Objekte und andere Individuen) - im Anderen anschauen kann. Solche Institutionen müssen, wie wir gesehen haben, die Momente von „Liebe" und „Kampf" enthalten. 2) Institu249

tionen, in denen das Individuum seine Handlungsbezüge als Außerung eines gemeinsamen Willens verstehen kann, dessen Ziel die Erhaltung der zur Allgemeinheit „geläuterten" - bzw. zum Träger dieser Gemeinsamkeit gewordenen - Einzelwillen und der Möglichkeit ihres äußeren Daseins bzw. ihrer Manifestation in Objekten (Eigentum) ist. 3) Institutionen, in denen das Individuum diesen gemeinsamen Willen als von allen Einzelnen und Gruppen unabhängiges, selbständiges Subjekt erfahren kann, dessen Selbsterhaltung und Selbstdarstellung das Ir:dividuum - bis hin zur Negation der eigenen Existenz - unterworfen ist. 4) Institutionen, in denen das Individuum sich gerade durch das Bewußtsein der Identität mit diesem absoluten Subjekt von seinen besonderen Funktionen und Rollen - die der Selbsterhaltung des äußeren Daseins 221 dieses Subjektes, des Volkes bzw. des Staates, dienen - frei weiß. Solche „Institutionen" sind aber auf ihrer höchsten Stufe - als religiöse Andacht oder philosophisches Wissen - nicht mehr Institutionen im Sinne von Rollen oder Rollensystemen. Sie sind ja unabhängig von jeder Form äußeren Verhaltens, gleichsam „monologisch" und daher auch nicht mehr auf das Anerkennen als Sich-Anschauen im Anderen zurückzuführen. Auch die dritte Art der Institutionen hat Hegel nicht mehr am Leitfaden des interpersonalen Anerkennens entwickelt. Im zu sich gekommenen Geist ist das Verhältnis der Individuen zueinander nicht mehr thematisch. Gleichwohl lassen sich auch diese beiden Arten von Institutionen als Realisierung der Struktur des Anerkennens begreifen, insofern dieses nicht nur ein „dialogisches" Verhältnis, sondern die wechselseitige Konstitution von einzelnem und allgemeinem Willen bzw. Bewußtsein beinhaltet. Kommen wir noch einmal zu Habermas' drei Kriterien 250

„ vernünftiger" Institutionen - das Maß an Repressivität, Rigidität und Verhaltenskontrolle - zurück. In puncto Rigidität ist zu sagen, daß für Hegel die Darstellung der Individualität in ihrer natürlichen und lebensgeschichtlichen Einmaligkeit nicht Ziel des Bildungsund Anerkennungsprozesses ist. Dennoch kann eine rigide für jede Person festgesetzte Rolle nicht seinem Begriff des „lebendigen" Geistes einer Gemeinschaft entsprochen haben. Seit den Jugendschriften kritisiert er ja die starre Anwendung allgemeiner Gesetze auf die sittlichen Verhältnisse eines Volkes. Später wiederholt sich diese Kritik in seinem - oben (S. 111 ff.) erörterten- Versöhnungsbegriff, der auf der Ebene des moralischen Handelns und Urteilens den Verzicht auf die starre Anwendung allgemeiner bzw. öffentlicher Vorstellungen des Guten und Bösen verlangt. Den gleichen Gedanken hat Hegel stets bezüglich der Anwendung von Rechtsvorschriften geäußert: anders als in Fichtes Staat des Gesetzesperfektionismus verlangt Hegel, daß Rechtsprechung und Exekutive die allgemeinen Gesetze auf die Besonderheit der Situation hin auslegen können. Auch hier haben wir allerdings wieder die Distanz „nach oben": Nicht das einzelne Individuum ist frei, Vorschriften und Regeln „flexibel" anzuwenden, sondern der „seiner selbst gewisse Geist" der Regierung kann „in einzelnen Fällen Ausnahmen vom Gesetze" machen (VIII, 276). Die Nicht-Rigidität gesellschaftlicher Institutionen bei Hegel ist also kein Aquivalent zur rollentheoretisch erfaßbaren Spontaneität bzw. Rollendistanz, sondern liegt auf der Ebene der Gewissensfreiheit, der Billigkeit (im traditionellen Sinne der aequitas) und der Souveränität von Exekutive und Judikative. .Khnlich ambivalent wie bei der Rigidität ist Hegels Position, wenn man sie auf das Problem der lnternali251

sierung bzw. der Verhaltenskontrolle bezieht. Sowohl bei der Erörterung der „ Versöhnung" in der Phänomenologie wie bei der Analyse der logischen Struktur der Anerkennung ist deutlich geworden, daß Hegels Konzeption des Selbst die Fähigkeit impliziert, sich in seine Bestimmtheiten zu „ versenken", sich auf sie einzulassen und doch zugleich über sie hinaus zu sein. Zu diesen Bestimmtheiten gehören zweifellos auch die sozialen Rollen. Ein Individuum, das Rollenerwartungen so internalisiert, daß es Verhaltensregeln gleichsam mechanisch anwendet, besitzt sicher nicht die Freiheit des Selbst im Sinne Hegels. Aber andererseits ist diese Freiheit keine Instanz, auf die sich das Individuum im „sozialen Rollenspiel" berufen könnte, um von den „Sitten" einer Gemeinschaft abzuweichen. Und daß die Institutionen, in denen sich die Freiheit des einzelnen Selbst von seinen Bestimmtheiten, das „absolute Insichsein" verkör· pert, der möglichen Differenz des Einzelnen zu den Regeln und Willensakten des Gemeinwesens nur sehr unvollkommen Rechnung tragen, haben wir bereits gesehen. Wie steht es mit dem dritten (bzw. in Habermas' Reihenfolge ersten) Kriterium, dem Maß der Repressivität bzw. der gegenseitigen „Ausbeutung"? Was Hegels Theorie der Anerkennung mit Sicherheit ausschließt, ist Ausbeutung im Sinne des Herrschafts-KnechtschaftsVerhältnisses. Aber dies Verhältnis ist ein vor- rechtliches, das allein auf Gewalt beruht und dem beherrschten Knecht nicht nur „Reziprozität der Befriedigung", sondern auch die Anerkennung als Rechtssubjekt vorenthält. Würde Anerkennung bei Hegel Reziprozität der Befriedigung bedeuten, dann müßte er die Liebe zum Prinzip aller vernünftigen Beziehungen freier Subjekte erheben. Wir haben gesehen, daß dies 252

nicht der Fall ist. Die mit natürlicher Neigung verbundene Liebe hat nach Hegel ihren „ vernünftigen" Platz in der Familie; die Liebe im Sinne der Versöhnungsbereitschaft gegenüber dem „Sünder", dem von der anerkannten Moralität Abweichenden ist die höchste Vollendung der moralischen und religiösen Gemeinschaft mit den Anderen - aber nicht das messende oder gestaltende Prinzip aller gesellschaftlichen Verhaltensregeln bzw. Rollensysteme. Der Arbeitsvertrag etwa ist kein Instrument der Repressivität für Hegel. Und die symmetrische Verteilung der Chancen, zu befehlen und zu gehorchen - Habermas' Definition der Nicht-Repressivität in seiner Universalpragmatik (1971, 138) -, ist für Hegel sicherlich nicht das Maß, an dem Institutionen wie der Staat, die Regierung oder auch die Herrschaftsverhältnisse einer privatrechtlich geregelten „ Wirtschaftssphäre" zu messen wären. Dem steht die Aufgabe des Staates, der aus dem „blinden" Wirtschaftsprozeß resultierende Abhängigkeit einer ganzen „Klasse" durch kompensierende Maßnahmen zu steuern, nicht entgegen. Für Hegel müssen sich verschiedene, institutionalisierte und „gesinnungsabhängige", Formen von Anerkennung zu einer Totalität ergänzen. Anerkennung im Hegelschen Sinne ist also nicht identisch mit dem Konzept idealer Gegenseitigkeit, wie es Habermas' kritische Theorie vernünftiger Sozialisation entwickelt hat. Das liegt nicht zuletzt daran, daß sie in einem ganz anderen Sinne „Prinzip" ist als die herrschaftsfreie Kommunikation bzw. die ideale Sprechsituation. Anerkennung ist Prinzip als begriffene Genese vernünftiger Institutionen in der Geschichte. Insofern berührt sich Hegels Anerkennungstheorie mit einem anderen „Programm" in der gegenwärtigen praktischen Philosophie: dem einer historischen Genese 253

von Normensystemen, wie es vor allem von der Erlanger Schule aufgestellt wurde - auch dies unter ausdrücklichem Bezug auf Hegel (Blasche/ Schwemmer 1972). Bevor ich auf die entsprechende Hegel-Interpretation eingehe, soll aber das Verhältnis der praktischen Philosophie zur Geschichte beim Jenaer Hegel geklärt werden.

3. Praktische Philosophie und Geschichtsphilosophie

Eine dritte gemeinsame Aufgabe der praktischen Philosophie Hegels und der Gegenwart ist die Darstellung des geschichtlichen Wandels der Institutionen. Welche Bedeutung hat die Entwicklung der Institutionen in der Geschichte für ihre gegenwärtige „ Gerechtigkeit"? Nun ist die Bedeutung des geschichtsphilosophischen Aspekts der praktischen Philosophie Hegels für die gegenwärtige Situation der praktischen Philosophie völlig gegensätzlich eingeschätzt worden. Für die einen bedeutet Hegels Geschichtsphilosophie die Destruktion der praktischen Philosophie, die Beseitigung aller Fragen nach dem guten Leben und einer gerechten Gesellschaftsordnung zugunsten des geschichtsphilosophischen Begreifens dessen, was ist (Mandt 1974, 191 ff.; vgl. Siep 1976). Für die anderen hat Hegel die Kantische Philosophie der praktischen Vernunft um den Versuch erweitert, die faktisch bestehenden Normen durch eine historische Genese zu „deuten", die - in Verbindung mit dem Prinzip der Moralität - erst eine kritische Prüfung der gegenwärtigen, institutionalisierten Vorstellungen vom guten Leben erlaubt (Blasche/ Schwemmer 1972, 466 ). Eben dies habe die praktische Philosophie der Gegenwart - auf methodisch gesicherte Weise - zu wiederholen. 254

Nun hat Hegel seine systematische Philosophie der Weltgeschichte erst seit Ende der Jenaer Zeit entwickelt. 222 Andererseits spielen schon in den Vor-Jenaer Schriften geschichtsphilosophische Überlegungen eine Rolle: vor allem zum Verfall der antiken und dem Entstehen der modernen Welt. Es ist ferner darauf hingewiesen worden, daß der Begriff des „Schicksals", wie Hegel ihn im „Geist des Christentums" dargestellt hat, als „Keim" seiner späteren Anschauung der weltgeschichtlichen Entwicklung zu betrachten sei. 223 Zu Beginn der Jenaer Zeit setzt Hegel seine geschichtsphilosophischen Überlegungen fort; nicht nur in den Arbeiten zur Verfassungsschrifl:, sondern auch im Naturrechtsaufsatz. Für unser Thema ist aber nicht die Frage wichtig, wie sich Hegels Philosophie der Weltgeschichte entwickelt, sondern welche Bedeutung geschichtsphilosophische Überlegungen für seine praktische Philosophie haben. Im Hinblick auf die oben skizzierte gegenwärtige Diskussion sollen daher die beiden folgenden Probleme erörtert werden : a) Entwickelt Hegel seine praktische Philosophie in Jena als Geschichtsphilosophie - und wird dadurch die Frage nach einem Prinzip gerechter Gesellschaftsordnung unmöglich gemacht? b) Ist Hegels System der Institutionen eine historische Genese des - für ihn - zeitgenössischen Normensystems? Enthält es überhaupt vergangene, „historische" Institutionen? Wenn diese beiden Problemkreise erörtert worden sind, müssen wir uns abschließend die Frage stellen, ob für Hegel die Philosophie überhaupt zu einer Kritik von Institutionen und Verfassungen in der Lage ist (c).

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a) Praktische Philosophie als Geschichtsphilosophie? Obgleich Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte erst 1805 beginnen, entwickelt er bereits im Naturrechtsaufsatz die Grundlagen einer philosophischen Darstellung der Entwicklung des „ Weltgeistes" in der Geschichte. Zunächst kommt es darauf an, wie die Natur so auch die Geschichte als eine „Totalität" zu sehen, in der die einzelnen Epochen und Volksgeister Momente eines Ganzen sind, das sich in ihnen darstellt und „genießt": „ Wie in der Natur des Polypen ebenso die Totalität des Lebens ist als in der Natur der Nachtigall und des Löwen, so hat der Weltgeist in jeder Gestalt sein dumpferes oder entwickelteres, aber absolutes Selbstgefühl und in jedem Volke, unter jedem Ganzen von Sitten und Gesetzen sein Wesen und seiner selbst genossen." (IV, 479) Der Weltgeist erscheint zwar auf jeder Stufe „absolut", aber auf dumpfere oder entwickeltere Weise. Seine Entwicklung besteht darin, alle seine Momente für sich auszubilden und in ihrer Folge die Erkenntnis von sich hervorzubringen. Das gleiche gilt für die geschichtliche Entwicklung des Volksgeistes: „es ist zugleich notwendig, daß die Individualität fortschreite, sich metamorphosire . .. damit alle Stuffen der Nothwendigkeit an ihr als solche erscheinen" ( 483 f. ). Wie die Volksgeister einander in der Entwicklung des Weltgeistes „ablösen" und was die wesentlichen Stufen dieser Entwicklung sind, hat Hegel im Naturrechtsaufsatz aber nicht erörtert. Er hat auch nicht auf das Drei-Stadien-Schema zurückgegriffen, das er in der 1800 bis 1801 entstandenen „Urschrift" über die Verfassung Deutschlands skizziert hatte. Dort hieß es, das „System der Repräsentation", das das 256

„System aller neuem europäischen Staaten" sei, müsse als die „Mitte" begriffen werden, die „nach dem orientalischen Despotismus und der Herrschaft einer Republik über die Welt aus der Ausartung der letzteren" entstanden sei und ihre erste Ausprägung im germanischen „ Lehnssystem" gefunden habe (Pol 93 f.). Von dieser These ausgehend, hätte Hegel offenbar das „Repräsentationssystem" der „neuem europäischen Staaten" geschichtsphilosophisch erklären und rechtfertigen können - als „dritte universale Gestalt des Weltgeistes" ( ebd. ). Dies ist jedoch weder im Naturrechtsaufsatz noch in den darauffolgenden Arbeiten zur Philosophie der Sittlichkeit geschehen. Das Vorbild für die praktische Philosophie ist im Naturrechtsaufsatz die griechische Polis, wie Plato sie gesehen hat - wobei Hegel sich aber, wie wir gesehen haben, die Aufgabe stellt, eine am Modell der Polis orientierte Verfassung zugleich als Verwirklichung des Prinzips der Freiheit des Selbstbewußtseins darzustellen. Auch methodisch ist der praktischen Philosophie im Naturrechtsaufsatz ein anderer Weg als der einer Philosophie der Weltgeschichte vorgezeichnet. Aufgabe der praktischen Philosophie ist es - nach dem Schlußabschnitt dieses Textes -, die „ Idee der absoluten Sittlichkeit" zu erkennen. Dies ist durch eine Philosophie der Weltgeschichte nicht möglich, weil es in keiner der Gestalten des Weltgeistes, d. h. in keiner „Individualität" eines Volksgeistes zu einer völligen Übereinstimmung des „absoluten Geistes und seiner Gestalt" (IV, 484) kommt. Hegel faßt die Weltgeschichte offenbar noch nicht a ls einen teleologischen Prozeß auf, an dessen Ende der Weltgeist zur völligen Selbst-Durchsichtigkeit gelangt. Die adäquate Gestalt des absoluten Geistes ergibt sich vielmehr aus der „Construction" der Idee der abso257

luten Sittlichkeit. An dieser Konstruktion der Idee der absoluten Sittlichkeit in einer vernünftigen Verfassung, nicht an der Einsicht in das notwendige Resultat der Weltgeschichte, muß die systematische Entfaltung der praktischen Philosophie ausgerichtet werden. Diesen Weg hat Hegel in den Jenaer Entwürfen der Geistphilosophie in der Tat eingeschlagen. Deren praktischer Teil enthält keine geschichtliche Abfolge von Volks-Individuen, sondern die Entfaltung der Idee der absoluten Sittlichkeit zu einem System von Institutionen, in denen sich die Freiheit verwirklichen kann. Gilt dies auch noch für die Realphilosophie von 1805/ 1806? In diesem Text hat Hegel ja nicht nur die Weltgeschichte als Darstellung der Identität von Natur und Geist und ihr Begreifen mithin als Abschluß des Systems der Philosophie bestimmt. Es zeigt sich vielmehr auch in der praktischen Philosophie selber deutlicher die geschichtsphilosophische Perspektive: in seinem „Abriß" der Staatsformenlehre greift er auf ein modifiziertes Drei-Stadien-Schema zurüd